Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
({0})
- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass Sie heute offenkundig besonders gut
gelaunt zur 146. Sitzung des Deutschen Bundestages erschienen sind, zu der ich Sie alle herzlich begrüße.
Um gleich mit einem Höhepunkt unserer heutigen
Befassung anzufangen: Der Kollege Dr. Heinz
Riesenhuber feiert heute seinen 76. Geburtstag.
({1})
Herzliche Gratulation! Alle guten Wünsche des ganzen
Hauses begleiten ihn in das neue Lebensjahr.
Meine Damen und Herren, wir müssen vor Eintritt in
die Tagesordnung noch eine Reihe von Wahlen durchführen.
Für die neue Amtsperiode des Verwaltungsrats des
Deutsch-Französischen Jugendwerks schlägt die Fraktion der CDU/CSU als ordentliches Mitglied den Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff und die SPD-Fraktion
als stellvertretendes Mitglied die Kollegin Caren Marks
vor. Können Sie diesem Vorschlag zustimmen? - Das ist
so. Dann sind die Kollegen in den Verwaltungsrat des
Jugendwerks gewählt.
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege
Michael Groß für den Kollegen Sören Bartol neues ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der Bundesstiftung
Baukultur werden soll. Können Sie auch diesem Vorschlag etwas abgewinnen? - Das ist so. Dann ist der
Kollege Groß in den Stiftungsrat gewählt.
Schließlich hat die FDP-Fraktion mitgeteilt, dass der
Kollege Lars Lindemann für den Kollegen Patrick
Döring neues ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der
Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum und der
Kollege Döring für den Kollegen Lindemann neues
stellvertretendes Mitglied werden soll. Darf ich auch für
diese gewaltige Rochade Ihr Einvernehmen feststellen? Das ist im Ergebnis offensichtlich der Fall. Dann sind
die Kollegen in ihren neuen Funktionen in den Stiftungsrat gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 23 und 40 b abzusetzen, die Tagesordnungspunkte 4 und 20 zusammen zu beraten, den Tagesordnungspunkt 17 zusammen mit Tagesordnungspunkt 40
und Zusatzpunkt 3 aufzurufen und die Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Standort Deutschland sichern - Stuttgart 21
zügig umsetzen und geplante Mehrbelastung
für den Mittelstand durch grüne Steuerpolitik
verhindern
({2})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 39
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, Stephan
Kühn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bedarfsfestlegung des
Baus oder Ausbaus von Bundesfernstraßen
- Drucksache 17/7885 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger
Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Schaffung einer aufenthaltsrechtlichen Bleiberechtsregelung
- Drucksache 17/7933 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Klassische Schweinepest zeitgemäß bekämp-
fen - Impfen statt Töten
- Drucksache 17/7958 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Klaus Barthel, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abitur sichern
- Drucksache 17/7957 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 40
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz
und zur Änderung der Richtlinie 2004/35/
EG ({7})
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Bodenschutz europaweit stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothea
Steiner, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EUBodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen
- Drucksachen 17/7024, 17/3855, 17/7503 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Ute Vogt
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Weltklimakonferenz in Durban - Klimapolitik
am Scheideweg
ZP 5 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 17/6764 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({8})
- Drucksache 17/7991 Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
- Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8003 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({10})
Bettina Hagedorn
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({11})
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Lisa Paus, Viola von Cramon-Taubadel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein starker Haushalt für ein ökologisches und
solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020
- Drucksache 17/7952 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 7 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 9. Dezember 2011
in Brüssel
ZP 8 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Auswirkungen der deutlich gestiegenen deutschen Rüstungsexporte auf die internationalen
Beziehungen
Wie üblich soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste
dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Zusammenhang mit der Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 10. November 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften ({14}) und zur Änderung weiterer
Gesetze
- Drucksache 17/7576 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({15})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne hat der Präsident des Parlaments der Republik
Kosovo, Herr Dr. Jakup Krasniqi, mit seiner Delegation Platz genommen, den ich herzlich begrüße.
({16})
Ich bin zuversichtlich, dass die ebenso freundschaftli-
chen wie offenen Gespräche, die Sie in diesen Tagen in
Berlin mit vielen Mitgliedern des Deutschen Bundesta-
ges und anderen Repräsentanten unseres Landes führen,
einen Beitrag leisten zur weiteren Entwicklung Ihres
Landes für demokratische Strukturen und zur Festigung
rechtsstaatlicher Entwicklungen. Alle guten Wünsche!
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung ({17})
- Drucksachen 17/6906, 17/7274 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({18})
- Drucksache 17/8005 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Spahn
Heinz Lanfermann
Dr. Harald Terpe
- Bericht des Haushaltsausschusses ({19}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8006 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Ewald Schurer
Michael Leutert
Katja Dörner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({20})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung
einer wohnortnahen und bedarfsgerechten
gesundheitlichen Versorgung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung
auf den Weg bringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Kathrin Vogler, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte
- Drucksachen 17/3215, 17/7190, 17/7460,
17/8005 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Spahn
Heinz Lanfermann
Dr. Harald Terpe
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP sowie ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vor.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Niemand
wehrt sich. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDPFraktion.
({21})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Heute ist ein wichtiger Tag für das
deutsche Gesundheitswesen, für alle Patienten, Versicherten, die darauf warten, dass die Politik aktiv wird,
um gegen die Entwicklungen vorzugehen, die es vor allem aufgrund des demografischen Wandels, aber auch
aufgrund vieler - ja, man muss es so nennen - Fehlsteuerungen, Verkrustungen und Bürokratisierungen in den
letzten Jahren in unserem Gesundheitssystem gegeben
hat. Unser Gesundheitssystem ist nach wie vor gut; es
könnte aber noch besser sein.
({0})
In wichtigen Punkten nehmen wir nun einen behutsamen, aber ebenso konsequenten Umbau vor.
Wir haben das in den ersten zwei erfolgreichen Jahren
der christlich-liberalen Gesundheitspolitik schon bewiesen. Wir hatten ein Defizit in Höhe von 11 Milliarden
Euro geerbt; dies haben wir in ein Plus verwandelt.
({1})
- Lesen Sie die Zeitung, und quaken Sie nicht immer dazwischen.
({2})
Wir haben mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz faire Bedingungen geschaffen und das Preisdiktat
abgeschafft. Jahrzehntelang wurden in Deutschland
Preise verlangt, ohne dass über diese verhandelt wurde.
Damit haben wir Schluss gemacht und nicht etwa Vorgängerregierungen.
({3})
Wir haben neue Hygienestandards gesetzt. Krankenhauskeime haben es jetzt wesentlich schwerer in
Deutschland. Wir haben die Selbstverwaltung gestärkt,
und wir haben in den Bereichen des Gesundheitswesens,
in denen es sinnvoll und richtig ist, mehr Wettbewerb
eingeführt, und zwar zum Vorteil der Patienten.
Wir bringen jetzt mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz eine ganze Reihe von Regelungen auf den Weg,
die sich als sehr segensreich erweisen werden. Wir tun
etwas gegen den drohenden Ärztemangel insbesondere
im ländlichen Raum, und zwar über Anreize und nicht
mit Zwang, nicht mit Planwirtschaft und nicht mit Bürokratie, wie es die Vorschläge der Opposition vorsehen.
({4})
Wir wollen junge Ärzte gewinnen. Sie sollen nicht ins
Ausland gehen, sondern hier studieren und dann hier vor
Ort für die Bevölkerung da sein.
({5})
Wir ermöglichen eine zielgenauere Bedarfsplanung,
flexiblere Ansätze und eine stärkere Selbstverwaltung.
Wir heben die Residenzpflicht auf - und zwar, ohne dass
die Notfallversorgung gefährdet wird -, damit Ärzte hinsichtlich ihrer Arbeit und ihrer Familie flexibler sein können. Familie ist ein gutes Stichwort: Wir verbessern die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf in ganz entscheidenden Punkten. Wir fördern den Ausbau moderner und
innovativer Versorgungskonzepte. Wir wollen - dazu stehen wir - Leistungen von Ärzten, die in strukturschwachen Gebieten tätig sind, grundsätzlich von der Abstaffelung bei der Vergütung ausnehmen.
Es gibt eine ganze Reihe von guten Punkten in diesem
Gesetz - man kann sie gar nicht alle aufzählen -: Wir tun
zum Beispiel etwas für Patienten mit Grauem Star, die
bisher, wenn sie sich einer entsprechenden Operation unterziehen mussten, damit konfrontiert waren, dass sie,
wenn sie eine bessere, für sie verträglichere Linse haben
wollten, nichts mehr von der Krankenkasse ersetzt bekommen haben, sondern die Kosten komplett selber tragen mussten. Das haben wir jetzt geändert. Die betroffenen Patienten zahlen jetzt das, was es mehr kostet - daher
der Name „Mehrkostenregelung“ -, aber das, was die
Kasse ohnehin zahlen müsste, zahlt weiterhin die Kasse.
Es hat viele Jahre gedauert, um dieses liberale Ansinnen
durchzusetzen.
({6})
Wir tun etwas gegen die Bürokratie, indem wir die
ambulanten Kodierrichtlinien, die allen Ärzten drohten,
gestoppt haben. Wir haben dafür gesorgt, dass in überversorgten Gebieten in Zukunft Arztsitze durch die Kassenärztliche Vereinigung aufgekauft, sozusagen vom
Markt genommen werden können. Im Bereich der Richtgrößen und Wirtschaftlichkeitsprüfungen erfolgen mehr
Flexibilisierungen. Wir schaffen mit der spezialfachärztlichen Versorgung ein neues Element zur besseren Zusammenarbeit zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. Dazu gehört natürlich auch eine Verbesserung
des Entlassungsmanagements.
Ich habe nur fünf Minuten Redezeit; sonst würde ich
Ihnen noch viel mehr Wohltaten vortragen.
({7})
Schauen Sie in den Entschließungsantrag der Koalition.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, schauen Sie nicht so verbissen, wenn so viel Gutes
auf Sie zukommt.
({8})
Man sah es auch gestern im Ausschuss, dass verkniffene
Lippen es nicht schaffen, dieses Gesetz zu loben. Sie
sollten es aber tun. Es lohnt sich wirklich.
Schließen Sie sich uns an - das soll mein letzter Gedanke sein - in dem Appell an die Länder, dass sie - das
ist ihr Zuständigkeitsbereich, in den wir uns nicht einmischen wollen, abgesehen davon, dass wir ab und zu Geld
gegeben haben - mehr Studienplätze schaffen. Jede Behebung des Ärztemangels fängt mit mehr Studienplätzen
an.
({9})
Die Länder sollten zur Verbesserung der Ausbildung das
tun, was sie tun können. Sie müssen auch da mitarbeiten.
Es sind noch mehr Menschen, die gefragt sind, auch
auf der kommunalen Ebene, wo viele sehr bemüht sind.
Herr Kollege.
Auch die Ärzteschaft und die Krankenkassen sind natürlich aufgerufen: Arbeiten Sie mit uns gemeinsam an
der Verbesserung der Situation, zugunsten der Patienten,
der Bürger in Deutschland.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Elke Ferner guckt so fröhlich, wie der
Kollege Lanfermann das ausdrücklich eingefordert hat,
({0})
und bekommt jetzt für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Wissen Sie, Herr Lanfermann, gut gemeint
ist noch lange nicht gut gemacht. Zu diesem Gesetz
muss man sagen: Es mag zwar gut gemeint gewesen
sein, aber es ist einfach schlecht gemacht, und gute Absichten ersetzen eben keine gute Politik.
({0})
Es gibt in unserem Gesundheitswesen gute und sehr
gute Elemente. Vor allen Dingen verdanken wir das den
hochmotivierten Frauen und Männern in den Praxen, in
den Krankenhäusern, in den Heimen, bei den Pflegediensten. Das verdient, denke ich, unseren Respekt.
Aber es gibt trotzdem Probleme, die auf dem Tisch
liegen. Wir haben Unterversorgungen in den Flächenländern, in den ländlichen Regionen, aber auch in städtischen Bereichen wie beispielsweise hier in Berlin in
Neukölln, und wir haben Überversorgungen in Freiburg,
in München und beispielsweise auch in Berlin-Zehlendorf. Das wissen mittlerweile alle. Deshalb brauchen wir
funktionierende Lösungen. Das Gesetz gibt darauf keine
Antworten. Der Kollege Spahn hatte ja zum Ende letzten
Jahres die Weihnachtspause genutzt, um alle möglichen
Heilsversprechungen zu verkünden, wovon nicht wirklich etwas umgesetzt worden ist.
({1})
Schauen wir uns einmal an, wie Sie die Unterversorgung bekämpfen wollen. Es ist zwar richtig, dass Sie ein
größeres Honorarvolumen für Ärzte in unterversorgten
Bereichen zur Verfügung stellen, aber Sie tun überhaupt
nichts, um die Überversorgung abzubauen. Das eine
kann aber nur mit dem anderen zusammen funktionieren, liebe Kollegen und Kolleginnen.
({2})
Sie haben das Thema der besseren Vereinbarkeit von
Familie und Beruf für junge Ärztinnen, aber auch für
junge Ärzte angesprochen. Ich kann nicht verstehen, warum Sie die Bedingungen ausgerechnet für die Organisationsformen, in denen viele jüngere Ärzte und Ärztinnen
lieber arbeiten möchten als in den bisherigen niedergelassenen Praxen, verschlechtern. Sie nehmen hier im
Prinzip Einschränkungen vor. Sie monopolisieren die
MVZ. Zusätzlich schaffen Sie das Problem, dass diejenigen, die schon ein MVZ gegründet haben, zumindest
dann, wenn es um Erweiterungen geht, unter das neue
Regime fallen und sich damit nicht weiter verbessern
können. Das alles, was Sie da vorgelegt haben, ist nicht
wirklich ausgegoren. Vor allen Dingen führt dies - um es
noch einmal am Beispiel der MVZ deutlich zu machen zu dem Ergebnis: Das, was jetzt im Gesetz steht, ist im
Prinzip das glatte Gegenteil von dem, was Sie zu Beginn
des Gesetzgebungsverfahrens wollten.
({3})
- Im Gegensatz zu Ihnen habe ich es gelesen, Frau Kollegin.
({4})
Das ist typisch das, was Schwarz-Gelb die ganze Zeit
macht: Sie versprechen etwas. Sie versuchen nicht, den
Menschen die Augen zu öffnen, sondern Sie versuchen,
ihnen Sand in die Augen zu streuen. Im Ergebnis kommt
dann etwas ganz anderes heraus als das, was Sie versprechen. Sie werden damit keinen Erfolg haben. Wir werden nach 2013, nach der Bundestagswahl, ein Versorgungsgesetz vorlegen, das diesen Namen auch wirklich
verdient und das die Probleme, die wir haben, auch wirklich angeht.
({5})
Sie machen auch nichts, um die strukturellen Probleme unseres Gesundheitswesens zu beseitigen. Es gibt
beispielsweise Fehlanreize bei der Finanzierung der
Krankenhäuser. Wir haben in der Großen Koalition
schon einmal den Versuch unternommen, hier etwas zu
verändern - das ist am Widerstand der Länder gescheitert -, aber Sie haben noch nicht einmal einen Versuch
unternommen.
Sie tun keinen einzigen Schritt, um die überholte Trennung von GKV und PKV aufzuheben. Auch das ist eines
der Probleme, das wir in unserem Gesundheitswesen haben. Warum müssen denn so viele gesetzlich versicherte
Patienten und Patientinnen auf Termine beim Facharzt
oder bei der Fachärztin warten? Das liegt nicht daran,
dass es zu wenige Fachärzte gibt - in den überversorgten
Gebieten kann man besichtigen, dass es genügend gibt -,
sondern schlicht und ergreifend daran, dass für PKV-Versicherte bei gleicher Leistung deutlich höhere Honorare
als für gesetzlich Versicherte gezahlt werden. Daran
müssten Sie eigentlich arbeiten, anstatt dieses Reförmchen zu machen, das Sie heute auf den Weg bringen wollen.
({6})
Darüber hinaus kostet das Ganze auch ein bisschen
Geld. Auch da gehen die Meinungen auseinander: Der
Finanzminister hat schon deutlich gemacht, dass er die
Schätzungen des Gesundheitsministers nicht teilt. Er hat
gesagt: Wenn das so ist, dann schieben wir das Ganze
auf den Sozialausgleich. Indem wir weniger für den Sozialausgleich tun, finanzieren wir die Mehrkosten, die
durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz möglicherweise entstehen. - Das ist schon ein bisschen verrückt.
Vor allen Dingen: Die gesetzlichen Krankenversicherungen sagen voraus, dass die entstehenden Mehrkosten
durchaus im Milliardenbereich liegen könnten. Wir werden sehen, was dann passiert.
Herr Lanfermann, noch einmal: Sie mögen das noch
so oft wiederholen; Lügen werden durch Wiederholungen nicht wahrer.
({7})
Sie haben einen Überschuss übernommen, als Sie an die
Regierung gekommen sind.
({8})
Im darauffolgenden Jahr sind Sie auf ein Defizit zugesteuert und haben erst einmal ein Dreivierteljahr die
Hände in den Schoß gelegt und nichts unternommen, um
dem Defizit, das vorauszusehen war, zu begegnen.
({9})
Durch die Ausweitung der kollektivvertraglichen Regelungen und die Einengung der einzelvertraglichen
bzw. selektivvertraglichen Regelungen beschränken Sie
die Möglichkeiten der Hausärzte. Sie schwächen also
- vielleicht wollen Sie das ja - wieder einmal die Hausärzte. Beispielsweise haben Sie keine Regelung getroffen, um die hausarztzentrierte Versorgung zu stärken.
Die Entwicklung geht vielmehr in die Gegenrichtung.
Ein bisschen merkwürdig ist, dass ausgerechnet diejenigen, die mit ihren Planungen bisher nicht dafür sorgen
konnten, dass Überversorgung abgebaut und Unterversorgung vermieden wird, durch dieses Gesetz jetzt auch
noch gestärkt werden.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das Gesetz, das Sie hier
und heute mit Ihrer Mehrheit auf den Weg bringen, wird
nicht zu dem führen, was Sie angekündigt haben. Es
wird nicht zu einer besseren Versorgung auf dem Land
führen. Es wird nicht zu einem nennenswerten Abbau
der Überversorgung führen. Es wird vielleicht dazu führen, dass sich ein paar mehr Ärzte und Ärztinnen in unterversorgten Gebieten niederlassen werden. Aber mehr
Versorgungsangebote im ländlichen Raum werden nicht
entstehen, auch nicht dort, wo MVZ wirklich Sinn machen würden. Insofern werden wir Ihren Gesetzentwurf
ablehnen und nach der Regierungsübernahme 2013
({10})
ganz schnell alle erforderlichen Maßnahmen in die Wege
leiten, um die Situation zu verbessern.
Schönen Dank.
({11})
Wolfgang Zöller ist der nächste Redner für die Fraktion CDU/CSU.
({0})
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Ferner, Ihre Äußerungen zu unserem Gesetzentwurf waren nicht fern, sie waren ferner.
({0})
Im Gesetzentwurf steht nämlich etwas anderes als das,
was Sie hier verkündet haben.
({1})
Ich war in den letzten Jahren auf zig Veranstaltungen
zu Themen wie „Ein Land ohne Ärzte“, „Zu lange Wartezeiten“ oder „Was passiert nach der Entlassung aus
dem Krankenhaus?“. Ich muss sagen: Die meisten
Briefe, die mich zurzeit erreichen, sind ebenfalls einer
dieser Kategorien zuzuordnen.
Wie ist es dazu gekommen? Sie alle wissen: Die Zahl
chronischer Erkrankungen und die Multimorbidität nehmen zu; dies führt zu einem steigenden Bedarf an medizinischen Leistungen. Gleichzeitig sinkt das Nachwuchspotenzial in medizinischen und pflegerischen
Berufen.
Was waren bisher die Antworten der Politik? Wenn
wir ehrlich sind, ging es nie um die Qualität unseres Gesundheitswesens, sondern bei allen Reformen ging es
meistens um das Ziel, die Stabilisierung des Beitragssatzes zu gewährleisten - mit den Nebenwirkungen: Einschränkungen der Leistungen und Erhöhung der Zuzahlungen. Fest im Blick waren dabei immer die
vorhandenen Strukturen und die Frage, wie man sie erhalten und finanzieren kann. Theoretisch hieß es immer,
die Reform stelle den Patienten in den Mittelpunkt. Nach
der Reform hatte man aber den Eindruck, dass der Patient allen im Wege stand.
Die bürgerlich-liberale Koalition hat mit der Gesundheitsreform 2011 das Gesundheitssystem dauerhaft auf
ein solides finanzielles Fundament gestellt
({2})
und damit auch Planungssicherheit für alle Beteiligten
geschaffen. Nur auf dieser Basis sind wir in die Lage
versetzt worden, einen Gesetzentwurf zu verabschieden,
der die Bedürfnisse der Patienten in den Mittelpunkt
stellt.
Ab Januar werden endlich die Strukturen an die Bedürfnisse der Menschen angepasst und nicht umgekehrt.
({3})
Mit dem Versorgungsstrukturgesetz sind wir auf dem
richtigen Weg, eine flächendeckende, wohnortnahe medizinische Versorgung sicherzustellen.
Auch hierüber sollten wir offen diskutieren: Es wird
keinen Königsweg geben können. Mit den vielen Einzelmaßnahmen werden wir den regionalen Besonderheiten
aber am ehesten gerecht.
Ein ganz wesentlicher Punkt wird hier zum Beispiel
die flexible Ausgestaltung der Bedarfsplanung sein. Planungsbereiche müssen künftig nicht mehr, wie bisher,
den Stadt- und Landkreisen entsprechen. Wer wie ich
aus einem Flächenlandkreis kommt, weiß, dass aufgrund
der Landkreisgrenzen oft Regionen entstehen können, in
denen man zum Beispiel den nächsten Augenarzt 40 Kilometer und mehr entfernt findet. Dies werden wir ändern.
Von den Versicherten wird auch immer wieder beklagt, dass es insbesondere beim Übergang von der
haus- zur fachärztlichen Versorgung zu längeren Wartezeiten kommt. Mit den Maßnahmen in diesem Gesetz
werden sich die Wartezeiten besonders auch bei der
fachärztlichen Versorgung verkürzen, und die Versorgungsrealität der Patienten wird nachhaltig verbessert.
({4})
Der sogenannte Landarzt kann, wenn die neuen vielfältigen Möglichkeiten genutzt werden, wieder zu einem
Beruf werden, der mehr Freude macht. Auch der Tatsache, dass immer mehr Frauen den Arztberuf ergreifen,
wird durch frauen- und familienfreundlichere Regelungen Rechnung getragen.
Insbesondere wird die Anerkennung von Praxisbesonderheiten vereinheitlicht und erleichtert. Vertragsärzte sollen die medizinisch notwendigen Leistungen
verordnen können, ohne befürchten zu müssen, hierfür
in Regress genommen zu werden.
Die Sicherstellung des Notdienstes wird erleichtert,
zum Beispiel durch Kooperationen mit Krankenhäusern
oder durch Notfallpraxen an den Krankenhäusern.
Mobile Versorgungskonzepte werden gefördert. Mit
der Lockerung der Zweigpraxenregelung und der Aufhebung der bislang geltenden Residenzpflicht haben Ärzte
zudem die Möglichkeit, eine Praxis im ländlichen Raum
auch von einem Wohnort in der Stadt aus zu betreiben
oder zum Beispiel mehr als eine Praxis zu unterhalten,
um den Wegeaufwand für alle Beteiligten zu reduzieren.
Weiterhin wird die Möglichkeit zum Betrieb von Eigeneinrichtungen durch kommunale Träger geschaffen.
Das heißt, die Kommunen können sich auch an dieser
Daseinsvorsorge beteiligen.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen erhalten die
Möglichkeit, aus den Mitteln einzurichtender Strukturfonds die Neuniederlassung von Ärzten in Gebieten, in
denen eine Unterversorgung oder ein lokaler Versorgungsbedarf besteht, gezielt zu unterstützen.
Die Delegation ärztlicher Leistungen und die Telemedizin werden gefördert.
Eine langjährige Forderung der Betroffenen wird umgesetzt: die ambulante spezialfachärztliche Versorgung.
Damit erhalten Menschen mit schweren Erkrankungen
wie Aids, Krebs und Multiple Sklerose oder mit besonders seltenen Erkrankungen eine reibungslose, ineinandergreifende stationäre und ambulante Behandlung.
Das Entlassungsmanagement nach einem Krankenhausaufenthalt wird wesentlich verbessert und wird eine
verbindliche Leistung der Krankenkassen.
Daneben werden noch andere Dinge geregelt. Zum
Beispiel dürfen Kliniken nicht mehr überhöhte Entgelte
- gerade bei Beihilfeempfängern - verlangen. So mancher Patient hat hier in der Vergangenheit beim Öffnen
der Rechnung eine Überraschung erlebt.
({5})
Wir werden eine bundeseinheitliche Rufnummer für
den ärztlichen Bereitschaftsdienst, die 116 117, einrichten. Für Menschen mit Behinderung wird die zahnmedizinische Versorgung wesentlich erleichtert und verbessert.
Die elektronische Patientenquittung wird patientenfreundlich gestaltet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit schaffen wir endlich die dringend benötigten gesetzlichen
Grundlagen für eine gute, wohnortnahe und flächendeckende Versorgung der Menschen mit medizinischen
Leistungen.
({6})
Ich bin lange genug im Gesundheitswesen, in diesem
Haifischbecken, tätig. So weiß ich auch, dass sich nun
garantiert viele sogenannte Berater auf den Weg machen
werden, um aus diesem Gesetz den größten Nutzen
- sprich: viele Euros - herauszuschlagen, sei es für Kassen, Krankenhäuser, bestimmte Arztgruppen usw. All
jene, die aus Gewohnheit dieses Gesetz wieder so ausle17322
gen, dass Patienten nur als Mittel zum Zweck im Gesundheitssystem degradiert werden, möchte ich warnen:
Bei der Umsetzung dieses Gesetzes werden wir sehr genau hinschauen, damit bei demjenigen, für den all diese
Regelungen geschaffen wurden, die Verbesserungen
auch ankommen - beim Patienten.
({7})
Wir wollen eine wirklich konsequente Orientierung
am Patienten. Nach der Gesundheitsreform 2011 zur
nachhaltigen Finanzierung, nach dem AMNOG mit seiner Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel, nach
der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland für
bessere Informationen, nach dem Krankenhaushygienegesetz zum Schutz vor Infektionen folgt jetzt das Versorgungsstrukturgesetz, das den Patienten und die von ihm
benötigten Strukturen in den Mittelpunkt stellt.
({8})
Auf diesen Satz werden Sie bestimmt warten: Danach
wird natürlich konsequenterweise das Patientenrechtegesetz vorgelegt,
({9})
welches Patientenrechte weiterentwickelt, verständlich
zusammenfasst und dadurch auch einen Beitrag dazu
leistet, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu stärken.
({10})
Diese Gesetze sind Ausdruck einer erfolgreichen bürgerlichen Gesundheitspolitik, die den Patienten stärkt
und ihn damit zum Partner und nicht zum Bittsteller in
diesem Gesundheitssystem macht.
Heute ist ein guter Tag für die Patienten.
({11})
Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun wollen Sie es verabschieden, Ihr sogenanntes Versorgungsstrukturgesetz.
({0})
Dringender Handlungsbedarf besteht, um die gesundheitliche Versorgung überall, in Stadt und Land, für jede
und jeden, die oder der Hilfe braucht, wirklich flächendeckend zu sichern.
Doch was folgt aus dem heutigen Gesetz, beispielsweise für den ländlichen Raum,
({1})
wo sich Omi und Opi fragen: Mein Arzt geht in Rente;
wohin gehe ich? Ebenso schaut die junge Lehrerin, die
mit Mann und den Lütten ein Bauernhaus am Rande des
Dorfes ausbauen will, darauf, ob Kindergarten, Schule
und Arztpraxis vorhanden sind. Was kommt für die Erkrankten heraus, die derzeit im Ruhrgebiet 17 Wochen
und in Mecklenburg-Vorpommern gar 18 Wochen auf
ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten warten?
Was kommt heraus für Menschen mit Behinderungen,
beispielsweise die junge Frau mit geistiger Behinderung,
die ohnehin vor Männern in weißen Kitteln einen Horror
hat und nun noch beim Zahnarzt den Mund aufmachen
soll? Leider kommt dabei wenig zur Lösung dieser Probleme heraus.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist alles andere als ein
großer Wurf. Das Gesetz beinhaltet erste klägliche
Schritte eines notwendigen Marathons. Kein Grund, sich
zu rühmen!
({2})
Sie rühmen sich damit, wie es eingangs Herr
Lanfermann wieder getan hat, erstmalig kein Kostendämpfungsgesetz gemacht zu haben. Ja, Ihr Gesetz
bringt Mehrkosten in noch unkalkulierbarer Höhe mit
sich. Diese nehmen Sie einfach hin. Warum? Sie nehmen
diese Mehrkosten hin, nachdem Sie mit Zusatzbeiträgen,
der Kopfpauschale durch die Hintertür, dafür gesorgt haben, dass alle Ausgabensteigerungen allein von den Versicherten getragen werden müssen: Arbeitgeber und
Staat sind von den Zahlungsverpflichtungen ausgenommen. Da lassen sich leicht Regelungen für Zuwächse
beim Honorar der Ärzte und Zahnärzte machen.
Schlimm dabei ist, dass Ihr Honorarplus nicht einmal die
Ärztinnen und Ärzte erreicht, die es wirklich brauchen.
Das alles hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun.
({3})
Kommen wir zurück zu den Regelungen. Viele Berufsgruppen scheinen diese Bundesregierung gar nicht
zu interessieren. Sie scheinen gar nichts mit gesundheitlicher Versorgung zu tun zu haben. Kein Wunder, dass
wir haufenweise Briefe von Physio-, Ergo- und Psychotherapeuten erhalten. Kein Wunder, dass sich die Pflegeverbände fragen, ob denn die Pflege neuerdings nicht
mehr zur Versorgungsstruktur zählt.
Aber auch die ärztliche und psychotherapeutische
Versorgung der Bevölkerung wird sich mit diesem Versorgungsgesetz nicht ausreichend verbessern. Sie wird
damit auch nicht zukunftssicherer. Nach wie vor wissen
wir nicht, wie viele Ärztinnen und Ärzte, wie viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wir eigentlich
brauchen. Es hätte Mut erfordert, die Bedarfsplanung
endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Aber Mut hat
diese Bundesregierung nicht.
({4})
Wir haben mit unserem Antrag gezeigt, worum es geht:
Alle Gesundheitsberufe müssen in die Bedarfsplanung einbezogen werden, auch die Pflegeberufe, auch
die Heilberufe, auch die Hebammen. Gesundheitsversorgung ist mehr als ärztliche Versorgung. Fehlanzeige bei
Ihnen!
Die Ermittlung des gesundheitlichen Bedarfs muss
auf eine wissenschaftliche Basis gestellt werden, statt
bei den Ärzten Zufallszahlen aus dem Jahre 1993 und total unterdeckte Zahlen bei den Psychotherapeuten aus
dem Jahre 1999 einfach fortzuschreiben. Fehlanzeige bei
Ihnen!
Es muss endlich sektorenübergreifend geplant und
versorgt werden. Was nützt eine gut durchgeführte Operation im Krankenhaus, wenn die Nachsorge im Wohnumfeld nicht gesichert ist? Fehlanzeige bei Ihnen!
({5})
Wir müssen endlich dafür sorgen, dass das Geld dahin
fließt, wo der Bedarf am größten ist, und nicht dorthin,
wo die meisten Ärzte sind.
({6})
Nur so könnte es gelingen, bei der Attraktivität strukturschwachen Regionen einen Schub zu geben und eine
einheitliche Entwicklung in unserem Land zu befördern.
Thema Barrierefreiheit. Auch bei der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderungen
herrscht trotz der eingefügten Miniregelung letztendlich
Fehlanzeige. Es lagen gute Vorschläge vor, endlich die
zum Teil beschwerliche ärztliche und schlechte zahnärztliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen
zu verbessern. In der UN-Behindertenrechtskonvention
wird gefordert, hier etwas zu tun. Beschämend, dass
Deutschland mit dieser Bundesregierung nicht schneller
vom Fleck kommt.
({7})
Ich kann nur wiederholen, was wir seitens der Opposition schon bei der Verabschiedung des letzten Gesetzes
gesagt haben ({8})
das bekommen wir auch allabendlich bei Gesundheitsveranstaltungen immer wieder zu hören -: Das Beste an
dem Gesetz ist, dass es keinen dauerhaften Schaden verursacht.
Gut, dass es ab 2013 die Chance gibt, die Versorgung
ordentlich zu regeln. Wenn dann für eine optimale gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung und für gute
Arbeitsbedingungen aller im Gesundheitssystem Beschäftigten wirklich mehr Geld erforderlich sein sollte,
wäre durch Einführung einer solidarischen Bürgerinnenund Bürgerversicherung finanzieller Spielraum vorhanden, und zwar gerecht von allen getragen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Harald Terpe für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tagtäglich leisten Tausende von Pflegern und Pflegerinnen, von Ärzten und Ärztinnen, von Arzthelferinnen und Arzthelfern, von Physiotherapeuten,
Psychotherapeuten, Ergotherapeuten und Angehörige vieler anderer Berufsgruppen ihre Arbeit.
Zitat des Bundesgesundheitsministers aus der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs. - Richtig. Wir
alle haben Grund, uns bei den vielen für die geleistete
Arbeit zu bedanken.
({0})
Ich zitiere weiter:
Für die Leistung, die in den Gesundheitsberufen
tagtäglich erbracht wird, braucht es Motivation,
Vertrauen und Anerkennung. Genau das ist das Ziel
des Versorgungsstrukturgesetzes.
Wo bitte findet sich die Anerkennung der Pflegeberufe
außer im Kontext ärztlicher Entlastung, ganz zu schweigen von Regelungen zur Beseitigung des Pflegenotstands in den Kliniken?
({1})
Stattdessen werden vorrangig Partikularinteressen bedient. Bei mir zu Hause würde man sagen: Da will uns
einer ein X für ein U vormachen.
Aber vielleicht ist das nur im Überschwang des Eigenlobs herausgerutscht. Im Problemaufriss des Gesetzentwurfs wird die nachhaltige und sozial ausgewogene
Finanzierung der GKV gepriesen, um sich dann weiter
hinten im Gesetzentwurf zugunsten von ärztlichen und
zahnärztlichen Honorarsteigerungen notfalls unter Preisgabe des Sozialausgleichs der sozialen Tarnung völlig zu
entledigen.
({2})
Ich empfinde das als Vorsatz für die zweite dreiste
Umverteilung zulasten der finanziell Schwächeren. Es
wird uns von dieser Regierung immer wieder ein X für
ein U vorgemacht. Irreführendes politisches Marketing
und schillernde Ankündigungen einerseits,
({3})
aber keine oder minderwertige Lieferung andererseits:
Das ist das Markenzeichen der Koalition.
({4})
Ich muss an dieser Stelle auch mit dem Selbstlob im
Gesetzentwurf aufräumen, es gäbe keinen Sparzwang.
Ich schicke vorweg: Ich finde einen verantwortlichen
Umgang mit finanziellen Ressourcen generell richtig.
Aber wer die Beitragssätze in so klarer Weise erhöht und
Zusatzbeiträge eingeführt hat und damit im Grunde genommen die Krankenkassen unter Spardruck setzt und
ihnen die Möglichkeit nimmt, innovative Ansätze zu fördern oder in diese zu investieren, schafft nichts weiter
als einen Sparzwang durch die Hintertür.
({5})
Zweifelsohne steht unser Gesundheitswesen vor großen Herausforderungen. Eine älter werdende Bevölkerung
und die damit einhergehende Zunahme von chronischen
und Mehrfacherkrankungen verlangen grundlegende
strukturelle Veränderungen in der gesundheitlichen Versorgung, und das umso mehr, je weniger und später wir
die Gesundheitsförderung und Prävention vorantreiben.
Diagnostik und Heilung von Krankheiten wird zunehmend von kontinuierlicher Betreuung und Begleitung
zur Sicherung der Lebensqualität der Betroffenen flankiert. Dieser Wandel der Morbidität führt zwangsläufig
zu einem häufigeren Wechsel der Patientinnen und Patienten zwischen den Sektoren des Gesundheitssystems
und zieht auch schon aktuell eine multiprofessionelle
Behandlung nach sich.
Umso bedauerlicher ist, dass der Gesetzentwurf nach
den vielen Anregungen und Diskussionen im parlamentarischen Prozess die strukturellen Erfordernisse so wenig verfolgt. Der Koalition ist es nicht gelungen, ihre
arzt- und sektorenzentrierte Sichtweise zu relativieren.
({6})
In ihrer Gesundheitspolitik geht die Bedienung der Partikularinteressen in der Ärzteschaft, zum Beispiel durch
die Stärkung der Leistungserbringer im G-BA oder die
kostentreibende Honorarreform, mit einer Schwächung
der Kassen und letztendlich der Patienteninteressen einher. Wir werden das nicht widerstandslos akzeptieren.
Mit unserem Antrag „Wirksame Strukturreformen für
eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den
Weg bringen“ setzen wir eine klare Botschaft, wohin die
Reise mit den Bündnisgrünen in Sachen Strukturreform
geht. Unser Ziel ist eine sektorenübergreifende und professionenübergreifende Versorgung. Dabei soll die Primärversorgung deutlich aufgewertet werden. Sie ist für
uns mehr als eine hausärztliche bzw. hausarztzentrierte
Versorgung. Es bedeutet nämlich eine teamorientierte
Zusammenarbeit der unterschiedlichen Gesundheitsprofessionen mit neugestalteter Aufgabenverteilung. Ärztinnen und Ärzte als verantwortungsvolle Teamplayer
sind nicht nur eine schöne Vision, sondern es gibt sie
auch schon heute - trotz der Fehlanreize und berufsständischen Zementierungen, durch die ihre Arbeit immer
wieder erschwert wird.
Sucht man in Ihrem Gesetzentwurf nach Regelungen
zu nichtärztlichen Gesundheitsberufen, so stößt man auf
die in § 28 vorgesehene Regelung, nach der delegationsfähige Leistungen zur Entlastung der Ärztinnen und
Ärzte festgelegt werden sollen.
({7})
Aber das hat nichts mit dem notwendigen strukturellen
Wandel infolge der Veränderung der Morbiditätsstruktur
zu tun.
({8})
Dort geht es um die notwendige Stärkung eigenständiger
nichtärztlicher Kompetenz - ein völlig anderer Horizont
als Ihrer.
Lassen Sie mich kurz die wenigen Ansatzpunkte einer
sektorenübergreifenden Versorgung bewerten.
Zunächst die spezialfachärztliche Versorgung: Sie
wurde als eigenständiger Sektor und mit eigenständigen
Vergütungstatbeständen konzipiert. Das ist - entgegen
meiner Hoffnung in der ersten Lesung - kein Start in die
sektorenübergreifende Versorgung, weil nunmehr die
Einengung der im Leistungskatalog vorgesehenen Maßnahmen zwar die Kostenexplosion bremst, aber natürlich
innovative Ansätze ebenfalls ausbremst. Es wäre besser
gewesen, klare Regelungen zu Organisation und Umfang
der Versorgung ins Gesetz zu schreiben. Ich glaube, dass
dadurch jetzt eher eine Konkurrenzveranstaltung zweier
Sektoren organisiert wird, wenn auch mit Kooperationsgebot und vermutlich der Entstehung zusätzlicher Versorgungskapazitäten für seltene und besondere Erkrankungen - das sei Ihnen zugestanden; das ist eine
Verbesserung. Aber ich glaube, Chancen und Risiken der
Regelung dürften relativ dicht beieinander liegen, auch
deshalb, weil dadurch ein Run zulasten anderer Facharztgruppen droht.
Besonders auffällig an Ihrem Gesetzentwurf ist die
völlige Ausblendung des Krankenhaussektors, so, als ob
zukunftsweisende sektorenübergreifende Strukturveränderungen ohne Krankenhäuser denkbar wären. Das ist
für mich auch ein fatales Signal, besonders an die kleinen Krankenhäuser in strukturschwachen Regionen.
({9})
Lassen Sie mich noch auf zwei von der Koalition gesetzte zentrale Botschaften eingehen.
Erstens zur Novellierung der Bedarfsplanung: Hier
findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nach unserer Auffassung keine nachhaltige Reform der Bedarfsplanung, um
zum Beispiel auf der Grundlage verbindlicher Analysen
den künftigen Versorgungsbedarf besser ermitteln und
planen zu können. Obwohl die Möglichkeit eines gemeinsamen Landesgremiums geschaffen wird und im
G-BA den Ländern Mitspracherechte bei den Bedarfsplanungsrichtlinien eingeräumt werden, fehlt es an der
Durchsetzung einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung, die insbesondere auch in strukturschwachen Regionen zusätzliche Versorgungskapazitäten, beiDr. Harald Terpe
spielsweise aus dem Krankenhausbereich, mobilisieren
könnte.
Die zweite Botschaft war die Schaffung eines Landarztgesetzes.
({10})
Unter diesem Deckmantel bringen Sie eine erneute
Reform der vertragsärztlichen Vergütung auf den Weg.
Angeblich sollen die regionalen Verantwortlichkeiten
gestärkt werden. In der Praxis wird Ihre Reform aber
eher dazu führen, dass wieder diejenigen bei der Honorarverteilung das Rennen machen, deren Einfluss am
weitesten reicht. - Willkommen in der Vergangenheit!
({11})
Das ist gewiss nicht im Interesse der Patientinnen und
Patienten, sondern es ist der Abschied vom Bekenntnis
zur schrittweisen Konvergenz mit dem Ziel, vergleichbare Leistungen auch gleich zu honorieren. Das ist in der
Diskussion im Ausschuss ja auch klar geworden.
Das Problem der Unterversorgung und der Niederlassungsunwilligkeit ist unserer Überzeugung nach allein
mit der Zahlung eines Sicherstellungszuschlags und des
vermeintlichen Wegfalls von Mengenbegrenzungen
nicht zu lösen, zumal es bei den Hausärzten auf dem
Land eine Begrenzung im relevanten Umfang gar nicht
gegeben hat und von der Neuregelung jetzt Fachärzte in
Regionen profitieren, die gar keine Unterversorgung haben.
({12})
Insbesondere auch deshalb wird dieses Problem
dadurch nicht gelöst, weil in gut versorgten Metropolregionen infolge einer größeren Zahl an und höheren
Vergütung durch Privatpatienten ohnehin bessere Honorarsituationen bestehen. Sie verweigern eine Honorarreform, die die PKV letztendlich einbezieht. Das ist ganz
klar zu kritisieren.
({13})
Bei der Abstimmung über Ihren Entschließungsantrag
- er enthält Forderungen an die Länder, die wir durchaus
teilen - werden wir uns enthalten müssen, da Sie es sich
im Feststellungsteil nicht verkneifen konnten, Ihr Versorgungsstrukturgesetz zu beweihräuchern.
({14})
Ich komme zu dem Schluss, dass dieser Gesetzentwurf nicht geeignet ist, die notwendigen strukturellen
Reformen, die sich aus der veränderten Morbiditätsstruktur und dem demografischen Wandel ergeben, einzuleiten. Wir lehnen diesen Gesetzentwurf deshalb als
unzureichend ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort erhält nun der Bundesgesundheitsminister.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Heute ist Welt-Aids-Tag. Wir tragen aus
Solidarität mit Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden, heute diese Aidsschleife. Dabei
haben wir in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern seit Jahren durch unsere Arbeit die niedrigste Neuinfektionsrate der Welt. Gegenüber 2006, als
wir 3 400 Aids-/HIV-Neuinfizierte hatten, ist es uns gelungen, diese Zahl 2011 nochmals zu senken: auf 2 700.
Das ist ein großer Erfolg der gemeinsamen Präventionsarbeit im Kampf gegen HIV und Aids, die wir in
Deutschland seit vielen Jahren leisten.
({0})
Es zeigt uns auch, dass die Versorgung von HIV-Infizierten mittlerweile immer besser geworden ist, dass HIVInfizierte mit dieser nicht heilbaren Krankheit dennoch
so behandelt werden können, dass sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Warum erzähle ich das ganz bewusst am Anfang meiner Rede? Weil auch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz Antworten auf die Sorgen und Nöte dieser Menschen bietet, nämlich eine gute medizinische Versorgung
im Alltag zu erleben. Das Versorgungsstrukturgesetz
schafft für Krankheiten mit besonders schwerem Verlauf
wie HIV/Aids, wie Multiple Sklerose und wie andere
seltene Erkrankungen extra eine spezialfachärztliche
ambulante Versorgung. Damit erreichen wir, dass endlich die starren Sektoren zwischen dem Krankenhausbereich und den niedergelassenen Ärzten überwunden werden, dass die Behandlung der Patienten bestmöglich - in
der Regel in Kooperation zwischen Krankenhaus und
niedergelassenen Fachärzten - gelingt. Das ist eine deutliche Verbesserung für die Versorgung der Menschen,
({1})
gerade derer, die aufgrund einer Krankheit mit besonders
schwerem Verlauf oder einer seltenen Erkrankung darauf
angewiesen sind, dass sie die bestmögliche Versorgung
von Spezialisten bekommen.
Wir, die CDU/CSU-FDP-Koalition, haben die Prioritäten in der Gesundheitspolitik in Deutschland verändert.
({2})
Während lange Jahre in Deutschland mehr Geld für Arzneimittel als für die ambulante Versorgung ausgegeben
wurde, können wir nun feststellen, dass in Deutschland
wieder mehr Geld für die ambulante Versorgung als für
die Arzneimittel ausgegeben wird. Das ist ein Erfolg un17326
serer Politik, unserer Gesetze; denn wir haben mit dem
Arzneimittelgesetz Einsparungen vollzogen.
({3})
Die Menschen wissen, dass sie sich in Deutschland
auf ein Gesundheitswesen verlassen können, das seinesgleichen sucht. Die Herausforderung ist, dieses Gesundheitssystem so zu erhalten, wie die Menschen es zu
schätzen wissen. Wir gewährleisten, dass im Krankheitsfall jede Bürgerin und jeder Bürger unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht, Herkunft oder Vorerkrankung die medizinische Behandlung und Betreuung
erhält, die notwendig ist.
({4})
Dazu zählt eben auch, dass sich die Menschen auf das
verlassen können, was andere Länder so nicht kennen:
freie Arztwahl, freie Krankenhauswahl, freie Krankenversicherungswahl und Therapiefreiheit. Das sind Freiheiten, die Menschen in anderen Ländern, insbesondere
mit staatlichen Gesundheitssystemen, von denen Sie uns
immer so gerne erzählen und die Sie uns hier empfehlen
wollen, nicht erleben. Dort erleben sie Mangelverwaltung, die längsten Wartezeiten und die schärfsten Unterschiede aufgrund einer Zweiklassenmedizin. Wir in
Deutschland können stolz darauf sein, dass unser Gesundheitssystem so leistungsfähig ist. Zu dessen Erhaltung wollen wir mit diesem Gesetz beitragen.
({5})
- Liebe Frau Ferner, liebe Frau Rawert, Sie krakeelen ja
schon wieder herum. Herr Lanfermann hat allerdings
recht: Das Dazwischenrufen macht es nicht besser.
({6})
Es scheint ja wehzutun, was ich gesagt habe.
Ihr Entschließungsantrag zeigt die Ideologie, die Ihre
Gesundheitspolitik prägt.
({7})
Sie versuchen die Interessen derjenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind, die Belange der Leistungserbringer, gegen die Interessen der Patienten zu stellen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, hören Sie endlich damit auf,
zu glauben, dass der Patient besonders gut bedient ist,
wenn der Arzt demotiviert ist. Nein, wir brauchen Anreize, damit der Leistungserbringer motiviert ist, damit
er Spaß an der Arbeit hat!
({8})
Wie soll denn ein Patient besser versorgt werden, wenn
der Arzt mit Bürokratie überlastet ist, wenn er das Gefühl hat, er bekomme keine leistungsgerechte Vergütung? Meinen Sie, dadurch werde eine bessere Versorgung für den Patienten gewährleistet? Das liegt doch im
gemeinsamen Interesse; der Patient profitiert doch davon, wenn auch der Arzt ein Interesse daran hat, die
bestmögliche Versorgung für den Patienten zu erbringen.
Ich kann dieses Gegeneinanderstellen nicht mehr verstehen. Deswegen sorgen wir mit den richtigen Anreizen
und eben nicht mit Zwang dafür, dass die wohnortnahe
Versorgung für die Menschen gerade in der Fläche gewährleistet ist.
Wenn es etwas gebracht hat, dass die FDP im Bundesgesundheitsministerium ist und Sie in der Opposition
sind, dann ist es offensichtlich eines: dass wir heute über
einen drohenden Ärztemangel reden und endlich Schritte
diskutieren, wie dieser drohende Ärztemangel angegangen wird.
({9})
Sie haben noch vor zwei Jahren, als wir die Regierung
übernommen haben, geleugnet, dass uns in Deutschland
ein Ärztemangel droht.
({10})
Sie haben gesagt: Wir haben genügend Ärzte; die müssen nur zwangsweise aufs Land verteilt werden. Mit
Zwang werden Sie aber keine jungen Mediziner motivieren, in der Fläche tätig zu sein. Wir setzen die richtigen
Anreize.
({11})
Jetzt reden Sie immer von Unterversorgung und
Überversorgung. Selbstverständlich gibt es auch Überversorgung in Deutschland. Es gibt Über-, Unter- und
Fehlversorgung in Deutschland. Wir gehen das mit einer
flexiblen Bedarfsplanung an. Die Bedarfsplanung, die
wir heute haben, entspricht doch gar nicht dem Bedarf.
Sie ist auf den Stand Anfang der 90er-Jahre aufgesetzt,
als man einfach alle vorhandenen Ärzte gezählt hat. Diesen Bestand hat man dann festgeschrieben und ihn als
Bedarfsplan bezeichnet.
({12})
Wir ändern das, weil wir endlich dafür sorgen, dass in
den Regionen, in den Landkreisen genau geschaut wird,
wo Bedarf besteht, wo ein zusätzlicher Psychologe, ein
zusätzlicher Neurologe, ein zusätzlicher Dermatologe
gebraucht wird. Das heißt, wir geben die Flexibilität, um
genau zu schauen: Wo besteht Bedarf? Wo besteht vielleicht eine Überversorgung, die abgebaut werden muss?
Auch das ist nämlich bei uns enthalten: Die Kassenärztlichen Vereinigungen erhalten die Möglichkeit, dort, wo
unbegründet eine Überversorgung besteht, wo die Versorgung nicht dem Bedarf entspricht, frei werdende
Arztsitze aufzukaufen. Das - und nicht das, was Sie fordern - ist ein nachhaltiger Abbau der Überversorgung.
Das, was Sie fordern, ist doch nichts anderes als modernes Robin-Hood-Gehabe. Sie sagen, Überversorgung
werde abgebaut, wenn man jene Ärztinnen und Ärzte bestraft, die sich vor 10 oder 20 Jahren entschieden haben,
in einem Ballungsraum eine Arztpraxis mit viel Geld
aufzubauen. Glauben Sie, dass irgendein Arzt aus Hamburg seine Praxis schließt und eine neue Praxis an der
Schlei eröffnet, nur weil Sie ihm Honorarkürzungen von
5 Prozent oder 10 Prozent verordnen?
({13})
Diese Regelung stand jahrelang im Gesetz, und Sie haben sie unter Ihrer Führung nicht angewandt. Das zeigt
uns doch, dass dieses Instrument dem Abbau der Überversorgung nicht gerecht wird, sondern nur einen Verteilungskampf in die Ärzteschaft hineinträgt. Damit verbessern wir die Versorgung der Menschen in den
Ballungsräumen und in der Fläche keineswegs.
({14})
Interessant ist, dass die Ländergesundheitsminister
dort, wo Sie - Linke, Grüne, SPD - Verantwortung tragen, sagen, der Bund müsse etwas für den Abbau der
Überversorgung tun. Landtagsfraktionen von Union und
FDP haben einmal vor Ort nachgefragt. Plötzlich stellen
wir fest, dass diese Ländergesundheitsminister, wie zum
Beispiel die Gesundheitssenatorin in Hamburg, leugnen,
dass es bei ihnen eine Überversorgung gibt.
({15})
Dann kritisieren Sie die langen Wartezeiten, und wir
fragen: Wie sähe es denn aus, wenn in Hamburg Arztpraxen geschlossen würden, wenn Überversorgung abgebaut werden würde? Was würde das für die Wartezeiten bedeuten? Und schon wieder stellen wir Unlogisches
fest. Schon wieder stellen wir fest, dass Sie offensichtlich nur bei Allgemeinplätzen verharren und die Probleme und Sorgen der Menschen nicht lösen. Wir machen das.
({16})
Viele junge Mediziner haben Sorge, dass sie, wenn sie
sich in der Fläche niederlassen, doppelt bestraft werden;
nämlich mit immer mehr Patienten. Deswegen sorgen
wir dafür, dass die Mengenabstaffelung in der Fläche abgeschafft wird, dass es Zuschläge geben kann, damit die
jungen Mediziner, die in die Fläche gehen, auch die Perspektive haben, dass sie dort eine leistungsgerechte Vergütung bekommen. Wir schaffen die Residenzpflicht ab.
Wir lockern die Regelungen zu Zweitpraxen. Wir geben
die Möglichkeit einer Eigeneinrichtung dort, wo sich
kein Arzt findet, und wir bauen die Sorgen vor Regressforderungen ab, damit der Arzt, der viele Patienten zu
betreuen hat, keine Angst haben muss, für zu viele Arzneimittelverschreibungen in Haftung genommen zu werden. Auch das ist ein wichtiger Bereich.
Außerdem sorgen wir dafür, dass der gesellschaftliche
Wandel im Gesundheitswesen ankommt; denn wir wissen, dass die Medizin immer weiblicher wird und dass
junge Männer wie Frauen heute eine andere Einstellung
zum Beruf haben. Auch auf diesen gesellschaftlichen
Wandel müssen wir Antworten finden. Die Vereinbarkeit
von Familie und Gesundheitsberuf ist uns ein ganz wichtiges Anliegen in diesem Gesetzentwurf,
({17})
weil der Arztberuf leider noch auf einem alten Gesellschaftsbild in den Strukturen von Krankenhäusern und
Kassenärztlichen Vereinigungen aufbaut.
Insofern: Dies ist ein gutes Gesetz, und damit werden
endlich die Probleme der Menschen vor Ort angepackt,
die sich sorgen: Habe ich morgen noch eine wohnortnahe Versorgung? Kann ich mich darauf verlassen, dass
es in der Fläche noch Ärzte gibt? Wir sorgen dafür, dass
die Menschen den Landarzt nicht nur aus einer idyllischen Vorabendserie kennen, sondern ihn auch weiterhin
real erleben. Wir sorgen dafür, dass sie sich auf das bestmögliche Gesundheitswesen in Deutschland verlassen
können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Karl Lauterbach für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Brüderle, ich saß vor einigen Jahren
mit einem Ihrer Vorgänger in der Businessclass.
({0})
Wir hatten damals über Gesundheitsreformen verhandelt. Damals habe ich mich bitter beschwert, dass die
Reform wieder einmal an der FDP gescheitert ist. Da
seufzte der Kollege und meinte: Im Gesundheitsbereich
- das gebe ich zu - sitzen bei uns die falschen Leute. Zu
viel Lobbyismus war damals unser Thema: zu viel Lobbyismus, zu wenig Wettbewerb. Wissen Sie, was die
Rede des Kollegen Bahr gerade gezeigt hat? Bis heute
sitzen im Gesundheitsbereich bei Ihnen die falschen
Leute. Der Lobbyismus ist Ihnen wichtiger als der Wettbewerb, Herr Kollege Brüderle.
({1})
Ich will versuchen, das darzustellen. Womit haben wir
es jetzt zu tun? Das Gesetz ist ein Versorgungsgesetz.
Aber um welche Versorgung geht es denn? Es geht doch
nicht um die Versorgung der Patienten oder der Versicherten. Es geht um die Ärzteversorgung. Das Gesetz
müsste korrekterweise Ärzteversorgungsgesetz heißen
oder noch präziser: Gesetz zur Stärkung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Das entspricht doch dem, was beschlossen wurde. Sie haben von allen Maßnahmen, die
die Versorgung der Patienten verbessert hätten, Abstand
genommen, beispielsweise von der ungleichen Honorierung durch gesetzlich Versicherte und Privatpatienten.
Dies ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb die Ärzte
auf dem Land für wenig Geld lange arbeiten müssen und
in den Großstädten zum Teil mit wenig Patienten gut
verdienen.
({2})
Dieses Problem haben Sie überhaupt nicht anzugehen
gewagt. Die FDP steht dafür, dass die gleiche medizini17328
sche Leistung vom Privatpatienten teurer bezahlt werden
muss. Was ist denn das für ein Wettbewerb, Herr
Brüderle? Das ist doch ein Witz. In Wirklichkeit ist es
so: Der Hauptgrund für die Fehlverteilung der Ärzte
wird nicht beseitigt.
Der zweite Punkt. Auch hier werden allein die Vorstellungen der Kassenärztlichen Vereinigungen berücksichtigt. Wer wird demnächst die präzise regionalisierte
Honorarverteilung vornehmen? Nicht die Patientenvertreter, sie erfolgt auch nicht über den Wettbewerb der
Krankenkassen, sondern sie wird durch die Kassenärztlichen Vereinigungen vorgenommen, also genau durch die
Einrichtung, die die Fehlverteilung, die der Minister beklagt, verursacht hat. Es ändert sich nichts. Es wird de
facto nichts geändert.
Der einzige Punkt, der geändert wird, ist: Die Ärzte
auf dem Land, die ohnedies überlastet sind, die bis acht
Uhr abends arbeiten, deren Praxen total voll sind, bekommen ein bisschen mehr Geld. Das gönne ich den
Ärzten - damit wir uns nicht falsch verstehen -, aber
diese Ärzte können keine zusätzlichen Patienten behandeln.
({3})
Somit wird nichts anderes gemacht, als die bestehende
Fehlversorgung aufrechtzuerhalten. Die überlasteten
Ärzte bekommen ein bisschen mehr Geld.
Sie hätten dafür sorgen müssen, dass in den überversorgten Gebieten die frei werdenden Praxen aufgekauft
werden - es geht ja nicht um den Kauf von Praxen, die
nicht frei werden - und auf dem Land neue eröffnet werden. Das war die Maßnahme, die wir alle für richtig hielten. Vor dieser Maßnahme haben Sie Angst gehabt, weil
Ihnen die Kassenärztlichen Vereinigungen dieses nicht
erlaubt haben. Sie sind eingeknickt vor den Lobbyisten
der Kassenärztlichen Vereinigungen. Daher wird dieses
Gesetz zum Schluss keine Verbesserung der Versorgungsstruktur bringen.
({4})
- Nein, es ist kein Zerrbild.
({5})
- Das ist nicht von vorgestern.
Ich nenne ein weiteres Beispiel. Sie bauen eine neue
Doppelstruktur auf. Sie bauen eine spezielle fachärztliche Versorgung auf. Der Minister hat die Chuzpe besessen und das sogar im Zusammenhang mit der verbesserten Aidsvorbeugung hier vorgetragen. Die Aidsvorbeugung, die wir alle gemeinsam beschlossen haben,
hat mit dieser Art der Versorgung überhaupt nichts zu
tun. Sie, Herr Minister, haben das Vorbeugegesetz, das
während der Großen Koalition in der Schublade lag, eingesackt; das war Ihre erste Amtshandlung. Sie haben für
die Vorbeugung - das ist doch unstrittig im Haus - bisher gar nichts gemacht.
({6})
Sie machen nichts für die Vorbeugung und nennen ausgerechnet das Beispiel Aids.
Das einzige, was Sie machen, ist der Aufbau einer
neuen Versorgungsstruktur, die spezielle fachärztliche
Versorgung. Die speziellen Fachärzte werden aber mit
den Hausärzten konkurrieren. Somit wird es letztendlich
weniger Hausärzte geben. Eine junge Ärztin, die sich
nach dem Studium entscheiden muss, wohin sie geht und
was sie macht, hat eine weitere Option, die mit der
Hausarztversorgung nichts zu tun hat: Sie kann sich als
spezialärztliche Versorgerin in der Stadt niederlassen.
Das führt dazu, dass wir weniger Hausärzte haben und
nicht mehr.
Die bestehende Versorgung wird teurer, auf der
Grundlage der Einschätzung der Krankenkassen um
etwa 2 Milliarden Euro. Die Versorgung wird aber in der
Qualität nicht besser. Die Kassenärztlichen Vereinigungen werden gestärkt. Und das Ganze wollen Sie uns verkaufen als ein Gesetz, mit dem die Versorgung der Patienten verbessert wird? Ich bitte Sie! Das gelingt noch
nicht einmal Herrn Lanfermann, bei dessen Rede die
Union nicht geklatscht hat. Bei allem Selbstlob, für das
Sie bekannt sind, Herr Lanfermann, dieses Gesetz wird
die Versorgungsstruktur in Deutschland nicht verändern.
({7})
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lotter
zu?
Ja.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Lauterbach, stimmen Sie mir erstens zu, dass Hausärzte für andere Krankheitsbilder zuständig sind als spezialfachärztlich tätige Ärzte und dass
es insofern zu keiner Konkurrenzsituation kommen
kann, sondern es sich um eine Ergänzung handelt?
Stimmen Sie mir zweitens zu, dass Ärzte, die gezwungen werden sollen, in unterversorgte Gebiete zu gehen, dann eher den Weg in die Schweiz oder nach Skandinavien wählen?
({0})
Zum ersten Punkt. Ich habe bereits ausgeführt - ich
denke, das war leicht verständlich -, dass wir zu wenige
Mediziner haben. Wenn diese wenigen Mediziner sich
zwischen einer schlecht bezahlten Hausarzttätigkeit auf
dem Land und einer gut bezahlten Facharzttätigkeit in
der Stadt entscheiden können, dann wird es noch weniDr. Karl Lauterbach
ger Mediziner geben, die sich für die Hausarzttätigkeit
entscheiden. Somit werden noch weniger Ärzte in der
Hausarztversorgung und noch mehr Ärzte in der Facharztversorgung tätig sein. Sie verschlimmern ein bestehendes Problem.
({0})
Zum zweiten Punkt. Niemand geht ins Ausland, wenn
die Rahmenbedingungen in Deutschland stimmen. Das
heißt, egal ob es um gesetzlich Versicherte oder Privatversicherte geht, Ärzte müssen durch Bürokratieabbau
entlastet und auskömmlich bezahlt werden. Die Vorbeugung muss besser bezahlt werden. Wir brauchen mehr
Wettbewerb und mehr Transparenz. Wir brauchen all
das. Aber das Gesetz leistet dazu keinen Beitrag. Das ist
doch der Grund, weshalb es sich immer weniger lohnt,
als Arzt in Deutschland tätig zu sein.
({1})
- Wir werden das machen. Ich gehe in der Tat fest davon
aus, dass wir Sie ab 2013 bei dieser Aufgabe entlasten
können.
({2})
Ich möchte darauf hinweisen: Dieses Gesetz - da
stimme ich der Kollegin Bunge nicht zu - kann man
nicht abtun als ein Gesetz, das zwar nichts bringt, aber
keinen dauerhaften Schaden anrichtet. Dem ist, glaube
ich, nicht so. Für all die Probleme, die wir jetzt nicht lösen, gilt: Uns läuft die Zeit weg. Sie müssen bedenken:
Heute zahlen die Menschen in den unterversorgten Gebieten den gleichen Beitrag wie die Menschen in den
Städten - zum Teil mehr - für eine Versorgung, die sie
de facto nicht haben. Die Menschen auf dem Land zahlen den gleichen Beitrag, die gleichen Zusatzbeiträge
und Sonderbeiträge für eine Leistung, die sie nur bekämen, wenn sie umziehen würden. Wir schulden den
Menschen in den unterversorgten Gebieten schon seit
Jahren eine Verbesserung ihrer Versorgung; denn sie
zahlen voll, bekommen aber weniger. Im Hinblick darauf haben Sie in diesem Gesetz nichts geleistet. Sie sind
vor den Lobbyisten eingeknickt. Das ist insbesondere für
die FDP eine Schande; denn die FDP muss in diesen
Zeiten gegen den Ruf kämpfen, nichts anderes zu sein
als eine reine Klientel- und Lobbyistenpartei.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Lauterbach, erste Klasse fliegen, aber Apologet der Zweiklassenmedizin sein - das ist eine gewisse
Kunst, die Sie uns hier präsentiert haben.
({0})
Am Beispiel eines Fluges in der ersten Klasse kann man
wunderschön deutlich machen, wo Ihr Problem in der
Argumentation besteht.
({1})
Entscheidend bei einem Flug ist, dass Sie sicher von A
nach B kommen, dass die entsprechenden Sicherheitsanforderungen erfüllt sind, dass der Pilot die entsprechende
Ausbildung hat, dass Sie angenehm sitzen können. Derjenige, der dann zusätzlich etwas will - meinetwegen die
Schokolade bei der Landung -, gönnt sich die Businessclass. Genau das ist unser Verständnis von Gesundheitspolitik. Wir wollen eine Grundversorgung, die sicherstellt,
dass jeder - unabhängig vom Alter, vom Einkommen,
vom sozialen Status und davon, wo er lebt - die notwendige medizinische Versorgung auf dem aktuellen Stand
von Technik und Wissenschaft bekommt. Wer sich aber
mehr leisten will, soll das auch tun können. Beim Fliegen den Wettbewerb und die Differenzierung selbst nutzen und die erste Klasse genießen, in der Gesundheitspolitik aber Wettbewerb und Differenzierung nicht
zulassen - das ist doppelzüngig, lieber Herr Kollege
Lauterbach. Das ist heute deutlich geworden wie selten.
({2})
Wir haben in Deutschland - das ist ohne Zweifel so;
der Herr Minister hat darauf hingewiesen - eines der
besten Gesundheitssysteme der Welt. Schauen Sie auf
die Wartezeiten und die flächendeckende Versorgung. Es
nutzt Ihnen nichts, wenn es Spitzenmedizin in London
oder New York gibt, sondern es ist entscheidend, dass
Sie - wie es in Deutschland der Fall ist - eine gute Versorgung in der Fläche haben. Jedoch steht auch das beste
Gesundheitssystem der Welt vor Herausforderungen,
Veränderungen und Problemen. Mit diesem Versorgungsstrukturgesetz gehen wir die Probleme im Versorgungsalltag der Menschen an, die uns ganz konkret
- auch in den Bürgersprechstunden im Wahlkreis sowie
bei Veranstaltungen - nahegebracht werden. Wir greifen
sie auf und wollen sie mit einem Bündel verschiedener
Maßnahmen lösen. Deswegen ist das - der Patientenbeauftragte hat das schon zu Recht gesagt - heute ein guter
Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutschland.
({3})
Dieses Gesetz reiht sich nahtlos ein in die Gesundheitsgesetzgebung der christlich-liberalen Koalition. Wir
haben mit dem GKV-Finanzierungsgesetz eine solide
Basis für die gesetzliche Krankenversicherung geschaffen. Eines der größten Defizite, das für 2011 in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung erwartet
wurde, haben wir mit kurzfristigen Maßnahmen, vor allem aber auch mit einem Konzept zur langfristigen
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ab17330
gewendet. Die Finanzierung erfolgt nicht mehr nur lohnabhängig, sondern - gerechter - über einen steuerfinanzierten Sozialausgleich bzw. über den Zusatzbeitrag.
({4})
Die gesetzliche Krankenversicherung befindet sich - mit
so vielen Rücklagen und so vielen Möglichkeiten wie
noch nie - in einer guten Lage. Zum einen ist das ein
Verdienst derjenigen, die ihren Beitrag leisten mussten:
der Apotheker, der Pharmaindustrie, der Ärzte und der
Krankenhäuser. Sie werden in den Jahren 2011 und 2012
weniger haben, als eigentlich geplant war. Zum anderen
ist es dem Beitrag der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber
geschuldet. Es ist aber auch ein großer Erfolg christlichliberaler Gesundheitspolitik. Darauf sind wir auch ein
Stück weit stolz.
({5})
Neben der Frage der Finanzierung gibt es ein zweites
entscheidendes Qualitätsmerkmal des deutschen Gesundheitswesens, nämlich den Zugang zu Innovationen.
Auf der gesamten Welt findet man im Grunde kein anderes gesetzliches Gesundheitssystem, in dem beispielsweise Arzneimittel direkt ab Zulassung erstattungsfähig
sind und bezahlt werden. Das gibt es nur in Deutschland.
Wir haben aber gesagt: Es kann nicht sein, dass die jahrzehntelange Praxis in Deutschland fortgesetzt wird,
unabhängig vom tatsächlichen Zusatznutzen, also unabhängig von der Frage, ob ein neues Medikament tatsächlich mehr Nutzen bringt und eine Verbesserung darstellt,
und dass wir jeden Preis zahlen, der verlangt wird. Wir
haben mit dem sogenannten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz die Balance zwischen dem Bedürfnis der
Patienten nach Hilfe - denn mit neuen Medikamenten ist
auch viel Hoffnung auf Leidminderung, etwa bei der
Krebstherapie, verbunden - und dem Bedürfnis nach angemessenen Preisen hinbekommen. Sie haben jahrelang
davon geredet, wir haben es jetzt vernünftig umgesetzt.
Das ist es doch, was Sie so wurmt, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({6})
Das Versorgungsstrukturgesetz passt nahtlos zum
dritten Qualitätsmerkmal des deutschen Gesundheitswesens, das darin besteht, eine flächendeckende Versorgung bei hoher Qualität sicherzustellen. Wir haben damit
begonnen, mit dem Krankenhausinfektionsschutzgesetz
den Versorgungsbereich in den Blick zu nehmen. Dabei
geht es um die Frage der Hygiene in den Krankenhäusern. Das ist ein Thema, welches die Menschen - leider
auch immer wieder wegen trauriger Vorfälle wie jetzt in
Bremen - zu Recht massiv bewegt. Sie wollen nicht
kranker aus den Krankenhäusern kommen, als sie hineingegangen sind. Wir haben da bundesgesetzlich geregelt, was zu regeln war. Jetzt sind die Länder gefragt übrigens auch Bremen. Wir wollen Anfang nächsten
Jahres den Entwurf eines Patientenrechtegesetzes vorlegen.
Im Kern der Überlegungen zur Versorgungsstruktur
steht für uns aber das Versorgungsstrukturgesetz. Ein
Kernelement dieses Gesetzes ist, die flächendeckende
Versorgung - insbesondere die flächendeckende ärztliche Versorgung - in den Blick zu nehmen. Ich selber
komme vom Land, aus dem Münsterland. Da ist es heute
schon so, dass es für uns in den kleineren Orten nahezu
unmöglich ist, einen Nachfolger für jemanden zu finden,
der seine Praxis aufgibt. Es wird inseriert, um einen
Nachfolger zu finden. Aber es ist nahezu unmöglich, jemanden dazu zu bewegen, eine Praxis auf dem Land zu
übernehmen, egal ob im Münsterland, in der Eifel, in
Mecklenburg-Vorpommern oder im Bayerischen Wald.
Das gleiche Problem besteht übrigens auch - es ist schon
darauf hingewiesen worden; es ist wichtig, zu differenzieren - in manchen großstädtischen Stadtteilen wie in
Berlin-Neukölln, in Köln-Chorweiler und im Essener
Norden. Auch hier ist es schwierig, Ärzte zu finden, die
bereit sind, dorthin zu gehen; denn die Arbeit dort ist
schwerer.
Wir gehen an das Problem heran, indem wir zum einen eine kleinräumigere Bedarfsplanung durchführen.
Wir schauen uns kleinere Einheiten an - nicht mehr nur
ganze Landkreise oder Großstädte -, um festzustellen,
wo die Versorgung gut ist und wo nicht. Wir wollen differenzieren. Wenn wir wissen, wo die Versorgung gut ist
und wo zusätzlicher Bedarf an Ärzten besteht, wollen
wir zum anderen Anreize setzen, indem wir etwa ein höheres Honorar zahlen und das Honorarsystem so verändern, dass es attraktiver wird, sich um die schwierigeren
Fälle zu kümmern, und indem wir die Regelung zur Residenzpflicht so ändern, dass der Arzt nicht mehr dort
wohnen muss, wo er seine Praxis hat. Wir sorgen also für
mehr Flexibilität.
({7})
Herr Kollege Lauterbach, eines unterscheidet uns
grundsätzlich - das stört mich schon den ganzen Morgen
hier in der Debatte, auch das, was Sie hier gesagt haben -: Wir wissen, dass man eine gute Versorgung der
Menschen im Land nur mit den Ärzten und nicht gegen
sie schafft;
({8})
Sie wollen da mit dem Hammer ran. Wir hatten hier im
Deutschen Bundestag schon Anträge vorliegen, in denen
Sie gefordert haben: Wer als Facharzt nicht innerhalb
von zwei oder drei Wochen einen Termin ermöglicht, der
soll 10 000 oder 15 000 Euro Strafe zahlen. - Sie wollen
mit dem Hammer ran; Sie wollen mit Zwang arbeiten;
Sie wollen Sanktionen. Das ist nicht unser Weg; denn er
führt am Ende nicht zu einer guten Versorgung, sondern
zu Frustration.
({9})
Deswegen arbeiten wir mit Anreizen, mit den Ärzten,
nicht gegen sie, für eine gute Versorgung der Menschen.
({10})
Die Menschen haben ein gutes Gespür für das, was
notwendig ist. Sie wissen natürlich, dass die Debatte
über die flächendeckende medizinische Versorgung,
über die Verteilung der Ärzte, eine Vorbotendebatte über
die anderen Fragen der Versorgung ist. Deswegen stellen
wir das in den Mittelpunkt. Da, wo kein Arzt ist, wird
auf Dauer auch kein Apotheker existieren können. Eine
Apotheke ohne Rezept, das ist auf Dauer schwierig. Physiotherapeuten zum Beispiel werden sich auf Dauer nicht
dort niederlassen, wo es keine Ärzte gibt, weil sie dort
nicht überleben können.
Unsere Vorbotendebatte geht übrigens mit anderen
Diskussionen über die Infrastruktur im ländlichen Raum
einher. Wir haben Debatten darüber, ob Schulen vor Ort
bestehen bleiben können oder wie es mit dem Einzelhandel vor Ort weitergeht. Selbst Kirchengemeinden müssen fusionieren. Da ist es für die Menschen gerade im
ländlichen Raum ein entscheidendes Thema, ob es noch
einen Arzt, einen Hausarzt oder einen Facharzt vor Ort
gibt. Deswegen greifen wir dieses zentrale Thema auf;
es bewegt die Menschen. Es ist fast ein höhnischer
Schlag in die Gesichter der Menschen, wenn man hört,
wie Sie hier und heute mit diesem Thema umgehen.
({11})
Es steht noch deutlich mehr in diesem Gesetz. Wir
wollen das Thema des sogenannten Entlassmanagements
angehen. Wenn ein Patient am Freitagnachmittag nach
einer Hüftoperation aus der Klinik entlassen wird: Hat
sich jemand darum gekümmert, was anschließend passiert? Wurde darauf geachtet, ob ambulante oder stationäre Pflege nötig ist, ob eine Familie da ist, die den Patienten auffängt, oder ob jemand alleine lebt? Wurde
vorab mit dem Arzt, der weiterbehandelt, gesprochen?
Das passiert heute teilweise schon, aber viel zu selten.
Deswegen wollen wir das verbessern.
Wir greifen das Thema der spezialfachärztlichen Versorgung auf - es ist schon angesprochen worden -, um
gerade bei schwierigen Erkrankungen - im Bereich der
Onkologie, bei der Behandlung von Krebs, bei der Behandlung von MS und Parkinson, im Bereich der Brachytherapie - höchste Qualitätsstandards und eine
Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten zu erreichen, weil es im Interesse der
Menschen liegt, dass etwas für eine gute Versorgung getan wird. Herr Kollege Terpe, die Veränderungen, die
wir bei der spezialfachärztlichen Versorgung vornehmen, gehören zu den grundlegendsten Strukturveränderungen, die es in den letzten Jahren im deutschen Gesundheitswesen gegeben hat. Deswegen gehen wir sie
voller Überzeugung im Sinne der Patienten an.
({12})
Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe. Sie haben jetzt wieder, wie
schon gestern im Ausschuss, mehrfach behauptet, es
gehe nur um die Ärzte. Das stimmt so pauschal nicht.
Wir wollen ganz bewusst die Zusammenarbeit zwischen
niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern verbessern, aber auch zwischen Ärzten und Apothekern. Beispiel Medikationskatalog: Es gibt in Deutschland immer
mehr Menschen, die zum Teil 10, 15 oder 20 unterschiedliche Arzneimittel pro Tag bekommen, weil sie
verschiedene chronische Erkrankungen haben. Es bedarf
einer besseren Abstimmung zwischen Ärzten und Apothekern, wenn es darum geht, was wem verschrieben
wird. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen ohne
Sorge und ohne Angst - auch ohne Angst vor dem, was
im Beipackzettel steht - die Medikamente nehmen, die
nötig sind. Deswegen wollen wir eine bessere Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern. Wir erproben mehrere Modelle, um das zu ermöglichen.
({13})
Das Gleiche gilt auch - Sie haben es angesprochen für die Zusammenarbeit mit den Pflegeberufen. Die sogenannte Delegation ärztlicher Leistung bedeutet, dass
jemand aus einem anderen Gesundheitsberuf, zum Beispiel eine Pflegekraft - das berühmteste Beispiel ist das
Modellprojekt „Gemeindeschwester AGnES“ -, Hausbesuche übernimmt, um zu sehen, wie es den Patienten
vor Ort geht. Er steht in ständigem Kontakt zum zuständigen Hausarzt und hält Rücksprache mit ihm. Er überprüft, ob es notwendig ist, dass auch der Hausarzt den
Patienten besucht. Hat der Routinebesuch ergeben, dass
es nicht nötig ist, muss der Hausarzt nicht extra kommen.
Die Zusammenarbeit zwischen dem ärztlichen Beruf
und den anderen Gesundheitsberufen zu befördern, das
greifen wir ganz bewusst in diesem Gesetzentwurf auf.
Denn wir wissen: Für eine gute Versorgung der Menschen braucht man nicht nur Ärzte. Man darf nicht vergessen, dass Ärzte mit Vertretern anderer Gesundheitsberufe eng zusammenarbeiten und kommunizieren
müssen. Die Ärzte sind in dieser Beziehung mittlerweile
deutlich weiter als vielleicht noch vor einigen Jahren.
Wir wollen diese Zusammenarbeit in Zukunft befördern.
Denn wir wissen: Eine gute Versorgung in Deutschland
schaffen wir nur, wenn wir alle Gesundheitsberufe und
alle anderen, die im Gesundheitswesen tätig sind, in ihrer Arbeit miteinander verzahnen. Das wollen wir mit
dem Gesetz, über dessen Entwurf wir heute abschließend beraten, leisten.
({14})
Es ist schon bezeichnend, dass Ihnen nicht viel mehr
einfällt als die lahme Kritik, die Sie vorgebracht haben.
Der Entschließungsantrag, den Sie heute vorgelegt haben, ist eigentlich ein Aufguss alter, oft gehörter Überschriften. Er wird aber nicht besonders konkret, wenn es
um die Verbesserung des vom Patienten erlebten Versorgungsalltags geht. Wenn wir uns heute das deutsche Gesundheitswesen betrachten, dann stellen wir fest: Wir haben eine solide Finanzlage der Kassen und wachsenden
Wettbewerb um die beste Qualität in der Versorgung. In
unserer Gesundheitswirtschaft sind 4,5 Millionen Menschen beschäftigt. Es ist übrigens die Branche in
Deutschland, die am stärksten wächst. Dieses Wachstum
wollen wir befördern. Deswegen brauchen wir eine andere Finanzierungsgrundlage. Wir haben eine Freiheit
bei der Ärztewahl und eine Therapiefreiheit, wie es sie
kaum in einem anderen Land auf der Welt gibt. Wir haben eine flächendeckende Versorgung und vor allem
Verständnis für die konkrete Versorgungssituation der
Patienten, für ihre Sorgen und Nöte. Die greifen wir mit
diesem Gesetzentwurf auf.
Christlich-liberale Gesundheitspolitik ist erfolgreich.
({15})
Sie wird auch erfolgreich bleiben. Das wurmt Sie - das
wissen wir -, weil wir vieles von dem, was Gegenstand
der gesundheitspolitischen Debatte in den letzten Jahren
war, aufgegriffen haben.
Herr Kollege.
Wir laden Sie dazu ein, diesen Weg mit uns weiterzugehen. Christlich-liberale Gesundheitspolitik ist erfolgreich, weil sie gut für die Patientinnen und Patienten in
Deutschland ist.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kathrin Vogler für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch beim Versorgungsstrukturgesetz, über das wir
heute abschließend beraten, müssen wir über Demenz
sprechen, und zwar über eine bestimmte Form von politischem Gedächtnisverlust, die wohl vor allem FDP-Mitglieder befällt.
({0})
Anders kann ich mir es nicht erklären, Herr Minister
Bahr, dass Sie jetzt bei der Ausgabe der elektronischen
Gesundheitskarte an die Versicherten den Turbo einlegen. Bis Ende 2012 sollen 70 Prozent der Versicherten
mit der E-Card ausgestattet sein, und das, obwohl die
Praxistests reihenweise gescheitert und viele wichtige
Fragen des Datenschutzes, der Selbstbestimmung und
der Freiwilligkeit immer noch völlig ungeklärt sind. Darauf hat zu Oppositionszeiten übrigens nicht zuletzt eine
Fraktion hier im Hause deutlich hingewiesen, und das
war die FDP.
({1})
Um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen,
greift jetzt die Linke diese immer noch richtige Kritik
auf. Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, die
elektronische Gesundheitskarte auszusetzen, bis all diese
dringenden Fragen geklärt sind, und zwar von unabhängigen Sachverständigen.
({2})
Sie behaupten nun, Sie hätten die Bestandsaufnahme
erfolgreich abgeschlossen. Das eine Übertreibung zu
nennen, wäre eine ziemliche Untertreibung; denn diese
sogenannte Bestandsaufnahme durch die Betreibergesellschaft Gematik erfolgte unter Ausschluss kritischer Expertinnen und Experten, auch unter Ausschluss
des Parlaments. Die geplanten Funktionen, die voraussichtlichen Kosten oder der zusätzliche Verwaltungsaufwand in den Arztpraxen, all das blieb im Nebel. Ergebnisoffene Prüfungen sehen für mich anders aus.
({3})
Deshalb fordert die Linke heute: Setzen Sie nicht alles
auf diese eine Karte! Legen Sie die Bremse ein! Machen
Sie einen ehrlichen Stresstest, und lassen Sie vor allem
auch Alternativen prüfen!
({4})
Von der SPD haben wir nichts anderes erwartet, als
dass sie diesem zweifelhaften Projekt zustimmt; schließlich war dies eines der Lieblingskinder der SPD in der
Zeit, als Ulla Schmidt noch Gesundheitsministerin war.
Sie haben die E-Card jahrelang, und zwar nicht nur während Ihrer Regierungszeit, trotz aller Pleiten und Pannen
gefördert. Das hat der Kollege Edgar Franke in der Debatte zur Einbringung unseres Antrags bekräftigt. Aber
selbst er gibt zu, dass die E-Card so, wie sie jetzt ist, zunächst - ich betone: zunächst - gar nichts besonders
Neues bringt außer das Foto. Wenn es nach ihm geht,
können die Pläne für eine elektronische Patientenakte
aber gar nicht schnell genug umgesetzt werden. Kollege
Franke meint, dass sie schon 2015 kommen soll. Bis dahin ist die Karte nur lästig für die Ärztinnen und Ärzte
und teuer für die Versichertengemeinschaft. Ab dann
wird es aber riskant für die Sicherheit der sensiblen Gesundheitsdaten der Patientinnen und Patienten und richtig interessant für diejenigen, die aus diesen Daten pures
Kapital schlagen wollen.
({5})
- Genau. Mit einem Änderungsantrag haben Sie das angehängt. Darf ich Ihrem Gedächtnis auch diesbezüglich
auf die Sprünge helfen?
Der Kollege Stracke von der Union wies uns damals
darauf hin, welche „sehr große Bedeutung“ die Gesundheitswirtschaft hat und dass wir uns angesichts dieses
„riesigen Wirtschaftsfaktors“ den „Entwicklungen, egal
in welchem Bereich, nicht verschließen“ dürften.
({6})
Was ist das eigentlich für eine Argumentation? Wir
meinen, im Mittelpunkt des Gesundheitswesens müssen
immer zuallererst die Interessen der Patientinnen und
Patienten und dürfen eben nicht Wirtschaftsinteressen
stehen.
({7})
Natürlich wecken die Milliardenbeiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung Begehrlichkeiten weit
über den Gesundheitssektor hinaus. Wir wollen mit unserem Antrag verhindern, dass Interessen von Konzernen und IT-Unternehmen immer mehr Einfluss auf die
Gesundheitspolitik erhalten. In unserem Antrag fordern
wir Sie auf, das Projekt noch einmal auf den Prüfstand
zu stellen. Dafür fehlt Ihnen aber leider der Mut; schließlich geht es um bis zu 14 Milliarden Euro für die ITIndustrie. Diese Zahl stammt übrigens nicht von den
Kritikerinnen und Kritikern des Projekts, sondern sie
stammt aus einem Gutachten der Gematik, das nicht einmal der Bundestag kennen würde, hätte es damals nicht
der Chaos Computer Club gehackt. Die IT-Industrie
kann trotz erkennbarer Schwächen im Bereich der Datensicherheit mit ihrer Lobbyarbeit offensichtlich ganz
zufrieden sein. Die Zeche zahlen sollen die Versicherten
in der gesetzlichen Krankenkasse mit ihren Beiträgen.
Ob die FDP zu Weihnachten so hübsche Spenden von
IT-Firmen erhalten wird wie damals nach der Hotelsteuersenkung von Mövenpick, das werden nicht nur wir von
der Linken ausgesprochen interessiert beobachten.
({8})
Ich komme zum Schluss. Schon mehr als 750 000
Menschen haben gegen die E-Card unterschrieben. Gemeinsam mit ihnen und mit vielen Verbänden und Organisationen fordert die Linke: Patientendaten gehören in
Patientenhand. Deshalb sagen wir allen, die skeptisch
sind: Kein Foto für die E-Card! In Großbritannien wurde
ein ähnliches Projekt jüngst beerdigt, nachdem es schon
viele Milliarden Pfund verschlungen hatte. In Deutschland erwies sich der elektronische Gehaltsnachweis
ELENA nicht als die Lichtgestalt, als die Sie sie uns verkaufen wollten, sondern als glatter Rohrkrepierer. Bitte
lernen Sie daraus! Bitte schalten Sie Ihr Erinnerungsvermögen wieder an! Werfen Sie Ihr Herz über die Hürde,
und stimmen Sie einmal einem Antrag der Linken zu! Es
tut nicht weh.
Danke.
({9})
Maria Michalk hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Vogler, dass Sie von einem fahrenden Zug abspringen wollen, das verwundert uns nicht.
({0})
Kommen wir zurück zum Versorgungsstrukturgesetz.
Wie wir heute Vormittag merken, ist eine gute, wohnortnahe, flächendeckende medizinische Versorgung für alle
Menschen in aller Munde. Dies ist eine berechtigte Forderung von gesunden und erkrankten Versicherten, von
Jungen und Alten, von Menschen mit und ohne Behinderung, von Männern und Frauen. Alle bewerten unser
vorbildliches Gesundheitswesen - das kann nicht oft genug gesagt werden - unter dem Gesichtspunkt ihrer erlebten Versorgungsrealität. Es gibt in Deutschland die
hochleistungsfähige, individuell gestaltete und abgestimmte Versorgung, die auf der ganzen Welt vorbildlich
ist. Es gibt aber auch lange Wartezeiten, lange Wege und
vielleicht auch Doppeluntersuchungen; das mag sein.
Das Versorgungsstrukturgesetz wird sich in der Praxis
bewähren. Wir haben es intensiv und sehr lange beraten.
Über den drohenden und den tatsächlichen Ärztemangel
in zunehmend mehr Regionen reden wir schon sehr
lange. Ich erinnere an meine allererste parlamentarische
Anfrage 2002 an die damalige Gesundheitsministerin
Frau Schmidt. Dabei ging es um genau dieses Thema. In
der Antwort wurde geleugnet, dass ein Mangel droht,
dass vielleicht sogar schon ein Problem besteht. Es hat
lange gedauert, bis über dieses Thema ernsthaft in der
Politik diskutiert wurde.
Bestimmte Länder haben - im Grunde genommen auf
Testbasis - im Rahmen von Ausnahmeregelungen verschiedene Modellprojekte durchgeführt. Mit Fördermitteln wurden zusätzliche ambulante Praxen eingerichtet,
um junge Mediziner auf das Land zu holen. Kommunen
zahlten Stipendien für junge Medizinstudenten, um sie
an die Region und vielleicht auch an die Kommune zu
binden. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung gibt es objektiv die Notwendigkeit, die Unterstützung für Ärzte auf dem Land weiterzuentwickeln.
Daher müssen alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen, auch die kommunalen Verantwortungsträger und
die Landesebene, im Rahmen der kleingliedrigeren Bedarfsplanung, die wir heute beschließen, in Zukunft noch
besser gemeinsam agieren.
({1})
Es ist die Koalition aus CDU/CSU und FDP, die dieses
Problem ernsthaft angeht.
({2})
Ich möchte jetzt auf zwei Punkte etwas genauer eingehen. Mich freut besonders, dass in Zukunft der Ausbau der Telemedizin im ländlichen Raum durch eine bessere Vergütung gefördert wird. Mein Appell auch an
unsere Wirtschaftsexperten lautet: Vergessen wir dabei
nicht, dass der Ausbau der Breitbandversorgung dafür
eine grundsätzliche Voraussetzung ist. Auch im ländlichen Raum muss es eine ausreichende Breitbandversorgung geben und nicht nur in Ballungsgebieten, wo es
vielleicht effizienter ist.
({3})
Je schneller, desto besser. Wir meinen, dass gerade junge
Mediziner die Herausforderungen der Telemedizin annehmen werden, weil sie sich im ländlichen Raum im
Bereich der telemedizinischen Versorgung an innovativen Konzepten erproben und bewähren können. Das ist
eine ganz neue Herausforderung. Dies wird in Zukunft
Kreativität fördern und zu Kostenersparnis führen.
Wir sehen im Gesetzentwurf eine Vielzahl von finanziellen Anreizen für Ärzte in unterversorgten Gebieten
vor. Sie werden von Begrenzungen der Vergütung ausgenommen, können Preiszuschläge für ihre Leistungen erhalten und von den KVen über einen Strukturfonds gefördert werden.
Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Es war uns
wichtig, die Zulassungsregelungen für die Medizinischen Versorgungszentren zu konkretisieren. Seit ihrer
Einführung im Jahr 2004 beobachten wir die Entwicklung der MVZ. Mit rund 8 600 Ärzten in rund 1 650
MVZ sind im Durchschnitt fünf Ärzte pro Einheit tätig,
die meisten im Angestelltenverhältnis. Am häufigsten
sind es Hausärzte und Internisten. Bei der Organisationsform handelt es sich vorwiegend um GmbH oder GbR.
Der Anteil der Vertragsarztträgerschaft ist höher als der
Anteil der Krankenhausträgerschaft. Bisher gründen sich
MVZ sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten, allerdings lässt sich die Mehrzahl der MVZ in
Kernstädten oder in Ober- und Mittelzentren nieder. Im
ländlichen Raum sind es 15 Prozent. Wir schaffen die
Voraussetzungen dafür, dass sich das Bild wandelt und
diese Versorgungsmöglichkeit im ländlichen Raum stärker genutzt werden kann.
Wir haben für bestehende MVZ eine Bestandsschutzwahrung festgeschrieben, allerdings mit der Maßgabe,
dass die ärztlichen Leiter eines MVZ in medizinischen
Fragen weisungsfrei sind. Das war uns besonders wichtig, weil wir möchten, dass die medizinische Versorgung
im Vordergrund steht.
({4})
Für bestehende MVZ, die dies nicht einhalten, gibt es
eine Karenzzeit von sechs Monaten, dann muss es geregelt sein.
Die Gründung ist nach § 95 Abs. 1 nur durch zugelassene Ärzte, zugelassene Krankenhäuser gemäß § 108 sowie SGB V sowie gemeinnützige Trägerorganisationen,
die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen,
möglich - eine Präzisierung, die wir für wichtig halten.
Wir wollen die Konzentration auf Leistungserbringer,
die den überwiegenden Teil der ambulanten und stationären ärztlichen Versorgung leisten. Deshalb bin ich
froh, dass wir in diesem Gesetz noch eine Ausnahme regeln, nämlich für gemeinnützige Trägerorganisationen,
die als Erbringer von nichtärztlichen Dialyseleistungen
an der vertragsärztlichen Versorgung in dieser Form teilnehmen können.
Aktiengesellschaften sind an dieser Stelle nicht mehr
zugelassen. Sollte ein Nachbesetzungsverfahren notwendig werden, dann entscheidet der Zulassungsausschuss.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt kurz anführen:
Dass wir die aufsuchende medizinische Versorgung haben, ist selbstverständlich. Hausärzte machen Hausbesuche. Dass wir jetzt eine aufsuchende zahnmedizinische
Versorgung für Menschen, die nicht mobil sind, die wir
nicht mehr in die Praxis bringen können, die zu Hause
oder in Heimen krank, pflegebedürftig oder behindert
sind, durch zusätzliche Aufwandsentschädigungen für
den Leistungserbringer regeln, ist ein guter und ein
wichtiger Schritt.
({5})
Insgesamt ist festzustellen, dass wir viele kleine
Punkte aufgeführt haben. Es war eine Fleißarbeit. Ich bin
mir sicher, dass alle Leistungserbringer das zum Wohle
der Versicherten und der Patientinnen und Patienten und
- so hoffen wir - im Geiste dieses Gesetzes ausgestalten
werden.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort erhält nun die Kollegin Marlies Volkmer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je
schlechter ein Gesetz ist, umso mehr bedarf es der Nachbesserung und umso mehr Änderungsanträge müssen
produziert werden. Wer bei der Anhörung war, der hat
natürlich auch erlebt, wie verheerend diese Anhörung
für die Koalition gewesen ist. Es kamen praktisch Watschen von allen Seiten.
({0})
Nun haben Sie fleißig - Frau Michalk hat es noch einmal gesagt - gearbeitet. Sie haben 125 Änderungsanträge produziert.
({1})
Nur, wenn ich das in einer Beurteilung ausdrücken
müsste, würde ich schreiben: hat sich stets fleißig bemüht. - Sie wissen selbst, was das bedeutet.
Durch die Änderungsanträge ändert sich die grundsätzlich falsche Ausrichtung dieses Gesetzes überhaupt
nicht.
({2})
Das sogenannte Versorgungsstrukturgesetz ändert eben
keine Strukturen. Aber das wäre notwendig gewesen,
weil wir mit dem klassischen Einzelkämpferarzt den Anforderungen, die vor uns stehen, nicht gerecht werden
können.
Wir müssen hinsichtlich der Gewährleistung der gesundheitlichen Versorgung nicht vom niedergelassenen
Arzt her denken, wie Sie das tun. Bei Ihnen steht dieser
nach wie vor im Mittelpunkt. Sie sagen zum Bespiel, wir
müssen die Honorare erhöhen, damit Ärzte in die ländlichen Regionen gehen.
({3})
Sie schaffen Voraussetzungen dafür, dass niedergelassene Ärzte zusätzlich im Krankenhaus tätig werden können.
Die anderen Leistungserbringer müssen sich, was die
Strukturen betrifft, nach dem niedergelassenen Arzt richten - sie dürfen ihm quasi nicht in die Quere kommen -,
und die Patientinnen und Patienten, für die diese Versorgung eigentlich da ist, müssen sich mit diesen Strukturen
zufriedengeben. Sie müssen quasi damit Vorlieb nehmen.
({4})
Das kann nicht so bleiben. Wir müssen hinsichtlich der
Gewährleistung der Versorgung vom Patienten her denken. Wir müssen fragen: Was brauchen wir für eine bedarfsgerechte Versorgung der Patientinnen und Patienten
überall im Land, ganz egal, ob sie in der Großstadt oder
auf dem Dorf leben?
Wir alle wissen: Die Menschen werden immer älter
- der Anteil älterer und hochaltriger Menschen steigt -,
die Zahl der Einpersonenhaushalte nimmt zu, und wir
haben schon heute in vielen Regionen Deutschlands Versorgungsengpässe. Das alles sind Herausforderungen,
vor denen wir stehen und die wir bewältigen müssen.
Hier ist echte Teamarbeit gefragt, nicht nur zwischen
Hausärzten und Fachärzten, nicht nur zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern, sondern auch
zwischen Ärzten und nichtärztlichen Gesundheitsberufen. Es gibt im Übrigen viele Ärztinnen und Ärzte, die
das auch so sehen. Aber dieses Gesetz wird diesem Anspruch nicht gerecht.
Durch das Gesetz zieht sich wie ein roter Faden
Klientelpolitik für Vertragsärzte.
({5})
Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber modernen Versorgungsstrukturen wie zum Beispiel Medizinischen
Versorgungszentren. Auch wenn die Medizinischen Versorgungszentren hier gerade sehr gelobt worden sind,
muss man doch feststellen, dass den Medizinischen Versorgungszentren mit diesem Gesetz wieder Fesseln angelegt werden.
({6})
Eines muss man der Koalition lassen: Sie ist konsequent, wenn es um die Klientelpolitik für niedergelassene Ärzte geht.
({7})
Aber es fehlen der Wille und vielleicht auch der Mut,
konsequent etwas für die qualitätsgesicherte Versorgung
der Patientinnen und Patienten zu tun. Ein Beispiel dafür
ist, dass wir schon ewig auf das angekündigte Patientenrechtegesetz warten. Ich bin gespannt, ob es im Frühjahr
nächsten Jahres das Licht der Welt erblicken wird.
({8})
Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen: den Umgang mit neuen Medizinprodukten. Verbraucherschützer
beklagen, dass zum Beispiel neuartige Endoprothesen
oder neuartige Stents auf den Markt kommen und den
Patientinnen und Patienten implantiert werden, obwohl
man noch nichts über ihre Qualität und nichts darüber
sagen kann, ob sie tatsächlich einen Nutzen für die Patientinnen und Patienten bringen. Durch dieses Gesetz
wird sich daran leider nichts ändern. Das ist sehr bedauerlich für die Patientinnen und Patienten und natürlich
auch für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die
einen Anspruch auf eine qualitätsgesicherte Versorgung
haben.
Dieses Gesetz ändert trotz seines schönen Namens
nichts an den Versorgungsstrukturen. Es verbessert die
Versorgung der Patientinnen und Patienten nicht. Aber
eines kann man mit Sicherheit sagen: Durch dieses Gesetz wird die Versorgung teurer, zum Beispiel deshalb,
weil die Honorare für die Ärzte steigen.
({9})
Wer muss das bezahlen?
({10})
Das müssen die Versicherten über Zusatzbeiträge allein
bezahlen; denn diese Regierung hat die Arbeitgeberbeiträge eingefroren.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie vielleicht
Bedenken haben, einem Gesetz zuzustimmen, das die
Versorgung nicht verbessert, das Gesundheitssystem
aber teurer macht, dann ermutige ich Sie, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
({12})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Lothar Riebsamen für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung wurde gestern in meiner Heimatzeitung mit
folgender Überschrift zitiert: Das Land muss sich neu erfinden. - Gott sei Dank müssen wir das Gesundheitswesen nicht neu erfinden; denn wir haben ein gutes Gesundheitswesen.
({0})
Es ist aber notwendig, dieses Gesundheitswesen weiterzuentwickeln; das ist wahr.
Wir müssen auf die demografische Entwicklung reagieren. Die Bevölkerung, also auch die Patientinnen
und Patienten, wird erfreulicherweise immer älter, und
auch die Ärztinnen und Ärzte werden erfreulicherweise
immer älter. Durchschnittlich sind sie inzwischen
53 Jahre alt. Damit läuft bereits jetzt eine Welle von Inruhestandsetzungen, und es ist keineswegs gewährleistet, dass all diese niedergelassenen Ärzte auch tatsächlich einen Nachfolger finden. Das ist ein Problem.
Ein weiteres Problem ist der Trend, dass die Bevölkerung raus aus ländlichen Räumen hinein in die Städte
zieht. Das hat damit zu tun, dass wir zu wenige Kinder
haben. Familien mit Kindern bevorzugen den ländlichen
Raum. Diese werden nun leider weniger, mit der Folge,
dass die öffentliche Infrastruktur, wie Schulen, Kindergärten und anderes mehr, und auch die private Infrastruktur, wie Geschäfte, Bankfilialen und auch Arztpraxen, im ländlichen Raum in Nöte kommen, es hier
Einschränkungen gibt und auch Einrichtungen geschlossen werden.
Die dritte Herausforderung besteht darin, dass die
heutige junge Ärztegeneration eine etwas andere Vorstellung davon hat, ihren Beruf zu leben als die Generation vor 20 oder 30 Jahren. Hier spielen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch die Frage, ob man
das Risiko eingehen kann, im ländlichen Raum in eine
neue Arztpraxis zu investieren, eine wichtige Rolle.
Diesem Bündel von Veränderungen stellen wir mit
diesem Gesetzentwurf ein Bündel von Maßnahmen zur
Lösung gegenüber. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf das Gesundheitsniveau in unserem Land mit weiterhin freier Arztwahl, freier Krankenhauswahl und einer flächendeckenden Versorgung im ambulanten und
stationären Bereich auf hohem Niveau halten.
Bei dieser Problemlage spielt natürlich die Bedarfsplanung eine herausragende Rolle. Es ist notwendig, die
Bedarfsplanung nicht mehr global, pauschal zu betrachten, sondern sie ganz konkret an den örtlichen Gegebenheiten, an den Distanzen bis zum nächsten Facharzt und
bis zum nächsten Hausarzt, an der konkreten Morbidität
und an der konkreten Sozialstruktur auszurichten.
Es ist bei dieser Bedarfsplanung auch notwendig, sektorübergreifend vorzugehen - das tun wir mit diesem
Gesetzentwurf -, Krankenhäuser und Rehakliniken mit
einzubeziehen, aus wirtschaftlichem Interesse dafür zu
sorgen, dass Doppelstrukturen abgebaut werden, und im
Interesse der Patienten zu erreichen, dass diese nicht von
Pontius zu Pilatus gehen müssen, sondern die Diagnosen
und Therapien möglichst an einer Stelle erhalten können.
Diese Ziele können wir nicht ohne die Ärzte, sondern
nur im Zusammenspiel mit den Ärzten erreichen. Deswegen müssen wir Anreize setzen, um den niedergelassenen Ärzten vor allem im ländlichen Bereich und in bestimmten Stadtbezirken das Leben ein Stück weit zu
erleichtern.
Dazu gehört zum Beispiel die Abschaffung der Residenzpflicht. Wenn beide Partner in verschiedenen Städten arbeiten, dann muss schon innerhalb der Familie ein
Kompromiss geschlossen werden. Deswegen ist die Abschaffung der Residenzpflicht wichtig.
Es werden größere Notdienstbereiche geschaffen, damit die jungen Arztfamilien die Wochenenden und ihre
Freizeit besser planen können, und es werden natürlich
auch finanzielle Anreize gesetzt. Diese finanziellen Anreize sind notwendig, und es ist auch richtig, diese am
konkreten Bedarf vor Ort auszurichten, indem die Honorare dezentral festgesetzt und Abstaffelungen abgeschafft werden. Wenn ein Arzt seine Praxis in einer Gemeinde schließt und dort nur noch ein Arzt übrig bleibt,
dann kann es nicht sein, dass dieser dafür bestraft wird,
dass er mehr arbeitet als bisher.
Die richtigen Anreize müssen allerdings - ich erlaube
mir, das zu sagen - über diesen Gesetzentwurf hinaus
auch im stationären Bereich gesetzt werden. Hier geht es
darum, Krankenhäuser in der Fläche zu sichern. Es geht
aber auch darum, Überkapazitäten dort, wo sie vorhanden sind, abzuschaffen, und es ist auch nicht unbedingt
das richtige Mittel, fehlende Erlöse in den Krankenhäusern permanent durch Mehrleistungen auszugleichen.
Deswegen halte ich es für notwendig und richtig, dass
wir uns über diesen Gesetzentwurf heute hinaus zeitnah
Anfang des neuen Jahres über die Erlössituation in den
Krankenhäusern unterhalten. Dort klafft die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben - auch mit Blick auf
die Tarifverhandlungen - allzu weit auseinander. Das
halte ich für ein wichtiges Ziel dieser Koalition im kommenden Jahr, für das ich mich sehr gern einsetzen werde.
Mit diesem Gesetzentwurf wird sichergestellt, dass
wir die Probleme, die auf uns zukommen, nicht nur passiv zur Kenntnis nehmen, sondern aktiv darauf reagieren. Ich habe mit dem Zitat vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung begonnen. Wir müssen auf
die Veränderungen, die es nun einmal in der Welt gibt,
reagieren. Mit diesem Gesetzentwurf schaffen wir Verbesserungen für das System insgesamt, insbesondere
aber für unsere Patientinnen und Patienten.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8005, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 17/6906 und 17/7274 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit den gleichen Mehrheiten angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8009? Gegenprobe! - Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist mehrheitlich angenommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8010? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag
ist mit Mehrheit abgelehnt.
Unter Tagesordnungspunkt 3 b setzen wir die Abstimmung zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Gesundheit auf Drucksache 17/8005 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/3215 mit dem Titel „Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7190 mit dem Titel „Wirksame
Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
der gleichen Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrages der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
17/7460 mit dem Titel „Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen worden.
({0})
- Das war schon ziemlich übersichtlich.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis e sowie 20
auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({1}), Anette Kramme, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für
eine inklusive Gesellschaft nutzen
- Drucksache 17/7942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Fristen für die Feststellung der Behinderung und die Erteilung des
Ausweises
- Drucksache 17/6586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Behindern ist heilbar - Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft
- Drucksache 17/7872 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Teilhabesicherungsgesetz vorlegen
- Drucksache 17/7889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Neuntes Buch Sozialgesetzbuch im Sinne des
Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit
Behinderung weiterentwickeln
- Drucksache 17/7951 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, HansJoachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB
unterstützen
- Drucksache 17/7827 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir offensichtlich so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache.
({8})
Sobald man sich auf den Bänken neu sortiert hat, erhält
die Kollegin Elke Ferner das Wort für die SPD-Fraktion.
({9})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Am
Samstag ist der Welttag der Menschen mit Behinderungen. Ich muss sagen: Ich freue mich, dass heute in der
Debatte auch Frau von der Leyen das Wort ergreift.
Nach meiner Erinnerung ist es eine Premiere, dass ein
Mitglied der Bundesregierung, zumindest auf der Ministerebene, das Wort ergreift, wenn die Opposition Anträge zu einem Thema einbringt. Ich bin sehr gespannt,
Frau von der Leyen, welche unserer vorgeschlagenen
Maßnahmen Sie bereit sind zügig umzusetzen, um den
Menschen mit Behinderungen entgegenzukommen und
die Situation zu verbessern.
Am Samstag werden sich viele mit schönen Worten
zur Inklusion bekennen. Aber Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen ist alleine mit Reden,
auch wenn sie noch so schön sind, nicht geholfen.
({0})
Sie wollen als selbstverständlicher Teil der Vielfalt einer
Gesellschaft akzeptiert und respektiert werden. Sie wollen nicht als Bittstellerinnen oder Bittsteller am Rande
der Gesellschaft stehen. Sie wollen teilhaben können
und nicht nur bloß teilhaben dürfen.
Für uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen
bilden die gleichberechtigte Teilhabe und die Selbstbestimmung aller Menschen, die von gegenseitigem Respekt und von gegenseitiger Solidarität getragen sind, das
Fundament unserer Gesellschaft. Behindertenpolitik ist
keine Nischenpolitik. Sie ist Menschenrechtspolitik.
Politik für Menschen mit Behinderungen muss immer
Politik zusammen mit den Expertinnen und Experten in
eigener Sache sein und keine Politik über sie.
({1})
Wir haben seit 1998 mit den Grünen viel auf den Weg
gebracht, auch wenn wir noch lange nicht alles erreicht
haben, was man erreichen muss. Wir haben das Behindertengleichstellungsgesetz gemacht. Damit haben wir
erstmals Ansprüche behinderter Menschen auf barrierefreien Zugang sowohl zu Infrastruktureinrichtungen als
auch zu Informationen und geistiger Teilhabe gesetzlich
verankert. Wir haben mit der Einführung des SGB IX als
Erste den Versuch unternommen, das zergliederte Sozialsystem zugunsten von Menschen mit Behinderungen
zusammenzuführen. Wir haben in der Großen Koalition
gegen die erbitterten Widerstände aus CDU und CSU
das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auch in
Deutschland Wirklichkeit werden lassen. Das sind sicherlich Meilensteine in der Behindertenpolitik.
({2})
Seit 2006 gilt damit erstmals ein eigenes Gesetz, mit
dem die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen sanktioniert wird. Davon - das muss man leider
sagen - zehren die Koalition und die sie tragenden Fraktionen immer noch. Bisher sind keine eigenen Initiativen
auf den Weg gebracht worden.
({3})
Wir haben vor zwei Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, und die Regierung hat
nichts geliefert. Unser Antrag enthält mehr Forderungen
und Möglichkeiten als das, was Sie in Ihrem doch sehr
zögerlichen Nationalen Aktionsplan geliefert haben. Wir
haben kein Erkenntnisdefizit. Wir haben ein Umsetzungsdefizit. Deshalb muss ein Aktionsplan mehr als ein
paar Absichtserklärungen und Forschungsaufträge enthalten.
({4})
Ich muss Ihnen sagen: Mit Ihrer konkreten Politik gehen Sie zurück und nicht voran. Ich will das an ein paar
Beispielen deutlich machen. Das KfW-Programm zur
Förderung von Maßnahmen zum Bau einer barrierefreien Wohnung läuft aus.
({5})
Was machen Sie mit den Teilen der UN-Behindertenrechtskonvention, in denen es um Bewusstseinsbildung
und Vorgehen gegen Diskriminierung geht? Die Mittel
für die Antidiskriminierungsstelle werden gekürzt, und
zwar Jahr für Jahr. Sie wollen die Rentenversicherungsbeiträge von Beschäftigten im Ausbildungsbereich einer
Werkstatt für Behinderte der Verantwortung der Steuerzahler entziehen und diese Kosten auf die Rehaträger abladen. Auch in der Novelle des Personenbeförderungsgesetzes ist nichts zu umfassender Barrierefreiheit in den
neuen Fernbussen, die bald auf Deutschlands Straßen
unterwegs sein werden, zu finden. All das sind Schritte
zurück und nicht nach vorne.
Der letzte Punkt, den ich im Rahmen der konkreten
Beispiele noch anführen möchte, ist, dass Sie bei der
Neuordnung der Regelsätze Menschen über 25 Jahre ungleich behandeln, abhängig davon, ob sie zum Rechtskreis des SGB XII oder des SGB II zählen. Damit haben
Sie de facto Leistungen für Menschen mit Behinderungen gekürzt, Frau von der Leyen.
({6})
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie nach der Protokollnotiz, die von der Bundesregierung im Bundesrat abgegeben worden ist, heute ankündigen würden, dass Sie
schnell eine Lösung anbieten werden, statt ellenlange
Briefe zu schreiben und das Ganze auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Die Einzelheiten werden nachher noch von den anderen Rednern
und Rednerinnen erläutert. Ich glaube, dass wir in der
Behindertenpolitik einen Paradigmenwechsel brauchen.
Wir müssen uns - wir wollen das auch - an den Stärken
und Potenzialen der Menschen mit Behinderungen
orientieren, und wir müssen die bisherige Defizitorientierung endlich überwinden.
({7})
Das macht, glaube ich, auch in der Zukunft den Unterschied aus.
Ich würde mich sehr freuen, wenn wir im Interesse
der Menschen mit Behinderungen noch in dieser Wahlperiode nennenswerte Fortschritte auf den Weg bringen
können, auch wenn wir vielleicht nicht in jedem Punkt
einer Meinung sein werden. Den Rest - das kann ich Ihnen versprechen - machen wir dann zusammen mit den
Grünen nach dem Jahr 2013.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die Bundesministerin für Arbeit und
Soziales, Frau Dr. von der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ferner, ich habe die Kritik im Detail gehört. Aber ich
glaube, es gibt auch sehr große Gemeinsamkeiten. Ich
möchte zwei, drei Gedanken über diese Gemeinsamkeiten vorwegschicken. Denn das ist auch der zentrale Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention, der dies
deutlich formuliert, nämlich die Idee der Inklusion.
Unsere Vision, unser Ziel ist die Inklusion. Wir sind
auf dem Weg dorthin, dass wir eines Tages in einer Gesellschaft leben, in der es in Geschäften, auf Straßen, in
Hotels, in einer Pizzeria, im Fernsehen, bei der Arbeit, in
der Straßenbahn, wo immer wir uns bewegen, Menschen
mit unterschiedlichen körperlichen, intellektuellen oder
mentalen Voraussetzungen gibt, die mit großer Selbstverständlichkeit ohne Trennung miteinander leben, und
dass wir das als selbstverständlich erleben. Das ist der
große Gedanke der Inklusion der UN-Behindertenrechtskonvention.
({0})
Für uns ist der Auftrag, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, ein Focal Point. Die Bundesregierung hat den Nationalen Aktionsplan auf den Weg gebracht, mit dem wir mit 200 größeren und kleineren
Maßnahmen entsprechende Schritte machen. Sie können
sie kritisieren und sagen: Das ist zu wenig. Aber die
Konvention sagt zu Recht: Alle - also nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Länder, die Kommunen,
die Wohlfahrtsverbände und die Wirtschaft - sollen sagen, was sie dazu beitragen, dass wir in einer inklusiven
Gesellschaft leben können. Der Gedanke ist, dass jeder
erst einmal selber sagt, was er oder sie für eine inklusive
Gesellschaft tut, bevor man mit dem Finger auf andere
zeigt und sagt: Ihr müsst das tun. Man soll erst einmal
selber sagen: Was können wir beitragen?
({1})
Ich glaube, das ist ein großartiger Ansatz. Denn es ist
viel schwerer zu sagen: „Das tun wir aktiv“, sei es ein
Verband, ein Wirtschaftszweig, eine Kommune, die
Bundesregierung oder ein einzelnes Bundesland, als zu
sagen, was man von anderen fordert. Bisher hat neben
der Bundesregierung ein einziges Bundesland einen nationalen Aktionsplan vorgelegt; das ist Rheinland-Pfalz.
Andere sind auf dem Weg.
Aber ich freue mich auch, dass mir zum Beispiel einzelne Wohlfahrtseinrichtungen schreiben, die mir den
Aktionsplan für ihre Einrichtung zeigen wollen und mit
mir darüber ins Gespräch kommen möchten. Das ist das
Schneeballsystem. Das ist der große Gedanke der Inklusion, den wir gemeinsam voranbringen wollen.
({2})
Das ist auch Ausdruck der Ernsthaftigkeit, der Gewissenhaftigkeit und des Ehrgeizes, mit dem wir an diese
Aufgabe herangehen.
Wir alle wissen: Es gibt auch die andere Seite. Wir
haben sehr komplexe Strukturen. Wir haben lange auf
Sondereinrichtungen, Sonderlösungen und Sonderprogramme gesetzt und eher auseinandergebracht, was
eigentlich zusammengehört. Es gibt die berechtigte
Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Einfachheit und Authentizität. Das ist, wenn ich es einmal umgekehrt formulieren darf, die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in
der weder Familien noch Klassengemeinschaften daran
zerbrechen, dass ein behindertes Kind in ihnen lebt, in
der ein Unfall mit bleibenden Folgen nicht zwangsläufig
den Verlust von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit
bedeutet, in der in Geschäften der Zugang nicht erst
durch eine Verbandsklage erreicht werden kann, in der
Menschen in der Bahn völlig unkompliziert von A nach B
fahren können, um nur einige Gedanken vornewegzuschicken. Das heißt, wir müssen jetzt konkret in einzelnen, vielleicht kleineren oder auch größeren Schritten
den Weg dorthin gehen.
Beispiel Deutsche Bahn: Früher konnten 1,4 Millionen schwerbehinderte Menschen in einem 50-KilometerRadius um ihren Wohnort kostenlos mit der Regionalbahn fahren. Für jeden Kilometer darüber hinaus, ab
dem 51. Kilometer, mussten sie ein Ticket lösen. Das bedeutet für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, oder für
Menschen, die blind sind, eine enorme Barriere. Seit
September sind diese Grenzen bei der Bahn gefallen; der
Nahverkehr ist für Menschen mit schwerer Behinderung
in Deutschland unbegrenzt nutzbar.
({3})
Ich finde das großartig von der Bahn, und genau diese
Form der Unterstützung wünsche ich mir auch in anderen Bereichen.
({4})
Beispiel Arbeit: Die Arbeitslosenzahl bei Menschen
mit Schwerbehinderung liegt bei knapp 174 000. Da waren wir vor zwei Jahren auch. Im Januar waren wir bei
190 000. Die Zahl ist wieder gesunken, aber wir haben
die schon erreichte Schwelle noch nicht unterschritten.
Wir wollen besser werden. Wir haben die „Initiative Inklusion“, mit 100 Millionen Euro unterfüttert, auf den
Weg gebracht: für 20 000 schwerbehinderte Schülerinnen und Schüler Förderung der Ausbildung, 1 300 betriebliche Ausbildungsplätze zusätzlich, 4 000 neue reguläre Jobs für ältere Schwerbehinderte. Das ist unser
Beitrag.
Noch einmal zur Richtigstellung: In den Werkstätten
im Rehabereich ändert sich für Menschen mit Behinderung gar nichts, Frau Ferner.
({5})
Gar nichts ändert sich, es wird gezahlt. Auch bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten ändert sich für Menschen mit Behinderungen gar nichts. Ich glaube, das
sollte man einfach einmal anerkennen.
({6})
Beispiel Gesundheit: Nur 10 Prozent der Arztpraxen
sind vollständig barrierefrei.
({7})
Wir als Bundesregierung setzen uns deswegen mit Vertretern des Gesundheitswesens zusammen. Denn für
Menschen mit Behinderungen ist die vollständige Barrierefreiheit entscheidend, damit sie ihre freie Arztwahl
ausüben können; sonst können sie dieses Recht nicht
wahrnehmen. Also ist unser Ziel, in den nächsten zehn
Jahren eine deutlich erhöhte Zahl an barrierefreien Praxen zu schaffen.
({8})
Das zeigt: Der NAP ist ein Motor für Veränderungen,
aber kein Gesetzespaket. Diese Debatte zeigt aber auch
- da danke ich noch einmal für die Anträge, die ich in
ein paar Details unterstütze, in anderen nicht -,
({9})
dass wir eine große Übereinstimmung bei den Stichworten barrierefreie Arztpraxen, Bildung, Reha, Arbeit und
Beschäftigung haben.
Wir haben aber auch eine große Übereinstimmung
hinsichtlich des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zur Weiterentwicklung des SGB IX, zur Stärkung des inklusiven Ansatzes. Dazu möchte ich noch
einmal sagen: Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sehr systematisch an der Veränderung des
SGB IX arbeitet, um einerseits strukturell-inhaltlich die
vielen Brüche und Widersprüche zu eliminieren und andererseits das Kostengerüst für unsere gemeinsamen
Vorstellungen zu entwickeln. Sie macht eine gute Arbeit
und ist fast fertig.
Ich sage an dieser Stelle: Ich wünsche mir schlicht
und einfach - da gibt es einen großen Konsens zwischen
Bund und Ländern,
({10})
mit den unterschiedlichsten Parteien und den unterschiedlichsten Interessen dahinter -, dass wir diesen
Weg gemeinsam weitergehen. Dazu werde ich meinen
Teil beitragen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich
mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie sich mein Verhältnis zu
Menschen mit Behinderung im Laufe der Jahre verändert hat. Wir sprechen hier von Menschen mit bestimmten Behinderungen, ob nun mental, geistig oder körperlich behindert - damit es da keine Zwischenrufe gibt und
Sie wissen, wen wir meinen. Seien wir doch einmal ganz
ehrlich: Meine Generation hat eher ein scheues Verhältnis zu diesen Menschen. Wir haben als Kinder den sozialen Umgang mit ihnen nämlich nicht gelernt. Da gibt es
heute schon deutliche Verbesserungen. Wenn ich Nazis
jetzt einmal weglasse, die solche Leute schlagen - das ist
völlig indiskutabel; darüber müssen wir gar nicht diskutieren -, stelle ich fest: Die anderen sind eher nett, aber
eben doch zurückhaltend; sie wollen nicht so viel damit
zu tun haben und denken deshalb nicht daran.
Ich bin ganz sicher: In der Unionsfraktion und in unserer Fraktion hat sich dadurch etwas verändert, dass
beide Fraktionen einen Rollstuhlfahrer in ihren Reihen
haben. Ich schildere Ihnen einmal, wie das war: Wir organisierten eine Veranstaltung. Natürlich hatte keiner an
die Behinderten gedacht. Dann kam Ilja Seifert in den
Veranstaltungsraum nicht hinein, und wir mussten vier
starke Männer organisieren, um das irgendwie zu regeln.
Wir hatten an dieses Problem einfach nicht gedacht. Ich
glaube, dass sich das bei Ihrer Fraktion und bei unserer
Fraktion geändert hat, weil wir einfach gezwungen
waren, daran zu denken.
Ich möchte, dass wir jetzt einmal ehrlich im Umgang
miteinander sind und sagen: Wir müssen uns wirklich
einen Ruck geben; wir müssen ganze Generationen
darauf vorbereiten, dass sie eine gleichberechtigte Teilhabe dieser Menschen wollen. Sie müssen erkennen,
dass es sie selbst bereichert, wenn sie anders an das
Ganze herangehen.
({0})
Für den 2. und 3. Dezember 2011 war eine Begegnung von Bundestagsabgeordneten mit Menschen mit
Behinderung geplant; auch Bundesministerinnen und
Bundesminister sollten daran teilnehmen. - Abgesagt,
ausgeladen!
({1})
- Ja, ja, ich weiß: Sie kommt nächstes Jahr. - Warum?
Weil über 100 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer
kommen wollten, und dann stellte man fest, dass dieses
Gebäude, der Reichstag, der zum Teil umgebaute neue
Bundestag, nicht in der Lage ist, diese Rollstuhlfahrer
aufzunehmen. Das ist doch eine traurige Erkenntnis.
({2})
Wir können das nicht anders bezeichnen. Was ist jetzt
unsere Schlussfolgerung, Frau Bundesministerin von der
Leyen? Diese Begegnung findet nächstes Jahr mit weniger Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern statt.
({3})
Das kann doch nicht die Antwort sein. Die Antwort
muss sein, dafür zu sorgen, dass sie alle kommen und
teilnehmen können.
({4})
Nun geht es um die UN-Behindertenrechtskonvention; sie ist geltendes Recht. Sie ist übrigens die erste
Menschenrechtskonvention in diesem Jahrhundert. Die
Große Koalition hat erklärt: Ein Aktionsprogramm ist
gar nicht nötig. Die jetzige Koalition sagt: Wir machen
ein Aktionsprogramm. Allerdings müssen Sie doch einräumen, Frau Bundesministerin: Fast sämtliche Behindertenbewegungen haben Ihren Aktionsplan kritisiert,
und zwar aus gutem Grund: weil er eben nicht den
Durchbruch bringt, den wir diesbezüglich endlich brauchen.
Diese Konvention verlangt eine einkommens- und
vermögensunabhängige Teilhabesicherung. Davon sind
wir aber noch weit entfernt. Ich nenne einmal ein paar
Beispiele: ICE - nur zwei Plätze für Rollstuhlfahrerinnen bzw. Rollstuhlfahrer. Begrenzungen gibt es aber
auch in Kinos, in Theatern, in Stadien. In wie vielen
Gebäuden können Behinderte nicht auf Toiletten? Und
in wie viele Gebäude kommen sie gar nicht erst hinein?
Das gilt auch für Arztpraxen - Sie haben sie genannt; die
Zahl 10 Prozent scheint mir übrigens sehr niedrig zu
sein; ich glaube, es sind mehr -, Apotheken, Hotels,
Gaststätten, Kultureinrichtungen, Kirchen und Wohnhäuser. Überall müssen wir etwas tun. Es gibt übrigens
auch viele Straßenbahnen, die noch nicht behindertengerecht sind, das heißt, sie sind nicht entsprechend ausgerüstet. Bei der Bahn ist es schon viel besser; aber dort
fehlt oft das Personal, vor allen Dingen wenn Menschen
mit Behinderung später ein- oder aussteigen wollen.
Auch das ist ein Problem. Jetzt beraten wir über ein
neues Fernbus-Gesetz. Frau Bundesministerin, warum
schreiben wir in dieses Gesetz nicht hinein, dass Fernbusse künftig barrierefrei zu sein haben? Das könnte
doch verpflichtend in diesem Gesetz stehen.
({5})
Ich habe im Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern eine Werkstatt für geistig Behinderte besucht. Ich
habe festgestellt, dass diese Menschen mit großer Kon17342
zentration arbeiten und immer gleiche Handgriffe
machen, wie ich es überhaupt nicht könnte. Ich habe
festgestellt, dass diese Menschen Dinge können, die ich
nicht kann. Das zu erkennen, ist ungeheuer wichtig.
({6})
Sie können das mit einer Ausdauer, die ich in einem solchen Fall gar nicht an den Tag legen könnte. Aber sie bekommen nur ein Entgelt. Schon die Bezeichnung „Entgelt“ finde ich doof. Warum kann diese Arbeit eigentlich
nicht bezahlt werden?
Die Betreuerinnen und Betreuer erzählten mir, dass
sie gerne einmal eine Prämie oder etwas Ähnliches
geben würden, aber dass das nicht gehe, weil das Geld
gleich wieder mit der Grundsicherung verrechnet werde.
Das heißt, sie bekommen es nicht wirklich ausbezahlt.
Mein Gott, warum müssen wir da so kleinkariert sein?
Können wir ihnen nicht einmal eine Anerkennung für
ihre Arbeit und ihre Leistung in Form einer Prämie gönnen?
({7})
Ich habe es, ehrlich gesagt, nicht verstanden.
Ich sage noch einmal: Es geht nicht zuvörderst - das
natürlich auch - um medizinische und soziale Probleme,
sondern um Menschenrechte. Das müssen wir wirklich
begreifen.
({8})
Die Konvention kann nur umgesetzt werden, wenn
alle Fachressorts der Bundesregierung daran mitwirken
- nicht sie allein, das wäre gar nicht zu schaffen; die anderen Ressorts müssen ebenfalls beteiligt werden -, aber
auch die Länder, die Kommunen und ebenso - sie sollte
man nicht vergessen - die Wirtschaft, die Wissenschaft
und die Kultur. Letztlich müssen alle Bereiche ein anderes Denken an den Tag legen, anders damit umgehen, die
Konvention verinnerlichen und sie dann so schnell wie
möglich umsetzen.
Es gibt noch etwas: Ich möchte nicht, dass über Menschen mit Behinderung entschieden oder geredet wird
ohne sie.
({9})
Sie müssen das Recht auf Teilhabe haben, und zwar
auch, wenn Rechtsakte vorbereitet werden. Wir haben
beim Fernbus-Gesetz keine Menschen mit Behinderung
gefragt. Sonst hätten sie gesagt: Denkt doch bitte auch
an die Barrierefreiheit! Also müssen wir im Bundestag
diese Verpflichtung wahrnehmen und immer daran denken. Ilja Seifert hat mich im Laufe der Jahre immer wieder dazu gezwungen, sodass ich es inzwischen nicht
mehr vergesse. Das war früher anders; das bestreite ich
gar nicht. Aber, Ilja, du musst zugeben: Ich habe mich
deutlich gebessert.
({10})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich bin sofort fertig. - Wir haben drei Anträge eingebracht, die meines Erachtens sehr sinnvoll sind. Sie sollten sie alle annehmen. Es stimmt nämlich: Behinderung
ist in einem bestimmten Sinne heilbar. Das müssen wir
durchsetzen.
Der Welttag für die Menschen mit Behinderung ist
der 3. Dezember. Wir müssen uns einen Ruck geben und
unsere Einrichtungen so ausstatten, dass die Teilhabe der
Menschen mit Behinderung am politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und jedem anderen gesellschaftlichen Leben so weit wie möglich gewährleistet
wird.
({0})
Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich mache es einmal ganz anders: Ich fange mit
etwas Schönem an.
Kennen Sie die Band „Seeside“? Oder kennen Sie
GSDS? Die Band „Seeside“ hat in dieser Woche den
integrativen Musikwettbewerb gewonnen. GSDS heißt
„Guildo sucht die Super-Band“. Guildo Horn hat diesen
Wettbewerb gemeinsam mit der Lebenshilfe ausgerufen.
203 Bands und Musiker haben sich beteiligt. „Seeside“
hat den ersten Platz errungen. Bei „Seeside“ musizieren
geistig und körperlich behinderte Menschen gemeinsam.
Jetzt hat die Band also den Preis errungen und hofft auf
einen Plattenvertrag.
Der Wettbewerb zeigt, was möglich ist, wenn sich
Menschen engagieren. Guildo Horn hat in beispielhafter
Weise deutlich gemacht, was möglich ist.
({0})
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie sich die
Band an. Sie werden unweigerlich mitwippen, weil Sie
die Lebensfreude erleben, die von diesen Menschen ausgeht. Genau das brauchen wir. Wir brauchen Menschen
mit Behinderung in der Mitte unserer Gesellschaft und
nicht am Rand.
({1})
Es geht aber auch darum, dass behindernde Umstände
verändert werden können und müssen. Das macht auch
die Kampagne des Bundesarbeitsministeriums „BehinGabriele Molitor
dern ist heilbar“ deutlich. Auf großen Plakatwänden
wird dieses Motto humorvoll umgesetzt, eben ohne
erhobenen Zeigefinger. Auch dabei geht es darum, dass
wir gesellschaftliche Veränderung brauchen. Die Politik
gibt den gesetzlichen Rahmen vor. Die Menschen sind
es, die das Motto „Behindern ist heilbar“ in die Tat umsetzen müssen.
({2})
Mit dem Nationalen Aktionsplan stoßen wir einen
Veränderungsprozess an, der selbstbestimmtes Leben
und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Mit über
200 Maßnahmen gehen wir das Ziel einer inklusiven Gesellschaft an. Unabhängig vom Unterstützungsbedarf
muss jeder Mensch das gleiche und volle Recht auf individuelle Entwicklung und Teilhabe haben. Wie erreichen
wir das? Durch die Richtigstellung der Verantwortlichkeit. Es geht nicht darum, wie Menschen mit Behinderung sein müssen, damit sie teilhaben können, sondern
es muss um die Frage gehen: Wie muss unsere Gesellschaft gestaltet sein, damit jeder Mensch teilhaben kann?
({3})
Genau das ist es, was mit Inklusion gemeint ist. Wenn
aber Treppenstufen, komplizierte Sprache, Bevormundung oder Vorurteile Inklusion behindern, muss etwas
passieren. Es gibt ganz viele Gelegenheiten für Achtsamkeit. Schulen müssen fragen: Welche Konsequenzen
hat der Lehrplan für einen Schüler mit Downsyndrom?
Verkehrsunternehmen müssen fragen: Werden beim
Fahrkartenautomaten auch die Belange von sehbehinderten Menschen berücksichtigt? Der Unternehmer muss
sich fragen: Kann ich einen Menschen mit Behinderung
einstellen?
({4})
Nicht behindern, sondern ermöglichen: Das soll die
Grundidee unserer Projekte sein.
Inklusion fällt nicht vom Himmel. Viele Bürgerinnen
und Bürger - das müssen wir leider feststellen - wissen
wenig über die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Dabei ist Behinderung weiß Gott keine Randerscheinung. 10 Prozent der Weltbevölkerung gelten als
behindert. In Deutschland leben 9,6 Millionen Menschen
mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Im Übrigen
sind die Wenigsten von ihnen von Geburt an behindert.
Behinderung kann jeden von uns aufgrund eines Unfalls
oder einer Erkrankung treffen.
Mit dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und
FDP „Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte“ setzen wir
uns für die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein. Ich freue mich über diesen Antrag, weil auch
andere Ressorts dieses Thema jetzt bearbeiten und hier
für Verbesserungen sorgen.
Heute Morgen haben wir bei der Debatte über das
GKV-Versorgungsstrukturgesetz festgestellt, dass die
zahnärztliche Versorgung für Menschen mit Behinderung verbessert werden soll. Dies ist ein entscheidender
Fortschritt: Andere Ressorts kümmern sich um diese
Thematik. Das ist genau das, was wir brauchen.
({5})
Eines sollten wir bei der Debatte nicht vergessen:
Lassen Sie uns vorsichtig sein mit dem Vorwurf, man
würde die UN-Behindertenrechtskonvention nicht richtig umsetzen oder ihr gar zuwiderhandeln. Deutschland
ist ein Land, in dem die Gleichstellung schon weit vorangeschritten ist.
({6})
Für unsere Behindertenpolitik und unsere Umsetzung
der Konvention erhalten wir international viel Anerkennung.
({7})
Viele der 100 Vertragsstaaten haben noch keinen Aktionsplan. Wir liegen mit unserer Politik auf dem richtigen Kurs, und weitere Verbesserungen werden folgen.
Sie, sehr geehrte Opposition, sollten zu Engagement ermutigen, statt zu behindern.
({8})
Der Nationale Aktionsplan ist ein Maßnahmenpaket,
kein Gesetzespaket. Das Paket ist nicht fest verschnürt,
sondern offen für weitere Projekte und Ideen. Sie alle
sind eingeladen, mitzumachen, wenn es heißt, die kleinen und die großen Veränderungen voranzubringen.
({9})
Jetzt noch ein Wort zu der Veranstaltung im Deutschen Bundestag, die eigentlich für diesen Dezember geplant war und die wir auf das nächste Jahr verschoben
haben. Diese Veranstaltung musste zunächst abgesagt
werden, weil Sicherheitsbedingungen nicht erfüllt werden konnten. Für mich als verantwortungsvolle Politikerin ist Sicherheit das oberste Gebot. Ich werde, gemeinsam mit den anderen Sprechern, alles daransetzen, dass
diese Veranstaltung im nächsten Jahr unter hoffentlich
barrierefreien Bedingungen durchgeführt werden kann.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Entscheidung darüber, mit wem Sie und wie Sie wohnen
wollen, nehmen Sie natürlich für sich ganz selbstverständlich in Anspruch. Sie würden sich dagegen wehren,
wenn Ihnen aufgrund einer medizinischen Diagnose ein
Arbeitsort und ein Arbeitsplatz quasi zugewiesen wür17344
den. Sie würden es als ungerecht empfinden, wenn Sie
trotz guter oder gar gesteigerter Arbeitsleistung keine
entsprechende Entlohnung erhalten würden. Es würde
Sie empören, wenn Ihnen nach Ihrem ersten berufsbildenden Abschluss keine weitere Möglichkeit zur Qualifizierung oder Weiterbildung offenstehen würde. Sie
würden sich kaum damit abfinden, wenn Ihnen ein Sozialrichter erklären würde, zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben genüge es vollkommen, sich im Nahbereich der Wohnung bewegen zu können.
Für viele Menschen mit Behinderungen in Deutschland sind solche Erfahrungen jedoch Alltag und rechtlich
festgelegte Wirklichkeit. Es ist das Besondere an der
UN-Behindertenrechtskonvention, dass Rechte und Lebenschancen, die sogenannte Nichtbehinderte ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen können, nunmehr den
Status von Menschenrechten für Menschen mit Behinderungen haben.
({0})
Mit diesem Status von Menschenrechten obliegt es
also nicht mehr allein den Menschen mit Behinderung,
sich optimal anzupassen und bestmöglich zu integrieren,
sondern es ist Aufgabe von Gesellschaft, Politik und
Wirtschaft, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
alle Menschen mit ihren jeweiligen körperlichen, seelischen, mentalen und geistigen Besonderheiten zumindest die Möglichkeit haben, gleichberechtigt und selbstbestimmt am Leben teilzuhaben und ihr Leben mit
anderen zu gestalten.
Damit schafft die Behindertenrechtskonvention einen
modernen Freiheitsbegriff: Freiheit ist nach diesem inklusiven Verständnis nicht nur eine Abwesenheit von
Zwang. Freiheitsrechte sind mehr als Schutzrechte bei
staatlichen Eingriffen oder übermächtigen Kollektiven.
Damit Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen
ohne oder mit wenigen Ressourcen oder Menschen in
Zwangslagen ihre Freiheitsrechte überhaupt erst in
Anspruch nehmen können, braucht es das aktive ermöglichende Handeln von Staat und Gesellschaft. Dieser
Freiheitsbegriff weist weit über die eigentliche UN-Konvention hinaus.
({1})
Er macht diese Konvention nicht nur zu einem bemerkenswerten, sondern, wie ich meine, auch zu einem
bahnbrechenden Menschenrechtsdokument.
Angesichts der Größe des Handlungsauftrags, den
sich die Bundesrepublik Deutschland - wir alle hier mit der Ratifizierung der Konvention selbst gegeben hat,
ist es allerdings geradezu erschütternd, in welcher Blockade und Erstarrung sich die Behindertenpolitik in
Deutschland befindet. In diesem Zusammenhang möchte
ich kurz einige Dinge analysieren.
Nach wie vor ist nicht geregelt, dass Teilhaberechte
- die ja zu einem großen Teil im Sozialrecht angesiedelt
sind - koordiniert aufeinander abgestimmt umgesetzt
werden. Die große Aufgabe, die Rot-Grün mit dem
SGB IX angegangen ist - übrigens mit den Stimmen von
CDU/CSU und FDP -, wurde nicht weiterentwickelt.
Keiner Nachfolgeregierung nach Rot-Grün ist es gelungen, in den Strukturfragen weiterzukommen.
({2})
Ich glaube sogar, nicht zu übertreiben, wenn ich sage,
dass wir gewisse Rückschritte sehen. Rehabilitationsträger - nach meinem Empfinden insbesondere die Krankenkassen - streiten einfach ab, dass etwa das Recht auf
Teilhabe Vorrang vor den einzelnen Ausführungen der
Leistungen hat.
({3})
Das Problem ist, dass die Zersplitterung sich teilweise
fortsetzt.
Ich nenne das Beispiel der sogenannten Integrationsfachdienste. Die Integrationsfachdienste als Regelangebot - vom Gesetzgeber seinerzeit ins SGB IX gesetzt sollen Menschen mit Behinderungen bei der Arbeitsvermittlung unterstützen und dann am Arbeitsplatz begleitend zur Seite stehen. Sie sollen Arbeitgeber beraten
oder ihnen Hilfestellung beim Umbau des Arbeitsplatzes
leisten. Sie sollen also eine Leistung aus einer Hand zur
Teilhabe am Arbeitsleben bieten.
Was hat diese Bundesregierung jetzt gemacht? Sie hat
diese einheitliche Leistung, die genau so, wie ich es hier
beschrieben habe, im Gesetz steht, zersplittert. Sie hat
den Teil der Vermittlung jetzt einfach zur Ausschreibung
freigegeben, abgetrennt vom Teil der Begleitung und
Beratung der Arbeitgeber.
Das macht natürlich überhaupt keinen Sinn. Arbeitgeber sagen mir: Wir wollen einen einzigen Ansprechpartner. - Es macht natürlich auch keinen Sinn, dass derjenige, der die Vermittlung vornimmt, der die Kontakte zu
Arbeitgebern hat, nach der Vermittlung aus dem Spiel ist
und irgendein anderer die Begleitung und Beratung
übernimmt. Das Ganze ist eine Leistung aus einer Hand,
die, wie gesagt, so im Gesetz formuliert ist. Ich empfinde es wirklich als Rückschritt und Defizit, wenn das
jetzt wieder auseinandergerissen wird.
({4})
Weil der Mut zu größeren Veränderungen fehlt, werden Verbesserungen viel zu häufig als Insellösungen vorgenommen. Ich nenne das Beispiel der „Unterstützten
Beschäftigung“, das die letzte Regierung, die Große Koalition, auf den Weg gebracht hat. Vom Ansatz her ist das
Prinzip, zuerst zu platzieren und dann zu qualifizieren,
sehr vernünftig; denn auf diese Weise kann sozusagen innerbetrieblich gestartet werden, statt dass irgendwelche
Maßnahmen in Sondereinrichtungen absolviert werden
müssen. Was aber wird getan, aus Angst, das Ganze
könnte sich jetzt - im Hinblick auf Kosten oder was auch
immer - unabsehbar entwickeln? Das Programm wird
auf den Ausbildungsbereich beschränkt - also auf zwei
oder maximal drei Jahre -, und es wird keine vernünftige
Nachfolgeregelung entwickelt. Das ist eine reine Insellösung, die nicht in das sonstige Geschehen der Arbeitsmarktpolitik integriert ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit solch fragmentierten, kleinteiligen und nicht wirklich mutigen, sondern
eher ängstlichen Schritten werden wir nicht weiterkommen.
({5})
Angesichts der Finanzlagen besteht das Problem, dass
sich alle, aber auch wirklich alle Akteure eingraben. Sie
versuchen erst einmal - wie in alten Zeiten -, Ansprüche
abzuwehren. Aber auch die Leistungserbringer - das
sage ich an dieser Stelle ganz offen - versuchen, ihre
Strukturen zu konservieren. Das gilt selbst für diejenigen, die im Prinzip bereit wären, Dinge zu öffnen und zu
verändern. Sie sagen sich: Wir machen lieber nichts;
denn wenn wir unsere Wirtschaftlichkeitsreserven bzw.
Effizienzpotenziale, die wir vielleicht in unseren Einrichtungen haben, offenlegen, wird das möglicherweise
dazu führen, dass uns die Mittel gekürzt werden. - Im
Ergebnis passiert im Moment in dem gesamten Bereich
viel zu wenig.
Wir brauchen dringend mehr Bewegung. Die gesamte
Entwicklung - auch in Bezug auf Fallzahlen und Kosten;
das wird auch in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur
Eingliederungshilfe diskutiert - lässt nicht zu, dass wir
uns hier nicht weiter bewegen. Wir bekommen von kommunaler Seite doch allesamt klar zurückgespiegelt, dass
wir etwa im Bereich der Eingliederungshilfe am Ende
der Fahnenstange angekommen sind. Wenn wir nicht
Standards absenken wollen, müssen wir über Strukturveränderungen diskutieren.
({6})
Auch der demografische Wandel lässt es nicht zu, dass
wir an dieser Stelle länger warten.
Das Projekt „Inklusiver Sozialraum“ - für die Zuschauerinnen und Zuschauer sage ich: Dabei handelt es
sich um das Vorhaben, einen Gemeinderaum bzw. einen
öffentlichen Raum zu schaffen, in dem sich alle mit ihren Beeinträchtigungen bewegen können - stellt in Bezug auf die Lebensqualität in unseren Städten und Gemeinden eine Zukunftsfrage dar.
({7})
Ich meine, dass in dieser Hinsicht gerade im Bereich der
Kostenträger mehr Kompromissbereitschaft gezeigt werden muss. Wenn wir etwa das sogenannte Budget für Arbeit ermöglichen wollen - welches erlaubt, dass Menschen aus Werkstätten auch an einem allgemeinen
Arbeitsplatz tätig sein können -, geht das nur mit einem
Nachteilsausgleich auch in Form eines dauerhaften und
regulären Lohnkostenzuschusses. Es kann nicht sein,
dass die Träger der Sozialhilfe sagen: Wenn er nicht
mehr in meiner Werkstatt ist, dann zahle ich gar nichts
mehr. - Ebenso kann es nicht sein, dass die Agentur für
Arbeit keine Anreize bietet. Wir müssen dort Leistungen
kombinieren und sektorenübergreifend Initiativen ergreifen; denn sonst werden wir an einen Punkt kommen,
an dem wir das, was wir an Standards erreicht haben,
nicht mehr aufrechterhalten können.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe jetzt über
den erweiterten Menschenrechtsbegriff bzw. darüber geredet, was wir in Bezug auf Ermöglichung an Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben brauchen. Lassen Sie mich
zum Schluss auch noch etwas zur Notwendigkeit der
ganz akuten Verteidigung von unmittelbaren Menschenrechten sagen. Es gibt eine Studie der Universität Bielefeld - sie wird in der nächsten Woche bekannt werden zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderung. Es ist
wirklich erschütternd, was in ihr bezüglich der Gewaltanwendung gegenüber Frauen in Einrichtungen und Familien festgestellt wird.
Eine große Anzahl von Frauen wurde befragt. Durchschnittlich ein Drittel dieser Frauen hat körperliche Gewalt erfahren. Sexualisierte Gewalt haben 21 bis 44 Prozent der befragten Frauen und Mädchen erfahren,
psychische Gewalt in Kindheit und Jugend mehr als die
Hälfte. Das sind Zahlen, die uns wirklich alarmieren
müssen.
Gewalt, auch sexualisierte Gewalt, ist nicht nur in den
50er-, 60er- und 70er-Jahren zu verorten, sondern diese
Studie macht sehr deutlich, dass wir auch heute noch damit zu kämpfen haben. Auch der Frage von Gewalt in
stationären Einrichtungen der Psychiatrie müssen wir
uns erneut stellen. Wenn man fast 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete mit Betroffenen redet, stellt man fest,
dass Zwangsmedikamentierungen gegen den eigenen
Willen - und zwar über die Maße des sogenannten
Selbstschutzes hinaus - an der Tagesordnung sind und
dass auch dort Gewalt - speziell gegen Frauen - weiterhin ein Ausmaß hat, das wir nicht akzeptieren können.
Insofern hoffe ich, dass wir uns an dieser Stelle dieser
Sache noch einmal gemeinsam annehmen und genau
hinschauen werden, damit wir später nicht wieder sagen
müssen: Wir haben etwas übersehen. Teilhabe bemisst
sich am erweiterten Freiheits- und Menschenrechtsbegriff, aber auch an der ganz konkreten Verteidigung von
Menschenrechten im Hier und Jetzt.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Maria Michalk für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen heute eine Debatte, von der wir uns
lange gewünscht haben, dass sie zu einer so prominenten
Zeit stattfindet.
({0})
Dafür danke ich auch der Opposition. Sie müssen aber
annehmen, dass wir den Ernst der Lage schon lange verstanden haben. Denn was wäre ein deutlicheres Signal
dafür, dass wir diese Debatte sehr ernst nehmen, als dass
unsere Bundesministerin in dieser Debatte das Wort ergreift?
({1})
Übrigens ist es bisher gerade bei diesem sachlichen
Thema immer üblich gewesen, fraktionsübergreifend
nach Lösungen zu suchen, zum Wohle der Menschen mit
Behinderung. Liebe Frau Ferner, das kann ich Ihnen
nicht ersparen: Wenn diese Debatte mit dem Anwurf
beginnt, dass alles nach unten gehe, dann darf ich mit
dem Argument zurückschießen, dass wir in all den Jahren Ihrer Regierungsherrschaft einen unmöglichen, diffusen, dünnen Bericht bekommen haben.
({2})
Es ist unsere Ministerin, die die Datenlage und die Berichterstattung jetzt in eine qualitative Form bringt, sodass wir gut damit arbeiten können.
({3})
Herr Gysi, es tut mir leid: Ich glaube Ihnen natürlich
sofort, dass sich Ihr Verhältnis zu behinderten Menschen
rapide geändert hat. Wenn Sie ehrlich gewesen wären,
hätten Sie an genau der Stelle sagen müssen, was in den
letzten 20 Jahren im Bereich der Behindertenpolitik gerade in den neuen Bundesländern passiert ist, welche
Aufbauleistung zum Wohle der Menschen vollzogen
wurde.
({4})
Sie wissen, dass die Behindertenpolitik in der DDR-Zeit
eine Wegsperrpolitik war, dass SED-Genossen und
Staatsträger ihre behinderten Kinder lieber in Klöster
gegeben haben, weil sie wussten, dass sie dort gut aufgehoben sind. Das gehört zur Ehrlichkeit.
Ich finde es ziemlich unverschämt, dass Sie mit Ihrer
Kritik die Verschiebung unserer gemeinsamen Aktion,
bei der sich behinderte Menschen mit dem Parlament
treffen sollten, hier kurz vor dem Internationalen Tag der
Behinderten, an dem die Aktion stattfinden sollte, instrumentalisieren.
({5})
Sie wissen, dass auch Ihr Kollege, Herr Seifert, nach einem langen, intensiven Beratungsprozess, in dem wir
alle möglichen Alternativen geprüft haben, zugestimmt
hat.
({6})
Es war Ihr Kollege, der lieber 80 Rollstuhlfahrer ausladen würde, um die Veranstaltung an diesem Wochenende
durchführen zu können.
({7})
Wir haben hier im guten Einvernehmen eine richtige Lösung gefunden, eine richtige Entscheidung getroffen. Ich
werbe hier ausdrücklich um die Akzeptanz dieser Entscheidung. Wir bemühen uns alle nach bestem Wissen
und Gewissen, diese Veranstaltung nächstes Jahr in guter
Qualität durchzuführen.
({8})
Herr Kurth, Sie haben ein Stück weit die Leistungen
kritisiert. Im Übrigen lobe ich, dass Sie wirklich konstruktiv sind. Sie wissen, dass wir die Ausschreibung der
IFD-Leistungen aus Gründen des europäischen Rechts
durchführen mussten. Sie wissen auch, dass wir uns
gerade einvernehmlich darum bemühen, im Vergaberecht eine Lösung zu finden, die in Zukunft das umsteuert, was wir alle gemeinsam kritisieren.
Sie haben vom inklusiven Lebensraum gesprochen.
Jawohl, das ist etwas, was wir alle anstreben: dass alle
miteinander leben. Das gibt mir jetzt die Gelegenheit,
meine sorbischen Freunde aus der Lausitz zu begrüßen:
Witaj k nam! Denn dort passiert das schon seit Jahrtausenden: Deutsche und Sorben leben in einer Region zusammen. Wir wollen es schaffen, dass Menschen mit
und ohne Behinderung genauso selbstverständlich miteinander leben. Einer hat einmal gesagt: Wenn alle Äpfel
pflücken, dann braucht der Kleinwüchsige nur eine Leiter; dann kann er es auch. - So einfach ist das eigentlich.
Wir wissen aber - zurück zur Wirklichkeit -, dass uns
die Wirklichkeit manchmal einholt. Deshalb will ich darauf hinweisen, dass wir neben der Ratifizierung der
UN-Behindertenrechtskonvention, der breiten Diskussion und den Beschlüssen zum Nationalen Aktionsplan
und den vielen Aktivitäten, die der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen,
Hubert Hüppe - vielen Dank! -, mit dem Inklusionsbeirat durchführt, weitere Maßnahmen ergreifen. Ich denke
hier an die Länder. Die Bahn wurde schon genannt; viele
Unternehmen überlegen, wie sie den inklusiven Gedanken umsetzen können. Das zeigt doch, dass wir auf einem guten Weg sind und in unserer Gesellschaft etwas
erreicht wurde: eine stärkere Sensibilisierung für dieses
Thema.
({9})
Das heißt nicht, dass wir die Augen vor Dingen verschließen, die in der Tat ärgerlich sind und die wir verändern wollen. Ich will jetzt einmal einen Punkt herausgreifen. Es ist schon gesagt worden: Vor zehn Jahren
haben wir das SGB IX beschlossen. Das ist ein gutes
Gesetzbuch, dem auch wir damals aufseiten der OpposiMaria Michalk
tion zugestimmt haben. Darin ist auch das Persönliche
Budget geregelt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert?
Ja. - Bitte schön.
Frau Kollegin Michalk, Sie haben vorhin wahrheitswidrig gesagt, ich hätte zugestimmt, dass die Veranstaltung abgesagt wird. Sind Sie so freundlich, zuzugeben,
dass ich in der Runde der behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher gesagt habe, dass wir alles dafür
tun sollten, dass diese Veranstaltung doch stattfindet,
wenn es sein muss, mit der Ausladung einiger,
({0})
und dass ich auch gesagt habe, dass es besser wäre, wenn
wir eine Lösung finden würden, sodass alle hereinkommen könnten; denn in einem Jahr ist die Situation in diesem Haus sicherlich nicht anders als jetzt. Ich möchte,
dass Sie ausdrücklich bestätigen, dass ich nicht einverstanden war, dass diese Veranstaltung jetzt abgesagt
wird.
Herr Kollege Seifert, wir haben sehr lange und mehrfach miteinander darüber diskutiert. Wir haben uns von
der Bundestagsverwaltung Alternativen vorlegen lassen. Fast alle von uns haben eigene Vorschläge vorgetragen. Es war allen klar - das haben wir ausdrücklich gesagt -, dass wir diese Veranstaltung im Reichstag nicht
mit 130 Rollstuhlfahrern durchführen können, auch
nicht im Paul-Löbe-Haus unter Einbeziehung aller vorhandenen Räume. Wir haben bewusst beschlossen - Sie
waren auch dabei -, dass wir für diese Begegnung das
Fluidum des Reichstages und nicht das einer Messehalle
möchten.
In diesem Zusammenhang gab es tatsächlich nur die
Alternative, mindestens 80 Rollstuhlfahrer auszuladen.
Dafür haben Sie zunächst votiert. Wir waren uns alle
einig, dass das schwierig wird; denn wer traut sich, den
130 Rollstuhlfahrern zu sagen: Du darfst kommen, du
nicht. - Deshalb haben wir beschlossen, dass es besser
ist, ehrlich zu sagen, dass es so nicht geht und dass wir
ein neues Anmeldeverfahren brauchen. Die Rechnung,
die wir aufgrund der Erfahrungen aufgestellt haben,
nämlich dass es bei solchen Veranstaltungen im Schnitt
10 Prozent Rollstuhlfahrer gibt, ist hier nicht aufgegangen. Das ist eine Tatsache, die wir alle zur Kenntnis nehmen müssen. Den Brief, den wir dann gemeinsam an die
Teilnehmer geschrieben haben, haben Sie mit unterschrieben.
({0})
Ich denke, unsere Lösung ist fair. Ich werbe dafür, dass
wir uns hier nicht fetzen, sondern dass wir weiterhin an
einer Lösung arbeiten, um diese Veranstaltung so durchführen zu können, wie es ursprünglich geplant war.
({1})
Ich möchte noch kurz auf das Persönliche Budget eingehen. Es ist ein relativ junges Instrument, zehn Jahre
alt, und es ist ärgerlich, dass es nicht richtig angenommen wird. Wenn nur in 10 000 bis 15 000 Fällen das Persönliche Budget tatsächlich genutzt wird, dann ist das
für unsere Bundesrepublik einfach zu wenig. Deshalb
möchte ich auf einige Hintergründe eingehen.
Alle bisherigen Erfahrungen belegen, dass das Persönliche Budget die Selbstbestimmung und die Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung verbessert
und ihr Wahlrecht stärkt, weil sie sich eigenständig oder
mit Unterstützung die jeweilige Integrationsleistung einkaufen können. Sie bestellen selbst, und sie bezahlen
selbst, und zwar von dem Geld, das ihnen der Sozialstaat
zur Verfügung stellt. So bietet das Persönliche Budget
zum Beispiel die Möglichkeit, Menschen mit Behinderungen betriebsintegrierte Qualifizierungsangebote zu
machen.
Potenziellen Nutzern wird der Zugang jedoch viel zu
schwer gemacht. Wir kritisieren, dass nur wenige von
diesem Instrument profitieren. Defizite in der Beratungsinfrastruktur, willkürliche Verfahrensmängel, manchmal
auch eine intransparente Bedarfsermittlung und unzureichende Budgethöhen konfrontieren die Menschen mit
unzumutbaren Hürden, und sie geben resigniert auf.
Regional ist das mitunter unterschiedlich. Das ist ein
Beweis dafür, dass es sehr davon abhängt, in welchem
Umfang sich die betroffenen Bearbeiter in den Institutionen auf dieses Thema einlassen. Die verhältnismäßig
geringe Inanspruchnahme liegt nicht am Instrument
selbst - das will ich ausdrücklich betonen -; oft mangelt
es an der richtigen Haltung.
Der Paradigmenwechsel im SGB IX, der vom Gesetzgeber beschlossen und mit der UN-Behindertenrechtskonvention unterstrichen wurde, muss vor Ort gelebt
werden. Gerade junge Menschen wünschen sich trotz ihrer Behinderung berufliche Teilhabemöglichkeiten auch
außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen.
Die Bundesagentur für Arbeit hat es ermöglicht, dass die
Leistungen des Berufsbildungsbereichs der Werkstätten
für behinderte Menschen personengebunden auch in
Form Persönlicher Budgets zur Erprobung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingesetzt werden können. Gerade nach der gestrigen Klarstellung des Bundessozialgerichts zum Persönlichen Budget ist es mir wichtig, zu
sagen, dass die Menschen mit Behinderungen damit
rechnen können, zukünftig Werkstattleistungen ohne
Anbindung an eine Werkstatt für behinderte Menschen
in Anspruch nehmen zu können. Diese Klarstellung ist
wichtig.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth?
Bitte schön.
Frau Michalk, es freut mich sehr, dass Sie das Persönliche Budget als eine Möglichkeit, um trägerübergreifend
Leistungen zusammenzuführen, nennen. Aber wie bewerten Sie die Tatsache - ich frage vor dem Hintergrund,
dass Sie gerade auch über die berufliche Reha gesprochen haben -, dass im Haushaltsplan der Bundesagentur für Arbeit beim Persönlichen Budget Folgendes
steht - das wurde auf Seite 64 umfangreich beschrieben, sogar unter Nennung der Rechtsgrundlage -: Ist
2010: 0 Euro; Soll 2011: 0 Euro; Soll 2012: 0 Euro. Meinen Sie nicht, dass wir an dieser Stelle Strukturveränderungen vornehmen müssen, zum Beispiel, indem wir
eine bewilligende Stelle errichten oder die Gemeinsamen
Servicestellen mit Entscheidungskompetenz ausstatten,
damit solche, sicherlich auch von Ihnen als trostlos empfundene Haushaltsprognosen vermieden werden?
({0})
Lieber Kollege Kurth, Sie haben das ja auch in Ihrem
Antrag unter Nr. 9 festgehalten. Da stimme ich Ihnen zu.
Ich habe ja gesagt: Die Bundesagentur für Arbeit hat die
Möglichkeit zur Einrichtung eines Persönlichen Budgets; diese wird zu selten genutzt. Wir haben Vergleichsmöglichkeiten bzw. deckungsfähige Titel, und wir haben
einen Eingliederungsfonds, dessen Mittel die Mitarbeiter
vor Ort in Eigenverantwortung mit Blick auf die konkrete persönliche Situation einsetzen können. Dafür,
dass aus der Null im Soll im Ist etwas mehr wird, plädiere auch ich. Es ist aber normal, dass die Haushälter
sagen: Wenn das bisher wenig in Anspruch genommen
wurde, dann setzen wir eine Null. Liebe Haushälter, das
ist jetzt keine Kritik, sondern eine Werbeveranstaltung:
Die neuen Instrumente sollten im Haushalt ihre Entsprechung finden. Entscheidend ist aber, dass es vor Ort umgesetzt wird, und nicht, dass wir im Haushalt Mittel vorsehen, die später nicht genutzt werden.
Noch einmal: Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir
mehr tun müssen, dass wir auch öffentlich mehr Werbung machen müssen. In dieser Woche habe ich ein Gespräch geführt, das mich davon überzeugt hat. Es ist
nachgewiesen, dass mit dem Persönlichen Budget die
betroffenen Menschen glücklicher sind und der Staat
einsparen kann. Das wird deutlich, wenn man den
Aspekt der Integration in den Arbeitsmarkt mit einem
möglichen Dauerarbeitsplatz berücksichtigt.
Noch wichtiger ist für meine Begriffe, gerade für die
Betroffenen, die zum Teil Ängste haben, aus ihrem geschützten Bereich herauszugehen, dass wir die Durchlässigkeit des Systems stärker leben. Das heißt, wenn die
Integration in den ersten Arbeitsmarkt bzw. in den Arbeitsmarkt außerhalb der Werkstätten gescheitert ist,
muss die Möglichkeit zur Rückkehr in die Werkstatt
möglich sein.
Ich denke, es gibt viele Beispiele für eine gute praktische Umsetzung vor Ort. Sie müssen bloß stärker publiziert werden, damit das auch in den Regionen, in denen man sich damit noch schwertut, gelebte Praxis wird.
({0})
Ich will noch die anderen Anträge ansprechen. Ob
wir, wie in den uns vorliegenden Anträgen teilweise gefordert, das SGB weiterentwickeln oder die Diskussion
über ein Teilhabesicherungsgesetz vertiefen oder die
Eingliederungshilfe aus dem SGB XII nehmen und in
veränderter oder unveränderter Kostenträgerschaft im
SGB IX verankern, darüber lässt sich trefflich streiten.
Ich glaube, wir werden uns in der kommenden Ausschusssitzung über das Pro und Kontra austauschen. Das
ist aber unerheblich. Wir sollten nicht immer suggerieren, dass alles mit einer Kostensteigerung verbunden ist.
Ich erinnere an den Beschluss der Bund-Länder-Kommission zur Eingliederungshilfe, der an dem Grundsatz
der Kostenneutralität festhält. Ich glaube, dass schon vor
Ort nachgewiesen wurde, dass die finanziellen Ressourcen zielgenauer eingesetzt werden müssen.
Meinen Sie nicht auch, dass Teilhabegerechtigkeit einen viel höheren Stellenwert bekommen muss als die sogenannte Verteilungsgerechtigkeit, weil sie wirklich auf
die Situation des einzelnen Menschen eingeht und die
Inklusion letztendlich ermöglicht?
Ich will zum Abschluss etwas zitieren. Wir alle lesen
ja fleißig die Presse und im Internet. Kobinet ist eine
schöne Homepage, auf der man viel Kritik, aber auch
Lob lesen kann. Mich hat beeindruckt, was Frau Sabine
Zobel dort geschrieben hat:
Ein schöner Traum! Ach wie wäre das schön für
mich als Mensch mit Handicap, in einer Welt leben
zu können, wo ich nicht tagtäglich merke, dass ich
anders als die anderen bin.
Das ist ein Appell an uns alle. Ändern wir uns, seien wir
wie alle!
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Vor allen Dingen: Liebe Mitstreiter
auf der Tribüne, schön, dass ihr da seid und die Debatte
heute mitverfolgen könnt.
Silvia Schmidt ({0})
({1})
Sehr verehrter Herr Gysi, diese Gesellschaft muss auf
Menschen mit Behinderungen vorbereitet werden. Das ist
richtig; ich gebe Ihnen grundsätzlich recht. Aber an einer
Stelle haben Sie nicht recht: Schon die Große Koalition,
also auch Olaf Scholz, hat gesagt, dass ein Nationaler
Aktionsplan entstehen muss. Das war auch so festgeschrieben. - Gestatten Sie mir bitte noch eine Anmerkung. Sie sagten, dass Sie in einer Werkstatt für Behinderte waren, die dort Entgelt bekommen, und das sei
doof. Ja, darüber kann man streiten.
({2})
- Ja, aber ich spreche jetzt über das Wort „doof“. - Ich
würde mich freuen, wenn das Wort „doof“ auch bei einer
Finanzdiskussion fallen würde.
({3})
Frau Molitor, Treppensteiger zum Beispiel werden
nach einem Urteil nicht mehr von den Krankenkassen finanziert. Das verhindert Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben. Das ist ein Rückschritt; das müssen wir festhalten. Das Gesundheitsministerium hat ganz lapidar auf
eine entsprechende Anfrage geantwortet, da müsse man
noch einmal nachfragen bzw. das sei nicht so. Die Menschen hängen tatsächlich in der Luft und können nicht
mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Sehr verehrte Frau Ministerin, wir alle möchten diese
inklusive Welt noch erleben; sie soll nicht erst eines Tages Realität sein.
({4})
Hierbei geht es um ein Menschenrecht für uns alle. Wir
alle profitieren davon. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Die Aussage über die freie Arztwahl stimmt nicht.
Zum Beispiel in Berlin sind 86 Prozent der Arztpraxen
nicht barrierefrei. Daher gibt es hier keine freie Arztwahl. Wenn man sich in einer Einrichtung befindet, zum
Beispiel in einem Pflegeheim, hat man einen Heimarzt.
Auch das ist keine freie Arztwahl.
In den Werkstätten passiert nichts; das ist ein Problem.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben zur Werkstatträtekonferenz eingeladen. Es gibt ein Positionspapier der
Werkstatträte. Sie wollen mehr Mitbestimmung in den
Werkstätten. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir müssen die
Mitwirkungsverordnung für Werkstätten ändern.
({5})
Die Bahn tut schon einiges; das ist richtig. Sie ist hier
einen Schritt weiter. Aber wenn man in einem Rollstuhl
sitzt oder wenn man blind oder gehörlos ist, dann kann
man nur sagen: „Gute Nacht, Marie!“, wenn man sich alleine auf einem Bahnhof befindet; denn sie sind nicht
überall barrierefrei. Ein Rollstuhlfahrer muss erst einmal
telefonieren, bevor er überhaupt eine Reise antreten
kann. Ich kann mich einfach in den Zug setzen, ein Rollstuhlfahrer kann das nicht so einfach. Er muss sich anmelden und warten, und wenn er Glück hat, kommt er
dran und darf mit der Bahn fahren. Das würde uns allen
missfallen.
Ich bitte um noch eines. Sehr verehrte Frau Ministerin, Sie sagten, dass es schon Inklusionskonzepte bei den
jeweiligen Wohlfahrtseinrichtungen gibt. Ich bitte, die
Betroffenen dabei mitzunehmen. Die Betroffenen sind
die Experten in eigener Sache. Wir haben damals gemeinsam das Motto geprägt: nichts über uns ohne uns. Das ist eine ganz wichtige Feststellung, und das sollten
wir nicht aus dem Auge verlieren. Die Betroffenen müssen verstärkt einbezogen werden.
({6})
Das hat die SPD-Bundestagsfraktion gemacht. Wir
haben über Monate hinweg ein Positionspapier mit Menschen mit Behinderung erarbeitet.
({7})
Ich möchte mich ganz herzlich bedanken bei ForseA,
Weibernetz, bei den Verbänden von psychisch kranken
Menschen, beim Gehörlosen-Bund, beim Blinden- und
Sehbehindertenverband, bei „Gemeinsam leben - Gemeinsam lernen“, beim Studentenwerk, bei Gewerkschaften, Wissenschaftlern, beim Landkreis, bei der Lebenshilfe. Wir haben an einem Tisch gesessen, haben
monatelang diskutiert und gemeinsam ein Positionspapier
entwickelt. Aus diesem Positionspapier ist der heutige
Antrag entstanden. Das war für uns selbstverständlich.
Das war der Geist des SGB IX, das wir gemeinsam, alle,
die wir hier sitzen, damals beschlossen haben. So muss es
auch weitergetragen werden.
({8})
Gestatten Sie mir, noch etwas zu sagen - ich habe nicht
mehr viel Zeit - zur Reform der Eingliederungshilfe bzw.
generell zur Eingliederungshilfe. Es ist schon angedeutet
worden: Ob ich Akademiker bin oder in einer Werkstatt
beschäftigt bin, wenn ich Leistungen zur Teilhabe brauche
- Assistenz oder was auch immer -, muss ich zum Sozialamt gehen, und dann werde ich automatisch zum Sozialhilfeempfänger. Ein Mensch geht aufgrund seiner Behinderung zum Sozialamt und wird aufgrund seiner
Behinderung - das muss man sich bitte vorstellen - zum
Sozialhilfeempfänger und hat keine Chance mehr, aus
dieser Situation herauszukommen. Ich halte das für menschenverachtend. Hier muss sehr schnell etwas getan werden.
({9})
Vielleicht noch eine Anmerkung: Die Vermögensbzw. Einkommensprüfung, die stattfindet, bringt im Jahr
ungefähr 12 Millionen Euro - ForseA hat dazu ein Papier herausgegeben -; dem stehen 500 Millionen Euro
Verwaltungskosten gegenüber. So viel Unsinn können
wir nun wirklich nicht gebrauchen. Vor allen Dingen:
Silvia Schmidt ({10})
Welche Belastung das für Menschen mit Behinderung
bedeutet, das wissen wir doch alle hier. Das heißt, diese
Prüfung gilt es so schnell wie möglich auszusetzen.
Auch das steht nicht in Ihrem Aktionsplan.
({11})
Markus Kurth hat vorhin die Studie über Frauen mit
Behinderung aufgegriffen, die sexuell missbraucht oder
generell Gewalt ausgesetzt werden. Bitte lassen Sie uns
nicht wieder in die Vergangenheit reisen. Es findet in
den Institutionen, also in den Einrichtungen und in den
Werkstätten, statt.
({12})
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie Geld in die Hand, und
sagen Sie, dass Frauenbeauftragte in die Einrichtungen
gehören, damit nicht wieder so etwas passiert, was wir
jetzt sehr schwer und sehr langsam aufarbeiten! Wir haben das 2008 gemeinsam auf den Weg gebracht. Unterstützen Sie diese Frauen! Ich bitte Sie darum.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention gilt als Meilenstein und politischer Impulsgeber für Menschen mit Behinderung nicht nur bei uns
in Deutschland, auch in der internationalen Politik. Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen
Lebensbereichen wird durch die Konvention verboten.
Bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Menschenrechte werden garantiert. Dadurch können Menschen mit Behinderung in ihrer Andersartigkeit als
gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft geachtet
und als Teil der menschlichen Vielfalt akzeptiert werden.
({0})
Im Zentrum steht dabei das Ziel, die gleichberechtigte
Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe in allen Lebensphasen zu verwirklichen - angefangen vom gemeinsamen Besuch des Kindergartens, der Schule bis zur
Schaffung von Arbeitsplätzen, auf denen Menschen mit
und ohne Behinderungen gemeinsam arbeiten.
Die Konvention verlangt von allen Vertragsstaaten
und auf allen Ebenen, die in ihr verankerten Rechte planmäßig in der Politik zu verfolgen. Neben dem Bund sind
also auch Länder und Kommunen zu einer erkennbaren
Umsetzung der Konvention aufgefordert.
({1})
Viele Inhalte der Konvention haben wir schon durch
Einzelgesetze geregelt. Dazu gehören das Behindertengleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Neunte Buch Sozialgesetzbuch, das
SGB IX. Das Benachteiligungsverbot wird durch Art. 3
des Grundgesetzes umfassend garantiert. Positiv hervorheben möchte ich, dass der von der Bundesregierung
vorgelegte Nationale Aktionsplan die Behindertenfrage
zu einer Menschenrechtsfrage gemacht hat und Deutschland hier eine Vorreiterrolle spielt.
({2})
Der Nationale Aktionsplan macht deutlich, dass die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und
die damit verbundene Behindertenpolitik in Deutschland
als Querschnittsaufgabe begriffen werden. Behinderten
Menschen und den sie vertretenden Organisationen werden dadurch in allen Politikfeldern Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet, und in unserer Gesellschaft etabliert sich
mehr und mehr eine Kultur der Nichtdiskriminierung zugunsten behinderter Menschen. Besonders erfreulich ist,
dass sich bereits viele Organisationen aus dem Bereich
der Zivilgesellschaft mit der UN-Behindertenrechtskonvention identifizieren und sich im Rahmen des Nationalen Aktionsplans engagiert haben. Die bundesweiten Entwicklungen geben Hoffnung auf einen noch besseren
Weg in eine inklusive Gesellschaft. Sie verdeutlichen einen aktiven Bewusstseinswandel in Politik und Gesellschaft.
Unser Ziel ist es, diesen Aktionsplan kontinuierlich
auf den Prüfstand zu stellen und entsprechend neuere Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Dazu brauchen wir einen ständigen Dialog mit denjenigen, die Behinderungen
aufweisen, um herauszufinden, wo Teilhabe noch nicht
funktioniert.
Nicht nur Deutschland startet die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention. Das Europäische Parlament hat gerade letzte Woche die „Europäische Strategie
zugunsten von Menschen mit Behinderungen
2010-2020“ beschlossen. Wir begrüßen die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention auf europäischer Ebene. Die Aktionslinien lassen sich mit den Artikeln der UN-Behindertenrechtskonvention weitgehend
in Einklang bringen. Ziel ist ein wirklich barrierefreies
Europa für Menschen mit Behinderungen im Jahr 2020.
Die Strategie zeigt auf, was vonseiten der EU und ihrer
Mitgliedstaaten zu tun ist, damit Menschen mit Behinderungen ihre Rechte uneingeschränkt wahrnehmen können.
In der EU leben über 80 Millionen Menschen mit Behinderungen. Mehr als jeder Dritte der über 75-Jährigen
hat ein körperliches Handicap, das ihn in seinem Alltag
beeinträchtigt. Folge des demografischen Wandels ist
eine immer älter werdende Gesellschaft. Es ist also davon auszugehen, dass der Anteil von Bürgerinnen und
Bürgern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen steigen wird. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gestaltet sich dann umso schwieriger. Wir unterstützen daher das Vorhaben der EU-Kommission, die auf eine
europaweite Räumung der bestehenden Barrieren zielt
und die Rechte von Menschen mit Behinderungen in
ganz Europa stärken möchte.
Umfassende Barrierefreiheit ist Grundvoraussetzung
für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben; denn der Alltag von Menschen mit Behinderungen ist voller Herausforderungen und Tücken. Eine U-Bahn-Haltestelle ist
für einen Rollstuhlfahrer ohne Aufzug kaum erreichbar.
Baustellen sind ohne fremde Hilfe schwer zu überbrücken. Das Wohnen zu Hause bereitet Schwierigkeiten.
Menschen mit Behinderungen haben kaum Chancen auf
dem Arbeitsmarkt.
In Planung sind ganz konkrete Maßnahmen wie die
Verbesserung der Anerkennung von Behindertenausweisen, und zwar EU-weit.
({3})
Durch die Verleihung eines europäischen Preises für gut
zugängliche Städte oder durch eine gezielte Berücksichtigung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und der Gewährung staatlicher Beihilfen soll die Öffentlichkeit für
Behinderungen und behindertengerechte Einrichtungen
sensibilisiert werden. Dienstleistungsangebote und Geräte für Behinderte sollen EU-weit verbessert werden.
Diese europäische Strategie ergänzt und unterstützt die
Maßnahmen der Mitgliedstaaten und bestätigt unsere
Behindertenpolitik.
({4})
Wir sind aufgerufen, im Rahmen dieser Strategie zusammenzuarbeiten, um ein barrierefreies Europa für alle
zu schaffen. Insgesamt müssen wir dabei gewährleisten,
dass Vorgaben von der EU-Ebene in den Kommunen vor
Ort umgesetzt werden.
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg, Menschen
mit Behinderung wie allen anderen Menschen auch ein
freies und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Neben Gesetzen, Strategien und Aktionsplänen ist auch der
Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sehr wichtig. Wir
benötigen die innere Einstellung, dass Vielfalt zu unserer
Gesellschaft gehört und jeden bereichert.
Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Ich glaube, dass Inklusion
nur gelingen kann, wenn jeder seinen Beitrag dazu leistet,
({0})
angefangen mit den kleinen Dingen im Alltag, wie mehr
Zuwendung und Aufmerksamkeit gegenüber den Menschen mit Behinderung.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Ilja Seifert für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute wäre eigentlich
die Stunde für eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin gewesen.
({0})
Anscheinend passen Menschen mit Behinderung aber
nicht unter Ihre komischen Rettungsschirme. Da gehören sie aber hin.
({1})
- Lassen Sie mich doch erst einmal weiterreden. - Die
Kanzlerin hat ja nicht einmal zur Kenntnis genommen, dass
am vergangenen Wochenende viele Menschen, die Opfer
des Conterganskandals geworden sind, um „5 vor 12“ vor
ihrem Kanzleramt standen und dort eine Petition übergeben wollten, damit ihnen endlich ein würdevolles Leben
ermöglicht wird. Aber: Fehlanzeige!
Der Geist der UN-Behindertenrechtskonvention,
nämlich die Betroffenen ernst zu nehmen und zu beteiligen, ist in dieser Regierung nicht angekommen. Liebe
Frau von der Leyen, das muss ich Ihnen auch sagen:
Fehlanzeige! Warum haben Sie denn nicht einmal den
sogenannten Nationalen Aktionsplan dem Parlament als
Unterrichtung zugeleitet, damit wir uns hier einmal gemeinsam darüber unterhalten und damit befassen können? Über hundert Unterrichtungen gibt es von der Regierung, diese aber nicht.
Frau von der Leyen, Sie sagen jetzt: Inklusion ist das
Schlüsselwort. - Wenn dem so sein sollte: Warum übernehmen Sie dann nicht die Schattenübersetzung und erklären sie zur offiziellen Übersetzung? In Ihrer offiziellen Übersetzung kommt das Wort „Inklusion“ nämlich
gar nicht vor. Sie haben sogar dagegen gekämpft, als wir
es aufgenommen haben wollten.
Diese Regierung hat überhaupt nicht begriffen, worum es geht und dass es alle betrifft. Wo ist denn von
Herrn Ramsauer, von Herrn Schäuble und von Herrn
Rösler das Konjunkturprogramm „Deutschland barrierefrei“ zur Beseitigung bestehender Barrieren? Es gibt den
Vorschlag, hierfür ein Konjunkturprogramm zu machen.
Das ist Wirtschaftsförderung! Zehn Jahre lang jedes Jahr
mindestens 1 Milliarde Euro nur zur Beseitigung bestehender Barrieren im Baubereich, das wäre Wirtschaftsförderung vor Ort.
({2})
Ihre Kollegin Frau Schröder sagte auf die Frage, wo
in ihrem Ressort überhaupt Geld für die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention eingestellt ist: Das ist
bei uns nicht ressortiert, das macht alles Frau von der
Leyen, ich bin nicht zuständig. - Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist nicht
zuständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention?! Wo wohnen wir denn überhaupt?
Herr Bahr hat hier heute über die Verbesserung im
Gesundheitswesen geredet. Wo ist denn das Konzept,
mit Geld unterlegt, zur Schaffung barrierefreier Arztpraxen?
({3})
Wir können ja gerne über zahnärztliche Behandlungen
reden. Wie kommt ein Rollstuhlfahrer überhaupt auf den
Stuhl? Hier haben wir wirklich noch viel zu tun.
Frau Schavan, wo ist denn die behindertenpolitische
Kompetenz bei zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern,
bei Architekten, bei Ingenieuren?
({4})
Wieso gibt es denn da kein Curriculum, keine Pflicht,
das zu lernen?
In Karlsruhe wird demnächst der letzte Lehrstuhl für
hörbehinderte Menschen aufgelöst und nicht wieder neu
besetzt. Was hat das mit Inklusion und mit Umsetzung
der UN-Konvention zu tun?
Sie von der FDP: Wo ist denn von Ihren Ministern
Westerwelle und Niebel das Programm zur Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in jegliche Aktivitäten in Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit?
Wir fordern mit dem Antrag, den wir eingereicht haben, einen einkommens- und vermögensunabhängigen
Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile durch ein
Teilhabesicherungsgesetz.
({5})
Da kann man den betroffenen Organisationen - ForseA,
dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen, dem Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland usw. - danken, dass dafür schon seit Wochen, seit Monaten und zum
Teil seit Jahren Konzepte vorliegen. Sie greifen die nicht
auf; wir bringen sie ins Parlament, damit etwas passieren
kann.
({6})
Die Anträge der SPD unterstützen wir. Das passt zusammen. Als ihr noch die Denkschrift unterschrieben
habt, habt ihr eine ganz andere Position vertreten. Insofern ist durchaus ein Fortschritt erkennbar.
Frau von der Leyen, Sie machen eine große Kampagne, die „Behindern ist heilbar“ heißt. Einverstanden!
Fangen wir doch bei der Regierung an! Falls Sie einen
Therapeuten brauchen sollten, stelle ich mich zur Verfügung. Dann würden wir die UN-Konvention zum Regierungsprogramm machen. Das wäre eine gute Tat für
Deutschland.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Mit dem Nationalen Aktionsplan, den
die Bundesregierung im Juni dieses Jahres auf den Weg
gebracht hat, sorgen wir für eine umfassende Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention. Frau Ministerin
von der Leyen hat in ihrer Rede bereits darauf hingewiesen, dass immerhin circa 200 Einzelmaßnahmen bereits
jetzt enthalten sind. Es ist ein lernendes und sich fortentwickelndes System. Natürlich wird das eine oder andere
noch ergänzt und fortgeschrieben werden können. Das
muss uns natürlich klar sein: Es ist ein Thema, das die
Gesellschaft dauerhaft - über die nächsten Jahre und
Jahrzehnte - beschäftigen wird.
({0})
Mit dem Nationalen Aktionsplan gehen wir einen
großen und entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer
inklusiven Gesellschaft voran - einige Vorredner haben
bereits darauf hingewiesen - und regen einen Prozess an,
der in den kommenden zehn Jahren das Leben von rund
9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland maßgeblich verbessern und beeinflussen wird.
Es liegt mir sehr am Herzen, Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe mitten in der Gesellschaft zu ermöglichen. Wir haben zwar bereits viel erreicht, aber wir sind noch längst
nicht am Ziel angelangt. Bei der Entwicklung des Aktionsplans war es wichtig, die gesamte Zivilgesellschaft
einzubinden. Es wurden Wünsche und Visionen von
Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen und ihren Verbänden berücksichtigt. Schließlich sollte der Plan
gerade keine Auflistung über wünschenswerte Veränderungsvorschläge und Lebensrealitäten werden, sondern
ein Aktionsplan, der den Alltag für Behinderte in
Deutschland nachhaltig und bewusst verändern und in
der Praxis umgesetzt und gelebt werden soll.
({1})
Es freut mich sehr, dass ich bereits wenige Monate
nach Inkrafttreten von ersten Erfolgen berichten kann.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat mit
der Deutschen Bahn AG vereinbart, die 50-KilometerRegelung nach § 147 Abs. 1 SGB IX für schwerbehinderte Menschen bereits zum 1. September 2011 aufzuheben. Damit wird für schwerbehinderte bzw. schwer
kriegsbeschädigte Reisende durchgängig eine bundesPaul Lehrieder
weite kostenfreie Nutzung der Nahverkehrszüge der DB
Regio AG gewährleistet.
({2})
Wenn Kollege Seifert gerade eben unseren Verkehrsminister Peter Ramsauer angesprochen und ausgeführt
hat, der Nationale Aktionsplan müsste auch im Bereich
Verkehr fortentwickelt werden, so möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir derzeit mit der Bahn AG
und dem Verkehrsministerium den Umbau einer Vielzahl
von Bahnhöfen mit Bundesmitteln forcieren und fördern, um eine behindertengerechte Ausgestaltung von
Bahnanlagen zu ermöglichen.
Auch in meinem Wahlkreis in Würzburg ist ein Bahnhof, der noch längst nicht behindertengerecht ist und von
dem ich hoffe, dass bis 2018 ein Rollstuhlfahrer oder
eine Mutter mit Kinderwagen den Bahnsteig ohne
fremde Hilfe erreichen kann.
({3})
Nehmen Sie das als Beispiel, Herr Kollege Seifert,
dafür, dass diese Querschnittsaufgabe in vielen Ministerien angekommen ist und dass in vielen Facetten und mit
vielen Puzzlesteinen bereits jetzt an einer inklusiven Gesellschaft gearbeitet wird.
({4})
Die Kampagne „Behindern ist heilbar“, die über zahlreiche Medien derzeit zu sehen ist, kommt Art. 8 der
Konvention nach, ein gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen. Sie alle werden das
Bild kennen, auf dem ein in 2,30 Meter Höhe angebrachter Geldautomat von niemandem zu erreichen ist, weder
von dem Behinderten, dem Kleinwüchsigen, noch von
den normal Gewachsenen. Da ist Behinderung für alle
bemerkbar. Der erste Schritt muss sein, Aufmerksamkeit
zu erzeugen, Menschen für das Thema Behinderung und
für alles, was damit zusammenhängt, zu sensibilisieren.
({5})
Lieber Herr Kollege Gysi, ich habe noch nicht vieles
von dem, was Sie hier an diesem Mikrofon von sich gegeben haben, unterschreiben können, aber heute haben
Sie in vielen Punkten recht gehabt.
({6})
Herr Gysi, Sie haben am Beispiel des Kollegen Seifert
ausgeführt, dass wir schlichtweg oft nicht an die Belange
behinderter Menschen denken. Ich habe selber ein Déjàvu-Erlebnis gehabt, ähnlich wie Sie bei Ihren Organisationen: Ich habe als junger Bürgermeister die Gestaltung
eines Parkplatzes im Innerortsbereich in Gaukönigshofen vorgenommen: Es handelte sich um eine Böschung
mit einer dreistufigen Treppe. Ich bin am Schluss, nach
dieser Baumaßnahme, mit einem Rollstuhlfahrer, der
durch einen Unfall an den Rollstuhl gebunden war, die
Strecke abgefahren. Er hat mich darauf hingewiesen und
mir schlichtweg die Augen geöffnet, was wir einfach
übersehen haben, weil das für uns kein Hindernis ist.
Es ist gut, rechtzeitig, vielleicht sogar vor der Planung, stärker die Personen mit Handicap einzubeziehen,
um solche Fehler oder Nachbesserungen zu vermeiden.
Wir konnten alles nachbessern. Wir konnten HochbordGehsteige absenken und das Ganze mit einer Rampe behindertengerecht ausgestalten. Aber Sie haben recht gehabt, Herr Dr. Gysi: Wenn man rechtzeitig hinschaut,
kann man manches erleichtern. Dazu kommt: Wenn man
das rechtzeitig macht, kostet das relativ wenig Geld.
({7})
Erste Berührung mit dem Thema und umfassende Information dazu schaffen die Basis, um Toleranz zu entwickeln und schließlich im nächsten Schritt eine inklusive Gesellschaft zu erreichen. Es reicht nicht, Menschen
nur zu akzeptieren, sondern sie müssen auch eingebunden werden, sowohl im öffentlichen als auch im privaten
Bereich.
Es ist erschreckend, dass laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Behinderung mit 25 Prozent der
meistgenannte Diskriminierungsgrund ist. Bei Mehrfachdiskriminierungen werden die Kombination Behinderung und Alter mit 17 Prozent sowie Behinderung und
Geschlecht mit 7 Prozent am häufigsten genannt. Dies
gilt sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten
Bereich.
Ich möchte an dieser Stelle das C im Namen unserer
Fraktion hervorheben.
({8})
Die zentrale Botschaft vieler Weltreligionen, nicht nur
der christlichen, ist es, nach dem Prinzip der Nächstenliebe zu leben. Nur so kann ein gleichberechtigtes Zusammenleben innerhalb eines Völkerbundes und darüber
hinaus erreicht werden. Deshalb öffnet der Nationale
Aktionsplan mit folgender Vision eine Zukunftsgesellschaft: Menschen akzeptieren Menschen so, wie sie sind. Mit der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans sind
wir hier auf dem besten Weg.
Die Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Ende letzten
Jahres eine Studie zur Inklusion, in welcher insbesondere Handlungsbedarf an den Schulen festgestellt wurde.
Die inklusive Bildung der Kinder endet laut Studie nach
der Kita. Während in der Kindertageseinrichtung noch
60 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gemeinsam mit
anderen spielen und lernen, sind es in der Grundschule
gerade noch 34 Prozent. Beim Übergang in die weiterführende Schule müssen dann viele Kinder aus Mangel
an inklusiven Bildungsangeboten an eine Förderschule
wechseln. Mit dem Nationalen Aktionsplan wird
Schulen die Möglichkeit gegeben, ihre Arbeit und ihre
Angebote individuell auf die Bedürfnisse der Kinder zuzuschneiden. Förderschulen dürfen keine Abschiebeschulen sein.
Wir werden über die Finanzierung der Schulbegleiter
diskutieren. Mit den Kommunen werden wir uns zusammensetzen und regeln, wer welche Aufgabe in diesem
Bereich schultern kann und schultern muss. Hier wird in
Zukunft mehr Geld erforderlich sein. Da brauchen wir
uns gar nichts vorzumachen.
Es gilt aber auch, physische Barrieren abzubauen, wie
beispielsweise der vorhin bereits angesprochene nicht
abgesenkte Bordstein, fehlende Aufzüge in öffentlichen
Gebäuden, fehlende Lichtanlagen für hörbehinderte
Menschen, fehlende Lautsignale für sehbehinderte Menschen. Ein weiteres Thema wird die Elektromobilität
sein. Hier wird eine zusätzliche akustische Wahrnehmung für Menschen mit Handicap erforderlich sein:
Wenn ein Elektroauto sehr viel leiser als ein Benziner
ist, ist die Sorge der Betroffenen, dass sie das Fahrzeug
überhören können. Wir müssen uns überlegen, wie wir
diese Fahrzeuge entsprechend ausstatten können.
Es geht aber auch um jene Barrieren, die in den Köpfen sitzen und die Integration und Berührungen mit
Menschen mit Behinderung verhindern.
Umfassende Barrierefreiheit ist ein zentrales Element
im Nationalen Aktionsplan und auch wesentlicher Inhalt
des Art. 9 der UN-Behindertenrechtskonvention. Die soziale Wohnraumförderung unterstützt als eine Maßnahme im Nationalen Aktionsplan, die ich beispielhaft
herausgreifen möchte, sowohl Mietwohnraum als auch
die Bildung von selbst genutztem Wohneigentum. So
können insbesondere für Menschen mit Behinderung
barrierefreie Wohnungen und die barrierefreie Modernisierung von Altbauten gefördert werden.
Darüber hinaus werden Beratungs- und Informationsangebote über die behindertengerechte Gestaltung von
Wohnraum und Umbauten ausgebaut und weiterentwickelt. Es ist wichtig, dass sich diese nicht nur auf bauliche Vorhaben bezieht, sondern auch auf barrierefreie
Kommunikation, barrierefreies Film- und Fernsehangebot und barrierefreies Internet. Auch hier sind wir bereits
aktiv. Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung,
BITV 2.0, soll gewährleisten, dass öffentlich zugängliche
Internetdienste und Angebote der Bundesverwaltung von
Menschen mit Behinderung uneingeschränkt genutzt
werden können.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich wäre es
wünschenswert, alle Punkte der umfangreichen UN-Behindertenrechtskonvention sofort komplett umzusetzen.
Es ist aber wichtig, die Umsetzung als Prozess zu sehen.
Nur so kann sie wirkungsvoll sein und auch nachhaltig
in den Köpfen stattfinden.
({9})
Wir können beispielsweise von einem mittelständischen Unternehmen nicht fordern, von heute auf morgen
sein komplettes Gebäude mit automatischen Türen auszustatten und eine feste Anzahl von Menschen mit Behinderung einzustellen. Dieser Zwang würde sicherlich
nicht zur Integration der Mitarbeiter führen, sondern
wäre in vielen Bereichen wohl kontraproduktiv.
({10})
Es muss das Bewusstsein gestärkt werden - Sie haben
recht, Herr Kurth -, dass in den 8,7 Millionen Menschen
mit Behinderung - das sind mehr als 10 Prozent aller
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes - ein gewaltiges Potenzial schlummert. Wir brauchen diese Menschen: Wir brauchen sie im Hinblick auf den demografischen Wandel; wir brauchen sie im Hinblick auf den
Fachkräftemangel; wir brauchen sie aber auch als Menschen unter uns.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun Ulla Schmidt für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine
große Chance für unser Land. Denn in ihrer auf Inklusion ausgerichteten Konzeption ist sie ein Angebot an
alle, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen und unabhängig von ihrer sozialen, ethnischen
oder kulturellen Herkunft gleichberechtigt an Ausbildung, am Berufsleben, an der gesellschaftlichen Entwicklung und am politischen Leben teilhaben zu können.
Darin steckt die große Chance, mit der Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention einen neuen Gesellschaftsvertrag auf den Weg zu bringen und damit
auch neue Impulse für mehr Gleichheit und für mehr
Wahrung der sozialen Chancen des Einzelnen zu setzen.
({0})
Frau Ministerin, der Schlüssel zu dem, was getan
werden muss, findet sich in der Präambel der Behindertenrechtskonvention. Ich zitiere daraus, weil ich bei Ihrer
Rede nicht sicher war, ob Sie das so gelesen haben.
({1})
Darin heißt es - Zitat -,
dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind und dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss dieser
Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werden muss …
Ich betone das Wörtchen „garantiert“. „Garantiert“ heißt
nicht, dass Sie sich hier hinstellen und sagen: Jeder ist
gefordert;
({2})
Forderungen an die Regierung reichen nicht. Bringen
Sie doch einmal Ihre Vorschläge ein!
Ulla Schmidt ({3})
({4})
- Wir haben auch vieles gemacht, liebe Frau Michalk.
Garantie heißt: Das ist Ihre Verantwortung! In einer
Demokratie und einem Rechtsstaat ist die Exekutive dafür verantwortlich, dass die Einzelrechte umgesetzt und
die Rechtsansprüche der Menschen verwirklicht werden
können.
({5})
Deswegen wundert es mich nicht, dass der Aktionsplan
heute nicht zur Debatte steht. Wir brauchen nicht mehr
darüber zu reden, was wir denn noch alles prüfen sollten
oder tun könnten. Es geht vielmehr darum, in einem
nachvollziehbaren, transparenten Plan darzulegen: Was
sind die nächsten Schritte, die wir angehen? Wie sieht
unser Zeithorizont aus? Wie verbindlich setzen wir die
Rechte von Menschen mit Behinderungen in diesem
Lande endlich um? Um nichts anderes geht es.
({6})
Und deswegen: Wir haben in unserem Antrag eine
Reihe von ganz konkreten Vorstellungen dargelegt. Über
die können wir diskutieren; denn sie heben darauf ab,
dass die Behindertenrechtskonvention zwar auf die
Rechte von Behinderten fokussiert ist, aber in dem Zusammenhang noch mehr verwirklicht werden kann. Sie
bietet die Chance, dass wir nicht nur die Barrierefreiheit
umsetzen, wenn es um behinderte Menschen geht - das
müssen wir -; vielmehr bedeutet das auch Barrierefreiheit für Familien mit Kindern, Barrierefreiheit für die
Arbeitswelt und Barrierefreiheit für ältere Menschen.
Wir sollten jetzt damit anfangen; denn wir müssen in den
nächsten zehn Jahren die grundlegenden Voraussetzungen dafür schaffen, wie wir mit dem veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft umgehen wollen.
Deshalb geht es jetzt darum, wie verbindlich und wie
schnell wir die Dinge regeln können. Wir müssen uns
gemeinsam als Ziel setzen, durch diese Aktionen und
unser Handeln darauf hinzuwirken, dass auch in den
Köpfen der Menschen die Barrieren überwunden werden. Dazu gibt es eine ganze Menge, das man schnell
machen kann.
Ihre Kolleginnen und Kollegen weisen doch nichts
Konkretes - auch nicht in den Anträgen, die wir heute
diskutieren - zum Kulturbereich auf. Warum können
nicht alle Fördermittel, die von der öffentlichen Hand
gezahlt werden, nur dann zur Verfügung gestellt werden,
wenn Barrierefreiheit garantiert wird?
({7})
Warum gibt es Filmförderung nicht nur noch dann, wenn
untertitelt wird, oder nur dann, wenn Audiodeskription
möglich ist? All das sind die Dinge, die wir auf den Weg
bringen müssen.
Ich muss sagen: Es gibt Dinge, die kosten gar nichts.
({8})
Man glaubt es nicht, aber es gibt in unserem Land noch
Menschen, die eine Oper oder ein Theater nicht besuchen können, weil sie dorthin den Blindenhund nicht
mitnehmen dürfen. Das muss sofort verboten werden!
({9})
Denn uns zwingt auch niemand, unsere Augen an der
Tür abzugeben, aber wir zwingen die Blinden, ihren
Blindenhund abzugeben.
Ich möchte noch zwei Punkte nennen, die wichtig
sind und bei denen Sie auch eine Verantwortung haben:
Der erste betrifft den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff,
bei dem Sie in der letzten Legislaturperiode verhindert
haben, dass die Beschlüsse dazu weiter gefasst wurden.
({10})
Menschen mit Behinderung sagen mir: Es ist nicht
schlimm, blind zu sein; darauf kann man sich einstellen.
Schlimm ist es, blind zu sein, alt zu werden und dadurch
andere Behinderungen mit dazuzubekommen. Damit
kommen wir nicht mehr zurecht. - Da wäre der neue
Pflegebedürftigkeitsbegriff genau der richtige Ansatz zu
sagen, wie wir damit eigentlich umgehen wollen.
({11})
Das Zweite ist die Regelbedarfsstufe 3. Sie haben die
Mittel in diesem Bereich einfach um 20 Prozent gekürzt.
„Behindern ist heilbar!“, diesen Satz kann man auf schönen Plakaten überall sehen. Dass Sie aber einem Menschen, der dauerhaft erwerbsunfähig ist, der entweder
alt, behindert oder krank ist - sonst wäre er als junger
Mensch nicht dauerhaft erwerbsunfähig -, sagen: „Wenn
du aufgrund deiner mangelnden Fähigkeit, allein zu leben, in der Wohnung und im Haushalt deiner Eltern
lebst, dann wirst du behandelt wie ein Ehepartner!“, das
verstößt gegen die Würde von erwachsenen Menschen,
({12})
die auch dann, wenn sie in der Wohnung ihrer Eltern leben müssen, ein Recht darauf haben, dass sie ihre eigene
Identität haben und ihr eigenes Leben leben können. Sie
brauchen dann vielleicht einen eigenen Fernsehapparat
oder einen eigenen Kühlschrank. Von Ehepartnern kann
man vielleicht verlangen, dass sie Tisch und Bett teilen,
aber nicht von erwachsenen Menschen, die mit ihren Eltern im gleichen Haushalt leben.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wer diese Debatte von Anfang an mit
verfolgt hat - ich war wirklich von Beginn an mit
dabei -, der muss den Eindruck gewinnen, wir, die wir
Regierungsverantwortung haben, würden beim Thema
Inklusion bzw. UN-Behindertenrechtskonvention bei
null anfangen. Er muss außerdem den Eindruck bekommen
({0})
- Moment! -, als ob wir in der Regierung alles verhindern würden.
Liebe Frau Schmidt, hätten Sie doch in Ihrer Regierungszeit so laut geschrien und gehandelt,
({1})
wie Sie das gerade hier getan haben!
({2})
- Ich kann das deshalb erklären, weil ich schon den Eindruck gewonnen habe, dass sich aufseiten der Opposition einige zum ersten Mal überhaupt mit diesem Thema
beschäftigt und versucht haben,
({3})
alle Register zu ziehen, die es gibt - und das ist unfair.
({4})
Ich weiß, wovon ich rede; denn mein Zwillingsbruder
und ich haben mit dreieinhalb Jahren - jetzt werde ich
leiser - Kinderlähmung bekommen. Wir sind schwer erkrankt. Damals gab es keine Pflichtimpfung. Ich hatte
Glück. Man sieht mir diese Behinderung heute nicht
mehr an. Mein Bruder hingegen leidet bis heute. Für
mich war ab diesem Zeitpunkt, 1958, klar: Ich habe zu
helfen. Ich habe zu unterstützen, in der Schule, im Berufsleben, wo auch immer. Ich sehe dieses Thema seit
dieser Zeit grundsätzlich mit anderen Augen.
({5})
Meine Eltern - die anderen Kinder durften mit dem
Bus in die Schule fahren - haben uns jeden Tag ohne Unterstützung des Staates vom Dorf in die Schule - sie war
eine Ortschaft weiter - gefahren; das war ganz selbstverständlich. Wenn wir ehrlich sind: Heute ist in meinem
Landkreis, in euren Landkreisen, bayernweit, bundesweit
das Thema Inklusion doch von großer Bedeutung - jeden
Tag, jede Woche.
({6})
Ich selber stehe hier, um über den Antrag der SPDFraktion „Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB
unterstützen“ zu reden. Ich sage hier als Tourismuspolitikerin ganz klar: Unser Motto ist „Teilhabe für alle, barrierefreier Tourismus für alle“.
({7})
Dazu fordern wir ständig auf, und genau darauf zielt ja
auch Ihr Antrag ab. Als Tourismuspolitikerin sage ich
ebenfalls ganz deutlich: Wir unterstützen die Forderung,
im Rahmen der ITB, der Internationalen TourismusBörse, einen Tag des barrierefreien Tourismus einzurichten.
({8})
Aber wir fordern nicht, dass ein solcher Tag ab sofort
eine Dauereinrichtung wird, sondern wir erwarten, dass
das Ganze zunächst einmal bewertet wird.
({9})
Das hat eindeutige Hintergründe. Gleichzeitig gibt es
eine Aktion der NatKo, der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle. Diese Koordinierungsstelle
macht übrigens sehr gute Arbeit. Sie hat im Rahmen der
ITB ein Projekt gestartet und mittlerweile konzeptionell
fertiggestellt. Erst danach, also im Nachhinein, ist sie an
das BMWi herangetreten und hat gefragt, ob sie Geld dafür erhalten kann. Das ist zwar legitim, aber da hier
heute ständig so viel Offenheit und Transparenz eingefordert werden, würde ich mir schon wünschen, dass Akteure wie die NatKo die Regierung im Vorhinein einbinden, damit sie weiß, worüber sie zu entscheiden und was
sie im Falle des Falles zu finanzieren hätte.
({10})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kramme?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Frau Mortler. - Sie haben gesagt, Sie
hätten ein behindertes Familienmitglied. Ich denke, in
diesem Fall müssten Sie in besonderer Weise nachvollziehen können, welche Probleme dies mit sich bringt.
Ich bin in einer ähnlichen Situation: Auch ich habe bzw.
hatte drei schwerstbehinderte Familienmitglieder. Meine
Frage geht dahin: Was tun Sie konkret in Richtung des
barrierefreien Tourismus?
Ich mache es einmal an einem einfachen Beispiel fest:
Mein Vater ist Rollstuhlfahrer. Wir waren in einem Hotel
in der Pfalz, und dieses Hotel war als barrierefrei ausgewiesen. Wir kamen dorthin: ein wunderbares Hotelzimmer, tatsächlich barrierefrei. Wir gingen hinüber in den
eigentlichen Hotelkomplex und versuchten, zu Abend zu
essen. Dort gab es leider drei Stufen.
Was machen Sie in Sachen Siegel? Was machen Sie,
damit Menschen sich bei den vorhandenen Einrichtungen tatsächlich darauf verlassen können? Ich weiß, dass
Menschen mit Behinderung nur mit großer Angst und
Sorge verreisen. - Erste Frage.
Eine zweite Frage in diese Richtung: Was geben Sie
mit dem Aktionsplan tatsächlich an Geldern frei, um
Barrierefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland zu
erreichen? Ich kann nämlich Ihre Auffassung nicht teilen, dass die Situation in der Bundesrepublik Deutschland befriedigend ist. Sie wissen es selber: Ganz gleich,
wohin ich komme, ganz gleich, ob ich in eine Metzgerei
gehen will, ob ich einen Arzt aufsuche, ob ich in die
Kneipe will, ob ich ins Restaurant will - ich stoße auf
Barrieren. Ich denke, es geht um einen erheblichen
finanziellen Einsatz.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir diese beiden
Fragen beantworten könnten.
Der Tourismusausschuss ist ein Querschnittsausschuss, und ein Querschnittsausschuss bearbeitet viele
Themen bzw. hat viele Schnittstellen. Das heißt, unter
dem Strich ist nicht nur unser Ausschuss gefordert, nicht
nur die Bundesregierung ist gefordert, sondern alle sind
gefordert, so wie es die Ministerin gerade gesagt hat.
Die Frage lautete: Was tun Sie konkret? Erstens. Bewusstsein schaffen. Diesbezüglich ist jeder von uns gefordert. Zweitens hat das Bundeswirtschaftsministerium
Studien dazu gemacht und große Veranstaltungen durchgeführt, um das Bewusstsein zu vertiefen. Drittens ist
bereits im Oktober ein Projekt angelaufen, in dem es darum geht: Wir brauchen in Zukunft eine einheitliche
Kennzeichnung, damit der behinderte Mensch sofort erkennen kann, ob er an einen bestimmten Ort kommt oder
nicht. Das steht für mich an erster Stelle. Wir wollen in
diesem Projekt die Leistungsträger qualifizieren. Wir
wollen quasi Schulungsmaßnahmen durchführen. In diesem Projekt werden wir auch eine Internetplattform errichten, auf der der gehandicapte Mensch barrierefreie
Angebote bzw. Dienstleistungen gebündelt finden kann.
Das sind doch alles tolle Wege und Beispiele. Wir tun
immer so, als ob jetzt alles und auf einmal umgesetzt
werden müsste. Bei allem Respekt: Wenn wir ehrlich
sind, ist dies immer mit einem bestimmten Geldbetrag
verbunden. Auf der anderen Seite gibt es auch Unternehmer, Reiseveranstalter, die bewusst für sich dieses
Thema entdeckt und gesagt haben: Ich springe in diese
Lücke; die Anzahl der Menschen mit Behinderung wird
größer - Stichwort „demografischer Wandel“. Frau Ulla
Schmidt hat die Vielfalt von Behinderungen selber angesprochen: Familie mit Kindern, mit Kinderwagen,
vorübergehend Behinderte, dauerhaft Behinderte. Dies
alles sind Zielgruppen und Menschen, die entsprechende
Angebote brauchen.
Am 8. Februar werden wir - übrigens auf meine Anregung hin - einschlägige Experten zum Thema „Barrierefreier Tourismus“ öffentlich anhören.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Anette Kramme [SPD]: Das hat es schon gegeben!
- Sie sagen: „Das hat es schon gegeben.“ Das ist eine
tolle Antwort! Aber weil es das schon gegeben hat, sage
ich doch nicht: Das braucht es nicht mehr zu geben.
({0})
Es geht um einen permanenten Prozess.
({1})
Zum einen ist es ein Umsetzungsproblem; wir sind aber
nicht bereit, irgendwelche Gesetze zu stricken und damit
Zwang auszuüben. Vielmehr sagen wir: Auch die Privatwirtschaft, die Tourismusbranche, muss die Chance haben, die Dinge in die Hand zu nehmen.
({2})
Qualitätstourismus im Bereich Barrierefreiheit ist unser
Ziel, liebe Frau Kollegin Kramme.
({3})
- Wir sollten uns nicht ständig schlechter reden, als wir
sind, liebe Frau Kollegin Kramme.
({4})
Ich komme zum Schluss: Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzen im Deutschland-Tourismus auf das
Qualitätsmerkmal Barrierefreiheit. Denn uns ist vollkommen bewusst, dass dies die Grundvoraussetzung für
selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe und am
Ende auch ein Gewinn für alle ist. Meine Damen und
Herren, sorgen wir also alle dafür, dass Barrierefreiheit
nicht nur anlässlich des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung am Samstag oder im Rahmen der
Internationalen Tourismus-Börse in Berlin, sondern
ständig, nämlich jeden Tag, im Fokus der Öffentlichkeit
ist!
Ich glaube, ich habe deutlich gemacht: Aus persönlicher Erfahrung, aber auch aus Überzeugung muss und
werde ich meinen Beitrag weiterhin dazu leisten.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Mortler, wie sieht es tatsächlich mit Barrierefreiheit im Tourismus aus? Auch dazu verpflichtet uns
die UN-Behindertenrechtskonvention. Ich habe in meinem Wahlkreis mit behinderten Menschen gesprochen
und sie gefragt: Wie macht ihr Urlaub? Ich muss Ihnen
sagen: Es war erschreckend, was ich da erfahren habe.
Noch immer gibt es viel zu wenig Reiseangebote. Nur
ein winziger Bruchteil der Hotels und Gaststätten ist in
Deutschland, in unserem Reiseland Nummer eins, tatsächlich barrierefrei. Oft scheitert der Urlaub aber schon
an der Anreise. Gehörlose und blinde Menschen haben
immer noch große Schwierigkeiten, sich auf unseren
Bahnhöfen zurechtzufinden. Herr Lehrieder, kostenfreie
Beförderung nützt gar nichts, wenn die Menschen überhaupt nicht in die Züge hineinkommen.
({0})
Für Rollstuhlfahrer sind Busse, Züge und vor allem
Flugzeuge in der Regel entweder gar nicht oder nur mit
ganz großen Schwierigkeiten zu nutzen. Das müssen wir
ändern; denn das ist beschämend.
({1})
8 Millionen Menschen sind betroffen. Das entspricht
der Einwohnerzahl von New York oder der achtfachen
Einwohnerzahl von Köln. Diese Menschen haben ein
Recht, zu reisen und Urlaub zu machen, wie alle anderen
Menschen auch.
({2})
Die Tourismuswirtschaft scheint dieses Potenzial überhaupt noch nicht für sich entdeckt zu haben. Wie sonst
lassen sich die bestehenden Mängel erklären? 5 Milliarden Euro zusätzlicher Umsatz wären möglich. 90 000
Vollzeitarbeitsplätze - das entspricht fast der Einwohnerzahl einer Großstadt - könnten geschaffen werden.
Für uns alle wären weniger Hindernisse hilfreich.
Was tut die Bundesregierung für barrierefreien Tourismus? Ich habe in Ihren Nationalen Aktionsplan geschaut und gelesen, dass erst einmal die Länder, Städte
und Gemeinden zuständig sind. Einfacher geht es wohl
nicht.
({3})
Die Regierung schiebt den Schwarzen Peter den Ländern, Städten und Gemeinden zu. Die sollen etwas tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und
der FDP, liebe Bundesregierung, ich fordere Barrierefreiheit in Ihren Köpfen. Es gibt doch auch auf Bundesebene nun wirklich genug Baustellen, an die wir heranmüssen.
({4})
Unsere Vorschläge für barrierefreies Reisen liegen
seit langem auf dem Tisch. Wir wollen erstens einen umfassenden Masterplan, zweitens Barrierefreiheit im
Schienenfernverkehr inklusive Umbau aller Bahnhöfe,
drittens ein Programm für barrierefreie Gaststätten und
Hotels, viertens ein bundesweites, qualitätsgeprüftes Gütesiegel „Barrierefreier Tourismus für alle“.
({5})
Wir müssen alle Zuständigen an einen Tisch holen
und für Barrierefreiheit begeistern. Ein tolles Signal
wäre hier ein „Tag des barrierefreien Tourismus“ auf der
Internationalen Tourismus-Börse, der ITB. Frau Mortler
hat dies angesprochen.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke? Das würde Ihre Redezeit verlängern,
die gerade zu Ende gegangen ist. - Bitte schön.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich habe erstens vernommen, dass nach Ihrer Meinung der Bund hier mehr tun
sollte. Zweitens habe ich Ihre Punkte vernommen.
Ich bin ja nur ein schlicht gestrickter Haushälter, der
dann nach Zahlen fragt. Deshalb würde ich erstens gerne
wissen: Wie viele Millionen oder Milliarden Euro fehlen
Ihrer Meinung nach, die der Bund mehr einsetzen
müsste? Zweitens würde ich gerne wissen: Welche Anträge dieser Art haben Sie im Haushaltsverfahren gestellt?
({0})
Lieber Herr Kollege, wir müssen gemeinsam festlegen, welche Schritte getan werden sollen. Das ist
schon mehrfach gesagt worden.
({0})
Es gibt einen Aktionsplan, das ist richtig. Dieser Plan
setzt aber keine Prioritäten, was zuerst abgearbeitet werden soll. Das vermisse ich seitens der Bundesregierung.
({1})
Diese Schritte müssen natürlich im Haushalt verortet
werden. Das ist zunächst einmal Ihre Zuständigkeit. Wir
haben unsere Forderungen auf den Tisch gelegt. Sie aber
sind an der Regierung; Sie müssen handeln.
({2})
Sie müssen die Prioritäten aufzeigen, wie Sie den
Aktionsplan, den Sie auf den Weg gebracht haben, abarbeiten wollen. Das vermisse ich. Das passiert bei Ihnen
leider nicht.
({3})
Frau Kollegin, es gibt noch einen Wunsch nach einer
Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Scheuer.
Das ist ja enorm, was hier alles gefragt wird.
({0})
Frau Kollegin, wollen Sie bitte akzeptieren und es
näher ausführen, dass die Bundesregierung seit Jahren
für den barrierefreien Ausbau der Bahnhöfe einen dreistelligen Millionenbetrag zur Verfügung stellt und dabei
zusammen mit den Behindertenverbänden aussucht,
welche Bahnhöfe realisiert werden?
({0})
Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass gerade
diese christlich-liberale Koalition dem Einzelplan 12 des
Bundesverkehrsministeriums zusätzlich für die Bundesschienenwege noch einmal 100 Millionen Euro bereitgestellt hat, um die Bahnhöfe sauberer, sicherer und schöner zu gestalten, aber vor allem auch, um das Thema der
Barrierefreiheit in dieses Programm zu stellen?
({1})
Welche Aktivitäten und Unterstützungen haben wir
dafür in den letzten Wochen von Ihrer Fraktion bekommen?
({2})
Herr Kollege, es ist richtig, dass es das Programm zur
Umgestaltung der Bahnhöfe für mehr Barrierefreiheit
gibt. Das gilt aber nur für die großen Bahnhöfe. Die kleineren sind davon gar nicht erfasst.
({0})
Auch in meinem Wahlkreis wurde der Bahnhof entsprechend umgebaut. Ich musste aber leider feststellen,
dass die Standards, die von der Bahn gesetzt werden,
nicht dem entsprechen, was Menschen mit Behinderungen brauchen.
({1})
So sind zum Beispiel die Fahrkartenautomaten für Rollstuhlfahrer überhaupt nicht benutzbar. Es gibt aber
angeblich keine Fahrkartenautomaten anderer Art, die
für Rollstuhlfahrer unterfahrbar wären. Das ist eine
Schwachstelle. Da muss nachgearbeitet werden.
({2})
Ich gebe Ihnen insofern recht, als dass es das Programm gibt. Das Programm allein reicht aber noch nicht
aus. Es muss mehr getan werden, damit die Menschen
reisen können, damit sie die Bahnhöfe benutzen können.
Da gibt es einfach noch zu viele Schwachstellen. Da
müssen wir weiterarbeiten, und da haben Sie auch unsere Unterstützung.
({3})
Ich komme zurück zum „Tag des barrierefreien Tourismus“ auf der ITB.
Aber vor allem müssen Sie zum Schluss kommen,
liebe Kollegin.
Ja, ich komme zum Schluss. - Es wäre toll, wenn wir
für dieses Projekt Ihre Unterstützung hätten. Ich fordere
Herrn Minister Rösler, der leider nicht da ist, und Frau
Ministerin von der Leyen auf: Unterstützen Sie dieses
tolle Leuchtturmprojekt! Das wäre eine echte Aktion für
Ihren bisher recht schlappen Nationalen Aktionsplan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Aber Frau Kollegin!
- es gibt eine ganz einfache Erfolgsformel: Barrierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerung unentbehrlich, für 40 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komfortabel. Wir wollen 100 Prozent.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7942, 17/6586, 17/7872, 17/7889,
17/7951 und 17/7827 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 a bis g sowie
den Zusatzpunkt 2 a bis d auf:
39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
geodätischen Referenzsysteme, -netze und geotopographischen Referenzdaten des Bundes
({0})
- Drucksache 17/7375 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches
- Drucksache 17/7744 17360
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 17. Mai 2011 zur Änderung des
Abkommens vom 3. Mai 2006 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/7917 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Herbert Behrens, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Ergebnisse öffentlicher Forschung für alle
zugänglich machen - Open Access in der Wissenschaft unterstützen
- Drucksache 17/7864 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
e) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Neue Impulse für die Sportbootschifffahrt
- Drucksache 17/7937 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Förderung eines offenen Umgangs mit Homosexualität im Sport
- Drucksache 17/7955 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus Teersanden bei der Umsetzung der
Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigen
- Drucksache 17/7956 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, Stephan
Kühn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bedarfsfestlegung des
Baus oder Ausbaus von Bundesfernstraßen
- Drucksache 17/7885 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra
Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Schaffung einer aufenthaltsrechtlichen Bleiberechtsregelung
- Drucksache 17/7933 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Klassische Schweinepest zeitgemäß bekämp-
fen - Impfen statt Töten
- Drucksache 17/7958 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Klaus Barthel, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abitur sichern
- Drucksache 17/7957 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 40 a, 40 c bis
k, dem Zusatzpunkt 3 sowie dem Tagesordnungspunkt 17 a bis d. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 40 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuregelung
energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/7632 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({10})
- Drucksache 17/7984 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/7984, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/7632 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Grünen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der SPD angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7989. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Linken
und Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 40 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({11})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/11
- Drucksache 17/7986 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Frank
Schorkopf als Prozessbevollmächtigten zu bestellen.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 346 zu Petitionen
- Drucksache 17/7876 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 346 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 347 zu Petitionen
- Drucksache 17/7877 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 347 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 348 zu Petitionen
- Drucksache 17/7878 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 348 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 349 zu Petitionen
- Drucksache 17/7879 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 349 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 350 zu Petitionen
- Drucksache 17/7880 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 350 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 40 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 351 zu Petitionen
- Drucksache 17/7881 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 351 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen
von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 352 zu Petitionen
- Drucksache 17/7882 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 352 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen
von SPD und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 353 zu Petitionen
- Drucksache 17/7883 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 353 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({20})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz
und zur Änderung der Richtlinie 2004/35/EG
({21})
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Bodenschutz europaweit stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothea
Steiner, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EUBodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen
- Drucksachen 17/7024, 17/3855, 17/7503 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Ute Vogt
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7024 zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie
des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz und
zur Änderung der Richtlinie 2004/35/EG mit dem Titel
„Bodenschutz europaweit stärken“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3855 mit
dem Titel „Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EUBodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann E. Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz Durban: 10 Punkte für ein
besseres Klima
- Drucksache 17/7828 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 17 b:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung ({22}), Marie-Luise Dött, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die UN-Klimakonferenz in Durban - Vertrauen schaffen, konkrete Ergebnisse erzielen
- Drucksache 17/7936 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 c:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Klimakonferenz in Durban zum Erfolg
führen - Kyoto-Protokoll verlängern, Klimaschutz finanzieren und Cancún-Beschlüsse
umsetzen
- Drucksache 17/7938 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 17 d:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Sabine
Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Nur konsequenter Klimaschutz führt aus der
Sackgasse der UN-Klimaverhandlungen
- Drucksache 17/7939 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der
„Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“
- Drucksache 17/7935 Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Es liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller Fraktionen auf Drucksache 17/7935 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig
angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun rufe ich den
Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weltklimakonferenz in Durban - Klimapolitik
am Scheideweg
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion das Wort.
({23})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Es ist
wirklich absurd: Die Situation des Klimawandels wird
weltweit immer dramatischer. Die Prognosen zu den
Auswirkungen des Klimawandels in Zukunft werden immer dramatischer. Die Treibhausgasemissionen steigen
dramatisch. Dramatisch ist aber vor allem auch die Lücke zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir
tun, auf der ganzen Welt und hier im Deutschen Bundestag. Es ist absurd, dass sich kurzfristige Lobbyinteressen
gegenüber dem durchsetzen, was eigentlich notwendig
ist. Es ist absurd, dass uns ständig erzählt wird, was alles
nicht geht, statt darüber zu reden, was geht.
Ich stelle fest: Wir befinden uns in einer Legitimationskrise des UN-Prozesses. Es sind nicht nur Politiker
und Wirtschaftsvertreter, sondern es ist die gesamte
Menschheit gefragt. Auch die Menschen draußen an den
Fernsehern können und sollen sich für mehr Klimaschutz einsetzen. Wenn hier in Berlin Demonstrationen
zum Klimaschutz möglich wären wie zum Atomausstieg, dann würde sich, da bin ich mir sicher, in Deutschland und auch bei dieser Bundesregierung viel mehr bewegen.
({0})
Wir befinden uns in einer Glaubwürdigkeitskrise des
gesamten Prozesses, am Ende aber auch in einer Glaubwürdigkeitskrise einer demokratisch legitimierten Politik, die sich dieser Herausforderung nicht ausreichend
stellen kann. Ich habe keine Lust mehr, hier im Deutschen Bundestag darüber zu diskutieren, was China, die
USA, Indien oder wer sonst alles nicht tun.
({1})
Wir sind hier im Deutschen Bundestag. Herr Umweltminister, Sie können sich sicher sein - das können wir
zusagen -, dass wir in Durban gemeinsam für eine deutsche Position streiten werden. Das wird uns auch gelingen, aber hier im Deutschen Bundestag müssen wir über
das diskutieren, was Europa und Deutschland in dieser
Krise tun bzw. was sie eben nicht tun.
({2})
Herr Umweltminister, ich kann mir schon denken,
was jetzt gleich kommt. Es wird eine schöne Rede kommen mit Textbausteinen, die ich bald alle auswendig
kenne.
({3})
Das ist alles talkshowtauglich, aber es ist eben nicht regierungstauglich. Sie müssen schon sagen, was die Bundesregierung tut bzw. tun will und wo Deutschland steht.
({4})
Das bereitet mir Sorge. Die taz hatte in der letzten Woche die Überschrift „Rösler auf Chinakurs“. Die Financial Times Deutschland hatte die Überschrift „Minister
für Ineffizienz“. Damit ist Herr Rösler gemeint, aber
auch Sie, Herr Röttgen, sind damit gemeint; denn das betrifft das Thema Energieeffizienz. Wir lesen über „Solardeckel“ und anderes. Sie sind nicht in der Lage, das Klimaschutzziel der Europäischen Union zu verschärfen.
Sie sind ausdrücklich auch persönlich dazu nicht in der
Lage.
Deutschland war einmal Vorreiter, da sind wir uns alle
einig. Ich glaube, dass Deutschland in den letzten Monaten und Jahren eher Nachreiter geworden ist. Mittlerweile sind wir zum Bremser innerhalb der Europäischen
Union verkommen.
({5})
Sie sprechen von einer Vorreiterrolle, die uns auf internationalen Konferenzen zugestanden wird. Das ist aber
eher ein Nachhallen einer Politik von früher, eine gute
Nachrede, die Sie noch ereilt, aber mit der heutigen
Rolle Deutschlands in der Europäischen Union hat das
nichts mehr zu tun.
({6})
Ich weiß nicht, ob man das darf, aber ich habe eine
Grafik mitgebracht, die ich Ihnen gerne zeigen würde.
Das ist eine Grafik, die die Entwicklung des Emissionshandelspreises seit einem Jahr darstellt. Wissen Sie,
was das bedeutet? Die Deutsche Bank hat das vor zwei
Tagen deutlich gemacht. Es bedeutet, dass die Deutsche
Bank erwartet, dass wir im zweiten Halbjahr 2012 einen
Emissionshandelspreis von 5 bis 7 Euro sehen werden.
Wenn die europäische Politik nicht verändert wird, werden wir ab dem Jahr 2013 einen Preis von unter 10 Euro
sehen. Das ist das Gegenteil von dem, was vor allen Dingen Politiker von der Koalition im Rahmen der Atomausstiegsdebatte in Deutschland behauptet haben. Es
wurde damals beschrien, der Preis steige von 15 Euro
auf 16,50 Euro, die Industrie müsse Deutschland verlassen. Jetzt liegt der Preis bei 8 Euro, und von Herrn
Fuchs, Herrn Pfeiffer und Herrn Bareiß höre ich zu dieser dramatischen Entwicklung der letzten Wochen und
Monate überhaupt nichts mehr.
Ich frage mich wirklich, wie Sie da noch von einer
Vorreiterrolle sprechen können. Alle wissen, dass wir in
der Europäischen Union die Treibhausgasemissionen um
30 Prozent senken müssen. Wenn wir das nicht erreichen, dann gibt es für die nächsten sieben, acht Jahre
keinen Anreiz für eine Klimaschutzpolitik in der Europäischen Union. Wir haben kein Geld mehr für Klimaschutzmaßnahmen. Ihren Energie- und Klimafonds können Sie vergessen. Am Ende wird kein Geld drin sein.
Wir können für uns erst recht keine internationale Antreiberrolle mehr reklamieren.
Vorreiterrolle bedeutet doch, vorne zu stehen im
Kampf für die Senkung der Emissionen in der Europäischen Union um 30 Prozent. Wenn es Länder gibt, die
weiter sind - wie Großbritannien, Dänemark und andere,
wo gerade die Diskussion geführt wird - und Deutschland eben nicht vorne ist, dann heißt das für mich: Sie
können die Vorreiterrolle für sich und Ihre Politik nicht
mehr reklamieren und damit leider auch nicht für die
Bundesrepublik Deutschland.
Herr Röttgen, Sie haben in Durban zweifellos die Unterstützung der Opposition. Wir werden dort gemeinsam
auftreten. Sie hätten die Unterstützung der Opposition
auch für eine gute und konsistente Klimaschutzpolitik in
Deutschland. Das würde aber bedeuten, dass Sie das
Wort Vorreiterrolle nicht nur in den Mund nehmen, sondern es auch mit realer Politik füllen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist mir ein Anliegen, in dieser Aktuellen
Stunde unsere Gemeinsamkeiten in der Klimapolitik zu
betonen. Zunächst will ich aber ein Wort zu den Ausführungen des Kollegen Frank Schwabe sagen: Selbstverständlich ist die Bundesrepublik Deutschland Vorreiter,
und selbstverständlich wird die Bundesrepublik Deutschland international weiterhin als Vorreiter wahrgenommen.
({0})
In Durban wird es um das Verhandeln gehen. Wir zeigen
hier durch Handeln, dass wir dieser Vorreiterrolle gerecht werden. Es gibt kein anderes Land, das ein so ambitioniertes Ziel wie unser 40-Prozent-Reduktionsziel ({1})
das gilt für Deutschland unbedingt - beschlossen hat.
({2})
- Das ist mit Programmen hinterlegt. - Wir zeigen mit
der Energiewende, mit dem Ausbau der erneuerbaren
Energien zum Beispiel und mit unseren Anstrengungen
im Bereich der nachhaltigen Mobilität, dass wir das umsetzen. Wir zeigen damit, dass wir Vorreiter sind, und
wir laden andere zum Mitmachen ein.
Andreas Jung ({3})
({4})
Wahr ist, dass wir eine Diskussion in Europa führen.
Ich will auf einen Satz in dem Antrag, den die Koalitionsfraktionen in diesem Zusammenhang eingebracht
haben, der gerade beschlossen wurde, hinweisen. Es
wird auf unser unkonditioniertes 40-Prozent-Ziel verwiesen, zu dem sich die Bundeskanzlerin in ihrer Haushaltsrede übrigens glasklar bekannt hat. Sie hat gesagt:
Das wird eingehalten; daran halten wir fest. - In unserem Antrag heißt es:
Es ist anzustreben, dass die EU und die anderen
Mitgliedstaaten sich zu vergleichbar ambitionierten Reduktionszielen wie Deutschland verpflichten.
Ich verstehe das ganz persönlich als Auftrag, weiterhin
für das 30-Prozent-Ziel in Europa zu werben.
({5})
Wahr ist auch - auch das hat Kollege Frank Schwabe
gesagt -, dass der internationale Klimaprozess in einer
schwierigen Situation ist. Wir haben gemeinsam ein klares Ziel: Wir wollen ein verbindliches, umfassendes Abkommen, wie das 2-Grad-Celsius-Ziel erreicht werden
kann. Wir wissen schon heute: Auch in Durban wird es
leider nicht zu einem Durchbruch auf diesem Weg kommen. Deshalb gibt es die eine oder andere Stimme, deshalb gibt es hier und da Gegrummel, nach dem Motto:
Dann könnt ihr es auch bleiben lassen. Warum fahrt ihr
da überhaupt hin?
Ich finde, als Deutscher Bundestag müssen wir dem
ein entschiedenes Nein entgegenstellen. Natürlich geht
das zu langsam. Natürlich sind die Schritte zu klein, und
natürlich gibt es Rückschläge. Aber die Frage ist doch:
Was wäre die Alternative? Es gäbe nur eine Alternative:
aufgeben. Aufgeben dürfen wir aber nicht. Deshalb muss
dieser Weg unter dem Dach der Vereinten Nationen weitergeführt werden. Die Verhandlungen müssen weitergehen. Wir werden uns engagiert einsetzen und einbringen.
({6})
Gerade jetzt ist es notwendig, dass diese Konferenz
stattfindet, weil sich jetzt, vor dem Jahr 2012, die Frage
stellt, was passieren würde, wenn im Jahr 2012 das KiotoProtokoll ohne Anschlussregelung auslaufen würde. Gäbe
es dann überhaupt keinen internationalen Klimaschutz
mehr? Würden wir dann vor einem Scherbenhaufen stehen? Deshalb ist es jetzt notwendig, Folgendes deutlich zu
machen:
Erstens. Es muss bei den flexiblen Mechanismen des
Kioto-Protokolls bleiben, weil sie einen Weg für einen
effizienten Klimaschutz auf marktwirtschaftlicher Basis
darstellen, weil sie den Entwicklungsländern nutzen und
uns global voranbringen.
Zweitens. Wir sind bereit, auch weiterhin Verantwortung zu übernehmen und uns verbindlich zu Minderungszielen zu bekennen. Wir werben dafür bei den
bisherigen Partnern des Kioto-Protokolls, bei den bisherigen Partnern für internationalen Klimaschutz.
In Durban wollen wir aber auch sagen: Wir brauchen
einen umfassenderen Ansatz. Wir müssen das, was in
Cancún mit der Vereinbarung des 2-Grad-Celsius-Ziels
begonnen wurde, unter der Klimarahmenkonvention
fortführen. Wir wollen, dass es einen konkreten Fahrplan
mit konkreten Zielen, konkreten Maßnahmen und Minderungsverpflichtungen unter dem Dach der Klimarahmenkonvention gibt. Das bedarf der Einbeziehung aller,
auch der USA und Chinas. Wir dürfen sie und die großen
Schwellenländer nicht aus der Verantwortung herauslassen.
({7})
Die Konferenz ist auch abgesehen von den Verhandlungen über die Minderungsziele notwendig, weil es darum geht, die Maßnahmen, die in Cancún beschlossen
und auf den Weg gebracht wurden, zu operationalisieren
und umzusetzen. Es geht um Maßnahmen im Bereich
Waldschutz, um Anpassungsmaßnahmen und um Maßnahmen im Bereich der Technologiekooperation, weil
durch all das Klimaschutz sichtbar wird, weil wir mit
konkreten Projekten und konkreten Maßnahmen in den
Bereichen Klimaschutz und Klimaanpassung vorankommen und weil dadurch auch die Glaubwürdigkeit gestärkt wird.
Es wird auch darum gehen - Stichwort: Glaubwürdigkeit -, die Finanzierung sicherzustellen, und zwar die
kurzfristige, aber auch die langfristige Finanzierung.
Deshalb muss darüber geredet werden, wie die Zusage
der Industriestaaten, 100 Milliarden US-Dollar bis 2020
bereitzustellen, mit öffentlichen Mitteln, aber eben auch
unter Einbeziehung privater Mittel umgesetzt werden
kann.
({8})
Dabei muss es auch wieder um die Frage der Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel gehen.
Wir brauchen hier globale Fortschritte und keine europäischen Rückschritte.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Jung. - Nächster Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kollege
Dr. Hermann Ott. Bitte schön, Kollege Dr. Ott.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
schön, dass wir diese Debatte hier noch bei Tageslicht
führen können; doch es ist schon etwas irritierend, dass
wir sie nicht auf Antrag der Koalition führen. Tatsache
ist: Wenn es die Opposition nicht gäbe, dann würde über
die zukunftsentscheidende Klimakonferenz in Durban in
diesem Hause gar nicht diskutiert und dann könnten Sie
Ihren Antrag dazu nicht zur Sprache bringen. Meine Damen und Herren von der Union und von der FDP, es ist
erschreckend und beschämend, wie wenig ernsthaft Sie
mit einem so wichtigen Thema umgehen.
({0})
Leider ist das nicht das einzige Indiz dafür, welch geringen Stellenwert die internationale Klimapolitik bei Ihnen hat. Die deutsche Klimadiplomatie, früher das Paradepferd unserer Umweltaußenpolitik, steht, bildlich
gesehen, kurz vor dem Abdecker. Sie haben keine neuen
Ideen, wie mit dem Desaster von Kopenhagen umgegangen werden soll, keine strategischen Ansätze, um die
festgefahrenen Verhandlungen wieder flottzumachen.
Herr Röttgen, es tut mir leid, aber Sie sind mithilfe Ihrer
tüchtigen Beamten im BMU nicht mehr als eine Art Verweser der Politik Ihrer Vorgänger Trittin und Gabriel;
dies gilt auch für Frau Merkel.
({1})
Viel zu sehr schauen Sie und die EU noch immer auf
die Blockierer im Verhandlungsprozess, vor allem auf
die USA. Nach mittlerweile 16 Vertragsstaatenkonferenzen und nach 100 vorbereitenden Konferenzen muss
man doch realisieren, dass von den USA auch bei der
kommenden 17. Klimakonferenz in Durban nichts anderes als in der Vergangenheit zu erwarten ist. Ja, mittlerweile geht es gar nicht mehr darum, ob sich die USA
konstruktiv beteiligen oder nicht. Man muss ja schon
hoffen, dass sie eine Einigung nicht torpedieren. Dass
der amerikanische Kongress es den Fluglinien in den
USA verboten hat, am Emissionshandel der EU teilzunehmen, ist ein direkter Hieb gegen die Klimapolitik und
übrigens auch ein Affront sondergleichen gegen die Europäische Union.
({2})
Weil das so ist, fordern wir einen Strategiewechsel.
Diese neue Strategie nennen wir KLUG: Klimapolitik der
unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Diese Strategie erkennt die Realität an, nämlich dass die beste Lösung, also
ein Abkommen mit allen großen Verschmutzern, nicht
möglich ist. Die Strategie folgt der Erkenntnis, dass es
wichtig sein kann, letztlich alle ins Boot zu holen, aber
dass nicht unbedingt alle zur gleichen Zeit in das Boot
einsteigen müssen. Es ist politisch und völkerrechtlich
möglich, auf Grundlage der Klimarahmenkonvention oder
des Kioto-Protokolls einen Folgevertrag auszuhandeln,
der nicht von allen Staaten gebilligt werden muss.
Ein schönes Beispiel dafür ist die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen. Sie wurde von den USA bis
heute nicht ratifiziert, aber sie halten sich an die Regeln.
Genau die Industrien, die sich zu Anfang vehement gegen dieses Seerechtsübereinkommen gestellt haben, fordern heute dessen Ratifizierung, weil es in ihrem Interesse ist, weil es Rechtssicherheit verspricht.
({3})
Was einst als Belastung empfunden wurde, ist heute ein
Gewinn. So wird es auch bei der Klimapolitik sein.
In Durban müssen Deutschland und die EU einen ambitionierten Fahrplan für den Kioto-Folgevertrag auf den
Weg bringen. Wenn sich die USA sträuben, muss ihnen
freundlich, aber unmissverständlich klargemacht werden, dass sie die anderen nicht am Klimaschutz hindern
dürfen. Dann muss eine Allianz ohne die USA gebildet
werden.
Wir haben diese Woche einen Zehn-Punkte-Plan in
den Bundestag eingebracht. Diese zehn Punkte kann
man jetzt angehen; man muss dafür nicht auf ein neues
Abkommen warten. Dadurch kann das Klima natürlich
nicht gerettet werden, aber es können wichtige Fortschritte beim Klimaschutz erzielt werden. Zu diesen
zehn Punkten gehören folgende Forderungen: ein nationales Klimaschutzgesetz, der Abbau klimaschädlicher
Subventionen, ein Programm für den Aufbau erneuerbarer Energien in den Entwicklungsländern und konkret
die Umsetzung von Projekten wie SARI in Südafrika
und Yasuní-ITT in Ecuador, Projekte, die den weltweiten
Klimaschutz mit bahnbrechenden Ideen voranbringen.
({4})
Herr Röttgen, meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe eben, vielleicht aus Gründen der Rhetorik, etwas übertrieben. Das Paradepferd der deutschen
Klimaaußenpolitik lahmt zwar, aber etwas gute Pflege
kann es schnell wieder auf die Beine bringen. Dazu
brauchen Sie nichts als guten Willen und natürlich den
Mut, die Einflüsterungen der Lobbyisten von der Unmöglichkeit eines Strategiewechsels als das zu nehmen,
was sie sind: der hinterhältige Versuch, das fossile System zu retten und die Lebensinteressen von jetzt 7 Milliarden Menschen zu opfern. Lassen Sie, lassen wir das
nicht zu!
({5})
Denn in der Klimapolitik, meine Damen und Herren,
ist es doch wie in der Politik allgemein: Man muss das
tun, was richtig ist, nicht das, was die anderen einen tun
lassen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ott. - Jetzt für die Fraktion
der FDP unser Kollege Michael Kauch. Bitte schön,
Kollege Michael Kauch.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Klimaschutz hat auch in der Finanzkrise nicht an Bedeutung
verloren. Er ist weiterhin eines der zentralen Zukunftsfelder der deutschen Politik. Ich muss sagen, dass ich
großes Vertrauen in die Politik von Bundesumweltminister Röttgen und Bundesentwicklungshilfeminister
Niebel habe,
({0})
die entscheidend dazu beitragen, dass Deutschland auf
der internationalen Bühne weiterhin eine Vorreiterrolle
zugeschrieben wird.
({1})
Dieses Oppositionsgenöle, Deutschland und die EU
seien ja nicht mehr Vorreiter, seit Sigmar Gabriel nicht
mehr Umweltminister ist,
({2})
diese Platte kann man als Opposition immer auflegen.
Das würde ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch tun.
Aber dann erklären Sie mir doch einmal: Wer in der
G 20 ist denn mehr Vorreiter als die Europäische Union,
({3})
mehr Vorreiter als Deutschland und Großbritannien?
Etwa China, etwa Saudi-Arabien oder etwa die USA?
Sie werden in der G 20 keine Länder finden, die beim
Klimaschutz stärker als die Europäische Union vorangehen.
({4})
Deshalb sollten Sie den Leuten hier nichts vormachen.
Wir sind Vorreiter im Klimaschutz in der G 20.
({5})
Meine Damen und Herren, einfach immer nur mehr
Ziele zu fordern, ist ja leicht.
({6})
Da Sie Großbritannien angesprochen haben: Ich schätze
Großbritanniens Engagement sehr. Großbritannien ist
für die internationale Verhandlungslinie der Europäischen Union von herausragender Bedeutung. Aber ich
muss auch deutlich sagen: Großbritannien ist ein Land,
das sich in den letzten Jahrzehnten deindustrialisiert hat.
({7})
Das Geld wird bei den Banken und im Dienstleistungssektor verdient.
Wir in Deutschland sind sehr froh, dass wir unseren
industriellen Kern erhalten haben; denn das hat dazu geführt, dass wir glimpflich durch die Finanzkrise gekommen sind.
({8})
Dieses Wachstum von morgen dürfen wir nicht aufgeben. Wir als Liberale, als christlich-liberale Koalition
wollen die industriellen Kerne Deutschlands erhalten.
({9})
Das gilt sowohl für neue als auch für alte Technologien.
Denn wir müssen Wertschöpfungsketten insgesamt im
Land erhalten und dürfen sie nicht über die Grenze, zum
Beispiel nach China oder in die Ukraine, treiben, wo
dann mit möglicherweise noch mehr Emissionen die
gleichen Produkte hergestellt werden, aber dann eben
ohne Arbeitsplätze in Deutschland.
Deshalb finde ich es sehr legitim, dass der Bundeswirtschaftsminister, der für die Wirtschaft in Deutschland zuständig ist, ein waches Auge darauf hat, ob Industriearbeitsplätze in Deutschland überfordert werden oder
nicht. Wir stehen für eine Balance, dafür, dass der industrielle Kern Deutschlands nicht beschädigt wird und wir
zugleich Klimaschutzvorreiter in der Welt bleiben.
({10})
Meine Damen und Herren, Cancún war ein Teilerfolg.
Wir haben es geschafft, dass das 2-Grad-Ziel international anerkannt worden ist. Wir haben für die Entwicklungsländer Finanzierungsentscheidungen getroffen. Wir
haben die Schwellenländer dazu gebracht, dass sie eigene Minderungsbeiträge zugesagt haben.
Die Aufgabe, die wir jetzt in Durban haben, ist, deutlich zu machen, dass die Minderungsbeiträge noch nicht
ausreichend sind, um das vereinbarte 2-Grad-CelsiusZiel tatsächlich zu erreichen. Das werden wir im Wesentlichen dadurch erreichen, dass wir in der Klimadiplomatie darauf setzen, dass die Staaten, die kooperativ sind, weiterhin das Kioto-Protokoll einhalten. Wir als
christlich-liberale Koalition wollen eine Verlängerung
des Kioto-Protokolls, auch wenn wir noch kein globales
Abkommen hinbekommen. Wir wollen mit den Schwellenländern, die kooperativ sind, vorangehen. Deshalb ist
es richtig, dass wir uns als Europäische Union und als
deutsche Regierung auch auf die Frage konzentrieren:
Wie ist in der Klimadiplomatie unser Verhältnis zu
China, Brasilien und Mexiko?
In einem Punkt gebe ich Herrn Ott recht: Wir können
und dürfen nicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika warten. Wenn die USA nicht mitmachen, dann muss
die EU mit anderen Teilen der Welt vorangehen, und
dann müssen sich die USA fragen, ob sie sich nicht zunehmend isolieren, auch in der Außenpolitik und in anderen Feldern der Politik.
({11})
Meine Damen und Herren, wir müssen praktisch vorangehen. Mit seinem Energiekonzept ist Deutschland
im Hinblick auf erneuerbare Energien so ambitioniert
wie kein anderes Industrieland auf der Welt. Wir investieren über die Etats des Umwelt- und des Entwicklungshilfeministeriums mehr als 1 Milliarde Euro im Jahr in
den Waldschutz und in Klimaanpassungsmaßnahmen.
Wir werden die Energiekooperation mit den Entwicklungsländern vorantreiben.
Das wäre doch ein schöner Schlusssatz.
Dirk Niebel beispielsweise hat gerade erst eine Vereinbarung über den Bau einer Solarfabrik in Marokko
unterzeichnet. Das ist der Weg, auf dem wir praktisch in
das neue Energiezeitalter gehen werden.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Kollege Michael Kauch. - Jetzt für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Eva BullingSchröter. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Durban wird es kein umfassendes internationales Klimaschutzabkommen geben, bestenfalls Verhandlungsmandate auf dem Weg dorthin. Ich halte das angesichts des
drohenden Klimakollapses für erbärmlich - für richtig
erbärmlich - und sehr traurig.
Wir wissen ebenfalls: Die angestrebte Minimallösung, nämlich die Verlängerung des Kioto-Protokolls bis
2015, wird eine leere Hülle sein: ohne neue Minderungspflichten und ohne Einbindung der USA und Chinas.
Das ist nicht mehr als ein Platzhalter, eine Brücke hin zu
einem umfassenden Abkommen, damit nicht auch die
wenigen Mechanismen für die Industrieländer entsorgt
werden. Die Bilanz ist ernüchternd. Ich kann die Wut
verstehen, die die Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind, haben - aber nicht nur die, sondern auch die
Menschen in unserem Land, die endlich etwas tun wollen.
({0})
Es nützt auch nichts, auf dem bevölkerungsreichen
China herumzuhacken, wie es viele zurzeit tun. Die ProKopf-Emissionen Chinas liegen deutlich unter denen der
EU und erst recht unter denen der USA, die sich seit
Jahrzehnten nicht um den Klimaschutz kümmern und
lieber Kriege anzetteln, statt Zukunft zu gestalten. Natürlich müssen beide Länder mit ins Boot; das ist für mich
gar keine Frage. Sonst machen internationale Abkommen keinen Sinn; das wissen wir.
Ja, die Wachstumsraten beim CO2-Ausstoß in den
Schwellenländern sind beängstigend. Das gibt allerdings
vor allem deshalb Probleme, weil die Atmosphäre bereits voll ist. Dieses Problem wurde nicht von den Entwicklungsländern, sondern von uns, den Industrieländern, verursacht. Nicht etwa die Chinesen jetten zweimal
im Jahr nach Mallorca oder haben einen Zweitwagen in
der Garage; das sind ganz andere. Ich möchte jetzt nicht
schlaumeiern, wie China oder die USA zu einem anderen Verhalten gebracht werden können. Klar ist aber: In
Durban müssen endlich die Weichen für ein umfassendes Post-Kioto-Abkommen gestellt werden.
({1})
Ich sage Ihnen: Das sind wir unseren Enkeln und vielen
anderen auch schuldig.
Die Konferenz muss die Absichtserklärungen von
Kopenhagen und Cancún mit Leben füllen. Das heißt
- es wurde angesprochen -, man muss Vertrauen schaffen und gegenseitige Blockaden aufbrechen. Es ist
natürlich die vordringlichste Aufgabe der EU, endlich
das 30-Prozent-Ziel zu diskutieren und dann natürlich
auch zu beschließen; wir reden die ganze Zeit darüber.
Wir sind uns einig, andere - natürlich die Wirtschaftspolitiker und die Industriebosse - blockieren das.
({2})
Wir brauchen eine entsprechende Finanzierung und
verbindliche Geldzusagen. Wir brauchen frisches Geld
und keine aufgewärmten alten Versprechen. Ich sage Ihnen: Den Banken schmeißen Sie es in den Rachen, aber
für die betroffenen Leute ist kein Geld da.
({3})
Ich möchte Sie daran erinnern: Nur ein Fünftel der Mittel im Bundeshaushalt ist dafür zusätzlich veranschlagt.
Das halte ich für einen Witz. Für diese Menschen muss
jetzt endlich Geld her.
Letzte Bemerkung. Deutschland ist ein Industrieland,
das fähig ist, die Energieversorgung zügig auf eine regenerative Basis umzustellen. Wir können ein Vorbild dafür sein, wie das ohne Verlust an wirklicher Lebensqualität geht. Allerdings müssen wir das Tempo erhöhen
- das wurde schon angesprochen -, das heißt: Halbierung des CO2-Ausstoßes bis 2020 und 50 Prozent des
Stroms aus erneuerbaren Energien. Das ist möglich, aber
das wird nur dann gelingen, wenn die Kosten nicht allein
die Privathaushalte und die kleinen Betriebe tragen müssen. Die Bundesregierung schont energieintensive Industrien und große Kraftwerksbetreiber. Das, was Herr
Kauch gesagt hat, ist eben nicht richtig.
({4})
Schauen wir uns die EEG-Umlage und den Emissionshandel an. Hier werden Gewinne eingefahren. Das
kann man berechnen und beweisen. Es geht hier nicht
darum, dass wir irgendwelche Arbeitsplätze abbauen
wollen, sondern wir wollen, dass fair bezahlt wird; denn
alles andere ist absurd. Die energieintensiven Industrien
und die großen Kraftwerksbetreiber erhalten leistungslos
Geld.
Es geht in Deutschland nicht allein um ein paar Prozentpunkte mehr beim Minderungsziel. Es geht darum,
dass das Energiesystem auf komplett neue Grundlagen
gestellt wird, nämlich: erneuerbar, demokratisch und sozial. Wenn wir das durchsetzen, dann können wir auch
international etwas bewegen.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bulling-Schröter. - Jetzt
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Thomas Gebhart. Bitte schön, Kollege Dr. Gebhart.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Viele fragen in diesen Wochen in der Tat: Was bringen eigentlich diese Klimakonferenzen? Lohnt der Aufwand? Ist es nicht grotesk, dass die Warnungen vor den
Folgen des Klimawandels zunehmen, dass wir bei den
Treibhausgasemissionen im letzten Jahr historische Rekordwerte erreicht haben und dass gleichzeitig die Erwartungen an die jetzige Konferenz eher mäßig sind? Ja,
aber deswegen die Klimakonferenzen grundsätzlich infrage zu stellen, wäre sicherlich ein Fehler; denn am
Ende gibt es keine vernünftige Alternative dazu.
({0})
Warum ist dies so? Der Klimawandel ist ein klassisches globales Problem, und es ist klar, dass wir für dieses Problem weltweite Lösungen brauchen. Die Staaten
müssen miteinander kooperieren. Dort, wo es möglich
ist, müssen wir unter dem Dach der Vereinten Nationen
miteinander reden, verhandeln und das, was möglich ist,
vereinbaren. Ich hoffe, dass wir in Durban zum Beispiel
Entscheidungen treffen, die zumindest die Grundlage für
weltweit verbindliche Vereinbarungen über die Mengenbegrenzung der Treibhausgasemissionen schaffen.
Deutschland wird dabei weiterhin engagiert für mehr
Klimaschutz werben. Deutschland steht zu seinen ambitionierten Zielsetzungen. Wir wollen die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Dies ist
Teil unserer Verantwortung. Dies ist der Beitrag, den wir
leisten. Es ist gut, dass es dazu einen breiten Konsens
gibt. Den sollten wir auch heute nicht zerreden.
Ich bin überzeugt: Es gibt am Ende keine vernünftige
Alternative zu diesen Klimakonferenzen und zu diesen
Verhandlungen. Ich bin aber in gleicher Weise fest davon
überzeugt, dass diese Verhandlungen - so notwendig sie
sind - am Ende alleine nicht reichen werden. Warum?
Wenn wir heute die Situation weltweit betrachten, stellen
wir fest, dass wir nach wie vor ein Wachstum der Weltbevölkerung erleben. Auch jene, die nicht so leben wie
wir in den westlichen Industrieländern, streben verständlicher- und berechtigterweise nach Wohlstand und
Wachstum. Die große Herausforderung besteht also darin, dass es uns gelingt, Wohlstand und Wachstum mit
der Ressourcenschonung und dem Klimaschutz in Einklang zu bringen.
Der Schlüssel dazu liegt in neuen Technologien, in
Effizienztechnologien, erneuerbaren Energien und vielem mehr.
({1})
- Wir tun sehr viel. Wir sind in Deutschland auf dem
Weg. Wir bauen die Energieversorgung zu einer nachhaltigen Energieversorgung um. Viele schauen in diesen
Monaten auf Deutschland und fragen: Schafft ihr das?
Ich bin mir sehr sicher: Wir werden es schaffen.
({2})
Je besser uns dieser Umbau gelingt, desto attraktiver
wird am Ende dieser Weg auch für andere Länder werden - auch weil sie erkennen, dass darin wirtschaftliche
Chancen liegen.
({3})
Je besser uns dieser Umbau gelingt, desto mehr tragen
wir am Ende zum Klimaschutz insgesamt bei.
({4})
Deshalb: Durban ist wichtig; aber das, was danach
kommt, ist mindestens genauso wichtig.
Ich will noch einen Punkt aufgreifen. Die Schuldenkrise überlagert im Moment viele andere Themen. Auch
der Klimawandel ist in der öffentlichen Wahrnehmung
ein ganzes Stück weit nach hinten gerutscht. Wenn wir
es aber genau betrachten, dann sind Schuldenkrise und
Klimawandel im Grunde zwei Seiten der gleichen Medaille; denn beide haben die gleiche Ursache: Ein Teil
des Wohlstands von heute wird zulasten künftiger Generationen erwirtschaftet.
({5})
Gerade die Schuldenkrise lehrt uns, dass es vernünftig
ist, frühzeitig und rechtzeitig den Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise und Politik einzuschlagen und
nicht erst dann, wenn es unvermeidlich ist; denn dann
wird die Anpassung am Ende umso härter ausfallen.
Gleiches gilt für den Klimawandel.
Also überzeugen wir möglichst viele, mit uns gemeinsam diese Herausforderung anzugehen, und zwar jetzt!
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Gebhart. - Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dirk
Becker. Bitte schön, Kollege Dirk Becker.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gebhart, ich muss schon sagen: Sie haben beim
Umweltminister gelernt, wie man ein Thema würdevoll
vorträgt. Sie haben viel Richtiges gesagt. Entscheidend
ist aber, dass die Taten, die Ihre Regierung vornimmt,
auch diesen Aussagen entsprechen. Da ist es leider so,
dass Sie bei vielen energiepolitischen Weichenstellungen der letzten Monate das Gegenteil tun.
Herr Kauch hat vorhin gesagt, wir sollten den Leuten
nichts vormachen. Das kann ich an Ihre Adresse zurückgeben. Es wurde auch Sigmar Gabriel angesprochen. Ich
greife den Ball gern auf: Bei der Klimakonferenz auf
Bali im Jahr 2007 war es Sigmar Gabriel, der als erster
Umweltminister eines Industrielandes mit einem Energie- und Klimaprogramm aufgetaucht ist, in dem man
nachlesen konnte, an welchen Stellen die deutsche Regierung wie viel Prozent CO2- bzw. Treibhausgasemissionen nachweisbar und nachprüfbar einsparen will, um
so das 40-Prozent-Ziel zu erreichen.
({0})
Wenn Sie sagen, dass Sie weiter sind, dann muss ich Sie
enttäuschen.
Auch wenn die damalige Opposition erklärt hat, das
gehe nicht weit genug: Eines lag dem zugrunde, nämlich
eine Liste, mit welchen Maßnahmen man was erreichen
will. Ich will nur drei oder vier Punkte des damaligen
Energie- und Klimaprogramms aufgreifen.
Ich beginne mit der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Man wollte mit dem Ausbau erneuerbarer
Energien 54 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Diese
Bundesregierung hat auf der Basis von Studien zur Laufzeitverlängerung die Ausbauphase erneuerbarer Energien
verlängert. Es sollte also einen verlangsamten Ausbau
geben, weil Sie die Kernenergie wollten. Als Sie Ihren
Beschluss zur Laufzeitverlängerung rückgängig machten,
haben Sie im Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht nachgebessert. Das heißt, Sie haben das Vorgehen verlangsamt.
Sie werden mit diesem EEG die Ziele zur Senkung der
Treibhausgasemissionen nicht erreichen.
Zweitens haben Sie gesagt, Sie wollten durch Effizienzmaßnahmen Stromeinsparungen in großem Umfang
erreichen. Doch wo bleiben die Taten? Wir können es
nachlesen: Herr Rösler blockiert die Festlegung verbindlicher Effizienzvorgaben an allen Ecken und Enden. Wir
werden durch Effizienzmaßnahmen die 25 Millionen
Tonnen, die als Ziel hinterlegt sind, dank Ihrer Politik
nicht erreichen. Herr Rösler bremst und blockiert auch
hier beim Klimaschutz.
({1})
Wir wollten des Weiteren durch das Marktanreizprogramm im Wärmemarkt rund 10 Millionen Tonnen CO2
einsparen. Was ist denn Gegenstand Ihrer Politik? Die
Förderung durch das Marktanreizprogramm wurde wieder und wieder eingeschränkt. Es gibt auf dem Wärmemarkt einen totalen Stillstand. Das heißt, auch hier werden wir die CO2-Minderungsziele aufgrund Ihrer Politik
verfehlen.
Der letzte Punkt: Meisterstück ist eigentlich das Gebäudesanierungsprogramm. Während wir noch zu Zeiten
der Großen Koalition verlässlich und verbindlich
1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben, in der
Wirtschaftskrise sogar 2,2 Milliarden Euro, weil der damalige Finanzminister den Zusammenhang zwischen energetischer Sanierung und der wirtschaftlichen Bedeutung erkannt hat, nehmen Sie dieses Programm komplett aus dem
Haushalt und verschieben es stattdessen in einen Energieund Klimafonds, der niemals über die entsprechenden Mittel verfügen wird, weil es zu den Einnahmen, die Sie unterstellen, nicht kommen wird.
({2})
- Woher ich das weiß? Das kann man mathematisch lösen. Sie unterstellen Einnahmen, die auf einem Zertifikatepreis von 33 Euro basieren. Heute liegt der Preis, eben
nachgesehen, bei knapp unter 9 Euro.
({3})
Herr Frank Schwabe hat es eben vorgetragen: Die Deutsche Bank rechnet damit, dass der Preis weiter sinken
wird. Dieser Fonds ist ein Flop. Mit diesem Flop floppt
auch der Klimaschutz.
({4})
Dann kommt die dreisteste Nummer, die ich mir vorstellen kann: Sie zeigen jetzt mit dem Finger auf die
Bundesländer, weil sie beim Thema Steuerentlastungen
blockieren.
({5})
- Zu Recht? Sie lassen den Umweltminister hier sagen,
was diese Regierung alles für den Umweltschutz tut. Die
Finanzierung aber schaffen Sie sich vom Hals. Weil Sie
in der letzten Woche ohnehin schon eine hohe Neuverschuldung durchs Parlament jagen mussten, haben Sie
die Förderung der Gebäudesanierung komplett aus dem
Haushalt herausgenommen und auf die Länder übertragen. Die Länder sollen also dafür bezahlen, dass Herr
Röttgen hier eine schöne Rede halten kann.
({6})
Auch die CDU-geführten Bundesländer lehnen das zu
Recht ab.
({7})
Sie machen sich hier einen schlanken Fuß, verschieben
die Finanzierung in die Bundesländer und belassen es
hier bei warmen Worten und schönen Reden. So funktioniert der Klimaschutz nicht.
({8})
Das ist der Grund, warum die Vorreiterrolle Deutschlands in der Welt nicht mehr wahrgenommen wird. Herr
Jung, ich gebe Ihnen recht. Ich glaube Ihnen, dass Sie
die Ziele ernst meinen. Das stelle ich überhaupt nicht infrage. Aber die Taten fehlen. Solange die Taten fehlen,
wird Deutschland nicht mehr Vorreiter beim Klimaschutz sein können.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege Becker. - Jetzt für die
Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Dr. Christiane
Ratjen-Damerau. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und
Herren! Wenn Sie heute nach draußen schauen, werden
Sie sehen, dass es bewölkt ist. Wie auch für mich ist für
die meisten von uns die Frage nach dem Wetter eine
Frage nach dem eigenen Wohlbefinden. Tatsächlich stellen aber Wetter und Klima für die meisten Menschen auf
dieser Welt eine Frage von Leben und Tod dar.
Der weltweite Ausstoß von Kohlendioxid hat einen
neuen Rekordwert erreicht. Wir haben zurzeit den größten CO2-Anstieg aller Zeiten zu verzeichnen.
Die Folgen dieses dramatischen Anstiegs des klimaschädlichen Treibhausgases in der Atmosphäre sind
durch den Klimawandel messbar und spürbar geworden.
Ganz besonders betroffen sind die Menschen auf der
südlichen Halbkugel dieser Erde und damit genau die
Menschen, die nicht das Glück haben, auf dieser Seite
der Erde, nämlich in den reichsten Ländern der Welt, geboren zu sein.
({0})
Diese Menschen tragen die Hauptlast des Klimawandels,
obwohl sie am allerwenigsten dazu beitragen.
Die schwierigen Klimabedingungen der letzten Jahre
führen zum Beispiel in Nigeria dazu, dass Flüsse austrocknen und viele Wasserquellen versiegen. Allein die Wassermenge des Lake Chad ist in den vergangenen Jahren um
60 Prozent zurückgegangen. Als Folge der schwer vorhersehbaren Wetterbedingungen in diesem Land kommt es
immer öfter zu Bodenerosion und Überschwemmungen.
Wichtige Straßen und Wege, die Lebensadern für die dort
lebenden Menschen sind, werden zerstört.
In Papua-Neuguinea steigt der Meeresspiegel. Überschwemmungen sind die dort spürbaren Auswirkungen
des Klimawandels. Ganze Dörfer verschwinden unter
dem Meeresspiegel, und Ernten werden vernichtet.
Frauen sind von den Auswirkungen des Klimawandels am stärksten betroffen. Sie sind für die Ernährung
von Familien zuständig. Wasserknappheit oder die Verunreinigung des Wassers durch Überflutungen führen
dazu, dass Frauen immer weitere Wege gehen müssen,
um sauberes Wasser oder Feuerholz zu finden. Für sie
wird es daher immer schwieriger, sich und ihre Familien
zu ernähren.
Für die westliche Welt steht die Minderung der Treibhausgase im Vordergrund. Die globale Temperaturerhöhung soll auf maximal 2 Grad begrenzt werden.
Die Ausgangslage in den Entwicklungsländern ist
eine erheblich andere: Sie sind nur zu einem geringen
Prozentsatz Verursacher des Klimawandels; doch sie
sind es, die die Hauptlast der Klimaveränderung tragen
müssen. Ihre Küsten werden überschwemmt, ihre Landwirtschaft wird zerstört, und ihre Ernährungsgrundlage
ist von Dürren und Flutkatastrophen akut bedroht.
Die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern haben ebenso wie wir ein Recht auf Entwicklung
und Wohlstand - und dies fordern sie auch von uns ein.
({1})
Umgekehrt ist eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit, ohne dass klimafreundliche
Entwicklungspfade beschritten werden, nicht möglich.
Daher müssen wir die Menschen in den Entwicklungsund Schwellenländern auf dem Weg zum globalen Klimaschutz begleiten.
Unsere Partnerländer in der Entwicklungszusammenarbeit brauchen bei der Wiederaufforstung, bei der Verminderung der Wüstenausdehnung und bei dem Schutz
der Biodiversität unsere Unterstützung. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung gibt mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr für
diese Projekte. Hinzu kommen Mittel aus dem Energieund Klimafonds.
({2})
Insbesondere mit den Schwellenländern müssen wir
den Dialog verstärken. Gemessen an ihrer wirtschaftlichen Größe und ihrem Einfluss in der Welt müssen sie
ihren Beitrag leisten. Ohne sie und ihr Mitwirken ist der
Klimaschutz nicht zu machen. In Durban muss die internationale Gemeinschaft den Weg für ein rechtsverbindliches Klimaabkommen im Rahmen der Vereinten Nationen ebnen. Dabei gilt es besonders, die Ambitionen der
Länder in Bezug auf ihre Emissionsminderungsziele zu
stärken und eine faire Aufteilung zwischen den Staaten
und ihren Verpflichtungen zu schaffen. Wir werden die
Vereinigten Staaten und die großen Schwellenländer da17372
bei unterstützen, auch ihre Ambitionen beim Klimaschutz rechtsverbindlich auszugestalten.
Im Jahr 2010 hatten wir den größten Anstieg aller
Zeiten beim Ausstoß von Kohlendioxid zu verzeichnen.
Ich wünsche der deutschen Delegation viel Erfolg bei
der Konferenz in Durban. Ich hoffe sehr, dass weitere
Rekordausstöße von Kohlendioxid mit den Ergebnissen
der Konferenz in Zukunft zu verhindern sind.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin
Frau Bärbel Höhn. Bitte schön, Frau Kollegin Höhn.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte noch einmal an das Thema erinnern, um das es
hier geht, und dabei die Rolle Deutschlands beim Kampf
gegen die Klimakatastrophe beleuchten.
Deutschland hat im Klimaschutz international in den
letzten Jahrzehnten immer eine sehr aktive Rolle gespielt. Ich finde es auch richtig, deutlich zu sagen: Das
war nicht das Anliegen einer einzigen Fraktion, sondern
das war das Anliegen vieler Umweltminister aus vielen
verschiedenen Fraktionen.
({0})
Es hat mit Klaus Töpfer angefangen, der 1992 viel dazu
beigetragen hat, dass wir die Konferenz in Rio hatten.
({1})
Es ist weitergegangen mit der Umweltministerin Angela
Merkel.
({2})
Und es ist - ich hoffe, dass jetzt auch alle wieder klatschen - mit Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel weitergegangen. Ich bitte jetzt auch um Beifall!
({3})
- Danke schön!
Wenn wir heute vor Durban die Situation haben, dass
man sagt: „Durban steht unter keinem guten Stern“,
dann müssen wir auch fragen: Welche Rolle spielt dabei
eigentlich Deutschland? Bisher gingen vor jeder Klimakonferenz von der Bundesregierung immer Initiativen
aus: Da gab es Impulse, da sind wir mit neuen Ideen zu
den Klimakonferenzen gegangen. Mein Vorwurf ist, dass
in diesem Jahr, vor Durban, keine solchen Initiativen
von der Bundesregierung kommen. Das muss sich ändern, sonst werden wir diese Vorreiterrolle verlieren.
({4})
Deshalb gibt es auch die Idee einer Klimapolitik der
verschiedenen Geschwindigkeiten; wir wollen - ich
nenne es einmal so - eine Koalition der Willigen. Aber
wenn man eine Koalition der Willigen schaffen möchte,
weil man die großen Emittenten nicht mit ins Boot bekommt, dann muss man auch vor Ort, hier in Deutschland, zeigen, dass man willig ist und dass der Klimaschutz hier bei uns eine Rolle spielt. Da vermisse ich das
Engagement der Bundesregierung. Das, was Sie hier bieten, ist mir zu wenig.
({5})
Wir haben alle gemeinsam, der ganze Bundestag
- das war eine gute Sache -, beschlossen: 40 Prozent
CO2-Reduktion bis zum Jahr 2020. Wir wissen aber alle,
dass dieses Ziel mit den jetzigen Maßnahmen nicht erreicht werden wird.
({6})
Am Ende landet man vielleicht bei 30 oder 35 Prozent,
nicht aber bei 40 Prozent CO2-Reduktion. Ich sage deshalb: Meine Damen und Herren, lassen Sie uns endlich
gemeinsam ein Klimaschutzgesetz verabschieden, damit wir jedes Jahr überprüfen können, ob wir uns von
diesem Ziel entfernen oder nicht, damit wir rechtzeitig
agieren können, damit wir hier nicht nur große Predigten
und Reden halten, sondern auch handeln. Klimaschutz
lebt vom Handeln!
({7})
Dazu gehört auch, dass Deutschland nicht nur im eigenen Land aktiv ist, sondern vor allen Dingen Deutschland auch in Europa aktiv ist. Noch vor der Konferenz in
Bali ist eindeutig und klar gesagt worden: 30 Prozent
CO2-Reduktion - wenn die anderen mitmachen. Das war
damals etwas Neues. Heute muss man sagen: 30 Prozent
CO2-Reduktion in Europa - ohne Wenn und Aber. Eine
solche Ansage hätte ich von der Bundesregierung erwartet.
({8})
Es ist doch eine logische Folge von zu viel ausgegebenen Zertifikaten, dass der Preis der Zertifikate jetzt
unter 9 Euro liegt. In den Haushaltsplan sind für die Zertifikate 17 Euro eingestellt.
({9})
Das heißt doch umgekehrt, dass wir ehrgeiziger sein
müssen. Wir müssen den CO2-Ausstoß begrenzen, damit
wir überhaupt bei 17 Euro landen können. Deshalb müssen wir uns in Europa ehrgeizigere Ziele zur Reduktion
des CO2-Ausstoßes setzen. Wir müssen auf jeden Fall
den CO2-Ausstoß in Europa um 30 Prozent reduzieren.
Das ist das Ziel.
({10})
Das Zeitfenster für eine solche Forderung schließt
sich. Denn wenn Sie diese 17 Euro pro Zertifikat nicht
bekommen - und danach sieht es aus; ursprünglich lag
das Ziel sogar bei über 30 Euro -, dann heißt das, dass
Sie mit der derzeitigen Konstruktion Ihres Klimafonds
die Energiewende nicht durchsetzen können. Die Zahl
der Gebäudesanierungen bei uns ist doch eingebrochen,
weil die Einnahmen aus den Zertifikaten nicht mehr
stimmen. Wir alle wissen, die Gebäudesanierung ist einer der wichtigsten Bereiche, durch den wir CO2 einsparen können. Hier müssen wir Klimaschutz betreiben.
Deshalb sage ich Ihnen: Werden Sie ehrgeiziger beim
Klimaschutz, damit wir die Energiewende hier in
Deutschland hinbekommen!
({11})
Eines muss ich wirklich sagen: Ich ärgere mich extrem über Wirtschaftsminister Rösler. Was ist das für ein
Wirtschaftsminister, der wirklich wichtige Bereiche der
Wirtschaft brachliegen lässt? Maßnahmen der Energieeffizienz beinhalten ein Potenzial zur Schaffung von
250 000 Arbeitsplätzen. Das hat der Bundesumweltminister gesagt. Ich vertraue ihm einmal an diesem Punkt.
({12})
Herr Röttgen, dann bringen Sie endlich einmal den Wirtschaftsminister Rösler dazu, dass er diese Vorhaben
nicht immer blockiert. Es darf doch wohl nicht sein, dass
ein Minister die Schaffung solcher Arbeitsplätze in kleinen und mittelständischen Unternehmen blockiert!
({13})
Er betreibt diese Politik aus ideologischen Gründen; er
spricht ja von Planwirtschaft. Er hat noch gar nicht verstanden, worum es hier geht. Solche Potenziale einfach
brachliegen zu lassen, geht nicht.
Ja, wir sind bereit, fraktionsübergreifend zu arbeiten.
Da sollte man sich nicht verweigern; dazu ist die Aufgabe viel zu groß.
Ich komme zum Schluss. Ich sage noch einmal sehr
deutlich: Die EU muss sich verbindlich auf eine CO2Reduktion um 30 Prozent einigen. Zusätzlich muss die
Effizienzrichtlinie der EU-Kommission unterstützt werden. Bringen Sie endlich den Wirtschaftsminister dazu,
diese Unterstützung zu leisten. Stoppen Sie den Wirtschaftsminister dabei, die Entwicklung der erneuerbaren
Energien immer wieder zu hemmen. Daran, dass sich
selbst Herr Kauch für die erneuerbaren Energien einsetzt
und so versucht, den Wirtschaftsminister zu stoppen,
sieht man, wo die Koalition steht.
Es geht auch darum, dass wir mit dem Abbau klimaschädlicher Subventionen wirklich ernst machen müssen.
Sie haben mir versprochen, zum Schluss zu kommen.
Jetzt schaffen Sie wieder Ausnahmen für energieintensive Unternehmen. Das geht nicht. Diese Unternehmen bekommen 8 bis 9 Milliarden Euro an Zuschüssen.
Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Mit diesen Subventionen
ohne Gegenleistung muss Schluss sein. Wir brauchen
eine Gegenleistung, auch von diesen Unternehmen.
Nur dann, wenn wir bei all diesen Punkten ernst machen, können wir in Deutschland Vorreiter sein und die
anderen dafür begeistern, dasselbe zu tun.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Render in unserer Debatte ist
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Josef
Göppel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
greife den Vorschlag auf, Frau Kollegin Höhn, gemeinsam das Thema Klimaschutz zu behandeln. Man ist ja
wirklich versucht, zu glauben, dass die Grenzlinien nicht
zwischen den Parteien, sondern innerhalb von Parteien
verlaufen. Allein die Präsenz heute hier in diesem Saal
in der Debatte zu diesem Punkt zeigt, dass die Umweltpolitiker wieder einmal fast unter sich sind. Das ist nicht
gut.
({0})
Das wollen wir jetzt natürlich nicht abfragen, Herr
Kollege.
Ich beginne mit der Festlegung von Frau Merkel in
ihrer Haushaltsrede am 23. November 2011:
Unsere Reduktionsziele stehen fest. Diese werden
wir nicht ändern.
Dafür danke ich der Kanzlerin, und ich unterstütze sie
ausdrücklich. Diese Unterstützung hat sie sicherlich
auch nötig; denn offenkundig gibt es Kräfte, die den
Rückzug aus dem weiteren Ausbau von erneuerbaren
Energien, vom weiteren Klimaschutz und von mehr Klimaeffizienz wollen. Diese Beharrungskräfte richten sich
nach meiner Meinung gegen deutsche Interessen. Denn
die Modernisierung unserer Volkswirtschaft durch Klimaschutz und energetische Erneuerung ist eine wesentliche Triebfeder für unseren Erfolg auf den Weltmärkten.
Der deutsche Erfolg ist das beste Verhandlungsargument
auf den Klimakonferenzen.
Ich stimme den Rednern der Opposition nicht zu, die
behaupten, dass wir in diesem Bereich ins Hintertreffen
geraten werden. Ganz im Gegenteil: Es ist so, dass die
Vertreter der anderen Länder darauf schauen, wie den
Deutschen ihre mutigen Schritte „Abschaltung der
Atomkraftwerke in den nächsten zehn Jahren“ und „Einleitung einer Energiewende hin zu einer kohlenstofffreien Energieversorgung“ gelingen. Wir sind im Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Ich möchte hier ausdrücklich
die Grundannahme von Minister Röttgen unterstützen,
dass wir mit entschlossenen Klimaschutzmaßnahmen
unseren wirtschaftlichen Erfolg stärken, weil wir so unser Land modernisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man von dieser Grundannahme ausgeht, dann ist es falsch, das eigene Handeln immer vom Handeln der anderen Akteure
in Europa abhängig zu machen.
({0})
Wenn wir der Meinung sind, dass unser entschlossener
Klimaschutz zu Modernisierung und wirtschaftlichem
Erfolg führt, müssen wir in der Tat den Abwehrring des
Beharrens und Abwartens durchbrechen.
Frau Kollegin Höhn, ich stimme Ihnen zu: Wir brauchen eine Koalition der Willigen. Es sind zusammengerechnet etwa 120 Staaten, die man zu dieser Konferenz
der Willigen bringen kann. Ich möchte auch ausdrücklich dafür werben, meinem Kollegen Gebhart zuzustimmen, der sagt: Es ist richtig, zu diesen Konferenzen zu
gehen, weil nur dort den vielen kleinen Ländern eine
Plattform geboten wird, auf der sie agieren können. Auch nach meiner Meinung wäre es völlig falsch, diese
Beratungen auf die G 20 zu beschränken und alle anderen auszuschließen.
Aber unser eigenes Handeln ist Maßstab für unsere
Glaubwürdigkeit. Mit den Beschlüssen im vergangenen
Sommer wurde ein gewaltiger Schritt nach vorn getan.
Ich habe das Gefühl, dass hinterher der eine oder andere
erschrocken ist. Bei großen Entscheidungen überlegt
man sich ja oftmals, was man denn eigentlich mitbeschlossen hat. Wir können auf diese Energiewende vertrauen und sie vorantreiben, weil sich bereits in der wirtschaftlichen Krise der beiden letzten Jahre gezeigt hat,
dass der Erfolg Deutschlands zu einem großen Teil auf
den Ausbau der erneuerbaren Energien und auf die Modernisierung unserer Volkswirtschaft im energetischen
Bereich zurückgeht.
Ich kann auch das Argument nicht akzeptieren, dass
dieser Teil unserer Wirtschaft über die EEG-Umlage in
Höhe von 3,5 Cent subventioniert werde. Wenn man sich
anschaut, welch riesige Lasten die alten Formen der
Energieversorgung unseren Nachkommen noch aufbürden, dann, so denke ich, relativiert sich das sehr schnell.
({1})
Wir dürfen nicht in alte und neue Energien trennen, sondern wir müssen den Übergang entschlossen angehen.
Das ist die Chance für unser Land. Damit geben wir
auch auf den internationalen Konferenzen ein gutes Beispiel.
({2})
Vielen Dank, Kollege Josef Göppel. - Jetzt folgt für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Matthias Miersch. Bitte schön, Herr Dr. Miersch.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass die Stenografen eben sehr genau hinschauen mussten, wo geklatscht wurde, war symptomatisch. Lieber
Josef Göppel, ich denke, du hast uns - jedenfalls uns, die
wir auf der von mir aus gesehen linken Seite dieses Parlaments sitzen - allen aus dem Herzen gesprochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Organisation
Germanwatch stellt in ihrem Hintergrundpapier ein Zitat
von Nelson Mandela heraus; dieses lautet:
Es scheint immer so lange unmöglich, bis es wirklich getan ist.
Wir haben in dieser Legislaturperiode des Parlaments
erlebt, dass ein längst beschlossener Atomausstieg rückgängig gemacht wurde und dass dann nach einem bestimmten Ereignis wiederum eine Kehrtwende zugunsten der Erneuerbaren vollzogen und der Ausstieg erneut
beschlossen wurde. Das zeigt, dass politisch ganz viel
möglich ist. Deswegen finde ich, Herr Kollege Gebhart,
Sie haben völlig recht: Es kann jederzeit passieren, dass
sich weltweit die Einsicht durchsetzt, dass eine internationale Klimaschutzkonferenz Erfolg haben muss. Deswegen ist es wichtig, diesen internationalen Kontext,
diese internationalen Verhandlungen nie aus den Augen
zu verlieren.
Aber zugleich und zu Recht haben Sie auch darauf
hingewiesen, dass es dabei nicht bleiben darf, sondern
dass wir hier unsere Hausaufgaben machen müssen. Daran, lieber Herr Kollege Röttgen, krankt es im Moment.
Denn seit über zwei Jahren erleben wir, dass hier an diesem Pult gut geredet, aber in keiner Weise gehandelt
wird.
({1})
Da Sie nach mir reden, möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, heute zu einer Sache ebenfalls Stellung zu
nehmen. Es ist eine Woche her, da hatte ich Sie von diesem Pult aus darauf angesprochen, wie es um die Verhandlungen zwischen Rösler, Röttgen, Pofalla und
Ramsauer über Maßnahmen zur Energieeffizienz steht.
Daraufhin haben Sie erklärt - ich zitiere -:
({2})
Das werden wir - darüber sind sich der Bundeswirtschaftsminister, die Bundesregierung und der Bundesumweltminister einig - natürlich nur mit der
verbindlichen Zielsetzung durchsetzen können, …
({3})
Lieber Herr Kollege Röttgen, es dauerte keine 24 Stunden, bis wir in der Zeitung lesen konnten, dass Sie sich
nicht einig sind, dass Sie wieder gegen verbindliche Regelungen sind. Das ist unglaubwürdig.
({4})
Daran krankt es, und daran merken die Leute: Dahinter steckt nicht viel. Deswegen gebe ich Ihnen die Gelegenheit, nach mir sehr deutlich zu sagen: Ja, ich kämpfe
dafür, aber ich habe in dieser Bundesregierung keine
Mehrheit. Ich habe keine Rückendeckung von Herrn
Pofalla, von der Kanzlerin und von Herrn Rösler.
({5})
Das, was Sie sich dort leisten, leisten Sie sich auch
auf internationaler Ebene. Wir haben hier letzte Woche
den Haushalt beraten. Wir haben beraten, was es mit den
in Kopenhagen zugesagten Fast-Start-Mitteln auf sich
hat. Wir haben festgestellt, dass diese Zusagen, die wir
den Staaten anderer Kontinente gegeben haben, nicht
eingehalten wurden. Auch das müssen wir hier benennen; denn es führt nicht zu der Glaubwürdigkeit und
schafft nicht das Vertrauen, die gerade auf internationaler Ebene notwendig sind.
({6})
Dann möchte ich gemeinsam mit Ihnen zum Schluss
überlegen, ob die Taktik, mit der wir nach Durban fahren, eigentlich richtig ist. Wir warten darauf, wie sich die
anderen verhalten. Aber ist es nicht vielmehr sinnvoll, zu
überlegen, was wir verlieren, wenn wir vorangehen?
Was verlieren wir, wenn wir unserer Industrie vorschreiben, effizient zu werden? Es ist nicht nur so, dass es um
Klimawandel geht, sondern es geht auch um urökonomische Fragen. Es geht zum Beispiel um die Frage: Welche
Maschinen wird man weltweit in den nächsten Jahren
noch verkaufen können? Das werden die Maschinen
sein, die am wenigsten Energie verbrauchen.
Das, was wir hier machen, ist also viel mehr als Umweltpolitik: Es geht um Gesellschaftspolitik und um elementare Fragen der Gerechtigkeit; es geht um urökonomische Fragen. Wir vergeben uns nichts, wenn wir zwei
Schritte weiter sind als die anderen. Deswegen brauchen
wir deutlichere Signale hier in Berlin, aber auch in Brüssel.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Kollege Dr. Matthias Miersch. - Jetzt
für die Bundesregierung Herr Bundesminister
Dr. Norbert Röttgen. Bitte schön, Herr Bundesminister.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich zu Beginn meiner Rede
darauf eingehe, worum es bei dieser Konferenz geht;
denn einige Redner hatten das nicht im Zentrum ihrer
Rede. Es geht darum, dass der Klimawandel voranschreitet, dynamischer als gedacht, mit all seinen Folgen, und dass demgegenüber die Handlungsfähigkeit der
internationalen Politik stagniert oder vielleicht sogar abnimmt.
({0})
Das heißt, die Schere geht auseinander. Das kann man
konkret aufzeigen.
Wenn die Schere auseinandergeht, dann hat das für
viele Menschen existenzielle Folgen. Frau Kollegin, Sie
haben das bereits ausgeführt und von einer Frage von
Leben oder Tod gesprochen - und das völlig zu Recht.
Das hat dramatische wirtschaftliche Konsequenzen bis
hin zur Zerstörung der Lebensgrundlage von vielen Millionen Menschen. Es hat Auswirkungen auf Flüchtlingsströme, es begünstigt die Entstehung von Konflikten,
vielleicht sogar Kriegen, um Wasser und Weideland.
Diese drohen immer öfter.
Letztendlich geht es um eine elementare Frage der
Menschheit, nämlich um Gerechtigkeit. Wenn wir diese
Entwicklung nicht stoppen und sie weitergeht, dann
kommt es zu einer großen Menschheitsungerechtigkeit;
denn durch unsere Wirtschaftsweise - das liegt in unserer Verantwortung - tragen wir dazu bei, dass ganze Generationen und Hunderte von Millionen, vielleicht Milliarden Menschen niemals eine Chance in ihrem Leben
erhalten. Das ist die globale Menschheitsdimension des
Themas.
({1})
Darum erlauben Sie mir, dass ich einmal zugebe, worüber ich mich ärgere. Ich ärgere mich darüber, dass bei
diesem Thema - ich habe keinen Zweifel daran, dass es
nicht einen gibt, der das nicht so sieht - sehr viele, wenn
auch nicht alle, aus den Oppositionsfraktionen kleinkariert, relativ provinziell, nicht über den Tellerrand hinausschauend debattieren, indem sie zum Beispiel über
energetische Gebäudesanierung sprechen.
({2})
Bei aller Liebe: Die energetische Gebäudesanierung ist
wichtig. Ich kann auch gleich etwas dazu sagen. Man
muss sich aber auch einmal Herausforderungen einer anderen Dimension stellen. Wir dürfen nicht immer nur die
kleinkarierten Debatten von gestern und vorgestern führen, nicht nur weil es intellektuell wirklich langweilig
ist, sondern weil wir alle Verantwortung haben, und zwar
nicht nur die Regierung und die Koalitionsfraktionen,
die diese Regierung tragen. Sie sollten sich an Ihrer eigenen Verantwortung messen lassen.
({3})
Die Aufgabe, um die es geht, ist klar zu beschreiben.
Was ist unser Ziel? Das Ziel bleibt ein globales Rechtsabkommen. Wir wollen, dass es zu einem Klimaschutzregime kommt - rechtlich verbindlich und angemessen in
der Ambition -, das es ermöglicht, mindestens das 2-GradZiel zu erreichen. Bei diesem Ziel, ein globales Rechtsabkommen zu erwirken, bleibt es. Das ist das Ziel deutscher
Klimaschutzpolitik, und es ist genau das richtige Ziel.
({4})
Wie aber kommen wir dahin? Die außenpolitische
Lage ist kompliziert. Sie können ja einmal außerhalb
dieses Saales, außerhalb Ihrer eigenen Fraktionen, fragen, ob irgendeiner glaubt, dass Deutschland oder Europa das Problem seien. Nein, Deutschland oder Europa
sind nicht das Problem, weil wir dieses Abkommen wollen, und zwar problemadäquat. Was aber ist das Problem? Das Problem ist, dass die großen Emittenten - im
Wesentlichen China, USA und Indien - noch nicht bereit
sind, sich auf den Weg hin zu einem solchen international verbindlichen Regime zu machen. Das ist das Problem; denn ohne den Beitrag der Verursacher können wir
das Problem nicht lösen. Wir müssen einen Weg finden,
diese Großemittenten und -verursacher in das gemeinsame Boot zu holen. Das ist die außenpolitische und klimaschutzpolitische Aufgabe, der wir uns zu stellen haben.
({5})
Daraus leite ich die Strategie ab. Um es klar zu sagen:
Was ist das Ziel für Durban? Wir können niemanden zu
etwas zwingen; das haben wir in Kopenhagen erleiden
und erlernen müssen. Deshalb muss das Ziel für Durban
sein, auch die anderen Großemittenten - insbesondere
die USA und China - auf einen Fahrplan bzw. ein Mandat zu verpflichten, sodass es zu einem Rechtsabkommen kommt, das im Ziel von rechtlicher Verbindlichkeit
und von einem hinreichenden Ambitionsniveau geprägt
ist. Das 2-Grad-Ziel muss mindestens erreicht werden.
Unser Ziel ist es, die großen Emittenten - die Schwellenländer und die USA - auf diesen Fahrplan zu verpflichten. Dieses Ziel wollen wir erreichen, und daran arbeiten
wir mit allen Kräften.
Unser Ziel ist es selbstverständlich auch, Europa dazu
zu bewegen, sich noch stärker einzubringen. Die Europäer machen weiter; sie sind zur Verbindlichkeit bereit,
und zwar im eigenen Interesse und aus Verantwortung
heraus. Es gilt aber einen ernsten Punkt außenpolitischer
Abwägung und Analyse zu bedenken: Ein Kioto-Protokoll mit einer zweiten Verpflichtungsperiode, bei dem
man sich damit abfindet, dass es noch weniger Teilnehmerstaaten hat als das jetzige Kioto-Protokoll - Kanada,
Russland und Japan haben glasklar erklärt, dass sie aussteigen -, das nur noch 15 Prozent der globalen Emissionen erfasst und das die USA und die Schwellenländer
mit zunehmenden Emissionen außen vor ließe, würde die
Unzulänglichkeit der internationalen Bemühungen geradezu zementieren; davon sind wir in der Bundesregierung
überzeugt. Wenn man sich damit abfindet, dass Kioto II
nur noch ein EU-Abkommen ist, das im Ergebnis weniger
bringt als der heutige EU-Rechtszustand, leistet man eben
keinen Beitrag zum Klimaschutz. Damit dürfen wir uns
nicht zufriedengeben. Wir brauchen mehr als Kioto II.
Das ist die unverzichtbare Position, für die wir eintreten
und zu der wir uns verpflichten. Kioto II darf nicht zementieren, dass 85 Prozent der Emissionen keinem Regime unterworfen werden. Vielmehr müssen wir die anderen ins Boot holen und selber selbstverständlich bereit
sein - das sind wir -, eigene Verpflichtungen zu erfüllen.
Das ist das Ziel.
({6})
Darüber hinaus dürfen wir die anderen Themen nicht
vergessen. Über die ist heute, glaube ich, kaum gesprochen worden. Dabei geht es unter anderem um Klimafinanzierung. Die Struktur des diesbezüglichen Fonds
muss dort beschlossen werden. Das Ziel von Cancún
bleibt: 100 Milliarden Dollar ab 2020. Wir erfüllen unsere Verpflichtungen.
({7})
Wir sind dabei, an der Struktur zu arbeiten. Über die
große Frage dürfen wir aber die kleinen Schritte nicht
aus dem Auge verlieren, die elementar wichtig sind. Das
reicht von der Technologiekooperation und der verlässlichen Finanzierung - da sind die Industrieländer in der
Verantwortung - bis hin zum Waldschutz. Auch da werden wir Leistungen erbringen.
Ich komme zur Frage: Was ist eigentlich unser Beitrag? Er besteht darin, dass wir in unserem Land und in
Europa so handeln, wie wir international reden. Das ist
die Basis der Glaubwürdigkeit.
({8})
Ich frage mich manchmal, in welchem Land Sie eigentlich leben. Es macht keinen Sinn, wenn die Opposition
immer so tut, als wären Entscheidungen gar nicht getroffen worden. Fällt es Ihnen so schwer - nur weil diese
Entscheidungen von einer anderen Koalition, aber nicht
von Ihnen getragen werden -, die Fortschritte im Land
anzuerkennen? Die Politik dieser Bundesregierung besteht darin, ein unkonditioniertes Reduzierungsziel von
40 Prozent zu erreichen. Freuen Sie sich darüber, weil es
für das Land gut ist und weil es für den Klimaschutz gut
ist.
({9})
Es müsste Ihnen doch möglich sein, zur Kenntnis zu
nehmen, dass außerhalb der kleinen Gruppe der Opposition hier in Deutschland - das hat, glaube ich, Josef
Göppel so gesagt, und das ist keine Übertreibung - die
ganze Welt auf die deutsche Energiewende schaut. Sie
fragt sich: Bekommen die das hin? Schaffen die das?
({10})
Genau das ist der Maßstab, an dem wir gemessen werden. Es wird gefragt: Schaffen die das, was sie beschlossen haben? - Wir haben es jedenfalls beschlossen. Sie
haben damit ein parteipolitisches Problem, dass wir die
richtige Politik machen.
({11})
Das kann aber nicht der Maßstab für uns sein. Wir machen trotzdem die richtige Politik weiter, auch wenn Sie
keine Themen mehr haben und Ihre Einfallslosigkeit in
allen umwelt- und klimapolitischen Debatten hier sehr
deutlich zum Ausdruck kommt.
({12})
Ich bleibe bei dem, was als Maßstab eigentlich von allen Koalitionsrednern formuliert worden ist: Der wichtigste Beitrag, den wir als Bundesrepublik Deutschland
leisten können und werden, besteht darin, dass wir beweisen, dass ein großes Industrieland - das größte in Europa erfolgreich in der Lage ist, sowohl wirtschaftliches Wachstum, industrielle Modernisierung und Innovationen zu
schaffen als auch gleichzeitig ökologische bzw. klimaschutzpolitische Ziele zu erreichen. Dieser Beitrag besteht
auch darin, dass wir gerade dadurch, dass wir uns zum Erreichen dieser Ziele verpflichten, Technologien entwickeln, Innovationen schaffen und so Wachstum erzeugen.
Den Beweis, dass beides zusammen geht, ja dass es nur
zusammen geht, will Deutschland in Europa erbringen.
Das ist der wichtigste Beitrag, den wir international leisten
können. Es wird auch eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte sein, wenn wir das Klima schützen und die Natur
bewahren. Das ist unser Ansatz. Mit dem sollten Sie sich
- wenn Ihnen noch irgendetwas zu dem Thema einfällt vielleicht irgendwann auch einmal inhaltlich auseinandersetzen.
({13})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unser Kollege Ulrich Kelber. Bitte
schön, Kollege Ulrich Kelber.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Röttgen, Handeln statt Reden
einzufordern, ist nicht kleinkariert. Es ist das, was endlich - nach zwei Jahren salbungsvoller Reden von Ihrer
Seite aus - notwendig ist.
({0})
Sie haben auch deutlich am Thema vorbeigeredet. Heute
geht es nicht darum, dass wir uns alle noch einmal bestätigen, dass Klimaschutz wichtig ist. Das haben wir oft
genug in allen Konstellationen gemacht. Die Frage heute
lautet: Welchen Beitrag leistet Deutschland auf der Klimaschutzkonferenz und zum nationalen Klimaschutz?
Dazu haben wir wieder nichts gehört.
({1})
Dabei haben Sie als schwarz-gelbe Bundesregierung
eine einmalige Chance, die in den letzten 15 Jahren eigentlich keine Regierung vor Ihnen hatte, nämlich dass
die gesamte Opposition Sie bei Maßnahmen zum Klimaschutz unterstützt. Ich erinnere mich an die Große Koalition, als die FDP in der Opposition war, und an die rotgrüne Regierung, als CDU/CSU und FDP in der Opposition waren. Da war das anders. Der heutige Bundesumweltminister hat damals gegen die ökologische Steuerreform, gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz, insgesamt gegen 19 von 20 Klimaschutzinstrumenten gestimmt. Das war in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts. Heute haben Sie eine Opposition, die möchte,
dass Sie mehr machen. Diese Opposition unterstützt Sie
in der Bevölkerung. Sie würde Sie auch verteidigen,
wenn Sie handeln würden. Nutzen Sie das doch einfach
aus!
({2})
Sie haben in den letzten Tagen immer wieder davon
gesprochen, dass die internationale Klimadiplomatie ein
Marathonlauf ist. Ich finde diese Bildsprache richtig.
Wenn wir sie verwenden, dann müssen wir sagen:
Deutschland ist nicht mehr der Topläufer; Deutschland
ist langsamer geworden und bleibt immer wieder stehen.
Die Läufer Röttgen und Rösler haben sich zwar zum
Ausgleich knallbunte neue Sportkleidung gekauft, mit
der man schon im Stehen verdammt schnell aussieht.
Aber sie veröffentlichen Fanmagazine und Websites und
streiten sich am Straßenrand darüber, ob man loslaufen
sollte und in welche Richtung, ob man nicht nur so
schnell laufen sollte wie die langsamsten Läufer, anstatt
einfach einmal loszulaufen und das Ganze zu gewinnen.
({3})
Röttgen und Rösler sind ein Bild des Jammers. Das sagen doch längst nicht nur die Umweltverbände, die das
alles heftig kritisieren. Besuchen Sie doch einmal die
Konferenzen der Wirtschaftsverbände! Dann erfahren
Sie, dass Versäumnisse beim Klimaschutz auch verpasste wirtschaftliche Chancen sind. Wenn Sie zu VKUKonferenzen, zur Handelsblatt-Jahrestagung oder zu anderen Tagungen gehen, dann stellen Sie fest: Man lacht
da über den Wirtschaftsminister. Es tut sogar einem Oppositionspolitiker weh, wenn über eine Regierung nur
noch gelacht wird. Die Ankündigungen des Umweltministers beziehen sich immer nur auf Ziele; Maßnahmen
bleiben aus. Diese Ankündigungen werden dort nicht
mehr ernst genommen.
Schauen wir einfach auf die Maßnahmen, die notwendig wären: Energieeffizienz. Minister Röttgen stellt sich
hier morgens hin und erzählt uns, die Regierung habe
sich geeinigt, und es komme zu verbindlichen Energieeffizienzvorgaben. Aber schon am Nachmittag lesen wir,
dass der Wirtschaftsminister dem Umweltminister widerspricht. Bis heute wissen wir nicht, worüber in der
Europäischen Union verhandelt wird, obwohl doch
Deutschland das Land wäre, das die meisten entsprechenden Technologien liefern könnte. Weil man auf wenige Lobbyisten hört, nimmt man uns ein großes wirtschaftliches Betätigungsfeld weg. Was ist die Linie der
Bundesregierung?
Ausbau der Energienetze. Auch da werden keine Entscheidungen getroffen. Die Smart-Grid-Technologien
entstehen im Augenblick in anderen Ländern. Wir
schauen zu, wie uns andere überholen, obwohl wir technologisch einmal die Vor-Läufer waren.
Seit 2009 könnten die Bedingungen für die Förderung
hochflexibler, sauberer Kraftwerke definiert werden; seit
2009 erlaubt das die Europäische Union. Bis heute liegt
eine solche Definition nicht vor. In der Folge unterbleiben milliardenschwere Investitionen in Kraftwerke.
Bei den erneuerbaren Technologien gibt es ständig
Verunsicherung durch Briefe der Koalitionsfraktionen
und Äußerungen von Fraktionsvizevorsitzenden. Sie
müssten mir irgendwann einmal erklären, warum 2013
die Förderung im Photovoltaikbereich zurückgefahren
und die Förderung im Offshorebereich hochgefahren
werden soll, obwohl 2013 die Kilowattstunde Strom aus
Photovoltaik nach den Berechnungen Ihrer eigenen Regierung billiger sein wird als die Kilowattstunde aus der
Offshoretechnologie. Welcher Sinn steckt dahinter, die
billigere Technologie zu blockieren und die andere mit
noch mehr Geld zu füttern? Das soll ein Kostenargument
sein? Das kann ich nicht verstehen.
({4})
Förderprogramme werden angehalten und dann zeitweise wieder aufgelegt. Solche Programme können heimische Anbieter nicht nutzen; denn sie sind auf einen
stetigen heimischen Markt angewiesen. In der Folge
wird nach Deutschland geliefert, was in anderen Ländern Überschuss ist. In den Jahren, in denen es hier keine
Förderung gibt, wird der Markt völlig trockengelegt. Das
erleben wir jetzt seit zwei Jahren: hü und hott in der
Technologieförderung.
Der letzte Punkt ist das Fast-Start-Programm. Ich
komme da zum Marathon zurück: Die Bundeskanzlerin
hat den ärmsten Läufern versprochen, im Rahmen des
Fast-Start-Programms die Schuhe zu bezahlen. Was
macht sie jetzt? Im Haushalt sind keine Mittel mehr für
die Schuhe eingestellt. Es wird jetzt das Mittagessensgeld verwendet, um die Schuhe zu kaufen, weil man der
buckligen Verwandtschaft das Betreuungsgeld und die
Steuersenkungen finanzieren muss.
({5})
Damit nimmt sich Deutschland die Glaubwürdigkeit;
aber Glaubwürdigkeit ist die Währung in der internationalen Klimaschutzdiplomatie.
({6})
Vielen Dank, Kollege Ulrich Kelber. - Letzter Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU Dr. Christian Ruck. Bitte schön, Kollege
Ruck.
({0})
Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Am Schluss der Debatte möchte auch ich
bekräftigen, dass wir zwar in einer sehr schwierigen
Phase der Klimaverhandlungen sind, dass nicht viele
Optimismus ausstrahlen, wir aber trotzdem nicht die
Flinte ins Korn werfen dürfen, sondern kämpfen müssen; denn das, was wir heute nicht tun, müssen zukünftige Generationen teuer bezahlen. Deswegen stärken wir
allen aus diesem Hause, die nach Durban fahren
- Minister Röttgen und allen Politikern der Koalition
und der Opposition -, auch mit dieser Debatte den Rücken und wünschen ihnen viel Glück.
({0})
Ich glaube, dass Durban auch deswegen wichtig ist,
weil sich die Länder die Meinung sagen und darüber
sprechen müssen, dass führende Industrienationen wie
die USA und Japan, aber auch andere politisch sehr ambitionierte Staaten wie China und Russland derzeit völlig
unangemessen auf die dramatisch schlechter werdenden
CO2-Bilanzen reagieren. Wir müssen ihnen sagen, dass
sie so ihrem Führungsanspruch nicht nur in der Welt,
sondern auch gegenüber ihren eigenen Bürgern nicht gerecht werden.
Ich möchte betonen, was Entwicklungspolitiker und
Minister Röttgen heute über die auseinandergehende
Schere gesagt haben. Die Folgen des Klimawandels sind
in der Tat regional sehr unterschiedlich. Viele Länder in
den gemäßigten Zonen, auch Deutschland, können - so
die Wissenschaft - den Klimawandel durchaus verkraften. Aber das Problem ist, dass es ganze Erdteile gibt,
deren Bevölkerung den Klimawandel nicht verkraften
wird. Das wird dann ein Desaster nicht nur für die betreffenden Regionen in den Entwicklungsländern, sondern auch für uns und zum Beispiel für die Amerikaner
werden, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Wir werden
ein riesiges Migrationsproblem und letztendlich auch ein
Sicherheitsproblem bekommen. Das müssen wir in Durban deutlich machen.
Ich bin der Meinung, dass wir uns als Deutsche
durchaus zum Anwalt für die Entwicklungsländer machen sollten, deren Existenz in den nächsten Jahrzehnten
auf der Kippe steht. Herr Kelber, Sie haben hier - entweder bewusst oder unbewusst - die Unwahrheit über die
Fast-Start-Initiative gesagt.
({1})
- Ich habe die Zahlen dabei. Ich gebe sie Ihnen gerne.
({2})
Ich gebe Ihnen gerne Informationen darüber, was sich in
BMZ und BMU abspielt.
({3})
Wir werden neue Zusagen zum Sockelbetrag in Höhe
von 894 Millionen Euro machen.
({4})
Das haben wir entweder schon ausgegeben oder eingestellt. Wir werden das Plansoll erfüllen. Ich gebe Ihnen
das gerne zur Kenntnis.
({5})
- Herr Kelber, Sie haben keine Ahnung, tut mir leid.
({6})
Der Schutz der Wälder als CO2-Senken ist für uns ein
wichtiger Punkt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um
auf etwas aufmerksam zu machen, das man in Durban
ansprechen muss, nämlich die Tragödie, die sich in Brasilien andeutet. Wenn in Brasilien das neue Forstgesetz
tatsächlich in Kraft tritt, dann wird es zu einem Verlust
von bis zu 76 Millionen Hektar Wald kommen. Das entspricht einer Freisetzung von umgerechnet 28 Milliarden
Tonnen CO2. Das ist das 30-Fache des deutschen Jahresausstoßes. Auch das muss man in Durban besprechen.
({7})
- Kleinkariert, Herr Kelber, furchtbar!
({8})
Niemand braucht nächstes Jahr zur Rio-Konferenz zu
fahren, wenn die Brasilianer mit diesen Schätzen dermaßen schlecht umgehen.
({9})
Zu all dem, was der Bundesregierung vorgeworfen
wurde, wenn es darum geht, was wir im eigenen Land
tun, kann ich Ihnen nur die Lektüre des neuesten Gutachtens von Ernst & Young empfehlen. Dort steht:
17,3 Milliarden investiert Deutschland derzeit im
Kampf gegen den Klimawandel. Das ist im internationalen Vergleich das größte Budget - in absoluten
Zahlen und im Verhältnis zum Gesamthaushalt.
({10})
Mit ungeahnten Steigerungen der Mittel für das BMZ,
mit Steigerungen der Mittel für die Energieforschung
und mit dem EEG, mit dem unsere Bundesregierung gerade in den letzten Jahren gigantische, positive Erfolge
erzielt hat, haben wir innerhalb von zwei Jahren den Anteil, der von erneuerbaren Energien beim Stromverbrauch gedeckt wird, von 16,3 Prozent auf über 20 Prozent steigern können. Das ist unser Erfolg. Das lassen
wir uns von Ihnen nicht kleinreden.
({11})
Wir können über vieles reden. Wir haben noch viele
Hausaufgaben zu machen, insbesondere im Bereich der
Energieeffizienz. Das ist vollkommen klar. Ich habe aber
auch die Hoffnung, dass wir mit unserer Energiewende
in Deutschland einen Technologievorsprung erreichen,
der uns einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Ich habe
die Hoffnung, dass dieser Wettbewerbsvorteil einen Dominoeffekt auslöst und uns in die richtige Richtung
führt. Ökonomie erzwingt Ökologie. Das ist genau das,
was wir uns für die nächsten Jahre erhoffen.
({12})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ruck. - Mir liegen keine
weiteren Wortmeldungen vor. Damit ist die Aktuelle
Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages
sowie der Resolutionen 1368 ({1}) und 1373
({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/7743, 17/7995 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Dr. Frithjof Schmidt
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8002 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Ich darf Ihnen mitteilen, dass wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Darf ich Sie bitten, die Plätze einzunehmen? - Wir
wollen dem ersten Redner dieser Debatte zuhören.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte
schön, Kollege Joachim Spatz.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung legt Ihnen einen Antrag auf Verlängerung des Einsatzes im Rahmen der Operation Active
Endeavour vom 1. Januar bis zum 31. Dezember nächsten Jahres vor. Die vorgesehene Höchstzahl der Soldatinnen und Soldaten, die zum Einsatz gebracht werden
dürfen, liegt bei 700.
Um es gleich vorwegzunehmen: Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, ob die in dem Mandat aufgeführte Begründung noch ausreichend für einen
solchen Einsatz sein kann. Wir stellen fest, dass alle
- ich betone: alle - anderen NATO-Partner das als ausreichend ansehen. Gerade diejenigen - ich sage das vor
allem in Richtung SPD -, die immer anmahnen, wir
dürften uns nur ja nicht isolieren, sollten sich zu Gemüte
führen, dass die Verbündeten dieser Meinung sind. Deswegen unterstützt auch die Bundesrepublik Deutschland
dies. Die Bundesregierung versucht weiterhin, dieses
Mandat in eine Standing Maritime Operation, also in
eine dauerhafte maritime Operation im Mittelmeer, zu
überführen. Das ist bedauerlicherweise aber noch nicht
gelungen. Deswegen schließen wir uns der Meinung der
anderen NATO-Partner an.
({0})
Im Übrigen möchte ich zu Bedenken geben, dass die
Aufgaben, die speziell für die deutsche Marine vorgesehen sind - militärische Präsenz im Mittelmeer zeigen,
für Aufklärung und Überwachung sorgen und ein gemeinsames Lagebild erstellen -, auch in der Vorstufe
einer ständigen maritimen Operation mehr als Sinn machen; denn der Umbruch in der arabischen Welt, der begrüßenswert ist - wir unterstützen all jene, die sich in der
Demokratiebewegung engagieren -, birgt auch Risiken,
die man heute noch nicht abschließend bewerten kann.
Der Ausgang dieses Prozesses ist offen. Wir können ihn
heute noch nicht endgültig feststellen. Eingedenk der Risiken macht natürlich die Präsenz unserer deutschen Marine dort im Rahmen der NATO mehr als Sinn.
({1})
Die Marine ist dort nicht - das ist im Ausschuss unterstellt worden - als potenzielle Eingreiftruppe im nördlichen Afrika eingesetzt. Wer das unterstellt, ist schief
gewickelt. Das ist überhaupt nicht der Fall. Sie lenken
mit dieser Unterstellung ein weiteres Mal davon ab, dass
wir in der Südflanke der NATO zur Überwachung und
Sicherstellung des ordentlichen Seeverkehrs schlicht und
ergreifend weiterhin gefordert sind.
({2})
Wie gesagt, leider erfolgt das noch nicht im Rahmen einer ständigen Präsenz der NATO, sondern aufgrund der
Verlängerung des Mandats, das seinerzeit kurz nach 9/11
erstmalig erteilt worden ist. Wir setzen diesen Einsatz in
dieser Struktur fort. Wenn man Active Endeavour in eine
ständige Mission überführen will, kommt man natürlich
um eine Beschreibung der zugrunde liegenden Szenarien
nicht herum.
({3})
Ich gebe den Rat, bei der Beschreibung konkreter Szenarien sehr vorsichtig zu sein. Es wäre aus diplomatischer
Sicht sinnvoll, sich hierbei am schon erteilten Mandat zu
orientieren.
({4})
Vor dem Hintergrund der bestehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen und aufgrund der Einbindung in das Bündnis - alle anderen Partner im Bündnis
sehen es genauso - halten wir es für geboten, den Einsatz um ein weiteres Jahr zu verlängern. Wir sollten uns
bemühen, es langfristig in eine Standing Maritime Operation zu überführen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. - Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Ulla
Schmidt. Bitte schön, Frau Kollegin Ulla Schmidt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
2003 war das Mandat zur Beteiligung an der US-geführten Operation Active Endeavour im Mittelmeer stets mit
der Beteiligung an der US-geführten Operation Enduring
Freedom verbunden. Bei Enduring Freedom sind Sie im
vergangenen Jahr zu der Entscheidung gekommen, dass
sich die Aktionsformen des internationalen Terrorismus
verändert haben und dass aus diesem Grund eine weitere
Beteiligung an der Operation nicht mehr gerechtfertigt
ist. Deshalb wurde beschlossen, dieses Mandat nicht zu
verlängern.
Bei der Einbringung des Antrags zur Verlängerung
dieses Mandats hat Herr Außenminister Westerwelle darauf hingewiesen, dass auch die Legitimation dieses
Mandats schwindet. Außenminister Westerwelle hat im
letzten Jahr bei der Einbringung des Antrags und der
Mandatsverlängerung gesagt, dass er die Zeit nutzen
will, um ein neues Konzept und eine neue Legitimationsbasis zu entwickeln. Wir hätten uns gewünscht,
dass er dies auch getan hätte. Wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten hätten sehr gerne daran mitgearbeitet.
Wer die Missionen vergleicht, der sieht, dass die Operation Enduring Freedom darauf abzielte, Terroristen
ausfindig zu machen, gefangen zu setzen und zu bekämpfen. Wir sind dort ausgestiegen, weil die Legitimation nicht mehr gegeben ist. Die Operation Active
Endeavour ist hingegen eine reine Beobachtungs- und
Überwachungsmission. Trotzdem ist im Antrag der Bundesregierung weiterhin von einer Bekämpfung von Terroristen die Rede; weiterhin wird die Operation Active
Endeavour mit einem robusten Mandat für den Einsatz
von bis zu 700 Soldatinnen und Soldaten ausgestattet. Es
fällt mir schwer, zu verstehen und logisch nachzuvollziehen, warum man zur Beobachtung und zum Austausch
von Informationen ein solch robustes Mandat braucht.
({0})
Frau Kollegin Ulla Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Joachim Spatz?
Eigentlich möchte ich jetzt weiterreden. Wir hatten
heute schon so viele Zwischenfragen.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie
sich einmal an, was die Bundesregierung selbst zur Terrorgefahr im Mittelmeerraum sagt: Sie sieht selber doch
schon seit langem keine neue Terrorgefahr oder terroristischen Aktivitäten mehr.
Ich muss auch einmal sagen - Herr Kollege Spatz, Sie
haben das auch wieder aufgebracht, und der Herr Staatssekretär Kossendey hat das bei der Einbringung gesagt -:
Es kann doch nicht sein, dass man jetzt als Argument für
das robuste Mandat einfügt, dass sich die Lage wegen der
Umbrüche, der Freiheitsbewegungen und der vielen Aktivitäten in den Ländern Nordafrikas verändert hat. Hier
- das wissen wir doch alle - haben wir keine militärischen Aufgaben zu erfüllen und geht es nicht um Terrorismusbekämpfung, sondern hier - dafür haben wir auch
die Programme - haben wir herausragende gesellschaftspolitische und zivile Aufgaben zu erfüllen. Es geht nicht
um Terrorismusbekämpfung.
({0})
Auch der Außenminister hat bei der Einbringung darauf hingewiesen, dass es Unsicherheiten gibt. Zu den
Unsicherheiten sage ich einmal Folgendes. Viele von
uns schauen dorthin und insbesondere auf die Demokratiebewegungen dort. Wir wissen, dass das kein Prozess
ist, der in 1, 2 Jahren beendet ist, sondern bei dem unsere
Unterstützung in den nächsten 10 oder 20 Jahren gefordert ist, damit die Möglichkeit gegeben ist, dass dort stabile und demokratische Regierungen eingesetzt werden.
Aber da geht es nicht um Terrorismus.
Seit Beginn des Mandats vor zehn Jahren wurden im
Mittelmeerraum keine terroristischen Aktivitäten festgestellt. Wir Sozialdemokraten können absolut nicht sehen,
dass sich das mit dem arabischen Frühling geändert
hätte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach den
Anschlägen von New York und Washington ist das
Recht zur kollektiven und individuellen Selbstverteidigung eine äußerst fragwürdige Begründung. Trotzdem
argumentiert die Bundesregierung immer wieder und so
auch in diesem Antrag mit Art. 5 des Nordatlantikvertrages und mit Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen.
Ich glaube, dass das nicht mehr trägt.
Dazu, dass von manchen das Argument kommt, dass
hier die Bündnistreue gefordert ist,
({1})
muss ich sagen: Es ist schon ein bisschen dünn, von
Bündnistreue zu reden, wenn die Legitimation und die
Ulla Schmidt ({2})
Begründung für ein Mandat nicht mehr da sind. Bündnistreue hat von uns auch niemand eingefordert, als wir
im letzten Jahr gesagt haben: An der Operation Enduring
Freedom beteiligen wir uns nicht mehr. - Aber ich gebe
zu, für mich ist es manchmal nicht nachvollziehbar,
wann dem Außenminister die Bündnistreue wichtig ist
und wann nicht. Aber darüber können wir ja ein anderes
Mal streiten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend
lässt sich festhalten: Es gibt keine aktuelle Terrorgefahr
oder terroristischen Aktivitäten im Mittelmeer, die über
dieses Mandat bekämpft werden müssen. Es gibt auch
keine Terroristen, die aufgespürt werden müssen, und
keine Terrorcamps, die vernichtet werden müssen.
({4})
Vielmehr gibt es ein auch in den Reihen der Bundesregierung und natürlich, wie wir wissen, in den Reihen der
Koalitionsfraktionen erkanntes Legitimationsproblem für
ein robustes Mandat nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags
und Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen. Deswegen sagen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Ja zu Aufklärung und Überwachung sowie dem Sammeln von Informationen, aber Nein zu dem vorliegenden
Antrag, und zwar ein klares Nein zu der unklaren Formulierung und zu der erneuten Vermischung von Operation
Active Endeavour und Operation Enduring Freedom im
Mandat und in der Begründung.
Die Bundesregierung hat leider die Chance vertan,
sich mit uns gemeinsam für ein neues Konzept einzusetzen, für eine sinnvolle Gestaltung und Einbettung des
Mandats auch im Sinne der Strategie der NATO. Deswegen, meine Damen und Herren, stimmen wir nicht zu.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Schmidt. - Jetzt
spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Robert Hochbaum. Bitte schön, Kollege Hochbaum.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 11. September 2001 um 8.46 Uhr amerikanischer Zeit geschah das Unfassbare: 2 977 Menschen,
darunter 30 Deutsche, starben bei dem bisher perfidesten
Terroranschlag, den die Welt je gesehen hat. Wir alle saßen damals fassungslos vor den Bildschirmen, und uns
allen sind sicherlich die apokalyptischen Bilder der einstürzenden Türme, der schreienden Menschen und der
weinenden Mütter und Kinder noch deutlich vor Augen.
Es sind Bilder des Terrors, die wir nie vergessen werden.
Diese Bilder sind unter anderem der Anlass, warum wir
heute erneut für eine Verlängerung der Operation Active
Endeavour stimmen. Denn das, was am 11. September
2001 geschah, war ein Angriff auf die gesamte freie Welt,
der nie wieder geschehen darf.
({0})
Lassen Sie mich anhand von vier Begriffen darstellen,
warum der Einsatz auch nach zehn Jahren aktuell ist und
unsere Zustimmung verdient, liebe Frau Schmidt.
Erstens: unsere Sicherheit. Das Mittelmeer, in dem
die Operation durchgeführt wird, ist nicht nur eine
Hauptader des internationalen Seeverkehrs. Nein, es hat
auch eine Scharnierfunktion und eine strategische Bedeutung, weil es zwischen den Kontinenten liegt. Die aktuelle Lage im nordafrikanischen Raum und die Umbrüche in der arabischen Welt zeigen uns gerade heute die
Instabilität dieser Region auf. Instabilität - das hat uns
die Vergangenheit gezeigt - ist oft Nährboden für Terrorismus. Darum ist es auch wichtig, dort schnell zu sicheren demokratischen Strukturen zu kommen, die eine solche terroristische Gefahr in Zukunft verhindern.
Wer aber glaubt, diese Gefahr sei schon gebannt, der
afrikanische Kontinent in Gänze friedlich und ohne terroristische Gefahr, der handelt meiner Meinung nach
ziemlich blauäugig und gefährdet die Sicherheit Europas
und damit natürlich auch die Sicherheit Deutschlands.
Nicht zuletzt deshalb ist der Auftrag, dem sich die Operation Active Endeavour widmet - ich wiederhole es
sehr gerne: Prävention durch Kontrolle, Abschreckung,
Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung -, von essenzieller Bedeutung für die Sicherheit unseres Landes.
({1})
Zweitens: die Bündnissolidarität. Frau Schmidt, die
Operation Active Endeavour ist die Art.-5-Operation der
NATO. Aus dieser internationalen Verantwortung heraus
stehen wir natürlich auch fest an der Seite unserer Partner.
({2})
Für die Beendigung dieses Bündnisfalles wäre es übrigens notwendig, dass die Mitgliedstaaten der NATO
feststellen, dass von diesem Gebiet keine Gefahr mehr
ausgeht und für dieses Gebiet keine Gefahr mehr besteht. Das, meine Damen und Herren, ist aber, wie ich
eingangs bereits erläutert habe, sicherlich nicht der Fall.
Deswegen halten die NATO-Partner an einer Weiterführung des Mandates fest, was wir hier und heute mit einer
großen Mehrheit ebenfalls tun sollten. Im Übrigen unterstreichen die kürzlich erneut verabschiedeten Resolutionen des UN-Sicherheitsrates abermals die Notwendigkeit dieses Einsatzes. Was will man da mehr, liebe Frau
Schmidt?
Drittens: die kooperative Sicherheit. Die Operation
leistet einen hervorragenden Beitrag nicht nur zur Zusammenarbeit der NATO-Staaten, sondern auch zur Zusammenarbeit mit Nicht-NATO-Staaten. Das ist ein sehr
wichtiger Punkt. Länder wie Russland, die Ukraine und
Marokko nehmen an der Operation teil. Das ist ein deutliches Signal und unterstreicht, dass es auch um die Sicherheit von Staaten außerhalb der NATO geht.
Als vierten und letzten Punkt möchte ich auf die Mandatierung eingehen und mich abermals an die Opposition
wenden. Dort hört man in letzter Zeit von Einzelnen, für
eine solche Aufgabe brauche man ja eigentlich gar kein
Mandat. Ich will Ihnen sagen: Sie wissen nicht, was Sie
wollen. Das eine Mal rufen Sie, wenn irgendwo ein Soldat mit einen Gewehr auftaucht, sofort nach einem Mandat, und hier wollen manche ohne Mandat Kriegsschiffe
im Mittelmeer patroullieren lassen, immer nach dem
Motto: Wie es uns gerade gefällt. Ich wünsche mir da
sehr oft eine klarere Linie. Für uns ist es selbstverständlich: Für diesen Auftrag, den wir für richtig und notwendig halten, benötigen wir ein Mandat des Deutschen
Bundestages.
({3})
Abschließend möchte ich es nicht versäumen, Dank
zu sagen: Dank an all unsere Soldatinnen und Soldaten,
die durch ihren Einsatz im Mittelmeer für die Sicherheit
unseres Landes, ja, für die Sicherheit aller friedfertigen
und friedliebenden Menschen sorgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Hochbaum. - Jetzt spricht für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang
Gehrcke. Bitte schön, Kollege Gehrcke.
({0})
Danke sehr. - Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich finde es schon bedrückend, dass man,
wenn man auf die heutige Tagesordnung des Bundestages schaut, sieht: Wir sollen heute drei Mandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr verlängern. Wenn man
das hier vor ein paar Jahren gesagt hätte, dann wäre man
als Spinner und absurder Denker bezeichnet worden.
Das ist aber die Realität geworden. Sie können es befremdlich finden, aber ich bin nach wie vor froh darüber,
dass meine Fraktion die Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen zurückholen will. Das ist meine politische
Position, und ich halte sie auch für begründet.
({0})
Beim Mandat für die Operation Active Endeavour
geht es ja um den Krieg gegen den Terror. Deswegen
lohnt es sich, besonders hinzuschauen. Ich halte die Außenpolitik der Bundesregierung für leichtgewichtig, aber
ich nehme sie trotzdem ein Stück weit ernst, und ich will
das auch mit diesem Mandat tun.
Die erste Begründung für das Mandat ist, dass der
Krieg gegen den Terror fortgeführt werden muss und
dass die Gefahr der terroristischen Anschläge von 2001
bis heute so erhalten geblieben ist. Das steht wörtlich in
der Mandatsbegründung. Sie können doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass sich bis jetzt, im elften Jahr,
überhaupt nichts geändert hat und dass die Vereinten Nationen nicht handlungsfähig sind. Sie tun so, als ob die
Welt stehen geblieben ist. Das ist niemals eine vernünftige Politik, und damit können Sie das Mandat nicht begründen.
({1})
Ich sage Ihnen dazu aber auch: Sie drücken sich auch
davor, sich den Krieg gegen den Terror einmal genauer
anzuschauen, der ja unter Bush und anderen vorangetrieben worden ist. Wir haben immer gesagt: Der Kampf gegen den Terror kann gewonnen werden, der Krieg gegen
den Terror aber niemals. Wenn Sie sich die Hauptbegründungen für diesen Krieg anschauen, dann sehen Sie,
dass nichts eingelöst wurde. Fragen Sie doch ganz einfach: Ist die Gefahr terroristischer Anschläge durch den
Krieg gebannt worden oder nicht? Sie ist nicht gebannt
worden. Damit argumentieren Sie ja selber.
({2})
Ich frage Sie ganz einfach: Wurde mit dem Krieg gegen
den Terror die Abrüstung vorangebracht? Auch das
nicht! Die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen
ausgeht, ist heute größer denn je. Ich frage Sie: Hat der
Krieg gegen den Terror wirklich zu mehr Demokratie
geführt, oder sind wir durch den Krieg gegen den Terror
so verändert worden, dass es weniger Demokratie gibt?
Ich glaube, Letzteres ist der Fall. Das heißt, mit Ihrer Begründung zeigen Sie: Der Krieg gegen den Terror ist ein
einziges Desaster. Man darf kein Mandat erteilen, das
darauf beruht.
({3})
Ich will Ihnen noch zwei andere Argumente vortragen, weil die Bundesregierung das Parlament und die
Öffentlichkeit mit ihren Anträgen ja immer täuscht.
Sie werden mit darüber entscheiden müssen, ob Art. 5
des Nordatlantikvertrages - Bündnisfall - weiterhin so
gehandhabt wird wie derzeitig. Sie wussten nicht, wie
man in den Bündnisfall einsteigt, und Sie wissen nicht,
wie man aus dem Bündnisfall aussteigt. Das ist doch inakzeptabel, und jetzt wollen Sie hier noch einmal die
Verlängerung beschließen. Ich nenne Ihnen einen ganz
einfachen Weg: Wenn Deutschland feststellt, dass der
Bündnisfall nicht mehr gegeben ist, dann ist nach den
NATO-Vereinbarungen der Bündnisfall aufgehoben. So
einfach kann das gehen, und zwar durch einen Beschluss
dieses Parlaments. Nur erklären müssen Sie es!
({4})
Zum Schluss will ich Ihnen doch noch einmal sagen:
Mich hat die ganze Begründung für diesen MittelmeerEinsatz sehr bedrückt. Es wird jetzt auch davon gesprochen, dass mit dem Mandat nebenbei eine neue NATOStrategie „Mittelmeer“ implementiert werden soll. Sie
wollen hier über etwas entscheiden, was hier kein Abgeordneter kennt. Entspricht es Ihrem parlamentarischen
Verständnis, dass man über etwas entscheiden soll, was
man nicht kennt? Ich sage Ihnen: Wenn ich über das Mittelmeer nachdenke, dann wird mir klar, dass das Mittelmeer für mich nicht mehr das Meer des Friedens, sondern ein Meer ist, in dem über 14 000 Menschen beim
Versuch, nach Europa zu kommen, ertrunken sind.
Das müssen Sie doch bedenken. Sie wollen mit diesem Mandat im Mittelmeer eine neue Militäraktion auch als Antwort auf den arabischen Frühling - in Gang
setzen. Das ist doch alles unverantwortlich. Deswegen
kann ein verantwortungsvoller Abgeordneter nur gegen
dieses Mandat stimmen.
Schönen Dank.
({5})
Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Omid
Nouripour. Bitte schön, Herr Kollege Nouripour.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, auch
zehn Jahre nach 9/11 gibt es eine terroristische Bedrohung. Ja, diese Bedrohung betrifft auch das Mittelmeer.
Ja, man muss dagegen etwas tun.
Trotzdem ist die Auslandsmission, über die wir heute
hier abstimmen, diejenige in der Geschichte der Bundeswehr, über die am kontroversesten diskutiert wird. Es
gab noch nie die Situation, dass die Regierung ein Mandat tatsächlich gegen die Stimmen der Opposition durchdrücken musste. Da stellt sich die Frage, warum das
diesmal so ist.
Sie bringen drei Argumente für dieses Mandat.
Argument eins: Die USA stehen seit zehn Jahren kontinuierlich unter Angriff. - Da scheinen Sie in den letzten vier oder fünf Jahren etwas erlebt zu haben, was wir
anscheinend verpasst haben. Das ist schlicht absurd.
({0})
Das zweite Argument ist nicht absurd, das ist krude:
Sie sagen, es gibt nun einmal einen arabischen Frühling.
Wir haben zwar zu dem entscheidenden Zeitpunkt im Januar, als es darum ging, sich auf die Seite der Menschen
auf dem Tahrir-Platz zu stellen, das nicht gemacht, aber
jetzt brauchen wir etwas anderes, also schicken wir Fregatten.
({1})
Das ist krude.
Das dritte Argument, das Sie nennen, lautet: Sie sind
gescheitert. Herr Spatz hat mehrfach gesagt: Wir wollten
dies, wir wollten jenes, wir wollten das Mandat so nicht,
aber auf uns hört halt niemand. - Dieses Mandat ist ein
Zeugnis des Scheiterns dieser Bundesregierung im
Bündnis und in der gesamten Außen- und Sicherheitspolitik. Deswegen können wir dem nicht zustimmen.
({2})
700 Soldatinnen und Soldaten und zwei Fregatten für
die Überwachung im östlichen Mittelmeer inklusive eines Kombattanten-Mandats - das macht überhaupt keinen Sinn. Es macht auch keinen Sinn, U-Boote zu schicken, um Ausbildungslager der Terroristen zu zerstören.
Ich verstehe das nicht einmal technisch. Ich glaube, dass
Sie es selbst auch nicht verstehen.
Angesichts dessen brauchen Sie sich aber auch nicht
zu wundern, dass Sie bei der Abstimmung über ein solches Mandat keine Zustimmung über die Fraktionsgrenzen hinweg bekommen; dann brauchen Sie sich nicht zu
wundern, wenn es eine Polarisierung gibt, die die Bundeswehr und die Menschen, die wir dorthin schicken,
nicht verdient haben.
({3})
Die Frage ist: Wann kommt die Bundesregierung
dazu, die Außen- und Sicherheitspolitik in Form konkreter Gestaltungen voranzutreiben? Wann gibt es Vorschläge der Bundesregierung für eine Weltsicherheitsarchitektur in einem neuen Zeitalter? Es ist immer wieder
die Rede von der Standing Defense Structure. Darüber
kann man reden, aber wo wird der Vorschlag eigentlich
vorangebracht?
Herr Kollege Gehrcke, die Frage, wie man den Bündnisfall aufhebt, ist ziemlich einfach zu beantworten: einstimmig beschlossen muss einstimmig wieder aufgehoben werden. Dafür muss aber irgendjemand die Stimme
erheben. Irgendjemand muss in den NATO-Rat gehen
und sagen: Wollen wir nicht einmal darüber nachdenken? Sie tun es nicht, obwohl Sie es besser wissen, weil
Sie ganz genau wissen, dass in der Allianz und in der
westlichen Welt niemand mehr auf Sie hört und niemand
mehr Ihre Außenpolitik ernst nimmt.
({4})
Deshalb kommen Sie mit keinem einzigen konkreten
Vorschlag, wie man an dieser Stelle vorankommen kann.
Das Problem ist, dass es nicht nur im Bündnis so ist.
Es ist auch innerhalb der eigenen Koalition so. In der
letzten Woche sagte der Außenminister, dass eine Militäroption gegenüber dem Iran nicht existiere. Heute sagt
der außenpolitische Sprecher der Mehrheitsfraktion exakt das Gegenteil. Gibt es da ein Widerwort? Nein, er
kann sich das erlauben, weil die Stimme dieses Außenministers sowieso kein Gewicht mehr hat, also sowieso
niemand mehr auf das hört, was er sagt. Das ist im Augenblick das Besorgniserregende, dass nur derjenige,
dessen Stimme das kleinste Gewicht hat, einen solchen
Militärschlag ausschließt.
({5})
Die Stärkung des internationalen Rechts ist der größtmögliche Beitrag, den auch die Bundesrepublik Deutschland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus
leisten kann. Mit einem Mandat auf so - milde gesagt wackligen rechtlichen Beinen tun Sie genau dieses nicht,
sondern Sie beschädigen das Rechtssystem auf internationaler Bühne. Damit verhindern Sie, dass es hier ein
breiteres Mandat für diese Mission gibt. Wir können dem
nicht zustimmen.
({6})
Vielen Dank. - Bevor ich dem letzten Redner in unserer Debatte das Wort erteile, darf ich darum bitten, dass
wir auch ihm die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat unser
Kollege Dr. Wolfgang Götzer. Bitte schön, Kollege
Götzer.
({0})
Herr Präsident, vielen Dank für diese vorausgeschickten Worte. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die internationale Staatengemeinschaft hat die Operation
Active Endeavour der NATO als Reaktion auf den
11. September 2001 ins Leben gerufen. Dieser terroristische Angriff auf die USA hat bekanntlich erstmals seit
Bestehen der NATO den Bündnisfall gemäß Art. 5 des
Nordatlantikvertrages ausgelöst.
Der deutsche Beitrag zur OAE besteht in der Unterstützung der Seeraumüberwachung und der Terrorismusbekämpfung im Mittelmeer durch Einheiten der deutschen Marine. Auch nach zehn Jahren ist OAE für
Frieden, Sicherheit und Stabilität in der derzeit instabilen Mittelmeerregion unverzichtbar. Daher stimmen wir
einer Verlängerung der Operation bis zum 31. Dezember
2012 zu.
Seit nunmehr zehn Jahren leistet die Bundeswehr im
Rahmen von OAE einen wichtigen Beitrag zur maritimen Sicherheit im Mittelmeerraum. Im Einsatz sind
meistens Fregatten, aber auch U-Boote und AWACS.
Die Zahl unserer Soldatinnen und Soldaten beträgt derzeit insgesamt bis zu 700. Allen, die dort bereits Dienst
geleistet haben oder Dienst leisten, möchte ich an dieser
Stelle einmal mehr unseren Dank aussprechen.
({0})
Einen Einsatz über ein Jahrzehnt in diesen Dimensionen zu unterstützen, zeugt von unserer Solidarität mit
der NATO und den Vereinigten Staaten. Mit OAE senden wir nicht nur ein wichtiges Signal an die NATO,
dass wir für kollektive Verteidigung nach Art. 5 des
Nordatlantikvertrages bereitstehen, und zwar nicht nur
kurzfristig, sondern eben auch, wenn es die Umstände
erfordern, über ein Jahrzehnt hinweg. Mit OAE zeigen
wir des Weiteren auch den USA, dass wir auch zehn
Jahre nach den verheerenden Anschlägen bereit sind, unserem transatlantischen Partner im Kampf gegen den
Terror zuverlässig zur Seite zu stehen.
Terrorismus ist weiterhin eine der größten Herausforderungen für die internationale Staatengemeinschaft.
Seit 2001 hat der Sicherheitsrat in Resolutionen regelmäßig die Notwendigkeit betont, den internationalen
Terrorismus umfassend zu bekämpfen. Diesen Kampf
können wir nur gemeinsam gewinnen und nur - das ist
leider so - unter Einbeziehung militärischer Kräfte.
Die OAE ist dazu ein wichtiger Beitrag. Durch den
fortgesetzten Einsatz von See- und Seeluftstreitkräften
wehrt OAE terroristische Aktivitäten ab und schafft zugleich die Voraussetzungen zu deren effizienter Bekämpfung. Dabei begegnet die NATO dem internationalen Terrorismus durch einen zunehmend netzwerkbasierten
Ansatz mit einem Schwerpunkt auf Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung.
Als letztes Mittel sieht das OAE-Mandat auch den
Einsatz von militärischer Gewalt vor. Gemäß dem Parlamentsbeteiligungsgesetz ist für diesen Einsatz unsere
Zustimmung nötig. Mit unserem Votum für eine erneute
Mandatsverlängerung müssen wir auch die Verantwortung für etwaige Fälle, in denen ein Einsatz militärischer
Gewalt unerlässlich ist, übernehmen. Wir tun dies, damit
OAE auch in Zukunft Stabilität im Mittelmeer gewährleisten kann.
({1})
Aktuell ist der Beitrag der Operation insbesondere
vor dem Hintergrund der schwierigen Sicherheitslage an
den Küsten Nordafrikas unverzichtbar. Darüber hinaus
hat OAE während des NATO-Einsatzes gegen das
Gaddafi-Regime einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der NATO-Operation Unified Protector zum
Schutz der libyschen Zivilbevölkerung durch Bereitstellung von Informationen und Sicherung des freien Seeverkehrs leisten können. Somit ist OAE ein zuverlässiger Garant von Sicherheit und Stabilität in Zeiten des
Umbruchs in der arabischen Welt. Darüber hinaus ist
OAE offen für die Beteiligung von Drittstaaten, vor allen Dingen den Partnerstaaten des Mittelmeerdialogs der
NATO, wie beispielsweise Marokko.
Für die Zukunft ist zu prüfen, ob OAE im bisherigen
Rahmen weitergeführt werden soll oder in ständige
NATO-Operationen überführt werden kann. Dies erörtert
die Bundesregierung zurzeit mit den NATO-Bündnispartnern. Bis zu einer Entscheidung hierüber ist die Fortführung der Operation auf Grundlage des aktuellen
Mandats aus bündnispolitischen und aus sicherheitspolitischen Erwägungen aus unserer Sicht notwendig. Deshalb werden wir der Verlängerung zustimmen.
({2})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes
bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung
der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe
gegen die USA. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/7995, den Antrag
der Bundesregierung auf Drucksache 17/7743 anzuneh-
men.
Wir werden nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich abstimmen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an
Vizepräsident Eduard Oswald
den Urnen alle besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne
ich die Abstimmung.
Ich frage jetzt, nachdem ich ein Signal erhalten habe,
dass möglicherweise schon alle abgestimmt haben: Ist
noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich darf Sie bitten, Ihre Plätze wieder einzunehmen.
Wir wollen schließlich allen folgenden Rednern die notwendige Aufmerksamkeit schenken.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Petra Pau, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mindestens 137 Todesopfer rechter Gewalt in
der Bundesrepublik Deutschland seit 1990
- Drucksachen 17/5303, 17/7161 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Debatte ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Petra Pau. Bitte schön, Kollegin Pau.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe noch die entsetzten Gesichter in Erinnerung, als die
Nazi-Mordserie der sogenannten Zwickauer Zelle publik
wurde. Entsetzen auch hier im Bundestag, quer durch
alle Fraktionen. Wir sollten uns dieses Innehalten bewahren und nicht gleich wieder ins politische KleinKlein verfallen.
({0})
Ich finde, das sind wir auch allen Opfern und ihren An-
gehörigen schuldig, zumal viele Fragen weiterhin offen
sind. Deshalb hat die Linke diese Debatte heute auf die
Tagesordnung setzen lassen.
Es geht um die Frage, wie viele Menschen in
Deutschland seit 1990 von Nazis getötet wurden. Die
Recherche seriöser Journalisten belegt 138 Todesopfer.
Hinzu kommen aktuell die 10 Morde der Nazi-Zelle; da-
mit sind es also insgesamt 148. Das sind erschreckende
Zahlen.
Die Bundesregierung verharrt auf Nachfrage der Lin-
ken bei der Aussage: 48 Todesopfer. Diese Differenz ist
1) Ergebnis Seite 17387 C
gravierend. Die Bundesregierung verweist in ihrer Antwort lapidar auf die Angaben der Landesregierungen.
Sie könnte auch auf die Berichte aller Ämter für Verfassungsschutz verweisen. Stets wurde verneint, dass es
systematische rechtsextreme Gewalt oder gar Nazi-Terror gebe. All das gehört mit zum Problem.
Wir haben offenbar eine gravierende Fehlstelle in der
offiziellen Wahrnehmung rechtsextremer Gewalt.
({1})
Das wiederum bedeutet: Ist die Analyse falsch, dann ist
auch alles falsch, was darauf fußt.
Deshalb wiederholt die Linke ihre Forderung: Wir
brauchen endlich eine parteipolitisch unabhängige Beobachtungsstelle gegen Rechtsextremismus, Rassismus
und Antisemitismus.
({2})
Zu den übergeordneten Fragen gehört auch die nach
der Rolle der V-Leute und damit nach dem Beitrag des
Staates bei der Duldung oder gar Unterstützung rechtsextremer Strukturen und gewalttätiger Nazis. Spätestens
jetzt dürfte doch klar geworden sein: V-Leute sind keine
netten Informanten, sondern gekaufte Spitzel und gewalttätige Täter. Deshalb fordert die Linke: V-Leute sind
abzuschalten, und zwar unverzüglich und alle.
({3})
Die offenen Fragen betreffen nicht nur Versäumnisse
oder Beihilfen von Landesbehörden in Thüringen, Sachsen, Niedersachsen oder Hessen, sondern auch von Bundesbehörden. Auch diese Fragen müssen geklärt werden,
allerdings nicht durch ein handverlesenes Trio des Bundesinnenministers. Das nährt nur den Verdacht, dass etwas vertuscht oder verdrängt werden soll. Die Aufklärung muss unvoreingenommen, transparent und radikal
erfolgen.
({4})
Auch deshalb sollten endlich zivilgesellschaftliche
Initiativen zurate gezogen werden. Sie sind offensichtlich kompetenter als die meisten Behörden. Wir sollten
sie endlich stärken und nicht länger verprellen. Der
Kampf gegen Rechtsextremismus wird in der Zivilgesellschaft gewonnen - oder verloren. Da hilft auch kein
Ad-hoc-Aufstand. Dazu gehört ein langer Atem aller
Anständigen und aller Zuständigen.
({5})
Ein letzter Satz, Herr Präsident. Es gibt inzwischen
den Bericht einer unabhängigen Expertenkommission
zum Antisemitismus. Darin kommt man zu dem Schluss:
Es fehlt an einem politischen Gesamtkonzept im Kampf
gegen Antisemitismus. Das gleiche Manko haben wir
beim Rechtsextremismus. Die falschen und auch verengPetra Pau
ten Zuständigkeiten der Bundesregierung gehören dazu.
Kurzum, diese großen Fragen verlangen nach anderen
Antworten, jedenfalls vertragen sie nicht kleine Antworten, wie es die Antwort der Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage ist.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen bekannt geben das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der soeben durchgeführten namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag
der Bundesregierung „Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen
die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der
Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 ({0}) und 1373
({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen“: abgegebene Stimmen 560. Mit Ja haben gestimmt 307, mit
Nein haben gestimmt 253, Enthaltungen keine. Die Beschlussempfehlung ist also angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 559;
davon
ja: 306
nein: 253
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({2})
Manfred Behrens ({3})
Veronika Bellmann
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
({4})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({5})
Dirk Fischer ({6})
Axel E. Fischer ({7})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({8})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({9})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({10})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({11})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({12})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Willi Zylajew
SPD
Hans-Ulrich Klose
Marianne Schieder
({23})
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({24})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Miriam Gruß
Joachim Günther ({25})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({26})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({27})
Michael Link ({28})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({29})
Dr. Martin Neumann
({30})
Hans-Joachim Otto
({31})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({32})
Dr. Daniel Volk
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({33})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({34})
Gerd Bollmann
Bernhard Brinkmann
({35})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({36})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({37})
Hubertus Heil ({38})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({39})
Frank Hofmann ({40})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({41})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({42})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({43})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({44})
Michael Roth ({45})
({46})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({47})
Werner Schieder ({48})
Ulla Schmidt ({49})
Silvia Schmidt ({50})
Carsten Schneider ({51})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({52})
Ewald Schurer
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({53})
Raju Sharma
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({54})
Volker Beck ({55})
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({56})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({57})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär
Ole Schröder das Wort.
({58})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir alle sind noch immer betroffen, dass es bei
uns in Deutschland möglich war, dass eine rechtsextremistische Terrorzelle zwischen 2000 und 2007 mutmaßlich zehn Morde beging und weitere Taten verübte, die
Menschenleben gefährdet haben. Es ist abscheulich,
wenn Menschen zur Projektionsfläche eines rassistischen, menschenverachtenden Weltbildes werden, und
es macht uns sprachlos, wenn Menschen deswegen ihr
Leben lassen müssen. Eines ist klar - darüber sind wir
uns ebenfalls alle einig -: Unabhängig von der Statistik,
über die wir heute sprechen, ist jedes Opfer rechtsextremer Gewalt eines zu viel.
({0})
Die Linke versucht nun, zu unterstellen, dass die Verantwortlichen in den Ländern und im Bund das Phänomen kleinrechnen oder gar verschleiern. 47 Todesopfer,
die die offiziellen Stellen von 1990 bis zum 31. Januar
2011 gezählt haben - mittlerweile sind es aufgrund der
neuesten Erkenntnisse 58 Todesopfer -, werden 137 Todesopfer rechtsextremer Gewalt nach der Zählweise von
Journalisten der Zeit und des Tagesspiegels gegenübergestellt.
Ich möchte hier noch einmal erwähnen, dass auch in
dieser Statistik nicht die zehn Todesopfer mitgezählt
werden, die es nach den neuesten Erkenntnissen gab; sie
müssen jetzt natürlich auch in die Statistik aufgenommen werden.
Dabei zeigt das nur eines: Bei der statistischen Erfassung eines solchen Phänomens gibt es nie die richtige
Lösung. Keine Statistik ist in der Lage, ein objektiv unangreifbares Bild zu zeichnen.
({1})
Derzeit ist bei der Erfassung das konkrete Tatmotiv
relevant. Das Erfassungssystem ist übrigens 2001 von
der damaligen rot-grünen Regierung mit den Ländern
vereinbart worden. Es wird seitdem so fortgeführt, immer wieder evaluiert und angepasst. Wir haben es hierbei mit einer Eingangsstatistik zu tun. Das ist notwendig,
damit den Sicherheitsbehörden sofort bekannt ist, mit
welchen Straftaten wir es zu tun haben. Diese Eingangsstatistik kann dann im Laufe der weiteren Ermittlungen
und auch durch die Erkenntnisse, die im Gerichtsverfah17390
ren zutage treten, korrigiert werden. Deshalb sind jetzt
auch die neuen Erkenntnisse in die Statistik mit eingeflossen.
Der Grund für ein solches System zur Analyse des
konkreten Tatmotivs liegt vor allem darin, dass eine
reine Zuordnung des Täters zu einem bestimmten Milieu, zum Beispiel zum rechtsextremen Milieu, keine
eindeutigen Schlüsse zulässt. Denn gerade in diesem
braunen Milieu, um das es in dieser Anfrage geht, haben
wir es eben auch mit erheblicher Allgemeinkriminalität
zu tun. Im Bereich rechtsmotivierter Straftaten sind über
50 Prozent der Täter vorher schon durch allgemeinkriminelle Delikte aufgefallen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deshalb die
Beurteilung der Bekämpfung von rechtsextremer Gewalt
nie allein an Statistiken festmachen.
({2})
Vor allem muss es darum gehen, das hinter diesen erschreckenden Zahlen stehende Phänomen zu erkennen,
zu verstehen und zu bekämpfen. Darauf kommt es an. Es
geht darum, dass jeder Mensch in unserem Land, ungeachtet seiner Hautfarbe, seiner Religion, seiner politischen Einstellung und seiner sexuellen Ausrichtung, vor
solch verabscheuungswürdiger Gewalt sicher ist.
({3})
Deshalb ist es wichtig, dass Erkenntnisse über gefährliche Personen und Gruppen künftig systematisch ausgetauscht werden können, dass Ermittlungen besser koordiniert werden können, dass wir die Szene und ihre
Protagonisten noch genauer auf mögliche Gewaltpotenziale hin durchleuchten können. Nur so können wir die
Informationsverluste und die Koordinierungsprobleme,
die jetzt bei den Ermittlungen zutage getreten sind, künftig verhindern, und nur so können wir rechtsextreme Gewalt konsequent verfolgen oder - noch besser - verhindern.
Dafür ist es auch wichtig, dass wir den Sicherheitsbehörden die notwendigen Instrumentarien an die Hand geben. Wir sind schon einige Schritte weiter. Wir wollen
die Führungskompetenz des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wie wir es bereits im Bereich des islamistischen Terrorismus haben, weiter stärken. Wir wollen
eine Gesetzesänderung dahin gehend auf den Weg bringen, dass weitergehende Informationen über Rechtsextremisten eingestellt und abgerufen werden können,
und dies eben nicht nur bei gewaltbereiten, sondern auch
bei sonstigen. Wir brauchen eine Verbunddatei, damit
keine einzige Information verloren geht. Deshalb brauchen wir auch ein gemeinsames Abwehrzentrum, wie
wir es bereits im Bereich des islamistischen Terrorismus
haben.
Meine Damen und Herren, keine Information darf bei
der Verfolgung von solchen abscheulichen Straftaten
verloren gehen.
({4})
Deshalb ist es wichtig, dass wir auch die Hürden, die es
im Bereich des Föderalismus gibt, überwinden.
({5})
Aber natürlich ist es auch wichtig, dass wir dieses Phänomen in Statistiken sehr deutlich erfassen. Das machen
wir weiterhin. Wir analysieren natürlich auch die Dinge,
die jetzt zutage treten, und prüfen, ob sie Auswirkungen
auf notwendige Korrekturen haben.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Was aber überhaupt nicht weiterhilft, ist der gegenseitige Vorwurf, dass die jeweils andere Seite irgendetwas
verschleiern wolle. Wichtig ist, dass wir das Phänomen
richtig beschreiben und gemeinsam dagegen vorgehen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Grundlage der Großen Anfrage der Linken sind die in
der Zeit und im Tagesspiegel veröffentlichten Zahlen der
Opfer rechter Gewalt. Dabei handelt es sich nicht nur um
eine Aufzählung, um Statistik, sondern es ist die Beschreibung von brutalen Angriffen, von Gewaltexzessen,
von Tötung und Mord quer durch die Republik.
137 Menschen sind von 1990 bis September 2010
grausam umgebracht worden. Mut-gegen-rechtegewalt.de nennt 182 Opfer, bei denen die Täter rechtsextremistische Motive hatten. Die polizeiliche Kriminalstatistik nennt für den gleichen Zeitraum die schon genannten 48 Opfer. Diese Differenz, Herr Schröder, haben
Sie zwar zu erklären versucht; aber Sie haben nicht gesagt, dass man sie auch so weit wie möglich reduzieren
muss.
({0})
Spätestens seitdem bekannt ist, dass eine rechte Terrorzelle über zehn Jahre lang unentdeckt gemordet und
geraubt hat, müssen wir feststellen, dass wir keine realistische Lageeinschätzung rechtsextremistischer Bedrohungen haben, weder bei den Sicherheitsbehörden noch
in der Öffentlichkeit noch in der Politik. Wir müssen davon ausgehen, dass das Dunkelfeld rechter Gewalt noch
größer ist; denn nicht jeder Angriff geht tödlich aus,
nicht jede Einschüchterung und Bedrohung wird zur Anzeige gebracht. Trotz Anpassung und Differenzierung
der Kriterien für die Einstufung als Straftaten mit rechter
Motivation bleibt - das beschreiben Sie richtig in der
Anfrage - der rechtsextremistische Hintergrund einer
Tat oft im Dunkeln, weil die Motive verschleiert werden,
weil sich das Motiv erst im Laufe der Ermittlungen zeigt
oder weil die Tat falsch zugeordnet wird.
Zu lange ist verharmlost worden, ist man von verwirrten Einzeltätern ausgegangen, ist die zugrunde liegende
Ideologie nicht ernst genommen worden. Diese zugrunde liegende Ideologie rechter Gefahr und Gewalt ist
die Ideologie der Ungleichwertigkeit von Menschen.
Diese Ideologie ist es, die zu Fremdenhass, Rassismus,
Antisemitismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Gewalt führt. Diese Ideologie wird im Internet,
in Musiktexten, in Flugblättern, in Parolen verbreitet.
Sie kursiert in der rechtsextremistischen Szene, in Kameradschaften und in der NPD. Sie zeigt sich bei Aufmärschen, Demonstrationen und leider auch in einigen
Landtagen. Sie macht sich eben nicht nur in den Randgruppen breit, sondern, wie Studien von Heitmeyer und
der Friedrich-Ebert-Stiftung belegen, auch in der Mitte
der Gesellschaft.
({1})
Es geht um mehr als die statistische Erfassung von
Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund. Wir
brauchen eine Strategie des Zurückdrängens, der Ächtung und der Abgrenzung zu rechtsextremen Einstellungen.
({2})
Wir brauchen die lückenlose Aufklärung der Ermittlungspannen, der Fehleinschätzungen und Konsequenzen aus der fehlenden Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden. Wir brauchen eine Demokratieoffensive
mit Verstetigung und Nachhaltigkeit von Programmen
zur Demokratieförderung. Wir brauchen eine Stärkung
und Unterstützung der Kommunen und Regionen, in denen Neonazis Alltag und Meinungsführerschaft bestimmen. Wir brauchen eine Verständigung über eine
Gesamtstrategie gegen Rechtsextremismus und menschenfeindliche Einstellungen, die Bund, Länder, Kommunen, Behörden, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften,
Arbeitgeberverbände und die Zivilgesellschaft mit einbezieht. Dafür brauchen wir einen langen Atem. Wir
müssen daran arbeiten, auch wenn die Berichterstattung
in den Medien sich längst wieder anderen Themen zuwendet.
Danke.
({3})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enthüllungen in den letzten Tagen haben das Vertrauen der
Bevölkerung in die Arbeit der Sicherheitsbehörden
nachhaltig geschädigt. Es gab bereits - vornehmlich in
rot-grüner Regierungszeit - erkennbare erhebliche, fast
unfassbare Fehler und Versäumnisse der Sicherheitsbehörden.
Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch
auf eine lückenlose politische Aufklärung dieses braunen Sumpfes. Der Generalbundesanwalt hat richtigerweise die Ermittlungen über Ländergrenzen hinweg an
sich gezogen. Er ermittelt zentral die gesamten Zusammenhänge.
Neben der juristischen und kriminalistischen Aufklärung brauchen wir aber auch die Aufklärung durch eine
gemeinsame politische Stelle, die eine politische Bewertung vornimmt und das Ganze kontrolliert. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass wir das hier im
Deutschen Bundestag tun. Aufgrund der fehlenden Koordination haben die Länder nebeneinanderher gearbeitet. Es ist deshalb geradezu unverantwortlich, wenn sich
die Innenminister der Länder nun weigern, ihren Beitrag
zur politischen Aufarbeitung zu leisten.
({0})
Darüber hinaus stellt sich im konkreten Fall die Frage
nach der besseren Vernetzung der Sicherheitsbehörden.
Deshalb weisen die Vorschläge des Bundesinnenministers in Bezug auf ein gemeinsames Abwehrzentrum und
die Zusammenführung von Daten durchaus in die richtige Richtung. Das Nebeneinander der Sicherheitsbehörden und die unverhohlene Verteidigung von Ressortegoismen müssen der Vergangenheit angehören.
({1})
Wir brauchen eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung der Länder.
Meine Damen und Herren, die Linke geht in ihrem
Antrag aus meiner Sicht unseriös mit den Zahlen um und
legt bei ihren Bewertungen keine rechtsstaatlichen Maßstäbe zugrunde. Nur so kommt sie auf eine Zahl von
über 100 Extremismusopfern in den vergangenen mehr
als zwei Jahrzehnten. Die Bundesregierung zählt nur die
Straftaten als rechtsextrem, die gerichtlich als solche
verurteilt wurden.
({2})
Die Linken wollen stattdessen ein Gesinnungsdenunziantentum, das die linke Szene anhand der rechtsextremen Straftaten hoffähig machen soll.
({3})
Das bestätigt noch einmal mehr: Antifaschismusarbeit
ist seit jeher Kernelement linksextremistischer Aktivität.
({4})
Hartfrid Wolff ({5})
Es gibt viele seriöse unabhängige Organisationen gegen den Rechtsextremismus. Diese unabhängigen Organisationen, wie zum Beispiel die Kirchen, müssen wir
stärken. Aber der Kampf der Extremisten der einen Seite
hat schon immer den Extremisten der anderen Seite als
Vorwand und Rechtfertigung gedient.
({6})
Demokraten sollten - und das zeigt Weimar - auf keiner
der beiden Seiten zum Trittbrettfahrer werden.
({7})
Wir brauchen keine linksextreme Unterstützung im
Kampf gegen Rechtsextreme.
({8})
Es hat keinen Sinn, rechten gegen linken oder muslimisch motivierten Extremismus auszuspielen.
({9})
Ich würde es begrüßen, wenn Demokraten jeglicher
Couleur gemeinsam gegen Extremismus jeglicher Couleur zusammenstünden und die gleichen Maßstäbe auf
alle Gegner unserer Verfassung anwenden würden.
({10})
Das Wort hat nun Monika Lazar für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss sagen: Mir hat es nach Ihrem Redebeitrag die Sprache verschlagen.
({0})
Das ist bodenlos! In der aktuellen Situation und nach der
guten Debatte vor einer Woche hier im Bundestag diskreditiert das nicht nur Sie und Ihre Fraktion, sondern
alle, die genauso denken.
({1})
Es ist unmöglich! Wie können Sie sich hier hinstellen
und so etwas sagen? Ich bin ebenso wie alle hier für ein
breites Bündnis aller Demokraten. Vor einer Woche haben wir es geschafft: in Form eines gemeinsamen Antrags mit allen Fraktionen.
({2})
Jetzt versuchen Sie wieder, die Demokraten zu spalten,
und das in dieser Situation. Ich finde das unverantwortlich!
In der Öffentlichkeit sind unterschiedliche Zahlen genannt worden: Die Amadeu-Antonio-Stiftung spricht
von 182 Toten, die Zeit und der Tagesspiegel sprechen
von 148 Toten. Das alles sind gut recherchierte Zahlen.
Sie können nicht einfach unterstellen, dass das von irgendwelchen antifaschistischen Extremisten kommt.
Das ist wirklich - wie gesagt, mir fehlen die Worte ({3})
einfach unerhört.
({4})
Die Bundesregierung kommt auf 48 Opfer und hat
jetzt die 10 dazugezählt; es sind jetzt also 58. Bei Ihrem
Redebeitrag hat man gemerkt, dass man sensibilisiert
sein muss.
({5})
Wenn die Sensibilität fehlt, werden die Zahlen nicht anerkannt. Deshalb ist es wichtig, dass alle Stellen, die damit zu tun haben - das gilt auch für Sie -, geschult werden,
({6})
damit sie erfahren, wie es in Bezug auf dieses Gedankengut vom Denken zum Handeln kommt. Wie gesagt,
ich bin wirklich erschüttert.
Insbesondere im Hinblick auf die Zwickauer Zelle
- da sind wir uns wahrscheinlich einig - muss es Aufklärung geben. Dabei nützen aber solche Ausführungen,
wie Sie sie hier kundgetan haben, überhaupt nichts.
Nicht nur die Rechtsextremisten, sondern insbesondere
die Rechtspopulisten verschärfen das Problem. Ihre
Rede ging ganz klar in diese Richtung.
({7})
- Doch, das ist so. Ich empfinde es so. Sie lenken von
dem Problem ab, und Sie verhöhnen die Opfer.
Zum Abschluss möchte ich noch einige Beispiele aus
meinem Heimatland Sachsen nennen: Am 1. Mai 2008
wurde eine Gruppe alternativer Jugendlicher in Stolpen
in der Sächsischen Schweiz angegriffen. Mehrere Neonazis verletzten sie schwer mit Knüppeln und Faustschlägen. Bis heute - dreieinhalb Jahre nach dem
Angriff - ist keiner von ihnen vor Gericht gekommen,
obwohl allesamt bekannte Neonazis sind. Einer der Angreifer, Mirko H., war bis mindestens 2002 V-Mann des
Verfassungsschutzes. Er ist ein maßgeblicher Führungskader des Netzwerkes „Hammerskins“, hat eine Firma
namens „Hate Records“ und vertreibt Hass-CDs. Vermutet wird, dass er auch mit dem Terrortrio aus Zwickau in
Verbindung stand. Es ist beschämend, dass die Täter immer noch frei herumlaufen, während sich die Opfer auch
heute noch unwohl und unsicher fühlen.
({8})
In Leipzig gab es vor einem Jahr einen rassistischen
Mord an einem jungen Iraker namens Kamal K. Es dauerte eine ganze Weile, bis auch die Justiz anerkannte,
dass er Opfer rassistischer Gewalt wurde. In der Urteilsbegründung wurde angeführt: „Er hat das Opfer nicht als
Mensch gesehen, sondern als Ausländer, den man töten
kann.“
Lebenslange Haft bekam auch der Mörder von
Marwa al-Schirbini aus Dresden. Dieser tragische Vorfall ist Ihnen allen sicherlich noch in Erinnerung. Marwa
al-Schirbini hatte den Täter, der sie beschimpft hatte,
wegen Beleidigung verklagt. Sie wurde im Gericht erstochen, und ihr Ehemann wurde lebensgefährlich verletzt.
Es ist traurig, dass die Debatte immer nur dann wiederaufgenommen wird, wenn etwas so Furchtbares geschieht. Ich finde es wichtig, dass wir unsere Arbeit in
der Demokratie auf möglichst breiter Basis voranbringen. Wir sollten eine nachhaltige bundesweite Gesamtkonzeption entwickeln. Dazu gehört auch, dass die
Reform der Ermittlungsbehörden unter die Lupe genommen wird. Nicht förderlich ist es, die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die wir mehr denn je brauchen, weiterhin mit der Extremismusklausel, die von Ministerin
Schröder und anderen Unbelehrbaren immer noch aufrechterhalten wird, zu knebeln.
Weiterhin ist es wichtig, dass wir jeder Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit besonders in
der Mitte der Gesellschaft entgegentreten. Wir brauchen
mehr Aufklärung, Prävention und Kooperation. Das sind
wir dem Schutz unserer Demokratie und dem Schutz der
Menschenwürde schuldig.
Danke.
({9})
Das Wort hat nun Helmut Brandt für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Mehrfach ist schon dargestellt worden, weshalb wir uns heute hier unterhalten. Es geht tatsächlich um eine große Diskrepanz - das ist unbestreitbar -, was die Zahlen angeht. Nach meiner Auffassung
ist in der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage schon hinreichend deutlich geworden, woran
dies liegt. Der Staatssekretär hat eben schon darauf hingewiesen, dass die Kriterien, die den offiziellen Zahlen
zugrunde liegen, seinerzeit von Rot-Grün so festgelegt
worden sind.
({0})
Vereinfacht gesagt, ergibt sich die große Differenz dadurch, ob die Beurteilung, wie in dem einen Fall, ausschließlich anhand des Kriteriums erfolgt, ob der Täter
dem rechten Milieu zuzuordnen ist, oder ob, wie in dem
anderen Fall, sich aufgrund des Ermittlungsverfahrens
und der Feststellungen der Gerichte hat manifestieren
lassen, dass die Gesinnung des Täters bei der Tat ausschlaggebend war.
Ich möchte aber gar nicht mit Ihnen darüber streiten,
ob die eine oder die andere Zahl die richtige ist. Ich bin
mit Ole Schröder der Auffassung: Jedes einzelne Opfer
ist ein Opfer zu viel.
({1})
Ich denke, dass wir darin übereinstimmen. Die unsägliche Mordserie der Neonazi-Bande aus Thüringen ist für
uns alle erschütternd. Es trifft uns in besonderer Weise,
dass solch verabscheuungswürdige Taten gerade in unserem Land passieren. Dabei wurde in den letzten Wochen,
natürlich immer vorschnell, von interessierter Seite zumindest unterschwellig die Behauptung aufgestellt, unsere Behörden seien auf dem rechten Auge blind. Das
muss ich allerdings mit Entschiedenheit zurückweisen.
In den letzten Jahrzehnten haben gerade wir in der Bundesrepublik alles getan, um unsere Vergangenheit aufzuarbeiten, aber insbesondere auch, um den Rechtsextremismus in seine Schranken zu weisen. Es ist nicht
bestreitbar, dass dies nicht vollumfänglich gelungen ist.
In der letzten Sitzungswoche - das ist hier eben zu
Recht erwähnt worden - haben wir uns in einer gemeinsamen Erklärung aller fünf Fraktionen ausdrücklich gegen den Extremismus ausgesprochen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von links bis rechts, ich
meine, wir sollten dieses Einvernehmen gerade in dieser
Frage nicht aufgeben.
({2})
Wichtig ist im Augenblick, dass die Mordtaten umfassend aufgeklärt werden und eine umfassende Fehleranalyse vorgenommen wird. Ich danke hier ganz ausdrücklich dem Innenminister, der hier besonnen, aber
auch mit großer Bestimmtheit nicht nur Konsequenzen
aus diesen Taten gefordert hat, sondern auch unverzüglich Arbeitskommissionen eingesetzt hat. Inzwischen
liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung einer
Verbunddatei zum Erfassen der Rechtsextremisten in
Deutschland bereits vor.
Die Erkenntnisse, die sich hier ergeben, müssen über
die Fehleranalyse hinaus zu konkreten Schritten führen.
Dabei müssen auch die Länder positiv mitwirken, wenn
sich herausstellen sollte, dass die bisherigen Strukturen
zu Fehleinschätzungen geführt haben.
({3})
Wie sonst sollte man sich erklären, dass noch im Verfassungsschutzbericht 2010 davon die Rede ist, dass auch
im vergangenen Jahr „in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar“ waren! Diese grobe
Fehleinschätzung, die nur wenige Monate nach der Veröffentlichung des Verfassungsschutzberichtes erkennbar
wurde, ist nicht hinnehmbar.
Wenn Straftaten aus niederen Beweggründen heraus
begangen werden, wenn Menschen lediglich aufgrund
ihrer Hautfarbe, Herkunft oder sonstiger Merkmale getötet werden, so muss dies Gründe haben. Für mich ist die
entscheidende Frage: Wie kann man mithin diesen geistigen Sumpf austrocknen, der zu solchen Straftaten
führt?
({4})
Ich habe bereits auf den Verfassungsschutzbericht
2010 hingewiesen. Daraus möchte ich zitieren. Ich habe
mir lange überlegt, ob ich dieses schier unsägliche Zitat
überhaupt verwenden sollte. Ich meine aber, dass die Öffentlichkeit wissen muss, dass es so etwas in unserem
Land tatsächlich gibt. Im Verfassungsschutzbericht ist
von „rechtsextremistischen Bands und Liedermachern“
die Rede. Es ist auch die Rede davon, dass im Jahr 2010
„mehrere deutsche Tonträger mit strafbaren Inhalten“ erschienen sind. Die Musikgruppe Braunau hat auf einem
Tonträger mit dem Titel Unsere Lösung heißt Gewalt ein
Lied mit folgendem Text veröffentlicht - ich zitiere
wörtlich -:
Man sieht sie überall im Land, ein Mischlingskind
an jeder Hand. Sie präsentieren die häßlichen Kröten, mit denen sie unsere Rasse töten. … man
müßte ihnen in die Fresse rotzen. Sie rücksichtslos
zusammenschlagen und sie samt ihrer Brut aus
Deutschland jagen.
Meine Damen und Herren, es macht mich fassungslos
- das muss ich Ihnen ganz offen sagen -, dass so etwas
in unserem Land präsentiert wird.
({5})
Wer solche Musik verbreitet oder unterstützt, wer es
zulässt, dass im Umfeld seiner politischen Tätigkeit
Konzerte von Musikgruppen stattfinden, die solche und
ähnliche Texte verwenden, wer mithin dazu beiträgt,
dass Menschen aufgestachelt werden, brutalst gegen
Mitmenschen vorzugehen, der macht sich mitverantwortlich für das, was in den letzten 20 Jahren seit der
Wiedervereinigung in Deutschland passiert ist.
({6})
Volksverhetzung - um solche handelt es sich hier - ist
strafbar. Die Justiz ist gefordert, diese Straftaten auch
mit Nachdruck zu verfolgen.
Wenn bekannt ist, dass im Umfeld der NPD und in
der NPD selbst Funktionäre und Unterstützer existieren,
die Konzerte mit solchem „Liedgut“ veranstalten und
besuchen, so gibt es für mich keinen Zweifel daran, dass
die NPD nicht nur eine verfassungsfeindliche Partei ist.
Nein, sie ist auch eine Partei, die unseren Staat, unsere
Grundrechte, unsere Freiheit bekämpft. Damit liegen
nach meiner Auffassung die Kriterien für ein Verbot vor.
Wir sollten alles daransetzen, die notwendigen Voraussetzungen für ein Parteiverbot zu schaffen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr
Wolff, zunächst einmal muss ich es im Namen der SPD
deutlich zurückweisen, wenn Sie den politischen Extremismus und den Antifaschismus auf eine Stufe stellen.
({0})
Gerade für die Sozialdemokraten als älteste demokratische Partei, die auch darunter gelitten hat, von politischen Extremisten verfolgt worden zu sein, unter anderem wegen antifaschistischer Arbeit, ist das eine beschämende Äußerung.
({1})
Grundsätzlich gibt es beim Umgang mit dem Thema
Rechtsextremismus zwei Strategien. Zum einen gibt es
die Strategie für eine offene, demokratische und tolerante Gesellschaft, die wir unterstützen und fördern müssen. Zum anderen gibt es die Strategie, die besagt: Dort,
wo rechtsextreme Strukturen vorhanden sind, müssen
wir ordnungspolitisch, also mit Polizei und den zuständigen Organen, dagegen angehen. Wir wollen hier auch
nicht differenzieren, in dem Sinne, dass die eine Strategie wichtiger als die andere ist; beides ist notwendig.
Besonders wichtig ist es, zu wissen, dass der Boden
des Rechtsextremismus dadurch gegeben ist, dass wir in
einigen Bundesländern mehr als nur einen kleinen Anteil
von NPD-Wählern oder von Nazis, die auf die Straße gehen, haben. Wir haben leider das Problem, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bis in die Mitte unserer
Gesellschaft reichen. Das ist der Boden für solche extremistischen Bewegungen. Das müssen wir anerkennen.
Wenn wir glauben, das sei nur eine Randerscheinung
und kein Problem der Mitte unserer Gesellschaft, dann
können wir nicht mit zivilgesellschaftlichen und demokratischen Aktionen dagegen vorgehen. Deshalb ist es
wichtig, dass wir die Zivilgesellschaft beim Kampf gegen Rechtsextremismus, aber vor allem bei ihrer Arbeit
für mehr Toleranz und Demokratie unterstützen.
({2})
Dazu gehört die politische Bildung; aber dazu gehört
auch, entsprechende Strukturen in den Kommunen vorSönke Rix
zuhalten, damit sich solche Szenen nicht bilden können,
damit wieder anerkannt wird, dass die Demokratie das
bessere System ist. Es darf nicht wieder solche dramatischen Untersuchungen geben, in denen behauptet wird,
die Demokratie bringe uns nichts. Daran sollten wir alle
gemeinsam arbeiten.
({3})
Ich möchte noch etwas zur Statistik anmerken. Es ist
schon fragwürdig - es sind ja keine unseriösen Medien
und auch keine unseriösen Vereine und Verbände, die die
Statistik aufgestellt haben -, warum es eine solche Differenz zwischen der offiziellen Statistik und der durch die
Zivilgesellschaft und durch die Medien erarbeiteten Statistik gibt. Mich hätte gefreut, wenn vonseiten der Regierungskoalition geäußert worden wäre: Ja, es gibt eine
dramatische Differenz, und die gilt es aufzuarbeiten.
Diese Aussage habe ich, so deutlich formuliert, leider
nicht gehört.
({4})
Selbstverständlich ist jedes Todesopfer, egal aus welchem Grund getötet wurde, ein Opfer zu viel. Letztendlich kann man natürlich sagen: Das ist nur eine Statistik.
Es macht aber einen Unterschied, wenn ich als Angehöriger eines Opfers höre, dass ein Familienmitglied, zum
Beispiel mein Ehepartner, infolge eines Streits über eine
banale Sache Opfer einer Gewalttat wurde und die Gewalttat keinen rassistischen Hintergrund hat. Gerade das
zeigen ja die sogenannten Döner-Morde. In diesen Fällen wurde immer davon ausgegangen, dass es keinen
rassistischen Hintergrund gibt. Es ist wichtig, dass der
rassistische Hintergrund deutlich gemacht wird.
({5})
Wir können nur dann dagegen vorgehen, wenn wir den
rassistischen Hintergrund anerkennen. Ich glaube, wir
alle gemeinsam sind es den Angehörigen dieser Opfer
schuldig, zu sagen: Ja, wir überarbeiten die Kriterien
dieser Statistik gemeinsam. Wir sollten den Angehörigen
der Opfer sagen: Ja, euer Angehöriger ist Opfer rechter
Gewalt geworden.
({6})
Danke schön.
({7})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Tage waren Vertreter der Grünen und der
FDP-Fraktion bei einer Veranstaltung des Deutschen
Anwaltvereins, die ich sehr interessant fand. Journalisten
haben das Ganze aufgearbeitet und erklärt, wie es zu den
Differenzen in den Statistiken über rechte Gewalt
kommt.
Ich glaube, es ist unser aller Anliegen - es muss unser
aller Anliegen sein -, dass jedem einzelnen dieser Fälle
in einer Andenkens- und Gedenkenskultur ausreichend
Platz eingeräumt wird. Wir sind uns bewusst, dass jeder
Mensch, der durch rechten Terror gestorben ist, unser
Gedenken verdient und wir keinen dieser Menschen vergessen dürfen.
({0})
Alexander von Brünneck hat ein Buch über die Justiz
in der frühen Bundesrepublik geschrieben. Er hat deswegen selbst Probleme bekommen. Er ist der Frage nachgegangen, wie man in der frühen Bundesrepublik mit politischen Prozessen umgegangen ist. Er hat gezeigt, dass
damals in der Tat eine Einseitigkeit bei der politischen
Bewertung vorherrschte und man oft nicht genau hingeschaut hat, wenn es Vorfälle von rechts gab. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir seitdem eine viel reifere
Gesellschaft geworden sind. Ich glaube, wir alle kennen
Polizistinnen und Polizisten, aber niemand von uns
würde ihnen unterstellen, dass sie Taten, die hier von
rechter Seite begangen wurden, vertuschen oder auch
nur verharmlosen wollen. Diesbezüglich sind wir heute
viel weiter als in der frühen Bundesrepublik.
({1})
Ich finde die Art, in der Frau Pau das hier thematisiert
hat, vollkommen richtig. Natürlich ist es ein Stachel in
unserem Fleisch, wenn ein Fall in unserer Statistik nicht
dokumentiert ist. Wir müssen darüber nachdenken, warum dieser Fall nicht dokumentiert wurde. Wir müssen
bei jedem einzelnen Fall fragen: Wie konnte es dazu
kommen? Wir sollten aber nicht so tun - das haben Sie
auch nicht getan -, als ob dahinter ein bösartiger Komplott steht.
Insofern bitte ich alle Beteiligten, den Schmerz, den
dieser Rechtsextremismus uns allen als Demokraten zufügt, noch eine gewisse Zeit so zu empfinden. Wir sollten nicht so schnell nach Lösungen suchen, sei es das
NPD-Verbot, seien es konkrete Gesetze oder andere
Dinge. Wir sollten den Schmerz einfach noch ein bisschen aushalten. Wir müssen uns der Sache zivilgesellschaftlich nähern und sollten nicht zu schnell vermeintliche Lösungen präsentieren; denn wir alle müssen, so
glaube ich, registrieren, dass es angesichts dieses Phänomens eine einfache Antwort nicht gibt. Deswegen brauchen wir mehr Ermittlungen. Wir müssen jedem einzelnen Fall nachgehen. Unterstellungen wie die meinem
Kollegen Wolff gegenüber sind der Sache sicherlich
nicht dienlich.
({2})
Ich glaube, wir sollten hier gemeinsam vorgehen und
nicht schon jetzt Differenzen suchen, wo eigentlich
keine sind.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7990.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung
der SPD abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 und der Resolutionen 1814
({1}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({2}) vom
2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom 7. Oktober 2008,
1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1897
({5}) vom 30. November 2009, 1950 ({6})
vom 23. November 2010 und nachfolgender
Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 10. November 2008,
dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 8. Dezember 2009,
dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 30. Juli 2010 und
dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 7. Dezember 2010
- Drucksachen 17/7742, 17/7996 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Kerstin Müller ({7})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({8})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8004 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Zudem liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Joachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort.
({9})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf der Grundlage der einschlägigen Beschlüsse
des UN-Sicherheitsrates empfiehlt die Bundesregierung
die weitere Teilnahme an der gemeinsamen EU-geführten Mission Atalanta zur Gewährung der Sicherheit auf
den Seewegen am Horn von Afrika. Dabei ist festzustellen, dass dieses Mandat bisher erfolgreich ist. Seit seinem Bestehen wurden circa 100 Schiffstransporte im
Auftrag des Welternährungsprogramms durchgeführt
und circa 700 000 Tonnen Nahrungsmittel zuzüglich anderer Versorgungsgüter erfolgreich nach Somalia gebracht. Genauso ist festzustellen, dass es im letzten Jahr
weniger erfolgreiche Kaperungen durch Piraten gab. Das
heißt, erstmals war die Zahl der erfolgreichen Übergriffe
auf zivile Schiffe rückgängig. Ich denke, das spricht dafür, dass dieses Mandat verlängert werden sollte.
Auch die deutsche Hilfe bei der Ausbildung somalischer Truppen in Uganda sollte fortgesetzt werden; denn
eines ist klar: Wir betreiben durch die Sicherung der
Seewege nur Symptombekämpfung. Das heißt, parallel
zu dem Mandat muss die Übergangsregierung in Somalia weiterhin politisch unterstützt werden. Uns wird immer wieder vorgeworfen - Herr van Aken, ich weiß, Sie
werden es wieder tun -, dass wir eine Regierung unterstützen, die nicht vollständig von der Bevölkerung getragen wird. Das ist uns wohl bewusst. Aber diese Regierung - eine Übergangsregierung in einem völlig
zerrütteten Staatswesen - wird von der Afrikanischen
Union und der zuständigen Regionalorganisation für
Ostafrika unterstützt. Letztendlich ist sie die einzige
Hoffnung darauf, dass man dort irgendwann zu geordneten staatlichen Strukturen zurückkehrt. Auf jeden Fall
trauen wir der Afrikanischen Union und ihrer Regionalorganisation eher zu, das zu beurteilen, als Ihnen.
Wir verfolgen insofern einen Ansatz mit zwei Zielen:
Wir sichern durch den Einsatz unserer Schiffe, soweit
möglich, die Seewege und somit die humanitäre Versorgung der Menschen im Land; dies ist in der letzten Zeit
wichtiger und nicht unwichtiger geworden. Gleichzeitig
unterstützen wir einen politischen Prozess, der irgendwann hoffentlich zum Wiederaufbau geordneter staatlicher Strukturen führt. Deshalb kommen wir zu dem
Schluss, dass dieser Einsatz aus humanitären und aus
politischen Gründen weiterhin geboten ist und dass das
Mandat verlängert werden muss.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Karin Evers-Meyer für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch im dritten Jahr der Mission Atalanta bleibt die Seefahrt vor Somalia gefährlich. Über 90 Prozent aller Piratenübergriffe weltweit konzentrieren sich auf diese
Region. Im vergangenen Jahr gab es allein vor der somalischen Küste fast 50 Schiffsentführungen. Über 1 000
Seeleute wurden zu Geiseln der Piraten, und es ist nicht
anzunehmen, dass es 2011 besser sein wird. Das heißt
für uns: Atalanta bleibt eine notwendige Mission. Atalanta bleibt ein wichtiger Bestandteil des Maßnahmenpakets, das notwendig ist, um das Sicherheitsproblem vor
der somalischen Küste zu lösen.
Sicherheit vor der Küste Afrikas zu schaffen, ist ein
zentraler Beitrag, um die dringend notwendige humanitäre Hilfe für Somalia zu gewährleisten. Es geht darum,
die Lieferungen von Hilfsgütern des Welternährungsprogramms nach Somalia sicherzustellen. Wie uns die Hungerkatastrophe in diesem Jahr beweist, ist die Bevölkerung von Somalia dringend darauf angewiesen, und es
ist in unserem Interesse, dass wir Hunger und Not vor
Ort lindern. Denn Hunger und Not sind die bitteren
Nachschubgaranten für die kriminellen Banden, die vor
der somalischen Küste ihr Unwesen treiben.
Über 4 Millionen Menschen in Somalia sind abhängig
von Hilfen der internationalen Gemeinschaft. Diese
Hilfe läuft eben vor allem über See. Daher bleibt es richtig, die Hilfstransporte nach Somalia auf dem Seeweg
abzusichern. Seit es den Geleitschutz für die Hilfsgüter
nach Somalia gibt, wurde kein Schiff mehr von Piraten
überfallen. Über 700 000 Tonnen Nahrungsmittel konnten so im letzten Jahr ihr Ziel erreichen. Das ist ein echter Erfolg, über den wir eigentlich viel zu wenig sprechen, wenn wir über den Sinn von Atalanta reden.
({0})
Das humanitäre Interesse an dieser Mission steht zu
Recht im Vordergrund. Es gibt für unser Land aber auch
ein wirtschaftliches Interesse. Deutschland ist, wie wir
alle wissen, ein äußerst erfolgreiches Exportland. Das
soll ja auch so bleiben. Gerade deswegen brauchen wir
nicht nur gute Produkte; wir sind auch auf sichere Handelswege angewiesen. Diese Handelswege sind eben im
Falle Deutschlands zu über 90 Prozent Seewege. Die
Route durch den Suezkanal und den Golf von Aden ist
einer dieser wichtigen Handelswege. Als Exportnation
haben wir ein fundamentales Interesse daran, dass dieser
Weg sicher bleibt. Daher muss eines ganz klar sein: Wir
werden uns sehr konsequent für die Sicherheit unserer
Handelswege nicht nur mit militärischen Mitteln, aber
eben im Ernstfall auch mit militärischen Mitteln einsetzen.
({1})
Die Mission Atalanta sorgt also seit 2008 dafür, dass
wir am Golf von Aden inzwischen eine weitgehend stabile Situation haben. Ein Teil der Angriffe hat sich aber
vor die Ostküste Somalias verlagert. Das macht noch
einmal klar, dass der Kampf gegen die Piraterie vor Somalia noch nicht vorbei ist. Für die Stabilität und Sicherheit der Seewege und natürlich auch für die Sicherheit
derer, die diese Wege befahren, brauchen wir weiterhin
die Unterstützung durch die Marine. Atalanta wird weiter benötigt. Deshalb wird meine Fraktion dem Mandat
zustimmen.
Wir wollen aber natürlich auch die Defizite der deutschen Politik in diesem Bereich deutlich benennen. So
fehlt bis heute ein stringentes Konzept der Bundesregierung, wie sie denn gemeinsam mit unseren Partnernationen die Piraterie vor Somalia nachhaltig bekämpfen will.
Ich habe es schon gesagt: Die Ursachen für die Piraterie
liegen an Land. Wir werden die Mission Atalanta erst
beenden können, wenn die Ursachen für die Piraterie beseitigt sind.
({2})
Jeder, der sich die Bilder der kleinen Piratenboote ansieht, von denen aus auf hoher See die Handelsschiffe
angegriffen werden, bekommt eine Vorstellung davon,
welches Elend und welche Armut an Land herrschen
müssen, um die Piraten zu solchen waghalsigen Angriffen zu treiben. Im Mandatstext führen Sie zwar einige
Maßnahmen auf, die dabei helfen sollen, die Ursachen
der Piraterie zu bekämpfen - diese Schritte sind richtig -;
aber das sind viel zu kleine Schritte, und sie sind zu zögerlich.
Mir ist natürlich klar, dass es unglaublich schwierig
ist, in diesem zerrütteten Land so etwas wie staatliche
Strukturen aufzubauen und zu fördern. Genauso schwierig ist es sicherlich, dort eine vernünftige wirtschaftliche
Entwicklung in Gang zu bringen. Aber dass es schwierig
ist, kann doch nicht bedeuten, dass wir so gut wie gar
nichts vor Ort unternehmen. Es wäre aus meiner Sicht an
der Zeit, dass wir die Unterstützung für ein Land wie Somalia gemeinsam mit unseren internationalen Partnern
organisieren. Wir Deutschen sind nicht die Einzigen, die
ein Interesse an stabilen Verhältnissen dort haben. Dazu
findet sich im Mandatstext aber so gut wie nichts. Ich
will von Ihnen wissen, welche Schritte die Bundesregierung hier unternehmen will und - vor allem - ob sie dabei auf unsere internationalen Partner zugehen will.
Ein ganz wichtiges Thema ist die Strafverfolgung.
Wie wollen wir das regeln? Wir können dieses Thema ja
nicht irgendwelchen exotischen Inseln überlassen. Die
Boote der Piraten zu zerstören, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Also: Die Pirateriebekämpfung ist
Stückwerk. Neben Atalanta gibt es Missionen der USA,
der NATO, Russlands und Indiens. Außerdem haben
China, einige arabische Staaten und Japan Schiffe vor
die somalische Küste entsandt. Das zeigt, wie viele Län17398
der diese Bedrohung ernst nehmen. Aber es wäre besser
und sehr wahrscheinlich auch effektiver, wenn man
diese Einsätze bündeln würde; es liegt ja auch ein entsprechender Beschluss des UN-Sicherheitsrates vor.
Deswegen regen wir an, eine gemeinsame UN-Mission
zur Bekämpfung der Piraterie vor Somalia einzurichten.
Das wäre dann auch die Chance, die Bekämpfung der
Piraterie an Land auf eine breitere Grundlage zu stellen.
Es ist höchste Zeit, dass sich die Bundesregierung mit
mehr Engagement als bisher daranmacht, die Ursachen
gemeinsam zu bekämpfen. Denn wenn wir die Zustände
in Somalia nicht in den Griff bekommen, werden wir
auch die Situation vor Somalia nicht in den Griff bekommen. Ein Dauermandat für unsere Marine vor der somalischen Küste kann nicht unser Ziel sein. Ein solches
Mandat wird es mit uns auch nicht geben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
daran erinnern, dass bis zu 1 400 deutsche Soldatinnen
und Soldaten bis 2012 im Rahmen von Atalanta eingesetzt sein werden. Damit ist diese Mission, anders als
etwa UNIFIL, personell gut ausgestattet. Im Namen meiner Fraktion danke ich von hier aus allen Soldatinnen
und Soldaten, die bei Atalanta eingesetzt sind, für ihren
Einsatz. Die Fregatte Köln hat das Einsatzgebiet vor genau einer Woche verlassen und befindet sich auf Heimatkurs in Richtung Wilhelmshaven. Ich denke, es ist im
Sinne des ganzen Hauses, den Soldatinnen und Soldaten
der Fregatte Köln von hier aus eine gute Heimkehr zu
wünschen und ihnen stellvertretend für alle anderen, die
an diesem Einsatz beteiligt sind, für ihr Engagement zu
danken.
({3})
Es ist eine besondere Herausforderung, unter diesen
schwierigen klimatischen Bedingungen Tausende Kilometer von Deutschland entfernt Dienst zu tun, einen
Dienst, der große Aufmerksamkeit erfordert und die Fähigkeit, innerhalb weniger Minuten die richtige Entscheidung zu treffen. Die deutschen Einheiten haben das
bisher gut hinbekommen und bei Atalanta wirklich gute
Arbeit geleistet. Das wird allseits anerkannt. Ich bin mir
sicher, dass das auch in Zukunft so bleibt.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Piraterie ist ein Verbrechen und wird international
geächtet. Sie muss global verfolgt werden; denn sie fügt
auch der internationalen Gemeinschaft erheblichen
Schaden zu. Die Piraterie am Horn von Afrika ist nichts
anderes als organisierte Kriminalität. Sie richtet sich
nicht nur gegen Waren, sondern auch gegen Menschen.
Hier kämpfen nicht nur ein paar arme Fischer darum,
ihre Familien ernähren zu können. Nein, wer mit Granatwerfern oder AK-47 bewaffnet und unter Einsatz modernster Kommunikationsmittel wie Sattelitentelefonen
und GPS-Systemen große Schiffe kapert, der ist weit
weg von unserer romantischen Vorstellung von einem
Robin Hood der Meere.
Die Akteure machen sich die Lage in Somalia, einem
Land, das über keine funktionierenden staatlichen Strukturen verfügt, zunutze, um von dort aus der internationalen Gemeinschaft zu schaden. Sie schaden dabei nicht
nur uns, sondern insbesondere auch dem somalischen
Volk. Daher hat die somalische Übergangsregierung vor
drei Jahren den UN-Sicherheitsrat gebeten, Hilfe zu leisten. Mit unserem Einsatz schützen wir die Hilfsschiffe
des World Food Programme und helfen so dem somalischen Volk im Kampf gegen den Hunger.
Außerdem bedrohen Piraten Schiffe deutscher Reedereien und das Leben deutscher Seeleute. Im Oktober
2010 wurden zwei Schiffe mit deutschen Besatzungen
gekapert. Die Beluga Fortune ist bereits am nächsten
Tag freigekommen; dies war vor allem aufgrund des umsichtigen Handelns der Besatzung und des Eingreifens
englischer Marineeinheiten möglich. Der 68-jährige
deutsche Kapitän des Tankers York und seine Besatzung
waren aber über Monate, bis zum März 2011, in den
Händen der Piraten.
Die Erfolgsquote der Piraten ist in den vergangenen
Jahren zum Glück deutlich gesunken. Dennoch erreichte
die Zahl der Piratenüberfälle nach Angaben des Internationalen Schifffahrtsbüros in diesem Jahr - alleine bis
September waren es 352 - einen neuen Höchststand.
Wir müssen in Somalia weiter den internationalen
Seeverkehr und die Bemühungen des Welternährungsprogramms schützen, und wir dürfen im gleichen Bekenntnis auch unseren Anspruch verankern: Freie Seehandelswege sind im Interesse unseres Landes. Denn
wenn unsere Unternehmer in der maritimen Wirtschaft
Arbeitsplätze schaffen sollen, dann brauchen sie sichere
Seehandelswege - und das weltweit. 20 Prozent des
deutschen Außenhandels erfolgten 2008 allein auf dem
Seeweg. Unternehmer in der maritimen Wirtschaft geben knapp einer halben Million Menschen in Deutschland Arbeit. Diese 500 000 Menschen sind von freien
Handelswegen mit abhängig.
Die Piraten schaden Deutschland und seiner Wirtschaft. Sie bedrohen - und das ist das Schlimmste - tagtäglich Menschenleben. Ralf Nagel, der Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Reeder, sagte:
Die Piraterie im Indischen Ozean und im Golf von
Aden … stellt eine tägliche Lebensbedrohung für
unsere Seeleute dar.
Wir nehmen die Sorgen der Reeder und ihrer Seeleute
ernst. Die Bekämpfung der Piraterie auf See geht einher
mit der Bemühung um den Staatsaufbau an Land. Bis
heute hat die EU mehr als 760 Millionen Euro investiert,
um die Not zu lindern. In den Schlussfolgerungen des
Rates hat die EU am 14. November dieses Jahres eine
Strategie für das Horn von Afrika verabschiedet. Sie hat
damit klargemacht, dass wir das Ziel von Frieden, Sicherheit und guter Regierungsführung nicht aus den Augen verlieren werden.
In der gestrigen Sitzung des Rats für Außenbeziehungen in Brüssel wurde noch einmal über die derzeitige Situation beraten. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung eine Erweiterung des Mandats bis an die Strände
Somalias prüfen wird. Sofern diese Prüfungen positiv
ausfallen, müssten wir das Mandat im Frühjahr nächsten
Jahres gegebenenfalls anpassen.
An dieser Stelle möchte ich den 558 Frauen und Männern der Bundeswehr, die derzeit ihren Dienst am Horn
von Afrika leisten, meine Anerkennung und meinen
Dank aussprechen und weiterhin Gottes Segen wünschen.
({0})
Insbesondere möchte ich hierbei die Fregatte Bayern erwähnen, in deren Freundeskreis ich Mitglied bin. Mit
großem Interesse verfolge ich die Berichte von Bord, die
alle paar Wochen zu uns kommen. Es freut mich, zu hören, dass wir hier eine ausgezeichnete Crew und eine
gute Führungsriege an Bord haben, die mit viel Elan und
Einsatz die tagtäglichen Herausforderungen in ausgezeichneter Weise meistern. In wenigen Tagen wird die
Bayern heimkehren - nicht an den Tegernsee, das ist
klar, aber nach Hause.
({1})
Meine Damen und Herren, unser Kompass ist klar: Es
gilt, zu helfen, wo die Werte des Völkerrechts bedroht
sind. Wir stimmen für die Verlängerung des AtalantaMandats.
({2})
Das Wort hat nun Jan van Aken für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wollen
heute zum dritten Mal die Beteiligung am Militäreinsatz
Atalanta verlängern.
({0})
Ich frage mich die ganze Zeit: Warum eigentlich?
Die Menschen in Somalia leben immer noch in bitterster Not, sie leiden unter Armut und einem Bürgerkrieg, der die Entwicklung in dem Land seit Jahren behindert. In den letzten Jahren, seit es Atalanta gibt, hat
sich die Situation immer weiter verschlechtert. Jetzt
kommt auch noch diese Dürrekatastrophe dazu: 4 Millionen Menschen sind in Somalia im Moment vom Hungertod bedroht.
Jetzt werden Sie sagen: Sehen Sie, genau dafür brauchen wir Atalanta. - Genau damit liegen Sie komplett
falsch.
({1})
Atalanta ist kein humanitäres Hilfsprojekt, und Atalanta
ist auch keine politische Strategie. Atalanta ist doch einfach nur eine rein militärische Bekämpfung von Symptomen. Mit Kriegsschiffen können Sie die Armut nicht bekämpfen, mit Kriegsschiffen können Sie auch keinen
Bürgerkrieg bekämpfen, und mit Kriegsschiffen können
Sie auch das Problem der organisierten Kriminalität
nicht lösen, die hinter der Piraterie steckt.
({2})
Das Problem der Piraterie - das sagen Sie alle - lässt
sich nur an Land bekämpfen, nur mit einer politischen
Strategie. Hier würde mich doch wirklich einmal interessieren: Was haben Sie in den letzten drei Jahren für eine
politische Lösung getan? Was haben Sie getan, um den
Bürgerkrieg zu deeskalieren? Was haben Sie getan, um
endlich eine Waffenruhe und Verhandlungen zu ermöglichen? Was haben Sie getan, um die Einmischung der
Nachbarstaaten zu beenden? Und was haben Sie getan,
um endlich eine lokale wirtschaftliche Entwicklung zu
fördern? Nichts, nichts und wieder nichts.
Gestern im Ausschuss habe ich Herrn Westerwelle
genau das gefragt: Was haben Sie konkret getan, außer
Kriegsschiffe zu schicken? Wissen Sie, was er geantwortet hat? Er hat geantwortet: Ich kann Ihnen gerne unser
Konzept für Somalia vorstellen. - Konzepte kann er
schreiben, wenn er in der Opposition ist, aber als Außenminister muss er doch handeln.
({3})
Einfach nur Kriegsschiffe schicken und nicht eine einzige Sache für die Menschen in Somalia zu tun, finde ich
unverantwortlich.
Sie haben bis heute einfach keine politische Strategie.
({4})
Ihre Fixierung auf das rein Militärische kann nichts zu
dem dringend notwendigen Friedensprozess beitragen.
Im Gegenteil: Sie unterstützen völlig einseitig eine Partei im Bürgerkrieg. Sie bilden deren Soldaten noch aus,
und dann wundern Sie sich, dass die Gewalt immer weiter eskaliert. Das ist genau der falsche Weg.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der FDP?
Gern.
Herr van Aken, Sie behaupten, dass für das humanitäre Engagement in Somalia nichts getan wird. Sind Sie
in der Lage, nachzuvollziehen, dass das Atalanta-Mandat unter anderem die wesentliche Aufgabe hat, die Nahrungsmitteltransporte nach Somalia zu beschützen, um
so zu helfen, dass die Menschen dort nicht verhungern?
({0})
Das ist das, was Sie jetzt sagen. Wo, bitte sehr, treiben
sich die manchmal bis zu 46 Kriegsschiffe denn herum?
Begleiten diese 46 Kriegsschiffe ausschließlich die
Schiffe des World Food Programme? Das ist eben nicht
der Fall. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie suchen
hier händeringend nach einer Entschuldigung, nach einem Grund, nach irgendeiner guten Nachricht, weil Sie
genau wissen, dass Sie nichts für eine politische Lösung
im Land tun. Herr Westerwelle stellt sich immer hin und
sagt: „Es kann nur im Land gelöst werden“, tut aber
nichts. Dann finden Sie etwas und ignorieren, dass die
meisten dieser Kriegsschiffe in dem ganzen großen Gebiet eingesetzt werden - fernab von den Hilfsschiffen
des World Food Programme. Deswegen ist es eine völlig
scheinheilige Argumentation von Ihrer Seite.
({0})
Wir sind deshalb der Meinung - damit Sie den Konflikt nicht weiter eskalieren -, dass Sie die Ausbildung
somalischer Soldaten einstellen und endlich damit aufhören sollten, die wahnsinnig großen Herausforderungen
in dieser Region immer nur durch die militärische und
polizeiliche Brille zu sehen.
Das gilt auch für den Militäreinsatz Atalanta. Vermeintliche Piratenschiffe werden nicht nur beschossen,
sondern auch versenkt - ohne jeden Beweis. Der bloße
Verdacht genügt. Herr Stinner von der FDP hat es gestern im Ausschuss noch bestritten. Herr Stinner, ich
muss Ihnen sagen, Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht
gemacht. Jede Woche bekommen wir Meldungen von
der Bundesregierung über die verschiedenen Militäreinsätze. Wenn Sie sich die genau durchlesen, stellen Sie
fest, dass dort beispielsweise steht: Auftrag, die beiden
Motorboote zu zerstören, oder: Motorboote durch Beschuss versenkt, usw. Die Bundesmarine hat haufenweise Boote versenkt. Sie sind der Einzige in Ihrer Fraktion, der überhaupt ein bisschen über dieses Mandat
Bescheid wissen müsste. Wenn nicht einmal Sie wissen,
was vor Ort passiert, wie können Sie dann guten Gewissens einem solchen Mandat zustimmen?
({1})
Machen Sie das nächste Mal bitte Ihre Hausaufgaben!
Die Piraterie bekämpfen Sie mit der Methode jedenfalls nicht. Sie sorgen doch einfach nur dafür, dass auf
See immer weiter aufgerüstet wird. Deshalb lehnen wir
diesen Antrag ab.
({2})
Jetzt noch ein Wort zur aktuellen humanitären Situation in Somalia. Vor einigen Tagen hat die Miliz al-Schabab verschiedene Hilfsorganisationen aus dem Gebiet,
das sie kontrolliert, ausgewiesen. Das verurteilen wir
ausdrücklich. Der humanitäre Zugang zur notleidenden
Bevölkerung muss überall, in allen Gebieten, möglich
sein. Es kann aber auch nicht sein, dass internationale
Hilfe auf bestimmte kleine Gebiete beschränkt wird. Wir
wissen zum Beispiel von den Amerikanern, dass sie
Hilfe nur im Gebiet der Übergangsregierung zulassen,
und all die hungernden Menschen in anderen Gebieten
werden alleingelassen. Das geht genauso wenig. Wir sagen ferner, dass die kenianischen und äthiopischen Truppen das Land verlassen müssen; denn sie schneiden den
Flüchtigen den Weg in die rettenden Flüchtlingslager ab.
Da muss unbedingt etwas passieren.
({3})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Im letzten Jahr hat
Deutschland beispielsweise zwei Drittel seiner Rüstungsexporte an Staaten der EU bzw. der NATO geliefert. Mit diesen Waffen führt die NATO jetzt Krieg, nicht
nur in Afghanistan oder im Irak, sondern auch vor Somalia im Rahmen von Atalanta. Das lehnen wir ab.
Ich bedanke mich.
({4})
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig: Seit der letzten Verlängerung des Mandats
Atalanta hat sich die Lage am Horn von Afrika noch einmal dramatisch verschärft. Auch ich meine damit nicht
die Piratenüberfälle, sondern die Hungerkatastrophe in
der Region. Rund 4 Millionen Menschen hungern alleine
in Somalia, 250 000 Menschen sind akut vom Hungertod
bedroht, und 2,5 Millionen Menschen sind auf der
Flucht. Der gescheiterte Staat Somalia kann diesen Menschen nicht helfen. Daher ist hier die internationale Gemeinschaft klar in der Pflicht.
Herr van Aken, dass man vor dem Hintergrund einer
solchen Situation behauptet, man brauche die AtalantaMission nicht, finde ich wirklich absurd. Sie haben
nichts, aber auch gar nichts dazu gesagt, wie Sie denn
diese Menschen versorgen wollen. Es sind, wie gesagt,
4 Millionen. Diese Antwort sind Sie schuldig geblieben.
({0})
Diese Menschen können nur von See her versorgt werden; das wurde auch von Ihnen nicht bestritten. Die
Schiffe auf See werden aber von Piraten bedroht. Das
heißt, ohne den sicheren Geleitschutz für die Schiffe des
Kerstin Müller ({1})
Welternährungsprogrammes können wir die Menschen
in Somalia nicht mit Nahrungsmitteln versorgen. Genau
das leistet Atalanta. Deshalb ist es richtig, diesem Mandat zuzustimmen.
({2})
- Rufen Sie hier nicht rein! Machen Sie einen Vorschlag.
Sie haben keinen Vorschlag dazu gemacht, wie Sie diese
4 Millionen Menschen versorgen wollen, genauso wie
beim letzten Mal. Sie sprechen von der Ursachenbekämpfung. Das ist richtig.
({3})
- Ja, das wollen wir alle. Aber wissen Sie was? Sie wissen genau, dass das nicht von heute auf morgen geht. Somalia ist seit mehr als 20 Jahren ein gescheiterter Staat.
({4})
Es wird hier keine schnellen Lösungen geben. Auch das
haben Sie verschwiegen. Das finde ich unverantwortlich; denn es ist nicht so einfach, eine friedliche Lösung
für Somalia und das Horn von Afrika zu finden.
({5})
Wenn man all das macht, was Sie vorgeschlagen haben - es sei dahingestellt, ob das vernünftig ist -, stellt
sich die Frage: Was passiert in der Zwischenzeit? Wollen
Sie die Menschen verhungern lassen, bis diese Lösungsansätze greifen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das
Ihr Ernst ist.
Wenn Sie sagen, dass nicht Atalanta oder andere multilaterale Organisationen dort tätig sein sollen: Was ist
dann die Alternative? Die Alternative ist, dass die Blackwaters dieser Welt auf Container- und Getreideschiffen
künftig für Sicherheit sorgen. Ich frage Sie: Wollen Sie
das? Wir wollen das nicht, weil wir das für eine gefährliche Militarisierung der zivilen Schifffahrt halten. Genau
das wollen wir nicht.
({6})
Auch das ist für uns ein Grund, diesem vernünftigen
Mandat zuzustimmen.
Die Hungerkatastrophe wird noch dadurch verschärft,
dass die al-Schabab-Milizen die humanitäre Hilfe politisch instrumentalisieren. Am Montag wurden 16 Büros
wichtiger Hilfsorganisationen zur Versorgung der Hungernden durch die al-Schabab geplündert und geschlossen. Darunter sind UNICEF, WHO und die GIZ. Das
zeigt noch einmal ganz klar, wie skrupellos bestimmte
al-Schabab-Milizen ihren Krieg führen. Ich will hier
sehr deutlich sagen: Wir verurteilen das auf das
Schärfste. Das ist absolut zynisch! Das ist absolut inakzeptabel! Wir fordern, dass die Schließung der Büros
dieser Hilfsorganisationen sofort wieder rückgängig gemacht wird.
({7})
Leider ist zu befürchten - das möchte ich hier ansprechen -, dass dies auch eine Reaktion auf die militärische
Intervention Kenias ist. Ich finde es ziemlich befremdlich, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, dass wir hierzu bis heute nichts Kritisches gehört
haben. Nicht nur, dass dieser Schritt nicht mit der somalischen Übergangsregierung abgesprochen war - der
Präsident der TFG hat protestiert -, sondern er ist auch
sehr riskant für Somalia und das Horn von Afrika.
Wenn wir im Sinne echter Krisenprävention nicht
rechtzeitig gegensteuern, können der zusätzliche Einmarsch äthiopischer Truppen, die Waffenlieferungen an
al-Schabab aus Eritrea, also das Wiederaufflammen des
ewigen Stellvertreterkrieges zwischen diesen beiden
Ländern, zu einem Flächenbrand am gesamten Horn von
Afrika führen. Das dürfen wir nicht zulassen. Diese militärische Intervention ist für die Lage der Flüchtlinge und
Hungernden verheerend. Statt Schutz und Nahrung zu
erhalten, geraten sie noch einmal zwischen die Kriegsfronten.
Wenn wir den Menschen langfristig helfen wollen
- das heißt hier, das eine tun, ohne das andere zu lassen -,
dann brauchen wir jetzt einen Strategiewechsel in der
europäischen und internationalen Somalia-Politik. Ich
meine, dass man auf Distanz zu der korrupten und unfähigen Übergangsregierung gehen muss. Sie haben gesagt, Herr Kollege Spatz, die AU arbeite mit ihr zusammen. Die AU ist nicht die einzige und letzte Instanz, die
für uns einziges Kriterium sein darf.
({8})
Denn die Afrikanische Union hat schon oft versagt, zum
Beispiel in Libyen, wo sie bis zuletzt an Gaddafi festgehalten hat.
Die Übergangsregierung hat bisher versagt. Das ist
ziemlich klar. Wir müssen daher viel stärker auf den
Aufbau lokaler und auch regionaler Strukturen setzen,
die es gibt. Dazu gehört auch - das sage ich offen -, einen Dialog zumindest mit den gesprächsbereiten Teilen
der al-Schabab zu versuchen, ohne den es keine Versöhnung geben wird. Das sagen alle Fachleute, und das fordern auch die erfahrenen NGOs vor Ort, sofern sie noch
dort sind.
Also: Eine Friedenslösung für Somalia ist nicht einfach. Aber ich meine, dass die Bundesregierung
- Deutschland hat einen Sitz im Sicherheitsrat - den dahinsiechenden Friedensprozess etwas mutiger voranbringen muss. Denn die Menschen in Somalia brauchen eine
Zukunft. Auch da haben wir eine Verantwortung.
Danke.
({9})
Das Wort hat nun Burkhardt Müller-Sönksen für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Mission Atalanta ist ein Erfolg; sie ist ein Erfolg für die
Bevölkerung von Somalia. In diesem Jahr hat jedes der
Schiffe des Welternährungsprogramms, das in die somalischen Häfen geschickt wurde, diese auch erreicht. Das
ist der Beweis, Herr van Aken, dass Sie nicht recht haben und dass Atalanta ein Erfolg ist.
Die Mission Atalanta ist auch ein wichtiger Baustein
zur Verbesserung der Sicherheit der Handelsschifffahrt
am Horn von Afrika. Auch wenn die Zahl der Angriffe
weiterhin auf demselben Niveau wie im Vorjahr geblieben ist,
({0})
hat sich die Zahl der erfolgreichen Entführungen halbiert.
Um der Piraterie zu begegnen, braucht es eine umfassende Strategie, die weit über den militärischen Bereich
hinausreicht. Wir stärken durch eine Vielzahl von Maßnahmen die staatlichen Institutionen vor Ort, in der Region. Ziel ist es, dass sie immer stärker auch selbst gegen
die Piraterie vorgehen können.
Eines sage ich ganz deutlich, weil es in den Debatten
von den Linken, wie auch heute wieder von Ihnen, Herr
van Aken, immer wieder bestritten wird: Piraterie ist
mitnichten ein Ausdruck des Protests der notleidenden
somalischen Bevölkerung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Nein. - Piraterie ist eine der schwersten Formen organisierter Kriminalität.
({0})
Die Piraten und ihre Hintermänner nehmen Mord, Totschlag und Entführung billigend in Kauf.
In den letzten Monaten wurde häufig über die Möglichkeit diskutiert, Soldaten an Bord deutscher Schiffe
zu nehmen. Bei jährlich mehr als 3 000 Schiffen allein
unter deutscher Flagge sind solche Vorschläge illusorisch. Um den Schutz der Besatzungen weiter zu erhöhen, ist es notwendig, die Sicherheitsmaßnahmen an
Bord laufend zu verbessern. Die Reeder leisten hierbei
unter anderem mit der Einrichtung von Schutzräumen einen wichtigen Beitrag.
Ich begrüße es auch sehr, dass auf Initiative des Maritimen Koordinators der Bundesregierung, des Kollegen
Hans-Joachim Otto, ergebnisoffen geprüft wird, inwieweit und in welchem Rahmen private Sicherheitskräfte
zum Schutze der Besatzungen eingesetzt werden können. In dieser - ich gebe zu: in diesem Hause kontroversen - Frage dürfen wir allerdings nicht die Relation aus
den Augen verlieren: Jeder Geldtransport in Deutschland, der die Tageseinnahmen von Supermärkten abholt,
wird von bewaffneten privaten Sicherheitskräften begleitet. In diesen Fällen würde - zu Recht - niemand von
einer täglichen Unterhöhlung des staatlichen Gewaltmonopols sprechen.
({1})
Für uns als FDP ist in der Frage des Einsatzes privater
Sicherheitskräfte ein Punkt nicht verhandelbar: Mit uns
wird es keine Kriegswaffen in privaten Händen an Bord
geben.
Die Mission Atalanta leistet einen wichtigen Beitrag
nicht nur für die maritime Sicherheit, sondern dient vor
allem auch der Verbesserung der Situation der somalischen Bevölkerung. Damit diese wichtige Arbeit fortgesetzt werden kann, bitte auch ich Sie um Zustimmung
zur Verlängerung des Mandats.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen HansChristian Ströbele das Wort.
Herr Kollege, trotz der Nichtzulassung meiner Frage
kommen Sie nicht drum herum, meine Meinung zu hören. Sie können sich dann auch dazu äußern.
Sie haben gesagt, Aufgabe sei die Sicherung der Lieferungen des World Food Programmes, des Welternährungsprogramms. Sie haben hinzugefügt, es sei aber
auch Aufgabe der Kriegsschiffe der kriegsführenden
Staaten dort, die Handelswege zu sichern.
So etwas Ähnliches habe ich vorhin schon von der
Kollegin von der SPD, Frau Evers-Meyer, gehört. Für
mich stellt sich deshalb die Frage: Ist es nun tatsächlich
nach Auffassung des Deutschen Bundestages - derer, die
hier zustimmen -, Aufgabe der Bundeswehr, in Zukunft
Handelswege für die deutsche Exportnation zu sichern?
Dann sollte man das auch laut so sagen.
Ich erinnere mich daran, dass der frühere Bundespräsident aufgrund einer Interviewäußerung, in der er das
ähnlich in den Raum gestellt hat, Veranlassung gesehen
hat, sein Amt abzugeben. Deshalb stellt sich doch ernsthaft die Frage - die müssen Sie gegenüber der deutschen
Bevölkerung beantworten -: Ist es Aufgabe der Bundeswehr, einer Bundeswehr, die jetzt nicht mehr aus Wehrpflichtigen besteht, in Zukunft die Handelswege für die
Exportnation Deutschland zu sichern? Wenn das so ist
- und das hört sich hier heute so an -, dann schreiben Sie
das auch in den Auftrag hinein, damit die Bevölkerung
weiß, wofür sie entweder zur Bundeswehr geht oder wofür sie Steuern für die Bundeswehr zahlt.
Meiner Meinung nach darf das nicht Aufgabe der
Bundeswehr sein, zumal wenn - wie auch in diesem Fall
an der Küste von Somalia - es Alternativen gibt und der
Einsatz der Bundeswehr bzw. der Einsatz der AtalantaTruppen eben nicht das letzte Mittel, sondern ein Mittel
lange vor dem letzten Mittel ist.
({0})
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Ströbele, vielen Dank. - Ich will es kurz
machen. Einmal verweise ich auf das Weißbuch und zum
anderen auf Nr. 2 b) des Mandates, des Antrags der Bun-
desregierung. Ich zitiere:
… b) aufgrund einer Einzelfallbewertung der Erfordernisse Schutz von zivilen Schiffen in den Gebieten, in denen sie im Einsatz ist; …
Dazu gehören selbstverständlich auch die deutschen
Schiffe, von denen ich gerade gesprochen habe.
({0})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Ströbele, vielleicht schauen Sie auch einfach einmal auf die Homepage des Bundesverteidigungsministeriums. Der können Sie entnehmen:
Auftrag der Mission
Neben dem Schutz der Handelsschifffahrt im Golf
von Aden und entlang der somalischen Küste bestehen deren weitere Aufgaben im Schutz der Schiffe
des Welternährungsprogramms für Hilfslieferungen
nach Somalia.
Das ist also keine geheime Kommandosache oder Ähnliches.
({0})
Ich empfehle sowieso vielen Mitgliedern dieses Hauses, insbesondere auf der linken Seite, doch einmal nur
die Stichworte „Somalia“, „Versorgung“, „Einwohner“,
„Sterblichkeitsrate“ in eine Suchmaschine im Internet
einzugeben. Dazu können die Menschen alles bei
Google finden und nachlesen. Diejenigen, die sich mit
dieser Frage befassen, sollten das zumindest gelesen haben.
Es gibt dort 9,9 Millionen Einwohner, von denen
4 Millionen nicht versorgt werden können, von denen
4 Millionen von Hunger bedroht und von medizinischer
Versorgung ausgeschlossen sind und deren Lebenserwartung unter 50 Jahre liegt. 44 Prozent der Bevölkerung ist unter 14 Jahre alt.
Wer sich die Leistungen von „Ärzte ohne Grenzen“,
der SOS-Kinderdörfer oder CARE anguckt, die trotzdem
in diesem Gebiet arbeiten, muss größte Hochachtung vor
den NGOs, den Entwicklungshelfern und denen haben,
die sich dort für die Menschen einsetzen.
({1})
Wir haben hier gemeinsam ein Mandat beschlossen,
um wenigstens die Grundversorgung in einem geringen
Umfang sicherstellen zu können.
Wir sind nicht in dem Land. Herr van Aken, Sie sagen
die Unwahrheit - Sie sagen bewusst die Unwahrheit -,
wenn Sie ausführen, dass wir uns ausschließlich militärisch engagieren. Wir sind es, die für Somalia Polizisten
ausbilden, weil es grundsätzlich notwendig ist, dass ein
Staat auch für Sicherheit und Ordnung sorgt, zum Beispiel die TFG, die derzeitige Übergangsregierung.
Wir können nicht akzeptieren - das ist vollkommen
klar -, dass diese Regierung jetzt aufgrund des Einmarsches von Kenia wichtige Einrichtungen geschlossen
hat, gerade die SOS-Kinder- und Frauenklinik in dem
Flüchtlingslager Badbado. 5 000 Flüchtlinge sind dort
unversorgt. Da finden auch auf diplomatischer Ebene
Gespräche statt. Es ist unverantwortlich, solche Dinge
auf dem offenen Markt auszutragen.
Wenn Sie sich die Informationen des Außenministeriums ansehen, erkennen Sie: Es geht darüber hinaus.
Unser Max-Planck-Institut ist dabei, den Entwurf für
eine Verfassung mit den Menschen im Land zu erarbeiten. Wir sind es, die Teile von AMISOM unterstützt haben. Das heißt, wir arbeiten mit an den begleitenden
Maßnahmen, um wieder zu Rechtsstaatlichkeit zu kommen.
Jetzt erfahren wir: 500 000 Flüchtlinge aus Somalia
sind nach Dadaab gegangen, und seit dem 15. November
ist dort Cholera ausgebrochen. Wir wissen nichts über
die Situation in den Flüchtlingslagern in Somalia, weil
die Rebellen dort, wo sie noch die Macht haben, keinen
Zugang gewähren. Dort findet das Sterben unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wir kennen aber Zahlen,
die besagen, dass dort in etwa jedes fünfte Kind das
dritte Lebensjahr nicht erreicht, weil es unter Hunger,
unter einem Mangel an sauberem Wasser und Ähnlichem zu leiden hat. Deshalb ist es notwendig, nicht nur
Atalanta, sondern auch die begleitenden Maßnahmen zu
stärken. Deshalb ist es richtig, dass in diesem Zusammenhang das Entwicklungsministerium sagt: Wir versuchen punktuell, fragilen Staaten entsprechend zu helfen.
Das geschieht ja bei Somaliland. Dort hat man eine
funktionierende Übergangsregierung, die Menschen aus
Somalia können sich orientieren und erkennen, dass
Hartwig Fischer ({2})
man, wenn man mit den Rebellen nicht zusammenarbeitet, eine Perspektive hat.
Herr van Aken, die Art und Weise, wie Sie hier auftreten, ist für mich militante Menschenverachtung
({3})
und keine Rücksichtnahme auf diejenigen, die keine
Chance haben, sich selbst zu helfen, sondern die auf die
Weltgemeinschaft angewiesen sind, damit sie im Kampf
ums Überleben unterstützt werden. Ich bitte die große
Mehrheit dieses Hauses, diesem Antrag zuzustimmen.
Ich habe eine weitere Bitte an die Grünen. Die Grünen haben ja einen Entschließungsantrag vorgelegt. Ich
möchte Sie bitten, mit den anderen Fraktionen zu reden,
bevor Sie einen solchen Entschließungsantrag vorlegen.
Ich sehe in diesem Entschließungsantrag sehr viele gute
Ansätze; ich könnte sie Punkt für Punkt zitieren. Ich
glaube, gerade die Stabilisierung Somalias ist ein
Thema, an dem wir gemeinsam arbeiten können, weil es
viele Gemeinsamkeiten gibt. Die wenigen trennenden
Punkte sollten beiseitegeschoben werden.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen
Gehrcke das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident. - Ich weiß, Sie wollen
abstimmen; es ist ja auch das Recht und die Verpflichtung des Parlaments, abzustimmen.
Ich möchte nicht stehen lassen, dass meinem Kollegen van Aken „militante Menschenverachtung“ vorgehalten wird.
({0})
Ich bitte Sie: Überlegen Sie sich einmal, was Sie hier
ausführen. Sie können die Güte, die Korrektheit unserer
Konzepte bezweifeln. Sie können zur Kenntnis nehmen,
dass wir selber darüber nachdenken, was möglich und
was nicht möglich ist; dass wir skeptisch sind, ob es
wirklich so ist, dass nicht Militär, sondern zivile Hilfe
und die politische Auseinandersetzung und Dialog die
Probleme lösen. Aber eines können Sie nicht machen:
Sie können uns nicht vorhalten, dass irgendjemand bei
uns menschenverachtend ist.
({1})
Menschenverachtend sind immer Krieg und Kriegseinsätze; das ist die Wahrheit. Wenn wir uns in der Auseinandersetzung über die beste Lösung quälen, sollten
Sie uns dabei unterstützen und uns nicht solche Vorhaltungen machen.
({2})
Kollege Fischer, bitte.
Herr Kollege Gehrcke, was mich bestürzt, ist, dass es
angesichts der Bilder von sterbenden Kindern in den
Flüchtlingslagern, die wir sehen, möglich ist, auszublenden, was notwendig ist, um Hilfstransporte durchzusetzen - und das bezeichne ich so, wie ich es vorhin getan
habe.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Pira-
terie vor der Küste Somalias.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7996, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/7742 anzunehmen. Wir stim-
men nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist offensicht-
lich erfolgt. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Die obligatorische Frage: Haben alle anwesenden
Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ih-
nen später bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen; denn wir kommen nun zur Abstimmung
über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/8014. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Lin-
ken gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der
SPD abgelehnt.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 a bis d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Marieluise Beck ({0}), Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Private Sicherheitsfirmen umfassend regulieren und zertifizieren
- Drucksache 17/7640 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Innenausschuss
1) Ergebnis Seite 17407 C
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Katja Keul, Tom Koenigs, Omid Nouripour, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN
Regulierung privater Militär- und Sicherheits-
firmen
- Drucksachen 17/4573, 17/6780 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren
- Drucksachen 17/4198, 17/7998 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Bijan Djir-Sarai
Kerstin Müller ({4})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer ({6}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der „Internationalen Konvention gegen
die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung
und die Ausbildung von Söldnern“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/4663, 17/5799 Berichterstattung:
Abgeordnete Henning Otte
Joachim Spatz
Paul Schäfer ({7})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte um die Fortsetzung des AtalantaEinsatzes hat gerade noch einmal deutlich gemacht, dass
wir uns stärker als bisher mit der Tätigkeit privater Sicherheitsfirmen beschäftigen müssen. Die Bundesregierung empfiehlt mittlerweile deutschen Reedereien, ihre
Handelsschiffe durch private Sicherheitsteams schützen
zu lassen, und kündigt dabei ein Zertifizierungssystem
an, das die Seetauglichkeit der Dienstleistung absichern
soll. Damit widerspricht sie ihrer Antwort auf unsere
Große Anfrage, in der sie immer noch behauptet, es gebe
grundsätzlich keinen Regelungsbedarf in diesem Bereich.
Derzeit gibt es in Deutschland über 3 000 Unternehmen des Bewachungsgewerbes. Wer hier ein solches Unternehmen anmelden will, muss lediglich die erforderlichen Mittel nachweisen und eine Unterrichtung der
Industrie- und Handelskammer über sich ergehen lassen.
Eine Prüfung wird nicht verlangt. Damit gehört Deutschland in Europa zu den Schlusslichtern, was die Zulassungshürden in diesem Gewerbe angeht. Selbst der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft hält diese Situation
mittlerweile für untragbar. Allein die FDP ist immer
noch der Auffassung, das sei alles ausreichend, und verhindert damit ein fraktionsübergreifendes Vorgehen.
Wir fordern mit unserem Antrag strengere Anforderungen an die Zulassung von Sicherheitsfirmen, unabhängig davon, ob sie ihre Tätigkeiten im Inland oder im
Ausland anbieten. Die Tätigkeit deutscher Sicherheitsfirmen im Ausland möchte die Bundesregierung nicht
regulieren, aus Angst, damit erst Interesse an diesem Geschäftsfeld zu wecken. Das ist Vogel-Strauß-Politik nach
dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
({0})
Wir können aber nicht abwarten, bis sich dieses unregulierte Geschäftsfeld im Graubereich von selbst etabliert.
Erst im letzten Jahr hat uns der Fall der Firma Asgaard beschäftigt, die mit einem somalischen Warlord vertraglich
vereinbarte, seine Kämpfer auszubilden und weitere militärische Dienstleistungen zu erbringen. Glücklicherweise
gilt im Falle Somalias ein Embargo, gegen das die Firma
auf diese Weise verstoßen hatte. Nur auf dieser Grundlage
konnte die Staatsanwaltschaft Münster strafrechtliche Ermittlungen aufnehmen. Ohne dieses Embargo hätte der
deutsche Staat keine Handhabe gegenüber der Firma gehabt.
Wir fordern mit unserem heutigen Antrag, die Erbringung von Sicherheitsleistungen im Ausland an die strengen Genehmigungsvoraussetzungen des Außenwirtschaftsgesetzes für Rüstungsexporte zu binden. Die
Kriterien der Rüstungsexportrichtlinien müssen nicht
nur für die Waffe selbst gelten, sondern auch für die
Hand, die die Waffe führt.
({1})
Mit dem Antrag der SPD stimmen wir in vielen Punkten überein. Probleme habe ich allerdings mit dem unbestimmten und weiten Begriff der „Militärdienstleister“.
Hier muss eine klare Linie gezogen werden. Der Kernbereich militärischen Handelns ist nicht zu regulieren,
sondern muss Privaten schlicht verboten sein.
({2})
Weder Kampfhandlungen noch Ausbildung von Streitkräften gehören als Aufgabe in private Hände. Gleiches
gilt für den Besitz und die Nutzung von Kriegswaffen.
Da uns diese rote Linie im Antrag der SPD nicht deutlich genug ist, werden wir uns an dieser Stelle enthalten.
Einig sind wir uns in der Forderung nach einer transparenten Übersicht über die in Deutschland ansässigen Sicherheitsfirmen. Eine Registrierungspflicht ist dafür unabdingbar. Auch die Forderung nach internationalen
verbindlichen Normen teilen wir mit der SPD.
Auf internationaler Ebene tritt die Bundesregierung
leider auf die Bremse. Es ist beschämend, dass Deutschland sich den Verhandlungen im UN-Menschenrechtsrat
über die Regulierung privater Sicherheitsfirmen verweigert.
({3})
Wenn Sie meinen, dass das nicht das richtige Forum ist,
dann zeigen Sie wenigstens anderswo Initiative, anstatt
einfach gar nichts zu tun. Die Regierung unterstützt
nicht einmal den freiwilligen Verhaltenskodex der internationalen Sicherheitsbranche. Das Auswärtige Amt hat
weltweit über 140 Sicherheitsfirmen unter Vertrag. Auf
die Unterzeichnung dieser Selbstverpflichtung wird bei
der Auftragsvergabe aber kein Wert gelegt. Dabei hat
sich die Bundesrepublik im Dokument von Montreux
vom September 2008 sogar verpflichtet, innerstaatliches
Recht zur effektiven Bindung privater Sicherheitsfirmen
an das humanitäre Völkerrecht zu erlassen.
Auch das Europäische Parlament hat bereits konkrete
Vorschläge unterbreitet. Der Europäische Gerichtshof
hat mehrfach erklärt, dass die Europäische Union auf
dem Gebiet des Sicherheitsgewerbes auch selbst tätig
werden kann. Gehen Sie endlich voran, und legen Sie
konkrete Vorschläge vor, bevor es andere tun!
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
dieses Thema nicht umsonst bereits in der zweiten Legislaturperiode auf der Tagesordnung. Seit dem Ende
des Kalten Krieges hat es im Bereich der Sicherheitspolitik gravierende Änderungen gegeben, nicht nur im
militärischen Bereich, sondern auch im gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Bereich. All diese Entwicklungen bestimmen die Sicherheitspolitik. Wir stehen außerdem vor außerordentlich
gravierenden Achsverschiebungen, die auch Auswirkungen auf unsere strategischen Koordinaten haben.
Unsere strategischen Sicherheitspartner - allen voran
Frankreich, die EU-Länder und die Vereinigten Staaten
von Amerika - sind bislang immer auch unsere strategischen Handelspartner gewesen. Wenn wir jetzt aber auf
Schwellenländer oder auf China schauen, stellen wir
fest, dass sich in den letzten zehn Jahren der Handel mit
deutschen Firmen verfünffacht hat. China ist mittlerweile unser drittwichtigster Handelspartner.
Wir blicken also in eine Zukunft, in der unsere strategischen sicherheitspolitischen Interessen und unsere
Handelsinteressen möglicherweise erstmals auseinanderklaffen können. Mit zunehmendem Einfluss von
China, Indien und einigen anderen Staaten ergibt sich
eine Gleichgewichtsverschiebung, die nach neuer Balance strebt.
Dabei knirschen und knarren einige Achsen. Sie knarren und knirschen, weil wir im Umbruch sind. Unser
wichtigster Partner, die Vereinigten Staaten von Amerika,
orientiert sich verstärkt in den pazifischen Raum. Die
Europäische Union erarbeitet sich zurzeit außenpolitische
Handlungsfähigkeit, ist aber genauso wie die Vereinigten
Staaten von Amerika momentan vor allem mit sich selbst
beschäftigt. Die Finanzkrise hält uns in Atem.
Diese Verschiebungen und finanziellen Zwänge haben
auch Auswirkungen auf unsere Sicherheitspolitik. Der
Verteidigungshaushalt der USA wird nach dem Scheitern
des Super Committees - verteilt über die nächsten zehn
Jahre - um 950 Milliarden Dollar gekürzt. In Afghanistan
und im Irak setzten die USA parallel zu staatlichen Sicherheitskräften bereits massiv private Sicherheitsunternehmen
ein, weil ihre staatlichen Sicherheitskräfte überdehnt waren.
Ich sage ganz offen: Wir von der Union stehen zum
staatlichen Gewaltmonopol. Auch wir Deutsche reformieren unsere staatlichen Sicherheitskräfte, auch wir
müssen einerseits sparen und zugleich verantwortungsbewusste Sicherheitspolitik gewährleisten. Unsere Bundeswehr steht vor der größten Reform ihrer Geschichte,
unsere Länderpolizeien sind immer stärker in der Extremismusabwehr eingebunden. Für uns gilt deshalb das
staatliche Gewaltmonopol als unverzichtbar.
Aber - in diesem Punkt muss ich den Antragstellern
recht geben -: Vor allem international ist ein Trend zu
mehr Privatisierung erkennbar. Angesichts begrenzter
staatlicher Ressourcen, fortschreitender Spezialisierung
und Technologisierung werden wir - das beobachten wir
international sehr genau - eine erhöhte Nachfrage nach
Leistungen privater Sicherheitsdienste zu verzeichnen
haben. Gerade wir von der Union müssen die Entwicklung vor allem unter dem Aspekt betrachten, dass wir
Herr des staatlichen Gewaltmonopols bleiben.
Schauen wir einmal auf unsere Seewege. Die letzte
Debatte hat uns gezeigt: Sichere Seewege sind für unser
Land als Welthandelsnation unverzichtbar. Piraten am
Horn von Afrika - über die Ursachen haben wir schon
debattiert - dehnen ihren Aktionsradius weiter aus. Das
ist ein Problem, das uns intensiv in Mitleidenschaft
zieht. Eine Bewachung einzelner Schiffe durch Bundespolizisten oder die Bundeswehr ist auch weiterhin nicht
machbar. Wir stellen fest: Mehr und mehr deutsche Reeder greifen deshalb schon heute auf den Schutz privater
Sicherheitskräfte zurück. Hier besteht Handlungsbedarf.
Es gibt eine weitere Herausforderung, die in Ihren
Anträgen nicht deutlich wird, nämlich dass deutsche
Soldaten im Ausland mehr und mehr mit privaten Sicherheits- und Militärunternehmen der Partner kooperieren werden. In Afghanistan und im Irak haben die USA
private Sicherheitskräfte eingesetzt. Das ist ein Trend,
der sich auch künftig fortsetzen wird. Das - wir wissen
es - hat nicht nur positive Konsequenzen.
Ich ziehe für unsere Fraktion zwei Folgerungen: Erstens. Wir brauchen eine Regelung darüber, wie wir vorgehen, wenn deutsche Firmen im Ausland auf private Sicherheits- und Militärunternehmen zurückgreifen.
Zweitens. Wir haben einen Regelungsbedarf - den müssen wir definieren - für deutsche staatliche Sicherheitskräfte im Ausland, wenn unsere Sicherheitskräfte auf
private Unternehmen der Partner statt auf staatliche
Kräfte treffen.
Dies ist übrigens in einer Anhörung, die ich im Juni
dieses Jahres zusammen mit dem Koalitionspartner gemacht habe, von fünf teilnehmenden Ministerien einvernehmlich bestätigt worden.
Die Anträge der Opposition sind in diesem Bereich
nicht ausreichend. Wir werden sie deshalb ablehnen.
Ich halte deshalb fest: Dort, wo sich Staaten mit ihren
Sicherheitskräften zurückziehen oder nichtstaatliche Unternehmen einbinden, sehen wir als Union einen Handlungsbedarf. Auch wenn wir Deutsche das staatliche Gewaltmonopol stützen und fördern, ist das international
nicht immer der Fall. Das Problem ist allerdings wesentlich komplexer, als in den Anträgen dargestellt.
Wenn Staaten ihre Aufgaben einschränken, sie aufgrund von Haushaltszwängen auch einschränken müssen, dann muss man über die Konsequenzen und Alternativen nachdenken dürfen.
Ich sage abschließend: Wir von der Union teilen die
Auffassung, dass die Behandlung des Themas private Sicherheits- und Militärunternehmen drängend ist. Dazu
hatten wir bereits einen Runden Tisch. Ich versichere Ihnen, wir bleiben am Thema dran. Ich schlage eine Anhörung im zuständigen Unterausschuss dazu vor. Wir hoffen auf Bewegung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, will
ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der vorhergehenden namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta …“
- ich verkürze, es ist ein viele Zeilen langer Titel - mitteilen: Abgegebene Stimmen 547. Mit Ja haben gestimmt
472, mit Nein haben gestimmt 63, Enthaltungen 12. Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 547;
davon
ja: 472
nein: 63
enthalten: 12
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({13})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({14})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({17})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({18})
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({21})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({22})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({23})
Hubertus Heil ({24})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({25})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({26})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({27})
Steffen-Claudio Lemme
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({28})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({29})
Michael Roth ({30})
({31})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({32})
Marianne Schieder
({33})
Werner Schieder ({34})
Ulla Schmidt ({35})
Silvia Schmidt ({36})
Carsten Schneider ({37})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({38})
Ewald Schurer
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({39})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Miriam Gruß
Joachim Günther ({40})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({41})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({42})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({43})
Dr. Martin Neumann
({44})
Hans-Joachim Otto
({45})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({46})
Dr. Daniel Volk
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({47})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({50})
Ingrid Hönlinger
Ute Koczy
Oliver Krischer
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({51})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({52})
Raju Sharma
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bettina Herlitzius
Lisa Paus
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({53})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Katja Dörner
Dr. Anton Hofreiter
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Agnes Krumwiede
Agnes Malczak
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Nun erteile ich dem Kollegen Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion das Wort.
({54})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, es besteht im Deutschen Bundestag - ich hoffe, auch bei der Bundesregierung - Einvernehmen, dass wir es hier mit einem Thema zu tun haben,
bei dem es weiteren Handlungsbedarf gibt. Wir müssen
offen darüber diskutieren. Das darf nicht in einer Nische
des Ungefähren bleiben. Ich glaube insbesondere, dass
weitergehende Informationen dringend notwendig sind.
Wir haben mittlerweile - das hat der Kollege
Kiesewetter hier beschrieben - einen Trend in der Sicherheitspolitik, der zunehmend neue Facetten beinhaltet. Insbesondere treten offensichtlich neue, private
Akteure auf, die einer großen Nachfrage von Staaten
- offensichtlich aber auch von privaten Gewaltakteuren nachkommen. Ich glaube, wenn wir eine verantwortliche
Außen- und Sicherheitspolitik machen wollen, sollten
wir uns im Deutschen Bundestag schon Gedanken darüber machen, wie wir bei diesem Thema entsprechende
Regelungen einführen können.
Ich will einen zweiten Punkt benennen - auch er
sollte der Bundesregierung Sorge machen -: Diese
Akteure höhlen das staatliche Gewaltmonopol aus. Es
handelt sich dabei aus meiner Sicht - neben anderen Bereichen - um einen Eckpfeiler der europäischen Friedensordnung, der im Grunde genommen dieses Europa
so einzigartig gemacht hat. Schlimme Erfahrungen haben zu der Erkenntnis geführt, das staatliche Gewaltmonopol - dies ist auch gelungen - im Innern, aber auch
nach außen hin zu sichern. Das wird möglicherweise
durch diesen internationalen Trend mehr und mehr ausgehöhlt. Deswegen ist es, glaube ich, die Aufgabe von
Politik, sich insbesondere mit diesen Herausforderungen
zu beschäftigen und nicht nebenher zu erwähnen, dass es
keine Rolle spiele.
Genau das ist, glaube ich, die Frage, welche heute insbesondere die Bundesregierung umtreiben muss. Die
Antwort auf die Große Anfrage der Grünen hat doch gezeigt, dass zwar einerseits an der einen oder anderen
Stelle gesagt wird, dass es Handlungsbedarf gibt, wir andererseits im Grunde genommen aber keine Vorschläge
dazu haben. Wir beteiligen uns nicht an einer Debatte,
die unbedingt notwendig ist.
Ich bin der festen Überzeugung: Dieser Bereich ist zu
wenig kontrolliert. Wir wissen zu wenig darüber. Weil er
global organisiert ist, müssen wir versuchen, nicht nur
national zu handeln, sondern global letztlich unsere Vorschläge in die Debatte einzuführen.
({0})
Deswegen haben wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, schon vor zehn Monaten einen Antrag
vorgelegt - nachdem es bereits in der letzten Legislaturperiode einen Antrag dazu gegeben hatte -, in dem wir
uns mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und auch
Vorschläge unterbreitet haben. Ich hatte schon ein wenig
die Hoffnung - nachdem wir in den vergangenen Monaten mit Herrn Kiesewetter, aber auch mit anderen Kolleginnen und Kollegen gesprochen hatten; Herr Mißfelder
hat in der letzten Woche, als wir über Atalanta sprachen,
gerade auf die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols hingewiesen -, dass wir zu einer gemeinsamen Lösung im deutschen Parlament kommen würden. Das ist
nicht gelungen. Ich bedauere das. Auch bin ich letztlich
sehr enttäuscht darüber.
Herr Kiesewetter, wenn ich Ihre Rede richtig verstanden habe, war sie weniger ein Appell an die Fraktionen
auf der linken Seite, sondern offensichtlich mehr an Ihren Koalitionspartner, zumindest eine gewisse Bewegung zu unternehmen. Wir unterstützen Sie darin.
Ich will auf den Antrag hinweisen, der zwischen nationalem und internationalem Handlungsbereich unterscheidet. Wir sprechen von einer „Registrierungspflicht
für private Sicherheitsfirmen und Militärdienstleister“.
Ich glaube, das ist dringend notwendig, weil wir zu wenig darüber wissen, was sich in Deutschland und darüber
hinaus tut. Wir haben über ein „Lizenzierungssystem für
militärische Dienstleistungen“ gesprochen, denn das ist
ein wichtiger Punkt, der in der Debatte, die der Staatssekretär Otto im Hinblick auf die maritime Begleitung angestrebt hat, offensichtlich eine Rolle spielt. Wir wollen
hier im Deutschen Bundestag jährliche Berichte diskutieren. Wir wollen auch eine Offenlegung von entsprechenden Verträgen der Bundesregierung mit privaten Sicherheitsfirmen, die über eine bestimmte Summe
hinausgehen, damit der Deutsche Bundestag darüber Bescheid weiß. Wir haben Sie zu all dem in unserem Antrag aufgefordert.
Frau Keul, wenn es von Ihnen oder auch von anderen
Kritik gegeben hätte, dann wären wir immer dazu bereit
gewesen, diesen Antrag zu verändern; stattdessen führen
Sie sozusagen auf den letzten Metern neue Anträge in
die Debatte ein.
Wir haben ebenso für den internationalen Bereich
Forderungen aufgestellt. Wir haben gesagt, dass die Ratifizierung der internationalen Konvention dringend notwendig ist, weil es um ein internationales Handlungsfeld
geht, auf dem es internationaler Anstrengungen bedarf.
Wir wollen aber gleichzeitig eine Konkretisierung der
Konvention und langfristig eine eigenständige völkerrechtliche Regelung.
Die Umsetzung all dieser Forderungen wäre dringend
notwendig. Sie haben die Punkte in der Antwort auf die
Große Anfrage angesprochen. Der Kollege Hoyer möge
es mir - bei aller Sympathie und allen guten Wünschen
für die weitere Arbeit - verzeihen, dass ich ihn damit
konfrontiere: Ich bin schon ein wenig enttäuscht, dass
die Bundesregierung auf die Frage, inwiefern sie sich international daran beteiligt, diesen Verhaltenskodex nicht
nur zu ratifizieren, sondern ihn auch auszuarbeiten, geantwortet hat - hier zitiere ich aus der Antwort auf die
Große Anfrage -:
Die Bundesregierung hat sich nicht aktiv bei der
Ausarbeitung des Verhaltenskodex engagiert, diesen Prozess aber … beobachtet.
Herr Kollege Hoyer, ich finde, das ist zu wenig.
({1})
Bei diesem Phänomen, das nicht nur für Sie von der
Bundesregierung, sondern auch für das Parlament im
Hinblick auf die internationale Situation eine Herausforderung darstellt, hilft es nicht weiter, nur zu beobachten.
Wir müssen hier gestalten. Die Bundesregierung hätte
das tun können.
Sie sind jetzt Mitglied im Sicherheitsrat. Sie hätten
die Initiative an sich ziehen können. Sie hätten in Genf
bei der Lösung dieser Fragen eine wichtige Rolle spielen
können. Leider kam nichts. Das hat auch der Bundesaußenminister offenbart, als wir ihn gestern im Auswärtigen Ausschuss gefragt haben: Was passiert denn eigentlich in diesem Bereich? Er wusste keine Antwort.
Ich finde das schwierig; ich finde das schlecht für die
deutsche Außenpolitik.
Ich hoffe, dass in nächster Zukunft etwas getan wird,
nicht nur im Rahmen des Sicherheitsrats, sondern auch
im Rahmen der Europäischen Union; auch hier ist ein
Handlungsfeld gegeben. Die Regelungen sind dringend
notwendig, weil die Herausforderungen für Deutschland,
aber auch für die internationale Gemeinschaft sehr groß
sind. Deswegen werden auch wir, Frau Kollegin Keul,
uns nicht entmutigen lassen; wir werden weiterarbeiten.
Herr Kiesewetter, ich warte schon mit Spannung darauf,
wie Sie in dieser Legislaturperiode mit Ihrem Koalitionspartner - wenn Sie wollen, auch mit uns; wir wären
dabei - eine gemeinsame Regelung vorlegen wollen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Bijan Djir-Sarai für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte um private und militärische Sicherheitsunternehmen ist in den letzten Jahren besonders
aufgrund der internationalen Berichterstattung wieder
ins Rollen gekommen. Das Unternehmen Blackwater
Worldwide dürfte allen Kollegen ein einschlägiger Begriff sein. Auch mir sind die fragwürdigen Methoden
dieses Unternehmens unangenehm aufgefallen. Die
Schlagzeilen, die der Einsatz dieses Unternehmens gemacht hat, haben zu einer starken Verunsicherung in der
Bevölkerung sowie bei Regierungen und Parlamenten
geführt. Unkontrollierte Handlungen von privaten und
militärischen Sicherheitsunternehmen in jedem Fall zu
verhindern, ist daher das große Thema, das große Ziel.
Daher sehe ich es genauso wie Sie, meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir bei
diesem Thema gar nicht so weit auseinanderliegen: Niemand will, dass die Sicherheit in nicht stabilen Ländern
oder Regionen durch solche Tätigkeiten zusätzlich bedroht wird. Trotzdem kann ich den vorliegenden Anträgen an dieser Stelle nicht mehr als eine gute Intention
abgewinnen. Problematisch sind mehrere rechtliche wie
auch tatsächliche Aspekte.
Ganz zu Beginn stellt sich die Frage, wie überhaupt
private und militärische Sicherheitsunternehmen in Zukunft verbindlich definiert werden. In den meisten Fällen ist eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeitsfelder
betroffen, die sogar im sogenannten Montreux-Dokument nicht abschließend aufgeführt werden. Laut Montreux-Dokument werden zivile und militärische Aktivitäten sogar auf einer Ebene angesiedelt. Es kann nicht
sein, dass sogar Unternehmen, die zivile Hilfstätigkeiten
ausführen, unter die Rubrik „privates und militärisches
Sicherheitsunternehmen“ fallen, nur weil sie für eine Sicherheitsbehörde arbeiten.
In Bezug auf die nationale Ebene möchte ich erwähnen, dass deutsche Unternehmen im Ausland für die
Bundeswehr ausschließlich logistische und technische
Aufgaben übernommen sowie nichtmilitärische Überwachung durchgeführt haben. Auch in Zukunft sind Einsätze von privaten und militärischen Sicherheitsunternehmen nicht vorgesehen. Das Gewaltmonopol soll und
muss daher beim Staat bleiben; so sieht das übrigens
auch die Bundesregierung.
Des Weiteren gibt es keine Kenntnisse darüber, dass
deutsche Sicherheitsunternehmen bislang militärische
Leistungen im Ausland erbracht haben. Ich weiß nicht,
wo Sie ihre konkreten Beispiele herholen.
({0})
- Herr Kollege, das habe ich ja auch gesagt. - Aus diesem Grunde ist die Diskussion zumindest auf nationaler
Ebene derzeit nicht zielführend. Die Regulierung sorgt
zum jetzigen Zeitpunkt nur für eines, nämlich für mehr
Bürokratie. Im schlimmsten Fall könnte durch Zertifizierung und Regulierung sogar ein Anreiz für Unternehmen
geschaffen werden, sich in diesem Bereich erst recht zu
engagieren. Das ist mit Sicherheit nicht wünschenswert,
und das will auch niemand in diesem Haus.
({1})
Lässt man diese beiden großen Punkte weg, bleibt immer noch die Frage, wie die Arbeit dieser Unternehmen
im Ausland überhaupt überprüft werden soll.
({2})
Das stelle ich mir ebenfalls sehr schwierig vor, wenn es
nicht sogar unmöglich ist. Auf europäischer Ebene reichen zum heutigen Zeitpunkt entsprechende Vorschriften des Sanktionsrechts, des Gewerberechts und des Außenwirtschaftsrechts völlig aus, um Gefahren durch
militärische Sicherheitsunternehmen entgegenzutreten.
({3})
Vor einigen Monaten ist ein weiterer Aspekt dieses
Themas näher diskutiert worden: Wie kann im maritimen Bereich stärker mit privaten und militärischen Sicherheitsunternehmen zusammengearbeitet werden, um
das sehr hartnäckige Problem der Piraterie zu lösen? Die
Bundesregierung überprüft in diesem Zusammenhang
derzeit mögliche Regelungen zur Zertifizierung von Unternehmen, die für Sicherheit auf deutschen Schiffen
sorgen. Das ist ebenfalls eine interessante Diskussion,
die ein selbstbewusstes Parlament zum gegebenen Zeitpunkt führen muss.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es fügt
sich in der Tat gut, dass wir die Debatte über private Sicherheitsdienstleister im Anschluss an die Debatte über
das Mandat für die Operation Atalanta diskutieren. Damit ist klargestellt: Wir diskutieren nicht im luftleeren
Raum, sondern es geht um sehr praktische Dinge. Am
Horn von Afrika wird seit Jahren versucht, das Problem
der Piraterie mit militärischen Mitteln in den Griff zu bekommen. Ein durchschlagender Erfolg ist das nicht. Jetzt
sollen private Sicherheitsfirmen Abhilfe schaffen, die
man als Wach- und Begleitschutz einsetzen will. Das
folgt der sattsam bekannten Logik, Gewalt mit Gewalt
zu bekämpfen. Das Problem wird dabei nicht gelöst.
Was aber die Gewaltlogik im Fall der Privatisierung
angeht, haben wir das besondere Problem, zu klären, wie
die Wahrung rechtlicher Normen, klare Verantwortlichkeiten sowie die Vermeidung unkontrollierbarer Eskalation möglich sein sollen. Die Befürworter - oder zumindest jene, die sagen, es geht nicht anders, als das
staatliche Gewaltmonopol aufzuweichen - führen ins
Feld, man wolle die Privaten klaren Regeln unterwerfen.
Aber ja doch: Auf dem Papier dürfte vermutlich stehen,
welche Waffen eingesetzt werden und welche Vorschriften für die Anwendung von Gewalt einzuhalten sind.
Solche Papiere, sprich: Verträge, gab es aber auch schon
beim Einsatz von Blackwater im Irak und in Afghanistan. Wenn es dann Anwürfe, Klagen gibt, dann wird ein
solches Unternehmen kurzerhand dichtgemacht, es löst
sich in Luft auf, wird umbenannt und neu gegründet.
Blackwater heißt heute Xe Services. Das verweist doch
darauf, dass es überhaupt keine Garantien geben wird,
dass die rechtlichen Grenzen eingehalten werden und
dass es klare Verantwortlichkeiten gibt. Das spricht gegen die Notwendigkeit, solche Gewaltbefugnisse an private Firmen zu übertragen. Die Gefahr, dass ethische,
moralische und rechtliche Standards bröckeln, ist riesengroß. Warum sollte man eine Gefahr lostreten, wenn
man sie abwenden kann?
({0})
Transparenz ist natürlich sinnvoll. Die öffentliche Registrierung und Zertifizierung von Sicherheitsunternehmen ist nicht von Übel. Wer wollte dem widersprechen?
Das fordert die SPD in ihrem Antrag. Abgesehen davon
muss man sagen, dass die demokratische Kontrolle in
diesem Milieu verdammt schwierig ist. Das zeigt der
Blick auf den Rüstungssektor und die Waffengeschäfte.
Das ist bei kommerziell ausgerichteten Söldner- oder Sicherheitsfirmen noch schwieriger. Sie haben keine Produktionsstandorte, die man kontrollieren könnte, und
überwiegend freie Mitarbeiter mit kleinem Handgepäck.
Das tödliche Know-how steckt im Kopf.
Entscheidend ist Folgendes - das werden wir in unserem grundsätzlichen Antrag schreiben; darauf kommt es
nämlich an -:
Erstens. Die Bundeswehr soll keine Aufträge an ausländische Unternehmen wie Xe Services zu militärischen Unterstützungsleistungen vergeben.
({1})
Zweitens. Deutschen Firmen soll gesetzlich untersagt
werden, Leistungen der Gefechtsunterstützung, der militärischen Beratung und Informationsbeschaffung und
der Gewährleistung militärischer Sicherheit zu erbringen.
Das sind konkrete Forderungen. Darauf kommt es an;
denn noch gibt es keine deutschen Großfirmen - diesbezüglich hat der Kollege Bijan Djir-Sarai recht -, die, wie
Dyncorp, solche Dienstleistungen im Ausland anbieten.
Noch kann man die Tür also zuhalten, und genau darauf
kommt es an. Wir wollen die Tür nicht durch Zertifizierung aufstoßen, sondern wir wollen sie zuhalten.
({2})
Wir wollen auch ein klares Zeichen setzen und die internationale Debatte von Deutschland aus beeinflussen.
Klar, das ist kein temporäres Einzelphänomen mehr
- das macht das Problem aus -, aber sich jetzt damit einzurichten, das wäre Fatalismus. Da gehen wir nicht mit.
Ich glaube, die Frage muss anders beantwortet werden:
Ja, wir wollen diese moderne Form des Söldnertums
nicht, und ja, wir wollen diese Fehlentwicklung zurückdrehen.
({3})
Es kann doch schlicht und einfach nicht sein, dass Sicherheit nur unter ökonomischen Kostengesichtspunkten
gesehen wird. Staaten sind doch keine Diskos, die Türsteher anstellen. Staaten sind auch keine Läden, die ihre
Einnahmen vom Wachdienst abholen lassen.
({4})
Im Irak und in Afghanistan wurden einschlägige Erfahrungen gemacht, die von der Politik endlich einmal konsequent verarbeitet werden müssen.
Ein letzter Satz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es
wäre ein erster symbolischer Schritt, wenn Deutschland
die Internationale Konvention gegen die Anwerbung,
den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von
Söldnern ohne Wenn und Aber umgehend ratifizieren
würde. Dazu fordern wir Sie heute auf.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Robert Hochbaum für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute Anträge, die zumindest teilweise in
die richtige Richtung gehen, bei genauerer Betrachtung
für uns jedoch leider nicht zustimmungsfähig sind.
({0})
Lassen Sie mich zunächst auf die Anträge der SPD
und der Grünen eingehen. Hier ist unter anderem als Begründung zu lesen, dass die Reduzierung der Bundeswehr zu einer verstärkten Inanspruchnahme privater militärischer Sicherheitsunternehmen führen kann - ich
betone: kann - und deshalb eine Zertifizierung notwendig ist. Auch lese ich von umfangreichen Berichten, die
gefordert werden. Sie können doch nicht tatsächlich erwarten, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt ein neues bürokratisches Monstrum schaffen. Ein solches fordern Sie
ein, wenn Sie es auch nicht wahrhaben wollen.
({1})
Natürlich sehen auch wir Handlungsbedarf, jedoch
nicht so, wie von Ihnen hier im Einzelnen dargestellt.
({2})
Es kann doch nicht sein, dass Sie, obwohl wir immer für
einen Abbau der Bürokratie kämpfen, an dieser Stelle
vehement nach Bürokratie rufen. Wenn wir uns diesem
Thema nähern - das müssen wir in naher Zukunft; das
haben wir heute schon gehört -, sollten wir gerade darauf besonders achten.
Sie begründen Ihren Antrag mit Negativbeispielen
aus anderen Staaten. Da stellt sich für mich natürlich die
Frage, ob Sie die Unternehmen in Deutschland sozusagen prophylaktisch mit in Haftung nehmen wollen, ob
Sie alle erst einmal unter Generalverdacht stellen, um sie
dann einer Prüfung zu unterziehen. Meiner Meinung
nach ist das nicht der richtige Weg. Was in anderen Ländern schiefgegangen ist, sollte nicht automatisch auf
Deutschland übertragen werden. Wir brauchen eigene
Lösungen.
Ich unterstelle Ihnen, meine Damen und Herren von
der SPD und von den Grünen, dass Sie es gut gemeint
haben. Ich glaube aber nicht, dass Sie der Sache, zumindest in der vorliegenden Form, einen Gefallen getan haben. Wie sieht es denn in Wirklichkeit aus? Wenn es tatsächlich sogenannte schwarze Schafe bei den privaten
Sicherheitsunternehmen gibt, werden sich diese sicherlich nicht in Deutschland zertifizieren lassen. Sie agieren
dann durch Firmenneugründungen oder Zweitniederlassungen in anderen, problematischen Staaten. Man findet
in Ihren Anträgen keine Vorschläge, wie man einer solchen Problematik Herr werden kann.
Nur um den Versuch zu unternehmen, dem einen Riegel vorzuschieben, müsste weltweit überwacht und kontrolliert werden. Ganz zu schweigen davon, dass dies nur
sehr schwer möglich wäre, müsste verhindert werden,
dass die Kosten einer solchen gigantischen Aufgabe ausufern. Letztendlich müsste wieder einmal der deutsche
Steuerzahler die Zeche zahlen. Dem können und wollen
wir auf gar keinen Fall zustimmen.
({3})
Möchten Sie die Zwischenfrage der Kollegin Keul
zulassen?
Nein, ein anderes Mal.
Das ist also nicht der Fall.
Abschließend lässt sich zu den Anträgen der SPD und
der Grünen sagen, dass wir in Deutschland bereits andere Regelungswerke haben, zum Beispiel das EUSanktionsrecht, das Gewerberecht oder das Außenwirtschaftsrecht, um falschen oder korrupten Entwicklungen
entgegenzuwirken. Diese und andere rechtliche Regelungen sollten wir erst einmal auf ihre Wirksamkeit prüfen. Erst danach sollten wir überlegen, ob wir neue Regelungen brauchen.
Nun noch einige Worte zum Antrag der Linken.
({0})
Nicht nur, dass Ihr Antrag - zumindest in der schriftlichen Form - ein wenig lieblos mit kaum einer Begründung daherkommt, er zielt eigentlich darauf ab, ein generelles Verbot von privaten Sicherheitsfirmen im
Auslandseinsatz zu erwirken.
({1})
Das halten wir für wenig sinnvoll.
Sicherlich ist ein Söldnereinsatz in Krisengebieten
abzulehnen,
({2})
aber es gibt heute durchaus sinnvolle Sicherheitspartnerschaften mit privaten Dienstleistern, beispielsweise bei
humanitären Einsätzen oder bei der Ausbildung lokaler
Sicherheitskräfte. Es soll sogar zivile Aufbauhelfer geben, die einen Schutz durch solche Sicherheitsfirmen bevorzugen, um nicht zu eng mit militärischen Kräften zu
operieren. Also, auch private Dienstleister sorgen somit
unter Umständen aktiv für Sicherheit und Frieden.
Ebenso ist es wenig zielführend, dieses Thema so verkürzt zu betrachten, wie Sie es getan haben, und nicht
detailliert auf die mit Sicherheit wichtigen Probleme und
Ursachen einzugehen. Ich kann dazu nur sagen: Thema
verfehlt! Wir lehnen auch diesen Antrag ab.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, mein Blick geht in
Richtung SPD und Grüne. Ich sagte schon zu Beginn
meiner Rede: Ihre Anträge, denen wir in der vorliegenden Form nicht zustimmen können, weisen zumindest
teilweise in die richtige Richtung. Darum - ich kann hier
natürlich nur für die CDU/CSU sprechen - sind die Türen
zu weiteren Verhandlungen von unserer Seite nicht verschlossen. Die Messlatte liegt jedoch hoch. Sie liegt,
wenn es an der Zeit ist, bei einer kostengünstigen, prakti17414
kablen, nicht überbürokratisierten und rechtlich sicheren
Lösung.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7640 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7998, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/4198 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Was macht die Linke?
({0})
- Sorry, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.
({1})
Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die
Linke. Die SPD hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen hat sich enthalten.
Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Ratifizierung der ‚Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den
Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern‘ der Generalversammlung der Vereinten Nationen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/5799, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/4663 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen; abgelehnt haben die Oppositionsfraktionen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2})
zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung
des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der
Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier
Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage
der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 ({3}) und Folgeresolutionen
- Drucksachen 17/7577, 17/7997 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Sevim Dağdelen
Marieluise Beck ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7999 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Stinner
für die FDP-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Auch nach 16 Jahren Engagement
in der Region, um die es nun geht, müssen wir feststellen: Der militärische Einsatz, den wir damals begonnen
hatten, war notwendig. Im Rückblick können wir sagen:
Er war außerordentlich erfolgreich.
({0})
Er hat dazu geführt, dass die grausamen Bilder, die wir
alle noch in Erinnerung haben, der Vergangenheit angehören, dass die Situation in Bosnien-Herzegowina wesentlich besser geworden ist und wir jetzt von einem
friedlichen Umfeld reden können.
Erinnern wir uns daran: Wir hatten ursprünglich über
50 000 Soldaten in der Region. Jetzt sind es noch einige
Hundert, vielleicht tausend. Insgesamt sind gegenwärtig
nur noch vier deutsche Soldaten in Bosnien-Herzegowina stationiert - nur noch vier.
Aber natürlich ist es auch weiterhin wichtig und richtig, dass wir als Europäer in diesem geschundenen Land
militärische Präsenz aufrechterhalten, und zwar aus
symbolischen Gründen. Wir wollen deutlich machen,
dass wir nicht gewillt sind, eine Rückkehr in alte Zeiten
zuzulassen, dass wir nicht gewillt sind, dass wieder Bürgerkriegssituationen entstehen.
Aus diesem Grunde umfasst das Mandat auch die Ermächtigung, dass wir neben den Soldatinnen und Soldaten vor Ort ein Reservebataillon vorhalten - „over the
horizon“, nennt man das -, das bei Bedarf eingeflogen
werden kann, um eventuell notwendige Maßnahmen
dort durchzuführen. Das ist völlig richtig; das ist wichtig. Aus diesem Grunde ist auch die Obergrenze des
Mandats mit 800 Soldaten völlig richtig. Wir erinnern
uns: Ein Bataillon hat circa 600 Leute, mit Unterstützung circa 700 Leute. Das Mandat ist völlig richtig zugeschnitten.
Aber natürlich wissen wir alle, dass das nur eine Seite
der Medaille ist. Worauf es auch hier wieder ankommt
- wir können zu diesem Bereich ähnliche Reden halten
wie zuvor -: Es ist uns klar: Das Militär ist nur ein Teil
der Problemlösung gewesen. Die wesentliche Problemlösung muss natürlich auch in Bosnien-Herzegowina auf
der politischen Ebene erfolgen. Hier sehen wir leider bis
zum heutigen Tag nicht die Erfolge, auf die wir alle gewartet haben und die dringend notwendig sind, um das
Land zu befrieden, um das Land vor allen Dingen innerlich zu befrieden, um das zu erreichen, was wir ja wollen: im Sinne des europäischen Lebensgefühls gute
Nachbarschaft hervorzurufen. Von guter Nachbarschaft
ist man bedauerlicherweise in Bosnien-Herzegowina
heute nach wie vor meilenweit entfernt. Das bedauern
wir außerordentlich.
Aus diesem Grunde ist auch weiterhin internationale
Unterstützung, internationale Präsenz in diesem Land
politisch notwendig.
Jetzt kommt routinemäßig, liebe Frau Beck - ich kann
es uns beiden nicht ersparen -, unsere Auseinandersetzung über die Rolle des OHR. Ich bin nachhaltig dafür
- die Bundesregierung ist es auch -, dass die Rolle des
OHR überflüssig geworden ist und deshalb abgeschmolzen werden soll.
Wir haben mittlerweile einen europäischen SR, einen
europäischen Special Representative, Herrn Sörensen.
Er hat seine Arbeit gerade aufgenommen, und ich höre,
dass er in der Region sehr gut ankommt und sehr gut angenommen wird, dass er mit dem richtigen Ton, mit der
richtigen Intention in die Region hineingeht. Genau das
muss die Richtung sein: mit europäischen Instrumenten,
mit europäischen Wertehaltungen das Land näher an die
Europäische Union zu bringen.
({1})
Wir alle wissen aber auch: Mit dem Rahmen, den wir
geben, sowohl durch die Bereitschaft, militärisch noch
präsent zu sein, wenn es denn notwendig ist - zum
Glück war das ja schon lange nicht mehr der Fall -, als
auch durch die Bereitschaft, politisch flankierend tätig
zu sein, können wir nur eine Hilfestellung geben. Die
Botschaft an das Land Bosnien-Herzegowina muss ein
weiteres Mal lauten: Die Tür nach Europa steht offen.
Durch die Tür müsst ihr, muss Bosnien-Herzegowina,
selber gehen. Dabei können wir euch nur unterstützen.
Aber den Weg müsst ihr selber beschreiten, so schwer er
auch sein mag.
Wir erleben im Augenblick die Situation, dass Bosnien-Herzegowina anderthalb Jahre nach der Wahl noch
keine Regierung hat. Das ist auch in einem anderen Land
in Europa der Fall. Natürlich ist das auf Dauer nicht
wünschenswert. Deshalb: Da das so ist und wir eine andere Situation nicht erzwingen können - wie sollten wir
das auch tun? -, müssen wir versuchen, um eine Regierung herum zu helfen. Das heißt, wir müssen versuchen,
an konkreten Projekten zu arbeiten und so Unterstützung
zu geben, damit die Lebenswirklichkeit der Menschen
und die wirtschaftliche, die gesellschaftliche und die
Rechtssituation in Bosnien-Herzegowina verbessert werden, sodass die Leute merken, dass es Fortschritte gibt
und diese Fortschritte durch unsere Hilfe zustande kommen. Das betrifft zum Beispiel den Justizdialog und den
Aufbau eines Justizwesens. Hier können wir Projekte
anstoßen und durchführen, ohne dass wir unbedingt auf
eine Regierung - es wäre natürlich besser, wenn es eine
gäbe - eingehen müssen.
Wir wissen natürlich auch, welche Blockaden es in
Bosnien-Herzegowina gibt. Wir sind uns sehr einig
- auch wir beide, Frau Beck -, wenn ich sage, dass Herr
Dodik ein Störfaktor erster Ordnung ist und dass mittlerweile auch die Kroaten - Herr Covic - alles andere als
eine positive Rolle spielen, wenn es darum geht, einen
gemeinsamen Staat aufzubauen. Wir sagen aber sehr
deutlich, auch hier und heute: Wir werden nicht erlauben, dass hier Desintegrationstendenzen Platz greifen,
sondern wir erwarten, dass Bosnien-Herzegowina gemeinsam den Weg nach Europa gehen kann. Andernfalls
wird dieser Weg für dieses Land außerordentlich schwierig sein.
Es gibt allerdings eine weitere Möglichkeit, mit dieser
Situation umzugehen. Wenn es nicht möglich ist, dass
Bosnien-Herzegowina die Reformen, die notwendig
sind, von sich aus in Angriff nimmt, dann müssen wir
dafür sorgen, dass um Bosnien-Herzegowina herum ein
Cordon von Staaten entsteht, die schrittweise näher an
Europa herankommen. Das Thema Montenegro haben
wir diese Woche behandelt. Was Serbien betrifft, gibt es
gegenwärtig Schwierigkeiten. Ich gehe zum jetzigen
Zeitpunkt davon aus, dass wir dem Land am 9. Dezember dieses Jahres in Brüssel nicht den Kandidatenstatus
verleihen können. Wir haben den Serben in ganz einfachen, platten Worten gesagt: Wenn sich nichts ändert,
ändert sich nichts. - Hier muss an die Serben appelliert
werden, dass sie weitere Schritte unternehmen. Wenn sie
keine signifikanten Fortschritte machen, dann müssen
wir sagen: Liebe Leute, wir können euch diesen Status
jetzt noch nicht geben, obwohl wir bereit sind, diesen
Weg mit euch gemeinsam zu gehen.
Das gilt auch für andere Länder, zum Beispiel für Mazedonien; auch hier müssen wir etwas tun. Ich glaube,
diesen Weg sollten wir gehen. Wir müssen das Commitment, das wir 2003 gemeinsam gegeben haben, einhalten
und deutlich machen: Der westliche Balkan ist Teil Europas, und er soll Teil einer friedlichen, demokratischen
und rechtsstaatlichen Europäischen Union sein. Diesen
Weg wollen wir gehen und unterstützen.
Ein Beitrag dazu ist die Verlängerung des Mandats,
die wir heute beschließen. Meine Fraktion wird der Ver17416
längerung des Mandats heute ein weiteres Mal zustimmen.
Schönen Dank.
({2})
Michael Groschek spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ja, auch wir werden der Mandatsverlängerung
zustimmen. Ein ehemals sehr großes europäisches Militärengagement wird jetzt im Grunde in eine Ausbildungsmission umgewandelt, bei der das Militär nur noch
der kleinste Teil, der zu mandatierende Teil ist.
Althea ist ein gutes Beispiel für eine funktionierende
zivil-militärische Kooperation und ein gutes Beispiel für
eine funktionierende Kooperation zwischen NATO und
EU und zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten der EU.
Es war nicht selbstverständlich, dies zu prognostizieren;
denken Sie nur an den Beginn der Mission. Aber seit
2004, als durch den Einsatz von 7 000 Militärs aus SFOR
EUFOR wurde, ist dieses Mandat einem Wandel unterzogen worden, der noch im letzten Jahr zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Kollegin Beck und dem
Kollegen Stinner geführt hat. Vor einem Jahr ging es um
die Frage: Rückzug und Wandel - ist das Flucht aus der
Verantwortung? Das war jedenfalls - zugespitzt - die
Formulierung der Kollegin Beck. Der Vorwurf war, die
Darstellung der Beendigungsperspektive in Bezug auf
das Mandat sei pure Schönrednerei, weil sie in Deutschland zwar innenpolitisch notwendig, aber angesichts der
Sicherheitslage außenpolitisch verantwortungslos sei.
Ich glaube, wir sind heute einen Schritt weiter. Die militärische Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina ist
durchaus als solide zu bezeichnen. Politisch gibt es wesentlich größere Probleme. Diese hat die CDU/CSU auch
auf den Punkt gebracht. In der Sitzung des Verteidigungsausschusses haben die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU sehr deutlich gemacht, dass militärische Präsenz nicht die Ausrede für außenpolitische Orientierungsund Ratlosigkeit sein darf.
Diesen Vorhalt können wir nur teilen. Wir glauben,
dass unter anderem auf dem Balkan die Orientierung der
deutschen Außenpolitik verloren gegangen ist und dass
hier deshalb im Grunde über ein Mandat diskutiert wird,
ohne eine klare Orientierung dafür zu haben, was wir
jenseits dieser Mandatierung wollen und wie wir die
Einladung, die 2003 ausgesprochen wurde - im Hause
Europas sind noch Zimmer frei -, in die Tat umsetzen
wollen. Hier würden wir uns eine aktivere deutsche außenpolitische Rolle wünschen. Hier können wir Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, nur unterstützen, sich in der Koalition durchzusetzen.
({0})
Seit 2003 gilt: Der Westbalkan gehört zu Europa.
Auch Serbien gehört zu Europa, aber Serbien hat eine
doppelte Verantwortung: sowohl für Bosnien-Herzegowina als auch für den Kosovo und den Norden des Kosovo. Serbien muss wissen, dass aggressive Rhetorik,
Nationalismus und Revanchismus kein Schlüssel für den
Beitritt in das Haus Europa sein kann und dass es durch
ein solches revanchistisches Verhalten und das Fördern
von Nationalismen keine Eintrittskarte für die Europäische Union erhält. Deshalb kann man an Serbien nur appellieren, sich zu besinnen, dass es eine Einheit - auch
eine serbische Einheit - nur bei einer europäischen Einheit geben kann. Serbischer Großnationalismus wird
sich in Europa nicht durchsetzen. Deshalb brauchen wir
eine andere Perspektive in der serbischen Politik.
({1})
Das führt dazu, dass wir über die Wölfe im Schafspelz
reden müssen. Wir haben unter anderem von General
Bühler aktuell gehört, dass manches, was als ethnische
Identität dargestellt wird, im Grunde nur eine Verkleidung für Korruption und Mafia ist.
({2})
Das muss man dann allerdings schon so präzise benennen, damit deutlich wird, dass vernetzte Sicherheit neben
der militärischen Komponente im zivilen Bereich vor allen Dingen eines gewährleisten muss: eine konsequente
Strafverfolgung. Das ist die Voraussetzung für ein Sicherheitsgefühl, auf das die Menschen Anspruch haben.
Nur wenn es gelingt, nach der militärischen Sicherheit
auch juristische und polizeiliche Sicherheit zu gewährleisten, werden wir Erfolg dabei haben, den Menschen
das Gefühl zu geben: Der staatliche Aufbau und die
Rechtsstaatlichkeit machen Fortschritte.
Deshalb abschließend: Ja, die deutsche Außenpolitik
bräuchte einen neuen Schwung. Wenn Sie die Debatten
von heute Nachmittag Revue passieren lassen, dann erkennen Sie, dass in jeder Debatte ein ähnliches Element
vorkam, nämlich die Kritik daran, dass unsere Außenpolitik orientierungslos geworden ist und dass sie eben
nicht die klaren Perspektiven bietet, die nottäten. Das
gilt auch im Zusammenhang mit Bosnien-Herzegowina
und dem westlichen Balkan.
Deshalb ermutigen wir Sie von der Union: Machen
Sie Ihrem Koalitionspartner Dampf, solange das noch
notwendig ist. Es werden andere Zeiten kommen,
({3})
in denen die Außenpolitik nach innen und außen wieder
verlässlich und Berechenbarkeit ein Gütesiegel dieser
Politik wird.
({4})
Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich auf unsere
Verantwortung hinweisen - auch Kollege Stinner hat dies
sehr eindringlich getan -, die wir bei dieser Entscheidung
haben. Vor 16 Jahren ereignete sich das eigentlich für unmöglich Gehaltene mitten in Europa, nämlich dass wir
Krieg und Zerstörung nach so langer Zeit wieder in Europa akzeptieren mussten.
({0})
- Wir wollten es nicht akzeptieren. Dies alles hat trotzdem vor unserer Haustür stattgefunden, und zwar wegen
der Unfähigkeit der europäischen Gemeinschaft, dieses
Problem in Europa zu lösen.
Deshalb muss man natürlich an dieser Stelle sagen,
dass auch nach so langer Zeit dem NATO-Einsatz und all
denjenigen ein großer Dank gebührt, die überhaupt bereit
gewesen sind, vor allem die Amerikaner, die Verantwortung, der wir Europäer allein nicht gerecht geworden sind,
zu übernehmen und letztendlich für Frieden und Sicherheit in Europa zu sorgen.
({1})
Das Problem und damit auch die größte Herausforderung für die Zukunft sind natürlich, einen dauerhaften
Frieden in Europa zu implementieren. Dazu gehört auch
diese Region, selbst wenn die Länder im Westbalkan
nicht Teil der Europäischen Union sind. Wir müssen sowohl politisch als auch wirtschaftlich dort, wo es notwendig ist, sehr viel Engagement daransetzen. Wir sprechen in diesem Rahmen auch über ein militärisches
Mandat, um durch das militärische Engagement deutlich
zu machen, dass wir als Europäische Union ein großes
Interesse daran haben, diese Probleme vor unserer Haustür - nein, eigentlich in Europa - selbst zu lösen.
Es ist seit 1995 sehr viel Erfreuliches passiert. Slowenien ist 2004 Mitglied der EU geworden, Kroatien steht
nach dem aktuellen Fortschrittsbericht vor einer Aufnahme. Die Länder des westlichen Balkans, auch Bosnien und Herzegowina, sehen ihre Zukunft eindeutig in
Europa. Die EU ist für Bosnien und Herzegowina der
mit Abstand wichtigste Handelspartner. Diese Länder
dauerhaft an uns zu binden, ist natürlich ein viel wichtigerer Schritt als das militärische Engagement, auf das
wir auch nicht den Schwerpunkt legen, selbst wenn wir
hier über ein Mandat der Bundeswehr diskutieren. Es ist
hier schon sehr deutlich geworden - auch durch die Beiträge der Vertreter der Koalitionsfraktionen -, dass wir
eine politische Lösung anstreben und dass das militärische Engagement nur eine Komponente der größeren
politischen Lösung sein soll.
Die Operation Althea der EUFOR ist die bislang
größte militärische Operation der Europäischen Union.
Der Einsatz ist durch das Völkerrecht legitimiert und
vom Sicherheitsrat mandatiert. Althea ist ein Einsatz mit
großer Verantwortung. Die größte Kontingentstärke der
Bundeswehr betrug 1 139 Soldaten. 2007 beschlossen
die EU-Verteidigungsminister, die Truppenstärke in vier
Stufen von 6 000 Soldaten auf die heutige Gesamtstärke
von 2 000 Mann zu verringern, was zunächst einmal eine
gute Entwicklung ist. Nichtsdestotrotz, gerade auch aus
aktuellem Anlass im Zusammenhang mit anderen Mandaten, bleibt diese Region eine große, auch militärische
Herausforderung. Deshalb ist dieses Mandat auch weiterhin notwendig.
Ich möchte auch bei dieser nicht einfachen Mission
- auch wenn sie nicht vergleichbar ist mit anderen aktuellen Einsätzen der Bundeswehr -, wie es eigentlich
immer bei diesen Debatten der Fall sein sollte, den Bundeswehrangehörigen, den Frauen und Männern der deutschen Bundeswehr, gerade jetzt in der Adventszeit herzlich für ihren großen Einsatz danken, den sie im Rahmen
dieser EUFOR-Mission leisten.
({2})
Was tun die Männer und Frauen der Bundeswehr, was
tun wir in Bosnien-Herzegowina im Rahmen von Althea?
Sie sorgen für die Einhaltung des Friedensvertrages von
Dayton. Sie stellen sicher, dass sich internationale Organisationen und NGOs in Bosnien frei bewegen können,
um ihre Arbeit zu tun, und sie überwachen die Einhaltung des Rüstungskontrollabkommens. All das sind keine
einfachen Aufgaben.
Dies entbindet nicht davon, politisch auch weiterhin
aktiv zu sein und daran zu arbeiten, dass sich gerade
auch im zivilen Bereich Strukturen herausbilden können,
die dauerhaft selbst und eigenständig für eine funktionierende Polizei und für Militärstrukturen sorgen können.
Dazu gibt es natürlich nach wie vor große offene Fragen,
die wir auch diskutieren müssen. Außerhalb dieses Mandats geht es natürlich darum, welche Möglichkeiten die
Europäische Union überhaupt hat, dort stabilisierend
einzugreifen und auf welche Strukturen und Institutionen man sich überhaupt verlassen kann.
Unser Kompass ist dabei klar: Wir übernehmen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa und
wollen das auch weiterhin tun. Wir arbeiten an einem
stabilen und sicheren Bosnien. Wir wollen vor diesem
Hintergrund zwar diesen militärischen Beitrag so schnell
es geht beenden, aber da er zurzeit noch notwendig ist,
wird unsere Fraktion heute für eine Verlängerung dieses
Einsatzes stimmen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Marieluise Beck zulassen?
Nein. Ich bin schon fertig.
Herzlichen Dank.
({0})
Es wäre jetzt eine Kurzintervention möglich.
({0})
Nein, keine Kurzintervention.
Dann gebe ich der Kollegin Annette Groth für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal soll der Einsatz deutscher Streitkräfte in Bosnien verlängert werden. 6,8 Millionen Euro
sollen im nächsten Jahr für diesen sinnlosen Einsatz ausgegeben werden. Während andere europäische Staaten
ihre Truppen abziehen, will die Bundesregierung ein
Mandat für den Einsatz von 800 Soldaten.
Dieser Militäreinsatz ist nicht nur sicherheitspolitisch
fragwürdig. Viele unabhängige Beobachter meinen sogar, er blockiere geradezu jeglichen politischen Fortschritt.
({0})
Nehmen Sie sich ein Beispiel an anderen europäischen
Staaten! Ziehen Sie endlich die deutschen Truppen vom
Balkan ab!
({1})
Die Linke steht im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen für die Beendigung dieses Einsatzes.
({2})
Die Lage in Bosnien-Herzegowina ist katastrophal.
Daran haben auch die deutschen Truppen nichts geändert. Es ist verheerend, welche Signale die deutsche
Balkanpolitik aussendet. Ihre völkerrechtswidrige Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des
Kosovo fällt in Bosnien auf fruchtbaren Boden. Mit dieser Anerkennung haben Sie kroatischen, serbischen und
bosniakischen Nationalisten in Bosnien geradezu in die
Hände gespielt. Die Linke dagegen steht gegen diese
völkerrechtswidrige Anerkennungspolitik.
({3})
Diese Politik schürt immer nur neue Konflikte. Mit
welchem Recht wollen Sie dem Anspruch der bosnischen Serben oder der serbischen Kosovaren auf einen
eigenen Staat entgegentreten, wenn Sie gleichzeitig die
einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo anerkennen?
({4})
Es ist auch beschämend, dass die Bundesregierung
nichts, aber auch gar nichts für den sozialen Zusammenhalt von Bosnien-Herzegowina getan hat. Statt beispielsweise einen öffentlichen Dienst in Bosnien zu fördern,
der diesen Namen auch verdient, wurde eine Privatisierungspolitik gefördert, von der vor allem die nationalistischen Kräfte aller Seiten profitiert haben. Die Linke
steht gegen diese Förderung des Nationalismus. Es ist
ein Skandal, dass von den Milliarden an Hilfsgeldern für
Bosnien so wenig bei der Bevölkerung ankommt.
({5})
Sie beschwören in Bosnien geradezu das völkerrechtliche Prinzip der territorialen Integrität, welches Sie zugleich im Kosovo mit Füßen treten. Sie warnen vor Separatisten und ethnischen Einzelinteressen in Bosnien
und lassen keine Gelegenheit aus, um sich über die UNResolution 1244 oder die souveränen Grenzen Serbiens
hinwegzusetzen, notfalls auch durch Gewaltanwendung
der KFOR oder durch tatkräftige Unterstützung der Polizisten von EULEX.
Die Linke steht dagegen für die Verteidigung des Völkerrechts.
({6})
Die Linke kämpft gegen Ihre Politik der doppelten Standards,
({7})
die schon so viel Unheil angerichtet hat. Die Linke ist
auch gegen eine Politik der militärischen Lösungen und
der Militärprotektorate. Deshalb lehnen wir diesen Bundeswehreinsatz ab.
({8})
Während Sie gegenüber Serbien die Anerkennung der
einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zur
Bedingung für einen EU-Beitritt machen, hofieren Sie
mutmaßliche Kriegsverbrecher, wie diese Woche im
Bundestag den Chef einer kosovarischen Todesschwadron, Xhavit Haliti.
({9})
Was wollen Sie den Menschen auf dem Balkan damit signalisieren?
Ich komme zum Schluss.
({10})
Die deutsche Balkanpolitik nach dem Prinzip „Teile und
herrsche!“ ist an Heuchelei nicht zu überbieten. Die
Linke will, dass deutsche Außenpolitik endlich wieder
Friedenspolitik wird. Setzen Sie dafür ein Zeichen! Ziehen Sie die Bundeswehr aus Bosnien ab! Beenden Sie
Ihre Politik der doppelten Standards!
Danke.
({11})
Marieluise Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bitte gestatten Sie mir, eine Minute über ein anderes
Land zu sprechen, bevor wir zu Bosnien kommen, nämlich über Belarus. Gestern sind in Minsk gegenüber
Dmitrij Konowalow und Wladislaw Kowaljow Todesurteile ergangen, von denen wir nicht wissen, ob sie nicht
vielleicht schon heute vollstreckt worden sind - zwei Todesurteile nach völlig zweifelhaften Prozessen nach einem ominösen Anschlag in der U-Bahn im vergangenen
Frühjahr, von dem niemand weiß, ob die Spuren nicht
eher zum KGB und in den Präsidentenpalast führen als
zu diesen beiden Männern. Es gibt niemanden, der irgendeine Verbindung zu diesen beiden jungen Männern
hat, die nach zwölf Stunden gestanden haben sollen.
Ich möchte zunächst meinem Entsetzen über dieses
Urteil Ausdruck verleihen, gegen das keine Revision zugelassen wurde, und außerdem von dieser Stelle für den
Deutschen Bundestag Präsident Lukaschenko dringlich
auffordern, von den Hinrichtungen abzusehen.
({0})
Nun zu Bosnien: Wir sprechen heute über ein Mandat. Auch die Grünen werden der Verlängerung dieses
Mandates, das immer mehr auch eine symbolische Funktion bekommt, zustimmen. Ich möchte aber auch auf die
Stimmen aus Bosnien selber hinweisen, die uns davor
warnen, dass wir zugunsten der innenpolitischen Botschaft, dass wir ein Mandat zu Ende bringen können, darüber hinwegsehen, dass die Situation krisenhafter ist,
als wir es manchmal wahrhaben wollen. Das ist in etwa
das, was ich schon vor einem Jahr gesagt habe. Der Kosovo zeigt uns, wie schnell in einer Situation, die wir für
einigermaßen beruhigt halten, der Konflikt wieder aufbrechen kann. Insofern ist das Vorhalten einer gewissen
Zahl militärischer Kräfte durchaus sinnvoll.
({1})
Wichtiger aber ist es, über die Politik in dem Land
und über das zu sprechen, was notwendig ist. Wir hören
ständig, es gehe um vermeintliche Konflikte zwischen
drei Ethnien. Das erzählen uns vor allem immer wieder
diejenigen, die von genau diesem Narrativ leben: die
Führer der nationalistischen Parteien bzw. diejenigen,
die nur davon leben, zu reklamieren, dass ihre Ethnie aus
Angst vor der anderen Ethnie Schutz durch eine eigene
Entität und durch eigene Staatsstrukturen brauche. Diese
könnten deshalb niemals akzeptieren, dass es gemeinsame gesamtstaatliche Strukturen geben könnte. Denn
das würde bedeuten, dass ihre Ethnie wieder untergebuttert würde und nicht mehr zum Zuge käme.
Wir sind gerade in Cadenabbia mit Vertretern dieser
Parteien zusammengetroffen. Mich beschleicht zunehmend das Gefühl, dass wir aufhören müssen, immer wieder denen eine Bühne zu geben, die von genau diesem
Narrativ leben. Die Macht dieser selbsternannten ethnischen Führer liegt darin, dass sie Nationalismus propagieren und damit darüber hinweggehen, dass es in Bosnien viele Menschen gibt, die sich nicht ethnisch
zuordnen wollen und dies auch nicht können, weil sie
gar keiner Ethnie angehören. Ich glaube, wir wären gut
beraten, endlich den Kräften unsere Aufmerksamkeit zu
schenken, die sich aus dem Würgegriff des Nationalismus befreien wollen, und ihnen zu sagen, dass Europa
keine weiteren Grenzen bedeutet, sondern dass es Vielfalt in demokratischen Staaten mit Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger statt ethnischer Zuordnung, verbunden sogar mit dem Recht, sich gar keiner Ethnie oder
Religion zuzuordnen, und natürlich auch die Überwindung nationaler Grenzen bedeutet.
({2})
Ich habe gestern Vertreter der Initiative K 143 getroffen. Sie heißt K 143, weil sie aus NGOs besteht, die für
die 143 bosnischen Kommunen stehen. Ihre Mitglieder interessieren sich nicht mehr für diese Debatte der ethnischen Führer; vielmehr fordern sie den Aufbau kommunaler Strukturen und von Institutionen, die Entscheidungen
fällen, wirtschaftliche Entwicklung und den Wiederaufbau der Landwirtschaft und Ausbildungsmöglichkeiten
und Perspektiven für ihre Jugend. Sie wollen also eine
gesamtstaatliche Funktionalität und keinen ethnischen
Nationalismus, verbunden mit dem Zwang, sich zu definieren. Das ist die Zukunft Bosniens. Auf diese jungen
Leute sollte die Europäische Union ihr Augenmerk richten und nicht auf die nationalistischen Führer.
({3})
Jetzt noch ein Wort zum OHR, weil alle auf diesen
Dauerbrenner, die entsprechende Debatte zwischen
Herrn Stinner und mir, warten. Es ist richtig, dass die
Performance des OHR nicht immer überzeugend ist.
Aber es sollte uns doch stutzig machen, dass es gerade
die Separatisten, Präsident Dodik und Herr Mitrovic,
sind, die die Auflösung des OHR fordern, und nicht die
jungen Leute von der Initiative K 143. Genau das sollte
uns wirklich stutzig machen. Was haben wir denn noch
in der Hand, wenn der OHR nicht mehr existiert, wenn
wir - wie es die deutsche Diplomatie anstrebt - ihn
„weghauen“ und wir dann nichts mehr über die „Bonn
Powers“ durchsetzen können?
Frau Kollegin.
Was wollen wir tun, wenn zum Beispiel Herr Dodik,
wie angekündigt, ein Referendum durchführt?
({0})
Ich warne vor dieser risikoreichen Strategie. Lassen Sie
uns nicht etwas „weghauen“, bevor wir eine gute und
überzeugende Alternative haben. An dem Punkt sind wir
noch nicht.
Schönen Dank.
({1})
Jetzt hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz oder
auch gerade wegen der Routine, die bei der alljährlichen
Debatte über die Verlängerung des Althea-Mandats eingekehrt ist, bleibt es geboten und unsere Aufgabe, die
Notwendigkeit der weiteren Beteiligung an diesem Einsatz immer wieder aufs Neue zu hinterfragen und auch
neu zu begründen. Denn unser Ziel muss es sein, dass
die Operation Althea keine Dauereinrichtung wird. Es
sollte absehbar das Jahr kommen, in dem eine weitere
Mandatsverlängerung entbehrlich wird und wir uns eine
Debatte, wie wir sie heute führen, ersparen können.
Staatssekretär Kossendey hat an dieser Stelle vor drei
Wochen den sicherheitspolitischen Rahmen für diesen
Einsatz ausführlich skizziert und begründet. Das möchte
ich hier jetzt nicht wiederholen. Ich erlaube mir einerseits, das bisher Erreichte kurz zu bilanzieren, und andererseits, auch einen Blick nach vorn zu werfen.
Welche Situation treffen wir heute also in Bosnien
und in Herzegowina an? Was hat die Operation Althea
erreicht? Kurz: Wo stehen wir?
Um einen sogenannten Frozen Conflict handelt es
sich bei dem Konflikt in Bosnien-Herzegowina glücklicherweise nicht. Denn die militärische Karte ist für keine
der im Land Einfluss ausübenden Gruppen eine Option.
Das ist zu einem erheblichen Anteil ein Erfolg der EU,
die sich nachhaltig engagiert und um Krisenbewältigung, Stabilitätstransfer und Konfliktbewältigung gekümmert hat. Dennoch ist die Lage im Land kompliziert,
politisch instabil und auch festgefahren. In der Auseinandersetzung zwischen den Gruppen und Lagern dominiert kraftvolle Rhetorik.
Der Frieden selbst kann in Bosnien-Herzegowina nur
von innen heraus wachsen. So weit ist das Land heute,
auch 16 Jahre nach Kriegsende, leider immer noch nicht.
Innere Zerrissenheit und ethnische Spannungen gehören
nach wie vor nicht der Vergangenheit an. Bis heute
konnten über 100 000 Flüchtlinge nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Die Kriegszeit, die ethnischen Säuberungen - ein unschönes Wort -, die Not in den Flüchtlingslagern - all das ist immer noch sehr präsent.
Das gesellschaftliche Gefüge in Bosnien-Herzegowina ist noch heute zuweilen sehr schwierig. Das zeigt
exemplarisch der bisher gescheiterte Versuch der Akademie der Wissenschaften und Künste in Sarajevo, ein
viersprachiges Lehrbuchprojekt voranzubringen, an dem
20 Autoren aus drei verschiedenen Ländern mitarbeiten.
Ziel dieses Vorhabens ist es, die wunden Punkte der
zuvor unter einem Dach lebenden Völker durch Dialog
zu überwinden. Bisher haben die Bildungsministerien
der Nachfolgestaaten Jugoslawiens Schulbücher immer
nur dann genehmigt, wenn sie ihre eigene völkische
Identität bestätigten. Objektive Geschichtsforscher haben es daher nach wie vor schwer, gegen die verbreitete
Erhöhung der eigenen Nationalität anzukämpfen.
Noch wird Althea also in Bosnien-Herzegowina gebraucht. Auch wenn die Kontingente sehr viel kleiner
werden: Die Mission behält eine erhebliche symbolische
Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger des Landes.
Sie manifestiert das Interesse der Staatengemeinschaft,
die Präsenz zeigt und sich engagiert.
Meine Damen und Herren, die Frauen und Männer
der Bundeswehr erledigen ihre wichtigen Aufgaben sehr
gut. Gerade die Bundeswehrangehörigen genießen im
Land - das hört man in den Gesprächen immer wieder einen hervorragenden Ruf. Darauf können und dürfen
sie stolz sein, und ihnen gebührt unser aller Dank.
({0})
Wie geht es nun weiter in Bosnien-Herzegowina?
Welchen Weg wird das 4,5-Millionen-Einwohner-Land
auf dem westlichen Balkan nehmen? Das liegt - wie
könnte es anders sein? - zuvörderst in den Kräften vor
Ort. Nur sie selbst können wirkliche und nachhaltige
Fortschritte erzielen. Wir können sie dabei begleiten.
Zukunftsfest müssen sie das Land selbst machen. Die
politischen Eliten sind dabei gefordert, eine gemeinsame
Haltung zu entwickeln; denn bisher endet die politische
Blockade immer erst dann, wenn das Büro des Hohen
Repräsentanten eine Entscheidung auferlegt. Diese Praxis stellt keine tragfähige Strategie da. Im Gegenteil: Die
politischen Akteure sehen es nur zu gern, wenn ihnen
der Hohe Repräsentant die unpopuläre Kompromisssuche abnimmt.
Aus unserer Sicht ist und bleibt es daher wünschenswert, dass am Ende des Prozesses die Mitgliedschaft
Bosnien-Herzegowinas in der Europäischen Union steht.
Man kann allerdings zuweilen Zweifel daran haben, ob
die maßgeblichen politischen Kräfte des Landes noch
ernsthaft hinter dem Projekt EU-Beitrittsperspektive stehen. Dass der Beitritt allerdings baldmöglichst erfolgen
sollte, sehen wir so nicht. Bosnien-Herzegowina muss
die Effizienz seiner Strukturen und der bisher komplePeter Beyer
xen Entscheidungsverfahren erheblich verbessern. Denn
am Ende des Tages gelten für Bosnien-Herzegowina wie
übrigens für alle anderen EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien: Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt
werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur bei strikter und vollständiger Erfüllung sämtlicher Kriterien. - Das ist die Voraussetzung. Es gilt der Leitsatz: Wer beitritt, muss beitragen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaff-
neter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
tion Althea. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/7997, den Antrag der
Bundesregierung auf Drucksache 17/7577 anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das noch
keine Möglichkeit hatte, seine Stimmkarte abzugeben? -
Das ist nicht der Fall. Nachdem nun auch die letzte Urne
gefüllt ist, schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({0}), Gabriele Fograscher, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Rechtsextremismus vorbeugen - Unsere Demokratie braucht gute politische Bildung und
eine starke Bundeszentrale für politische Bildung
- Drucksache 17/7943 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren.
({2})
- Damit das möglich wird, bitte ich all jene, die sich
noch mehr für andere Dinge interessieren, den Plenar-
saal zu verlassen, all jene, die zuhören wollen, sich zu
setzen, und all jene, die miteinander reden wollen, dies
1) Ergebnis Seite 17423 C
anderswo zu tun. Es wäre sehr nett, wenn die Kollegen
dort hinten neben der Regierungsbank es ermöglichten,
dass hier weitgehend nebengeräuschfrei debattiert werden kann.
({3})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
SPD-Fraktion die Kollegin Daniela Kolbe.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine spannende Debatte. Es
geht um politische Bildung. Man kann auf jeden Fall etwas lernen und wird nicht dümmer.
Am Freitag, dem 11. November, hat die letzte Kuratoriumssitzung der Bundeszentrale für politische Bildung
stattgefunden, sehr früh am Morgen in der Dependance
der Bundeszentrale in Berlin. Wir haben uns über Web2.0-Angebote und über die Angebote unterhalten, die die
Bundeszentrale für politikferne Schichten anbietet. Die
lebendige Debatte hat gezeigt: Eigentlich wünschen wir
uns mehr solcher Angebote und nicht weniger.
({0})
Wir haben auch über die Haushaltsdebatte gesprochen. Die Bereinigungssitzung war gerade vorbei, und
fraktionsübergreifend mussten wir alle die schmerzhafte
Erfahrung machen, dass sich trotz des einstimmigen Appells des Kuratoriums die Koalitionsfraktionen nicht erweichen ließen und dramatische Kürzungen beschlossen
haben. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich
bei allen Kuratoriumsmitgliedern bedanken. Ich empfinde die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit als
sehr gut, sehr tiefgründig und auf wirklich hohem Niveau. Vielen Dank dafür.
({1})
Im Laufe des 11. November geschieht dann Unglaubliches. Es wird bekannt, dass in einer angezündeten
Wohnung in Zwickau eine Waffe gefunden wird, eine
Ceska. Es wird bekannt, dass diese Waffe die Waffe war,
mit der neun Morde an ausländischen Kleinunternehmern begangen wurden. Die Erkenntnis, dass 13 Jahre
lang eine rechtsterroristische Zelle unentdeckt durch
Deutschland ziehen und Menschen erschießen konnte,
trifft uns alle wie ein Schlag. Zehn Tote gehen auf das
Konto dieser Rechtsterroristen. Ich persönlich war an
diesem Wochenende wie in Schockstarre, aber allmählich ist bei mir die Erwartung gewachsen: Jetzt werden
die Fraktionen doch erkennen, dass sie die Mittel für die
Bundeszentrale nicht in dieser Weise kürzen können.
({2})
Daniela Kolbe ({3})
Immerhin gab es neue Erkenntnisse, und es ist etwas
eingetreten, was niemand so erwartet hatte. An anderer
Stelle hat das - ich nenne hier Fukushima - doch auch zu
einer Änderung Ihrer Position geführt. Ich hätte mir gewünscht, dass in der zweiten und dritten Lesung des
Haushaltes auch bei Ihnen eine solche Änderung der
Haltung eingetreten wäre.
({4})
Wir hätten Ihnen Applaus gespendet für diesen Erkenntnisgewinn. Da können Sie sicher sein.
Die Bundeszentrale ist die Instanz, die sich massiv
und nachhaltig für eine lebendige Demokratie und für einen lebendigen demokratischen Diskurs in unserem
Land einsetzt. Wer wollte in diesen Tagen bestreiten,
dass wir einen solchen Diskurs und eine solche lebendige Demokratie dringend brauchen? Sie setzt sich explizit gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein bzw.
arbeitet diese Themen auf, und zwar in beiden Säulen.
Es gibt ja das Haupthaus, die Zentrale, und es gibt die
Trägerförderung.
Ich habe Ihnen ein Beispiel mitgebracht, das auf meinem Schreibtisch lag, als ich an meiner Rede gearbeitet
habe. Es ist ein Abreißblock der Bundeszentrale zum
Thema Vorurteile; er ist für Lehrer gemacht. Man kann
ihn super verwenden.
({5})
Schauen Sie ins Internet. Dort gibt es eine wunderbare Seite zum Thema Rechtsextremismus von der Bundeszentrale.
({6})
Dort publizieren, auch wenn es Sie im Moment nicht interessiert, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Union, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,
die Ihnen nahestehen. Das können Sie dort nachlesen.
Die Bundeszentrale hat auch infrastrukturell sehr
wichtige Projekte auf den Weg gebracht, nicht nur den
Wahl-O-Mat.
Ich nenne das Beispiel „Schule ohne Rassismus“. Das
ist ein ganz spannendes
({7})
Projekt. Es wurde von der Bundeszentrale entwickelt
und wird glücklicherweise auch im Jahr 2012 noch
finanziert, und zwar - das war eine sehr kurzfristige Entscheidung - aus Restgeldern des Bündnisses für Demokratie und Toleranz.
Mitfinanziert wird auch jugendschutz.net. Dort gibt
es ein Monitoring von Rechtsextremismus in unserem
Land. Das kommt auch den Ermittlungsbehörden zugute. Die Frage ist: Kann das die Bundeszentrale noch
weiter mitfinanzieren angesichts der vorgenommenen
Kürzungen?
Auch die mehr als 430 geförderten Träger der politischen Bildung beschäftigen sich mit dem Thema Rechtsextremismus. Hierzu zählen nicht nur die, die Sie als die
üblichen bezeichnen würden. Ein Beispiel: Die politische Bildungsstädte Helmstedt - das ist ein Träger, der
Ihnen sehr nahe stehen dürfte - hat dieses Jahr das Seminar „Rechtsextremismus - Gefahr für Gegenwart und
Zukunft?“ veranstaltet, und zwar in Kooperation mit
dem Reservistenverband, Kreisgruppe Harz. Das heißt,
das Thema wird breit diskutiert. Es wird breit von der
Bundeszentrale gefördert.
Der Umfang solcher Aktivitäten ist durch die massiven Kürzungen, die Sie vornehmen, infrage gestellt. Im
nächsten Jahr sind es insgesamt 3,5 Millionen Euro weniger. Damit stehen fast 13 Prozent weniger bei der Zentrale selbst für Bücher, Veranstaltungen und dergleichen
und fast 20 Prozent weniger bei der Trägerförderung zur
Verfügung.
Ich kann nur an Sie appellieren: Nehmen Sie diese
Kürzungen zurück!
({8})
Die Kürzungen waren schon vor Bekanntwerden des
Rechtsterrorismus komplett unverständlich und kontraproduktiv. Jetzt kann man sie nur noch als brandgefährlich und peinlich für Sie bezeichnen.
({9})
Gestern in der Fragestunde klang dann durch: Das ist
doch nicht so schlimm; dann muss die Bundeszentrale
eben umschichten; dann wird eben bei anderen Stellen
gekürzt als beim Rechtsextremismus. - Ich finde das,
ehrlich gesagt, ziemlich naiv. Die Bundeszentrale hat natürlich noch ganz andere Aufgaben als nur die Rechtsextremismusprävention. Sie soll die Euro-Krise erklären.
Sie soll die Finanzkrise verständlich machen. Sie soll demokratischen Diskurs initiieren. Wo soll sie denn sparen
angesichts der Kürzungen, die schon in den letzten Jahren vorgenommen wurden? Soll sie weniger im Internet
präsent sein? Soll sie weniger Bücher oder „Schwarze
Hefte“, die viele von Ihnen vielleicht noch aus dem Studium kennen, auflegen? Soll sie sich weniger um die bildungsfernen Schichten kümmern oder weniger Projekte
für Menschen mit Migrationshintergrund entwickeln?
Soll es weniger Veranstaltungen zu aktuellen Themen
geben? Soll sie vielleicht nicht ganz so professionell
oder nicht ganz so unabhängig sein, wie sie es bisher
war? Wo soll die Bundeszentrale bei der Trägerbezuschussung sparen? Das wären gravierende Einschnitte.
Soll sie bei Schülerseminaren in der Gedenkstätte Hohenschönhausen oder bei Seminaren zur Integration und
zur demokratischen Teilhabe sparen? Glauben Sie mir:
Diese Kürzungen werden zu ganz schmerzhaften Einschnitten führen, die wir alle - auch Sie - spüren werden. Tolle Träger der politischen Bildung werden von
der Landkarte verschwinden - auch solche, die Ihnen nahestehen, und auch solche aus Ihren Wahlkreisen.
Daniela Kolbe ({10})
Ich kann nur sagen: Wir brauchen derzeit mehr politische Bildung und nicht weniger.
({11})
Dazu brauchen wir Ressourcen. Wir brauchen Planungssicherheit. Das gilt auch für das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“, das Sie im Kampf gegen Rechtsextremismus in den neuen Ländern bei der Bundeszentrale angedockt haben. Die Finanzierung hierfür läuft
aus. Auch hier brauchen wir Planungssicherheit. Auch
für die Träger brauchen wir Planungssicherheit, und
zwar im Hinblick auf Finanzen und neue Richtlinien; die
müssen endlich kommen. Im Haushalt wäre all das darstellbar. Es sind ja auch „nur“ 3,5 Millionen Euro. Das
Einzige, was dem entgegensteht - das sieht und hört man
hier auch -, ist das fehlende Problembewusstsein bei einem Großteil der Koalition.
({12})
Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Es ging um die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Althea zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen
der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der DaytonFriedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der
Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
1575 ({0}) und Folgeresolutionen, Drucksachen 17/
7577 und 17/7997. Abgegeben wurden 535 Stimmen.
Mit Ja haben gestimmt 469 Kolleginnen und Kollegen,
mit Nein haben gestimmt 59, enthalten haben sich 7.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 535;
davon
ja: 469
nein: 59
enthalten: 7
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
({3})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({13})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({14})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({17})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({18})
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({21})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({22})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({23})
Hubertus Heil ({24})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({25})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({26})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({27})
Steffen-Claudio Lemme
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({28})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({29})
Michael Roth ({30})
({31})
Axel Schäfer ({32})
Marianne Schieder
({33})
Werner Schieder ({34})
Ulla Schmidt ({35})
Silvia Schmidt ({36})
Carsten Schneider ({37})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({38})
Ewald Schurer
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({39})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Miriam Gruß
Joachim Günther ({40})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({41})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({42})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({43})
Dr. Martin Neumann
({44})
Hans-Joachim Otto
({45})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Johannes Vogel
({46})
Dr. Daniel Volk
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({47})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({50})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({51})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({52})
Raju Sharma
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({53})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Maria Klein-Schmeink
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Ich gebe das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Frau Kolbe, es sei mir gestattet, am Anfang auf ein Verfahrensproblem aufmerksam zu machen. Wir haben in
der letzten Woche den Haushalt 2012 verabschiedet.
({0})
Sie thematisieren jetzt einen Titel und fordern, verheerende Kürzungen schnellstmöglich zurückzunehmen,
ohne irgendeinen haushaltstechnischen Vorschlag zu
machen,
({1})
aus dem hervorgeht, wie Sie sich das Ganze nach Verabschiedung des Haushalts vorstellen.
Ich möchte - wenn Sie gestatten und mir Aufmerksamkeit schenken - deutlich machen, dass der Anlass,
der zu dieser Debatte führt, uns alle umtreibt: die Nachrichten über rechtsterroristische Aktivitäten. Ich nutze
gerne die Gelegenheit, um für die Bundesregierung ein
klares Bekenntnis zur politischen Bildung im Allgemeinen und zur Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung im Besonderen abzugeben.
({2})
Für die Bundeszentrale für politische Bildung ist die
aktive Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus
bzw. dem politischen Extremismus insgesamt eine wichtige, eine wesentliche Daueraufgabe. Als Bildungseinrichtung fragt sie nach Bildungszusammenhängen beim
Entstehen extremistischer Einstellungen, Weltbilder und
Haltungen. Sie fragt nach präventiven Möglichkeiten,
extremistische Einstellungen zu vermeiden, nach Bildungswegen, um verfestigte extremistische Haltungen
zu verändern, sowie nach Bildungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Kräfte, um die Auseinandersetzung mit
extremistischen Einstellungen und Handlungen konstruktiv und erfolgreich zu bestehen.
({3})
Der Fachbereich Extremismus widmet sich diesem Arbeitsfeld in enger Verzahnung mit weiteren Fachberei17426
chen innerhalb, aber auch außerhalb der Bundeszentrale
für politische Bildung.
So weit das klare Bekenntnis zu den Aufgaben, welche die Bundesregierung für wichtig und zentral erachtet
und die im Lichte der Ereignisse, die uns umtreiben, eine
besondere Bedeutung bekommen.
Daneben ist ein zweiter Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Das ist die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung, der wir uns im Jahr 2010 bei den Haushaltsplanungen - mit Blick auf die vom Verfassungsgesetzgeber
eingeführte Schuldenbremse - zu stellen hatten.
({4})
Meine Damen und Herren, ich darf darauf aufmerksam
machen, dass die SPD in den Haushaltsberatungen gerade mit Blick auf die Einhaltung der Vorgaben der
Schuldenbremse - ich erinnere an die Reden von Carsten
Schneider - eher mehr als weniger Konsequenz in Bezug
auf Einsparungen gefordert hat.
({5})
Sie können davon ausgehen, dass wir uns im Bundesinnenministerium dieser Aufgabe mit großem Verantwortungsbewusstsein gestellt und die Kuratoriumsvoten
({6})
mit entsprechender Aufmerksamkeit und Sorgfalt geprüft haben. Ich warne davor, so zu tun - das wird auch
in Ihren Zurufen deutlich -, als ob die nominelle Höhe
des Haushaltstitels der Bundeszentrale für politische Bildung als ein gewissermaßen schlüssiger und abschließender Indikator für die Bedeutung der politischen Bildung gerade auch mit Blick auf die Extremismusbekämpfung betrachtet werden könnte. Ich empfehle Ihnen, sich die Haushaltspläne seit 1998 und die Planungen für die zukünftigen Jahre anzuschauen. Dabei werden Sie feststellen, dass zwischen 1999 und 2000 - es ist
bekannt, wer damals politische Verantwortung trug - der
Titel von umgerechnet 41 Millionen Euro auf 36,8 Millionen Euro abgesenkt wurde. Ich behaupte nicht, dass
die politische Bildung in der damaligen Situation als
Beitrag zur Extremismusbekämpfung weniger ernst genommen wurde. Wir können aber nicht seriös diskutieren, ohne andere Programme zu berücksichtigen, die damals in anderen Häusern ins Leben gerufen wurden.
Auch Umstrukturierungen müssen dabei berücksichtigt
werden, die in einem Bereich wie dem der politischen
Bildung immer wieder erforderlich sind.
Ich weise darauf hin, dass wir - verbunden mit den
Haushaltsentscheidungen, die Sie kritisieren - versucht
haben, die Bundeszentrale für politische Bildung auch
dadurch zu stärken, dass wir die Regiestelle des Bundesprogramms „Zusammenhalt durch Teilhabe“ unter das
Dach der Bundeszentrale für politische Bildung gestellt
haben. Dabei geht es um insgesamt 18 Millionen Euro,
die in die Arbeit der Bundeszentrale fließen. Schließlich
haben wir hier auch die Geschäftsstelle des „Bündnisses
für Demokratie und Toleranz“ mit Blick auf Synergieeffekte eingegliedert. Ich möchte dazu einladen, über die
Probleme fair und in gemeinsamer Verantwortung für
die Bekämpfung des politischen Extremismus zu diskutieren.
Lassen Sie mich auf drei der in Ihrem Antrag formulierten Forderungen konkret eingehen.
Erster Punkt. Sie fordern die Überprüfung der Kopplung der Höhe des Budgets der Bundeszentrale für politische Bildung an die Höhe des Budgets der parteinahen
Stiftungen. Verehrte Frau Kolbe, ich mache Sie darauf
aufmerksam, dass die Budgets der parteinahen Stiftungen in den letzten Jahren regelmäßig im parlamentarischen Verfahren geändert wurden
({7})
und dies keine Frage ist, die die Bundesregierung bei ihren Haushaltsansätzen zu berücksichtigen hat. Vielleicht
sprechen Sie mit den Kollegen Ihrer Fraktion, die ein
entsprechendes Votum abgegeben haben.
Zweiter Punkt. Sie fordern ein Anschlussprogramm
für das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“. Ich
persönlich stehe dieser Forderung sehr aufgeschlossen
gegenüber, will aber darauf aufmerksam machen, dass es
noch zu früh ist, um über die Fortsetzung eines Programmes zu sprechen, das 2013 ausläuft. Ich betrachte diese
Forderung aber auch als ein Kompliment für die Gestaltung dieses Programmes.
Schließlich fordern Sie, „neue Richtlinien für die Trägerförderung der BpB“ zu erlassen und „Rechtssicherheit hinsichtlich der Umsatzsteuer“ zu schaffen. Ich
kann Ihnen sagen, dass die neue Richtlinie für die Trägerförderung vorliegt und im Einvernehmen mit dem
Bundesrechnungshof und dem Bundesfinanzminister erstellt wurde. Wir gehen davon aus, dass sie die rechtlichen Unsicherheiten bei der Umsatzsteuererhebung beseitigt. Diese Richtlinie muss nun allerdings mit den
Ländern abgestimmt werden, die für den Steuervollzug
zuständig sind. Ich hoffe, dass das so erfolgreich gelingt
wie mit dem Bundesrechnungshof und dem Bundesfinanzministerium, sodass dieser Forderung spätestens
ab Januar 2013 nachgekommen wird.
Ich hoffe, ich habe verdeutlicht, dass wir das Anliegen, das Sie vorgetragen haben, durchaus ernst nehmen.
Ich möchte Sie dazu einladen, darüber nicht in der Engführung zu diskutieren: Wie hoch ist der Haushaltstitel?
Wie ernst wird das politische Anliegen genommen?
Wichtig ist, dass man auch in Zeiten der Haushaltskonsolidierung politisch gestaltet.
({8})
Das wollen wir gemeinsam tun.
Herzlichen Dank.
({9})
Agnes Alpers hat jetzt für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 5 Millionen
Euro sollen jetzt bei der Bundeszentrale für politische
Bildung gekürzt werden: Millionen Euro weniger für
Projekte, die die Teilhabe an Demokratie stärken, Millionen Euro weniger für Projekte, die aufklären und Zivilcourage stärken, gerade auch in den Regionen, in denen
sich der braune Sumpf breitgemacht hat. Ich meine, das
ist einfach nur skandalös.
({0})
Herr Bergner, zur Klarstellung: Alle Oppositionsfraktionen haben Vorschläge für den Haushalt gemacht.
Noch im Februar waren sich alle Mitglieder des Kuratoriums der Bundeszentrale für politische Bildung einig
- das sind Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen -:
Demokratie braucht politische Bildung. - Deshalb waren
wir alle noch im Februar einstimmig gegen die Kürzungen.
({1})
Ich erinnere an die Entschließung des Kuratoriums:
Gerade in Deutschland sollte man nicht vergessen,
dass die Demokratie … tagtäglich neu gelehrt und
gelernt, gestaltet und bewahrt werden muss.
Wie wahr, meine Damen und Herren! Aber wie viel ist
der Bundesregierung diese grundlegende politische Einsicht wert? Nichts, wie sich gleich zeigt. Denn Bundesinnenminister Friedrich sagt: Auch die Bundeszentrale
für politische Bildung muss ihren solidarischen Beitrag
zur Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse leisten; die Aufgaben der Bundeszentrale sind keine Pflichtleistung des Staates; die Kürzungen kann man nicht zurücknehmen, weil dies sonst negative Auswirkungen auf
den Sicherheitsbereich hat. - Herr Friedrich, wie blind
und ignorant muss man eigentlich in der gegenwärtigen
Situation sein, um solche Aussagen zu treffen?
({2})
Tag für Tag gibt es Nachrichten über Nazi-Morde. Tag
für Tag wird aber auch der Ruf nach einer stärkeren Zivilgesellschaft lauter. Wie soll es nun weitergehen? Es
kann jedenfalls nicht weitergehen, indem man die einseitig gescheiterte V-Männer-Strategie weiter verfolgt, zumal wir jetzt hören, dass die V-Leute in der rechten
Szene Nazis sind.
Die Gelder, die Herr Bergner gerade im Zusammenhang mit der Haushaltskonsolidierung angesprochen hat,
wurden bei der Bundeszentrale gekürzt. Aber sie wurden
nicht für die Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse genutzt. Vielmehr flossen diese Gelder nachweislich direkt in den Topf für innere Sicherheit, und aus
diesem Topf wurden und werden auch V-Männer bezahlt. Herr Bergner, das ist doch völlig paradox.
({3})
Aus diesem Grunde fordern wir: Stoppen Sie den Wahnsinn! Schalten Sie endlich die V-Männer ab, und zwar
sofort! Bringen Sie das Geld wieder dorthin, wohin es
gehört - in die politische Bildung, in die Prävention und
Aufklärung -, damit sich braunes Gedankengut nicht
weiter breitmachen kann.
({4})
Wenn Sie wie vorhin mit dem Argument kommen,
dass man - ich zitiere aus Ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage - „mit reduzierten Mitteln eine seriöse
und qualitativ hochwertige … Bildungsarbeit“ machen
kann, dann zeigt das nur, dass Sie einfach keine Ahnung
haben. Wir als Linke bleiben dabei: Gute Bildung
braucht auch eine gute Ausstattung.
Vor welchen Herausforderungen steht jetzt die Bundeszentrale mit ihren 430 Bildungseinrichtungen? Bei
wachsenden Aufgaben müssen sie mit weniger Mitteln
zurechtkommen. Was sollen sie streichen: die Materialien für die Schulen, das neue Projekt für Menschen, die
wenig Zugang zu Bildung haben, oder das Angebot, dass
man über Facebook politische Fragen stellen kann? Bei
den kleinen Bildungsträgern läuten die Alarmglocken,
weil sie nicht wissen, ob es sie im nächsten Jahr noch geben wird. Ich meine, wir sollten uns bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre gute und wichtige Arbeit bedanken.
({5})
Herr Bundesinnenminister Friedrich, im Namen aller
Demokratinnen und Demokraten fordere ich Sie auf,
endlich Verantwortung zu übernehmen. An politischer
Bildung darf nicht gespart werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir alle stehen unter dem Eindruck dieser
fürchterlichen rechtsterroristischen Taten. Natürlich
fragt man sich in solchen Momenten: Woran lag es? Was
hätten wir tun können? Was hätten Behörden tun können? Was hätten andere Demokraten tun können? Was
hätte man strukturell aufarbeiten können? Wo liegen die
Defizite? Diese Fragen sollten wir nicht zu schnell zu
den Akten legen, sondern wir sollten darauf achten, dass
wir eine genaue Aufklärung der Ursachen betreiben. Ich
befürchte, wir werden dann aber feststellen, dass die Beantwortung dieser Fragen relativ schwierig ist.
Es ist eben nicht so monokausal, wie es hier eben anklang: Ein bisschen mehr Bildung hier, ein bisschen
mehr Unterstützung freier Träger dort, ein bisschen mehr
Aufklärungsarbeit an dieser oder jener Stelle, und dann
wird uns das Problem nicht wieder begegnen. Ein latenter Antisemitismus, der in Teilen der Bevölkerung in unserem Land leider nach wie vor herrscht, ist eben nicht
dadurch zu bekämpfen, dass man an einzelnen Stellen
etwas mehr draufsetzt.
({0})
Man hätte es sich einfach machen und sagen können: Ja,
das war ein Fehler. Wir hätten etwas anderes machen
müssen. - Aber ich sage Ihnen: Nein, die Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land erwarten von uns allen,
dass wir Geld sparen.
({1})
Viele Menschen sagen mir: Ihr müsst das Problem der
Haushaltsverschuldung - es war unter anderem Peer
Steinbrück, der uns Schulden in Höhe von 86 Milliarden
Euro hinterlassen hat - lösen.
({2})
Diese Menschen hätten wenig Verständnis dafür, wenn
wir wie Ihr Kollege Schneider abstrakt sagten: „Wir
müssen sparen“, aber bei jedem Einsparvorschlag feststellten, dass es gerade an dieser Stelle doch nicht geht. Ich mache es mir bewusst nicht einfach. Ich sage: Ja,
auch das BMI musste sparen. Wir haben nicht nach der
Rasenmähermethode gespart. Wir haben die freien Träger anders behandelt als die Bundeszentrale. Insofern
können wir, glaube ich, zu dieser Entscheidung selbstbewusst stehen.
({3})
Die Kollegin Alpers würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich habe folgende
Nachfrage: Sie haben gerade gesagt, dass wir konsolidieren müssen, dass wir die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten müssen, dass wir sparen müssen. Aus
der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage wissen wir - das habe ich gerade schon erwähnt -,
dass dieses Geld nicht zur Einhaltung der Vorgaben der
Schuldenbremse genutzt worden ist, sondern direkt von
der Bundeszentrale für politische Bildung in den Bereich
der inneren Sicherheit verschoben wurde. Was ist denn
da eingespart worden? Lieber Herr Kollege, das stimmt
nachweislich. Ich bitte Sie, dazu Stellung zu beziehen.
Frau Kollegin, das Bundesministerium des Innern insgesamt musste einen Sparbeitrag leisten. Diesen hat das
Bundesministerium des Innern geleistet. Man kann jetzt
darüber reden, ob die Einsparungen an der richtigen oder
an der falschen Stelle vorgenommen wurden.
({0})
Wir sind der Meinung: Das war die richtige Stelle. Sie
sind der Meinung: Das war die falsche Stelle. Sie sollten
aber nicht so tun, als ob wir durch entsprechende Mittelaufwendungen dieses gravierende Problem, das wir in
Deutschland haben, auch nur ansatzweise hätten lösen
können.
({1})
Man sollte auch nicht so tun, als ob der Bund an dieser Stelle nicht tätig wäre. Wir haben mehrere Programme aufgelegt, zum Beispiel das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“. Bei vielen Antiextremismusprogrammen ist es notwendig, zu schauen, ob sie so
funktionieren, wie wir uns das vorstellen. Man schaue
sich die Programme vom Anfang der 90er-Jahre an: Vieles von damals wirkt aus heutiger Sicht ein wenig hilflos, weil man keine klare Vorstellung vom Extremismus
hatte, weil man nicht genau wusste, was man bekämpft.
Gerade bei der Arbeit gegen Extremismus ist es wichtig,
immer wieder zu evaluieren und dann festzustellen, welche Tätigkeiten sinnvoll und welche nicht so sinnvoll
sind. Wir stehen zu diesem Programm. Wir setzen große
Hoffnungen in dieses Programm. Wir wollen es evaluieren, wenn es dazu an der Zeit ist, und dann - hoffentlich fortführen.
Ich bitte alle hier vertretenen Fraktionen, nicht zu
schnell einzelne Lösungsansätze zu favorisieren; ich
habe das heute schon einmal gesagt. Einige sagen, dass
uns das NPD-Verbotsverfahren entlasten würde. Ich
kann Ihnen aufgrund meiner Beschäftigung mit dem
NPD-Verbotsverfahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht sagen, dass sich die
mediale Aufmerksamkeit nach Stellung des Verbotsantrags erst einmal verringert hat. Das habe ich damals
sehr genau verfolgt. Es war nicht so, dass die Menschen
gesagt haben: Jetzt, da der Antrag gestellt ist, sind wir
motiviert; wir engagieren uns weiter und stärken die Zivilgesellschaft. - Man hatte manchmal sogar das Gefühl,
dass der eine oder andere den Eindruck hatte, dass es
sich um einen symbolischen Akt handelt und man des
Problems schon Herr werden könnte. Dabei gehen die
Probleme in der Tat viel tiefer.
Aus meiner Sicht brauchen wir eine bessere Analyse,
eine bessere strafrechtliche Verfolgung, bessere Strukturen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen den
Landesämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Wenn wir wissen, woran es
liegt, können wir Instrumente entwickeln, die dem entgegenwirken.
({2})
Das ist aber nicht so einfach, wie Sie es uns heute hier
suggerieren wollen.
({3})
Am Ende sage ich ganz persönlich: Wenn wir in der
Tat feststellen sollten, dass die Bundeszentrale für politische Bildung die zentrale Schaltstelle für die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist, dann werden wir uns einer zusätzlichen Mittelaufwendung sicherlich nicht in
den Weg stellen. Zuerst kommt aber die Analyse, und
diesbezüglich stehen wir meiner Meinung nach erst ganz
am Anfang. Darauf sollten wir mehr Zeit verwenden.
({4})
Vielen Dank.
({5})
Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich muss wirklich sagen: Ich habe selten so einen Unsinn
gehört. Wenn es um die Analyse politischer Bildung
geht, dann ist normalerweise völlig unstrittig, dass sie
ein wesentliches Präventivmittel gegen Extremismus ist
und der Demokratieförderung dient. Deshalb muss man
den Bereich der politischen Bildung ausbauen, anstatt an
dieser wichtigen Stelle zu knausern.
({0})
Sie nehmen milliardenschwere Steuersenkungen vor,
laufen allen Lobbyisten
({1})
dieser Republik hinterher, aber knausern an dieser Stelle
im Etat des Innenministeriums, an der es um 3,5 Millionen Euro geht. Das ist die völlig falsche Stelle. Es kann
nicht sein, dass sich die Schuldenbremse letztlich als
Bildungsinvestitionsbremse entpuppt. Das geht so nicht.
({2})
Die unfassbare Mordserie der Neonazi-Terrorzelle ist
ein erneuter schockierender Beleg für die aggressive
Menschenfeindlichkeit des rechtsextremen Mobs in diesem Land. Es ist beschämend, dass konservative Politiker, allen voran Frau Ministerin Schröder, jahrelang - und
auch heute noch - tausendfache Übergriffe durch Rechtsextreme verharmlost haben und verharmlosen und die
Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind waren.
({3})
Eine solche Gefährdung des friedlichen und freiheitlichdemokratischen Zusammenlebens darf sich nie wiederholen.
({4})
Demokratiefeindliche Ideologien, die Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit propagieren, müssen offensiv bekämpft
werden. Zur Bekämpfung brauchen wir einen Ausbau
sämtlicher präventiver Mittel. Dazu gehören nicht nur
die Programme gegen Rechtsextremismus - wir haben
die Aufstockung der entsprechenden Mittel gefordert;
aber auch das hat Schwarz-Gelb leider abgelehnt -, sondern auch die politische Bildung aller Generationen.
Politische Bildung ist Zukunftsvorsorge für unsere Demokratie.
({5})
Wer dem braunen Mob den Nährboden entziehen
will, muss politische Bildung systematisch stärken. Demokratisches Bewusstsein fällt nicht vom Himmel, sondern muss dauerhaft gefördert werden. Alle Erfahrungen
und Studien zeigen, wie gut politische Bildung funktioniert, um Menschen über den demokratischen Prozess zu
informieren, sie zu aktivieren, am Gemeinwesen, am demokratischen Handeln zu partizipieren, gesellschaftliche
Vielfalt als Chance zu schätzen, politische Zusammenhänge und gesellschaftliche Debatten zu reflektieren.
Politische Bildung ist auch immer ein Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Aus all diesen Gründen
ist politische Bildung für unsere Demokratie systemrelevant.
({6})
Ich möchte Ihnen, Herr Staatssekretär, und dem
Minister noch einmal in Erinnerung rufen, dass alle Oppositionsfraktionen hier seit Jahren in Anträgen in den
Haushaltsberatungen fordern, die Kürzung der Mittel zurückzunehmen. Es ist eine Frage des politischen Willens,
ob diese Haushaltskürzungen zurückgenommen werden
oder nicht. Es ist gelogen, wenn die Bundesregierung behauptet, beim Kampf gegen Rechtsextremismus werde
nicht gekürzt. Sie wollen nur davon ablenken, dass Bun17430
desinnenminister Friedrich im Windschatten von Ministerin Schröders Dauerdilettantismus die Axt an den Etat
der Bundeszentrale für politische Bildung gelegt hat.
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({7})
Bei den fraktionsübergreifenden Arbeiten im Kuratorium für politische Bildung haben wir alle gemeinsam
gesagt, dass es keine Kürzungen der Mittel im Bereich
der politischen Bildung geben darf. Daher muss man
hier in der Plenardebatte umso deutlicher machen, dass
Schwarz-Gelb der Bundeszentrale mit den massiven
Kürzungen in den Rücken fällt. Es kann nicht sein, dass
dieser Etat um 21 Prozent, um 3,5 Milliarden Euro, gekürzt wird. Das sind 3,5 Millionen Euro weniger für Bildungsangebote. Das ist in diesen Zeiten noch unanständiger, als es ohnehin schon wäre.
({8})
Ich fordere Sie deshalb auf, diese Kürzungen
schnellstmöglich zurückzunehmen; denn sie würden sich
negativ auch auf die bundesweite Infrastruktur, auf die
rund 430 Träger politischer Bildung, die überparteilich
wertvolle politische Bildungsarbeit vor Ort fördern, auswirken. Wir brauchen eine systematische Aufwertung
der politischen Bildung, nicht nur hinsichtlich der jungen Generation, sondern auch hinsichtlich der Erwachsenen. Denn die Themen Rechtsextremismus, Menschen- und Demokratiefeindlichkeit gehen uns alle an.
Ich wünsche mir, dass von dieser Debatte ein geschlossenes Signal ausgeht, zumindest von den Mitgliedern
des Kuratoriums der Bundeszentrale,
Herr Kollege.
- aber eben auch von möglichst vielen Fraktionen,
dass die politische Bildung gestärkt werden muss und
die Kürzungen bei nächster Gelegenheit zurückgenommen werden.
({0})
Der Kollege Michael Frieser hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass man über politische Bildung spricht, ist
grundsätzlich gut, auch wenn für die Debatte nur eine
halbe Stunde angesetzt ist. Ich will nur sagen: Schade an
der heutigen Diskussion ist, dass der Anlass, der uns alle
nicht nur nachdenklich stimmt, sondern der in allen Politikbereichen dafür sorgt, dass wir uns Gedanken, notwendigerweise Sorgen um die Organisation, die Schlagkräftigkeit und die Wehrhaftigkeit der Demokratie
machen, mit Blick auf die Funktion der heutigen Debatte
schon ein bisschen als Hebel herhalten muss.
({0})
Ich darf vielleicht auch sagen: Man tut sich überhaupt
keinen Gefallen, wenn man diesen Ort und dieses Pult in
dieser Art und Weise zur Plattform der Agitation macht,
um gegen oder für etwas oder was auch immer - was
nicht ganz klar ist - zu sein. Aber in jedem Falle geht
eines nicht: die Fakten aus der Debatte über den Haushalt der Bundeszentrale für politische Bildung herumzudrehen und zu sagen, diese Bundesregierung hätte tatsächlich in der Frage der Extremismusbekämpfung
gespart - das ist definitiv nicht wahr -; einmal abgesehen von den Vorwürfen, die Sie an Ministerin Schröder
oder an Minister Friedrich richten.
({1})
Es ist in keinster Weise wahr, dass Aufwendungen für
die Bekämpfung des Extremismus zurückgefahren worden wären. Auch das Kleinreden trifft nicht zu.
({2})
Ich will auch zu dieser Fehleinschätzung, der Bundesinnenminister hätte hier eine Aufrechnung zwischen innerer Sicherheit und politischer Bildung vorgenommen,
sagen: Ist das Budget beschlossen, dann muss der Minister für Deckung sorgen. In dieser Frage muss ich deutlich sagen - ({3})
- Die Frau Kollegin möchte gern eine Zwischenfrage
stellen. Frau Kollegin, ich würde diesen Gedanken gern
erst zu Ende führen. Vielleicht finden wir dann noch
Raum für die Zwischenfrage.
Heißt das: im Moment nicht, aber dann vielleicht? Sie geben ein Zeichen.
Wenn man das Budget des Haushalts des Innenministeriums beschließt, man dann aber einen Austausch vornehmen möchte, muss man deutlich sagen, welche Haushaltmittel wofür genommen werden. Das kann ich
bewusst falsch verstehen, wenn ich will. Ein solches
Verhalten dient aber einem Ziel nicht, nämlich der Unterstützung der politischen Bildung.
Frau Kollegin, bitte.
Frau Hendricks, das wäre jetzt der passende Zeitpunkt
für Ihre Fragen. Bitte schön.
Danke schön, Frau Präsidentin. Danke schön, Herr
Kollege Frieser. - Wir wollen doch bitte noch einmal gemeinsam den Gang der Geschichte darlegen. Im Februar
dieses Jahres, also völlig unabhängig von dem Bekanntwerden der erschreckenden Mordtaten der Nazis, hat das
gesamte Kuratorium der Bundeszentrale für politische
Bildung einen Appell an die Mitglieder des Haushaltsausschusses und an die Bundesregierung gerichtet, keine
weiteren Kürzungen vorzunehmen, denn schon für das
Jahr 2011 waren Haushaltskürzungen zulasten der Bundeszentrale für politische Bildung vorgenommen worden.
({0})
Die Mitglieder des Kuratoriums wollten parteiübergreifend Vorsorge treffen, dass dies nicht wiederum geschehen würde.
Die Mitglieder des Kuratoriums haben dafür im
Haushaltsausschuss bei der Mehrheit der schwarz-gelben Koalition keinen Rückhalt gefunden, und zwar auch
bevor diese erschreckenden Mordtaten bekannt wurden.
Denn die Beratungen zum Haushalt des Bundesinnenministeriums waren ja schon vorher im Gange. Zugegeben, die allerletzte Bereinigungssitzung war später, aber
die Beratungen waren natürlich längst im Gange.
Im Übrigen: Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
Herr Kollege Frieser, dass von Ihrer Koalition und auch
von der Bundesregierung schon beabsichtigt war, die
Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus - also
nicht nur die Mittel für die Bundeszentrale für politische
Bildung, sondern auch die Mittel zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus - zurückzufahren?
({1})
Im Gespräch der Fraktionsvorsitzenden nach Bekanntwerden dieser schrecklichen Mordtaten hat dann
Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Kauder, eingelenkt.
({2})
Der Antrag der SPD lag schon vor; es war dann nicht
mehr nötig, ihn zu stellen, weil Ihr Fraktionsvorsitzender
nach Bekanntwerden der Mordtaten eingelenkt hatte.
Wollen Sie dann bitte im Übrigen zur Kenntnis nehmen, dass die Oppositionsfraktionen im Innenausschuss
- wie sich das gehört - selbstverständlich auch Vorschläge zur Deckung einer Erhöhung der Mittel auf die
Höhe, wie sie bis 2011 zur Verfügung standen, gemacht
hatten?
Wollen Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass mehr
als 400 freie Träger auf diese Mittel angewiesen sind
und dass diese mehr als 400 freien Träger einen breiten
gesellschaftlichen Konsens darstellen - über die Kirchen, die Gewerkschaften, die parteinahen Stiftungen
und wen Sie sich alles vorstellen können? Bleiben Sie
ruhig am Pult. Sie können mir ja gleich antworten.
Frau Kollegin Hendricks, auch Zwischenbemerkungen, die keine Fragen beinhalten, sind keine eigene
Rede.
({0})
Es wäre mir recht, wenn Sie das berücksichtigen würden.
Ja. Das Problem ist, dass der Kollege zwar vom Pult
weggehen, aber auch seine Ohren zumachen kann; das
kann ich nicht verhindern. Aber so, wie Sie es dargestellt
haben, Herr Kollege Frieser, trifft es einfach nicht zu.
({0})
Frau Kollegin Hendricks, lassen Sie mich bitte sagen:
Wenn Sie Redezeit haben wollen, dann bewerben Sie
sich in Ihrer Fraktion um Redezeit bei diesem Thema.
({0})
Dann können wir über diese Frage ordnungsgemäß diskutieren.
({1})
Ich habe darauf hingewiesen, dass es im Eindruck
dieser wirklich niederschmetternden Erkenntnisse und
Vorkommnisse durchaus einen politischen Konsens gab,
was die Ausstattung freier Träger betrifft. Ich glaube,
uns kann niemand vorwerfen, dass wir vonseiten der
CDU/CSU-Fraktion und der Koalition hier in irgendeiner Art und Weise auf dem falschen Dampfer gewesen
wären.
({2})
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass der Haushalt des
Bundesministeriums des Innern natürlich gegen
schmerzliche Widerstände so gestaltet worden ist.
({3})
Glauben Sie denn, wir als diejenigen, die in diesem
Kuratorium Verantwortung tragen, hätten uns nicht mit
den Kollegen auseinandergesetzt? Ich bitte Sie, in Ihren
Beiträgen darauf zu achten, dass Sie nicht den Eindruck
erwecken, es gehe hier ausschließlich um das Herunterfahren der Mittel zur Extremismusbekämpfung.
({4})
Das ist definitiv nicht der Fall. Ich bitte Sie, durch Ihre
Wortbeiträge auch nicht diesen Eindruck zu erwecken.
Ich will auf die Schwerpunkte der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung hinweisen. Sie bestehen
darin, politische Sachverhalte aufzuklären und zu fördern, die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken und das demokratische Bewusstsein zu festigen. Das
sind die zentralen Punkte.
({5})
Ich bin dem Kollegen Ruppert dankbar, dass er deutlich
gemacht hat: Es ist nicht die Bundeszentrale für den
Kampf gegen Extremismus.
({6})
Diesen Eindruck sollten wir auch nicht erwecken.
({7})
Ich möchte darauf hinweisen, dass man im Hinblick
auf das Budget der Bundeszentrale für politische Bildung natürlich die Prioritäten ändern kann.
({8})
Man kann auch einmal die Frage stellen, wo Umschichtungen machbar sind und ob man angesichts der ziemlich großen Veranstaltungsdichte nicht auch den einen
oder anderen Beitrag erwarten kann.
({9})
Herr Kollege, es gäbe jetzt noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Lemme.
Nein, danke. Ich würde diesen Gedanken gerne zu
Ende führen.
Ich bitte Sie, zu beachten, dass man in der gesamten
Diskussion unter keinen Umständen den Eindruck erwecken sollte, als könne man Terroristen durch politische
Bildung von ihren Taten abhalten.
({0})
Ich will deutlich sagen, dass politische Bildung Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist. Dies ist nicht nur ein
wesentlicher Faktor der Aufklärung, sondern betrifft vor
allem auch den Blick auf politisch Verirrte. Wir sollten
unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, als
seien wir durch das, was der Staat im Bereich politischer
Bildung tun kann, in der Lage, terroristische Anschläge
zu verhindern.
({1})
Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen des gesamten
Hauses, die organisatorischen Voraussetzungen, vor allem
die der Dienste und der Sicherheitskräfte, zu stärken, um
zu einem guten Ergebnis zu kommen, zur Aufklärung
beizutragen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Man
sollte an dieser Stelle nicht den Fehler machen, zu versuchen, den Menschen etwas Sand in die Augen zu
streuen. Man sollte auch nicht versuchen, diese Debatte
zu einem falschen Ergebnis zu führen,
({2})
nur weil sie im Augenblick zur richtigen Diskussion
passt. Damit tun wir der politischen Bildung und der Extremismusbekämpfung mit Sicherheit keinen Gefallen.
({3})
Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/7943
an die Ausschüsse, die Sie in der Tagesordnung finden,
zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 45 a Absatz 2
des Grundgesetzes
- Drucksache 17/7400 Es ist vorgesehen, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen hier heute über ein Thema, das mit vielen
Toten und Verletzten sowie viel Trauer bei den Angehörigen der Opfer verknüpft ist. Dem sollten wir in der Debatte auch gerecht werden.
Das Thema Luftschlag Kunduz ist wie der gesamte
Einsatz in Afghanistan oder auch aktuell im Kosovo
natürlich stark mit der sehr grundsätzlichen Frage verknüpft, wie und inwieweit wir unserer Bundeswehr in
einem lebensbedrohlichen Einsatz Möglichkeiten einräumen, um sich gegen unmittelbar drohende Gefahren
für Leib und Leben der Soldatinnen und Soldaten schützen und nötigenfalls Gewalt dabei anwenden zu können.
Der Ernst der Frage und die Schwere des Vorfalls gebieten es, dieses Thema hier im Hohen Haus in aller Ruhe
und aller Sorgfalt und auch im Respekt vor den Toten
und im Respekt vor der Lage der Bundeswehr in einem
schweren Einsatz zu erörtern.
Für die Bundeswehr und ihren Einsatz in Afghanistan
- das gilt für Einsätze generell - ist dieser Vorfall sicher
in gewissem Ausmaß eine Zäsur. Nie zuvor haben Bundeswehrangehörige einen solchen Luftangriff befohlen,
und nie zuvor ist ein solches Ausmaß an unschuldigen
Toten zu beklagen gewesen. Dabei muss hier zweifelsfrei klargestellt werden: Der Einsatz der Bundeswehr in
Afghanistan ist vom Völkerrecht gedeckt.
({0})
Die Afghanen sind dankbar für den Schutz durch die
Bundeswehr, die Bundeswehr hat das Recht und die
Pflicht, ihren Schutzauftrag in Bezug auf die in Afghanistan zu leistende Aufgabe durchzusetzen, und sie hat
das Recht und die Pflicht, Mörder, Terroristen und Attentäter von ihrem mörderischen Tun abzuhalten - und
das auch mit militärischen Mitteln.
({1})
Unmittelbar nach dem Luftschlag in Kunduz haben
die Bundeskanzlerin, der damalige Außenminister
Steinmeier und der damalige Verteidigungsminister
Franz Josef Jung den zivilen Opfern und deren Familien
auch hier vor dem Hohen Haus ihre aufrichtige Anteilnahme ausgedrückt. Die Bundeskanzlerin hat in einer eigenen Regierungserklärung eine umfassende Aufklärung
des Vorgangs angekündigt - und sie hat Wort gehalten.
Wir als Deutscher Bundestag haben uns ebenso in der
Pflicht gesehen, die Umstände eingehend zu untersuchen. Der Beschluss zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses erfolgte aus gutem Grund im Konsens aller Fraktionen dieses Hauses.
({2})
Der Ausschuss hat zentrale Fragen gestellt und beantwortet. Einige will ich herausgreifen.
Die Fragen waren unter anderem: Wie sind die Regeln im Einsatz? Welche Regeln sind bei internationalen
Einsätzen zu beachten? Was ist nachzujustieren? Hier
gab es unmittelbar nach dem Luftschlag bereits Veränderungen, und es hat Klarstellungen gegeben.
Es gab weitere Fragen: Wie kommen wir an verlässliche Daten? Wie sichern wir möglichst fehlerfreie Abläufe, vor allem beim Einsatz von schweren Waffen?
Hier hat sich gezeigt, dass wir beim Thema Aufklärung
in technischer und personeller Hinsicht einen klaren
Nachholbedarf haben.
Zudem war die Frage zu untersuchen: Wie kam es zu
der tragischen Fehlinformation, dass die Personen um
die gewaltsam gekaperten Tanklaster nicht ausschließlich gewalt- und terrorbereite Taliban waren? Es ist natürlich nie auszuschließen, dass es im Zusammenhang
mit den menschlichen Quellen vor Ort, den einheimischen Spähern, auch das Risiko der Fehlinformation
gibt. Dabei - auch das will ich sagen - bleibt diese Informationsgewinnung für die Beurteilung unerlässlich.
Beim Luftschlag im September 2009 schien die Lage
eindeutig. Es wurde mehrfach geprüft. Dass die Informationen dennoch falsch blieben, hat zu einer nochmaligen
Überprüfung und Schärfung der Regeln und der internen
Abläufe geführt.
Wir haben im Untersuchungsausschuss auch die internen Kommunikationswege vom Einsatzort bis in die
Spitze der zuständigen Ressorts, des Außenministeriums, das damals in SPD-Hand war - Frank-Walter
Steinmeier -, und des Verteidigungsministeriums, untersucht. Hier ist es bekanntlich zu Fehlern gekommen, die
auch zu entsprechenden Konsequenzen und Veränderungen in den Abläufen geführt haben.
Nicht zuletzt waren der Fragenkomplex Einhaltung
militärischer Vorgaben durch die Bundeswehr und das
Zusammenwirken mit den afghanischen Partnern und
den Partnern in der NATO und in der Schutztruppe ISAF
von großer Bedeutung.
Wir müssen ein klares Wort an den damaligen ISAFKommandeur richten. Ich will das tun: Es wäre richtiger
gewesen, den ISAF-Partner Bundeswehr intensiver an
der Aufklärung zu beteiligen. - Es war richtig, dass der
damalige deutsche Verteidigungsminister Franz Josef
Jung und auch die Bundeskanzlerin mit deutlichen Worten vor einer Vorverurteilung warnten. Gerade in solch
schweren Fällen muss gelten: erst aufklären, dann urteilen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können festhalten: Der Ausschuss hat sich die Arbeit nicht leicht gemacht. Trotz aller teils harter und auch polemischer Auseinandersetzungen und trotz massiver Kritik vor allem
am Verhalten der SPD im Ausschuss nehme ich die SPD
beim Wort. Es gilt das Wort des Kollegen Arnold, der
sinngemäß formuliert hat: Wir wollen der Bundeswehr
nicht in den Rücken fallen.
Wenn das so ist, lieber Herr Arnold, und wenn das
von weiten Teilen von SPD und Grünen so mitgetragen
wird, können wir von hier aus den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zusichern, dass sie sich gerade auch
dann auf dieses Parlament verlassen können, wenn die
Situation kritisch wird. Wir lassen sie nicht im Stich, und
wir werden uns nicht auf ihre Kosten profilieren.
({4})
Wir haben im Ausschuss vor allem die Frage untersucht, wie es trotz der obersten Priorität der Bundeswehr, nämlich Zivilisten nicht zu schädigen, genau dazu
kommen konnte. Oberst Klein hat im Untersuchungsausschuss die dramatisch verschärfte Sicherheitslage klar
gezeichnet. Er hat überzeugend das damalige Risiko be17434
schrieben, dass der gekaperte Tanklaster als rollende
Megabombe gegen die Bundeswehr genutzt werden
könnte. Dazu lagen auch im Vorfeld klare Warnungen
vor. Zudem wurde er mit einer kriegerischen Lage konfrontiert, in der die Bundeswehr in Gefechten gebunden
wurde. Es gab Gefallene und Verletzte. Die Zahl der
Kämpfe war massiv angestiegen. Viele im Ausschuss
- auch ich persönlich - waren sehr beeindruckt bis schockiert über die Kriegsrealität, die sich in den deutschen
Medien so nicht wiederfand und auch in den Lagebildern
der militärischen Führung bis dahin nicht immer in der
Deutlichkeit dargestellt wurde. Wie einfach machen es
sich die, die Tausende Kilometer entfernt, von der warmen Stube aus, im Nachhinein alles besser wissen.
({5})
Oberst Klein hat in seinen Handlungen und in seinem
Vortrag einen integeren und sehr verantwortungsvollen
Eindruck hinterlassen. Er ist auch ein Beleg für das hohe
Maß an Umsicht und Verantwortungsgefühl, das die
Kommandeure der Bundeswehr im Einsatz - von Afghanistan bis hin zum Kosovo - zeigen. Sie räumen sowohl
dem Schutz der eigenen Truppe als auch dem Schutz der
Zivilisten oberste Priorität ein.
({6})
Bei aller Tragik der Ereignisse können wir im Ergebnis festhalten: Selbst in diesem schweren Einsatz - ich
sage bewusst: unter Kriegsbedingungen - zeigt sich die
Bundeswehr als eine hochverantwortliche, moderne Armee, die den hohen Ansprüchen an eine Einsatzführung
gerecht wird, die wir als Deutscher Bundestag auch zu
Recht anlegen.
({7})
Dabei gilt der Grundsatz: Wer angreift, um zu töten, der
muss mit unserer Verteidigungsbereitschaft rechnen.
({8})
Wer die Lage in Afghanistan und in Pakistan analysiert, wer die Lage in Teilen Ostafrikas und vor der
ostafrikanischen Küste betrachtet, der weiß: Sicherheit
kann im Zeitalter des internationalen Terrorismus nicht
mehr nur auf dem heimatlichen Territorium verteidigt
werden. Auch das hat etwas mit unserem Einsatz in Afghanistan und mit dem Luftschlag und seiner ganzen
Vorgeschichte zu tun.
Viel ist im Untersuchungsausschuss über Themen und
Nebenthemen geredet worden, die nichts mit dem Auftrag zu tun hatten. Auch das ist wahr. Ich will nur kurz,
aber dafür umso klarer das Lieblingsthema der Opposition aufgreifen - ein Thema, das mit dem Luftschlag
nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte -: die Angriffe
auf den Minister, der zum Zeitpunkt des Luftschlags gar
nicht im Amt war. Dazu stellen wir klipp und klar fest:
Wer die Bundeswehr in den Einsatz schickt, der steht in
der Verantwortung - auch in der Opposition.
({9})
Wer dann auf der innenpolitischen Bühne - Tausende
Kilometer vom Einsatz entfernt - ein unwürdiges Schauspiel abzieht, der hat einen Großteil seiner außen- und sicherheitspolitischen Glaubwürdigkeit verspielt.
({10})
Wir haben trotz dieser Obstruktion durchgesetzt, die
richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir können mit
einiger Genugtuung festhalten, dass nach fast zwei Jahren Ausschussarbeit wesentliche Teile der Forderungen
bereits sehr zeitnah nach dem Luftschlag umgesetzt worden sind.
Herr Brand, Herr Gehrcke wollte Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss.
Aber Sie haben mich gehört?
Ich komme jetzt zum Schluss.
({0})
Für die CDU/CSU, für die Koalition und sicher auch
für die große Mehrheit hier in diesem Haus stelle ich
fest: Die Bundeswehr kann sich als Parlamentsarmee bei
ihren gefährlichen und verantwortungsvollen Einsätzen
für Sicherheit und Frieden auf die Unterstützung des
Parlaments verlassen. Das gilt von Afghanistan über Somalia bis hin nach Bosnien und in das Kosovo. Wir stehen zu unseren Soldaten. Wir sagen ihnen auch heute
Dank für ihre zum Teil sehr gefährlichen Einsätze. Das
verdienen die Männer und Frauen, die im Einsatz sprichwörtlich Leib und Leben für unsere Sicherheit riskieren.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Gehrcke bekommt das Wort zu einer
Kurzintervention.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Brand, ich
habe bis zum Schluss gewartet, ob Sie ein Wort, einen
Satz, einen halben Gedanken der Trauer oder des Mitleids für die Opfer dieses Bombenangriffs finden,
({0})
ob nicht von diesem Parlament aus endlich ein Signal an
die Menschen in Afghanistan gehen kann, deren AngeWolfgang Gehrcke
hörige umgekommen sind: Wir trauern mit euch. Wir
entschuldigen uns für das, was passiert ist.
Sie haben kein einziges Wort für die Opfer gefunden.
({1})
Das finde ich schändlich. Das finde ich bedauerlich. Das
entspricht auch nicht der Würde dieses Parlaments.
({2})
Herr Brand, möchten Sie antworten? - Bitte schön.
Herr Kollege Gehrcke, ich möchte Ihre Äußerung als
unwahr zurückweisen. Sie waren ganz offensichtlich zu
Beginn dieser Rede nicht anwesend.
({0})
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen - wenn Sie es
schon nicht im Plenarsaal tun, dann lesen Sie es im Protokoll nach -, dass ich mit einer sehr differenzierten
Position und auch mit dem Benennen der Opfer und mit
Worten der Trauer der unschuldigen Opfer gedacht habe.
Herr Gehrcke, Sie zeigen exemplarisch, was die
Linkspartei in den letzten zwei Jahren in diesem Ausschuss veranstaltet hat. Ihnen ging es nicht um die Sache. Ihnen ging es um Propaganda.
({1})
Jetzt hat Rainer Arnold das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat, das war der folgenschwerste Waffeneinsatz
der Bundeswehr, seit die Bundeswehr in unserem Auftrag bei internationalen Einsätzen engagiert ist: über
60 erwachsene Zivilisten und über 20 tote Kinder. Das
ist eine Tragödie, Herr Kollege Brand, über die wir nicht
mit diesem schneidigen, rechthaberischen und forschen
Ton hinweggehen können und dürfen.
({0})
Jedes Menschenleben in Afghanistan ist so viel wert
wie jedes Menschenleben der Welt. In diesem Sinn und
mit diesem Maßstab haben Sozialdemokraten und auch
andere in dem Ausschuss ihre Aufklärungsarbeit betrieben. Dies heißt auch im Sinn einer Parlamentsarmee,
Herr Kollege Brand: Man fällt den Soldaten nicht in den
Rücken, wenn man Fehler sorgfältig untersucht, auswertet
({1})
und daraus die Konsequenzen zieht und wenn man
falsch als falsch benennt. Sie sind dazu nicht in der
Lage. Dies wird den Opfern dieser tragischen Nacht
nicht gerecht.
({2})
Übrigens hat Ihre Kanzlerin damals am 8. September
2009 versprochen - ich zitiere -:
Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls … und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit.
Nichts ist passiert.
({3})
Keine Aufklärung durch die Bundesregierung, nicht einmal die angemessene Entschädigung für die Opfer, wie
sie in Afghanistan üblich ist.
({4})
Deshalb war es notwendig, dass der Untersuchungsausschuss seine Arbeit geleistet hat, dass wir dort aufgearbeitet haben, wo die Regierung versagt hat. Das ging
über viele Stunden. Das war eine große, auch nervliche
Belastung für uns alle. Wir müssen das machen, das ist
unsere Aufgabe. Ich möchte aber ein ausdrückliches
Dankeschön an unsere Mitarbeiter und vor allen Dingen
auch an alle Mitarbeiter im Ausschusssekretariat richten,
die über viele Stunden, über 200, zusätzlich gearbeitet
haben.
({5})
Dieser Einsatz wurde von der Spitze des Ministeriums als „militärisch-operativ angemessen“ bezeichnet.
Haben Sie, die Kollegen von der Koalition, nicht reflektiert, dass das ein gesuchter Begriff im Sinne von Schutz
für Oberst Klein war? Dafür habe ich Verständnis. Ich
erwarte sogar von der Führung, dass sie sich schützend
vor ihre Untergebenen stellt. Das ist die eine Seite.
Auch mir geht es so. Ich empfinde so, wie es in einem
schönen Satz im Talmud geschrieben ist: Verurteile niemanden, bevor Du in seiner Lage warst. - Niemand
wollte in dieser Nacht in der Lage von Oberst Klein gewesen sein. Deshalb geht es nicht um Verurteilen. Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben als Parlamentarier die Verpflichtung, diesen schwerwiegenden Einsatz zu beurteilen, die Fakten, auch wenn sie schmerzhaft
sind, zu benennen. Dabei gibt es nichts herumzureden.
Dieser Einsatz war ein schwerer Fehler. Er beruhte
auf Fehleinschätzungen, was die Gefährdung durch die
Tanklastzüge und eine Gefahr für das Camp angeht, die
nicht bestanden hat. Schwere Regelverstöße waren aktenkundig, was in den Befragungen deutlich wurde. Das
steht außer Frage. Es ist auch klar geworden: Ohne die
Regelverstöße hätte Oberst Klein nicht die Legitimation
zur Anforderung der Flugzeuge gehabt.
All dies muss gesagt werden. Das heißt nicht, den
Soldaten in den Rücken zu fallen; es ist vielmehr unsere
Aufgabe, seriös aufzuklären. Im Gegensatz zu Ihnen haben die Grünen und wir den Begriff „lessons learned“
sehr ernst genommen und auf einigen Seiten in dem
500 Seiten langen Bericht festgehalten, welche politischen Konsequenzen und operativen Folgerungen notwendig sind.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Parlamentarier
haben allerdings nicht die Aufgabe, militärisch-operativ
zu beurteilen. Wir haben die Aufgabe, nach politischen,
ethischen und strategischen Maßstäben unser Urteil zu
finden. Es geht nicht an, dass eine Bundeskanzlerin fast
zwei Jahre nach dem schweren Vorfall in der Zeugenbefragung immer noch sagt: Ob er richtig oder falsch war,
kommt auf den Blickwinkel an.
({7})
Nein, es gibt hier nur den politischen Blickwinkel. Dafür
sind wir als Abgeordnete gewählt. Wir brauchen die
Kraft und den Mut, dies auch deutlich zu sagen.
Es geht noch weniger an, Herr Kollege Brand, dass
der ehemalige Verteidigungsminister zu Guttenberg, vor
den Sie sich gerade wieder schützend gestellt haben, das
noch weiter auslegt, indem er sagt: Auch ohne Regelverstöße wäre der Einsatz zwingend gewesen.
({8})
Er hat dazu von niemandem Rat eingeholt. Im Gegenteil:
General Schneiderhan hat ihn sogar gewarnt, ein bisschen vorsichtiger zu sein, und darauf hingewiesen, dass
die Dinge wahrscheinlich komplizierter sind als angenommen.
Er musste nachher sein Urteil korrigieren, weil der öffentliche Druck und auch der Druck aus dem Parlament
größer wurden; denn jeder, der den ISAF-Abschlussbericht lesen konnte - auch zu Guttenberg sagt, er habe ihn
gelesen -, kann zu keiner anderen Erkenntnis kommen,
als dass der Einsatz falsch war und es schwere Regelverstöße gab. Dass Sie sich heute noch vor den Minister
stellen, finde ich außerordentlich bemerkenswert. Denn
die Geschichte in den letzten zwölf Monaten hat gezeigt:
Es gibt Zweifel an der Seriosität, Wahrhaftigkeit und der
Bereitschaft, Verantwortung gegenüber den beiden Personen zu übernehmen, nämlich Generalinspekteur
Schneiderhan und Staatssekretär Wichert, die er entlassen hat. An den beiden gibt es keinen Zweifel.
Es würde sich für Sie anbieten, zu lesen, was Volker
Rühe, Ihr ehemaliger CDU/CSU-Verteidigungsminister,
zu diesen Vorgängen festgestellt hat. Sie haben nichts
davon aufgenommen. Sie haben Ihren Abschlussbericht
so geschrieben, Herr Brand, dass ich den Eindruck habe,
Sie sind ein Ultrafan von zu Guttenberg im Parlament.
Sonst könnte man heute nicht so urteilen, wie Sie es tun.
({9})
Lassen Sie mich noch einige Sätze zu der Verantwortung des damaligen Ministers Jung sagen. Um es gleich
vorweg klar zu artikulieren: Die Haltung von Minister
Jung war letzten Endes konsequent. Sie verdient zumindest Respekt. Er hat angesichts der großen Dramatik und
des Leids, das in Afghanistan geschehen ist, vergleichsweise kleine Fehler begangen. Er hat die Öffentlichkeit
nicht schnell genug informiert. Vielleicht hat er auch
nicht die Kraft gehabt, zu sagen: „Das ist politisch brisant; ab jetzt laufen alle Fäden bei mir zusammen“, statt
alle Abteilungen vor sich hinarbeiten zu lassen. Das waren seine Versäumnisse. Dafür hat er die Verantwortung
übernommen. Dies halten wir ausdrücklich für in Ordnung.
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Spiegelstriche zum Thema „lessons learned“ anmerken.
Bei „ein paar Spiegelstrichen“ werde ich unruhig.
Ich nenne nur noch einen Punkt, der uns als Sozialdemokraten besonders wichtig ist. Wir werden uns damit
beschäftigen müssen, ob das deutsche Recht in allen Bereichen zu unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
passt. Wir werden uns auch damit beschäftigen müssen,
ob die Arbeit der menschlichen Quellen, die der Arbeit
des Bundesnachrichtendienstes sehr nahe ist, von der
Bundeswehr so weiter geleistet werden soll und welche
parlamentarische Kontrolle dafür notwendig ist.
Herr Kollege.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Arbeit ist
wichtig. Die Frage ist aber, wie sie gemacht wird.
Wir haben also mit dem heutigen Abschlussbericht
keinen Schlussstrich zu ziehen. Mit dem heutigen Abschlussbericht sagen wir vielmehr: Vor uns liegt noch
viel Arbeit in dem Sinne, aus Fehlern zu lernen, damit
sich so etwas nach menschlichem Ermessen nicht mehr
wiederholt.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Joachim Spatz hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat stellte das Einsatzjahr 2009 mit den eigenen
Opfern im April und den bedauernswerten zivilen Opfern am Kunduz-Fluss am 4. September 2009 einen Einschnitt in der Geschichte der Bundeswehr und auch der
Bundesrepublik Deutschland dar. Spätestens mit diesem
Einsatzjahr war klar, dass wir uns in Afghanistan - man
kann das jetzt juristisch formulieren, aber ich sage es
einmal so, wie es der normale Mensch empfindet - im
Krieg befinden.
Ich denke, vieles was danach an Konsequenzen
folgte, bis hin zur Bundeswehrreform in der Gestalt, wie
sie jetzt angegangen wird, ist der Tatsache geschuldet,
dass man sich diesen Realitäten unausweichlich hat stellen müssen.
Zur Beurteilung des Vorfalls am Kunduz-Fluss war es
unumgänglich, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Deshalb wurde er auch - der Kollege Brand hat
darauf hingewiesen - einstimmig eingesetzt. Als öffentliche Einrichtung muss sich die Parlamentsarmee genau
wie die Polizei bei der Wahrnehmung ihrer Machtmittel
einer kritischen Prüfung unterziehen. Deshalb bekennen
wir uns auch dazu, dass sich das Handeln in diesem Fall
der kritischen Prüfung durch einen Untersuchungsausschuss zu unterziehen hatte.
Dabei hat aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch das Parlament die Aufgabe, diese Prüfung vor
dem Hintergrund ihrer Verantwortung wahrzunehmen.
Dazu muss ich schon sagen - da teile ich die Bewertung
des Kollegen Brand -, dass das nicht in jedem Fall die
alleinige Richtschnur gewesen sein kann, an der sich die
Opposition orientiert hat. Bei uns standen auf jeden Fall
die Sachaufklärung und das, was wir an Folgerungen für
die weitere Tätigkeit der Bundeswehr daraus zu ziehen
haben - mit dem Stichwort „lessons learned“ wurde das
schon erwähnt -, im Vordergrund.
An der Stelle sei auch einmal erwähnt, dass die Koalition gemeinsam mit SPD und Grünen im Feststellungsteil unseres Berichtes einen Weg gefunden hat, wenigstens die Sachaufklärung auf einen gemeinsamen Stand
zu bringen. Eigentlich war bis zum Schluss auch die
Linke mit dabei, die sich dem dann aber ganz kurz vor
Toresschluss entzogen hat. Als Beweggründe dafür eignen sich - darauf komme ich später bei einzelnen Punkten noch zurück - wohl nur andere als die gemeinsame
Sachaufklärung. Hier hat anscheinend die Regie aus dem
Backoffice dominiert.
Wir als Koalition haben uns die Bewertung der Tätigkeit oder der Entscheidungen des Oberst Klein an diesem Tag nicht leichtgemacht. Wir sind zu dem Ergebnis
gelangt, dass man nach Abschluss aller Untersuchungen
zu dem Schluss kommen muss, dass die Entscheidung
zwar militärisch nicht angemessen war - dazu bekennen
wir uns auch -, dass er aber nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten,
die ihm genauso unterstellt waren wie die zivilen Bediensteten, die im Lager dabei waren, gehandelt hat. Wie
gesagt: Im Nachhinein, nach Vorliegen aller Informationen und mit großer Distanz kann man dieses Urteil fällen.
Wenn es zu einer Fehlentscheidung gekommen ist,
dann auch deshalb, weil damals die Aufklärungs-, Führungs- und Wirkmittel nicht zur Verfügung standen, die
einem Kommandeur in Kunduz heute zur Verfügung stehen. Auch das ist klar: Hier wurde unmittelbar und
schnell gehandelt.
({0})
Der Vorwurf der parteipolitischen Inszenierung, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, muss Ihnen
natürlich gemacht werden, nachdem der verantwortliche
Minister, Dr. Jung, sehr zügig zurückgetreten ist. Dadurch, dass Sie sich nach diesem Rücktritt auf den ehemaligen Minister zu Guttenberg konzentriert haben, ist
Ihre eigentliche Absicht doch mehr als offensichtlich.
Die Bewertung des Vorganges rund um den ehemaligen
Generalinspekteur Schneiderhan und den ehemaligen
Staatssekretär Wichert zeigt doch, wes Geistes Kind Ihre
Bewertung ist. Ich kann nur sagen: Den Eindruck, den
die beiden Zeugen im Untersuchungsausschuss gemacht
haben, jedenfalls auf mich, hat sehr glaubwürdig erscheinen lassen, was der Zeuge zu Guttenberg ausgesagt
hat.
({1})
Da der Name Volker Rühe und der seines Nachfolgers
gefallen sind, verbitte ich mir schon, dass sich Leute ein
Urteil erlauben, die mit dem Untersuchungsausschuss
und dem Untersuchungsgegenstand in keiner Weise zu
tun hatten.
({2})
Sowenig wie wir an dieser Stelle ein Werturteil über die
Personen oder deren Lebensleistung abgegeben haben,
({3})
so wenig kann ich diejenigen ernst nehmen, die sich ein
Urteil über ein Verhalten in dieser konkret angesprochenen Sachlage herausnehmen,
({4})
obwohl sie in keiner Weise daran beteiligt waren. Das
will ich hier schon noch einmal klarstellen.
({5})
Jetzt zu etwas anderem; das ist vor allem an die Linke
gerichtet. Es geht um den Versuch, die Bundeswehr,
Stichwort „Task Force 47“, in eine bestimmte Richtung
zu rücken, wodurch nahegelegt wird, dass sie gewissermaßen Listen von Targets abarbeitet oder Beihilfe zu
Geheimoperationen leistet. Dergleichen ist noch nicht
einmal im Ansatz belegbar gewesen. Es ist ein Unding,
dass Sie das offensichtlich weiterhin behaupten.
({6})
Es gab nicht einmal einen Anfangsverdacht. Das Ganze
ist nichts anderes als Diffamierung. Auch hier wird wieder der Versuch deutlich, diesen Einsatz, die Bundeswehr und ihre Führung an dieser Stelle zu diskreditieren.
Man tut so, als ob sich unsere Soldatinnen und Soldaten
zu solchem Tun - Geheimdienstoperationen entweder
aus eigenem Antrieb oder im Auftrag anderer abzuarbeiten - hergeben. Das ist nicht der Fall.
({7})
Es gab nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass es anders gewesen ist.
Zu Ihrer Behauptung, der Luftschlag sei völkerrechtswidrig gewesen, kann ich nur sagen: Die deutsche Justiz,
die über die Anklage gegen Oberst Klein zu entscheiden
hatte, ist schlicht und ergreifend anderer Meinung.
({8})
- Da können Sie lachen. Bei juristischen Meinungen gibt
es natürlich immer unterschiedliche Auffassungen. Es
gibt ja den Spruch: Drei Juristen, fünf Meinungen.
({9})
Wenn es bei solchen Fragen von den zuständigen Institutionen eine Entscheidung gibt, ist es Aufgabe des Parlaments, das nicht zu ignorieren und nicht weiterhin zu behaupten, dass man völkerrechtswidrig unterwegs gewesen ist.
({10})
Alles in allem kann man sagen, dass die Tätigkeit des
Untersuchungsausschusses diejenigen Dinge zutage gefördert hat, die wir ändern mussten, sowohl im Einsatzgebiet selbst als auch in der Kommunikation des Bundesministeriums der Verteidigung; denn auch da waren
offenkundig Unzulänglichkeiten vorhanden. Diese Änderungen sind weitgehend geschehen. Die Versuche, sowohl den Einsatz wie auch handelnde Personen in Misskredit zu bringen oder gar zu diffamieren, sind gescheitert.
({11})
Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Bombenangriff von Kunduz am 4. September 2009 war
eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dass
ein Bundeswehroberst den Befehl zu einem Luftangriff
gibt, bei dem über 100 Menschen, darunter überwiegend
unschuldige Zivilisten, umkommen sollten, lag außerhalb des Denkhorizonts der deutschen Öffentlichkeit.
Das hat viele aufgeschreckt, viele entsetzt, und es ist gut,
dass sich die Deutschen auch über 60 Jahre nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs so schwertun, einer Politik
zu folgen, die uns wieder zu militärischen Tätern macht.
({0})
Man hat das auch „Kultur der Zurückhaltung“ genannt. Für mich schließt das den Begriff der Empathie
ein, das Mitgefühl mit den Opfern, deren Angehörigen
und Freunden. Deshalb stand für uns, die Linke, aber
auch für viele andere neben der Pflicht zur Aufklärung
immer auch im Zentrum, dass die afghanischen Opfer
der Bomben nicht vergessen werden, dass ein Schuldeingeständnis durch die Verantwortlichen erfolgt - bis heute
nicht geschehen - und dass die betroffenen Familien, die
in großer Armut leben, angemessen entschädigt werden - bis heute nicht geschehen. Leider wurde auch unser Vorschlag, am Jahrestag der Bombennacht von
Kunduz hier im Bundestag der Toten zu gedenken, abgelehnt. Diese Wunde bleibt.
Was die Öffentlichkeit damals aufgewühlt hat, waren
nicht nur die Bomben, die Toten, Menschen, die sich
quasi in Luft aufgelöst hatten, sondern es war auch der
Umgang mit diesem Ereignis. Es war doch damals mit
Händen zu greifen, dass die Wahrheit immer nur scheibchenweise ans Licht gekommen ist, dass Dinge vorenthalten werden sollten. Der Versuch, möglichst rasch zur
Tagesordnung überzugehen, wäre auch fast gelungen,
wenn nicht Nachrichtenmedien Ende Oktober mit neuen
Enthüllungen nachgelegt hätten. Man muss sich daran
noch einmal erinnern.
Die Bundeskanzlerin hatte am 8. September 2009 hier
im Bundestag versprochen, rückhaltlos und vollständig
aufzuklären. Dieses Versprechen ist bis heute nicht eingelöst.
({1})
Wir sind durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses zu klaren Bewertungen gekommen. Wir sind
davon überzeugt, dass der Luftangriff vom 4. September
2009 gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen hat
und dass er deshalb nie hätte stattfinden dürfen.
({2})
Oberst Klein hätte alles tun müssen, um definitiv auszuschließen, dass sich am Angriffsort Zivilisten befinden.
Davon kann aber keine Rede sein. Schon allein die Frage
nach dem Verbleib des besonders schutzbedürftigen,
weil verschleppten Lkw-Fahrers zu ignorieren, war fahrlässig.
({3})
Aber auch das stete Kommen und Gehen einer großen
Zahl von Menschen, die Benzin aus dem Tanklastwagen
abzapfen wollten, sprach gegen die Annahme, dies seien
keine Zivilisten. Oberst Klein hätte vor dem Angriffsbefehl zwingend Tiefflugaktionen der Piloten anordnen
müssen - ich rede vom Bürgerrecht -, um die Zivilisten
Paul Schäfer ({4})
auf der Sandbank vor einem Luftangriff zu warnen und
ihnen die Gelegenheit zu geben, den Ort unverzüglich zu
verlassen. Das sind völkerrechtliche Gebote. Das ist
nicht geschehen, weil es ja gerade das Ziel des Bombenangriffs war, den lokalen Taliban-Führern und den vermeintlichen Aufständischen einen - so hieß es ja - „vernichtenden Schlag zu versetzen“. Das war das Kalkül.
Dass sich die Bundeswehrführung intern und in ihrer Beratung des damaligen Ministers dieses Kalkül zu eigen
gemacht
({5})
und damit den Luftschlag gerechtfertigt hat, hat die Sache wahrlich nicht besser gemacht, im Gegenteil. Das
haben wir im Untersuchungsausschuss auch herausgefunden.
Wir konnten uns auch in dieser Bewertung nicht zuletzt auf den NATO-Untersuchungsbericht stützen. Er
enthält alle wesentlichen Fakten, auch klare Hinweise
auf die gravierenden Regelverstöße durch Oberst Klein,
und er macht keinen Hehl daraus, dass der Angriffsbefehl ohne unmittelbare Gefahr für die Bundeswehr und
auch für afghanische Zivilisten sowie ohne ausreichende
Klärung, wer durch die Bomben getroffen werden
würde, nicht hätte gegeben werden dürfen.
({6})
Es ist ein Trauerspiel, dass dieser COMISAF-Bericht
weiter topsecret ist, lieber Kollege Brand. Die Bundesregierung hat lange mit dem Finger auf die NATO gezeigt.
Peinlich nur, dass durch den Untersuchungsausschuss
herauskam - man kann es nachlesen -, dass das deutsch
geführte PRT Kunduz auch daran beteiligt war, an der
Geheimeinstufung festzuhalten. Das ist doch bemerkenswert.
General Ramms, zeitweilig ranghöchster deutscher
Offizier bei der NATO, war einer der Zeugen. Er hat ausgesagt, seine Schlussfolgerung nach der Lektüre des
COMISAF-Berichts habe gelautet: Ich empfehle die gerichtliche und disziplinarische Untersuchung des Vorfalls. - Das war die Meinung eines führenden Militärs.
({7})
Wie ist die Bundesregierung damit umgegangen? Vor
dem Hintergrund der sich verschärfenden Kämpfe und
dieses Ereignisses am Kunduz-Fluss hat man die Weichspülterminologie aufgegeben. Seit Oktober 2009 sprechen wir von Krieg in Afghanistan.
Man mag das als Anerkennung der Realitäten ansehen, aber es geht um mehr: Krieg und Kriegsopfer gehören zusammen, und wenn schon Krieg ist, dann ist auch
mehr erlaubt, also auch verschärfte Angriffshandlungen.
Einen Oberst, der gegnerische Kombattanten nach seinen eigenen Worten vernichten will, zu belangen, wird
schwierig. Man konnte davon ausgehen, dass eine auch
politisch aufgestellte Generalbundesanwaltschaft - davor brauchen wir die Augen nicht zu verschließen schon für den Rest sorgen und hilfreich zur Seite stehen
würde. Genau das ist in dem vorliegenden Fall passiert.
Das Verfahren wurde nach fünf Wochen eingestellt.
({8})
Die Bundeswehr hat gegen Oberst Klein ein förmliches Disziplinarverfahren erst gar nicht eingeleitet. Hier
scheint ein Grundmuster auf, das überaus kritikwürdig
ist. Es mag sein, dass eine Staatsanwaltschaft der Meinung ist, eine strafrechtliche Verurteilung sei nicht zu erwarten. Aber die disziplinarische Würdigung ist etwas
anderes, und sie darf nicht einfach an eine unterbleibende Strafverfolgung angehängt werden. Gravierende
Verstöße gegen NATO-Regeln zum Beispiel - die liegen
eindeutig vor - sind zu ahnden, wenn man nicht riskieren will, dass das schlechte Beispiel Schule macht.
({9})
Es kann doch nicht sein, dass schlampiges Waffenreinigen geahndet wird
({10})
und ein tödlicher Waffeneinsatz, der in der heutigen
Bundeswehrführung als Riesenfehler eingestuft wird,
mit Beförderung belohnt wird. Das kann nicht sein.
({11})
Die Bundeskanzlerin hat am 8. September 2009 davon gesprochen, dass durch Kunduz „wie in einem
Brennglas“ die „grundsätzlichen Fragen sichtbar“ werden, „die wir uns seit Beginn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan immer wieder stellen müssen“.
Wohl wahr. Dazu gehört auch die Frage, ob sich die
Bundeswehr an einer solchen Form der offensiven Aufstandsbekämpfung beteiligen soll, wie sie im Norden
stattfindet. Man hat seit Beginn 2009 gesagt, man müsse
sich jetzt wehren. Dann kam Kunduz. Für die politischen
Entscheidungsträger schien es dann vor allem darum zu
gehen: Wie kann man den allzu bohrenden Fragen nach
der Sinnhaftigkeit des Einsatzes an der Heimatfront
begegnen? Das ist der kritische Punkt. Wenn die
Hauptsorge ist, ob die Truppe noch angemessen kriegerisch funktioniert, und dies die Bedenken, ob die völkerrechtlichen und rechtlichen Schranken zur größtmöglichen Schonung der Zivilbevölkerung auch strikt
beachtet werden, in den Hintergrund drängt oder überlagert, dann sind wir auf der schiefen Ebene. Deshalb gilt
es an dieser Stelle, innezuhalten und umzukehren. Genau
das ist es, was gemacht werden muss.
Die entscheidende Schlussfolgerung, die die Linke
aus dem 4. September 2009 zieht, lautet: Krieg darf kein
Mittel der Politik mehr sein.
Danke.
({12})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Omid Nouripour das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen am 4. September
2009 zu Schaden gekommen sind. In den Berichten gibt
es variierende Zahlen: bis zu 142. Wir wissen aber, dass
viele Zivilistinnen und Zivilisten darunter waren und
dass auch Kinder dort versehrt worden sind. Das ist der
Grund, warum wir heute zu Recht sagen, dass es eine
Zäsur war, nicht nur in der Geschichte der Bundeswehr,
sondern auch beim Einsatz in Afghanistan, und das ist
der Grund, warum es einen Untersuchungsausschuss gegeben hat.
Wir fragen: Wie konnte es dazu kommen, dass ein
solches Fehlurteil gefällt wurde? Wie ist die Politik danach mit diesem Fehler umgegangen? Welche Lehren
ziehen wir daraus? Diese Fragen haben wir sehr lange
miteinander erörtert. Es war nicht immer einfach. Aber
ich finde unter dem Strich, dass dieser Ausschuss vieles
erreicht hat. Wir haben viel über den Einsatz in Afghanistan gelernt, wir haben viel über Afghanistan selbst gelernt, und wir haben sehr viel über die Bundeswehr und
das Bundesministerium der Verteidigung gelernt.
Vieles war schleppend. Bei den meisten Akten war es
am Anfang nicht einfach, sie zu bekommen. Die Bundesregierung hat aus unserer Sicht vieles nicht oder nur
sehr langsam geliefert. Wir haben immer wieder mit der
Mehrheit zu kämpfen gehabt. Nicht alle Auseinandersetzungen, die wir im Ausschuss hatten - ich schließe an dieser Stelle keine Fraktion aus -, waren sachlich. Ich finde,
dass vieles nicht ernsthaft genug diskutiert wurde - ich
persönlich meine, vor allem vonseiten der Koalition. Ich
fand es auch nicht gut, wenn erst gesagt wurde, dass bestimmte Sitzungen öffentlich sein sollen, dann aber aus
Gründen, die ich bis heute nicht nachvollziehen kann,
anders entschieden wurde. Das zeugte nicht von Zuverlässigkeit.
({0})
Aber noch einmal: Wir haben es geschafft, miteinander zu einem gemeinsamen Feststellungsteil zu kommen. Das ist gut. Das ist etwas mehr gewesen, als ich am
Anfang erwartet hatte.
Trotzdem kommen wir bei der Frage, wen man entlasten kann, zu einem anderen Ergebnis als die Ausschussmehrheit. Franz Josef Jung hat der Öffentlichkeit
tagelang die Wahrheit verschwiegen, dass es zivile Opfer
gegeben hat, obwohl das bereits am 4. September in internationalen Nachrichten bekannt geworden war. Bereits am 4. September gab es Meldungen über Kinder in
Krankenhäusern in Kunduz.
Die Bundeskanzlerin hat nicht widersprochen. Sie ist
zwar für die Richtlinienkompetenz zuständig; sie ist aber
in der Wahlkampfsituation abgetaucht. Sie hat versprochen, dass es ihrerseits vollständige Aufklärung geben
werde. Ich selbst habe sie im Ausschuss gefragt, was nun
ihr persönlicher Beitrag zur Aufklärung sei. Ihre Antwort war: Ich habe die Akten gelesen. - Ich finde, das ist
für eine Bundeskanzlerin nicht besonders viel.
({1})
Das Auswärtige Amt hat nicht widersprochen, sich aber
wenigstens von den Äußerungen von Franz Josef Jung
klug distanziert.
Herr Kollege Spatz, bei Karl-Theodor zu Guttenberg
fällt mir nur ein: ein Minister, drei Meinungen.
({2})
Anfangs gab es eine Bewertung, in der es hieß: militärisch angemessen und zwingend. Danach hieß es: Nein,
das war falsch. Später hieß es: Es war politisch nicht angemessen, aber militärisch doch. - Wie er zu diesen
Meinungswechseln kam, ist bis heute nicht wirklich klar.
Er konnte uns das nicht sagen; er hatte halt den Überblick verloren. Die Herren Wichert und Schneiderhan
können wir Grüne auch nicht entlasten. Sie sind Opfer
eines Systems geworden, das sie jahrelang selbst im
Ministerium installiert haben.
Erlauben Sie mir bitte, noch einige Sätze zu Oberst
Klein zu sagen. Er hat in einer unglaublich schwierigen
Situation Fehler gemacht. Er hat in dieser Situation gegen Einsatzregeln verstoßen und das völkerrechtlich verankerte Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht eingehalten.
Nun hat natürlich auch die Politik, die Soldaten und
Soldatinnen entsendet, eine Fürsorgepflicht. Verehrte
Kolleginnen und Kollegen der Union, ich finde, es ist
kein richtiges Verständnis von Fürsorge, wenn man Fehler einfach nicht benennt. Hinsichtlich des Disziplinarverfahrens würde ich mir nicht anmaßen, ein Ergebnis
vorwegzunehmen. Das Problem ist jedoch die Begründung des BMVg. Die Begründung für die Einstellung
des Disziplinarverfahrens lautete: Anhaltspunkte für ein
Dienstvergehen haben sich nicht ergeben. - Das ist
schlicht falsch. Für eine Beurteilung muss man die internationalen Berichte lesen, man muss die NATO-Ergebnisse lesen - und dann muss man einfach zu einem anderen Ergebnis kommen.
Im Untersuchungsausschuss waren einige Menschen
mit goldenen Sternen auf der Schulterklappe als Zeugen,
bei denen ich mich gefragt habe, ob sie sich einfach immer wieder weggeduckt haben. Wir hatten aber auch
sehr viele Soldaten als Zeugen im Ausschuss, die ein
Musterbeispiel für Innere Führung waren. Die Frage ist:
Welches Signal sendet die Führung des Ministeriums in
Richtung der eigenen Soldatinnen und Soldaten aus,
wenn es darum geht, was eigentlich Innere Führung ist?
Ein permanentes Wegdrücken von Fehlern und die Haltung, auch das, was international bekannt ist, nicht zu
thematisieren, ist kein gutes Beispiel, wenn man das
Prinzip der Inneren Führung verankern will.
({3})
Die Koalitionsfraktionen wollten den Ausschuss bereits nach drei Monaten beenden. Zu dem Zeitpunkt war
die Bundeskanzlerin noch gar nicht als Zeugin vernommen worden. Wir hatten viel Ärger miteinander. Nun
kann man sagen, es sei ein bekanntes Spiel in Untersuchungsausschüssen, dass sich Koalition und Opposition
auch in den Formalitäten beharken.
Das Problem aber ist Folgendes: Wir haben am Ende
mehrfach angeboten, uns gemeinsam hinzusetzen und
einmal aufzuschreiben - der Kollege Arnold hat es gesagt -, was wir denn eigentlich aus dem Ganzen gelernt
haben, damit wir schließlich gemeinsame Empfehlungen
abgeben können. Sie haben sich diesem Gespräch verweigert.
({4})
Das ist sehr bedauerlich und zugleich ein Bärendienst,
nicht nur für die Akzeptanz der Truppe, sondern auch für
die Akzeptanz des Einsatzes in Afghanistan.
Erlauben Sie mir, einige wenige Lektionen vorzutragen, die wir - Sozialdemokraten und Grüne - aufgeschrieben haben:
Die Einsatzregeln der ISAF müssen den Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz konsequent und systematisch
vermittelt werden. Das gilt erst recht im Hinblick auf das
Völkerrecht und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben können.
Die Struktur der Feldlager, also der PRTs, kann so
nicht mehr aufrechterhalten werden. Es kann nicht sein,
dass es formal eine Doppelspitze gibt, bei der allerdings
der militärische Führer 1 000 Menschen unter sich hat,
der zivile hingegen nur zwei. Hier muss die zivile Seite
deutlich mehr tun, damit eine Doppelspitze auf gleicher
Augenhöhe agieren kann.
({5})
Die Bundeswehr braucht mehr Aufklärungsmittel. Es
geht natürlich auch darum, dass Quellen anders geführt
werden, auch beim Einsatz in Afghanistan. Es geht in
erster Linie darum, dass das Prinzip der Inneren Führung
konsequent vermittelt wird. Wenn Soldatinnen und Soldaten der Meinung sind, dass ein Befehl, der ihnen erteilt
worden ist, nicht regelkonform ist - sei er völkerrechtlich zweifelhaft, sei er mit den Einsatzregeln nicht zu
vereinbaren -, dann müssen sie dem wie selbstverständlich widersprechen. Das ist nicht immer selbstverständlich; das muss es aber werden.
Im Ministerium gab es - der Kollege Spatz hat das zu
Recht gesagt - eine mangelnde Krisenkommunikation.
Sie sagten, dass es danach Änderungen gegeben habe;
alles sei besser geworden. In dem Zusammenhang
möchte ich an den Fall der Gorch Fock erinnern, bei dem
man nicht das Gefühl hatte, dass irgendetwas gelernt
worden war. Da hat man den Fehler, nämlich erst einmal
alles beiseitezudrücken, was es an Fehlern gab, wiederholt. Wichtig wäre, dass die Bundeskanzlerin oder ab
2013 der nächste Bundeskanzler - meines Wissens sind
bisher alle Gegenkandidaten Männer ({6})
Verantwortung für die Einsätze übernehmen. Die Bundeskanzlerin hat in der letzten Legislaturperiode - das
gilt bis zu diesem Tag - das Wort „Afghanistan“ hier im
Deutschen Bundestag nur einmal verwendet. Das ist
nicht ausreichend und kein Fall von Richtlinienkompetenz.
Wichtig ist aber, dass der Einsatz - auch das hat der
Kollege Arnold zu Recht gesagt - auf klarere rechtliche
Grundlagen gestellt wird. Wir plädieren für ein Streitkräfteeinsatzgesetz. Bei der Beratung darüber werden
wir uns wiedersehen. Wir haben nämlich Konsequenzen
aus dem gezogen, was wir gelernt haben, und werden
das Parlament in dieser Legislaturperiode weiterhin damit beschäftigen. Ich hoffe, dass wir dabei zu besseren
gemeinsamen Ergebnissen kommen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die
Unionsfraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ein Untersuchungsausschuss ist ein Hilfsinstrument für das Parlament zur Sachaufklärung eines skandalisierten Sachverhalts. Er ist aber auch politisches Kampfmittel. Wir
stellen fest, dass Untersuchungsausschüsse in letzter Zeit
immer mehr zu einem politischen Kampfmittel und immer weniger zu einem Aufklärungsinstrument geworden
sind. Wenn Sie es mir nicht glauben, kann die SPD das
im Buch von Wiefelspütz auf Seite 30 nachlesen. Den
Linken empfehle ich Badura in der Festschrift für Helmrich, Seite 191.
({0})
Im Rahmen einer politischen Kampfstimmung ist es
normal, dass man sich einmal im Ton vergreift, dass man
mit Unterstellungen und subtilen Behauptungen, die sich
nicht bewahrheiten lassen, argumentiert und dass man
aus diesen Unterstellungen Schlussfolgerungen zieht,
die ebenfalls nicht stimmen.
Kollege Kauder, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Keul?
Nein, sie kann eine Kurzintervention machen. Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür,
dass man im politischen Meinungskampf mit Unterstellungen arbeitet. Jedoch habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass man glaubt, die Generalbundesanwältin attackieren zu müssen,
({0})
Siegfried Kauder ({1})
mit den ungehörigsten Argumentationen, die ich jemals
erlebt habe. Die Linken haben der Bundesregierung unterstellt, sie habe gewissermaßen Einfluss auf die Generalstaatsanwaltschaft genommen, damit diese das Verfahren einstelle.
({2})
Da hört es auf. Eine objektive Behörde muss sich nicht
gefallen lassen, dass behauptet wird, sie sei von einer
Bundesregierung determiniert. Das stimmt nicht. Sie
können es nicht beweisen, und deshalb dürfen Sie es
auch nicht behaupten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es gehört sich auch nicht, der Generalbundesanwaltschaft zu
unterstellen, sie habe oberflächlich gearbeitet und keinerlei militärpolitische Kenntnisse.
({4})
Deshalb rate ich jedem, bei den Aufgaben eines Untersuchungsausschusses zu bleiben.
Wir haben in diesem Untersuchungsausschuss durchaus etwas gelernt. Ein hohes Gericht hat Ihren Plan eines
Showdowns durchkreuzt. Eine Gegenüberstellung von
Guttenberg, Schneiderhan und Wichert, wie Sie sie wollten, ist von uns abgelehnt worden. Das Gericht hat uns
recht darin gegeben, dass es sich nicht um ein Minderheitenrecht handelt, sondern dass die Mehrheit das ablehnen kann. Wir wollen keinen Showdown in Untersuchungsausschüssen.
Ich empfehle, dass die Opposition in sich geht und darüber nachdenkt, ob es nicht besser ist, aus einem Untersuchungsausschuss wieder das zu machen, was eigentlich vorgesehen war, nämlich ein Instrument der
Sachaufklärung.
({5})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dieser Untersuchungsausschuss hat wieder einmal bestätigt: Wir müssen das parlamentarische Untersuchungsausschussrecht
reformieren. Es gibt da zu viel Leerlauf, und es wird zu
viel unnütz gemacht.
({6})
Man kann da einiges verbessern. Ich habe einen Gesetzentwurf in der Tasche; jeder kann daran mitarbeiten.
({7})
Es ist nämlich eine Aufgabe des Parlaments, sich funktionierende Regeln zu geben. Es darf nicht sein, dass
Zeugen vernommen werden und am Ende in deren Aussagen etwas hineininterpretiert wird, was diese nicht hergeben.
({8})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer liest
denn diese über 300 Seiten Abschlussbericht?
({9})
- 580 Seiten, sagt der Kollege. Vielleicht kommen wir
einmal dazu, das präziser und knapper zu formulieren,
einen Bericht hinzubekommen und Sondervoten abzugeben, die Hand und Fuß haben.
Nehmen Sie sich ein Beispiel am Bündnis 90/Die
Grünen. Ein Kompliment: Sie haben ein Sondervotum
abgegeben, das zwar nicht unsere Meinung widerspiegelt, aber sauber aufgebaut ist, im Ton moderat ist und
einen Sprachgebrauch pflegt, wie wir ihn im Parlament
und im Plenum gewohnt sind: nicht unter der Gürtellinie. Daraus können die anderen Fraktionen nur lernen.
Kollege Kauder, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hänsel?
Bitte schön.
({0})
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Kauder, Sie
haben sich gefragt: Wer liest eigentlich diesen Untersuchungsbericht? Sind Sie sich eigentlich dessen bewusst,
dass die Menschen in Afghanistan sehr genau schauen,
was hier passiert, wer Verantwortung übernimmt und
wie mit der ganzen Situation umgegangen wird? Wissen
Sie eigentlich, dass immer mehr Menschen in Afghanistan auf die Straße gehen, um sich gegen genau solche
Bombardierungen zu wehren, weil sie feststellen, dass
nichts passiert und es nicht einmal einen Aufschrei gibt?
Es ist nicht egal, was in diesem Untersuchungsbericht
steht. Immer mehr Menschen in Afghanistan wenden
sich gegen ein solches Vorgehen.
Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass
heute hier oben auf der Besuchertribüne ein junger Afghane sitzt, der solche Demonstrationen organisiert und
sagt: „Wir wehren uns gegen diese Bombardierungen“,
der mitbekommt, worüber wir hier diskutieren. Es ist
nicht egal, was in einem solchen Bericht steht; es wird
sehr genau auf jedes Wort geachtet, auch auf Ihre Worte
und darauf, ob es hier ein Stück weit Empathie gibt oder
Sie nur sachlich-technisch über diesen Untersuchungsausschuss reden. Ich bin froh, dass sich junge Afghanen
dagegen wehren, und möchte Said Mahmood Paiz herzlich willkommen heißen. Herzlichen Dank, dass du da
bist.
({0})
Liebe Kollegin, Sie vermitteln diesen jungen Menschen damit allerdings, auch in Deutschland gäbe es
keine rechtsstaatlichen Prinzipien. Denn Sie, die Linken,
waren es, die der Generalbundesanwaltschaft vorgeworfen haben, sie habe in einem äußerst bedenklichen, wenn
nicht sogar rechtsstaatswidrigen Vorgang das Verfahren
gegen Oberst Klein eingestellt. Sie dürfen den jungen
Menschen in Afghanistan nicht vermitteln, dass die Generalbundesanwaltschaft „bedenklich“ und „rechtsstaatswidrig“ vorgeht - das tut sie nicht -; denn diese
jungen Menschen wissen, was es heißt, nicht rechtsstaatlich behandelt zu werden.
({0})
Sie sehen also, dass es durchaus seinen Sinn hat, auch
über Prinzipien zu diskutieren. Vielleicht lernen Sie
noch etwas daraus. Ich würde es mir und uns allen wünschen.
({1})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Keul das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Kauder, wir haben heute mehrfach in der Debatte gehört,
dass alle ein Interesse an Sachaufklärung hatten, an einer
öffentlichen Aufklärung, wie sie uns die Kanzlerin versprochen hatte. Es sah beim Untersuchungsausschuss zu
Beginn auch so aus, als seien wir da auf einem guten
Wege. So hatten wir einen Kompromiss mit den Koalitionsfraktionen im Hinblick auf Geheimhaltungsbedürftigkeit und öffentliche Aufklärung gefunden; wir hatten
einen Kompromiss gefunden, welche Zeugen öffentlich
und welche nicht öffentlich vernommen werden sollten.
Das war eine vernünftige Grundlage; sie bestand etwa
zwei bis drei Monate.
Ich möchte Sie heute fragen: Warum war es gerade
Ihnen, die Sie nach zwei bis drei Monaten erschienen, so
besonders wichtig, dafür zu sorgen, dass dieser Ausschuss nie wieder öffentlich tagte und sämtliche Vernehmungen von Zeugen, egal ob schutzbedürftig oder nicht,
nur noch im Geheimen stattfanden?
Sie haben das Wort, Kollege Kauder.
Frau Kollegin, schlicht und ergreifend deshalb, weil
ich in das Grundgesetz geschaut habe. Schon der Verteidigungsausschuss tagt nicht öffentlich, aus gutem
Grund: weil es da um militärische Informationen geht,
die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sein sollen. Liebe
Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn im Grundgesetz
steht, dass schon der Verteidigungsausschuss bei solchen
Sachverhalten nicht öffentlich tagt, warum soll dann ein
Untersuchungsausschuss, bei dem es ans Eingemachte
geht, auf einmal öffentlich tagen können?
Vielleicht hätten Sie besser ein anderes Thema angesprochen: das ständige Durchstechen von geheimen Informationen an die Öffentlichkeit.
({0})
Mit der Frage des Geheimnisverrates hat sich hier niemand befasst. Ich habe mir Mühe gegeben, eine Alternative anzubieten, aber Sie ignorieren sie völlig. Ich kann
Ihnen sagen: Es kann nicht sein, dass geheimhaltungsbedürftige Informationen ständig nach außen dringen.
Ich habe mich vor zwei Tagen beim Bundesverfassungsgericht dafür rechtfertigen müssen, dass es der
Deutsche Bundestag nicht schafft, in Ausschüssen die
Geheimhaltung zu wahren. In Bezug auf das Stabilitätsgesetz haben wir uns für ein Neuner-Gremium entschieden, weil wir zu dem Ergebnis gekommen waren, dass
41 nicht dichthalten können. Darüber müssen wir einmal
nachdenken.
({1})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich nach den durchaus interessanten Rechthabereien des Kollegen Kauder einige Bemerkungen
zum Untersuchungsausschuss als solchem machen.
Es gab in der Öffentlichkeit und auch in der Bundeswehr gelegentlich die Meinung, man brauche diese parlamentarische Untersuchung nicht, sie sei Zeitverschwendung, da werde viel Lärm um nichts gemacht, und am
Ende komme nichts heraus. Ich stelle fest: Das Gegenteil
ist richtig. Nach gut anderthalb Jahren Arbeit kann niemand bestreiten, dass dieser Ausschuss notwendig war
und dass der vorliegende Bericht die erste offizielle deutsche Darstellung der Ereignisse vom 3. und 4. September
2009 und der exekutiven Entscheidungen danach enthält.
({0})
So etwas gab es nicht von der Bundesregierung, obwohl
die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung „lückenlose Aufklärung“ angekündigt hatte. Nichts hat sie
vorgelegt. Dafür brauchten wir diesen Ausschuss, dafür
gibt es jetzt diesen Bericht.
Der Anlass war wichtig genug: die folgenschwerste
militärische Operation in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit über 100 Toten, mit Kritik von
vielen NATO-Partnern, mit einer eigenen hochnotpeinlichen NATO-Untersuchung, mit einem zur Ruhe gesetzten Generalinspekteur, einem entlassenen Staatssekretär
und zwei verloren gegangenen Bundesministern. Das
war nicht nichts.
({1})
Es war unsere parlamentarische Schuldigkeit, uns hier
an die Arbeit zu machen.
Solche Untersuchungsausschüsse sind aufwendig und
deshalb selten. Aber allein die Möglichkeit, dass es einen Untersuchungsausschuss geben kann, hat eine Wirkung auf die Exekutive. Nicht nur die tatsächliche ständige parlamentarische Kontrolle, sondern die jederzeitige Möglichkeit dieser Kontrolle durch einen besonderen Ausschuss sollte als regulative Idee nicht unterschätzt werden. Gerade wenn wir immer von der Bundeswehr als Parlamentsarmee sprechen, sollten wir uns
nicht vor der zusätzlichen Arbeit scheuen, und wir haben
das auch nicht getan.
Der nun vorliegende dicke Bericht enthält tatsächlich
eine gemeinsame Bewertung: Der Luftschlag von Kunduz war ein schwerer Fehler; es hätte nicht dazu kommen dürfen. - Ich gebe zu, dass ich im Begründungsteil
die Argumentation meiner Fraktion, der SPD, etwas
schlüssiger finde als die Logik der Koalitionsmehrheit
von CDU/CSU und FDP.
({2})
Die lautet etwa so: Der Bombenabwurf war falsch; aber
alles, was dazu geführt hat, war richtig. Das klingt etwas
paradox.
({3})
Aber ich will hier gar nicht unterschlagen, dass es gute
Gründe dafür gibt, sich nicht immer ganz so sicher zu
sein.
Oberst Klein hat als Zeuge auf die Schwierigkeit hingewiesen, militärische Entscheidungen auf der Grundlage eines niemals vollständigen Lagebildes treffen zu
müssen. Er hat vor dem Ausschuss ausgesagt und hinterher noch einmal zu den Fraktionsvoten Stellung genommen. Damit hat er in jeder Weise die Aufklärungsarbeit
unterstützt. Ich will das betonen, weil es wichtig ist für
das Vertrauensverhältnis zwischen Armee und Parlament
nicht nur im Alltag, sondern auch, wenn tragische Ereignisse aufzuarbeiten sind.
({4})
Am Ende seiner Stellungnahme schreibt Oberst Klein:
… vor dem Hintergrund der heutigen Kenntnisse
muss ich die Folgen meiner Entscheidung als verhängnisvoll bezeichnen.
So ist es, und soweit besteht gewissermaßen Übereinstimmung zwischen Militär und Politik.
Zum Schluss noch ein Wort zum zurückgetretenen
Verteidigungsminister, der gerade jetzt wieder in die
deutsche Öffentlichkeit drängt. Er hatte sich ja ursprünglich dazu verstiegen, zu sagen, es habe so oder so zu dem
Luftschlag kommen müssen. Im Ausschuss hat er zu
Protokoll gegeben, er habe vorher selbst den geheimen
NATO-Untersuchungsbericht durchgearbeitet. - Das
geht nicht zusammen. Die NATO kommt zu dem Ergebnis, dass der Bombenbefehl nicht mit der Weisungslage
und auch nicht mit der neuen Strategie der NATO in Afghanistan vereinbar gewesen ist. Hätte man aus dem
COMISAF-Bericht zitieren dürfen, wäre das Gerede des
Ministers schnell ad absurdum geführt worden. Aber:
geheim!
Auch andere hüten heute noch Guttenberg-Geheimnisse, auch manche Medien. Ich zitiere aus dem handschriftlichen Brief des entlassenen Staatssekretärs
Wichert an seinen Minister vom 30. November 2009
- Zitat -:
Im heutigen Spiegel und in anderen Presseorganen
werden über General Schneiderhan und mich Lügen verbreitet. Besonders ärgerlich ist, dass dies unter Berufung auf Ihr „Umfeld“ geschieht.
({5})
Darauf antwortet Guttenberg am 2. Dezember 2009,
ebenfalls handschriftlich - Zitat -:
({6})
Sehr geehrter, lieber Herr Dr. Wichert, offenbar gibt
es interessierte Kreise, die mit Setzen von vermeintlichen Zitaten und gezielten Unwahrheiten
Unfrieden, ja Zwietracht säen wollen.
Am 18. Dezember 2009 schreibt er noch einmal an
Wichert - Zitat -:
Mein bisheriges Verständnis war, dass über den Inhalt unseres persönlichen Gesprächs am 25. November 2009 keine Information der Öffentlichkeit
erfolgt.
Im Ausschuss hat der Zeuge Guttenberg in der ihm eigenen Art die Frage offengelassen, wer den Spiegel über
den Verlauf des vertraulichen Gesprächs in seinem Büro
informiert hat. Der Spiegel selbst weiß das natürlich, hat
es aber damals nicht geschrieben.
Dafür finden wir diese Woche dort einen schönen
Satz. Er ist so schön, dass ich damit schließen will:
Im Buch sagt er …
- Guttenberg sein Verhalten in der Kunduz-Affäre sei von „absoluter Wahrhaftigkeit“ geprägt gewesen, im Berliner
Regierungsviertel gibt es wahrscheinlich keine fünf
Leute, die das genauso sehen.
Von diesen fünf - das füge ich hinzu - arbeitet keiner
mehr im Spiegel-Büro. So gibt es überall Fortschritt.
Vielen Dank.
({7})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Florian Hahn für die Unionsfraktion das Wort.
Vizepräsidentin Petra Pau
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Untersuchungsausschuss sollte die Umstände
des Luftschlages vom 3. und 4. September 2009 auf zwei
Tanklastwagen aufklären, bei dem es zum tragischen
Tod vieler Zivilisten kam, was wir immer bedauert haben. Das zu bezweifeln, ist, finde ich, unanständig.
Ebenso ging es darum, die diesbezügliche Aufklärungsund Informationspraxis der Bundesregierung und die
Vereinbarkeit der gewählten Vorgehensweise mit nationalen und multinationalen politischen, rechtlichen und
militärischen Vorgaben für den Einsatz zu untersuchen.
Diese Aufklärung haben wir durch intensive Beweisaufnahme, durch Zeugeneinvernahme und detaillierte
Informationskenntnisse erreicht. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass Oberst Klein auf Basis der damals
vorliegenden Faktenlage nachvollziehbar gehandelt hat.
Seine Entscheidung diente dem Schutz der ihm anvertrauten Soldatinnen und Soldaten. Daran habe ich, vor
allem mit Blick auf die Sicherheitssituation damals und
mit Blick auf seinen Auftritt im Ausschuss, keinen
Zweifel. Keinen Zweifel habe ich zudem, dass es unter
anderem nie zu diesem Luftschlag gekommen wäre,
wäre erkennbar gewesen, dass so viele Zivilisten bei den
Lastzügen gewesen sind. Oberst Klein hat sogar zu jedem Zeitpunkt versucht, zivile Opfer zu vermeiden. Darin liegt die besondere Tragik in diesem Fall. Die verschiedenen Verfahrensfehler und Verletzungen von
Einsatzrichtlinien sind heute bekannt. Deshalb muss aus
heutiger Sicht der Einsatz als nicht angemessen bezeichnet werden. Er hätte nicht durchgeführt werden dürfen.
Es bleibt zudem festzustellen, dass sich die Bundesregierung korrekt verhalten und sich unverzüglich um die
Aufklärung der Lage vor Ort gekümmert hat.
({0})
Darüber hinaus haben die Kanzlerin, der Minister sowie
die Bundesregierung von Anfang an ihr Bedauern und
ihren Respekt gegenüber den unschuldigen Opfern zum
Ausdruck gebracht. So weit zu den Fakten.
Auch ich darf an dieser Stelle ein Dankeschön sagen
an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusssekretariats und des Ministeriums für die Vor- und Aufbereitung der Sitzungen und der Sitzungsunterlagen.
({1})
Sie haben noch ein Stück mehr gearbeitet als wir. Ein
herzliches Dankeschön!
({2})
Abgesehen von der Faktenlage gibt es immer auch
eine persönliche Bewertung eines solchen Untersuchungsausschusses. Hierbei kann ich meinen Ärger darüber nicht ganz verhehlen, dass wir uns in diesen
bewegten Zeiten, in denen unsere Soldatinnen und Soldaten großen Gefahren ausgesetzt sind und sich die Bundeswehr in der größten Reform ihrer Geschichte befindet, über fast zwei Jahre in 79 Sitzungen durch knapp
350 Aktenordner zum Teil regelrecht gequält haben,
({3})
und das oftmals nur, weil die Opposition es nicht lassen
konnte, auch unter den kleinsten Stein mindestens fünfmal zu schauen, um zum Teil abstruse und abenteuerliche Theorien zu verfolgen. Wir hätten uns viele Sitzungen sparen können; denn das Ergebnis, das jetzt vorliegt,
war schon lange absehbar. Das geringe Medieninteresse
in den letzten Monaten ist ein Beleg dafür.
Ich sage ganz klar: Als Demokrat und Parlamentarier
habe ich vollstes Verständnis für die Notwendigkeit von
Untersuchungsausschüssen. Ich halte sie für ein wichtiges Minderheitenrecht und für unverzichtbar. Aber
dieses politische Instrument droht dann Schaden zu nehmen, wenn der Untersuchungsgegenstand in den Hintergrund und parteipolitisches Taktieren den Maßstab bildet.
({4})
Wir müssen uns auch fragen, ob es nicht beschämend
war, wenn wir bei Zeugenbefragungen junge Soldaten
manchmal stundenlang nicht nur befragt, sondern regelrecht ins Kreuzverhör genommen haben. Dieses Verhalten, das wir Parlamentarier dabei gezeigt haben, ist
wahrlich keine Auszeichnung. Ich hoffe, dass dies das
Bild, das die Soldaten von ihrem Parlament haben, nicht
nachhaltig prägen wird.
Beschämend fand ich auch den öffentlichen Umgang
mit der Person Oberst Klein. Ich hoffe, dass es nicht
Usus in unserem Land wird, dass wir militärische Führer
auf diese Art und Weise an einen Pranger stellen und
vorverurteilen. Ich hoffe, dass sich jetzige und künftige
militärische Entscheidungsträger davon nicht abschrecken lassen und ihre Entscheidungen weiterhin so treffen, wie es die Situation erfordert.
({5})
Erschreckend war meines Erachtens auch, im Zuge
des gesamten Verfahrens erleben zu müssen, was manche Kolleginnen und Kollegen unter Geheimhaltung verstehen. Nicht selten war die Sitzung noch in vollem
Gange, da konnte man schon über die Ticker Details der
Befragungen lesen.
({6})
Dies ist nicht nur unredlich und geschmacklos, sondern
kann auch Zeugen gefährden. Ein verantwortungsvoller
Umgang mit dem Instrument Untersuchungsausschuss
sieht wahrlich anders aus.
({7})
Kollege Hahn, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Keul?
Das kann die Kollegin Keul am Schluss meiner Rede
gerne machen.
Fernab von den warmen Sitzungszimmern hier in
Berlin befinden sich unsere Soldatinnen und Soldaten in
einem Einsatz, der sie oftmals an die Grenzen ihrer
Kräfte bringt und in dem sie großen Gefahren ausgesetzt
sind. Vielleicht werden dort Entscheidungen unter anderen Voraussetzungen als im sicheren Büro getroffen. Ich
will nichts verteidigen und nichts beschönigen; aber unsere Truppen haben ein Anrecht darauf, dass wir hinter
ihnen stehen, dass wir Verständnis für ihre Anliegen und
ihre Sorgen zeigen und dass wir uns in ihre Lage versetzen.
({0})
Dass wir uns stärker in ihre Lage versetzen können,
das haben der tragische Vorfall in Kunduz und die Diskussion darüber bewirkt. Deutschland musste plötzlich
der Realität ins Auge sehen und erkennen, dass es sich
hier um einen Einsatz handelt, in dem es tagtäglich zu
Kampfhandlungen kommt. Karl-Theodor zu Guttenberg
konnte daraufhin die Neubewertung des Einsatzes vornehmen. Seither sprechen wir unter anderem von einem
kriegsähnlichen Zustand. Es ist wichtig, dass wir das
Kind nun beim Namen nennen. Auch das gehört zu einer
verantwortungsvollen Politik gegenüber den Soldatinnen
und Soldaten, aber auch gegenüber der Gesellschaft.
Im Bewusstsein dessen, dass nicht jeder das bevorstehende Weihnachtsfest im Kreise seiner Familie feiern
kann, dass viele Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
sind, wünsche ich ihnen und ihren Familien an dieser
Stelle alles Gute und Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Entschuldigung, ich habe die Kurzintervention der
Kollegin Keul vergessen. Die Aussprache ist geschlossen; aber bevor wir zur Abstimmung kommen, hat zu einer Kurzintervention die Kollegin Keul das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Hahn,
Sie haben eben die Indiskretion bzw. die Weiterleitung
von Informationen an die Presse angesprochen. Haben
Sie irgendeinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Indiskretion aus dem Kreis der Kollegen - Sie haben uns als
Kolleginnen und Kollegen angesprochen - gekommen
ist? Die Staatsanwaltschaft hat das Strafverfahren wegen
Geheimnisbruch immerhin mit der Begründung eingestellt, dass im Verteidigungsministerium und darum herum so viele Menschen Zugang zu diesen Akten haben,
dass es aus Sicht der Staatsanwaltschaft schlicht nicht
möglich war, herauszufinden, wo das Leck ist. Haben
Sie einen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass diese Indiskretion aus dem Kreise der Parlamentarier gekommen
ist?
({0})
Der Kollege Hahn hat das Wort.
Liebe Frau Kollegin Keul, vielleicht ist es naiv, aber
die Tatsache, dass wir Meldungen zeitgleich oder - sagen wir einmal - mit einer Verzögerung von fünf
Minuten in den Untersuchungsausschuss während einer
geheimen Sitzung zum Teil mit Zitaten von Befragten
hereingereicht bekommen haben, ist für mich Beweis
genug, dass es eine solche Indiskretion von den Kolleginnen und Kollegen - entweder den Parlamentariern
oder denen, die mit in diesem Raum saßen - gegeben haben muss. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses als
1. Untersuchungsausschuss. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7400,
den Bericht des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Doris Barnett, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel,
Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die OSZE ausbauen und stärken
- Drucksache 17/7824 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass wir endlich einmal über die
OSZE diskutieren; denn ich hatte ein bisschen das Gefühl, sie ist in Vergessenheit geraten. Dabei haben uns
viele Ereignisse in der letzten Zeit gezeigt, dass es drinUta Zapf
gend erforderlich ist, die OSZE wieder zu stärken und zu
befördern.
Die Geschichte der OSZE bzw. des Vorläufers KSZE
bis hin zur Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975 und
darüber hinaus ist die Geschichte von Bemühungen, den
Kalten Krieg zu überwinden. Auf Helsinki folgten fünf
weitere Gipfel, die die KSZE und später die OSZE weiterentwickelten. Aber, liebe Freunde, seit 1999, nach
dem Gipfel von Istanbul, stagnierte die Weiterentwicklung der OSZE. Vor mehr als einem Jahr, als wir uns intensiv mit den Vorbereitungen zu dem Gipfel von Astana
beschäftigt haben, hatten wir einen gewissen Optimismus bezüglich der Weiterentwicklung. Es gab Hoffnungen auf einen erneuerten Prozess, der die OSZE stärken
und beleben könnte, indem ein Aktionsplan verabschiedet würde, der in der Tat sehr ambitioniert war.
Die Gipfelerklärung von Astana erschien uns als
Lichtblick, bestätigte sie doch die Grundsätze der OSZE
in allen Dimensionen. Die Schlussakte von Helsinki, die
Charta von Paris und die Charta für europäische Sicherheit und damit die Grundprinzipien der drei Dimensionen der OSZE wurden bekräftigt. Einige von uns hatten
das in der Klarheit sicherlich gar nicht erwartet.
Die politisch-militärische Dimension sollte zu einer Sicherheitsgemeinschaft gefestigt werden. Vertrauensbildung, Transparenz, Abrüstung und die im sogenannten
Korfu-Prozess diskutierten Vorschläge des russischen
Präsidenten Medwedew sollten zu einem europäischen
Sicherheitsvertrag fortentwickelt werden. Aus dem
Kreis der Mitgliedstaaten kam im Vorfeld eine wirklich
beeindruckende Fülle von Vorschlägen, um diesen Aktionsplan, auf den ich angespielt habe, zustande zu bringen. Dies ließ in der Tat einen positiven Schub zur Stabilisierung, zur Stärkung und zum Ausbau der OSZE
erwarten. Allerdings ist es anders gekommen. Der Aktionsplan wurde nicht beschlossen. Damit war der Gipfel
von Astana für mich ein ziemlicher Reinfall. Der bevorstehende Ministerrat im Dezember dieses Jahres sollte
die Implementierung dieses Aktionsplans überprüfen.
Bisher sieht es aber nicht so aus, als würde dies geschehen. Es sieht auch nicht so aus, als würde dort viel weiterentwickelt.
Heute, kurz vor dem Ministertreffen der OSZE in Vilnius, wollen wir mit dem Antrag, den wir eingebracht
haben, an die damalige Hoffnung anschließen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für die Umsetzung
des in Astana vorgelegten Aktionsplans einzusetzen. Es
geht tatsächlich um nichts Geringeres als um eine neue
Sicherheitsarchitektur für Europa. Zweifelsohne hat die
sicherheitspolitische Dimension bis 1999 die größten Erfolge für Stabilität und Sicherheit bewirkt. Vertrauensbildende Maßnahmen, Manöverbeobachtungen und
schließlich die konventionelle Rüstungskontrolle führten
in Europa zu einer Stabilität und Sicherheit, die den Kalten Krieg überwunden hatte. Der KSE-Vertrag von 1990
führte zu substanziellen Abrüstungsschritten. Die Verifikationsmaßnahmen waren ein großer Beitrag zur Vertrauensbildung. In Istanbul wurde 1999 der neue, angepasste KSE-Vertrag, der sogenannte AKSE-Vertrag,
beschlossen. Diesen haben allerdings nur Russland,
Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine ratifiziert,
aber kein einziger NATO-Staat.
Es geht in Vilnius nicht nur um die Einigung über die
Verstärkung der Krisenprävention. Es geht nicht nur um
Frühwarnung, frühes Handeln und Mediation oder um
Strategien der OSZE nach Konflikten. Nein, es geht
mittlerweile auch darum, zwischen den Ländern der
NATO und Russland und den Postsowjetstaaten wieder
grundsätzlich Vertrauen zu schaffen, Vertrauen, dass
man den schwer erarbeiteten Grundsatz der gemeinsamen Sicherheit wiederherstellen will.
Was brauchen wir dazu? Der KSE- und der AKSEVertrag sind tot. Im Übrigen scheint auch der OpenSkies-Vertrag bedroht zu sein. Russland hat im Hinblick
auf den KSE-Vertrag schon 2007 den Informationsaustausch eingestellt, und zwar aus Frust über die Nichtratifizierung des AKSE-Vertrages von 1999, über die Erweiterung und Nichteinbeziehung der baltischen Staaten
in den Vertrag im Zusammenhang mit der Erweiterung
der NATO, über die Pläne, neue NATO-Stützpunkte in
Bulgarien und Rumänien einzurichten, und - sicher auch
ein gewichtiges Motiv - wegen der geplanten US-Raketenabwehr. Jetzt, Mitte November dieses Jahres, haben
auch die NATO-Staaten die Implementierung des KSEVertrages gegenüber Russland ausgesetzt. Willkommen
zurück im Kalten Krieg? Das hoffe ich nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber es ist sicher überaus dringend, das Vertrauen wiederzugewinnen.
Im Entwurf zum Aktionsplan steht an erster Stelle die
Absicht, eine euroatlantische und eurasische Sicherheitsgemeinschaft zu etablieren. Größere militärische Stabilität, Transparenz und Verlässlichkeit, Stärkung des Vertrauens und der Sicherheit werden eingefordert. Wir
fragen die Bundesregierung: Was tun Sie, um den sogenannten Korfu-Prozess wiederzubeleben? Was tun Sie,
um neue Lösungen bei der konventionellen Rüstungskontrolle zu beschleunigen?
Es genügt nicht, damit zufrieden zu sein, dass durch
den KSE-Vertrag von 1990 die Obergrenzen für die Anzahl offensiver Waffensysteme auf ein niedriges Niveau
gesenkt wurden und bis heute auf einem noch niedrigeren Niveau geblieben sind. Es genügt auch nicht, dass
sich Westeuropa nicht bedroht fühlt. Es geht darum,
allen Teilnehmerstaaten gleiche Sicherheit zu bieten.
Wir müssen verhindern, dass die Standards der konventionellen Rüstungskontrolle absinken. Heute sind
diese Standards zum Beispiel durch die ungelösten Konflikte im OSZE-Raum in Gefahr, wenn etwa Aserbaidschan und Armenien diese zulässigen Obergrenzen
wegen des Bergkarabach-Konflikts überschreiten und
aufrüsten. Wir verpassen eine große Chance, wenn wir
die Gelegenheit versäumen, das Wiener Dokument über
vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu
modernisieren, insbesondere durch die Einbeziehung
neuer Kategorien wie Trägermittel - zum Beispiel Drohnen -, Rapid Reaction Forces - schnell verlegbare Truppen - und Marinestreitkräfte.
Nach dem OSZE-Gipfel in Astana wurde dies alles
eifrig diskutiert. Heute ist nicht viel davon übrig. Lassen
Sie uns also nicht die Chance eines intensiven Dialogs
mit Russland verspielen. Dieser Dialog darf natürlich
nicht nur in der OSZE, sondern er muss auch woanders
stattfinden, zum Beispiel im NATO-Russland-Rat. Wir
müssen über Militärdoktrinen und Verteidigungsplanungen sowie über die Frage reden, wie wir gemeinsame
Sicherheit wiederherstellen. Die Erkenntnis, dass Sicherheit nicht gegeneinander, sondern nur miteinander gewonnen werden kann, muss wieder Platz greifen.
Sicherheit kann nicht militärisch gesichert werden.
Alle drei Dimensionen der OSZE gehören dazu. Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, dass die schönen Vorgaben des Astana-Aktionsplanes doch noch umgesetzt
werden können.
Danke sehr.
({0})
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die OSZE ist immer noch auf der Suche nach
ihrer Rolle. Sie ist eines der wichtigsten Foren für
Sicherheit und Zusammenarbeit und umfasst ganz
Europa. Ihre Reichweite erstreckt sich auf immerhin
56 Staaten und geht von Vancouver bis nach Wladiwostok.
Nach der Auflösung der Blockbildung in Ost und
West, die auch ein Ergebnis der Arbeit der OSZE war,
hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa mit den sogenannten drei Dimensionen - der
politisch-militärischen Dimension, der wirtschaftlichökologischen Dimension und der menschlichen Dimension - ihre Aufgaben erweitert. Die Diskussion über die
Modernisierung der OSZE ist also in Gang gekommen.
Das Problem besteht ein bisschen darin, dass sie noch
immer in Gang ist.
Die OSZE hat 17 Feldoperationen und sich dadurch
insbesondere bei der Konfliktprävention, beim Krisenmanagement, bei der Überwachung von Menschen- und
Minderheitenrechten, von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit und bei der Wahlbeobachtung Verdienste
erworben. Deshalb wird sie auch weiter gebraucht.
Bei dem Gipfel in Astana auf der Ebene der Staatsund Regierungschefs im letzten Jahr wurden die Grundlagen der OSZE nochmals bekräftigt. Darüber hinaus
wurde der Begriff „Sicherheitsgemeinschaft“ eingeführt
und versucht, Antworten auf neue Herausforderungen
und Gefahren, wie den internationalen Terrorismus oder
die Cybersicherheit, zu geben. Dieses Fernziel der
Sicherheitsgemeinschaft müssen wir jetzt durch konkrete Schritte angehen.
Ich sehe in diesem Zusammenhang vor allem Bedarf
an einer stärkeren Koordinierung der OSZE mit den
wichtigsten anderen internationalen Organisationen, die
Sicherheit im euro-atlantischen und im eurasischen
Raum gewährleisten, also mit EU, NATO und Europarat.
Wir müssen neben dieser Koordinierung allerdings
darauf achten, dass wir uns keine Duplizierung von
Strukturen leisten. Die Sicherheitsorganisationen müssen komplementär arbeiten. Dabei muss der Grundsatz
gelten: Die Stärkung der OSZE darf bei aller Wertschätzung ihrer Arbeit nicht zur Schwächung der NATO führen. Die NATO bleibt für Deutschland der zentrale
Sicherheitsanker und das Bindeglied der transatlantischen Bündnispartner.
({0})
Die NATO will die Zusammenarbeit mit der OSZE in
drei Bereichen stärken. Es geht darum, den Ansatz vernetzter Sicherheit zu etablieren, neue sicherheitspolitische Herausforderungen anzunehmen - internationaler
Terrorismus, Cybercrime, Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder Energiesicherheit -, und es geht
darum, Erfahrungen im Bereich der Konfliktprävention
und des Krisenmanagements auszutauschen. Der NATOGeneralsekretär hat dazu praktische Vorschläge zur Zusammenarbeit gemacht. Diese Ansätze sollten weiter
verfolgt werden.
Mit Blick auf die besondere Rolle der NATO für die
deutsche Außen- und Sicherheitspolitik kann allerdings
die OSZE nicht der richtige Ort sein, um über Militärdoktrinen oder Verteidigungsplanung zu diskutieren.
Das muss militärischen Bündnispartnern vorbehalten
bleiben. Wir werden eine bessere Zusammenarbeit der
verschiedenen Sicherheitsorganisationen nur dann erreichen, wenn wir die Kernkompetenzen jeder Organisation
stärken. Das ist der Weg, um Synergieeffekte zu erzielen.
Die Europäische Union ist auf das Engste mit der
OSZE verbunden. Die Mitgliedstaaten der EU stellen die
Hälfte der OSZE-Mitglieder. Sie leisten zwei Drittel der
OSZE-Beitragszahlungen. Es besteht eine enge Zusammenarbeit bei Konfliktprävention und in vielen anderen
Bereichen. Einige Programme der OSZE werden gemeinsam von OSZE und EU finanziert, beispielsweise in
der Wahlbeobachtung. Die Europäische Union ist in vielen Bereichen, etwa beim sicherheitspolitischen Dialog,
innerhalb der OSZE engagiert.
Frau Kollegin, Sie haben angesprochen, dass die
Europäische Union in Astana die Verabschiedung eines
Aktionsplans angestrebt hat. Das ist am Dissens über
Regionalkonflikte gescheitert. Dennoch kann dieser EUAktionsplan Grundlage für die Weiterentwicklung zu
dem Fernziel einer Sicherheitsgemeinschaft sein.
Meine Empfehlung für die Zusammenarbeit zwischen
OSZE und Europäischer Union ist, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um die diplomatischen Mittel der
Europäischen Union mit denen der OSZE zu bündeln,
insbesondere mit Blick auf diese regionalen Konflikte.
Denn wenn Sicherheit unteilbar ist, dann muss es möglich sein, Konflikte wie in Transnistrien, Georgien oder
Bergkarabach zu lösen, zum Beispiel auch mit einer
OSZE-Präsenz vor Ort.
Vielfältige Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit der OSZE bietet auch der Europarat. Seit 2004
besteht bereits eine gemeinsame Koordinierungsgruppe
für Maßnahmen in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Kampf gegen den Menschenhandel, Schutz nationaler Minderheiten und Förderung von Toleranz und
Nichtdiskriminierung. Es gibt durchaus Potenzial, die
Zusammenarbeit auf weitere Bereiche zu erstrecken. Ich
nenne hier nur Menschenrechtsschutz, Konfliktprävention und -nachsorge, stärkere Abstimmung der Feldmissionen beider Organisationen.
Ich habe versucht, aufzuzeigen, wie man den Auftrag
des letzten OSZE-Gipfels praktisch umsetzen könnte,
eine Sicherheitsgemeinschaft zu bilden. Das kann gelingen, indem man an bestehende euro-atlantische Strukturen anknüpft, indem man die jeweiligen Stärken der betreffenden Organisationen akzentuiert und indem man
gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Handlungsfelder identifiziert. Eine engere Kooperation von OSZE,
EU, NATO und Europarat ist möglich, wenn jede Organisation ihre Kernkompetenzen einbringen kann.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa führt ein Schattendasein. Das hat sie eigentlich
nicht verdient. Wir begrüßen daher den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD; denn er bietet uns die
Möglichkeit, dass wir diese wichtige Organisation heute
thematisieren, auch ganz offen und ehrlich über deren
Probleme reden und Signale zu ihrer Stärkung aussenden. Deshalb wird unsere Fraktion diesem Antrag auch
sehr gern zustimmen.
Ich möchte an die Gründungsidee der KSZE erinnern;
Frau Zapf hat darauf schon hingewiesen. Im Sommer
1973: Bruno Kreisky, Erich Honecker,
({0})
Helmut Schmidt, Gerald Ford - alle sitzen an einem
Tisch und unterschreiben die Schlussakte von Helsinki.
({1})
Damals war der Gedanke, dass man Frieden durch Vertrauensbildung erhalten möchte, auch über Systemgrenzen hinweg. Man hat ferner seinen Willen zur Abrüstung
demonstriert, um Kriegsgefahren zu vermeiden und
Geldverschwendung zu begegnen. Frieden und Sicherheit durch Abrüstung und Vertrauensbildung nicht nur
unter Verbündeten, das ist auch heute noch richtig.
({2})
Ich möchte deshalb auch an die „Charta von Paris für
ein neues Europa“ erinnern. Im November 1990 hatte
man den Versuch unternommen, mit dem Ende des Kalten Krieges die KSZE nunmehr in eine Organisation, die
OSZE, umzuwandeln und das gemeinsame Haus
Europa, wie es damals euphorisch hieß, zu gestalten.
Die politische Linke, also nicht nur unsere Partei,
hatte damals durchaus die Erwartung, dass mit dem
Ende des Warschauer Vertrags auch dessen Pendant, die
NATO, überflüssig wird. Hier ist auch ein Unterschied,
der nicht überraschend ist, zum Kollegen Silberhorn: Ich
glaube das immer noch. Die NATO als Militärbündnis
des Westens, ausgedehnt bis an die Grenzen Russlands,
schafft nicht mehr Sicherheit, im Gegenteil.
({3})
Es kam leider anders. In den 90er-Jahren ist statt einer
Friedensdividende eine neue weltweite Rüstungswelle
gestartet worden, und nach 9/11 ist leider vergessen worden, dass Sicherheit gegenseitige Sicherheit ist und dass
Vertrauensbildung auch vertrauensvolle Angebote
braucht. Dabei ist die OSZE Opfer dieser Entwicklung
geworden. Aktuell - auch darauf hat Frau Zapf Bezug
genommen - muss man schon auf die Entscheidungen
im KSE-Prozess hinweisen, also die kontroverse Debatte
über den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in
Europa.
Wir haben die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage gefragt, was sie da eigentlich tut. Ich finde es nicht
richtig, dass die Bundesregierung Vorreiter bei diesem
Prozess geworden ist, auf den eben hingewiesen wurde.
Dass 14 NATO-Staaten die Aussetzung der KSE-Verpflichtungen gegenüber Russland erklären, würde ich
nicht Kalten Krieg nennen, aber es ist zumindest eine
Trotzreaktion ohne Not zum Schaden der Abrüstung.
Trotzdem macht die OSZE weiter wichtige Arbeit:
Wahlbeobachtungen, Einsatz für Menschenrechte und
Meinungsfreiheit. Sie hat als zentrales Instrument zur
Konfliktverhütung die Langzeitmissionen, die etwas militärisch „Feldmissionen“ genannt werden, bei denen
über 2 000 Menschen im Südkaukasus und in Zentralasien aktiv sind.
All das ist wichtig und gut. Die OSZE sollte sich wieder stärker den großen Fragen widmen. Die MedwedewInitiative zu einem neuen Sicherheitsvertrag für eine
echte, neue europäische Sicherheitsarchitektur, im
Korfu-Prozess aufgenommen, ist dafür ein guter Anlass
und sollte nicht versanden.
Der Astana-Gipfel - ich habe das bei mehreren Gelegenheiten erwähnt und meine Meinung dazu nicht geändert - hat, ehrlich gesagt, außer Nursultan Nasarbajew,
dem Staatschef von Kasachstan, niemandem genützt. Ich
hoffe, dass wir tatsächlich neue Impulse erreichen. Vielleicht leistet der vorliegende Antrag dazu einen kleinen
Beitrag.
Der Ausbau und die Stärkung der OSZE als zentraler
gesamteuropäischer Sicherheitsorganisation mit Potenzial für Frieden und Konfliktprävention von Wladi17450
wostok bis Vancouver ist weiter ein wichtiges und gutes
Ziel. Deshalb stimmen wir Ihrem Antrag zu.
Danke schön.
({4})
Der Kollege Dr. Djir-Sarai hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Hier liegt uns ein Antrag vor, der viele gute
Ideen und Maßnahmen aufzeigt; das möchte ich an dieser Stelle ganz klar betonen.
„Die OSZE ausbauen und stärken“, das ist ein Ziel,
das dem gesamten Deutschen Bundestag am Herzen liegen sollte. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat sich zu einem sehr wichtigen
Forum für die gesamteuropäische Sicherheitszusammenarbeit entwickelt. Viele erfolgreiche Instrumente der
zivilen Krisenprävention sind aus ihr hervorgegangen.
Aber - da machen wir uns nichts vor - das sind häufig
Erfolge der Vergangenheit. Der zweitägige Gipfel in
Astana im vergangenen Jahr war seit elf Jahren wieder
ein erstes großes und wichtiges Treffen. Trotzdem hat
diese Konferenz die Krise der Organisation nicht aufgehalten. Der Gipfel in Astana hat den Sinkflug in die
Bedeutungslosigkeit, wenn überhaupt, nur wenig aufgehalten. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Als die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit vor nunmehr 36 Jahren gegründet wurde, war
Europa eindeutig in Ideologien und Allianzen geordnet.
Heute hat jeder Staat seine eigenen Sicherheitsvorstellungen. Für die OSZE ist diese Entwicklung eine enorme
Herausforderung.
Die Diskussion über neue Sicherheitsstrukturen ist
immens wichtig für das Überleben der Organisation. Sie
ist aber auch eine große Chance, ihre alte Rolle zurückzugewinnen. Die Herausforderungen und Gefahren, die
in heutiger Zeit lauern, brauchen diese Debatte. Sie brauchen einen neuen Sicherheitsdialog in der OSZE. Nur so
kann sich die OSZE wieder zu einem wesentlichen Element gesamteuropäischer Sicherheit entwickeln. Ich
stimme den Antragstellern in dieser Einschätzung vollkommen zu.
Ich bin genau wie die Antragsteller der Meinung, dass
eine stabile Sicherheit nicht ohne die Achtung der Menschenwürde und intakte demokratische Institutionen auskommen kann. Ich bin sehr froh, dass der Gipfel in
Astana wenigstens eines erreicht hat: Alle Staaten haben
sich erneut klar zu den Prinzipien der OSZE bekannt,
und alle haben sich auch explizit zu der eben schon angesprochenen menschlichen Dimension der OSZE bekannt.
Manche sagen, dass bei dem Gipfel viele Gelegenheiten verpasst wurden. Das mag so sein. Wenn wir realistisch sind, dann hat Astana gezeigt, dass immer noch
viele Probleme tiefgründig verwurzelt sind. Russland
wünscht sich Sicherheit, am besten unter eigener Regie,
und verdächtigt die OSZE bis heute, über Menschenrechtspolitik vielschichtige westliche Interessen durchzusetzen.
Wir sehen die Lage zu Recht völlig anders: Bei zählebigen Kleinkonflikten wie in Nagorny Karabach ist ein
viel größeres Maß an Kompromissbereitschaft notwendig. Sicherheit und Stabilität funktionieren nur im Einklang mit Freiheit und Demokratisierung.
Es war zu erwarten, dass sich beim ersten OSZE-Gipfel seit elf Jahren nicht alle Widersprüche direkt auflösen
würden. Neue Gremien, neue Satzungen und neue Ausschüsse werden dabei die Probleme mit Sicherheit nicht
lösen.
Es wird sich jetzt zeigen müssen, ob alle Staaten tatsächlich hinter den Werten stehen, zu denen sie sich bekannt haben. Die OSZE darf nicht die Organisation der
schönen Worte bleiben. Auch in der Realität müssen Demokratie, die Achtung der Menschenrechte und das
friedliche Beilegen von Konflikten ernst genommen
werden. Diese Werte dürfen nicht machtpolitischen Kalkülen untergeordnet werden.
({0})
Zukunft kann für die OSZE nur bedeuten, dass sich
alle Staaten mit Einsatz hinter diese Ziele klemmen.
Dann muss es auch endlich vorangehen mit der Lösung
von Gebietskonflikten, der Abrüstung und den Menschenrechten. Dazu sind Offenheit und ein fairer Dialog
notwendig, der auch aufmerksames Zuhören einschließt.
Die jetzige leichte Dynamik müssen wir in Richtung
konkreter und zukunftsfähiger Schritte lenken. Wir brauchen Impulse für einen spürbaren Sicherheitsfortschritt
in Europa, Impulse, die wir jedoch nicht allein durch Anträge im Parlament bekommen, welche die Bundesregierung zu Handlungen auffordern, die bereits im Gange
sind.
Gerade Deutschland kann und wird seinen Beitrag zu
dieser Diskussion weiter leisten. Gerade Deutschland
wird seinen Beitrag leisten, wenn es um die Stärkung der
OSZE geht. Deutschland wird das politische Ziel der
OSZE als einer Sicherheitsgemeinschaft nachdrücklich
unterstützen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Viola von CramonTaubadel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben bereits
mehrmals gehört: Wer sich heutzutage noch mit der
OSZE beschäftigt, bekommt meist die Frage gestellt:
Hat sich das Thema nicht längst erledigt? Hat die OSZE
noch eine Zukunft? Von Berlin über London bis
Washington bekommt man immer wieder denselben Eindruck: Die Daseinsberechtigung der OSZE wird infrage
gestellt.
Was wollten wir mit unserem Antrag erreichen? Wir
wollten sagen, dass sich auf jeden Fall diese Frage für
uns nicht erledigt hat. Wir würden sie mit einem klaren
Ja beantworten: Die OSZE hat nach wie vor ihre Daseinsberechtigung. Wir möchten das kurz erläutern.
Die Institution der OSZE ist trotz der Auflösung der
klassischen Blocksituation, die wir in den 70er- und
80er-Jahren hatten, wichtiger denn je. Aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind mittlerweile Mitglieder
der OSZE geworden. Einige von ihnen sind dieser Organisation aber nicht freiwillig beigetreten, sondern haben
die Mitgliedschaft qua Unabhängigkeit geerbt. Diese
Staaten langfristig einzubinden, ist und bleibt eine der
Kernaufgaben der OSZE.
({0})
Wir haben eben über Kunduz gesprochen. Wir sagen:
Angesichts der Krise in Afghanistan, angesichts der unsicheren Lage in Pakistan, der permanent rivalisierenden
und auseinanderdriftenden Kräfte in Zentralasien stellt
die OSZE eine der stabilisierenden Institutionen in der
Region dar.
({1})
Die OSZE - das ist interessant - als inter- und intraregionales Sicherheitskonstrukt dient derweil auch anderen Regionen als Vorbild für vertrauensbildende Maßnahmen. So spielen beispielsweise die Anrainerstaaten
im südchinesischen Meer mit dem Gedanken, den großen Nachbarn China in Form einer OSZE-Struktur einzubinden, um dessen wachsende Vorherrschaft in dem
gesamten Raum multipolar aufzufangen. Ich denke, dieses Beispiel zeigt, wie sinnvoll und nach wie vor aktuell
diese Struktur ist. Deswegen müssen wir sie stärken.
({2})
Uns Grünen liegt es allerdings nicht nur am Herzen,
die sicherheitspolitische und damit die politisch-militärische Dimension der OSZE herauszustreichen, sondern
wir haben in dem Antrag insbesondere die menschliche
Dimension unterstrichen und wollen diese weiterentwickeln.
Wir wollen deswegen das ODHIR-Büro, das Büro für
demokratische Institutionen und Menschenrechte, stärken und möchten vor allem für die Beauftragte für Medien- und Pressefreiheit ungehinderten Zugang zu allen
Staaten sowie allen Einrichtungen in diesen Staaten gewährleisten.
({3})
Für uns stellt die OSZE nicht nur eine Sicherheits-,
sondern vor allem eine Friedensgemeinschaft dar, deren
Aufgaben, Abrüstung und Rüstungskontrolle, nicht ohne
Weiteres durch andere Institutionen, wie zum Beispiel
die NATO, übernommen werden können. Es geht längst
nicht mehr nur um Abschreckung und Aufrüstung, sondern um ein kooperatives Sicherheitssystem. Daher werben wir für eine starke OSZE, damit zum Beispiel die
Russische Föderation mit den USA und anderen westlichen Partnern auf Augenhöhe verhandeln kann, und
zwar im Sinne einer gesamteuropäischen Sicherheit.
({4})
Wir haben eben auch schon gehört, dass viele der seit
langem schwelenden Konflikte, also der Konflikt in Nagorny Karabach und um die Regionen Südossetien und
Abchasien, ohne einen konstruktiven Beitrag Russlands
nicht zu lösen sind. Wer also für eine friedliche Beilegung dieser Konflikte und die Schließung dieser immer noch offenen Wunden eintritt - das wird uns wahrscheinlich noch einige Zeit begleiten -, benötigt die
OSZE heute dringender denn je.
Ich habe mich gefreut, dass Sie alle diese Punkte in
unserem Antrag herausgestrichen haben. Wir würden
uns natürlich freuen, wenn wir diesen interfraktionellen
Antrag noch etwas „aufhübschen“ könnten. Sie sind
herzlich eingeladen, sich noch weiter zu beteiligen. Wir
nehmen auch Sie gern noch mit auf den Antrag drauf.
Danke schön.
({5})
Den Beitrag des Kollegen Manfred Grund aus der
Unionsfraktion nehmen wir zu Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7824 mit dem Titel „Die OSZE ausbauen
und stärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Frak-
tion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab-
gelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
1) Anlage 4
Vizepräsidentin Petra Pau
Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen
- Drucksache 17/6644 - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur
Bekämpfung der Kinderpornographie in
Kommunikationsnetzen
- Drucksache 17/776 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, Dr. Petra Sitte,
Agnes Alpers, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung von Zugangsbeschränkungen in Kommunikationsnetzen
- Drucksache 17/646 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Volker
Beck ({0}), Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur
Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen und Änderung weiterer Gesetze
- Drucksache 17/772 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/8001 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Christian Ahrendt
Halina Wawzyniak
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka,
Lars Klingbeil, Christine Lambrecht, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden
- Drucksachen 17/4427, 17/8001 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Christian Ahrendt
Halina Wawzyniak
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Man kann es nicht oft genug betonen:
Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern gehören zu den abscheulichsten Inhalten im Internet. Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitz sind unter Strafe
gestellt. Diese widerwärtigen Abbildungen müssen aus
dem Internet verbannt werden - dauerhaft und nachhaltig.
({0})
Hinter jeder Darstellung stehen eine reale Misshandlung von Kindern, fürchterliches Leiden und Schmerz.
Die Bundesregierung hat sich deshalb dazu entschlossen,
diese Inhalte vorbehaltlos zu löschen, national und in internationaler Zusammenarbeit, und auf Löschen statt
Sperren zu setzen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
werden die in der letzten Legislaturperiode verabschiedeten Sperrregelungen des Zugangserschwerungsgesetzes
aufgehoben.
({1})
Wir ziehen damit die Konsequenzen aus einer sehr intensiv geführten Debatte zur Wirkung und Auswirkung
von Netzsperren. Die heutige Entscheidung, die hier auf
Vorlage eines Gesetzentwurfes der Bundesregierung getroffen wird, ist ein wichtiger Bestandteil der Netzpolitik
dieser Regierung. Selbstregulierung und Transparenz
statt einer hochproblematischen Sperrinfrastruktur sind
für uns die richtigen Antworten.
({2})
Die Erfolge geben uns Recht: In Deutschland werden
diese Inhalte heute binnen weniger Stunden gelöscht. Im
Ausland tritt der Erfolg nach wenigen Tagen ein. 90 Prozent der kriminellen Seiten liegen auf Servern in den
Vereinigten Staaten von Amerika, in der Russischen Föderation, in den Niederlanden und in Großbritannien.
Über die Ergebnisse in den Vereinigten Staaten von
Amerika, wo sehr viele dieser scheußlichen Seiten gehostet werden, konnte ich mich selbst vor kurzem bei
meinem Besuch des National Center for Missing & Exploited Children in Washington überzeugen. Dort wird
intensiv am Löschen gearbeitet, und zwar mit Erfolg.
Die Zusammenarbeit dort ist gut. Genau das machen wir
in Deutschland auch. In Deutschland ist es durch das Zusammenwirken der verschiedenen Stellen, die sich auf
diesem Gebiet einsetzen, gelungen, dass innerhalb von
einer Woche 70 Prozent der Inhalte gelöscht sind, nach
zwei Wochen über 80 Prozent und nach vier Wochen nahezu alle.
Die statistischen Angaben werden von Beschwerdestellen, die einen ganz wesentlichen Beitrag leisten, und
auch vom Bundeskriminalamt unterschiedlich erhoben
und sind deshalb auch nicht vollständig vergleichbar.
Aus den Jahresberichten des internationalen Beschwerdestellennetzwerks Inhope ergibt sich, dass 75 Prozent
der gemeldeten Seiten, wie eben gesagt, innerhalb von
sieben Tagen gelöscht werden. Auch eco, der Verband
der deutschen Internetwirtschaft, hat eine hervorragende
Bilanz vorgelegt: Er weist für 2010 eine Löschquote von
bis zu 91 Prozent innerhalb von zwei Wochen aus.
Deshalb: Löschen statt Sperren ist der richtige Weg.
Wir haben ihn in monatelangen Verhandlungen in der
Europäischen Union durchgesetzt. Auch dort gibt es
jetzt keine verpflichtenden Netzsperren, sodass wir nicht
mehr befürchten müssen, eine solche EU-Richtlinie umsetzen zu müssen. Der von der Bundesregierung gewählte Weg ist damit frei.
Die intensive Debatte der letzten Monate hat ergeben,
dass Sperren gerade in technischer Hinsicht die schlechteren Lösungen sind: erstens, weil sie den Blick auf das
eigentliche Ziel, nämlich die Löschung der Inhalte an
der Quelle, vernebeln; zweitens, weil die kinderpornografischen Inhalte noch vorhanden, die Sperren aber
leicht und ohne vertiefte technische Vorkenntnisse zu
umgehen sind, und drittens, weil immer auch legale Inhalte versehentlich mit gesperrt werden können, weil
also eindeutig über das Ziel hinausgegangen wird. Deshalb sind Sperren kein wirkungsvolles Instrument im
Kampf gegen diese Darstellung sexuellen Missbrauchs
von Kindern, gegen diese kinderpornografischen Abbildungen.
({3})
Sie setzen ein netzpolitisch völlig falsches Signal.
Einmal aus möglicherweise nachvollziehbaren Gründen
eingerichtet, kann eine solche Sperrinfrastruktur dann
aber natürlich auch für andere Zwecke eingesetzt werden.
Ich bin froh, dass wir jetzt mit diesem Gesetzentwurf
nach intensiver, nicht leichter Debatte mit einem intensiven Austausch der unterschiedlichen Argumente und
Standpunkte zu einem richtigen Ergebnis gekommen
sind und dass diese Sperrregelungen mit der heutigen
Beschlussfassung aufgehoben werden. Das ist ein großer
Erfolg und zeigt auch einen realistischen Blick für eine
gute und ausgewogene Netzpolitik.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Lars Klingbeil hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, das war ja ein
deutlicher Beifall. Ich denke, dass wir heute hier im Parlament keine Debatte des Fingerzeigs führen sollten,
sondern dass wir als Parlament selbst noch einmal reflektieren sollten, was wir die letzten zwei Jahre diskutiert haben.
Es war ein weiter Weg bis zum heutigen Tag, ein weiter Weg, bis wir heute hier im Parlament die Aufhebung
des Zugangserschwerungsgesetzes beschließen werden.
In den letzten zwei Jahren haben wir eine intensive Debatte geführt. Dies war eine kontroverse Diskussion, die
wir häufig sehr emotional geführt haben. Dass heute Einigkeit unter uns besteht, dass Netzsperren der falsche
Weg sind, wenn es darum geht, Kinderpornografie im
Internet zu bekämpfen, ist ein Erfolg. Diese Debatte
- das will ich gleich zu Beginn in aller Deutlichkeit sagen - ist aber vor allem von außerhalb des Parlaments
angestoßen worden, durch eine große Onlinepetition mit
knapp 140 000 Unterzeichnern. Stellvertretend will ich
Franziska Heine nennen, die damals diese Petition auf
den Weg gebracht hat, und ich will gleich zu Beginn den
vielen Unterstützern dieser Onlinepetition Dank sagen,
die uns als Parlamentarier sachlich und fachlich am Ende
überzeugt haben. Von diesem Engagement brauchen wir
mehr in Deutschland.
({0})
Wir sind uns hier im Parlament darüber einig, dass
der sexuelle Missbrauch und die sexuelle Gewalt an Kindern zu den schlimmsten Verbrechen gehören, die es
gibt. Wir sind uns einig darüber, dass es keine Rechtfertigung und keine Entschuldigung für solche Verbrechen,
dass es keine Duldung solcher Verbrechen geben darf.
Wir als Parlamentarier sind gefordert, nach den besten
Wegen zu suchen, wie wir mit diesen Verbrechen umgehen können und wie wir sie wirksam bekämpfen können.
Das ist auch genau das, worüber wir in den letzten
zwei Jahren gestritten haben. Wir haben darüber gestritten, was die besten Wege sind, um mit diesen furchtbaren Taten umzugehen. Ich sage: Mit der heutigen Entscheidung darf dieser Weg nicht aufhören. Diese Frage
muss uns weiter beschäftigen.
({1})
Ursula von der Leyen war es, die als Ministerin in der
Großen Koalition die Netzsperren durchgesetzt hat. Sie
hat das mit Unterstützung meiner Partei getan. Ich will
hier wie auch an anderen Stellen deutlich sagen: Ich bin
dankbar, dass meine Partei erkannt hat, dass es ein Fehler war, auf die Netzsperren zu setzen. Wir haben schon
vor über einem Jahr einen Aufhebungsantrag für das Zugangserschwerungsgesetz in das Parlament eingebracht.
Ich weiß, dass es nicht an der FDP lag, dass es so lange
gedauert hat, und ich bin froh darüber, dass nun die
schwarz-gelbe Koalition, die Regierung, ein Gesetz vorlegt, dem wir alle zustimmen können und das dafür
sorgt, dass Netzsperren hier in Deutschland nicht stattfinden werden.
Wir haben als Gegner der Netzsperren immer betont,
dass sie vor allem eines sind: Sie sind eine Symbolpolitik.
Ein Stoppschild gegen Kinderpornografie im Internet,
das klingt gut, das lässt sich gut vermarkten. Es hat aber
zwei Jahre, in denen wir argumentiert haben, gedauert,
um zu zeigen, dass dies der falsche Weg ist, und es hat
zwei Jahre gedauert, bis wir eine Mehrheit dafür hatten,
zu zeigen, dass Netzsperren eben keinen wesentlichen
Beitrag zur Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet leisten können, dass sie wenig effektiv sind, dass
sie ungenau sind, dass sie sogar kontraproduktiv sein
können, weil sie technisch leicht zu umgehen sind, und
dass nebenbei - die Ministerin hat es angesprochen - eine
Infrastruktur aufgebaut wird, die sogar verfassungsrechtlich sehr bedenklich ist.
Als Gegner der Netzsperren haben wir auch immer
deutlich gemacht, dass es Alternativen gibt. Wir haben
immer betont, dass wir einfordern, dass kinderpornografisches Material im Internet gelöscht wird. „Löschen
statt Sperren“ war die Aussage, mit der viele Menschen
vor zwei Jahren angetreten und in die Debatte eingestiegen sind. Heute sehen wir, dass es der richtige Weg war,
nicht auf symbolische Stoppschilder zu setzen, und dass
es richtig war, einzufordern, dass das Material von den
Servern gelöscht wird. Zahlreiche Anhörungen im
Rechtsausschuss, im Unterausschuss „Neue Medien“, in
den Fraktionen, aber auch viele andere Gremien haben
immer wieder bestätigt: Dieser Weg ist richtig.
Es gab aber Argumente, die immer wieder angeführt
wurden. Es gab zum Beispiel das Argument, man könne
das Material nicht löschen, weil sich die Server in Staaten befänden, die weit weg von hier seien und mit denen
wir keine Kooperation hätten. Auch dieses Argument
konnten wir in den zwei Jahren dieser Debatte widerlegen. Wir sehen: Die Mehrzahl der Server steht in den
USA, in Russland und in Westeuropa, auch in Deutschland. Da ist es doch für niemanden verständlich, dass es
hier keine internationale Kooperation der Strafermittlungsbehörden gibt. Genau hier haben wir in den letzten
zwei Jahren Druck gemacht. Wir haben darauf gedrungen, dass die Meldeverfahren effizienter und die Löschbemühungen international besser werden. Eco, der Verband der deutschen Internetwirtschaft, sagt heute, dass
innerhalb kürzester Zeit 90 Prozent der Seiten gelöscht
werden können. Das ist auch ein Verdienst von Parlamentariern, die immer wieder Druck gemacht haben,
dass der Weg des Löschens gegangen wird.
Auch wenn wir bei über 90 Prozent sind, kann uns das
nicht reichen. Wir müssen weiter Druck machen. Wir
müssen die Löschbemühungen weiter steigern. Ich will
hier etwas Wasser in den Wein gießen; denn ich hätte
mir schon gewünscht, dass die vereinbarte Evaluierung
der Löschbemühungen von der Bundesregierung durchgeführt worden wäre und dass sie uns Hinweise gegeben
hätte, was man hätte besser machen können, gerade da
wir gemeinsam feststellen, dass unser Weg noch nicht zu
Ende ist und wir noch besser werden müssen, was das
Löschen angeht.
Wir haben in den zwei Jahren einer kontrovers geführten Diskussion viel Zeit verloren. Dabei gibt es viele
Instrumente, die auf der Hand liegen, aber die wir in den
letzten zwei Jahren nicht genutzt haben. Wenn es zum
Beispiel darum geht, dass wir das Löschen verbessern
und dass wir die internationale Kooperation ausbauen,
wenn es darum geht, unsere Behörden auch mit ausreichendem Material, technischem Know-how und mehr
Personal auszustatten, und wenn es etwa um Schwerpunktstaatsanwaltschaften geht, dann haben wir zwei
Jahre in der Debatte verloren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorgelegt, wie wir den Ursprung des Ganzen, den Missbrauch
von Kindern, bekämpfen können. Ich fordere die Regierung auf, aktiver zu werden. Unsere Unterstützung, die
Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion, werden Sie
dabei haben.
({2})
Am Ende will ich etwas zur generellen Diskussion sagen. Ich habe schon zu Beginn gesagt, dass es eine emotionale Diskussion war. Ich empfinde keine Genugtuung
am heutigen Tag, aber ich will doch sagen: Vor zwei Jahren musste ich mir als Gegner von Netzsperren so manche Argumentation anhören, die lautete: Wenn du nicht
für Netzsperren bist, dann unterstützt du Kinderpornografie. Dann willst du nichts gegen Kinderpornografie
machen. - Ich will all denen hier im Parlament, aber
auch außerhalb des Parlaments danken, die immer wieder dagegen argumentiert haben. Am Ende haben wir
recht behalten. Mit der heutigen Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes bekommen wir recht. Wir
sollten keine Genugtuung empfinden, aber wir sollten
uns als Parlament fragen, wie wir so manche Debatte in
den letzten zwei Jahren geführt haben und ob so mancher Populismus angebracht war. Wir werden weitere
Diskussionen in den nächsten Monaten haben, etwa
wenn es um die Vorratsdatenspeicherung geht. Einige
kennen meine Position dazu. Ich warne aber auch hier:
Wer gegen die Vorratsdatenspeicherung ist, ist nicht gegen eine effiziente Strafverfolgung. Lassen Sie uns in
uns gehen und uns fragen, ob wir nicht gerade netzpolitische Debatten auf einem seriöseren und sachlicheren Niveau führen können.
Ich glaube, die Diskussion über Netzsperren hat uns
hier im Parlament vorangebracht. Das ist so etwas wie
der Startschuss zu einer digitalen Diskussion, die wir
hier im Bundestag begonnen haben. Viele weitere Diskussionen werden folgen. Netzpolitik bedeutet nicht,
Twitter und Facebook zu benutzen, sondern die Umbrüche einer digitalen Gesellschaft zu begreifen. Wenn die
Diskussion über Netzsperren in den letzten zwei Jahren
dazu beigetragen hat, dass wir in den kommenden Jahren
seriöser diskutieren und andere Argumente ernst nehmen, dann hat diese ganze Diskussion eine erfolgreiche
Seite gehabt.
Ich freue mich, dass wir heute einstimmig das Zugangserschwerungsgesetz aufheben, und danke Ihnen
für das Zuhören.
({3})
Der Kollege Ansgar Heveling hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ein Gesetz mit einer sehr breiten Mehrheit im Parlament verabschiedet wird, so deutet dies auf den ersten
Blick auf einen größtmöglichen Konsens in der Sache
hin. So wie es nach der gestrigen Beschlussfassung im
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages aussieht,
werden wir gleich im Anschluss an die Beratungen in
zweiter und dritter Lesung mit dieser breiten Mehrheit
das Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in
Kommunikationsnetzen beschließen.
Wenn also die Sache so läuft, dann empfiehlt es sich
eigentlich tunlichst, nicht aus der Reihe zu tanzen, das
Gemeinsame und Einende zu beschwören, den gemeinsamen Erfolg in den Mittelpunkt zu stellen und dann das
Thema bloß schnell zum Abschluss zu bringen.
({0})
Ich habe mich dennoch bei meinem Wortbeitrag dagegen entschieden. Ich habe mich dagegen entschieden,
weil ich zwar glaube, dass der angesprochene Konsens
in dieser Sache von allen wirklich ernsthaft gewollt ist,
ich ihn dennoch an manchen Stellen für etwas vordergründig halte.
Ich habe mich nicht dazu entschieden - das sei vorweg gesagt -, weil es noch fundamentale Erwägungen
gibt, die gegen diese konkrete Gesetzesentscheidung
sprechen; auch nicht, weil ich irgendjemandem hier in
diesem Parlament die Bemühungen um den Konsens in
der Sache absprechen möchte. Alle - das meine ich an
dieser Stelle ausdrücklich so - sind um ein gutes Ergebnis bemüht.
Schließlich habe ich mich nicht - eindeutig nicht deshalb dagegen entschieden, weil es an diesem Gesetz
irgendein Jota mit Vehemenz zu verteidigen gäbe. Wie
soll ein Parlament auch ein Gesetz verteidigen, das auf
Initiative einer Regierung eingebracht wurde, die kurz
nach dem Abschluss des parlamentarischen Verfahrens
nichts Eiligeres zu tun hatte, als sich schleunigst wieder
davon zu distanzieren?
Insofern bleibt dieses Gesetz ein Lehrstück, ein Lehrstück dafür, was passiert, wenn Gesetze im Zuständigkeitsgestrüpp einer Regierung wachsen. Seinerzeit bei
der Entstehung des Gesetzes hat das eigentlich federführende Ministerium nicht die Feder geführt. Ein anderes
Ministerium hat sich dann die Zuständigkeit aus der Verfassung herbeikonstruiert. Schließlich hat ein gänzlich
unzuständiges Ministerium die Debatte beherrscht.
({1})
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist Murks,
und das muss man auch so bezeichnen dürfen.
({2})
Vor allem aber zeigt es, dass der alte Grundsatz „Was
auch immer du tust, handele klug und bedenke das
Ende“ dabei von vorne bis hinten außer Acht gelassen
wurde, mit Folgen über das Gesetzesvorhaben hinausgehend. Das hat der Sache, dem einenden Ziel: Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen im Internet, in keiner Weise gedient. Im Gegenteil: Ganz andere Fragen
haben die Sache selbst vollkommen aus dem Blick gedrängt.
Des Weiteren hat es Regierung und Parlament gleichermaßen nicht im besten Licht erscheinen lassen.
Denn natürlich wirft es über das einzelne Ereignis hinausgehende verfassungsrechtliche Fragen auf, wenn ein
von der Regierung eingebrachtes Gesetz, das vom Parlament beschlossen, im ordnungsgemäßen Verfahren in
Kraft gesetzt und nicht vom Verfassungsgericht aufgehoben worden ist, von der Exekutive nicht angewendet
wird.
({3})
Schließlich darf man sich angesichts dessen über entsprechende Gegenwehr nicht wirklich wundern. Was
will man anderes erwarten, wenn man den Gegnern
durch sein Verhalten zusammen mit einem Gesetz die
Bedienungsanleitung zum Widerstand quasi frei Haus
mitliefert?
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist das
eine, das konkrete Gesetz und seine Unzulänglichkeiten
zu beleuchten. Das alles rechtfertigt - das sei nochmals
klargestellt - ohne Frage dessen Aufhebung. Dahinter
steht aber eigentlich etwas ganz anderes. Das lässt für
mich den Eindruck des Konsenses etwas vordergründig
erscheinen; vordergründig deshalb, weil wir Gefahr laufen, eine andere dringend notwendige Debatte durch die
Einigkeit heute ein wenig auszublenden, die Frage nämlich: Darf sich der Staat, und wenn ja, wie, im Internet
bewegen? Die bloße Aufhebung eines Gesetzes gibt darauf keine Antwort. Sie erweckt möglicherweise sogar
einen falschen Eindruck, jedenfalls dann, wenn man daraus herauslesen möchte, dass das Internet ein eingriffsfreier Raum zu sein habe.
In der Diskussion um das Gesetz zur Erschwerung
des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in
Kommunikationsnetzen verschob sich jedenfalls schnell
der Schwerpunkt der Auseinandersetzung weg von der
Frage der Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen
im Internet hin zu viel fundamentaleren Gesichtspunkten. Rasch bekam die öffentliche Diskussion eine Richtung, die so gar nichts mit dem Thema Kinderpornografie zu tun hatte. Das Stichwort „Zensur“ rückte in den
Vordergrund. Dieser Begriff sollte fortan auch die Diskussion beherrschen.
Man mag an dem Gesetz - vieles auch zu Recht - kritisieren, aber mit Zensur hatte es doch nichts zu tun.
({4})
So bleibt für mich die bange Frage: Welches Staats- und
Gesellschaftsbild haben diejenigen im Kopf, die mit
Verve „Zensur“ gebrüllt haben, um das Gesetz zu Fall zu
bringen? Denn da geht es wohl um mehr als um die
Frage der Tauglichkeit des Mittels Internetsperren. Es
geht offensichtlich um die grundsätzliche Haltung zu
staatlichen Eingriffen zur Abwehr von Straftaten. Gesetzmäßigkeit, Rechtsschutzgarantie und Verhältnismäßigkeit, also Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, sind die klassischen Instrumente des
Rechtsstaates zur Limitierung von Eingriffen. Wer diese
Mechanismen aber aufgeben möchte, redet entweder
dem überstarken Staat das Wort oder einem Staat, für
den unter dem Diktum vorgeblicher „Freiheit“ der Ausgleich divergierender Grundrechte - etwa die Schutzpflicht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, für deren Sicherheit zu sorgen - gleichgültig zu sein hat. Das
aber ist meiner Ansicht nach ein Verständnis von Freiheit, das mit der Gefahr behaftet ist, sich in letzter Konsequenz gegen sie selbst zu richten.
Heinrich Wefing, der Publizist, hat im Juli 2009, also
auf dem Höhepunkt der Debatte um die Verabschiedung
des Gesetzes, in der Zeit - diese Publikation ist nun vollkommen unverdächtig, das Kampfblatt rechtskonservativer Law-and-Order-Sheriffs zu sein - einen bemerkenswerten Beitrag verfasst. Er schreibt dort unter anderem:
Eine Sperrseite, die den Zugang zu einer Webseite
mit - ohnehin verbotener - Kinderpornografie verhindern oder wenigstens erschweren soll, kann also
juristisch gar keine Zensur sein. Sie ist Teil des Versuchs ({5}), die
Verbreitung der gesellschaftlich geächteten Kinderpornos zu unterbinden. Hier „Zensur“ zu schreien
ist entweder Ahnungslosigkeit. Oder Polemik. Auf
das grundgesetzliche Verbot der Zensur jedenfalls
kann sich nicht berufen, wer gegen die Internetsperren kämpft.
Aber was tun die Ajatollahs anderes? Die chinesischen Parteikader oder ägyptischen Sittenwächter,
die sich jede Zeile eines Lyrikers vorlegen lassen,
missliebige Webseiten abschalten und jede abweichende Meinung unterdrücken?
({6})
Es gehört zum ideologischen Glutkern der Debatte
um die Kinderporno-Sperren, dass deren Kritiker
den kategorialen Unterschied zwischen einem offenen System wie dem der Bundesrepublik und einer
Diktatur wie in China oder Iran partout nicht zur
Kenntnis nehmen wollen. Die Sperrung von Internetseiten, die verbotene Kinderpornografie verbreiten, haben frei gewählte Abgeordnete eines freien
Parlaments beschlossen. Es gibt darüber eine völlig
ungehinderte, vor Emotionen vibrierende, wüst hin
und her wogende Diskussionen in Artikeln, Leserbriefen und in der Onlinewelt. Und unabhängige
Gerichte werden die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes innerhalb kurzer Zeit überprüfen. Nichts davon in China, nichts davon in Iran.
Genau das ist der Punkt, um den es eigentlich wirklich geht. Das ist die Debatte, die auch wir hier zu führen
haben und in der wir klare Standpunkte beziehen müssen. Anbiedern und hinterherlaufen, das ist meiner Ansicht nach jedenfalls an dieser Stelle der falsche Weg.
({7})
Ich darf zur Illustration dazu auf eine Replik zu dem
gerade zitierten Artikel hinweisen, die meiner Ansicht
nach gar keiner weiteren Kommentierung bedarf. In seinem Blog hat der ehemalige Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Dirk Hillbrecht, Wefings Hinweis auf den
Bundestag als frei gewähltes Parlament mit frei gewählten Abgeordneten entgegengehalten - ich darf das zitieren, wobei ich ausdrücklich darauf hinweise, dass ich es
zitiere und mir keinesfalls zu eigen mache -:
Und
- ich ergänze: „es sind“; gemeint sind wir ganz ähnliche frei gewählte Abgeordnete eines
ganz ähnlichen frei gewählten Parlamentes, wie es
1933 das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk
und Reich“ verabschiedet hat.
Meine Kolleginnen und Kollegen, das ist es, was mir
Angst und Bange macht. Es ist nicht das Internet mit seinen tollen Chancen und Möglichkeiten. Es ist vielmehr
die Staats- und Gesellschaftsvorstellung von Menschen,
die die Idee des Internets für eine Ideologie okkupieren
wollen, eine Ideologie, mit der - so stand es am vergangenen Freitag in der FAZ - „Internet-Anarchisten, jene
Fanatiker von Freiheit und Anonymität, … die aus sträflichem Unwissen oder verantwortungslosem Populismus
die wahre Freiheit zugrunde richten.“ Diese Debatte,
liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir führen.
({8})
Wir müssen sie führen, weil wir jetzt noch Zeit, Gelegenheit und Entscheidungsfreiheit dazu haben. Ich mache mir Sorgen um die Freiheit; ich mache mir Sorgen
darum, dass meine Freiheit durch den Staat ausreichend
und vor allem überall gewährleistet wird.
Wenn wir die Debatte führen und vor allem wenn wir
zu der Entscheidung kommen, dass der Staat auf rechtsstaatlicher Grundlage in der digitalen Welt genauso
handlungsfähig sein muss wie in der analogen, dann
können wir heute auch das Gesetz zur Aufhebung des
Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen beschließen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Justizministerin! Es ist schon viel gesagt worden:
Wir entscheiden heute darüber, ein Gesetz aufzuheben,
welches seinerzeit in blindwütigem Aktionismus angeblich - ich betone: angeblich - zum Kampf gegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch von Kindern
erlassen worden ist und über welches gesagt worden ist
- ich mache mir das Zitat zu eigen -:
Deshalb komme ich zu folgendem Schlusssatz …:
Das einzig Gute, was man über Ihr Gesetz sagen
kann, ist, dass es offensichtlich gut gemeint sein
könnte; aber das Zugangserschwerungsgesetz erreicht seinen Zweck nicht und enthält Risiken und
Nebenwirkungen, vor denen man nur dringend warnen kann.
({0})
Das ist ein Zitat des von mir sehr geschätzten Kollegen
Dr. Stadler, inzwischen Staatssekretär, vom 18. Juni
2009; das ist fast zweieinhalb Jahre her.
Zu den erwähnten „Risiken und Nebenwirkungen“
gehörte die Befürchtung der Einführung einer vom Bundeskriminalamt kontrollierten Struktur zur Überwachung des Internets ohne rechtsstaatliche Kontrolle. Das
waren die Befürchtungen: totale Überwachung und
Sperrung von unliebsamen Websites; China ließ grüßen.
Deswegen hat sich Frau von der Leyen letztlich den
Spitznamen „Zensursula“ eingehandelt.
Nachdem das Gesetz dann verabschiedet war und der
Bundespräsident es nach langem Zaudern endlich unterschrieben hatte, wurde es per Ministerialerlass nicht angewendet. Ein vom Parlament beschlossenes, verabschiedetes Gesetz wurde - auch wenn man noch so viele
Bedenken dagegen hatte - per Ministerialerlass nicht angewendet: ein Zustand, der aus rechtsstaatlicher Sicht
überhaupt nicht haltbar war. Daher hat die Linke, die von
Anfang an gegen dieses, wie wir uns heute alle einig
sind, sinnlose Gesetz war, Anfang 2010 beantragt, dass
höchstumstrittene Gesetz aufzuheben; das ist auch schon
fast zwei Jahre her.
Inzwischen haben auch die anderen Fraktionen der
Opposition entsprechende Anträge eingebracht, um diesen rechtswidrigen Zustand zu beenden. Immerhin, Ende
Juli 2011, circa ein Jahr nach der Anhörung im Rechtsausschuss zu dieser Rechtslage, legte auch die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, um dieses vor über
zwei Jahren beschlossene Gesetz endlich aufzuheben. Es
hat anderthalb Jahre gedauert, bis sich die Regierungskoalition endlich der Meinung der Linken angeschlossen
hat,
({1})
nicht zuletzt auf Druck der Onlinepetition mit gut
134 000 Mitzeichnungen. Wie oftmals dauert es bei dieser Koalition etwas länger. Aber immerhin: Links wirkt.
({2})
Ich denke, unser Antrag, der vorsieht,
({3})
- das ist das Schöne: Wenn Sie hier aufjaulen, dann habe
ich den richtigen Ton getroffen,
({4})
peinlich würde es, wenn Sie applaudieren würden -, die
Berichtspflichten noch genauer zu definieren und enger
einzugrenzen, um die Strafverfolgung der Täter und das
Löschen der Seiten noch effektiver zu gestalten und zu
beschleunigen - das muss oder sollte zumindest unser aller Ziel sein -, wird über kurz oder lang eine Mehrheit
finden.
({5})
- Ja, ich spreche aus staatsanwaltlicher und aus richterlicher Sicht, da haben Sie recht. ({6})
Es dauert halt ein bisschen, bis die Regierung es begreift. - Es ist gut, wenn Sie vor Staatsanwaltschaft und
Gericht Angst haben.
Aber - jetzt mache ich Ihnen noch mehr Angst - als
überzeugter Lutheraner sage ich:
({7})
Die Linke wirkt, Gott sei Dank!
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Kollege Dr. Konstantin von Notz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Kollege Heveling, ich habe Ihre
nachdenklich vorgetragene Rede genau verfolgt. Sie hatten zwölf Minuten Zeit; man wird ganz neidisch, wenn
andere so viel Zeit haben. Ich habe deutlich weniger.
({0})
Ihr Vortrag relativiert sich leider, wenn Sie die ganze
Zeit über Sperren und Zensur sprechen, aber die wesentliche Forderung derjenigen, die sich gegen dieses Gesetz
gewehrt haben, nämlich „Löschen statt Sperren“, einfach
ausblenden.
({1})
Wenn diese Worte in zwölf Minuten nicht einmal fallen,
ist der ganze Vortrag leider „Thema verfehlt“. Insofern
kann ich sagen: Sie haben diese zwölf Minuten vergeudet.
Heute ist ein guter Tag; denn das Zugangserschwerungsgesetz wird endlich zurückgenommen, wir haben
zwei Jahre darum gerungen. Heute ist aber auch ein
wichtiger Tag für all diejenigen, die sich gegen Netzsperren und Stoppschilder, die letztlich ein hoch ineffektives Mittel sind, Herr Kollege, engagiert haben, und
auch für all diejenigen, die für „Löschen statt Sperren“
gekämpft haben, dafür, dass man vor Straftaten keine
spanischen Wände aufstellt, sondern dass man die Seiten
löscht. Deswegen freue ich mich, dass wir dieses Gesetz
zurücknehmen.
({2})
Die Gegner des Gesetzes - deswegen ist das auch demokratietheoretisch ein schöner Tag ({3})
haben die besseren Argumente gehabt und sich durchgesetzt. Zunächst haben sie 134 000 Menschen von Ihren
Argumenten überzeugt - die zweitgrößte Petition in der
Geschichte des Deutschen Bundestages -, und dann haben sie dafür gesorgt, dass das von der Großen Koalition
verabschiedete Gesetz am Anfang dieser Legislaturperiode ausgesetzt wurde. Man muss an dieser Stelle deutlich sagen - ich weiß, dass das viele hier im Haus kritisch sehen -, dass es verfassungsrechtlich ausgesprochen problematisch ist, Gesetze par ordre du mufti
auszusetzen. Das ist ein eher untypisches parlamentarisches Verhalten.
({4})
Letztlich wird es heute zurückgenommen. Deswegen an
dieser Stelle auch von uns einen herzlichen Dank an die
digitale Bürgerrechtsbewegung, allen voran an den AK
Zensur und die Petentin Franziska Heine.
({5})
Ich erspare uns allen eine Wiederholung der Diskussion der letzten zwei bis drei Jahre im Detail, also über
das, was über die Netzsperren gesagt wurde, und all die
Aussagen, dass es sich dabei um eine „Brückentechnologie“ handelt, und viele haben immer wieder durchscheinen lassen, dass man eigentlich doch lieber gegen Urheberrechtsverstöße im Netz vorgehen wollte. Auch aufgrund des Abstimmungsverhaltens einiger in der Union
gestern in den Ausschüssen und die offenkundige Tolerierung dieses Verhaltens durch die Fraktionsspitze kann
ich mir eine Sache aber nicht verkneifen.
({6})
Wer im Jahr 2011 im Bereich der Netzpolitik glaubhaft
agieren möchte und gleichzeitig Netzsperren fordert, der
denkt wahrscheinlich auch, Atomkraft sei eine Ökoenergie. Wir haben viele Anhörungen durchgeführt, in denen
wir ganz viele Fachleute angehört haben. Deswegen
schmälert Ihr Abstimmungsverhalten - nicht das von allen, aber von einigen - nach all den Anhörungen und guten Argumenten, die wir in den letzten Jahren gehört haben, zwar nicht den Beschluss, den wir heute fassen,
aber den Glauben an die Einsichtsfähigkeit zahlreicher
Kollegen der Union.
Ich bin froh, dass wir heute fraktionsübergreifend,
auch mit den Stimmen der Union, zur Zurücknahme dieses Instruments kommen. Ich möchte darauf hinweisen,
dass die Arbeit jetzt im Grunde erst beginnt. Wir wissen
aus den Anhörungen, was wir tatsächlich brauchen: Wir
brauchen erstens ein besseres Zusammenspiel der privatwirtschaftlichen Kräfte und der Strafverfolgungsbehörden, zweitens eine verbesserte internationale Zusammenarbeit und drittens eine bessere technische und
personelle Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden;
denn unser Ziel muss es sein, dass die staatlichen Stellen
genauso schnell und erfolgreich löschen, wie die privaten es längst tun. Missbrauch, der im Internet zweifellos
auf widerwärtigste Weise dokumentiert wird, findet eben
nicht im Internet statt. Er findet jeden Tag statt: in Schulen, in Internaten, in kirchlichen Einrichtungen, in Sportvereinen, aber vor allen Dingen auch im familiären Umfeld. Wir müssen das Problem dort bekämpfen, wo es
entsteht.
Ich kann nur an Sie appellieren, dass wir uns jetzt gemeinsam diesen Aufgabenfeldern zuwenden. Die Opposition ist voll dabei. Wir haben unsere Hausaufgaben
gemacht. Wir haben eine mehrdimensionale Strategie
gefordert und ein Konzept gegen den Missbrauch von
Kindern und Jugendlichen vorgelegt. Ich würde mir sehr
wünschen, dass wir in diesem Haus nicht nur diesen Antrag gemeinsam beschließen, sondern ab jetzt auch gemeinsam diese Konzepte verfolgen.
Ganz herzlichen Dank.
({7})
Lieber Kollege Dr. von Notz, der Präsidentenwechsel
hat Ihnen noch ein paar Sekunden Redezeit mehr eingebracht.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von
Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6644
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle
Vizepräsident Eduard Oswald
Fraktionen dieses Hauses. Wer stimmt dagegen? - Eine
Stimme aus den Reihen der Union. Stimmenthaltungen? Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Eine Stimme wie in der vorigen
Abstimmung. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
({1})
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001,
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Keiner. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung
einstimmig angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem
Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Aufhebung des
Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornographie in
Kommunikationsnetzen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/776 für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Keiner. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke zur Aufhebung von Zugangsbeschränkungen
in Kommunikationsnetzen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/646 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Das ist die Fraktion Die Linke.
Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur
Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs
zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen und Änderung weiterer Gesetze. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/772 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Rechtausschusses auf Drucksache
17/8001 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4427 mit dem Titel
„Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden“ für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist somit einstimmig angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Richard
Pitterle, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutsch-französische Initiative zur Bekämpfung der Euro-Krise und zur Regulierung der
Finanzmärkte starten
- Drucksache 17/7884 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Der erste Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Axel Troost. Bitte schön, Kollege Dr. Axel Troost.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
heutige Tag ist ein historischer und ein guter Tag. Erstmals bringen an einem Tag die französischen Linken in
der französischen Nationalversammlung und die deutschen Linken im Deutschen Bundestag einen inhaltsgleichen Antrag zur Bekämpfung der Euro-Krise und zu
Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte ein.
({0})
Dieser Antrag wird am nächsten Dienstag, am 6. Dezember, auch noch von den tschechischen Linken im tschechischen Parlament eingebracht werden.
({1})
In der kurzen Redezeit, die ich habe, möchte ich nicht
auf den Feststellungsteil eingehen, in dem wir gemeinsam herausstellen, welchen Anteil die deutsche Wirtschaftspolitik mit ihrem Setzen auf Export und Handelsbilanzüberschüsse an der Euro-Krise hat. Ich will mich
in meiner Rede auf die wesentlichen fünf Punkte in unserem gemeinsamen Antrag beschränken.
({2})
Erstens geht es um die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Darauf sollte man nicht bis zum Endlostag
warten. Vielmehr sollten die Länder Frankreich und
Deutschland sie schnellstmöglich einführen. Über den
Antrag ist bereits heute Morgen in der Nationalversammlung diskutiert worden. Der für Europapolitik zu17460
ständige Minister Leonetti hat in die Debatte eingegriffen und der französischen Linken gesagt, sie solle uns
ausrichten, wir sollten die Bundesregierung einmal fragen - das tue ich jetzt gerade; vielleicht kann sie auch
zuhören -, was sie davon hält, wenn Deutschland und
Frankreich in einer Koalition der Willigen damit beginnen würden. Wahrscheinlich kennt er die deutschen Verhältnisse und hat deshalb gesagt, dass wir die Bundesregierung fragen sollen und nicht die beiden sie tragenden
Fraktionen. Nach der Anhörung gestern im Finanzausschuss zur Finanzmarkttransaktionsteuer kann man nur
vermuten, dass Heckenschützen nach wie vor mit aller
Macht versuchen, die Einführung zu verhindern.
Zweitens geht es um die europaweite Einführung einer Sondervermögensabgabe für natürliche Personen mit
einem Privatvermögen von mehr als 1 Million Euro.
({3})
Hiermit soll sichergestellt werden, dass die Profiteure
der Krise an den entstandenen Kosten beteiligt werden.
Drittens geht es - Herr Kollege Brinkhaus, hier habe
ich in der Tat die Punkte fünf und sechs zusammengefasst ({4})
um die Reregulierung der Finanzmärkte. Um es einfach
zu sagen: Es geht um ein Verbot von ungedeckten Leerverkäufen und Kreditversicherungen sowie um ein Verbot des Hochfrequenzhandels. Es geht auch darum, alle
Käufe und Verkäufe von Produkten über geordnete Handelsplattformen wie Börsen zu führen und nicht, wie bisher, unreguliert zu lassen.
({5})
Viertens - das steht insbesondere in Frankreich an,
aber möglicherweise auch in Deutschland - geht es darum: Wenn wir eine Rekapitalisierung der Banken mit
öffentlichen Mitteln brauchen, dann muss sichergestellt
sein, dass für diese öffentlichen Mittel auch eine dauerhafte Mehrheitsbeteiligung des Staates am Kapital dieser
Banken gewährleistet wird - damit also nicht das passiert, was in Deutschland bei der Commerzbank passiert
ist - und dass der Staat dann dafür sorgt, dass aus den
Zockerbanken Banken bzw. Dienstleister für die Ersparnisbildung und die Kreditvergabe werden.
({6})
Fünftens fordern wir die Einführung eines europäischen Fonds für eine soziale, solidarische und ökologische Entwicklung, damit die Länder des Südens überhaupt eine Chance haben, aus der Schuldenkrise
herauszukommen.
Heute Morgen waren im Finanzausschuss Kollegen
aus Griechenland. Es ist völlig klar - dies wird eigentlich von niemandem bestritten -, dass diesen Ländern in
einem Prozess von 10 bis 20 Jahren geholfen werden
muss. Das geht nur mit einem solchen Fonds, der dann
auch Zugang zum Geld der Europäischen Zentralbank
hat, um das entsprechend zu finanzieren.
Ich glaube, mit dieser Initiative haben wir noch einmal einen Maßstab gesetzt. Wir hoffen, dass auch die anderen Fraktionen, was die Zusammenarbeit im europäischen Umfeld angeht, versuchen werden, Kontakt mit
ihren entsprechenden Parlamentariern aufzunehmen.
Danke schön.
({7})
Herr Kollege Troost, Sie haben Verständnis, dass ich
natürlich nicht die Redezeit aus Frankreich oder aus
Tschechien hier mit anrechne.
({0})
- Gut.
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus. - Bitte schön, Kollege
Brinkhaus.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
jetzt ein bisschen mehr Redezeit,
({0})
also werde ich mich auch eingehend mit Ihrem Antrag
beschäftigen, Herr Troost.
Erst einmal ist es ja zu begrüßen, dass Sie einen Antrag zusammen mit Ihren Kollegen aus Frankreich einbringen. Sie haben aber leider nicht das Copyright; das
haben die Kollegen von der SPD, die das nämlich auch
schon einmal gemacht haben.
({1})
Einmal ganz unabhängig vom Inhalt des Antrags ist das
insofern wirklich eine ganz gute Sache, weil ich glaube,
dass wir uns in dem europäischen Prozess, in dem wir
uns momentan befinden, als deutsches Parlament neu
definieren müssen. Ich glaube, dass die Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Entscheidungsfindung viel zu kurz kommt. Wir müssen uns da mehr einbringen. Wenn wir uns da mehr einbringen wollen, dann
schaffen wir das nur, wenn wir das zusammen machen.
Insofern ist dieses Vorgehen gut. Das ist aber auch das
einzig Gute an Ihrem Antrag.
({2})
Sie werden verstehen, dass ich den Rest nicht so gut
finde.
Der Antrag ist so gegliedert, wie alle Oppositionsanträge gegliedert sind. Im ersten Teil findet sich die übliche Regierungsbeschimpfung, bei Ihnen - das ist der
Sonderfall - noch angereichert mit ein wenig marxistischer Folklore.
({3})
Der zweite Teil enthält dann das Vorschlagspaket. Sie
haben ja schon die Punkte von sechs auf fünf heruntergebeamt. Der dritte Teil enthält die Begründung. Da ist Ihnen die Luft ein bisschen ausgegangen, weil Sie von Ihren sechs Vorschlägen nur drei begründet haben.
({4})
Das mag auch für sich sprechen.
Kommen wir jetzt einmal zu Ihren einzelnen Vorschlägen in chronologischer Reihenfolge:
Der erste Vorschlag war, einen Fonds aufzulegen. Darin ist irgendetwas mit Solidarität, Ökologie, Gerechtigkeit und ähnlichen Geschichten enthalten. Dazu kann
man nur sagen: Gibt es schon. Es gibt mehrere Fonds auf
europäischer Ebene, die sich genau mit diesen Themen
beschäftigen. Ich vermute aber einmal, dass Sie auf diese
untaugliche Weise etwas anderes adressieren wollten, etwas, was auch uns betrifft, nämlich dass die Konsolidierung in Europa die eine Säule ist, die unsere Zukunft
beeinflussen wird. Die andere Säule ist, dass wir tatsächlich nicht nur über Haushaltskonsolidierung nachdenken
können und müssen, sondern dass wir uns auch damit
beschäftigen müssen, wie die betroffenen Länder wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen.
({5})
Nur, Herr Troost, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linken, es ist wahrscheinlich ein untaugliches Mittel, dies mit einem amorph formulierten Fonds anzugehen.
Kommen wir zum zweiten Punkt. Sie möchten, dass
die Banken, die gestützt werden, quasi verstaatlicht werden. Das heißt, dass der Staat eine Mehrheitsbeteiligung
übernimmt und dann - zweiter Schritt - dafür sorgt, dass
sich diese Banken darauf konzentrieren, die Wirtschaft
und die Gesellschaft mit Krediten zu versorgen.
Hier gibt es zwei Fehlannahmen. Die erste Fehlannahme ist, dass staatliches bankliches Handeln nicht unbedingt besser ist als privates bankliches Handeln. Das
haben wir am Beispiel der WestLB und auch einiger anderer Landesbanken sowie unserer Tochtergesellschaft
IKB gesehen.
({6})
Die zweite Fehlannahme ist, dass es die einzige Aufgabe von Banken ist, die Kreditversorgung sicherzustellen. Banken haben noch ganz andere Funktionen. Sie
sind Zahlungsmittelversorger, sie führen eine Fristentransformation durch, und sie machen vor allen Dingen
eines, was Sie wahrscheinlich als fürchterlich schäbig
erachten: Sie sichern Risiken ab. Dafür braucht man Derivate, und zwar aus ganz realwirtschaftlichen Gründen.
Insofern läuft das, was Sie hier fordern, fehl.
Der dritte Punkt ist die Finanztransaktionsteuer. Da
muss man sagen: Wie neu und innovativ ist diese Idee!
Es ist so, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Finanztransaktionsteuer vorgelegt hat. Von
der Unionsfraktion wird übrigens ausdrücklich begrüßt,
dass das so gemacht wird.
({7})
Allerdings haben wir gestern in der Anhörung erfahren
- das hat mit Verschwörungstheorien oder damit, dass da
Heckenschützen zugange waren, nichts zu tun -,
({8})
dass es wohl doch nicht so einfach ist, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, wie Sie es sich immer denken,
nach dem Motto: Wenn wir jetzt die Finanztransaktionsteuer einführen, ist der Hunger auf der Welt bekämpft,
ist der Klimawandel aufgehalten und sind sämtliche
Haushalte saniert. Das funktioniert so nicht.
({9})
Die Finanztransaktionsteuer, meine Damen und Herren, hat ganz viel mit Technik zu tun. Man muss sich
sehr viele Fragen stellen und überlegen: Wer ist das
Steuersubjekt? Wer ist das Steuerobjekt? Wie sieht es
mit der Bemessungsgrundlage aus? Wie sieht es mit den
Tarifen aus? Wie sieht es mit der Steuererhebung aus?
({10})
All das sind Fragen, die auch im Vorschlag der Europäischen Kommission noch nicht zufriedenstellend beantwortet sind.
({11})
Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt in Ihrem Opus
magnum, das Sie auf den Weg gebracht haben. Sie wollen eine Vermögensabgabe für Millionäre.
({12})
Ich finde es klasse, dass Sie diese Forderung hier adressieren. Sie haben das wohlgefällige Nicken der Grünen
und auch der SPD an dieser Stelle vom Rednerpult aus
sicherlich zur Kenntnis genommen.
({13})
Wenn wir über das Thema Vermögensabgabe reden,
dann sollten wir auch über alle anderen steuerpolitischen
Pläne reden, die von der linken Seite des Parlaments verfolgt werden. Da geht es nicht nur um die Vermögensabgabe, sondern auch um eine höhere Erbschaftsteuer, eine
höhere Einkommensteuer und eine Substanzbesteuerung
im Rahmen der Gewerbesteuer.
({14})
Daran zeigt sich wieder einmal: Unsere Seite des Parlaments steht für eine kontinuierliche, gemäßigte Steuerpolitik.
({15})
Ihre Seite des Parlaments steht für eine Steigerung der
Steuereinnahmen bis zum Exzess. Aufgrund Ihres sozialistischen Weltbildes kann man vielleicht noch nachvollziehen,
({16})
dass Sie sagen: Die bösen Reichen werden jetzt geschröpft. - Nur, das Problem an der ganzen Sache ist,
dass es nicht nur um die „bösen Reichen“ geht, sondern
dass die meisten Steuern, die ich gerade genannt habe, in
irgendeiner Art und Weise mit Produktivvermögen - das
heißt auch mit Arbeitsplätzen - zusammenhängen.
Erklären Sie uns doch bitte einmal, wie die Liquidität,
die auf diese Art und Weise aus den Betrieben herausgezogen wird, ersetzt werden soll, und das in Zeiten, in denen wir von Unternehmen fordern, ihre Eigenkapitalquoten zu steigern, und in denen die Kreditversorgung
vielleicht nicht mehr so sicher ist, wie sie es einmal war.
Insofern freuen wir uns als christlich-liberale Koalition
wirklich darauf, diese steuerpolitische Auseinandersetzung in den nächsten anderthalb Jahren mit Ihnen zu
führen.
({17})
Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass die Menschen
in diesem Land sehen, was Sie wirklich wollen. Es ist
eine unheilige Allianz, die auf der linken Seite dieses
Saales sitzt. Insofern ist es gut, dass Sie Ihre Pläne einmal benannt haben.
({18})
Kommen wir zu einer weiteren Forderung, die Sie erheben. Sie sagen: Wir müssen die Leerverkäufe verbieten. Da frage ich mich, liebe Kollegen von den Linken:
Wo waren Sie im Mai und Juni letzten Jahres, als wir genau das gemacht haben? Diese christlich-liberale Koalition war die erste Koalition in der Geschichte Deutschlands, die genau dieses Thema angepackt hat, und zwar
sehr umfänglich.
({19})
Wir haben ungedeckte Leerverkäufe von Aktien und
Staatsanleihen verboten. Wir haben dafür gesorgt, dass
Credit Default Swaps, also Kreditversicherungen, nur
genutzt werden, um solche Risiken abzusichern, die tatsächlich mit Krediten unterlegt sind;
({20})
das wird von Ihnen, meine Damen und Herren, gemeinhin unterschlagen. Wir haben der BaFin ein scharfes
Schwert an die Hand gegeben. Wir haben der BaFin
nämlich gesagt: Ihr könnt alle Instrumente vom Markt
nehmen, die die Systemstabilität gefährden. - Das ist
also schon gemacht worden, Herr Troost.
({21})
- In Frankreich nicht.
Jetzt kommen wir zu einem wichtigen Punkt, Herr
Troost. Wenn Sie sagen: „In Frankreich nicht“,
({22})
dann könnten Sie in Ihrem Antrag doch vielleicht auch
einmal dezent darauf hinweisen,
({23})
dass Deutschland vorangegangen ist und dass sich der
Rest Europas momentan an der Blaupause, die wir auf
den Weg gebracht haben, orientiert.
({24})
Dementsprechend nehme ich mit Freude zur Kenntnis,
dass Sie in der Sozialistischen Internationale - sorry, in
der Kommunistischen Internationale - in Europa dafür
werben werden, dass dieses Gesetz auch in anderen europäischen Ländern Einzug hält. Ich kann den Kollegen
von der SPD nur empfehlen, sich genauso zu verhalten.
Es gibt ja irgendwo auch eine grüne europäische Bewegung; vielleicht bekommen die das auch hin. Manchmal
kann man auch von uns lernen. Das ist eine Sache, die
uns wirklich gut gelungen ist. Sie war bahnbrechend, genauso wie übrigens auch einige andere Gesetze, zum
Beispiel das Banken-Restrukturierungsgesetz.
({25})
Dann haben Sie noch adressiert, dass Sie den Hochfrequenzhandel bekämpfen müssen. Damit sind Sie auch
ein bisschen hinter der Zeit; denn auch dieses Thema ist
nicht neu.
({26})
Jetzt komme ich zum letzten Punkt in Ihrem Antrag.
Der ist ja geradezu rührend formuliert: Der OTC-Handel
soll geschlossen werden. Die Vorstellung ist: Ich habe
einen Laden und schließe den ab; ich schließe den OTCHandel. Ganz ehrlich: Der OTC-Handel wird reguliert
werden. Es gibt die EMIR-Initiative auf europäischer
Ebene. Diese Initiative wird maßgebend von der deutschen Bundesregierung unterstützt, ist also auch mit
deutschem Input auf den Weg gebracht worden. Ich
denke einmal, dass wir hier viel weiter sein werden als
viele andere Rechtssysteme in dieser Welt;
({27})
denn in diesen Rechtssystemen gibt es diese Regelung
noch nicht. Wir als christlich-liberale Koalition nehmen
uns zusammen mit unseren europäischen Partnern genau
dieses OTC-Handels an, und wir werden dafür sorgen,
dass das transparent ist. Wir werden hier eine Menge erreichen.
({28})
Ich komme zu Ihrer letzten Forderung. Das ist das
Rührendste und Naivste, was ich überhaupt gesehen
habe. Sie wollen den Ratingagenturen verbieten, Staatsanleihen zu raten, nach dem Motto: Das Ergebnis gefällt
uns nicht, deswegen verbieten wir es ihnen. Sie müssen
sich einmal überlegen, ob Rating vielleicht auch etwas
mit Meinungsfreiheit zu tun hat und ob wir nicht in einer
Welt leben, in der sich beispielsweise asiatische oder
amerikanische Investoren fragen, was eine Ratingagentur zu der Staatsanleihe sagt, die sie kaufen wollen. Nach
dem Vorschlag der Linken ist es dann so, dass gesagt
wird: Nein, dazu können wir nichts sagen, weil uns das
verboten worden ist. - Sie glauben doch wohl nicht, dass
es dann noch irgendeinen Investor aus Übersee geben
wird, der in europäische Staatsanleihen investiert. Das
ist der Gipfel der Naivität.
({29})
Jetzt komme ich langsam zum Ende meiner Ausführungen, und ich fasse das Ganze noch einmal zusammen:
({30})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist
schön und begrüßenswert, dass Sie europäische Initiativen starten. Es ist auch schön und begrüßenswert, dass
Sie versuchen, auf internationaler Ebene etwas zu erreichen. Aber auch für Vorschläge, die man zusammen mit
dem französischen und, wie ich gerade gehört habe, dem
tschechischen Parlament macht, gibt es gewisse Mindeststandards. Zu diesen Mindeststandards gehört - das
muss man sich vielleicht einmal überlegen -, dass man
seine Vorschläge ordentlich begründet - und das nicht
nur an drei Stellen - und dass man diese ganzen Dinge
auch in einen vernünftigen Zusammenhang stellt.
({31})
Sie wissen, meistens halte ich meine Reden hier ohne
Papier. Das fällt mir normalerweise auch leicht, weil hinter jedem Antrag, der hier eingebracht wird, eine Geschichte, ein Zusammenhang, eine Logik steht. Ich muss
ganz ehrlich sagen: Als ich mich heute Nachmittag auf
diese Rede vorbereitet habe, hatte ich wirklich Schwierigkeiten, ihre zusammenhanglos aneinandergereihten
Vorschläge irgendwie logisch zu ordnen.
({32})
Dementsprechend war es nicht ganz leicht, diese Rede
hier vorzubereiten, weil kein System ersichtlich ist.
Damit komme ich zu dem, was die christlich-liberale
Koalition macht.
({33})
Wir haben ein System und machen systematische Vorschläge. Vor allen Dingen machen wir Kärrnerarbeit, das
heißt, wir schauen uns die Gesetze an und beschäftigen
uns mit den Details und damit, dass Gesetze im Bereich
der Finanzmarktregulierung untereinander abgestimmt
sein müssen. Das ist nicht immer populär und viel Arbeit.
Sie von der Opposition machen hier Schauanträge.
Diese Schauanträge helfen uns überhaupt nicht weiter.
Das ist Folklore - nichts weiter. Nicht nur weil dieser
Antrag schlecht vorbereitet und geschrieben worden ist,
sondern weil wir auch inhaltlich nicht mit ihm übereinstimmen, werden wir diesen Antrag mit Freuden ablehnen.
({34})
Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. - Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten Kollege Manfred
Zöllmer. Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! „Und jetzt?“, fragte der Spiegel in
dieser Woche die Bundesregierung im Zusammenhang
mit der Euro-Krise. Eine Antwort haben wir bisher nicht
erhalten.
({0})
Eines können wir jedenfalls feststellen: Die sogenannte
Euro-Krise verschärft sich von Woche zu Woche.
({1})
Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank
spricht bereits von der größten Krise seit dem Zweiten
Weltkrieg. Doch nicht der Euro ist gescheitert, gescheitert ist die Krisenstrategie dieser Bundesregierung.
({2})
Auf Spiegel Online stellte Herr Münchau, immerhin
ein Experte für diese Fragen, in dieser Woche fest - ich
zitiere einmal wörtlich -:
Die Chance auf eine bezahlbare Euro-Rettung ist
vertan - und schuld ist die Bundeskanzlerin.
Angela Merkel wird uns alle ruinieren, weil sie mit
ihrem Zaudern die Krise verschärft. Jetzt hat sie nur
noch zwei politische Optionen: Bankrott oder Ruin.
Ich will nicht hoffen, dass Herr Münchau mit seinen
Schlussfolgerungen richtig liegt, aber bei der Beschrei17464
bung des Krisenmanagements dieser Bundesregierung
liegt er richtig, da hat er recht.
({3})
Diese Bundesregierung lief der Krise immer hinterher. Als der Baum schon brannte, räsonierte man immer
noch darüber, ob man nicht lieber elektrische Kerzen
statt Wachskerzen nehmen sollte.
({4})
Wir erinnern uns doch alle noch daran, wie sich die
Bundeskanzlerin von der Bild-Zeitung als eiserne Lady
hat feiern lassen. Ihr Motto: Kein Geld für Griechenland! Dann doch Geld für Griechenland. Aber keinen
Cent mehr, so Kollege Fricke von der FDP.
({5})
Da hatte er ja völlig recht; denn kurze Zeit später ging es
nun wirklich nicht um Cents, sondern um zusätzliche
Milliarden. Die Halbwertszeit der gebrochenen Beschwichtigungssprüche der Bundesregierung liegt schon
jetzt unterhalb von einem Monat. Eine so miserable Krisenstrategie hat dieses Land, hat der Euro wirklich nicht
verdient, und diese Stümperei geht leider immer noch
weiter.
({6})
Schauen wir uns ganz kurz die Situation bei der EFSF
an. Hier hieß es zuerst: Niemand hat die Absicht, den
Fonds zu hebeln. Zwei Tage später war klar: Er soll gehebelt werden, und es gab zwei Varianten. Jetzt zeigt
sich, dass man die Rechnung wohl ohne die Investoren
gemacht hat. Sie sind offenkundig nicht bereit, mitzuspielen. Diesen Eindruck hatten wir bei dem Besuch des
Finanzausschusses in Luxemburg bereits vor zwei Wochen.
Jetzt haben wir einen Rettungsfonds, der offensichtlich seine Aufgabe nicht erfüllen kann, weil zu wenig
Geld im Topf ist. Da fragt man sich: Wo ist eigentlich
der Plan B der Bundesregierung? Gibt es ihn? Man stellt
fest: Es gibt keinen. Alle denkbaren Alternativen werden
von der Bundesregierung mit Ekel, Abscheu und Empörung abgelehnt. Man will nun mit Vertragsänderungen
den Krisenbrand löschen - mit Vertragsänderungen, die
mehrere Jahre zu ihrer Umsetzung brauchen.
({7})
So wird die Bundesregierung ungewollt zum Totengräber des Euro.
({8})
- Ja, in der Tat, warten Sie ab. Es gibt inzwischen selbst
Minister, die das in Talkshows nicht mehr ausschließen. - Die Bundeskanzlerin ist auf dem Weg, zur großen
„Buhfrau“ in Europa zu werden. Das wundert einen auch
nicht angesichts dessen, dass von ihr die Forderung verbreitet wird: Am deutschen Stabilitätswesen soll die
Welt genesen.
({9})
„Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“,
hat Herr Kauder als CDU-Fraktionsvorsitzender freudestrahlend auf dem CDU-Parteitag verkündet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten heute
Morgen ein Gespräch mit griechischen Abgeordneten.
({10})
Ein griechischer Kollege sagte: Wir Deutsche müssten
uns entscheiden, ob wir ein deutsches Europa oder ein
europäisches Deutschland wollen. Da hat der Mann
wirklich recht.
({11})
- Das hat er wörtlich so gesagt.
({12})
Jetzt wollen wir uns einmal dem Antrag der Linken
zuwenden.
({13})
Jetzt wollen die Linken eine neue deutsch-französische
Initiative, sozusagen „Mercozy reloaded“, Deauville II.
Wir haben eben schon einmal gesagt, dass Plagiate unzulässig sind. Das sollten Sie sich eigentlich in diesem Zusammenhang überlegen.
Natürlich ist die deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa von großer Bedeutung. Aber es muss um
Zusammenarbeit gehen, nicht um Hegemonie und nicht
um Unterordnung.
({14})
Jetzt wenden wir uns dem Antrag der Fraktion Die
Linke etwas präziser zu.
({15})
Was wollen Sie uns mit diesem Antrag sagen? Meine
These ist: Sie wollen einfach darüber hinwegtäuschen,
dass Ihre Fraktion in Bezug auf Europa völlig gespalten
ist. Wenn man den Antrag liest, wird das sehr schön
deutlich; denn Einleitungsteil und Forderungsteil haben
überhaupt nichts miteinander zu tun. Im Einleitungsteil
heißt es markig: Der Euro ist gescheitert, und das Sixpack der EU sei - so wörtlich - „ein nicht hinzunehmender Angriff auf die Grundprinzipien der Demokratie“.
Jetzt würde der kundige Leser natürlich erwarten,
dass die Linken im Rahmen der Forderungen Alternativen zum Euro vorschlagen. Liest man die Forderungen
- der Kollege Brinkhaus hat sie eben hier seziert -, findet man nur das Übliche und in diesem Zusammenhang
gar nichts. Das ist Ihr Problem. Offenkundig haben sich
die Europafeinde im ersten Teil verbal austoben dürfen,
und die Realos haben sich dann im zweiten Teil bei den
Forderungen durchgesetzt.
({16})
- Sehr schön. - Wer soll Ihren Antrag eigentlich ernst
nehmen, wenn sich aus Ihrer Analyse überhaupt keine
Schlussfolgerungen ziehen lassen? Man kann zusammenfassend sagen: Die Linken wissen nicht, was sie
europapolitisch wollen, aber das mit ganzer Kraft.
({17})
Das Gleiche gilt für den Bereich der Krisenursachendiagnose. Laut Ihrem Antrag sind die deutschen Exporte
schuld an der Krise. Wörtlich heißt es:
Das bedeutet, dass der deutsche Exportboom und
die wachsenden Schuldenberge in Griechenland …
zwei Seiten derselben Medaille sind.
Herr Kollege Troost, Sie waren doch dabei, als der griechische Kollege heute Morgen gesagt hat: Wir Griechen
haben über unsere Verhältnisse gelebt.
({18})
- Das hat er gesagt. Das war auch richtig. - Diese Schulden ermöglichten es Griechenland, deutsche Produkte zu
kaufen.
({19})
Was wollen Sie eigentlich den deutschen Arbeitnehmern sagen, deren Arbeitsplätze vom Export abhängen?
Bei mir in der Region wird bis zu 70 Prozent der Produktion exportiert.
({20})
- Das ist letztendlich der Export.
({21})
- Herr Kollege Troost, hören Sie doch einmal zu, was
Ihre Parteivorsitzende, Frau Lötzsch, an dieser Stelle in
der letzten Woche in der Haushaltsdebatte ausgeführt
hat. Ich darf wörtlich zitieren:
Deutschland ist auf den Export in andere EU-Länder dringend angewiesen. Ein drastischer Rückgang
der Exporte würde uns heute noch härter treffen als
im Jahr 2008.
Da hat sie recht. Aber was gilt denn nun bei Ihnen?
({22})
Vielleicht können Sie erst einmal intern Ihre Position
klären, bevor Sie uns hier Anträge vorlegen. Machen Sie
doch erst einmal Ihre Hausaufgaben, dann können wir
über die Ergebnisse diskutieren.
Jetzt noch eine Schlussbemerkung an die Adresse der
Bundesregierung. Es muss endlich Schluss sein mit der
verfehlten Krisenpolitik. Nehmen Sie doch zur Kenntnis,
dass die Politik der kleinen Schritte bei der Euro-Krise
gescheitert ist. Was wir brauchen, ist ein vernünftiges
Krisenmanagement, das den Herausforderungen wirklich gerecht wird.
Vielen Dank.
({23})
Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. - Jetzt für
die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Volker Wissing.
Bitte schön, Kollege Volker Wissing.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir erleben jetzt in jeder finanzpolitischen
Debatte, dass sich die Sozialdemokraten hier hinstellen
und der Bundesregierung vorwerfen, sie hätte von Anfang an entschlossener bei der Stabilisierung der EuroZone handeln müssen. Herr Kollege Zöllmer, das, was
Sie sagen, wäre erträglich, wenn es nicht ein kleines Problem in dem Verhalten der Sozialdemokraten in diesem
Zusammenhang gäbe.
Wir haben, als wir das Euro-Rettungspaket für Griechenland geschnürt haben, hier im Deutschen Bundestag
eine sozialdemokratische Fraktion erlebt, die gezaudert
hat, die sich nicht zu Europa bekannt hat und die mit
ihrer kraftvollen Enthaltung nicht wusste, wohin sie will.
({0})
Als wir die ersten Stabilisierungsmaßnahmen auf den
Weg gebracht haben, haben sich die Sozialdemokraten in
ganz Europa blamiert.
({1})
- Sie müssen sich schon die Dinge anhören, die Sie
falsch gemacht haben. - Deswegen sollten Sie sich hier
nicht hinstellen und anderen sagen, dass sie engagierter
und couragierter hätten vorgehen müssen. Sie haben an
der entscheidenden Stelle gezaudert und sich nicht zu
Europa bekannt. Das werden Sie in der Geschichte der
Euro-Stabilisierung nicht mehr los.
({2})
Zur Steuerpolitik - das ist hier schon angesprochen
worden - haben die Grünen auf ihrem Parteitag erklärt:
Es muss massive Steuererhöhungen geben.
({3})
Wir brauchen die Einnahmen aus Steuererhöhungen für
alles Mögliche. Die Sozialdemokraten freut das sehr.
Auch sie klatschen bei Forderungen nach Steuererhöhungen starken Beifall. Zugleich beantragen Sozialdemokraten und Grüne im Bundesrat eine Senkung des
Steuersatzes für Ausflugsschifffahrten.
({4})
Sie müssen einmal der Öffentlichkeit erklären, wie das
zusammenpassen soll.
Nun zur Linken. Es ist schon interessant: Wir haben
in Europa eine Staatsverschuldungskrise. Die Haushalte
sind nach dieser schweren Wirtschafts- und Finanzkrise
in einem schrecklichen Zustand.
({5})
Die Schuldenstandsquoten liegen jenseits des Erträglichen. Dann sagen die Linken: Wir brauchen in Europa
jetzt keine Haushaltskonsolidierung, sondern wir brauchen einen Fonds für soziale, solidarische und ökologische Entwicklung, der mit neuen Schulden finanziert
werden soll. Sie müssen einmal der Bevölkerung erklären, wie man in dieser Situation mit einer so albernen
Lösung einen Beitrag zur Stabilisierung leistet.
({6})
Auf die Frage, woher das Geld für Ihren merkwürdigen
Fonds kommen soll, bleiben Sie jede Antwort schuldig.
Wollen Sie es sich an den Kapitalmärkten leihen? Wie
wollen Sie mit zusätzlichen Schulden für zusätzliche
Staatsausgaben das Vertrauen in die Euro-Zone zurückgewinnen? Das ist völlig irreal.
({7})
Ihr Antrag passt eher zu einer Märchenstunde, als
dass er irgendeinen Beitrag zur Stabilisierung der Situation leistet; der Kollege Brinkhaus hat schon darauf hingewiesen. Wenn Sie behaupten, die Lösung des Problems der Finanzmärkte könne darin liegen, dass man
private Banken verstaatlicht und zu öffentlichen Banken
macht, ignorieren Sie völlig, dass gerade die öffentlichen
Banken, die Landesbanken in Deutschland, ein größeres
Problem darstellten. Deswegen sollten Sie mit diesem
Märchen aufhören. Das mag zwar zu Ihrer Ideologie
passen, aber es passt nicht in die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Dann kommen Sie mit dem nächsten Märchen, der
Finanztransaktionsteuer. Sie können mit einer Finanztransaktionsteuer nicht diese Staatsverschuldungskrise
lösen. Sie können sie nur lösen, indem Sie die Haushaltskonsolidierung vorantreiben und eine neue Stabilitätsarchitektur in Europa errichten. Genau das tut die
Bundeskanzlerin mit der vollen Unterstützung der Koalitionsfraktionen, und dabei verfolgt sie einen ganz stringenten Kurs, was nicht einfach ist. Wenn Sie sich die
Mühe machen würden, die schwierigen Verhandlungen
auf europäischer Ebene zu verfolgen, statt solche Anträge zu schreiben, dann würden Sie sehen, wie erfolgreich die Bundesregierung vorankommt. Das ist nicht
einfach. Aber mit einem klaren Kompass, einem klaren
Kurs und einem klaren Bekenntnis zu Europa, und zwar
einem stabilen Europa, kommt die Bundesregierung hervorragend voran.
({9})
Kollege Dr. Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lisa Paus?
({0})
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Wissing, Sie haben gerade die Finanztransaktionsteuer angesprochen. Da mir bisher nicht bekannt
ist, welche Meinung Sie zu dem vorliegenden Entwurf
der Kommission zur Einführung der Finanztransaktionsteuer haben, und mir bisher auch nicht bekannt ist, dass
Sie sich aktiv dafür einsetzen, dass in Europa eine
Finanztransaktionsteuer eingeführt wird, bitte ich Sie,
meine folgenden Fragen zu beantworten: Wie bewerten
Sie den aktuell vorliegenden Entwurf? Welche Schritte
müssen Ihrer Meinung nach gegangen werden, damit wir
in Europa tatsächlich die Finanztransaktionsteuer bekommen? Welchen Beitrag leistet die FDP-Fraktion
dazu?
Zunächst einmal wissen Sie genau, welche Haltung
die FDP-Fraktion einnimmt. Denn CDU/CSU und FDP
haben im Deutschen Bundestag - ich gehe davon aus,
dass Sie die Themen verfolgen, die hier beraten werden einen gemeinsamen Antrag verabschiedet, in dem wir
eindeutig sagen, dass wir die Einführung einer FinanzDr. Volker Wissing
transaktionsteuer auf der Ebene der EU 27 unterstützen.
Das ist die Haltung der FDP-Fraktion.
Jetzt gibt es Vorschläge, die beinhalten, eine solche
Steuer auch unterhalb der Ebene der EU 27 einzuführen.
Wir sind skeptisch, weil wir die Befürchtung haben,
dass, nachdem wir, die CDU/CSU und die FDP, im Gegensatz zu Ihnen in Deutschland eine sehr starke Finanzmarktregulierung betrieben haben - Sie haben die
Märkte dereguliert -, bei Einführung einer solchen
Steuer die Finanztransaktionen aus Deutschland in weniger regulierte Märkten abwandern. Das kann nicht klug
sein; denn wir sehen voraus, dass wir dann die globalen
Finanzmarktrisiken schnell wieder im eigenen Land hätten. Deswegen ist es wichtig, Frau Kollegin, dass Sie
nicht vorschnell die Einführung einer Finanztransaktionsteuer nur in wenigen Ländern fordern, beispielsweise in
Deutschland und Frankreich, wie die Linke es tut, und
damit das Risiko eingehen, dass die Finanztransaktionen
vom dank CDU/CSU und FDP regulierten deutschen
Markt
({0})
in weniger regulierte Märkte abwandern.
Sie haben nun darauf gedrungen, dass im Finanzausschuss eine weitere Sachverständigenanhörung zu diesem Thema stattfindet. Dort hat man wieder Bedenken
gegen diese Steuer geäußert, weil es administrative
Schwierigkeiten gibt, die Gefahr von Verlagerung besteht und viele andere Fragen offen sind.
({1})
Wenn diese Steuer nicht in allen Ländern eingeführt
wird und die Besteuerung nach dem Sitzlandprinzip erfolgt, stellt sich beispielsweise die Frage, wie man dann
die Informationen von den Ländern bekommt, in denen
die Transaktionen stattfinden.
Sie machen sich leider nicht die Mühe, die Auswirkungen Ihrer Vorschläge auf die Bundesrepublik
Deutschland zu überdenken.
({2})
Wir müssen aber verantwortlich handeln.
({3})
Nachdem uns die Finanzmärkte von Rot-Grün in desolatem Zustand hinterlassen worden sind - unter anderem
wegen der von Rot-Grün vorgenommenen Deregulierung -,
({4})
können wir in Europa leider nicht so holzschnitzartig
Finanzmarktpolitik machen.
({5})
Deshalb handeln wir genau so, wie wir handeln. Wir machen das strukturiert und lassen uns auf die komplexen
Dinge ein. Wir setzen nicht wie Sie einen Vorschlag
nach dem anderen zu Steuererhöhungen in die Welt.
Keine seriösen Beiträge zur Haushaltskonsolidierung,
aber Steuern erhöhen!
({6})
Zu Ihrer Sondervermögensabgabe, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Linken. Sie bringen in dieser
Krise keinen vernünftigen Vorschlag, wie man auf der
Ausgabenseite sparen und den Haushalt konsolidieren
kann, aber gleichzeitig einen Vorschlag nach dem anderen zu neuen Staatsausgaben, die dann durch zusätzliche
Steuereinnahmen finanziert werden sollen. Dazu kann
ich nur feststellen: Bei einer Umsetzung Ihrer Vorschläge würde alles schlimmer, die Schuldenkrise würde
verschärft, die wirtschaftliche Situation von Unternehmen und Privaten in Deutschland würde sich verschlechtern und Arbeitsplätze würden gefährdet. Welchen Fortschritt das bringen soll, müssen Sie den Menschen in
Deutschland und auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Sie gewählt haben, erst noch erklären.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen endlich
auch damit aufhören, die Realität völlig auszuklammern;
das tut leider auch die SPD. Dabei wissen Sie, Herr Kollege Zöllmer, doch, dass CDU/CSU und FDP in
Deutschland die Avantgarde bei der Finanzmarktregulierung in Europa darstellen. Wir haben die Dinge sehr
schnell aufgegriffen. Inzwischen folgt uns Europa, und
das ist gut. Wir werden jetzt die Vorschläge abwarten,
die von der Kommission kommen, und diese dann national umsetzen.
({8})
Denn Vorhaben, die die Kommission aufgegriffen hat
und derzeit in eine Richtlinie umsetzt, dürfen wir - das
wissen Sie ganz genau - national gar nicht mehr aufgreifen. Deshalb kommen Sie leider mit Ihrer Forderung, wir
sollten endlich die Finanzmärkte regulieren, zu spät. Wir
haben das schon getan. Das, was Sie sich jetzt an zusätzlichen Dingen noch haben einfallen lassen, haben wir
schon auf europäischer Ebene vorangetrieben. Wir müssen jetzt warten, bis die Richtlinie kommt. Dann werden
wir sie umsetzen.
Wir regulieren die Finanzmärkte in Deutschland. Ihre
Hinterlassenschaften haben wir, soweit es ging, bereits
beseitigt. Wir werden weiter regulieren, nicht nur im
nationalen Alleingang, sondern auch mit unseren europäischen Partnern. Wir haben für Stabilität gesorgt.
({9})
Das, was Sie verursacht haben, wird sich nicht wiederholen.
({10})
Vielen Dank, Kollege Dr. Volker Wissing. - Nächste
Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Lisa Paus. Bitte
schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Wissing, Sie sagten gerade: „Wir haben für Stabilität gesorgt.“ Das kann ich heute, am 1. Dezember 2011, in der
Form nun wirklich nicht feststellen. Im Gegenteil, wir
befinden uns heute wieder in einer sehr zugespitzten
Lage. Wir mussten gestern alle miteinander wahrnehmen, dass es zur Stabilisierung der internationalen
Finanzmärkte wieder einmal notwendig war, dass die
Zentralbanken eine konzertierte Aktion durchführten.
({0})
Offenbar ist es so, dass der Interbankenmarkt schon wieder fast vollständig ausgetrocknet ist. Bei der Europäischen Zentralbank werden zurzeit wöchentlich 270 Milliarden Euro geparkt. In normalen Zeiten sind es
10 Milliarden Euro.
({1})
Heute findet parallel zu der Sitzung hier eine Grundsatzrede des französischen Präsidenten zur Schuldenkrise statt. Wir stehen am Vorabend einer Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Angela Merkel - wieder
einmal im Zusammenhang mit einer Zuspitzung der
Krise, wieder einmal in Vorbereitung des nächsten Krisengipfels. Man fragt sich, der wievielte es eigentlich ist.
Wir haben hier eine Debatte, sozusagen einen Schlagabtausch, erlebt, der sich im üblichen Rahmen bewegt
hat. Damit will ich mich jetzt nicht mehr aufhalten, zumal ich dazu gar nicht die Zeit habe. Außerdem besteht
morgen früh noch einmal Gelegenheit dazu, die gegensätzlichen Positionen in allen Details auszubreiten. Deshalb von meiner Seite zu Ihrem Antrag nur so viel: Darin
ist nicht alles falsch, aber, liebe Linksfraktion, wer die
Euro-Krise bekämpfen will, ohne einen einzigen Satz
bzw. einen einzigen Vorschlag zur Senkung der Staatsverschuldung zu machen, der wird nicht erfolgreich sein.
({2})
Ohne Senkung der Staatsverschuldung wird es wohl
nicht gehen, liebe Linkspartei.
({3})
Das haben wir jetzt noch einmal bestätigt bekommen.
Das ist aber wirklich jenseits der Debatte. Man muss
schon sparen und investieren. An einer Senkung der
Staatsverschuldung kommen wir nicht vorbei.
({4})
Ich möchte trotzdem am Ende dieser Debatte versuchen, zumindest potenzielle Gemeinsamkeiten zu finden. Davon gibt es nicht viele. Schon bei der Überschrift
des Antrages könnte man mit der Suche anfangen.
Grundsätzlich sehe ich zwei Gemeinsamkeiten:
Es ist erstens richtig, eine deutsch-französische Initiative zu fordern - ich sage das trotz unserer Kritik an vielem, was wir von „Merkozy“ erleben mussten -, da dieses Europa nur gerettet werden kann, wenn Frankreich
und Deutschland es gemeinsam vorantreiben; das sollte
in diesem Hause eigentlich unstrittig sein.
({5})
Ich verstehe vor diesem Hintergrund nicht, wie Herr
Kauder auf einem CDU-Parteitag sagen kann: Europa
spricht ab heute Deutsch.
({6})
Deutschland und Frankreich sollten vielmehr an einem
Strang ziehen. Dann kommt es zumindest zu DeutschFranzösisch und nicht zu Deutsch allein.
({7})
Eine zweite Forderung, bei der wir eigentlich an einem Strang ziehen sollten, ist tatsächlich die nach Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Auf diesem Gebiet ist lange wenig passiert.
({8})
Darüber hat es auch in Frankreich eine durchaus kontroverse Diskussion gegeben. Wir von der Opposition hatten jedenfalls den Eindruck, dass es im Sommer zu einem Durchbruch gekommen ist. Wir Grüne haben auch
sehr positiv zur Kenntnis genommen, wie die CDU/
CSU-Fraktion agiert hat, als Herr Semeta im Finanzausschuss gewesen ist. Wir dachten: Es geht jetzt voran;
jetzt gibt es einen konkreten Vorschlag der EU-Kommission. - Dieses Vorgehen wurde grundsätzlich begrüßt,
und zwar nicht nur auf Regierungsebene. Erstmals hat
dieses Haus die Bundesregierung nämlich aufgefordert,
diesen Vorschlag aktiv zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass er nicht wieder im Sande verläuft, sondern umgesetzt wird.
Frau Kollegin Lisa Paus, der Kollege Dr. Wissing
möchte Ihre Redezeit verlängern. Gestatten Sie eine
Zwischenfrage?
({0})
Ja, das ist nett.
Bitte schön, Herr Dr. Wissing.
Frau Kollegin Paus, wenn die Öffentlichkeit Ihnen
zuhört, stellt sie sich die Frage, weshalb es zu den Zeiten, als die Grünen zusammen mit den Sozialdemokraten
in Deutschland regiert haben, weder einen Vorstoß gab,
die Finanztransaktionsteuer auf nationaler Ebene einzuführen, noch einen Vorstoß der rot-grünen Bundesregierung, die EU-Kommission zu veranlassen, Vorschläge
für eine solche Steuer zu machen. Würden Sie der Öffentlichkeit bitte erklären, was die Gründe dafür sind?
Ein Grund war sicherlich, dass wir damals noch nicht
die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 hatten.
Ich kann Sie aber beruhigen: Meine Fraktion, die Fraktion der Grünen, hat sich schon damals dafür eingesetzt,
dass die Finanztransaktionsteuer eingeführt wird, und sie
hat diese Forderung auch entsprechend in der Koalition
eingebracht.
({0})
Wir dachten jedenfalls, das Ganze sei auf gutem Weg,
und deswegen hatten wir gewisse Hoffnungen an diese
Anhörung gestern geknüpft. Aber wir wurden wirklich
enttäuscht. Das war eine volle Rolle rückwärts der Koalition, und das ist grob fahrlässig. Die Koalition hat nicht
nur fast ausschließlich Gegner der Finanztransaktionsteuer eingeladen, sondern auch nur diese befragt,
({1})
und das in einer Art und Weise - Herr Präsident, ich
komme zum Schluss -, dass ein negativer Standard gesetzt wurde.
Die erste Frage von Herrn Flosbach ging an einen
Vertreter der Kreditwirtschaft und lautete: Wie bewerten
Sie den Kommissionsvorschlag? Direkt die Frösche gefragt
({2})
und gleich die entsprechende Antwort bekommen: Es
gibt eine Vielzahl von Problemen; das geht gar nicht. Aha, was für eine Überraschung!
({3})
Frau Paus, Sie haben mir gerade etwas versprochen;
vielleicht erinnern Sie sich.
Ja. - Mein vorletzter Satz. Die FDP machte in gleicher Manier weiter. Sie fragte Professor Kaserer: Ist der
Finanzsektor unterbesteuert? Antwort: Nein. - In dieser
Art und Weise fand die ganze Anhörung statt. Das gibt
es eigentlich gar nicht. Das war echte Arbeitsverweigerung.
({0})
Deswegen fordere ich Sie hier und jetzt noch einmal
auf: Ändern Sie Ihren Kurs! Das, was Sie machen, gibt
dieser Regierung keine Rückendeckung, sondern bewirkt das Gegenteil. Machen Sie endlich voran! Arbeiten Sie konkret an der Umsetzung der Finanztransaktionsteuer!
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Drucksache
auf Vorlage 17/7884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Sie sind also damit einverstanden. Dann
ist dies so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/6643 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/7994 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Michael Hartmann ({1})
Hartfrid Wolff ({2})
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen1). -
Sie sind damit einverstanden. Die Namen der entspre-
chenden Kolleginnen und Kollegen liegen hier im Präsi-
dium vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7994, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/6643 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
1) Anlage 6
Vizepräsident Eduard Oswald
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia KottingUhl, Hans-Josef Fell, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Moratorium jetzt - Dringliche Klärung von
Fragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts
- Drucksachen 17/6321, 17/7934 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Martin Neumann ({4})
Sylvia Kotting-Uhl
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der vorliegende Antrag ist ein neuerliches Beispiel
für die destruktive Haltung der Grünen. Alles muss erstmal gestoppt, verhindert oder beendet werden. Dieses
Vorgehen der Grünen ist bundesweit bekannt. Und auch
heute werden wir uns wieder damit beschäftigen müssen. Ich empfehle Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, sich einmal sachlich mit dem Thema
auseinanderzusetzen und eine konstruktiv-kritische Haltung einzunehmen. Dem wird Ihr Antrag nicht gerecht.
Aus folgenden Gründen:
Erstens: Sie fragen in Ihrem Antrag nach den Zeitverzögerungen durch Lieferschwierigkeiten in Japan. Die
Antwort: Inzwischen konnte eine Teillieferung der japanischen Komponenten durch Südkorea übernommen
werden. Dies begrenzt die Verzögerung auf ein Jahr. Somit wird die Fertigstellung nicht 2019, sondern 2020 erfolgen. Deshalb das ganze Projekt abzulehnen, ist absurd.
Zweitens: Sie verlangen in Ihrem Antrag Verbesserungen bei den Managementstrukturen der europäischen Agentur Fusion for Energy und eine transparente
Ausschreibungs- und Vergabepraxis. Zu Recht verlangen Sie dies. Die Bundesregierung hat hier den richtigen
Ansatz gewählt und auf Verbesserungen gedrungen.
Mittlerweile wurden, wie Sie in Ihrem Antrag korrekt
schreiben, das Management ausgetauscht und Kontrollund Überprüfungsmechanismen installiert. Außerdem
wurde ein Projektbegleiter etabliert, der die Auftragsvergabe kontrolliert und auch das Controlling verbessert. Insgesamt wurden die Gremien personell erheblich
umbesetzt. Die Forderungen der Bundesregierung sind
dabei weitestgehend umgesetzt worden. Daran müssen
wir weiter arbeiten. Ihre pauschale Abschaffungs- und
Verhinderungsstrategie ist dabei wenig hilfreich.
Drittens: die Auftragsvergabe. Zu Recht beschweren
Sie sich in der Begründung Ihres Antrages darüber, dass
deutsche Unternehmen bisher nur Aufträge im Wert von
28 Millionen Euro erhalten haben. Auch das ist jedoch
kein Grund, das ganze Projekt beenden zu wollen. Im
Gegenteil: Wir müssen uns für mehr Transparenz bei der
Auftragsvergabe einsetzen und deutsche Unternehmen
zur Beteiligung an Ausschreibungen auffordern. Mittlerweile gibt es bereits positive Meldungen. So konnten
deutsche Unternehmen auch bei Ausschreibungen der
internationalen Vertragspartner, also unabhängig von
Fusion for Energy, erfolgreich Aufträge akquirieren.
Viertens: die Kosten. Es ist richtig, die Kosten sind
gestiegen. Aber: Durch ein Moratorium, wie von Ihnen
gefordert, würden die Kosten noch weiter steigen. Ein
Projekt zu verzögern, spart nie Geld, im Gegenteil: Es
wird nur immer teurer. Außerdem müssen wir auch der
Realität Rechnung tragen. Natürlich war es sinnvoll,
den europäischen Beitrag nicht zuletzt auf Intervention
der Bundesregierung auf 6,6 Milliarden Euro zu deckeln. Aber es handelt sich hier schließlich um Spitzentechnologie mit höchsten Qualitätsansprüchen. Was
nützt es, wenn wir die Kosten reduziert haben, der Reaktor am Ende aber nicht funktioniert?
Zur seriösen Debatte um die Kosten gehören selbstverständlich auch die richtigen Zahlen. Natürlich will ich Ihnen nicht unterstellen, dass Sie die Kosten aufbauschen.
Aber bei dem Finanzierungsvorschlag der Kommission,
den Sie in Ihrem Antrag erwähnen, geht es nicht darum,
460 Milliarden Euro aus dem 7. Forschungsrahmenprogramm zu nehmen; es geht nur um 460 Millionen. Der
Unterschied zwischen Milliarden und Millionen sollte Ihnen schon bekannt sein. Nur dann kann man sich auch
kritisch zu den Kosten äußern.
Fünftens: Sie versuchen in der Begründung Ihres Antrags, die Kernfusion mit der Kernspaltung gleichzusetzen und sprechen auch von einer Endlagerproblematik.
Auch hier sollten Sie den Unterschied kennen: Kernspaltung und Kernfusion sind zwei völlig unterschiedliche Technologien bzw. Verfahren. Eine Endlagerproblematik gibt es bei der Kernfusion nicht.
Sechstens: Durch die Entwicklung der Kernfusionstechnologie entstehen Innovationen und Entwicklungen, die ohne diese Forschung kaum zustande gekommen
wären. Zahlreiche technologische Nebenprodukte und
Spin-off-fähige Entwicklungen sind durch die Kernfusion
entstanden. Dazu zählen Entwicklungen im Bereich der
Supraleiter, der Prallplatten, der Materialforschung, der
Fabrikationsprozesse, der Halbleitertechnologie, der Gesundheitsforschung, der Mikrowellentechnologie, der
Magnettechnologie, der Hochleistungsbremsen, der Luftund Raumfahrt und vieles mehr.
Siebtens: Es handelt sich hier um ein großes internationales Forschungsprojekt. Beteiligt sind außer der EuDr. Stefan Kaufmann
ropäischen Union auch China, Indien, Japan, Südkorea,
Russland und die USA. Ein Projekt von dieser Größe
und Bedeutung erfordert internationale Zusammenarbeit. Deshalb ist Verlässlichkeit gegenüber den internationalen Partnern wichtig.
Im Übrigen wurde der ITER-Vertrag in der rot-grünen Regierungszeit ausgehandelt. Die Grünen hätten
damals die Chance zum Ausstieg gehabt. Zumindest
aber hätten Sie verhindern können, dass der Vertrag gar
keine Ausstiegsmöglichkeiten für Euratom vorsieht.
Stattdessen haben Sie diesem Vertrag zugestimmt. Und
heute wollen Sie davon nichts mehr wissen. So geht es
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen!
Die wesentlichen im Antrag aufgeworfenen Fragen
sind damit beantwortet. Aus diesem Grund können wir
den Antrag der Grünen gut begründet ablehnen. Die
Strategie der Bundesregierung, die Defizite konstruktiv
zu beseitigen, ist allemal erfolgversprechender als die
Strategie der Grünen, gleich alles hinzuschmeißen. Darüber hinaus möchte ich der Grünen-Fraktion etwas
mehr Technologiebegeisterung nahelegen. Niemand
verlangt von den Grünen, dass sie technikverliebte Piraten werden, aber ein bisschen mehr Offenheit könnte
nicht schaden.
Bei der Kernfusionsforschung handelt es sich um
bahnbrechende Grundlagenforschung. Ich empfehle Ihnen daher eine Besichtigung des Versuchsreaktors Wendelstein 7-X in Greifswald. Es ist einfach faszinierend,
wie deutsche Forscher hier einen Fusionsreaktor nach
dem Stellarator-Prinzip aufbauen und bei jedem einzelnen Schritt auf keinerlei Erfahrung zurückgreifen können, weil es noch nie vorher ausprobiert wurde oder
überhaupt möglich war, so etwas aufzubauen. Die fortschrittlichste Technologie der Welt verbunden mit
höchster Präzision und begleitet von den besten Wissenschaftlern der Welt: Das ist ein faszinierendes Beispiel
für bahnbrechende Forschung. Besuchen Sie Greifswald! Ich kann es Ihnen nur empfehlen. Wir von der
CDU/CSU-Fraktion sind davon überzeugt, dass die Fusionstechnologie viele Zukunftschancen bietet. Lassen
Sie uns deshalb das ITER-Projekt weiterhin konstruktiv,
aber kritisch begleiten!
In meinem Wahlkreis in Garching befindet sich seit
1971 die größte Forschungsanlage für Kernfusion in
Europa, das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik,
auch IPP genannt.
Das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik ist nicht
nur das größte Forschungsinstitut auf diesem Gebiet, es
bearbeitet im Bereich der deutschen Fusionsforschung
gemeinsam mit den Instituten in Karlsruhe und dem
Forschungszentrum Jülich alle relevanten Fragestellungen, die auf dem Weg zu einem Fusionsreaktor zu lösen
sind.
Alle dort erzielten Ergebnisse fließen in die Planung
des internationalen Testreaktors ITER mit ein. Das IPP
verfügt hier also über ungeheures Wissenspotenial, das
es zu nutzen und zu fördern gilt.
In Garching arbeiten derzeit 650 hochqualifizierte
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Aufgabe, physikalische Grundlagen zu entwickeln, um
Energie aus der Verschmelzung von Atomkernen zu gewinnen.
Nach dem Vorbild der Sonne wird hier versucht, eine
Kernfusion von schweren und überschweren Wasserstoffkernen zu bewirken. Dabei könnte sehr viel Energie
gewonnen werden. Der Vorteil dabei ist, dass die benötigte Brennstoffmenge viel geringer ausfallen würde als
bei der Kernspaltung. So wäre eine schnelle Abschaltung des Reaktors, ohne Kettenreaktion oder ähnlichen
Leistungsanstieg wie bei der Kernfusion, die zum
„Durchgehen“ des Kraftwerks führen könnte, gewährleistet. Übrig bliebe bei einer Abschaltung das Edelgas
Helium zurück, das nicht radioaktiv ist und für industrielle Zwecke genutzt werden kann.
Die Forschungsanlage in Garching ist für das ITERProjekt Vorreiter. Es hat das „ITER Design“, das heißt -,
die Form und die Magnetfelder des Versuchsreaktors
entwickelt.
Das Forschungskraftwerk ITER soll in Zukunft zeigen, dass ein Energie lieferndes Fusionsfeuer möglich
ist und somit die Kernfusion kommerziell nutzbar gemacht werden kann. Gelänge dies, könnten wir damit für
die Zukunft auf eine sichere, umweltfreundliche und unerschöpfliche Energiequelle zurückgreifen.
Vorteil dabei wäre, dass bei der Kernfusion kein umweltschädliches CO2 und kein radioaktiver Müll entstehen würden. Damit wäre also in der Konsequenz auch
das leidige Problem der Endlagerung gelöst. Ein weiterer Vorteil: Solche Anlagen nehmen wesentlich weniger
Platz in Anspruch als Solar- oder Windkraftanlagen und
wären viel effizienter als alle derzeitigen Szenarien.
Fakt ist auch, dass die Fusion das Speicherproblem
lösen könnte, für das bis heute immer noch keine konstruktive Lösung gefunden wurde. Zudem würden Fusionskraftwerke in die vorhandene Struktur der Stromerzeugung passen. Wir haben die Energiewende eingeläutet,
und damit sollten wir auch konsequent und verantwortungsvoll in alle Richtungen forschen.
Ideologische Scheuklappen, wie sie vorzugsweise die
Kolleginnen und Kollegen der grünen Opposition tragen, sind hier fehl am Platz. Die Kernfusion kann hier
als sichere und saubere Alternative dienen.
Die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Die asiatischen Länder sind auf diesem Gebiet auf dem Vormarsch. In den letzten Jahren wurden neue Fusionsexperimente in China, Korea, Indien und Japan gebaut. Als
ITER-Partner haben diese Länder Zugang zu allen
Technologien, die beim ITER-Aufbau benötigt und entwickelt werden. China beispielsweise plant, bereits im
Jahr 2016 mit dem Bau eines Fusionskraftwerks zu beginnen. Es soll 2025 in Betrieb gehen und auch die Finanzierung scheint bereits gesichert. Hier dürfen
Deutschland und Europa auf keinen Fall den technologischen Anschluss verlieren. Denn Energieforschung ist
weitaus mehr als ein Instrument nationaler Politik. Hier
gilt es, die europäischen Anstrengungen zu bündeln. Ich
Zu Protokoll gegebene Reden
bin zutiefst davon überzeugt, dass mit der Fusionstechnik ein Quantensprung im neuen Energiezeitalter beginnen wird.
Kernargument im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
für ein Moratorium ist die Finanzierung des Projektes.
Die ITER-Finanzierung teilen sich EU, USA, Japan,
Russland, China, Indien und Südkorea. Sie wissen doch,
Forschungsprogramme kosten immer erst einmal Geld,
viel Geld. Das ist überall so. Die Bundesregierung ist
dennoch darauf bedacht, dass die Kosten auf europäischer Ebene nicht aus dem Ruder laufen. Deshalb wurden auch die Kosten entsprechend auf 6,6 Milliarden
Euro gedeckelt.
Die Fusionsforschungsarbeiten in Deutschland und
Europa und das Internationale Fusionsexperiment ITER
stehen für eine funktionierende internationale Zusammenarbeit in der Energieforschung. Das wollen und
können wir nicht durch ein Moratorium, wie im Antrag
der Grünen gefordert ist, aufs Spiel setzen: erstens weil
wir nicht alleine sind und weil es sich hier um eine internationale Kooperation handelt, in der wir als zuverlässiger Partner nicht wegfallen dürfen. Zum Zweiten ist
Deutschland auch nur mittelbar an dem Projekt beteiligt, denn Euratom ist der eigentliche Vertragspartner.
Drittens wären Moratoriumskosten oder gar Ausstiegskosten immens hoch, ohne dass etwas erreicht würde.
Deutschland hätte sich hier einmal wieder ins finanzielle und technologische Abseits katapultiert, seinen
technologischen Vorsprung verspielt und wichtige
Standorte verloren. Dies wird es mit uns allerdings nicht
geben. Deutschland muss ein wettbewerbsfähiger Industriestandort bleiben!
Die Debatte um ITER hat sich im Deutschen Bundestag, wie es die Kollegin Petra Sitte einmal ausdrückte,
zu einem wahren „Dauerbrenner“ etabliert. In regelmäßigen Abständen diskutieren wir in diesem Hause die
Themen Fusionsforschung, ITER und seit kurzem auch
vermehrt Euratom.
Bei ITER handelt es sich um ein gemeinsames Projekt
von EU, Japan, Russland, USA, China, Indien und Südkorea zum Bau und Unterhalt eines Fusionsforschungsreaktors. In diesem Reaktor sollen die Mechanismen, die
die Sonne aus menschlicher Sicht zu einer unerschöpflichen Energiequelle machen, mit einem Fusionsreaktor
auf die Erde geholt werden. Nach aktuellem Stand werden die Baukosten für ITER auf über 15 Milliarden Euro
geschätzt, was eine Verdreifachung der ursprünglichen
Kosten bedeutet. Ein Teil der Mehrkosten ist durch Inflation und steigende Rohstoffpreise bedingt. Weitere
Gründe für die Kostensteigerungen sind neue Erkenntnisse, insbesondere zur Steigerung der Sicherheit des
ITER sowie offenbar Missmanagement. Für die EU bedeutet dies einen Kostenanstieg auf circa 7,2 Milliarden
Euro, im Vergleich zu den 2,7 Milliarden Euro, die bei
Vertragsunterzeichnung vereinbart waren; ein Betrag,
der auf 6,6 Milliarden Euro gedeckelt werden soll.
Heute diskutieren wir den hier vorliegenden Antrag
der Grünen bereits zum zweiten Mal. Seit der ersten
Lesung im Juni hat sich leider an der finanziellen Problematik bei ITER wenig geändert. Die bisherigen Treffen zwischen den Vertretern des Rates und des Europäischen Parlaments sind ohne Erfolg verlaufen.
Der aktuell von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Finanzkompromiss für die Jahre 2011 bis
2013 ist bisher noch strittig. Das Europäische Parlament vertritt die Position, dass der europäische Forschungshaushalt ({0}) nicht noch stärker für
ITER belastet werden darf. Diese Meinung teilen wir als
SPD-Bundestagsfraktion. Neben dem Europäischen
Parlament haben aber auch im Europäischen Rat mehrere Länder ihren Unmut über den Vorschlag geäußert.
Am heutigen 1. Dezember tagt der sogenannte Trilog erneut zu dem Kompromiss. Ergebnisse sind mir bisher
noch nicht bekannt. Es bleibt also weiterhin unklar, wie
die fehlende Summe von 1,2 Milliarden Euro für die
nächsten Jahre gegenfinanziert werden soll.
Wir haben diese Problematik im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung immer
wieder gemeinsam diskutiert. Wichtig war für uns
Sozialdemokraten dabei die klare Aussage der Bundesregierung, dass die Obergrenze der Gesamtkosten von
6,6 Milliarden Euro nicht überschritten werden darf.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie in dieser Frage nicht einknickt.
Weniger vehement verteidigt diese Regierung aber
das 7. Forschungsrahmenprogramm, FRP. Nach einem
einstimmigen Ratsbeschluss können bis zu 660 Millionen Euro durch Umschichtung innerhalb der Rubrik 1 a,
aus der das Forschungsrahmenprogramm finanziert
wird, für ITER eingesetzt werden. In unserem Antrag
„Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen
Grundlagenforschung - Keine finanziellen Einschnitte
beim Europäischen Forschungsrat zugunsten des Einzelprojekts ITER“ haben wir dafür eine rote Linie gezogen. Nicht gespart werden darf aus unserer Sicht zum
Beispiel beim Europäischen Forschungsrat oder bei
Programmen für erneuerbare Energien. Welche Projekte
hingegen für diese Regierung unantastbar sind, darüber
schweigt sie sich bisher leider aus.
Die finanzielle Problemlage wird in dem uns vorliegenden Antrag der Grünen ausführlich dargestellt. Diesen Teil der Analyse teilen wir Sozialdemokraten ausdrücklich. In meiner Rede vom 30. Juni bin ich auf
diesen Teil des Antrages bereits intensiv eingegangen.
Aber wie in meiner Rede ebenfalls dargestellt, sehen wir
Sozialdemokraten das Mittel des Moratoriums in diesem
Fall als ein untaugliches Instrument. Denn eine akute
Gefahr für Leib und Leben besteht, anders als beim
Atommoratorium, bei ITER nicht. Außerdem weiß jeder
Häuslebauer, dass mit einer Bauunterbrechung leider
kein Kostenstopp einhergeht. Verträge müssen vielmehr
eingehalten und Gehälter weiter gezahlt werden. Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, aufgrund von
Kostenexplosionen ein Instrument vorzuschlagen, das
weitere Kosten verursacht, macht keinen Sinn. Ein
Moratorium ist für ITER deshalb das falsche Mittel.
Aber die gewünschte Diskussion haben Sie ja trotzdem
erreicht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch ein
anderes Thema ansprechen. Denn bei den Debatten um
die Fusionsforschung kommen immer wieder Behauptungen und Vergleiche auf, die ich so allerdings auch nicht
stehen lassen möchte. Bei aller gerechtfertigten Kritik an
dem Bau von ITER: Man darf Kernspaltung - gemeinhin
Atomkraft genannt - und Kernfusion nicht in denselben
Topf werfen. Zum Beispiel wäre eine Katastrophe wie in
Fukushima oder Tschernobyl - nach heutigem Wissensstand - bei einem Fusionsreaktor nicht möglich. Zur
Fusion benötigt man eine konstant enorm hohe Energiezugabe. Diesen Energiefluss lang genug zu halten ist
bisher das technische Problem. Fällt diese Energiezuführung weg, zum Beispiel bei einem Unfall, bricht
auch die Fusion ab. Denn anders als bei der Atomkraft
ist bei der Fusionstechnologie eine unkontrollierte Kettenreaktion unmöglich.
Ich sehe deshalb nicht die von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, beschriebene gesellschaftliche Ablehnung - analog zur Atomkraft - bei der
Fusionstechnologie. Wenn man mal nachfragt, wissen
die meisten Menschen noch gar nicht, was sich genau
hinter der Fusionstechnologie verbirgt. Das sollte sich
ändern. Abgelehnt wird das ITER-Projekt bisher vorwiegend aufgrund finanzieller Erwägungen. Dies impliziert aber nicht eine grundlegende Ablehnung der
Fusionstechnik.
Als SPD-Bundestagsfraktion sehen wir die Fusionsforschung als ein spannendes Feld der Grundlagenforschung. Für die notwendige Energiewende wird diese
Technik aber definitiv zu spät kommen. Deshalb treten
wir für eine Deckelung der Kosten und einen Ausbau der
erneuerbaren Energien ein.
Alle Jahre wieder beschäftigen wir uns mit dem
Wunsch der Grünen, aus dem ITER-Projekt auszusteigen. Im April 2010 haben sie beantragt, den ITER-Vertrag zu kündigen. Das hat die Mehrheit des Deutschen
Bundestages vor der Sommerpause 2010 abgelehnt. Im
Juni 2011 haben sie ein ITER-Moratorium gefordert, mit
diesem Antrag beschäftigen wir uns heute nochmals abschließend. Mit einer weiteren Variante im kommenden
Jahr rechnen wir bereits fest. Die Grünen sprechen in
ihren Anträgen aktuelle und wichtige Fragen an, zum
Beispiel die erheblichen Mehrkosten oder die Folgen
der japanischen Erdbebenkatastrophe in Fukushima. Im
Grunde geht es aber immer um ihre grundsätzliche Ablehnung des ganzen Projektes und der Kernfusionsforschung überhaupt. Es ist ihr gutes Recht, dagegen zu
sein. Probleme lassen sich mit dieser Haltung aber eher
nicht lösen.
Die Energieversorgung ist ein drängendes Problem.
Sie ist die Grundlage für die Erhaltung des Lebensstandards, den wir uns in Deutschland erarbeitet haben. Das
Thema Energieversorgung beschäftigt uns seit Jahrzehnten, und es ist kein Ende absehbar. Viele Möglichkeiten wurden erwogen, manche Wege ausprobiert, und
immer wieder zeigt die Erfahrung: Jede Technologie
birgt Chancen und Risiken, jeder Fortschritt zeitigt auch
unvorhergesehene Folgen, Vor- und Nachteile sind die
zwei Seiten einer Medaille. Es ist so banal, wie es
klingt - das gilt auch für ITER.
In ihren Anträgen weisen die Grünen auf Fehlentwicklungen und Risiken hin. Dass wir darüber debattieren, ist richtig und wichtig. Wenn die Kosten explodieren, wenn der Zeitplan nicht eingehalten wird, wenn
neue technologische oder sicherheitsrelevante Probleme
auftreten, müssen wir darauf reagieren, das ist überhaupt keine Frage.
Das Wichtigste ist aber die Frage nach dem Ziel,
denn es geht ja um die Sicherung der Energieversorgung
in der Zukunft. Die Gretchenfrage lautet deshalb: Kann
der Kernfusionsreaktor ITER ein Beitrag zur Sicherung
der zukünftigen Energieversorgung sein oder kann er
das nicht? Die Grünen verneinen diese Frage und lehnen deshalb das ITER-Projekt ab.
Wir Liberale halten die Nutzung der Kernfusion zur
Stromerzeugung im industriellen Maßstab nach wie vor
für eine faszinierende und vor allem für eine realisierbare Möglichkeit. Nach unserer Überzeugung lohnt es
sich, hier weiter zu forschen. Wir gehen davon aus, dass
die Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn sowie mit den USA, mit Russland, Japan, China,
Indien und Südkorea die beste Gewähr für einen Erfolg
dieses Projektes bietet. Wir weisen außerdem darauf hin,
dass deutsche Forschungsinstitute an ITER stark beteiligt sind, zum Beispiel das Institut für Plasmaphysik in
Garching, die Max-Planck-Gesellschaft und die Helmholtz-Forschungszentren Karlsruhe und Jülich. Forschungs- und Entwicklungsaufträge für die deutsche Industrie und die deutsche Fusionsforschung sind ein
Aspekt, der auch zu bedenken ist.
Die Probleme mit der Finanzierung sind allerdings
gravierend. Für die Mehrkosten in den nächsten zwei
Jahren wird derzeit auf europäischer Ebene eine Lösung
ausgehandelt, sie werden aber auf jeden Fall aus dem
EU-Haushalt bestritten. Die Verbesserung von Kontrollmechanismen und Managementstrukturen ist auf gutem
Weg. Ob nach der Katastrophe in Fukushima auch am
französischen Standort Cadarache Sicherheitskonzepte
angepasst werden müssen, wird von Experten geprüft.
Man sieht, die Probleme, die die Grünen in ihrem Antrag formulieren, sind bekannt und werden bearbeitet.
Wir Liberalen plädieren dafür, die Kernfusionsforschung weiter voranzutreiben und wir setzen uns dafür
ein, dieses wichtige Projekt zum Erfolg zu bringen. Den
vorliegenden Antrag lehnen wir daher ab.
Die Debatten zum geplanten Fusionsreaktor ITER
kommen einem vor wie „Die unendliche Geschichte“.
Und wer dieses berühmte Jugendbuch gelesen hat, der
weiß, dass die Handlung größtenteils in einer nichtrealen
Welt namens Fantasien spielt. In einer ähnlichen Welt
scheinen die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen zu
leben, die immer wieder die heile und vollkommene Welt
der Fusionsenergie preisen, so etwa der Kollege
Dr. Murmann in der ersten Debatte zum vorliegenden AnZu Protokoll gegebene Reden
trag: „Wenn diese Technik Marktreife erlangt, ist die
Kernfusion eine sichere, saubere, nahezu unerschöpfliche
und nachhaltige Energiequelle, die zudem noch grundlastfähig ist.“ Dieser Glaubensgrundsatz gilt bereits seit
den 60er-Jahren, und immer dauert es nur noch 30 bis 40
Jahre bis zur Marktreife der Technologie. Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wär!
Aber die Frage ist doch nicht, ob wir das Wünschenswerte ersehnen, sondern ob wir das Notwendige tun,
wenn man sich die äußerst komplizierten Verhandlungen
der Weltklimakonferenz in Durban ansieht, wenn man
sich ansieht, dass wir mit unserer Art der automobildominierten Mobilität zwei Drittel des geförderten Erdöls
einfach verbrennen, dass der Klimawandel zuerst in den
ärmsten Länder der Erde massive Schäden verursacht etwa in Bangladesch, Myanmar und Honduras.
Wenn man sich also ansieht, dass die industrialisierte
Welt trotz aller guten Absichtsbekundungen keine wirksame Antwort auf das Klimaproblem gefunden hat, dann
muss man ein unsicheres Projekt wie ITER zugunsten
des Notwendigen auf den Prüfstand stellen dürfen.
Nun steht nicht nur die praktische Seite des Projekts
vor immer neuen Hürden, sondern auch die finanzielle.
Vergangene Woche konnten sich Rat und Parlament erneut nicht darüber einigen, wie die allein bis 2013 fehlenden 1,3 Milliarden Euro aufgebracht werden sollen.
Heute sitzen Vertreterinnen und Vertreter beider Seiten
wieder zusammen. Die Bundesregierung hat sich, so war
es auch in der Presse zitierten internen Berichten zu entnehmen, klar geäußert: Andere Bereiche im EU-Haushalt müssen bluten, darunter auch die Etats für Forschung und Innovation. Bitte sagen Sie, liebe Frau
Forschungsministerin, dann mal konkret, was Sie aus
dem laufenden Forschungsrahmenprogramm für verzichtbar halten, damit Ihre Abwägungsentscheidung
hier im Parlament transparent wird. Sagen Sie bitte
dazu, dass auch deutsche Interessen an einer Rückzahlung von Agrarüberschüssen in dieser Entscheidung
eine Rolle spielen.
Die Probleme bei ITER treiben die europäische Energieforschung insgesamt in eine absurde Schieflage: Der
Europäische Verband für Windenergie rechnete jüngst
aus, dass die Atomenergie, darunter die Fusionstechnik,
mit mindestens 1,3 Milliarden Euro in 2012 durch die
EU gefördert werden soll, während für alle anderen
Energieträger inklusive Kohle lediglich 355 Millionen
zur Verfügung stünden, darunter lächerliche 24 Millionen für die Windenergie. 80 Prozent der Mittel gehen in
risikobehaftete Atomtechnologien.
Ist das die Prioritätensetzung, mit der wir schnell und
nachhaltig einen Ausbau und vor allem die Netzintegration der erneuerbaren Energien erreichen können? Insbesondere im Bereich der Wärmeerzeugung, aber auch
im Verkehrssektor sind wir weit von den angestrebten
Ausbauzielen entfernt. 2050 wollen wir 80 Prozent weniger CO2 ausstoßen. So spannend die Fusionsenergie ist,
sie wird nichts zur Erreichung dieses Ziels beitragen.
Ebenso wenig hilft sie bei der Lösung der Finanzund Wirtschaftskrise, die in vielen Ländern Arbeitslosigkeit und Armut bringt. Die dezentralen erneuerbaren
Energien haben in Deutschland gezeigt, dass sie ein
Jobmotor sein können, wenn sie richtig gefördert werden. Wir wären gut beraten, diese Erkenntnis auch in die
Beratungen auf der europäischen Ebene einzuspeisen,
anstatt immer nur weitere Rettungsschirme und Sparprogramme zugunsten von Kapitalanlegern zu verlangen.
Im Buch von der unendlichen Geschichte muss der
Held seinen starken Willen einsetzen, um aus der Fantasiewelt in die reale Welt zurückkehren zu können und
nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Dieser starke Wille zur
Vernunft sollte auch uns leiten. Das Projekt ITER muss
der hier geforderten grundsätzlichen und ergebnisoffenen Überprüfung unterzogen werden.
Der International Thermonuclear Experimental Reactor, ITER, ist ein prestigeträchtiges Projekt der
Grundlagenforschung. Wenn der ITER zur Grundlagenforschung zählt und hier die Freiheit der Wissenschaft
im Vordergrund steht, ist es unredlich, gleichzeitig damit
zu werben, man könne mit „ITER unendlich viel Strom
produzieren“. Auch nach intensiven Forschungsbemühungen seit den 1930er-Jahren steht bei der Kernfusion
bisher in den Sternen, ob mit der Technologie jemals
Energie produziert werden kann. Zusätzlich muss bei einer lösungsorientierten Forschung die Frage erlaubt
sein, warum am ITER mit Tokamak-Design festgehalten
wird, wenn die deutsche Fusionsforschung und die USA
lieber auf den Stellarator setzen. Die Kosten bei ITER
explodieren. Thomas Klinger, der IPP-Direktor und
Wendelstein-Projektleiter des Fusions-Stellarators in
Greifswald, attestiert dem ITER eine Neigung zum
„Plasma-Ausbruch“. Herr Klinger sollte wissen, wovon
er redet, schließlich ist Wendelstein 7-X das weltweit
größte und modernste Experiment seiner Art. Auch ohne
das Milliardengrab ITER blieben also die Superlative
wie auch die Vision von Energie aus irdischer Sonnenkraft für die, die glauben, das zu brauchen.
Das ITER-Projekt wird keine Lösung für die Energieprobleme der Zukunft sein, selbst wenn ITER im Jahr
2050 - und das wäre selbst für die Befürworter des Projekts ein optimistischer Zeithorizont - tatsächlich mehr
Energie liefern als verbrauchen würde. Denn die Nachhaltigkeitsziele, die wir für den Erhalt einer lebenswerten Erde bis dahin erreichen müssen, sind heute bereits
formuliert. Für dieses Ziel sind andere Maßnahmen erforderlich als ein Versprechen, im Jahr 2050 „unendlich
viel Energie“ produzieren zu können. Die Industrienationen müssen es bis 2050 längst geschafft haben, mit einem wesentlich geringeren Energiebedarf auszukommen. Die Weichen zum klimaverträglichen Wirtschaften
müssen heute gestellt werden. Dazu gilt es die Energiewende zu realisieren und Wege zu finden, Einsparung
und Energieeffizienz endlich zu praktizieren. Bis 2050
muss eine Umstellung der Energieproduktion auf
100 Prozent erneuerbare Energien erfolgt sein. Haben
wir das Ziel erreicht, brauchen wir keine Massen von
Energie mehr, die zudem noch immens teuer sein wird.
Auch für die heutigen Entwicklungs- und SchwellenlänZu Protokoll gegebene Reden
der ist die Kernfusion mit ihrer reaktorbedingten zentralen Struktur keine Option. Die Investitionen für den Bau
der komplizierten Fusionsreaktoren werden sie auch
nicht bezahlen können.
Der ITER bleibt ein Unikum. Einzigartig ist bei ITER
auch die vertraglich vereinbarte Idee, die einzelnen
Komponenten auf verschiedenen Erdteilen produzieren
zu lassen und dann am Standort Cadarache zusammenzubauen. Bei allen daraus für die Forschungszusammenarbeit resultierenden wertvollen Erkenntnissen ist
zu konstatieren: Was den Zeitplan und den Kostenrahmen angeht, ist dieses Experiment international bereits
gründlich gescheitert. Anders lassen sich die immensen
Kostensteigerungen des 2007 in Kraft getretenen Vertrages - auf das Dreifache - nicht deuten. Noch ist Zeit, den
Großteil der heute auf 16 Milliarden Euro geschätzten
Baukosten sinnvoller auszugeben. Schließlich ist auch
nach anderthalb Jahren Kenntnis der Finanzierungslücke von „gedeckelten“ 1,3 Milliarden Euro allein für
die Jahre 2012 und 2013 noch nicht klar, wie die Finanzierung der Mehrkosten nun erfolgen sollte und welche
Auswirkungen dies auf die nationalen Haushalte und die
Forschungsförderung der EU hätte.
Neuerdings sollen 572 Millionen Euro aus dem Agraretat 2011 für die Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen kommen. Auch die Verwaltungsausgaben - Rubrik 5 im EU-Haushalt 2011 - sollen um 243 Millionen
Euro geschrumpft werden. Damit bleibt es aber noch immer bei einer Umschichtung von 460 Millionen Euro aus
dem Forschungsetat. Zumindest ist jetzt klar, welche anderen Forschungsprogramme darum fürchten müssen,
für ITER um 100 Millionen Euro reduziert zu werden. Es
wird die gemeinsamen Technologieinitiativen treffen.
Gekürzt werden zum Beispiel ARTEMIS, also die Forschung an intelligenten Kleinstrechnersystemen in
Schlüsselbereichen, ENIAC, also das Forschungs- und
Entwicklungsprogramm der EU für die Nanotechnologie, Clean Sky, also die Entwicklung von rasch einsetzbaren umweltfreundlichen Luftfahrttechnologien, SESAR,
also die Forschung für das Flugverkehrsmanagement
der Zukunft und nicht zuletzt die Initiative „Innovative
Arzneimittel“. Zur Einhaltung des Kostendeckels wurde
beteuert, dass man die Managementprobleme bald im
Griff habe. Das Prestigeprojekt ist allerdings auf einer
Ebene angesiedelt, auf der es bisher keine Kontrollmechanismen gibt. Es wäre ja widersinnig, wenn das ITERCouncil beschließen würde, sich selbst und seine Aufgabe abzuschaffen.
Zumindest die EU versucht, sicherzustellen, dass effektive Kontrollmechanismen und funktionsfähige Managementstrukturen beim gemeinsamen Unternehmen
F4E geschaffen werden. Dazu soll jetzt auch die „Stelle
des Direktors des europäischen gemeinsamen Unternehmens für den ITER und die Entwicklung der Fusionsenergie“ neu besetzt werden. Immerhin besteht die Hoffnung, dass, wenn schon Milliarden in ein Experiment
mit ungewissem Ausgang investiert werden, wenigstens
der Rücklauf mit Vertragsabschlüssen für die Industrie
der Mitgliedstaaten klappt. Wir meinen: Forschungsund Technologieförderung geht besser und günstiger als
über ITER. Schon aus Haushaltsverantwortung gehört
das Projekt begraben.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7934, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/6321 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP
Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zum Beitrittsantrag
der Republik Montenegro zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EUKommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zur Empfehlung der
EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Montenegro
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Volker Beck ({1}), Marieluise Beck
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zur Empfehlung der
EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Montenegro
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Vizepräsident Eduard Oswald
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
- Drucksachen 17/7768, 17/7809, 17/7769,
17/8012 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Oliver Luksic
Thomas Nord
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen.1) -
Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 17/8012 zu drei Anträgen zu Stel-
lungnahmen des Deutschen Bundestages gemäß Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 10 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregie-
rung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksa-
che 17/7768 mit dem Titel: „Einvernehmensherstellung
von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag
der Republik Montenegro zur Europäischen Union und
zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober
2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das ist die Links-
fraktion. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemo-
kraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7809. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die
Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/7769. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
1) Anlage 5
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Optimierung der Geldwäscheprävention
- Drucksache 17/6804 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
- Drucksachen 17/7950, 17/8043 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Richard Pitterle
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke
vor.
Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde
für die Aussprache vorzusehen. - Sie sind damit einverstanden. Das ist so beschlossen.
Ich darf darauf hinweisen, dass wir im Anschluss
noch eine Reihe weiterer Abstimmungen durchzuführen
haben.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster in dieser Debatte hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Peter Aumer das Wort. Bitte schön, Kollege Peter
Aumer.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren
heute ein Gesetz, über das im Kern im ganzen Haus Einvernehmen besteht. Wir diskutieren über Geldwäsche
und Geldwäscheprävention. Ich glaube, wir haben bei
den Debatten im Ausschuss und den Berichterstattergesprächen gemerkt, dass wir uns im Ziel einig sind. Es
gibt in dem einen oder anderen Punkt divergierende
Meinungen. Aber das Ziel ist das Gleiche, nämlich dass
man den Gefahren der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung entgegenwirkt. Gerade in einer Zeit zunehmender Globalisierung und zunehmender Verflechtungen im internationalen Bereich ist es wichtig, dass man
Regelungen trifft, um die Unterstützung terroristischer
Maßnahmen durch illegale Finanzierungen zu unterbinden. In diesem Gesetz soll vor allen Dingen auch der Bereich der Kriminalität im E-Geld-Geschäft unterbunden
werden.
Geldwäsche bedeutet, dass illegal erwirtschaftetes
Geld zum Beispiel aus Drogenhandel in den legalen
Wirtschafts- und Finanzkreislauf fließt oder gar Terrorismus und viele andere kriminelle Aktivitäten finanziert
werden. All das wollen wir nicht. Die Bekämpfung der
Geldwäsche ist etwas, was uns nicht nur in Deutschland
eint, sondern auch von vielen anderen Staaten in dieser
Welt mitgetragen wird. Deswegen hat man eine gemeinPeter Aumer
same Organisation gegründet, die FATF, die sich dieser
Problematik im internationalen Bereich annimmt.
Wir diskutieren heute vor allem die Auswirkungen
der Prüfung Deutschlands durch die FATF. Durch diese
Prüfung sind einige Defizite aufgedeckt worden, die wir
in Deutschland beheben müssen. Aus dem FATF-Bericht
habe ich mir zwei Zitate herausgesucht, die verdeutlichen, warum wir diesen Gesetzentwurf vorlegen.
Das eine Zitat lautet: Viele Indikatoren deuten darauf
hin, dass Deutschland anfällig für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung ist, auch aufgrund seines großen
Wirtschafts- und Finanzplatzes sowie seiner strategischen Lage in Europa und einer starken internationalen
Verflechtung.
Das zweite Zitat, das einen Lösungsansatz in sich
birgt, lautet: Wichtige Faktoren, dass Deutschland das
Risikoprofil für Geldwäsche reduzieren kann, sind seine
starke rechtliche Tradition, die Rechtsstaatlichkeit, das
politische Umfeld und eine effektive Finanzaufsicht.
Ich glaube, wir haben an vielen Dingen, die ja zum
Teil auch bei der Anhörung genannt wurden, gemerkt,
dass die Schlussfolgerungen der FATF richtig sind. Wir
werden gemeinsam mit großer Mehrheit die Konsequenzen aus diesem Bericht ziehen.
({0})
Einige Zahlen, die aktuell vom Bundeskriminalamt
veröffentlicht worden sind, zeigen, wie hoch das Gefahrenpotenzial der Geldwäsche in unserem Land ist. Im
Jahre 2010 stieg die Zahl der Verdachtsfälle um 22 Prozent auf insgesamt 11 042; das ist vor allem einer verstärkten Sensibilisierung der Betroffenen zu verdanken.
Bei 44 Prozent dieser Meldungen wurden Straftaten konkret nachgewiesen. Etwa 90 Prozent der Verdachtsmeldungen wurden von Finanzinstituten gemeldet. Andere
Institutionen und Personen, für die wir heute Regelungen treffen, sind für die Gefahren der Geldwäsche noch
nicht so stark sensibilisiert, vor allem nicht die Güterhändler.
Ein anderer wesentlicher Punkt: Die Internetkriminalität nimmt verstärkt zu. Allein im Jahr 2010 hatten wir
in Bayern 22 900 Fälle, von denen 500 dem Bereich der
Geldwäsche zugerechnet werden konnten.
Mit diesem Gesetz werden, wie vorher schon angesprochen, die Empfehlungen des FATF-Berichts umgesetzt. Die Dritte EG-Geldwäscherichtlinie, über die im
Moment in Europa diskutiert wird, wird sicherlich in
dieses Gesetz einfließen. Frau Paus, Sie haben eben das
Zitat von Volker Kauder kritisiert: Europa spricht
deutsch. - Dieses Zitat kann man sicherlich in vielerlei
Facetten deuten. Mit dem Gesetz zur Geldwäsche, das
wir heute beschließen werden, sind wir sicherlich auch
Vorbild in Europa. Zumindest wir in Deutschland ziehen
Konsequenzen und erlassen Regelungen, die schärfer
sind als in anderen europäischen Ländern.
Wir haben das Unsere zu tun und das Ganze umzusetzen. Hier hapert es sicherlich noch - deswegen schütteln
Sie sicherlich den Kopf, Herr Dr. Schick -, aber es ist
unsere gemeinsame Aufgabe, dieser Umsetzung gerecht
zu werden und die Feinjustierung vorzunehmen.
Zu den wesentlichen Punkten, die wir in diesem Gesetz geändert haben - im Vergleich zum Regierungsentwurf der Bundesregierung haben wir einige Entschärfungen vorgenommen -, gehören vor allem die Regelungen
im E-Geld-Bereich. Die Schwellenwerte wurden verändert. Durch die Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie ist das in Deutschland bereits Gesetz geworden. Bisher galt Null als Schwellenwert. In vielen Gesprächen
- auch mit Unternehmen aus der Wirtschaft - hat man
jedoch festgestellt, dass man im E-Geld-Bereich die
Möglichkeit gewährleisten muss, ohne Identifizierungen zu arbeiten. Wir haben uns darauf geeinigt, einen
Schwellenwert von jeweils 100 Euro pro Monat bei nicht
aufladbaren und wiederaufladbaren Karten einzuführen.
Das ist ein Wert, der nicht geldwäscherelevant ist, der
aber trotzdem die Möglichkeit bietet, ohne Identifizierung im Geldverkehr - im Internet und bei anderen Zahlungsmöglichkeiten - tätig zu werden. Wir haben durch
ein Pooling-Verbot sichergestellt, dass mehrere Karten
nicht zusammengefasst werden können; das birgt sonst
ein größeres Risikopotenzial in sich. Darüber hinaus haben wir sichergestellt, dass beim Cash-out ab einem
Schwellenwert von 20 Euro eine Identifizierungspflicht
besteht.
Der E-Geld-Emittent muss die technische Umsetzbarkeit dessen gewährleisten, was wir gesetzlich vorgeben.
Mithilfe der BaFin und der Aufsichtsstrukturen in unserem Land muss dafür gesorgt werden, dass diese Identifizierungsvorschriften eingehalten werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der in diesem Gesetz
stark verändert worden ist, ist die Bestellung des Geldwäschebeauftragten. Hier weichen unsere Änderungsvorschläge sehr stark von dem ab, was die Bundesregierung vorgelegt hat. Wir verfolgen natürlich dasselbe
Ziel, für Geldwäsche stärker zu sensibilisieren und das
Bewusstsein - auch in Unternehmen im Nichtfinanzsektor - zu schärfen. Wir wollen aber nicht, dass in unserem
Land zusätzliche Bürokratie aufgebaut wird und dass die
Unternehmen zusätzlich belastet werden. Das ist ein Anliegen, mit dem wir als Regierung angetreten sind. Dies
wird durch die Änderungen der Regelung zur Bestellung
eines Geldwäschebeauftragten gewährleistet. Die bisher
vorgesehene Regelung, die an die Anzahl der Arbeitnehmer anknüpft, entfällt.
Die Bestellung eines Geldwäschebeauftragten ist bei
Nichtgüterhändlern nur dann erforderlich, wenn der Verpflichtete Finanzunternehmer oder Betreiber einer Spielbank ist. Die anderen Verpflichteten werden hiervon
grundsätzlich freigestellt. Jedoch obliegt es den Aufsichtsbehörden, die Bestellung eines Geldwäschebeauftragten anzuordnen. Das ist vor allem bei den Personengruppen erforderlich, bei denen ein hohes Geldwäscherisiko vorhanden ist: bei Edelmetallhändlern, bei Unternehmen, die mit Schiffen, Kfz und Flugzeugen handeln,
oder in Branchen, bei denen die Aufsichtsbehörden der
Ansicht sind, dass dort ein Geldwäschebeauftragter installiert werden sollte. Dem kann nicht nur die christlichliberale Koalition, sondern dem können sicherlich auch
die anderen Fraktionen in diesem Hohen Hause zustimmen.
Weiterhin haben wir Regelungen für sogenannte politisch exponierte Personen auf den Weg gebracht, also für
Personen, bei denen großes Risikopotenzial besteht. Das
gilt insbesondere für diejenigen, die ihr Amt im Ausland
ausüben. Die Regelung sieht ein zweistufiges System
vor, das normale und erhöhte Sorgfaltspflichten vorsieht.
Normalen Sorgfaltspflichten unterliegen die inländischen
Abgeordneten wie die Bundestagsabgeordneten und die
Europaabgeordneten. Erhöhten Sorgfaltspflichten unterliegen diejenigen, die ihr Amt im Ausland ausüben. Sie
werden verstärkt kontrolliert.
Ich möchte noch einmal kurz auf die wesentlichen
Punkte eingehen. Mit diesem Gesetz zur Geldwäscheprävention haben wir einen weiteren Schritt getan in
Richtung einer verstärkten, zusätzlichen Optimierung
des Kampfes gegen Geldwäsche, der vor allem der organisierten Kriminalität vorbeugt, der aber nicht unnötig
Bürokratie schafft. Das ist ein wesentliches Ziel, dem
wir mit dem Gesetz, das wir heute mit großer Mehrheit
dieses Hauses verabschieden werden, sicherlich näherkommen werden. Es muss uns gemeinsam gelingen, dass
Bund und Länder verstärkt Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche auf den Weg bringen. Wir haben
bei den Berichterstattergesprächen - dabei saßen auch
Ländervertreter mit am Tisch - gemerkt, dass uns das
Ziel eint und wir einen gemeinsamen Weg gehen.
Ein wesentliches Element - das steht zwar nicht im
Gesetz, ist aber vereinbart - ist, dass wir als Bundestag
beim Forum für Geldwäscheprävention mitarbeiten dürfen. Das ist uns vom BMF zugesagt worden. Das ist,
glaube ich, ein schönes Signal, gemeinschaftlich dem
Ziel der Geldwäscheprävention näherzukommen. Ein
weiteres zusätzliches Element, das auf Vorschlag der
Oppositionsparteien eingeführt worden ist, besteht darin,
nach drei Jahren eine Evaluierung dieses Gesetzes vorzunehmen. Wir wollen uns dann gemeinsam ansehen,
wie die Regelungen wirken und ob man dem Ziel gerecht geworden ist, der Geldwäsche in unserem Land
vorzubeugen.
Ich bitte Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren:
Stimmen Sie diesem Gesetz zu, damit wir gemeinsam
dem Ziel, das wir uns gesetzt haben, nämlich der Geldwäsche vorzubeugen, gerecht werden können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Kollege Peter Aumer. - Als Nächster
hat unser Kollege Ingo Egloff für die Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön, Kollege Ingo
Egloff.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Sachen Medienaufmerksamkeit ist Geldwäsche
sicherlich kein Gewinnerthema. Darüber wird eher selten berichtet. Vielleicht ist es auch unangenehm für ein
Land wie die Bundesrepublik Deutschland, sich damit
zu befassen. Der Zeitpunkt der Debatte zeigt, dass das
Interesse wahrscheinlich eher gering ist. Dennoch ist das
Problem - darauf hat der Kollege Aumer zu Recht hingewiesen - in Deutschland akut. Die FATF hat uns das
ins Stammbuch geschrieben. Die Bundesrepublik ist ein
ökonomisches Schwergewicht mit einem starken Finanzsektor, international stark vernetzt und geografisch
zentral gelegen. Das sind auch aus krimineller Sicht
Standortvorteile, um illegales Vermögen anzulegen.
Ein Anfang Oktober veröffentlichter Bericht über die
organisierte Kriminalität in der Europäischen Union
stellt fest, „dass die organisierte Kriminalität in einigen
Mitgliedstaaten Politik, öffentliche Verwaltung und legale Wirtschaft tiefgreifend und massiv unterwandert
hat“. Es wird befürchtet, „dass es denkbar ist, dass eine
ähnliche Unterwanderung auch in den übrigen Ländern
der Europäischen Union stattgefunden und dadurch die
organisierte Kriminalität an Macht und Einfluss gewonnen hat“. Es wäre naiv, anzunehmen, dass Deutschland
nicht ebenfalls Ziel derartiger Bestrebungen dieser
Kreise ist. Deswegen ist es, glaube ich, wichtig, heute
gemeinsam ein Signal zu setzen, dass wir uns mit aller
Macht dagegen stemmen wollen, dass Deutschland zu
einem Ort wird, an dem Leuten, die kriminelle Motive
haben, gestattet wird, ihr Geld hier sozusagen sauber zu
machen.
({0})
Der Weg zu diesem Gesetz war ein wenig schwierig.
Es hat viele Berichterstattergespräche gegeben. Kaum
hatte das Vorhaben das Licht der Öffentlichkeit erblickt,
hagelte es Kritik aus den Reihen der Wirtschaft, aber
auch von Verbraucherorganisationen und Datenschützern. Einwände kamen auch aus den Reihen der Länder.
Das Problem besteht darin, dass die Länder in erheblichem Maß für die Umsetzung der gesetzlich vorgesehenen Aufsicht zuständig sind. Deswegen ist es, glaube
ich, gut, dass wir uns Zeit genommen haben, über das
Gesetz intensiv zu beraten. Außerdem ist es gut - der Titel des Gesetzes lautet ja „Gesetz zur Optimierung der
Geldwäscheprävention“ -, dass wir das Wort „Optimierung“ ernst genommen und uns gemeinsam bemüht haben, etwas Sinnvolles hinzubekommen.
An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich beim
Kollegen Aumer für die faire und konstruktive Zusammenarbeit und beim Bundesfinanzministerium dafür bedanken, dass es uns jederzeit mit Rat und Tat zur Seite
gestanden hat.
({1})
Ein auf Prävention angelegtes Gesetz wie das Geldwäschegesetz kann nur dann Wirkung zeigen, wenn es
gelingt, die Menschen auf dem vorgesehenen Weg mitIngo Egloff
zunehmen und sie zu überzeugen, dass die mit dem Gesetz verbundenen Maßnahmen notwendig und effizient
sind; sie müssen auch verständlich und anwendbar sein.
Gerade im Nichtfinanzsektor gibt es hier Defizite. 2010
- darauf hat der Kollege Aumer hingewiesen - gab es
11 000 Verdachtsanzeigen bei der FIU. Davon kamen
92 Prozent aus dem Finanzsektor. Das heißt, nur 8 Prozent kamen aus dem Nichtfinanzsektor. Aber auch Spielbankbetreiber, Makler, Anwälte und Betriebe, die mit
hochwertigen Gütern wie Schmuck, Luxusuhren und
teuren Autos handeln, müssen sich der Tatsache bewusst
sein, dass ihre Geschäfte für Geldwäscher attraktiv sind.
Wenn aus dem zahlenmäßig starken Bereich der Güterhändler 2010 nur 33 Verdachtsanzeigen gekommen sind,
dann offenbart das meines Erachtens eine gefährliche
Schieflage. Wir haben hier gesagt: Verdachtsanzeigen
sind nicht gleich Strafanzeigen. Ich hoffe, damit haben
wir die Schwelle für diejenigen, die einen Verdacht haben, herabgesetzt, sodass sie - wozu sie gesetzlich verpflichtet sind - leichter den Weg zu den Behörden finden
und sagen, was vielleicht nicht in Ordnung ist.
Gleichzeitig ist es wichtig, die beschlossenen Regelungen auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und die
internationalen Standards zielgerichtet weiterzuentwickeln. Schließlich ist die Umsetzung der Anti-Geldwäsche-Richtlinie und des entsprechenden Gesetzes für die
Unternehmen häufig mit arbeits- und kostenintensiven
Prüfverfahren verbunden. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn man bestimmte Vorgänge genau analysieren
und Missbrauch verhindern will, dann muss man eben
genauer hinschauen. Deswegen war unser Bestreben bei
diesem Gesetz, einerseits so effektiv wie möglich zu sein
und andererseits überflüssige Bürokratie zu vermeiden.
({2})
Ich denke, es hat durchaus seine Berechtigung, dass
bestimmte Dinge vonseiten der Wirtschaft, der Banken
und der Versicherungen sowie politisch exponierter Personen kritisiert worden sind. Im Forum für Geldwäscheprävention müssen wir auf die Wirksamkeit der Maßnahmen achten, aber auch darauf, ob Aufwand und
Output in einem angemessenen Verhältnis stehen. Es
wird in Zukunft unsere Aufgabe sein, gemeinsam mit
dem Ministerium und den entsprechenden Behörden darauf zu achten, dass hier kein Missverhältnis entsteht.
Wir dürfen uns nicht mit der Aussage beruhigen, wir hätten doch alles getan, obwohl die Maßnahmen in Wahrheit gar nicht effektiv sind, weil sich überhaupt keine
neuen Erkenntnisse ergeben. Vielmehr verursacht man
dann im Zweifelsfall nur erhebliche Kosten bei den Unternehmen, die diese Maßnahmen umsetzen müssen.
Der Kollege Aumer hat bereits die Bestimmungen
zum E-Geld angesprochen. Ich denke, dass wir mit den
Schranken, die wir eingezogen haben - auch mit der
100-Euro-Grenze - ermöglichen, auch im unteren Bereich Geldkarten ohne Identifikation zu nutzen. Der
Schwellenwert von 100 Euro und das damit verbundene
Pooling-Verbot sind unseres Erachtens wirksame Maßnahmen, um auf der einen Seite unnötige Bürokratie zu
vermeiden und auf der anderen Seite die Nutzung dieser
Karten, beispielsweise im Bereich von Sportstadien,
auch in Zukunft zuzulassen.
Auf die Regelung zur Bestellung eines Geldwäschebeauftragten haben Sie bereits hingewiesen, Herr Kollege Aumer. Es ist richtig, vom Gefahrenpotenzial und
nicht von der Anzahl der Mitarbeiter auszugehen; denn
auch die Geschäfte von Leuten, die vielleicht nur vier
Mitarbeiter beschäftigen, können ein hohes Gefahrenpotenzial bergen. Uns kommt es darauf an, diesen Gefahren zu begegnen. Deswegen ist der Ansatz, den wir
hier gemeinsam gefunden haben, richtig.
({3})
Lassen Sie mich noch auf Folgendes hinweisen: Der
Onlinebereich entwickelt sich weiter. Im nächsten Jahr
wird das Bundesland Schleswig-Holstein Onlineglücksspiele zulassen. Wir haben im Berichterstattergespräch
auch darüber geredet und sind übereingekommen, dass
wir uns das sehr genau anschauen und hier die Notwendigkeit besteht, im Hinblick auf Geldwäsche präventiv
tätig zu werden; auch das ist ein Bereich, in dem kriminelle Aktivitäten möglich sind. Deswegen sind wir verpflichtet, zu kontrollieren.
({4})
Meine Damen und Herren, insgesamt handelt es sich
hier, wie immer bei der organisierten Kriminalität, um
das alte Hase-und-Igel-Spiel. Wir müssen versuchen,
vorn zu sein. Arbeiten wir weiterhin gemeinsam daran!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Ingo Egloff. - Jetzt spricht für
die Fraktion der FDP Kollege Björn Sänger. Bitte schön,
Kollege Björn Sänger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße auch den Kollegen Fricke auf der Tribüne.
Das heißt, die Abgeordneten stellen 50 Prozent der Zuhörer.
({0})
Vollkommen richtig, Herr Präsident. - Das Thema
Geldwäsche erfreut sich zu Recht einer großen Beliebtheit, auch zu diesem späten Zeitpunkt am Abend. Das ist
richtig; denn Geldwäsche - es ist mir wichtig, das gleich
zu Beginn festzuhalten - ist ein krimineller Akt. Es handelt sich dabei um Einnahmen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität - zum Teil aus widerlichen Vorta17480
ten wie Drogen- und Menschenhandel sowie Umweltdelikten - oder um einen Vorgang, nicht versteuertes
Einkommen weißzuwaschen. Auch das ist ein krimineller Akt; denn am Ende werden die ehrlichen Steuerzahler belastet. Wenn alle ehrlich ihre Steuern abführen
würden, müssten sie insgesamt weniger entrichten. Deswegen ist die Geldwäschebekämpfung notwendig. Darüber besteht im Parlament breiter Konsens. Wir wollen
die Vorgaben der FATF und der EU erfüllen und auch
Schaden von der deutschen Wirtschaft abwenden, damit
unser Land nicht auf bestimmten Listen der OECD erscheint.
Gleichzeitig haben wir ein grundsätzliches Problem.
Wir leben in einer Marktwirtschaft mit Bargeldverkehr.
Es gibt Wirtschaftsbereiche, in denen es völlig normal
ist, dass mit Bargeld gezahlt wird. Die entsprechenden
Branchen sind gefährdet. Denn wie soll der Einzelhändler beispielsweise im Schmuckbereich erkennen, ob vor
ihm ein Geldwäscher steht? Es könnte möglicherweise
auch ein zukünftiger Stammkunde sein,
({0})
der gerade zum ersten Mal in das Geschäft kommt und
eine hohe Summe in bar zahlt. Es geht darum - die Bundesregierung hat das freundlicherweise zugesagt -, weiterhin aufzuklären; denn unser Ziel ist es, die Geldwäsche zu bekämpfen.
Wir müssen in der Wirtschaft Akzeptanz schaffen.
Das ist uns dahin gehend gelungen, dass wir die sehr bürokratischen Vorgaben zur Bestellung eines Geldwäschebeauftragten entschlackt haben. Wir räumen der
Aufsicht nun, was die Gesamtwirtschaft angeht, einen
weiten Ermessensspielraum ein. Sie soll sich an Betriebsgröße und Gefahrengeneigtheit des jeweiligen Betriebes orientieren. In gefährdeten Branchen - Handel
mit hochwertigen Maschinen, Gebrauchtwagenhandel,
Schmuck- und Juwelenhandel - muss es einen engen Ermessensspielraum geben. Es ist wichtig, dass die Aufsicht ein entsprechendes Fingerspitzengefühl entwickelt.
Ich bin mir sehr sicher, dass die Länder das entsprechend
umsetzen werden. Wir haben mit den Regelungen zur
Bestellung eines Geldwäschebeauftragten gemeinsam
eine sehr gute Lösung erarbeitet.
({1})
Das zweite große Problem bei der Bekämpfung der
Geldwäsche stellen die E-Geld-Produkte dar. Dieser Bereich ist für Geldwäsche anfällig. Man kann mithilfe der
Cash-out-Funktion zu Bargeld kommen, mit mehreren
Karten Beträge poolen - zumindest bislang - und auch
Mittel ins Ausland abziehen. Aber die E-Geld-Produkte
sind auch ein Teil einer boomenden Wirtschaft, einer digitalen Welt und Ausdruck eines veränderten Konsumverhaltens. Es besteht der berechtigte Wunsch der Konsumenten, in der Internetwelt mit einem Produkt, das
ähnlich wie Bargeld funktioniert, zu zahlen und den einen oder anderen Kauf anonym zu tätigen. Wir haben
eine Lösung gefunden, indem wir die E-Geld-Produkte
gleichstellen. Das heißt, wir unterscheiden nicht mehr
zwischen aufladbaren E-Geld-Produkten und einmaligen
E-Geld-Produkten. Wir haben vereinbart: Bei einem aufladbaren Betrag von bis zu 100 Euro pro Kalendermonat
- ich denke, das ist ein vernünftiger Schwellenwert;
auch in der Realwirtschaft werden Rechnungen bis zu
dieser Grenze in der Regel mit Bargeld beglichen - muss
man sich nicht identifizieren. Man kann dieses Produkt
also flexibel nutzen. Gleichzeitig haben wir ein PoolingVerbot vorgesehen. Es gibt keine Möglichkeit mehr, Bargeld, das den Schwellenwert von 20 Euro übersteigt, von
der Karte herunterzuziehen. Ferner haben wir Level
Playing Fields für alle Emittenten erreicht.
Es gab einen Aufschrei der Lobby. Ich fand es schon
putzig, als ich in großen Zeitungen las, dass man aufgrund dieser Lösung keine Reise mehr für 1 200 Euro im
Internet buchen könne. Man müsse quasi ein Jahr lang
monatlich 100 Euro auf die Karte laden und sparen, bevor man im Internet eine solche Reise buchen könne.
Dazu muss ich sagen: Diejenigen, die das vortragen, haben es nicht verstanden. Das ist auch intellektuell grenzwertig. Erstens. Ich kann mich im Internet ganz einfach
identifizieren und kann dann auch mehr als 100 Euro pro
Kalendermonat aufladen. Dann habe ich im Prinzip ein
Guthabenkonto. Bei jedem normalen Girokonto muss
man sich bei der Bank identifizieren. Zweitens. Es wäre
relativ blödsinnig, eine Reise anonym im Internet zu buchen. Der Reiseveranstalter sollte schon wissen, wen er
mitnimmt. Wenn man die Buchung anonym vornimmt,
ist das schlechterdings nicht möglich.
Fazit: Wir haben mit diesem Gesetz für alle Bereiche
eine sinnvolle Lösung gefunden.
({2})
Wir haben einen breiten Konsens. Aufgrund der vorgesehenen Evaluierung - das ist der Ausblick - werden wir
dieses Gesetz weiter begleiten, um es noch besser zu machen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner für die
Fraktion Die Linke ist unser Kollege Richard Pitterle.
Bitte schön, Kollege Richard Pitterle.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Unter Geldwäsche versteht man die Einschleusung illegal erwirtschafteten Geldes in den legalen
Wirtschaftskreislauf, erwirtschaftet zum Beispiel durch
Drogen-, Waffen- oder Frauenhandel.
Wie sieht es in Deutschland aus? Ich zitiere aus dem
Handelsblatt vom 8. November dieses Jahres:
Was die Schweiz und Liechtenstein für Steuerhinterzieher sind, ist Deutschland für Geldwäscher: ein
Paradies.
({0})
Das muss sich ändern, schon allein deshalb, weil die Dimension immens ist. Geldwäscheexperten gehen davon
aus, dass allein in Deutschland zwischen 40 und 60 Milliarden Euro aus kriminellen Handlungen gewaschen
werden. Dass die Geldwäsche bekämpft werden muss,
steht also außer Frage.
({1})
Wenn wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten, dann, weil wir ihn für verbesserungsbedürftig halten. Erster Punkt. Nach dem Gesetzentwurf sind die Spielgerätebetreiber von den Meldepflichten ausgenommen, obwohl uns die Fachleute sagen, dass dort Tag für Tag in großem Stil Geld gewaschen wird.
Zweiter und wichtigerer Punkt. Unternehmen, die mit
Gütern handeln, können von Behörden verpflichtet werden, einen Geldwäschebeauftragten zu bestellen; das ist
hier schon gesagt worden. Dieser Beauftragte hat die
Pflicht, den Behörden zu melden, wenn er den Verdacht
hat, dass es im Umfeld seines Betriebes zu Geldwäsche
kommt. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist jedoch,
dass die Koalition im Gesetz dem Beauftragen keinen
Sonderkündigungsschutz gewährt. Mit Sicherheit wird
es passieren, dass der Geldwäschebeauftragte in Loyalitätskonflikte gegenüber dem Arbeitgeber kommt. Da hat
er im Betrieb den Verdacht, dass einer der Kunden sein
Geld illegal erwirtschaftet hat und es nun durch Einkauf
von Waren und Dienstleistungen des Betriebes waschen
will. Aber der Geschäftsführer sagt ihm, dass er nichts
melden soll, weil er sonst diesen wichtigen und zahlungskräftigen Kunden verliert. Wenn sich der Beauftragte dann so verhält, wie wir es von ihm erwarten, und
den Verdacht meldet, dann muss er um seinen Arbeitsplatz fürchten. Das ist absolut unakzeptabel.
({2})
Es geht beim Kündigungsschutz für den Geldwäschebeauftragten gar nicht mal so sehr um Arbeitnehmerfreundlichkeit. Dass ich diesbezüglich von der Koalition
keine Unterstützung erwarten kann, ist mir klar. Aber da
ich unterstelle, dass es uns allen darum geht, ein effektives Instrument zur Geldwäschebekämpfung zu haben,
geht es doch darum, diesen Beauftragten mit einer Konfliktfähigkeit auszustatten, damit er das leisten kann, was
wir alle von ihm erwarten. Der Abfallbeauftragte, der
Emissionsschutzbeauftragte, der Datenschutzbeauftragte,
alle haben einen Sonderkündigungsschutz, weil der Gesetzgeber wusste, dass sie bei ihrer Aufgabenerfüllung in
Interessenkonflikte kommen können, die nicht zulasten
der gesetzlichen Aufgabenerfüllung gelöst werden sollen. Warum wollen Sie den Beauftragten für Geldwäsche
schlechterstellen? Dafür gibt es doch überhaupt keinen
Grund. Auch Empfehlung 16 der FATF besagt, dass der
Beauftragte vor negativen Folgen seiner Tätigkeit zu
schützen ist. Daher sagen wir: Ein Sonderkündigungsschutz für Geldwäschebeauftrage ist unerlässlich.
({3})
Ein gutes Gesetz nutzt nicht viel, wenn nicht sichergestellt ist, dass es zur Anwendung kommt. Auch da
liegt vieles im Argen. Weniger als 1 Prozent der in
Deutschland gewaschenen Gelder sind bislang beschlagnahmt worden, sagt uns Jürgen Stock, Vizepräsident des
Bundeskriminalamts. Es hapert an der Umsetzung in den
Ländern. Ich zitiere erneut das Handelsblatt:
Auch heute regiert in den Ländern das Chaos: In jedem Bundesland ist eine andere Behörde zuständig.
Zudem sind die Aufsichtsbehörden hoffnungslos
unterbesetzt.
Ich habe leider nichts dazu gehört, wie Sie das ändern
wollen. Wer die Geldwäsche effektiv bekämpfen will,
muss mehr tun, als nur Gesetze ändern, er muss auch
staatliches Handeln organisieren.
Ich werde aufgefordert, zum Schluss meiner Rede zu
kommen. Schließen möchte ich mit Johann Wolfgang
von Goethe:
Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muss
auch tun.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Pitterle. - Jetzt für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard
Schick.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Zum Abschluss dieser Debatte will ich begründen, warum wir diesem Gesetzentwurf trotz unserer kritischen
Perspektive auf Ihr Handeln insgesamt in diesem Bereich zustimmen. Man muss sich bei einem Gesetz, das
seit 18 Jahren nicht umgesetzt wird, fragen, ob eine Verschärfung überhaupt Sinn macht. Denn wenn es in seiner
alten Fassung nicht greift, wird es in seiner neuen möglicherweise auch nicht greifen, wenn es erneut Umsetzungsmängel gibt. Wir sehen jetzt ein paar Ansatzpunkte
dafür, bei der Umsetzung ein Stück voranzukommen.
Wir haben versucht, genau das beim Gesetzgebungsprozess ins Zentrum zu rücken. Wir wollen jetzt die Möglichkeiten schaffen, als Parlamentarier in Zukunft stärker
auf die Umsetzung zu achten; denn da besteht eines der
größten Defizite.
({0})
Ein großes Problem ist, dass auf Landesebene unterschiedliche Institutionen zuständig sind. Nehmen wir als
Beispiel den Bereich der Immobilienmakler. Hierfür ist
in Bayern das Innenministerium zuständig, in BadenWürttemberg das Regierungspräsidium, in RheinlandPfalz die Kreisverwaltung und in Berlin die Senatsverwaltung für Wirtschaft. In jedem Bundesland ist eine andere Behörde zuständig, sodass niemand weiß, wer wofür zuständig ist. Die einzelnen Behörden agieren auch
völlig unterschiedlich. Bisher funktioniert die Umsetzung des Gesetzes - einige Beispiele, die dies deutlich
zeigen, sind schon genannt worden - insbesondere im
Finanzbereich nicht. Das Gesetz wird kaum angewendet,
weil die einzelnen Verwaltungen kein Interessen daran
haben und weil die verpflichteten Händler bisher überhaupt nicht aufgefordert werden, systematisch zur Lösung dieses Problems beizutragen; teilweise verfolgen
sie auch entgegengesetzte Interessen.
Wir haben deswegen erstens großen Wert darauf gelegt, dass wir als Abgeordnete in dem neu geschaffenen
Geldwäscheforum wirklich mitwirken und darauf achten
können, dass das Nebeneinander und das Nichthandeln
der Behörden an dieser Stelle beendet wird. Wir in
Deutschland müssen Geldwäscheprävention endlich ernst
nehmen.
({1})
Zweitens ist uns wichtig - auch hier sind wir vorangekommen; die Bundesregierung hat uns hierzu im Ausschuss Zusagen gemacht -, dass es eine Evaluierung geben wird, und zwar durch eine Institution, die selber
nicht mit der Umsetzung beauftragt ist. Es wird also jemand überprüfen, ob das, was wir hier tun, wirklich
greift. Das wird sehr wichtig sein; denn wir müssen damit rechnen, dass die FATF Deutschland erneut abmahnen wird. Nach der schallenden Ohrfeige im letzten Jahr,
wo ganz viele kritische Punkte vor allem aufgrund der
Umsetzungsmängel genannt worden sind, ist nach Verabschiedung des Gesetzentwurfes nicht unbedingt damit
zu rechnen, dass wir sofort ein positives Votum bekommen. Vielmehr wird in den nächsten Jahren eine intensive Weiterentwicklung dieses Gesetzes notwendig sein.
Ich will noch kurz auf den Änderungsantrag eingehen, den die Linkspartei vorgelegt hat. Ich muss sagen:
Die Tatsache, dass beide Redner von den Koalitionsfraktionen nicht dazu Stellung genommen haben, zeigt - genauso im Ausschuss -: Ihre Gegenargumente sind denkbar schwach. Es ist einfach nicht einzusehen, dass der
Beauftragte für den Datenschutz gesetzlich geschützt ist,
aber beim Geldwäschegesetz ein entsprechender Schutz
verweigert wird. Wenn man die Umsetzung sicherstellen
will, dann muss man dafür sorgen, dass die Zuständigen
ihre Arbeit wirklich machen können. Das verweigern Sie
an der Stelle. Das wird ein Defizit bleiben, an dem wir
nach wie vor dranbleiben müssen.
({2})
Trotzdem ist dieses Gesetz ein Schritt in die richtige
Richtung.
Aber ich möchte es hier ganz deutlich sagen: Es ist
ein Schritt, der ein paar Defizite abbaut. Zu einer wirklich konsistenten Gesamtstrategie von Bund und Ländern in Deutschland braucht es aber noch wesentlich
mehr, da braucht es eine andere Prioritätensetzung und
auch ein anderes Engagement im Bundesministerium der
Finanzen. Was es an der Stelle jedoch nicht braucht, ist,
dass man an einer anderen Stelle, nämlich zum Beispiel
mit einem Steuerabkommen mit der Schweiz, denjenigen, die in Deutschland Geldwäscheprävention leisten
sollen, auch noch die Hände bindet. Dies muss schon zusammenpassen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick.
Ich schließe die Aussprache.
Zur Abstimmung liegt eine Erklärung von unserem
Kollegen Norbert Schindler nach § 31 Abs. 1 der Ge-
schäftsordnung des Deutschen Bundestages vor.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Optimie-
rung der Geldwäscheprävention. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Druck-
sachen 17/7950 und 17/8043, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6804 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/8015 vor, über den wir zuerst
abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? -
Das sind die Linksfraktion, die Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine.
Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemo-
kraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dage-
gen? - Niemand. Enthaltungen? - Die Linksfraktion.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü-
nen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Nie-
mand. Stimmenthaltungen? - Die Fraktion Die Linke.
Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine Normalisierung der Beziehungen der
Europäischen Union zu Kuba
- Drucksachen 17/3188, 17/4273 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
1) Anlage 3
Vizepräsident Eduard Oswald
Sevim Dağdelen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Maurer, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freilassung der „Miami Five“
- Drucksache 17/7416 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Mit ihrem Antrag „Für eine Normalisierung der Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba“ möchte
die Fraktion Die Linke erreichen, die Beziehungen der
Europäischen Union zu Kuba zu normalisieren. Die
erste Lesung zu diesem Antrag fand bereits vor über einem Jahr statt. Dieses eine Jahr ist für verfolgte und inhaftierte Menschen und deren Angehörige eine lange
Zeit. Bedauerlicherweise hat sich in dieser Zeit die Situation der Menschen auf Kuba nicht zum Positiven geändert. Es besteht daher kein Grund, dem Antrag der
Linken zuzustimmen und unsere Position gegenüber dem
Regime auf Kuba zu ändern.
Wir haben es noch immer mit einem der totalitärsten
Systeme der westlichen Hemisphäre zu tun, in dem die
bürgerlichen und politischen Rechte stark eingeschränkt
sind. Regierungskritiker werden inhaftiert; freigelassene Häftlinge berichten, dass sie während der Haft geschlagen worden seien. Die kubanische Bevölkerung leidet nach wie vor unter erheblichen Einschränkungen
ihrer persönlichen Freiheit. Es gibt weiterhin keine
Pressefreiheit. Das Recht auf freie Meinungsäußerung
ist genauso stark beschnitten wie das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Nach wie vor hindert
die Einschränkung der Bewegungsfreiheit Journalisten,
Menschenrechtsverteidiger und politisch engagierte
Bürger an der Ausübung rechtmäßiger und friedlicher
Aktivitäten.
Kurz nachdem wir im Oktober vergangenen Jahres
zum ersten Mal über den Antrag der Linken beraten haben, fand in Straßburg die Verleihung des vom Europäischen Parlament verliehenen Sacharow-Preises für
geistige Freiheit statt. Preisträger war der unabhängige
Journalist und politische Dissident Guillermo Farinas.
Er war der dritte kubanische Regimekritiker seit 2002,
der diesen Menschenrechtspreis erhielt. Wie im Falle
seiner beiden Vorgänger blieb auch sein Stuhl bei der
Preisverleihung leer, weil die kubanischen Behörden
sich weigerten, ihm die Ausreise zu genehmigen. Meine
Damen und Herren von den Linken, haben Sie dies nicht
zur Kenntnis genommen? Sind Sie sich der Wirkung Ihres Antrages auf Menschenrechtsverteidiger in der ganzen Welt eigentlich bewusst? Erwarten Sie tatsächlich,
dass Menschen, die auf Kuba ihr Leben für ihre Freiheit
aufs Spiel setzen, Verständnis dafür haben, dass der
Deutsche Bundestag ein so undemokratisches und menschenverachtendes System wie das kubanische mit einer
„Normalisierung der Beziehungen“, wie Sie dies fordern, belohnt?
In Kuba hat die Bevölkerung keinen Zugang zu unabhängigen Informationsquellen. Die Behörden sperren
nach wie vor den Zugang zu Internetseiten von Bloggern
und Journalisten, die der Regierung kritisch gegenüberstehen. Sobald regierungsabweichende Publikationen
im Internet erscheinen, werden die Urheber unwürdiger
Verfolgung ausgesetzt.
Ein sehr interessantes Dokument aber hat die staatliche Presse der kubanischen Öffentlichkeit nicht vorenthalten, nämlich das Geburtstags-Glückwunschschreiben
Ihrer beiden Parteivorsitzenden, Gesine Lötzsch und
Klaus Ernst, an den Mann, der die Verantwortung für
50 Jahre Unterdrückung, Folter, wirtschaftlichen Niedergang und Unfreiheit in allen Lebensbereichen trägt.
Dem „lieben Genossen Fidel Castro“ versichern Ihre
beiden Spitzengenossen ihre „unverbrüchliche Freundschaft und Solidarität mit dem kubanischen Volk“. Sie
sprechen von „beispiellosen sozialen Errungenschaften“ und von Kuba als „Beispiel und Orientierungspunkt für viele Völker der Welt“. Wer einen brutalen
Diktator so verherrlicht, der beleidigt die Tausenden
und Abertausenden Gefangenen und Gequälten dieses
Gewaltregimes.
Mit Kuba als Beispiel und Orientierungspunkt für
viele Völker der Welt können Sie bestimmt nicht die arabischen Staaten gemeint haben, in denen reihenweise
gegen diktatorische Herrschaftsstrukturen aufbegehrt
wurde und noch aufbegehrt wird. Wenn Sie sich auf Länder wie Nordkorea oder einige afrikanische Staaten beziehen, dann geht es den Kubanern vergleichsweise gut.
Hier muss man sich aber dann die Frage stellen, ob dies
der Maßstab eines demokratischen Parlaments, einer
demokratischen Regierung und demokratischer Parteien sein kann.
Motor des Eintauschens des „Gemeinsamen Standpunktes“ der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gegen ein bilaterales Abkommen mit Kuba war die spanische Regierung. Sie
stand, wie die Abstimmung im Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen der Union in
Luxemburg im Oktober des vergangenen Jahres zeigte,
damit aber ziemlich allein. Mit der überwältigenden Abwahl der Regierung Zapatero am Sonntag vergangener
Woche hat die kubanische Regierung ihren einzigen
Fürsprecher unter den Regierungen Europas verloren.
Deutschland und die Europäische Union stehen an
der Seite des kubanischen Volkes. Das zeigt das vielfältige Engagement der Europäischen Union in Kuba. In
den 20 Jahren von 1993 bis 2013 werden insgesamt
mehr als 200 Millionen Euro EU-Mittel nach Kuba geflossen sein, um die Not der dortigen Bevölkerung zu lindern. Die Europäische Union hat sich immer flexibel
gezeigt, wenn Naturkatastrophen die Karibikinsel heim17484
gesucht haben. Ich bin mir sicher, dies wird auch weiterhin der Fall sein.
Es ist bedauerlich, dass nicht das gesamte Hohe Haus
an der Seite des notleidenden kubanischen Volkes steht.
Es ist beschämend, wie die Linke sich in Solidaritätsbekundungen mit den politischen Führern des unterdrückten kubanischen Volkes übt.
Wir von der CDU/CSU lehnen den Antrag der Linken
ab und befinden uns damit in guter Gesellschaft mit den
Regierungen in Europa. Wir lehnen es ab, die Situation
auf Kuba schönzureden. Es sind aufseiten Kubas keine
Anhaltspunkte zu erkennen, die ein Entgegenkommen
Europas rechtfertigen würden. Die Menschenrechtssituation ist nicht besser als vor einem Jahr. Eine Normalisierung der Beziehungen, wie sie in dem Antrag der
Linken gefordert wird, wäre unseres Erachtens das falsche Signal an die kubanische Führung. Wir werden deshalb dem Antrag der Linken nicht zustimmen.
Mit ihren Anträgen zu den Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba beweist die Fraktion der Linken
wieder einmal mehr, dass sie in der heutigen Zeit noch
nicht ganz angekommen ist. Ohne die Öffnung Kubas
hin zu einem rechtsstaatlichen und demokratischen System werden die existenziellen Probleme dieses Landes
nicht gelöst. Insbesondere die weit verbreitete Armut
und die hohe Zahl der Arbeitslosen im Land können
durch das politisch wie wirtschaftlich gescheiterte kubanische Modell nicht überwunden werden. Zwar sind vereinzelt marktwirtschaftliche Ansätze im Wirtschaftssystem Kubas zu verzeichnen. So können in manchen
Bereichen private Investoren eigene Unternehmen gründen. Doch sind sie wirklich frei von jeglicher staatlicher
Kontrolle? Wer glaubt, dass sich ein kommunistisches
und planwirtschaftliches System unter Fortdauer derselben politischen Führung und Ideologie seiner Machtmitteln ohne Druck entledigen wird, täuscht sich. Eine Neuausrichtung der kubanischen Politik ist nicht erkennbar.
Die Frage stellt sich also, weshalb die Europäische
Union ihre Politik des gemeinsamen Standpunkts aufheben sollte. Weil Kuba wieder einmal politische Gefangene freigelassen hat? Dass sowohl die Europäische
Union als auch die Bundesregierung dies begrüßen,
steht außer Frage. Allerdings muss man sich dabei vor
Augen führen, aus welchen Gründen diese Menschen
überhaupt erst inhaftiert wurden und welche Umstände
zu ihrer Freilassung geführt haben. Diese 52 Personen
haben ihre Meinung frei geäußert. Das war ihr „Vergehen“. Solche sogenannten Gesinnungshäftlinge gehörten in Kuba schon seit Fidel Castro zum politischen Alltag. Nun gilt es das schlechte Image des Landes
aufzupolieren und auf dem internationalen Parkett
Schäden zu begrenzen. So will das Land demonstrieren,
dass die Lage der Menschenrechte doch „gar nicht so
schlecht ist, wie immer behauptet wird“. Dieses Mittels
hat sich Kuba in den vergangenen 50 Jahren immer wieder bedient, um internationale Spannungen abzubauen.
Hinzu kommt, dass die 52 Dissidenten ja nicht einfach freigelassen wurden. Nein, sie wurden direkt nach
Spanien abgeschoben. Damit verloren sie auch de facto
die kubanische Staatsbürgerschaft. Eine Rückkehr in
ihre Familien ist ihnen also verwehrt. Man muss eben
auch einmal hinter die Kulissen schauen, meine Damen
und Herren von der Linkspartei. Dann sieht man auch
den Rest der Geschichte. Aber das ist dann das, was man
eigentlich gar nicht sehen will. Um einen Standpunkt zu
ändern, muss man aber zuerst die ganze Wahrheit begutachten. Erst dann ist ein objektives Urteil darüber möglich und sinnvoll.
Die Behauptung in Ihrem Antrag, der Gemeinsame
Standpunkt der EU aus dem Jahre 1996 verstoße gegen
das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot der Charta
der Vereinten Nationen, ist natürlich nicht haltbar. Wie
viele andere Nationen setzt sich auch Deutschland für
die Demokratie und die Achtung der Menschenrechte
ein. Das Hauptziel des Gemeinsamen Standpunkts der
Europäischen Union gegenüber Kuba, das wir daher
vollumfänglich mit befürworten, heißt daher nicht ohne
Grund: Förderung einer friedlichen Entwicklung zu einer pluralistischer Demokratie, Gewährleistung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung.
Sie selbst begrüßen in Ihrem Antrag ausdrücklich die
Freilassung der 52 Dissidenten. Sie wollen sich also eigentlich für die Wahrung von Menschenrechten einsetzen. Wie passt das denn dann zu Ihrer Auffassung, eine
Forderung nach der Gewährleistung derselben Rechte
für alle Menschen sei ein unrechtmäßiger Eingriff in die
staatliche Souveränität eines Landes? Ist das nur dann
der Fall, wenn eine Regierung dafür eintritt, die nicht
von kommunistischen Überzeugungen geleitet wird und
keine Glückwunschschreiben an ehemalige Diktatoren
schickt?
Im Übrigen gilt auch hinsichtlich Ihrer Forderung
nach einer Freilassung der sogenannten Miami 5 das
oben Gesagte: immer den Gesamtkontext betrachten.
Die unter dieser Bezeichnung bekannt gewordenen fünf
Kubaner wurden inhaftiert. Das ist soweit richtig. Allerdings kann man nicht davon sprechen, dass sie in den
USA „gefangen gehalten“ werden, um aus Ihrem Antrag
zu zitieren. Die Betroffenen waren in den USA einem
rechtsstaatlichem Verfahren unterworfen. Das heißt, sie
hatten frei gewählte Verteidiger und einen unabhängigen Richter. Zudem durchliefen sie ein faires Verfahren
mit der Möglichkeit, gegen die Urteile in Berufung zu
gehen. Nun büßen sie ihre Haftstrafen ab, für die sie wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum Mord verurteilt
wurden. Ob - im Gegensatz dazu - in Kuba überhaupt
rechtsstaatlich geführte Prozesse abgehalten werden,
und, wenn ja, wie viele, wäre in diesem Zusammenhang
die spannendere Frage.
Ich widme mich jetzt aber abschließend den Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba. Diese Beziehungen sind innerhalb der EU am ausgeprägtesten mit
Spanien, was zum einen in der gemeinsamen Geschichte
und Kultur wurzelt, aber auch in verwandtschaftlichen
Beziehungen. Zum anderen liegt das an wirtschaftlichen
Interessen. Spanien investiert hauptsächlich in der kubanischen Tourismusbranche. Solche - nennen wir es Zu Protokoll gegebene Reden
Sonderinteressen bestehen bei den anderen EU-Mitgliedstaaten nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmaß.
Dennoch ist es auch nicht so, dass die Europäische
Union kein großes Interesse an den Belangen der kubanischen Bevölkerung hätte. Die EU engagiert sich im
Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in beachtlichem Umfang. Allein für die Jahre 2008 bis 2010 erfolgten finanzielle Hilfen in Höhe von über 57 Millionen
Euro zur Behebung von Schäden nach den Wirbel stürmen des Jahres 2008 sowie für Vorbeugemaßnahmen.
Diese kamen unterschiedlichen Sektoren zugute, wie
zum Beispiel der Nahrungsmittelversorgung, dem Bereich Arbeit und Soziales oder dem Umweltschutz. Für
die Folgejahre 2011 bis 2013 wurden wieder 20 Millionen Euro eingeplant.
Es gibt jedoch keinen Grund, die aktuelle europäische Haltung zu ändern. Neben den elementaren Grundbedürfnissen eines Menschen ist für ihn das Wichtigste
die Respektierung seiner Grundrechte. Die Möglichkeit,
seine Meinung frei zu äußern, sich im eigenen Land und
über die Grenzen hinaus frei bewegen zu können, sich
eine eigene, frei gewählte Lebens- und Arbeitsgrundlage
zu schaffen, ist für jeden Menschen wichtig. Solange ein
Staat diese Rechte seiner Bürger nicht garantieren kann
oder will, existiert für einen demokratisch und rechtsstaatlich ausgerichteten Staatenverbund wie die Europäische Union keine Grundlage für intensivere Beziehungen zu diesem Land.
Der heute zu entscheidende Antrag zu den Beziehungen der EU zu Kuba ist über ein Jahr alt, hat aber leider
kaum an Aktualität eingebüßt. Gleiches gilt für den
neueren Antrag zur Freilassung der „Miami Five“, der
im Grunde nur wiederholt und ausführt, was bereits im
ersten Antrag stand. Deshalb ist die Versuchung groß,
dieselbe Rede wie am 7. Oktober 2010, also vor 14 Monaten, noch einmal zu halten. Alles stimmt noch.
Die Geschichte der „Miami Five“ wartet noch immer
auf ein gutes Ende. Vier der fünf sind noch in Haft, einer
nach langer Haft unter Auflagen entlassen. Alle Solidaritätskampagnen, alle Rechtswege, alle Gnadengesuche
blieben erfolglos. Selbst der jedem Schwerstkriminellen
gestattete Kontakt mit Angehörigen war und ist weiter
eingeschränkt und erschwert. Alle, die diese Vorgänge
noch irgendwie rechtfertigen und verteidigen wollen,
frage ich: Was wäre wohl weltweit los, wenn es umgekehrt wäre? Wenn US-Amerikaner in Kuba oder sonst
wo derart behandelt würden, wenn rechtsstaatliche
Prinzipien auf diese Art mit Füßen getreten würden?
Keine Frage: Die „Miami Five“ müssen endlich freigelassen werden.
Der Appell des Antrags der Linken an die Bundesregierung, sich für die Freilassung der noch vier Gefangenen der „Miami Five“ einzusetzen, für die Ausreise des
fünften und für Besuchsrechte, dürfte jedoch kaum zu
realisieren sein. Eine solche Einmischung in die US-Justiz oder Appelle an den US-Präsidenten kann die
Bundesregierung mit schlichten formalen Vorwänden
abtropfen lassen. So leicht sollten wir die Sache nicht
abtun lassen.
Politische Wege, die festgefahrene, wenn auch intern
immer umstrittenere Kuba-Politik der USA noch weiter
zu isolieren, stünden der Bundesregierung allerdings
durchaus offen. Damit sind wir beim Gemeinsamen
Standpunkt der EU zu Kuba. De facto stützt und legitimiert dieser die US-Blockade-Politik, indem er Sanktionen und Boykotte gegenüber Kuba enthält - seit nunmehr 15 Jahren.
Anlass für diese EU-Sanktionen waren seinerzeit Inhaftierungen und verschärfte Repression gegen Oppositionelle in Kuba. Konnte man sich schon damals über
Sinnhaftigkeit und Angemessenheit dieser Maßnahmen
trefflich streiten, so ist heute dieser Gemeinsame Standpunkt endgültig überholt. Auf Vermittlung der Katholischen Kirche Kubas sind die Inhaftierten mittlerweile
frei. Eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten - darunter
zahlreiche konservativ regierte - drängt schon seit längerem auf eine Korrektur der europäischen Kuba-Politik. Zahlreiche EU-Mitgliedstaaten ignorieren den Gemeinsamen Standpunkt und sind mit vielfältigen
Aktivitäten auf der Insel präsent. Die Bundesrepublik
gehört zu den wenigen Staaten, die den Boykott aufrechterhalten und gleichzeitig in der EU eine Korrektur
des Gemeinsamen Standpunktes blockieren.
Inzwischen ist in Kuba ein interessanter „Anpassungsprozess“ im Gang. Beobachter sprechen von relativ weitreichenden, vor allem wirtschaftlichen Reformen. Auch wenn ich an dieser Stelle nicht ins Detail
gehen kann: Es lohnt sich, diesen Prozess viel stärker zu
beachten und zu analysieren. Der Punkt ist: Gerade diejenigen, die von der kubanischen Regierung gebetsmühlenartig die Freilassung von Gefangenen und innere
Reformen verlangen, ignorieren die positiven Veränderungen. Sie scheinen damit den Verdacht zu bestätigen,
es gehe ihnen weder um Menschenrechte noch Reformen, sondern lediglich um Machtdemonstrationen gegen eine missliebige Regierung.
Im Ergebnis erweisen sie Kuba und der Bundesrepublik in dreifacher Hinsicht einen Bärendienst:
Die wirtschaftliche Entwicklung und die kulturelle
Vielfalt in Kuba werden gebremst.
Bundesregierung und EU lassen diejenigen in Kuba,
die neue Wege gehen wollen und die, wie zum Beispiel
auch die Katholische Kirche, den Dialog suchen, im Regen stehen.
Die Staaten Lateinamerikas arbeiten gerade an einer
Integration Kubas in die regionalen Bündnisse und wollen die Isolierung der Insel beenden. Die Bundesrepublik bleibt bei der künftigen Entwicklung Kubas außen
vor und schadet damit ihrem Ansehen in der gesamten
Region.
Die SPD-Bundestagfraktion fordert also die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU für eine grundlegende Korrektur des Gemeinsamen Standpunktes einzusetzen. Dies wäre auch ein Schritt, die eigene
„Lateinamerika-Strategie“ irgendwo einmal ernst zu
Zu Protokoll gegebene Reden
nehmen und mit Leben zu füllen. Dort kann man unter
anderem lesen: „Wir wollen unser Gewicht in die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen einbringen,
um für Kohärenz der europäischen Position zu sorgen
und die strategische Partnerschaft zwischen unseren Regionen zu stärken und lebendig zu halten.“
Und an anderer Stelle heißt es nach einer Aufzählung
der großen politischen und geografischen Vielfalt der
Region: „Nötig sind deshalb auch neue Formate der
politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen, ökologischen und entwicklungspolitischen
Zusammenarbeit, die auf die Besonderheiten der einzelnen Länder eingehen.“ ({0})
Überall wimmelt es von Dialog, von Menschenrechten, Zusammenarbeit und wirtschaftlicher Entwicklung.
Von Druck, Boykott, der Hinnahme und faktischen Stützung von Blockaden lese ich nichts. Wer wirklich mehr
Öffnung und Liberalität, wer die positiven Veränderungen in Kuba unterstützen will, muss den konfrontativen
Geist und die diskriminierende Praxis, die im offiziellen
EU-Standpunkt enthalten sind, aufgeben.
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass bereits vor
mehr als einem Jahr die Bundesregierung auf meine entsprechenden Fragen in der Fragestunde vom 10. November 2010 ({1}) mitgeteilt hat, dass
es ihre Linie sei, „ergebnissoffen die Optionen einer
Neuausrichtung der EU-Kuba-Politik zu prüfen“. Darüber werde sie dem Bundestag berichten. Da ist doch
nach so langer Zeit die Frage erlaubt: Was ist seither
geschehen, zu welchen Erkenntnissen ist die Bundesregierung im Zuge ihrer Prüfungen gelangt und welche
Schlüsse zieht sie daraus? Vielleicht erfahren wir ja
heute mehr, sonst fragen wir noch einmal in geeigneter
Form nach.
Wir fordern also die Bundesregierung zu nicht mehr
und nicht weniger auf, als das von ihr selbst beschlossene Lateinamerika- und Karibik-Konzept ernst zu nehmen und umzusetzen.
Zurück zu den Anträgen: Wir halten aber auch die im
„Linken“-Antrag enthaltene unvermittelte Vermischung
von EU-Standpunkt und dem Thema „Miami-Five“ für
verfehlt. Schade, dass die „Linke“ das nicht korrigieren
wollte.
Aus dem hier Dargestellten ergibt sich, dass die SPDBundestagsfraktion sich zum Antrag 17/3188 ({2}) enthält, weil wir einen neuen gemeinschaftlichen EU-Standpunkt anstreben und den Bilateralismus
überwinden wollen, aber das Grundanliegen teilen.
„Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter“ so etwa äußerte sich der Staats- und Regierungschef Kubas Raúl Castro im Dezember vergangenen Jahres vor
der kubanischen Nationalversammlung. Selbst Fidel hat
davor einräumen müssen, dass das alte System des kubanischen Sozialismus, des Sozialismus unter Palmen,
nicht mehr funktioniert. Gestatten Sie mir, dies aus liberaler Sicht zu untermauern: Es hat noch nie funktioniert.
Aber: Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung.
Im April dieses Jahres hat der jahrelang aufgeschobene VI. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas
getagt. Große Reformpläne wurden per Parteibeschluss
ratifiziert. Vor diesem Hintergrund stellen sich mir drei
Fragen.
Erstens. Wurden auf diesem VI. Parteitag effektive
Reformen in Gang gesetzt, um das Land zu öffnen oder
- in den Worten Raúl Castros - um „das sozialistische
Modell zu aktualisieren“?
Zweitens. Sind die angekündigten Reformen nur leere
Versprechungen, oder hält Raúl Castro anders als Fidel
diesmal Wort und setzt seine Worte in die Tat um? Angekündigt wurden tiefgreifende Veränderungen: mehr
Markt und weniger Staat, die Kürzung von Staatsausgaben, schmerzhafte Entlassungen, der Abschied flächendeckender Subventionierungen, mehr Raum für Kleingewerbe, mehr Autonomie für Staatsunternehmen sowie
für Gewerkschaften und Selbstständige. Die Regierung
Raúl Castros muss sich an der Durchführung dieser Reformen sowie an dem Erfolg derselben messen lassen.
Die dritte Frage ist nun die Wichtigste: Sind die Reformen tiefgreifend genug und werden sie so konsequent
durchgeführt, dass eine Änderung der deutschen und
europäischen Linie notwendig ist?
Lassen Sie mich die dritte Frage als erste beantworten: Für mich bleibt es beim Nein, auch wenn die Bewertung nach dem VI. Parteitag differenzierter ausfallen
muss. Denn - um die erste Frage zu beantworten - es
wurden zwar tiefgreifende Reformen angekündigt; allerdings ausschließlich im wirtschaftlichen und nicht im
politischen Bereich, das heißt bei den politischen und
bürgerlichen Freiheiten. Inwiefern die Reformbemühungen umgesetzt werden und in einem weiteren Schritt Erfolg haben - um die zweite Frage zu beantworten -, ist
zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auszumachen.
Es wäre deshalb verfrüht, die bilaterale und europäische Linie, die sich im Gemeinsamen Standpunkt niederschlägt, zu ändern, wie dies im Antrag der Linksfraktion
gefordert wird. Denn im politischen Bereich sowie im
Bereich Einhaltung und Durchsetzung von Menschenrechten sind keine Änderungen angekündigt und ebenso
wenig zu erwarten. Und trotzdem, Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, besteht unsererseits - auch
durch den zweigleisigen Ansatz des Gemeinsamen
Standpunkts - Bereitschaft zum Dialog, um die schwierigen Wirtschaftsreformen zu begleiten und Kuba diesbezüglich zu unterstützen.
Gleichzeitig kann und darf aber nicht unser Ziel sein,
die kubanische Führung zu belohnen, indem wir den Gemeinsamen Standpunkt aufgeben. Denn der Missstand
im politischen sowie im menschenrechtspolitischen Bereich ist weiterhin gravierend. Oppositionelle werden
immer noch schnell als Söldner des Imperialismus diffamiert. Obwohl man die Freilassung der 75 Inhaftierten
des Schwarzen Frühlings als positives Zeichen werten
darf, sprechen andere Zahlen ganz andere Worte. Im
Zu Protokoll gegebene Reden
September 2011 wurden mehr als 560 Dissidenten vorübergehend festgenommen - die größte FestnahmeWelle seit 30 Jahren.
Man ist nun nur dazu übergegangen, unterhalb der
Schwelle langer Haftstrafen oder prominenter Fälle, die
international Aufmerksamkeit bewirken, repressive
Maßnahmen durchzuführen. Der autoritäre Charakter
des Systemerhalts durch physische Drangsalierung,
Kurzzeitverhaftungen und Einschüchterung ist dabei
gänzlich unstrittig.
Seit dem arabischen Frühling sind mehr Ressourcen
auf den Repressionsapparat verwendet worden als jemals zuvor. Auch das Internet ist Teil davon. An dieser
Stelle möchte ich auch gern nochmals betonen, dass
Freilassung nicht gleichzusetzen ist mit Exil. Letzteres
ist nämlich das Schicksal der politischen Gefangenen
des Schwarzen Frühlings, die in Spanien um Asyl ersuchen mussten.
In dem Antrag der Linksfraktion gibt diese an, dass
die Zusammenarbeit mit Kuba ein großes Potenzial
hätte im Bereich Verwirklichung der wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte. Leider verkennt die Linksfraktion die Realität: Kuba hat nicht einmal den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder den Pakt über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte ratifiziert. Außerdem hat Kuba
selbst im Jahre 2003 die bilaterale Zusammenarbeit sowohl im kulturellen und bildungspolitischen als auch im
entwicklungspolitischen Bereich ausgesetzt.
In ihrem zweiten Antrag fordert die Linksfraktion eine
Freilassung der „Miami Five“, von denen mittlerweile
noch vier in amerikanischer Gefangenschaft sind. René
González war im Oktober mit drei Jahren auf Bewährung, in denen er die USA nicht verlassen darf, aus der
Haft entlassen worden. Die schwerwiegende Anklage in
den USA lautete für alle fünf auf Spionage. Die fünf Angeklagten waren 2001 in einem rechtsstaatlichen Verfahren nach internationalen Rechtsstandards in dem
Rechtsstaat USA für schuldig erklärt und rechtmäßig
verurteilt worden. Unmittelbar nach der Freilassung
von René González im Oktober hatte die USA Kuba den
Vorschlag unterbreitet, René González gegen Alan
Gross auszutauschen. Alan Gross war im April von einem kubanischen Gericht zu 15 Jahren Haft wegen
„Vergehen gegen die Unabhängigkeit und Integrität des
Staates“ verurteilt worden und ist nun in Havanna inhaftiert. Diesen Vorschlag hatte Kuba ausgeschlagen.
Die USA und Kuba befinden sich in der Frage der
Freilassung bzw. Überstellung von Gefangenen in Kontakt. Der Antrag der Linksfraktion ist dahin gehend obsolet. In der Frage des Besucherrechts stimme ich jedoch mit den Antragstellern überein. Dies genügt jedoch
nicht, dem Antrag zuzustimmen.
Uns muss es darum gehen, Kuba auf dem Weg in eine
freie und demokratische Zukunft zu unterstützen, um das
Leid der kubanischen Bevölkerung endlich zu beenden.
Es gilt deshalb, die vorsichtigen positiven Zeichen zu sehen, aber gleichzeitig die negativen Signale nicht auszublenden. Der zweigleisige Ansatz, der bereits seit 1996
mit dem Gemeinsamen Standpunkt auf bilateraler und
europäischer Ebene gefahren wird, folgt genau dieser
Maßgabe.
„Wenn Hilfsorganisationen, Behörden oder die Uno
im Kampf gegen die Cholera in Haiti mehr Ärzte und
Krankenschwestern brauchen, rufen sie nicht in
Washington oder Brüssel an, sondern in Havanna.“ So
steht es im aktuellen Spiegel zu lesen. Es wird ausdrücklich das kubanische Engagement in der medizinischen
Zusammenarbeit mit anderen Entwicklungsländern gewürdigt und gleichzeitig aber auch auf die ideologische
Verbohrtheit des Westens hingewiesen, wenn es darum
geht, dieses Engagement finanziell zu fördern. Niebel
spricht ja gerne von trilateraler EZ und von Süd-SüdKooperation. Die Linke wirbt dafür, die erfolgreiche
Süd-Süd-Kooperation Kubas mit anderen lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern zu
unterstützen. Norwegen hat es vorgemacht, als es nach
dem Erdbeben in Haiti die kubanischen Ärztebrigaden
finanziell unterstützt hat, die dort seit vielen Jahren arbeiten und die wichtiger Anlaufpunkt für Helferinnen
und Helfer aus aller Welt waren.
Voraussetzung dafür ist, endlich vom unsäglichen sogenannten Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kuba
abzurücken. Die EU braucht einen neuen Ansatz, eine
echte Kooperation mit diesem Land, das für den Aufbruch in Lateinamerika, für die sozialen und demokratischen Fortschritte und für die Integrationsprozesse dort
eine wichtige Rolle spielt. Kuba ist nicht mehr der isolierte Paria-Staat. Das heißt nicht - heißt es ja übrigens
auch nicht in der Zusammenarbeit mit anderen Ländern -,
dass die EU die Augen verschließen soll, wenn bürgerliche Freiheitsrechte verletzt werden. Das heißt aber
durchaus, dass der Einsatz Kubas für die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte
anerkannt und auch unterstützt wird.
Die EU kooperiert mit Ländern wie Mexiko und Kolumbien, in denen Journalisten und Gewerkschafter ihres Lebens nicht sicher sind, wo im Drogenkrieg und bei
der sogenannten Aufstandsbekämpfung Tausende ihr
Leben lassen. Aber mit Kuba wird nicht kooperiert, weil
sich das Land beharrlich weigert, sich dem Kapitalismus preiszugeben. Für diejenigen, die in Kuba politische Repression erleiden, verbessert sich durch die
Blockadehaltung der EU und der Bundesregierung
nichts. Wo hingegen respektvoll verhandelt wird, können
Verbesserungen erreicht werden, wie das Beispiel der
spanischen Bemühungen vor einem guten Jahr gezeigt
hat.
Dass die EU und die Bundesregierung mit zweierlei
Maß an das Thema Menschenrechte und Kuba herangehen, zeigt sich auch im Umgang mit den fünf Kubanern,
die seit 1998 in den USA gefangen gehalten werden. Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort,
Gerardo Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar
und René González Sehwerert hatten exilkubanische
Terrorgruppen in den USA infiltriert, um Attentate auf
ihr Land zu verhindern. Dafür gebührt ihnen höchster
Zu Protokoll gegebene Reden
Respekt. Die US-Justiz hat sie indes unter dem Vorwurf
der Spionage zu hohen Haftstrafen verurteilt. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich für die
Freiheit der fünf einsetzt. Aber wir erkennen keinerlei
Bemühungen. Dabei bestätigen weltweit Menschenrechtsorganisationen und auch die UNO, dass Verhaftung, Prozessverlauf und Haftbedingungen rechtsstaatlichen Standards völlig entgegenliefen. Seit Jahren
dürfen zum Beispiel die Ehefrauen ihre Männer nicht im
Gefängnis besuchen.
Wir freuen uns, dass René González Sehwerert nun
zumindest aus dem Gefängnis entlassen wurde. Dass er
allerdings nach wie vor die USA nicht verlassen und
nicht in sein Heimatland ausreisen darf, ist nicht hinnehmbar und eine Verlängerung dieses unfassbaren Justizskandals. Die Bundesregierung will ihre internationale Politik an den Menschenrechten ausrichten? Hier
hätte sie etwas zu tun.
Die Fraktion Die Linke fordert gemeinsam mit vielen
Menschen weltweit: Freiheit für Antonio Guerrero
Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo
Hernández Nordelo und Ramón Labañino Salazar und
die freie Ausreise für René González Sehwerert!
Dem Antrag der Linken, den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kuba aufzugeben, kann kein ernsthafter
Menschenrechtsverteidiger zustimmen, auch nicht einer
wie ich, der Kuba und die Kubaner mag. Der Gemeinsame Standpunkt stellt keinen Boykott Kubas dar, wie
die Linke sagt, und er zielt auch nicht auf einen Systemwechsel, obwohl der an der Zeit wäre. Der Standpunkt
beinhaltet keine Sanktionen, wie die Linke behauptet,
sondern fordert eine Intensivierung des Dialogs und der
Zusammenarbeit. Es geht der EU um „Achtung der
Menschenrechte“, „Verbesserung des Lebensstandards
der kubanischen Bevölkerung“ sowie Stärkung von Demokratie in Kuba. Vor allem der letzte Punkt sei eine
unrechtmäßige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates und ein Bruch der UN-Charta, behauptet die Linke. Zur Erinnerung für die Linke: Nach
§ 1 der kubanischen Verfassung ist Kuba eine Demokratie, nach § 3 geht die Macht vom Volke aus. Wo ist also
der Bruch der UN-Charta, von dem der Antrag fabuliert, wenn man Demokraten und Demokratie in Kuba
fördern will? Dass dies Ziele der EU sind - und zwar
nicht nur in den Beziehungen zu Kuba, sondern in allen
auswärtigen Beziehungen -, wird doch hoffentlich in
diesem Haus nicht zur Debatte gestellt.
Die kubanische Regierung macht es sozial engagierten Menschen und Menschenrechtsverteidigern schwer,
aufseiten Kubas zu sein. Ja, die Erfolge in den Bildungsund Gesundheitssystemen, der Ausgleich zwischen den
sozialen Schichten, das schnelle und uneigennützige
Engagement der Ärzte Kubas im Ausland, zum Beispiel
in Haiti - so betrachtet wäre Kuba in der Tat ein Vorbild,
nicht nur in der Region. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Kubaner ist zehn Jahre höher als die der
übrigen Lateinamerikaner, sogar höher als die in den
USA. Das sind wichtige Errungenschaften, die man gerade in meinem Alter zu schätzen weiß.
Auf der anderen Seite steht aber eine massive und
planmäßige Beschneidung der politischen Menschenrechte und der Freiheit der Kubaner, stehen willkürliche
Verhaftungen von Menschenrechtsverteidigern und eine
von oben verordnete Erstarrung aller sozialen und politischen Prozesse im Land. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen kann man nicht gegen gute
Gesundheitsversorgung aufwiegen. Die sozialen und
kulturellen Rechte, um die es in Kuba vergleichsweise
gut steht, darf man nicht gegen die politischen und individuellen Menschenrechte ausspielen. Menschenrechte
sind unteilbar! Kein Staat kann sich auf einzelne Rechte
stützen und dann sagen, dass der Rest bei ihm nicht
zählt.
In Kuba gibt es keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit, kein Recht auf einen fairen Prozess vor Gericht,
keine Versammlungsfreiheit, Menschen werden wegen
ihrer politischen Meinung ins Gefängnis geworfen, die
Haftbedingungen sind menschenunwürdig. Auch wenn
die Schulen in Kuba gut sind: Die Menschen in Kuba
sind nicht frei. Und wer nach Freiheit ruft, wird unterdrückt, seiner Würde beraubt und mundtot gemacht. Daran haben auch die jüngsten Entlassungen von politischen Gefangenen nichts geändert. Es ist ja nicht so, als
gäbe es nun keine politischen Gefangenen mehr: Dissidenten werden vielleicht nicht mehr jahrelang, sondern
immer nur wieder für kurze Zeit inhaftiert, dann freigelassen, dann wieder für einige Tage und Wochen inhaftiert, wieder freigelassen, inhaftiert und so weiter. Das
zermürbt und treibt diejenigen, die sich für Menschenrechte und soziale Verbesserungen engagieren, ins Exil.
Jetzt wollen die Señores Presidentes Raúl y Fidel
Castro die Wirtschaft liberalisieren. Sagen sie. Prima.
Aber eine wirtschaftliche Öffnung ohne Öffnung des
politischen Raums ist kein Fortschritt für die Menschen.
Auch diese Maßnahme wird die systematische Enttäuschung aller alten und neuen Freunde Kubas nur fortsetzen. Dass die Regierung dort beharrlich und immer
wieder alle Chancen verspielt, das Land freier und lebenswerter für die Kubaner zu machen, ist mir unbegreiflich. Auch ich habe die kubanische Revolution damals vor mehr als 50 Jahren mit meinen größten
Hoffnungen und Idealen begleitet. Che Guevara ist noch
heute vielen jungen Menschen Symbol für Solidarität
und selbstloses Eintreten für die Freiheit, auch wenn sie
das Leben kostet.
Fidel Castro hat die Linke in bewegten Worten zum
85. Geburtstag gratuliert und die „Errungenschaften
des sozialistischen Kubas“ gepriesen. Ich sage nicht
minder bewegt zu Fidel in Anlehnung an die Worte des
Generals Moncada in „Hundert Jahre Einsamkeit“ von
Gabriel García Márquez, einem der getreuesten
Freunde des Comandante de la Revolución: „Lo que me
preocupa es que de tanto odiar a los militares, de tanto
combatirlos, de tanto pensar en ellos, has terminado por
ser igual a ellos. Y no hay un ideal en la vida que merezca tanta abyección.“ Und ich füge hinzu: „La historia no te absolverá.“
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4273, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/3188 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7416 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergewährung
der Sonderzahlung
- Drucksache 17/7631 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/8007 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({1})
Michael Hartmann ({2})
Frank Tempel
Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8011 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({4})
Roland Claus
Katja Dörner
Alle Reden, die uns hierzu gemeldet worden sind, ge-
hen zu Protokoll.1) Sie sind damit einverstanden? - Wi-
derspruch erhebt sich nicht. Die Namen der Kolleginnen
und Kollegen liegen hier vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Wiedergewährung der Sonderzah-
lung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8007, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/7631 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, die Fraktion der Sozialdemo-
kraten und die Linksfraktion, also alle miteinander. Wer
1) Anlage 7
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind alle. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner,
Stephan Kühn, Undine Kurth ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elberaum entwickeln - Nachhaltig, zukunftsfähig und naturverträglich
- Drucksachen 17/4554, 17/7681 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Horst Meierhofer
Dorothea Steiner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Wenn es wirklich das Ziel des Antrags war, eine Elbestrategie unter Einbeziehung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln, so ist das Ziel meilenweit verfehlt worden. Darauf weist schon das
Abstimmungsergebnis in unserem Ausschuss hin. Letztendlich standen Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem Antrag
allein da und fanden nicht einmal bei einer einzigen anderen Fraktion Unterstützung. Die Absagen waren zwar
höflich verklausuliert, ließen aber an Deutlichkeit keine
Zweifel offen.
Schon allein dem Anspruch des Antrags, für alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu sprechen, kann
man eine gewisse Anmaßung nicht absprechen. Repräsentieren Wirtschafts- und Schifffahrtsverbände sowie
die angrenzenden Landwirte oder gar die Kommunen
keine gesellschaftlich relevanten Gruppen? Dass die
Schifffahrtsverbände, aber auch Wirtschaftsvereinigungen und die IHK eher nicht zu den Ansprechpartnern der
Grünen gehören, ist mir wohl bewusst. Nur, es geht
nicht, dass man behauptet, im Namen aller relevanten
Gruppen zu sprechen, und die Wirtschaftsverbände außen vor lässt.
Nun kann man da noch von Berührungsängsten sprechen. Aber dass die Grünen nicht einmal vor solch einem Antrag mit den betroffenen Kommunen sprechen,
erschüttert mich geradezu. Haben denn die Grünen in
den neuen Bundesländern gar keine kommunalen Wurzeln? Sind deren Vertreter in Stadt- oder Gemeinderäten
so wenig relevant, dass mit ihnen nicht mehr gesprochen
wird, oder haben diese Vertreter dort auch schon jeglichen Kontakt außerhalb ihrer Klientel verloren? Erlauben Sie mir bitte, dass ich beispielhaft nur einmal die
beiden Anliegerkommunen Aken und Magdeburg herausgreife, um mich nicht dem Geruch der Parteilichkeit
auszusetzen, indem ich mich nur auf Parteifreunde in
meinen Aussagen beschränke.
Mit dem SPD-Bürgermeister Müller aus Aken hat
eine der wesentlichen Autoren des Antrags, unsere Kollegin Kurth, wohl kaum gesprochen. Seine wörtlichen
Ausführungen zu dem Antrag möchte ich lieber hier
nicht öffentlich zitieren. Zitieren kann ich aber wohl aus
dem Brief des Beigeordneten für Kommunales, Umwelt
und allgemeine Verwaltung der Stadt Magdeburg, Herrn
Holger Platz, den er uns im Auftrag des SPD-Oberbürgermeisters Trümper am 14. Oktober geschrieben hat:
„Die Hochwasserpartnerschaft Elbe - ein Zusammenschluss mehrerer Kommunen zwischen Geesthacht und
Tschechien - befürchtet, dass dies ({0}) dazu führt, dass
in einzelnen Streckenbereichen das Hochwasserrisiko
deutlich erhöht wird. Insbesondere dort, wo gegenwärtig die Unterhaltung durch Entnahme von Geschiebe gewährleistet wird, sind Aufsandungen zu befürchten, die
nicht nur der Schifffahrt, sondern auch dem Gewässerabfluss nicht zuträglich sind.“
Das Zitat dürfte wohl kaum mit dem Antrag in Übereinstimmung zu bringen sein. Es ist daher auch nur konsequent, wenn sich die SPD im Ausschuss zu dem Antrag
der Stimme enthalten hat.
Konsequenter wäre natürlich eine Ablehnung gewesen, doch man will wohl dem Lieblingskoalitionspartner
nicht zu große Schmerzen zufügen. Nach dem Debakel
von Stuttgart 21 ist das wohl verständlich. Doch nicht nur
die Abstimmung zu Stuttgart 21 zeigt, wie schief die Grünen damit liegen, wenn sie meinen und öffentlich immer
wieder lautstark proklamieren, die Meinung des Volkes zu
vertreten. Das INFO-Meinungsforschungsinstitut aus
Berlin, das sehr stark mit dem Max-Planck-Institut zusammenarbeitet, hat in Sachsen-Anhalt eine repräsentative Bevölkerungsbefragung zur infrastrukturellen Entwicklung durchgeführt, zu der mehr als 1 000 Personen
befragt wurden. Erlauben Sie mir, dass ich daraus zitiere:
Drei Viertel der Befragten, genau 74 Prozent sind der
Meinung, dass die Schifffahrt auch künftig für Transporte und Tourismus möglich sein sollte. Nur 21 Prozent
waren der Ansicht, dass die Flüsse renaturiert werden
sollten. Jeweils mehr als drei Viertel der Wähler von
CDU, SPD und Linkspartei geben ein positives Votum
zur Binnenschifffahrt ab, aber auch 65 Prozent der Wähler von Bündnis 90/Die Grüne.
Selbst bei Ihren eigenen Wählern, meine Damen und
Herren von den Grünen, wollen nur ganze 35 Prozent,
dass unsere Flüsse renaturiert werden.
Eine größere Ohrfeige für einen solchen Antrag und
insbesondere für die Aussage, dass man für alle relevanten Gruppen spricht, kann man wohl kaum bekommen,
wenn noch nicht einmal die eigene Basis dahinter steht.
Man kann sich natürlich seine relevanten Gruppen auch
selbst wählen und schönreden, doch dann ist man von
der Brecht´schen Aussage, dass sich die Regierung ein
neues Volk wählen sollte, nicht mehr weit entfernt. Oder
nach Pippi Langstrumpf: „Ich bastle mir `ne Welt, so
wie sie mir gefällt“.
Nun habe ich ja in den Gesprächen, die wir zu dem
Antrag seit Februar dieses Jahres geführt haben, und in
den Beratungen unseres Ausschusses mehr als genug
darauf hingewiesen, dass eine so renommierte Einrichtung wie das Biosphärenreservat Mittelelbe bereits in einem Beitrag von 2009 darauf hingewiesen hat, dass es
umweltschonende Möglichkeiten der Unterhaltung der
Elbe für die Nutzung durch die Schifffahrt gibt, die sogar
mit ökologischen Verbesserungen verbunden sind.
Das Biosphärenreservat weist nach, dass es Möglichkeiten gibt, Buhnen so zu rekonstruieren und mit Verbesserungen zu versehen, dass sie sowohl den Bedingungen
für eine schifffahrtliche Nutzung als auch ökologischen
Erfordernissen genügen, dass die Sohlenerosion und somit das Eingraben der Elbe in den betroffenen Gebieten
sehr wohl gestoppt werden kann. Dazu muss man jedoch
auch Maßnahmen zur Erhöhung der Sohlenrauhigkeit
akzeptieren, die durchaus auch der Flussfauna entgegenkommen. Auch Leitwerke können, wie an den ElbeKilometern 225, 228 und 251 geschehen, „gut an die
sensiblen ökologischen Bedingungen angepasst werden“, wie die Biosphärenreservatsverwaltung bestätigt.
Das versieht sie mit einem besonderen Dank an das
Wasser- und Schifffahrtsamt in Dresden, dem ich mich
hier auch noch einmal ausdrücklich anschließen
möchte. Wer jedoch aus ideologischen Vorbehalten jeden Stein in der Elbe als „Steinigung“ bezeichnet, hat es
immer noch nicht begriffen, dass der ökologische Umbau der Unterhaltungsmaßnahmen längst begonnen hat.
Schon längst arbeiten das Biosphärenreservat und die
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung Hand in Hand,
wenn es darum geht, Uferbefestigungen aus Stein dort
zu entfernen, wo es geht, aber auch dort auszubessern,
wo es erforderlich ist.
Insofern stimmen die Ausführungen der SPD-Fraktion in der Berichterstattung auch nicht, dass wir uns
zum ersten Mal intensiv mit diesem Thema beschäftigen.
Ich persönlich kann Ihnen nur bestätigen, dass ich bereits im Jahr 1991 gemeinsam mit dem letzten DDR-Verkehrsminister Horst Gibtner in der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost hier in Berlin war und hier in
Verbindung mit dem Bundesverkehrsministerium festgelegt wurde, dass es keinen Ausbau der Elbe geben wird.
Seitdem begleite ich dieses Thema und wundere mich
immer wieder über den Unsinn, der scheinbar mit politischem Kalkül und mit konstanter Unkenntnis veröffentlicht wird.
Das Biosphärenreservat berichtet in der Veröffentlichung aus dem Jahr 2009 auch sehr schön über die
Chronologie der Veränderungen bei der Wasserstraßenunterhaltung an der Elbe: vom Forschungsprogramm
„Elbeökologie“ aus dem Jahr 1993, der Elbe-Erklärung
Zu Protokoll gegebene Reden
aus dem Jahr 1996 bis hin zu den Erkenntnissen aus Unterhaltungsmaßnahmen, die dann insbesondere nach
1996 gemeinsam von Biosphärenreservat und Wasserund Schifffahrtsamt Dresden gewonnen wurden. So
brachte der zweijährige Unterhaltungsstopp nach dem
Elbe-Hochwasser von 2002 keine wirklich neuen Erfahrungen, da die seit 2001 arbeitende Bund-Länder-Arbeitsgruppe in einem Unterhaltungsplan schon vieles
bedacht hatte.
Auch der Gedanke, die Auswirkungen der Klimaveränderung auf die Elbe zu untersuchen, ist beileibe nicht
neu. Das Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt hat im November 2009
zwei Unternehmensberatungen damit beauftragt, alle
aktuellen Studien zur Schiffbarkeit von Elbe und Saale
zusammenzutragen und auf eventuelle Defizite in der
Forschungslage zu untersuchen. Die Studie wurde im
Rahmen des Projektes LABEL im Central-Europe-Programm von den Unternehmen LUB Consulting GmbH
und Uniconsult durchgeführt.
Es war dabei nicht der Auftrag, zu überprüfen, ob die
Aussagen der begutachteten Studien richtig oder falsch
sind, sondern lediglich zu untersuchen: Mit wie viel
Nachweisen in welcher wissenschaftlichen Qualität sind
welche Aussagen der Studien untermauert? „Politische“ Dokumente wie Konzepte von Bundes- oder Landesverwaltungen flossen dabei ganz bewusst nicht in die
Untersuchung ein. So wurden insgesamt 69 Studien und
Forschungsprojekte ausgewertet.
Bei der sehr nüchterne Analyse war für mich interessant, dass immer wieder festgestellt wurde: „Die kritischen Aussagen basieren häufig auf aktuellen Daten, gehen jedoch von falschen Annahmen aus…“, „Ein
eindeutiger Trend lässt sich seriöserweise nicht ableiten…“, „Kritische Positionen arbeiten teilweise mit falschen Annahmen oder nehmen bewusst ungünstige
Transportmengenvergleiche vor.“ Dagegen steht dann:
„Gleichwohl wird die Plausibilität der befürwortenden
Aussagen signifikant höher bewertet.“ Waren da vielleicht einige Studien nicht doch mit einem klaren politischen Auftrag versehen oder von Auftragnehmern ausgeführt worden, die von vornherein klar zuzuordnen
waren?
Wenn dann in der Berichterstattung der Grünen besonders darauf abgehoben wird, dass durch den Klimawandel bedingt die Unterhaltungsziele nicht erreicht
werden, muss man deutlich sagen, dass von 21 Studien,
die dazu eine Aussage treffen, 14 davon ausgehen, dass
der Klimawandel zu einer Verschlechterung der Schifffahrtsverhältnisse auf der Elbe führt. Jedoch die 7 Studien, die genau dieser Aussage nicht folgen, weisen durch
umfangreichere Daten, eindeutigere und bessere Quellen
und eine höhere Plausibilität in ihren Schlussfolgerungen
nach, dass die Folgen des Klimawandels nicht so einfach
vorhersehbar und von einem hohen Unsicherheitsfaktor
gekennzeichnet sind. Die Evaluierung aller Studien stellt
dann auch fest: So gehen bei geografisch kleinräumigen
Vorhersagen, wie für das Elbstromgebiet, „die Vorhersagemodelle teilweise sehr weit auseinander und sind daher
nur bedingt als Entscheidungsgrundlage anzusehen.“
Eine so apodiktische Aussage zur Auswirkung des Klimawandels auf die Schiffbarkeit der Elbe wie in der Berichterstattung der Grünen ist dann doch eher unsolide.
Als Kind der Region, das in Wittenberg an der Elbe
geboren ist, in Magdeburg studiert hat und immer die
Elbe oder einen ihrer Zuläufe vor Augen hatte, kann ich
Ihnen nur sagen:
Magdeburg, Dessau/Wittenberg und Dresden/Riesa
waren seit Jahrhunderten bedeutende wirtschaftliche
Räume an der Elbe. Wer diesen Kulturraum Otto des I.,
Hugo Junkers, Martin Luthers und Johann Friedrich
Böttchers mit der unteren Oder oder dem Bayerischen
Wald auf die gleiche Stufe stellen und auf Naturtourismus trimmen will, hat kein Gespür für die Region.
Es war schon eine große Sorge der Region, dass im
Rahmen der Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung die Ober- und Mittelelbe nur noch in das Ergänzungsnetz des Bundeswasserstraßennetzes eingeplant werden könnte. Indem jetzt im Gespräch ist, die
Elbe in die mittlere der vorgesehenen drei Schifffahrtsstraßenkategorien einzustufen, kann auch von einer weiterhin sachgerechten Unterhaltung ausgegangen werden. So sind die Befürchtungen der Binnenschiffer und
der Sportbootbesitzer, aber auch Sorgen um einen ordnungsgemäßen Hochwasserabfluss und um eine weitere
Sohlenvertiefung der Elbe, die mich erreichten, auch gerade dank des Einsatzes der Landesregierungen der Elbanrainer wohl endgültig vom Tisch. Vielmehr werden einer strategischen Entwicklungsplanung an der Elbe
sichtbare Vorgaben gemacht.
Die Elbregion ist längst keine naturbelassene Landschaft mehr, sondern eine Kulturlandschaft, die eigene
touristische Konzepte benötigt. Die Tourismusverbände,
die Kommunen, aber auch die Wirtschaftsverbände arbeiten schon lange an nachhaltigen, naturverträglichen
Konzepten für die Zukunft der Elbregion.
„Das Schöne mit dem Nützlichen verbinden“, diese
Devise des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau, der durch
sein Dessau-Wörlitzer Gartenreich an der Elbe weltberühmt wurde, ist schon längst der Wahlspruch der Region und die Grundlage aller - von der Gartenreichsverwaltung über das Biosphärenreservat und die
Kommunen bis hin zu den Wirtschaftsverbänden. Selbstverständlich können auch da die Grünen ihre Ideen einbringen, doch sie sollten nicht so tun, als hätten sie das
Rad neu erfunden.
Die Elbe ist einer der schönsten Flüsse Deutschlands,
und ihre Aue ist durch die urigen, großen Feuchtwälder
und eine weitreichende extensive landwirtschaftliche
Nutzung eine Perle im Inventar unserer Naturlandschaften. Gerade die Auwälder sind wichtiger Lebensraum
für seltene Pflanzen und Tiere, sie sind geprägt durch
eine hohe Artenvielfalt. Ich nenne da nur den Elbebiber,
Seeadler und den sehr seltenen Schwarzstorch. Auch der
Weißstorch gehört dazu, sein vermeintlich hohes Vorkommen ist zu großen Teilen den Anstrengungen der ehrenamtlich engagierten Naturschützer zu verdanken, die
permanent bemüht sind, diesen Vögeln ihr Habitat zu erhalten und zu pflegen.
Zu Protokoll gegebene Reden
In weiten Strecken zeigt die Elbe immer noch den Charakter eines frei fließenden Flusses mit großem ökologischen Wert. Der natürliche Charakter ist eigentlich geprägt durch ständige Änderungen in seinem Lauf, durch
die Bildung neuer Schleifen, durch Abschneiden alter
Schleifen, die sich in Seen verwandeln. An einer Stelle
bricht Ufer weg, an anderen Stellen werden Sandbänke
angeschwemmt und sind Nahrungs- und Bruthabitate für
Flussregenpfeifer und Co. Dieser grundsätzlichen Bedeutung der Elbe muss immer Rechnung getragen werden.
Dieses Ökosystem ist schon seit langem durch
menschliche Eingriffe geprägt, sie durch eine menschlich geprägte Kulturlandschaft. Sie ist deutlich verkürzt
worden, durch Buhnen und Deiche ist ihr Lauf befestigt
worden, ihre Fließgeschwindigkeit hat sich im Laufe der
Schiffbarmachung erhöht. Damit einhergegangen ist
eine Veränderung der Landschaft und der Lebensräume
entlang der Elbe. Das Flussprofil wurde enger. Das bedeutet: Ufer wurden steiler, weniger Fläche wird bei
Hochwasser überschwemmt, Nebenarme, Kiesbänke
und Inseln verschwanden. Kurz: Lebensräume haben
sich verändert.
Nach der Vereinigung Deutschlands keimten sofort
Pläne, den lange vergessenen Fluss zur genormten Wasserstraße weiter auszubauen. Viele Fürsprecher in den
Verbänden verhinderten dies und setzten einen Kompromiss durch, der bis heute gehalten hat und für den wir
weiter stehen.
Richtig ist: Die Elberegion profitiert vom Naturraum
Elbe. Der Tourismus ist ein wichtiges Standbein, Arbeitsplätze sind im Tourismus entstanden. Richtig ist
aber auch: Die Elbe hat eine Bedeutung als Wasserstraße, insbesondere als Hinterlandverbindung für den
Hamburger Hafen und im weiteren Verlauf etwa für die
Häfen in Magdeburg, in Roßlau und Bernburg. Die Binnenschifffahrt kann für die Elbe-Region ein Wirtschaftsfaktor sein, wenn es gelingt, die verschiedenen Interessen von Naturschutz, Naherholung und Industrie
zusammenzubringen.
Es stimmt, die reine Menge der transportierten Güter
auf der Elbe nimmt ab. Gleichzeitig ändert sich aber auch
die Art der Güter, die transportiert werden. Neben Massengüter- und Containerumschlägen nehmen zunehmend
hochwertige Transporte von Sperrgütern einen hohen
Stellenwert ein. Turbinen, Transformatoren, Generatoren,
Kompressoren, Schiffskörper von Küstenmotorschiffen
und Teile für Windkraftanlagen sind als Sondertransporte
kaum anders zu bewegen als über den Verkehrsträger
Wasserstraße.
Es ist klar: Wir stehen dafür, nicht nur den Status quo
zu erhalten. Wir wollen den ökologischen Zustand der
Elbe verbessern, weil wir den Wert des Lebensraumes
Elbe kennen, weil wir ein wirtschaftliches Potential im
Tourismus an der Elbe und weil wir die Ziele und Verpflichtungen der Wasserrahmenrichtlinie hochhalten.
Diese definiert die ökologischen Mindestanforderungen,
sie fordert explizit eine Verbesserung des ökologischen
Zustandes.
Letztes Jahr wurde im Lödderitzer Forst damit begonnen, Deiche zurückzuverlegen. Der alte Deich soll
800 Meter zurück verlegt werden, auf fast 1 000 Hektar
kann sich die Elbe in Zukunft bei Hochwasser ausbreiten. Das bringt in diesem Bereich eine neue Zukunft für
Auwälder, für Auewiesen, für die Artenvielfalt. Insgesamt sollen bis 2020 durch solche Projekte 3 000 Hektar
an Überschwemmungsgebiet der Elbe zurückgegeben
werden.
Dies ist ein wichtiger Schritt. Ziel muss es sein, der
Elbe mehr Raum zu geben und flachere, heterogene Ufer
zuzulassen. Dies ist notwendig, um die Elbe dynamischer zu machen, um den Lebensraum Ufer wiederzugewinnen, um Auen zu sichern. Und: Ich glaube auch, dass
wir hier noch deutlich ambitionierter werden können.
Aber: Ich schließe daraus nicht, dass wir uns von der
Schifffahrt auf der Elbe verabschieden müssen, auch wenn
es die Alternativen Bahn und den Elbeseitenkanal gibt,
über die ernsthaft nachgedacht werden muss und die auch
genutzt werden sollten, bevor der Fokus sich auf die Elbe
richtet.
Es stimmt: Lange Jahre wurden Flüsse unter reinen
wirtschaftlichen Aspekten gesehen. Sie wurden der
Schifffahrt angepasst. Wir müssen umdenken: Wenn wir
die Schiffbarkeit der Elbe erhalten wollen, muss sich die
Schiffbarkeit an den Notwendigkeiten der Herstellung
des guten ökologischen Zustandes orientieren. Das ist
möglich, daran habe ich keinen Zweifel.
Das bedeutet, wir müssen uns genau anschauen: Welche Güter werden auf der Elbe transportiert? Welche
Potenziale gibt es? Wo liegen die Engpässe - auf der
Elbe oder im Hamburger Hafen? Sind die Kanäle eine
Alternative? Wo gibt es dort Engpässe? Können diese
behoben werden? Können andere Schiffe eingesetzt werden? Wie verändert sich der Fluss im Zuge des Klimawandels, wie viel Wasser wird er in 20 Jahren führen?
Wir müssen schauen, wo wir die Flussdynamik verbessern können. Wo können wir Deiche zurückverlegen?
Welche Altwasser können wieder angeschlossen werden? Wo bringen neu entwickelte alternative Buhnen einen Vorteil gegenüber den bereits existierenden? Kann
man Buhnen zum Beispiel an den Innenseiten von Flussbiegungen zurückbauen?
Ich finde die Untersuchungsergebnisse zu den Absenkbuhnen sehr interessant. Diese Buhnen lassen neben der Fahrrinne weitere Strömungskanäle zu. Die Untersuchungen haben ergeben, dass bautechnisch
realisierte Absenkungen im Mittelbereich von Buhnen
genauso wie unbeabsichtigte Buhnendurchrisse zu einer
messbar größeren Lebensraumvielfalt im Vergleich zur
Regelbuhne führen. Auch die Heterogenität der Uferböschungen nimmt zu. Auch wenn der Effekt nicht überschätzt werden darf, sollte überlegt werden, wie man
diese Erkenntnis für die Elbe nutzen kann.
Schifffahrt und Lebensraum Elbe sollten neu zusammengebracht werden. Es geht aus meiner Sicht darum,
die Elbe in einem Zustand zu sichern, der nicht über ein
klar definiertes Maß an Schiffbarkeit hinausgeht. Dieses
müssen wir klar definieren. Es geht genauso darum, die
Zu Protokoll gegebene Reden
Naturlandschaften zu erhalten. Es geht darum, die Lebensräume für die Kraniche, Störche und andere Populationen, die in Größenordnungen wieder zurückgekehrt
sind, zu erhalten. Auch das muss in einer Zieldefinition
klar enthalten sein.
Ich weiß um den Spagat, der notwendig ist, die Binnenschifffahrt zu erhalten und gleichermaßen die Naturlandschaften zu schützen und, wenn möglich, auch wieder herzustellen. Dieser Spagat ist nicht einfach. Er ist
aber notwendig. Sowohl im Tourismus als auch in den
Häfen arbeiten Menschen an der Elbe. Lassen Sie uns
diese Arbeitsplätze nicht gegeneinander ausspielen.
Als Vorsitzender der parlamentarischen Gruppe
„Frei fließende Flüsse“ habe ich große Sympathie für
den Schutz von Flüssen und Auen. Deshalb begrüße ich
grundsätzlich Ihre Initiative.
Das Flussgebiet Elbe ist heute eine der ökologisch
wertvollsten Flusslandschaften, und das, obwohl vor
1990 die Elbe mit der Saale im Wettbewerb um den Titel
„dreckigster Fluss Mitteleuropas“ stand. Mittlerweile
bestehen gerade entlang der Mittelelbe wieder zahlreiche Biosphärenreservate, Naturparks oder Naturschutzgebiete. Und trotzdem: Die Klassifizierung der mittleren
Elbe in mäßig und stark veränderte Flussabschnitte
zeigt auf, dass noch viel zu tun ist.
Zwischen Saale und Mulde sind viele Altwässer unzureichend an das Elbwasser angebunden. In der Folge
droht vielen Feuchtgebieten die Verlandung. Gerade in
Sommermonaten droht der Sauerstoffgehalt der Elbe zu
kippen. Diese Problematik ist erkannt: Gute Wasserqualität ist nur mit dem Erhalt und der Wiederherstellung
der hydromorphologischen Gegebenheiten erreichbar.
Die starken Schäden durch die letzten Hochwasser sind
noch nicht vollständig beseitigt. Mit dem „Rahmenkonzept Unterhaltung“ ist die Bundesregierung hier aktiv.
Es besteht weiter Handlungsbedarf. Schnellschüsse
bringen uns dabei aber nicht weiter. Fluss- und Auenschutz kann nur durch jahrelange Kärrnerarbeit erreicht
werden. Hierfür arbeiten wir!
Man muss aber auch konstatieren, dass neben den
Maßnahmen der Bundesregierung auch die Länder gefragt sind. Mit der wasserwirtschaftlichen Unterhaltung
hat der Bund hier eine Verantwortlichkeit, die bereits
weit über verkehrliche Aufgaben hinausgeht. Wir dürfen
von den Bundesländern erwarten, dass die Themen Sohlenstabilisierung oder die Errichtung von Längs- und
Querbänken - die notwendig ist für unterschiedliche
Fließgeschwindigkeiten - von den Bundesländer aktiv
betrieben werden. Die Verantwortung für derartige
Maßnahmen liegt klar bei den Ländern.
Ein weiteres Problem stellte auch die 1960 errichtete
Staustufe Geesthacht dar. Die Durchlässigkeit der Staustufe für Fische war und ist umstritten. Mit der neuen
zweite Fischtreppe, die im September des letzten Jahres
fertiggestellt wurde, könnte nun theoretisch sogar der
Stör wieder heimisch werden.
Wir wollen wie Sie ebenfalls keine weiteren Staustufen in der Elbe. Die FDP hat sich bereits in ihrem Wahlprogramm von 2009 dazu klar geäußert. Auch die geplante Staustufe in Tschechien ist nicht im Interesse
Deutschlands und der Elbe insgesamt.
Der Auenschutz ist für die FDP zentral. Erst in der
vergangenen Woche hat beispielsweise die bayerische
FDP beschlossen, in jeder Dekade mindestens ein Auenschutzgroßprojekt mit mindestens zehn zusammenhängenden Flusskilometern zu verwirklichen. Einfach, wirkungsvoll und realistisch. Das ist auch die Marschroute
für die Elbe. Nicht nur der Naturschutz, auch der Schutz
der Menschen vor Hochwassern erfordert gezielte Renaturierungsmaßnahmen. Dazu gehören auch Deichrückverlegungsmaßnahmen - wohl wissend, dass diese nur
gemeinsam mit den Anwohnern möglich sind.
In vielen Punkten sind wir also nicht so weit voneinander entfernt, auch wenn Ihr Antrag an manchen
Stellen schwammig oder etwas unrealistisch ist.
Ihrem Antrag ist zu entnehmen, dass Sie eine Verbesserung der Schiffbarkeit generell mit Argwohn verfolgen. Meines Erachtens kann eine Verbesserung der
Schiffbarkeit in engem Rahmen durchaus ermöglicht
werden, allerdings nur durch Unterhaltungsmaßnahmen. Die kategorisierte Kritik an der Schifffahrt ist aus
unserer Sicht übertrieben.
Auch an anderer Stelle möchte ich auf eine Ungenauigkeit hinweisen. Sie sprechen einerseits davon, dass das
Problem Wasserknappheit angegangen werden sollte,
ihres Erachtens durch den Stopp von Ausbaumaßnahmen.
Wasserknappheit ist für die mittlere Elbe ein massives
Problem. Die Diagnose ist sicherlich richtig.
Sie verkennen beim Stopp von Ausbaumaßnahmen jedoch, dass auch Ausbaumaßnahmen existieren, die im
Interesse des Flusses, ja sogar lebensnotwendig sind.
Die von mir angesprochene Sohlenstabilisierung oder
die Errichtung von Längs- und Querbänken sind nur
Beispiele. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie sagen: Ausbau schlecht, ökologische Unterhaltung gut.
Wir müssen uns voraussichtlich darauf einstellen,
dass die Elbe nicht dauerhaft einen Mindestwasserstand
erreichen wird. Ich glaube, von dieser Zielstellung sollten wir absehen.
Das Bundesverkehrsministerium wird die Bundeswasserstraßen nach Kategorien einteilen und diese nach
ihrem Verkehrsaufkommen bewerten, soweit scheint die
Sachlage klar. Eine Kanalisierung der Elbe steht demnach ganz sicher nicht an, und das ist eine gute Nachricht. Die Elbe wird davon profitieren.
Erinnern Sie sich noch an das große Elbe-Hochwasser von 2005? Die Dresdner Altstadt stand damals mit
ihren einmaligen Kulturschätzen unter Wasser. Danach
sollte alles anders werden, wie nach jedem der sogenannten Jahrhunderthochwasser, die immer häufiger
auftreten. Der Klimawandel hat uns auch mit den FlüsZu Protokoll gegebene Reden
sen fest im Griff. Weil wir in den letzten hundert Jahren
die Flüsse immer weiter ausgebaut haben, ist der materielle Schaden enorm hoch. Dabei ist die Elbe noch einer der naturnahen Flüsse. Zumindest auf 400 Kilometern im Mittellauf ist sie ohne Kanalisierung und wenig
verbaut. Wer auf dem Elbe-Radweg unterwegs ist, fährt
hier durch die schönste Auenlandschaft.
Die Extremwetterlagen werden in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. Das bedeutet: noch häufiger
Hochwasser. Aber genauso wird es extremes Niedrigwasser geben, wie wir es in diesen Tagen gerade erleben. Daran müssen wir uns nicht gewöhnen, daran müssen wir uns anpassen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir
uns generell für eine naturnahe Entwicklung der Flüsse
entscheiden.
Das bedeutet Umdenken. Andere Wege suchen, ist immer ein hartes Stück Arbeit, auch wenn das Ziel klar ist.
Das dauert und braucht Partner. Wenn wir uns die Elbe
ansehen, dann können wir feststellen, dass es schon eine
Menge von Einzelbausteinen gibt. Der Antrag der Grünen tut das Seinige dazu. Da können wir Linken in vielem zustimmen. Aber wir meinen, dass es an der Zeit ist,
das Puzzle zusammenzusetzen.
Ein Flusskonzept, davon war schon nach dem Hochwasser 2005 die Rede. Nun ist es offensichtlich so weit.
Sei einigen Tagen liegen Eckpunkte für ein Gesamtkonzept für die Elbe im deutschen Flussraum vor. Jetzt geht
es darum, aus den Eckpunkten ein strategisches Gesamtkonzept zu entwickeln. Das wird nur mit einem breiten
gesellschaftlichen Beteiligungsprozess gehen. Es gibt
viele verschiedene Nutzungsinteressen. Wir werden sicher noch öfter darüber diskutieren.
Vorab zwei Punkte zu den Grünen-Forderungen. Die
Schifffahrt auf der Elbe abzuschaffen, werden wir nicht
unterstützen, aber wir fordern flussangepasste Schiffstypen. Die Bundesregierung hat zwei Investitionsförderprogramme für die Modernisierung der Binnenschiffsflotte. Das teilte sie auf unsere Kleine Anfrage hin mit.
So weit, so gut. Aber sie teilte auch mit, dass sie flussangepasste Schiffstypen stärker fördern würde, wenn es
dafür zusätzliches Geld im Haushalt gäbe. Das kann
nicht sein, es dürften nur noch und ausschließlich flussangepasste Binnenschiffe mit öffentlichem Geld gefördert werden. Dann wird ein Schuh daraus. In Magdeburg wurde ein Container-Leichter als Prototyp für die
Elbe entwickelt. Das sind unternehmerische Aktivitäten,
die unterstützt werden sollten.
Im Punkt Hochwasserschutz stimmen wir mit den
Grünen überein. Warum hat der vorbeugende Hochwasserschutz für uns Linke eine so hohe Priorität? Der
Hochwasserschutz wird so preiswerter, und gleichzeitig
kann das Ökosystem Flusslandschaft aufatmen. Bei Lenzen wurde der Elbdeich auf einer Länge von 7,4 Kilometern zurückverlegt. Damit wurden zusätzliche Überflutungsflächen geschaffen und dem Fluss 420 Hektar Aue
wiedergegeben. Der Rhythmus der Elbe hat mit Überflutung bei Hochwasser und Trockenheit bei Niedrigwasser
in wenigen Jahren eine lebendige Auenlandschaft geschaffen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, Kolleginnen
und Kollegen: Setzen Sie sich aufs Fahrrad und schauen
Sie sich das an! Dann wissen Sie, was ich meine.
Mit dem vorliegenden Antrag, der nach langer Debatte nun endlich hier abschließend behandelt wird, haben wir einen umfassenden Vorschlag für die Entwicklung des Elbe-Raums vorgelegt.
Die Elbe ist einer der letzten großen freifließenden
Flüsse Europas, und die Flusslandschaft Elbe ist einzigartig in ihrer Vielfalt. Der Erhalt dieser besonderen
Landschaft ist uns ein wichtiges Anliegen. Aber auch die
wirtschaftliche Entwicklung der Region haben wir im
Auge. Während viele Politikerinnen und Politiker vor
Ort vor allem auf Binnenschifffahrt als Wirtschaftsfaktor setzen, öffnen wir den Blick und zeigen neue und alternative Entwicklungsmöglichkeiten auf. Denn für uns
hat der Schutz der Natur- und Kulturlandschaft Elbe
oberste Priorität. Es darf unter keinen Umständen einen
weiteren Ausbau der mittleren und oberen Elbe geben.
Statt einseitig weiter darauf zu hoffen, dass ein Ausbau
der Elbe endlich den seit der Wiedervereinigung vergeblich erwarteten Wirtschaftsaufschwung für die ElbeRegion bringt, wie es CDU, FDP und große Teile von
SPD und Linke tun, müssen endlich die wirklichen Potenziale der Region entwickelt werden.
Genau dies tun wir mit unseren Vorschlägen. Wir
skizzieren, wie eine nachhaltige, zukunftsfähige und naturverträgliche Entwicklung des Elberaums aussehen
kann, die Ökonomie und Ökologie zum Vorteil der Region verbindet.
Der wirklich zukunftsfähige Wirtschaftsfaktor der Region ist die touristische Nutzung der Natur- und Kulturpotenziale im Elbe-Raum. Schon jetzt hat der Tourismus
in der Region zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen und
noch immer gibt es ein großes Entwicklungspotenzial.
Für natürlich notwendigen Gütertransport besteht kein
Mangel an alternativen Transportmöglichkeiten. Die
Schiene bietet eine umweltfreundliche und verlässliche
Alternative für den Güterverkehr.
Im Mittelpunkt der zukünftigen Entwicklung der
Elbe-Region muss der Erhalt der einzigartigen Flusslandschaft mit all seinen positiven Funktionen für
Mensch und Natur stehen. Hierzu bedarf es eines gemeinsamen Vorgehens der Politik in Bund und Ländern
unter Einbeziehung aller relevanten gesellschaftlichen
Gruppen.
Auch die Bundesregierung hat vor dem Hintergrund
der angestoßenen Diskussion zur Zukunft der Elbe angekündigt, nun endlich eine Gesamtstrategie für den Elberaum vorzulegen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Aber
leider gibt es bisher, wie beim Minister Röttgen ja üblich, nichts außer schöne Sonntagsreden. Auch auf
Nachfrage ließ sich nichts Genaueres über die Inhalte
der Strategie erfahren. Nur Allgemeinplätze wie: „Im
Gesamtkonzept sollen die unterschiedlichen Ansprüche
an die Elbe gleichberechtigt einfließen; die schifffahrtliche Nutzung des Gewässers weiterhin ermöglicht und
die Grundlagen des Naturhaushaltes weiterentwickelt
Zu Protokoll gegebene Reden
und verbessert werden.“ Wahrscheinlich ist auch der
Bundesregierung klar, dass diese Ziele sich zum Teil widersprechen und es ein starkes Konfliktpotenzial gibt.
Jedoch scheint sie sich, anders als wir, davor zu
scheuen, diese Konflikte zu benennen und Lösungsvorschläge zu machen.
Der Staatssekretär im Verkehrsministerium Enak
Ferlemann hingegen erklärt permanent der Binnenschifffahrtslobby in Deutschland, aber auch im Nachbarland Tschechien, welch rosige Zukunft die Binnenschifffahrt auf der Elbe hat. Wie er das ohne eine
Vertiefung erreichen will, kann er nicht erklären. Auch
gaukelt er weiter freudig Tschechien vor, dass es kein
Problem sein wird, die versprochene und für die Wirtschaftlichkeit der tschechischen Staustufe notwendige
Mindesttiefe von 1,60 m dauerhaft zu erreichen. Dieses
Ziel wird aber seit Jahren deutlich verfehlt. Auf Nachfragen von uns muss selbst Ferlemann zerknirscht zugeben, dass eine Mindesttiefe für die Elbe nicht garantierbar ist.
Ja, was denn nun, liebe Bundesregierung? - Seien Sie
doch endlich ehrlich und geben Sie das Phantomziel von
1,60 m Mindesttiefe ganzjährig auf! Folgen Sie dem Vorschlag ihrer eigenen Experten, die Elbe zukünftig ins
Nebennetz einzuordnen! Da gehört sie nämlich hin.
Wenn Sie sich dazu durchringen können, ist eine gute
Grundlage geschaffen, um gemeinsam Ideen und Konzepte für die Zukunft der Elbe-Region zu diskutieren.
Dazu haben wir erste Anstöße in unserem Antrag gegeben. Kern des Antrages ist es, die Entwicklung einer
Strategie unter Einbeziehung aller relevanten Gruppen
anzustoßen. Auch wir haben noch keine abschließende
Patentlösung für die Zukunft des Elbe-Raums. Aber wir
benennen die Konflikte, wir bestimmen die Rahmenbedingungen und Ziele einer solchen Strategie. Die gemeinsame Entwicklung von detaillierten Konzepten
muss jetzt folgen.
Für diese Ansätze unseres Antrages gab es ja auch
durchaus viel Lob im Umweltausschuss, mal abgesehen
von der CDU/CSU-Fraktion; viele Kolleginnen und
Kollegen meinten, der Antrag enthalte durchaus sinnvolle Passagen und man müsse das Thema weiterdiskutieren. Leider konnte sich keiner von ihnen zu einer Zustimmung durchringen. Aber wir nehmen das Angebot
zur weiteren Diskussion gerne an. Wir erwarten bald
auch vonseiten der Bundesregierung und aller anderen
Fraktionen im Bundestag entsprechende Vorschläge.
Nur so können wir gemeinsam ein gutes Konzept für eine
nachhaltige Zukunft der Elbe-Region entwickeln.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7681,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4554 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 17/6764 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/7991 Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8003 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({2})
Bettina Hagedorn
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({3})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Sie sind alle damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7991, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6764 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen?
- Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bahnpreiserhöhung stoppen
- Drucksache 17/7940 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
1) Anlage 8
Vizepräsident Eduard Oswald
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns hier vor.
Preiserhöhungen, egal welcher Art, werden von den
Verbrauchern negativ gesehen. Deshalb wurde die
Preiserhöhung der Deutschen Bahn in der Öffentlichkeit
mit Kritik bedacht. Auf diesen Zug will die Linke aufspringen, ohne wirklich auf Argumente einzugehen oder
die wirtschaftlichen Aspekte zu beleuchten.
Ja, es ist richtig, dass die Deutsche Bahn AG ihre
Preise erhöht, aber dies geschieht nicht überzogen, sondern moderat. Nach dem Verzicht auf eine Preiserhöhung im Fernverkehr im vergangenen Jahr hebt die
Deutsche Bahn zum 11. Dezember 2011 die Preise im
Fernverkehr um durchschnittlich 3,9 Prozent an.
3,9 Prozent für zwei Jahre - diese Erhöhung bewegt sich
im Rahmen der Inflationsrate. Im Nahverkehr beträgt
die Anhebung durchschnittlich 2,7 Prozent. Auch hier
bewegt sich die DB wiederum im Rahmen der Inflationsrate. Berücksichtigen wir dann noch, dass der Preisbrecher Energie einen großen Teil der Betriebskosten bei
der DB ausmacht, zeigt sich, dass die Erhöhung durchaus akzeptabel ist.
Dies zeigt sich auch im Vergleich mit den Nahverkehrsverbünden. Hier schneidet die DB mit ihrer Preiserhöhung sogar gut ab, da sie sich weit unterhalb der
Preisentwicklung der großen Verkehrsverbünde bewegt
hat. Die Preise bei der DB sind in Summe seit 2002 wesentlich geringer gestiegen als bei den öffentlichen Verkehrsverbünden. Während die Preise bei den Verkehrsverbünden im Zeitraum von 2002 bis 2012 um
37 Prozent gestiegen sind, sind die Preise bei DB Regio
um circa 30 Prozent und die Preise bei DB Fernverkehr
nur um circa 15 Prozent gestiegen.
Uneingeschränkt zu begrüßen ist die Entscheidung
der DB, Kundengruppen mit kleinem Geldbeutel nicht
stärker zu belasten. Deshalb bleibt die Jugend Bahncard 25 mit einer einmaligen Bearbeitungsgebühr von
10 Euro und Gültigkeit bis einschließlich des 18. Lebensjahres preisstabil. Das Gleiche gilt auch für die ermäßigte Bahncard 25 für Schüler, Studenten und Senioren für 39 Euro in der 2. Klasse. Erfreulich ist auch, dass
im Fernverkehr auf eine Verteuerung der Sparpreise
verzichtet wurde. Somit gibt es den Sparpreis unverändert für die einfache Fahrt ab 29 Euro in der 2. Klasse
und für Kurzstrecken bis 250 Kilometer ab 19 Euro gültig für Reisen im ICE oder Intercity/Eurocity.
Der moderate Anstieg der Fahrpreise wird auch künftig dazu führen, dass die Bahn weiterhin allen eine komfortable, umweltgerechte und vor allem preisgünstige
Mobilität ermöglichen wird. Und die Bahn ist und bleibt
sozial. Die DB hat im Vergleich zu anderen touristischen
Anbietern besonders günstige Angebote für Familien.
Im Gegensatz zu den Airlines fahren Kinder bis 14 Jahre
in Begleitung ihrer Eltern bei der DB kostenlos. Pro
Jahr befördert die DB beispielsweise im Fernverkehr
über 4 Millionen Kinder kostenlos.
Die Linken führen einen Wust an Zahlen an, um die
DB bewusst zu diskreditieren. So lässt das in der Darstellung gewählte Bezugsjahr 2003 völlig außer Acht,
dass kurz zuvor im Dezember 2002 im Rahmen der Einführung des neuen Preissystems die Normalpreise erheblich um circa 12 Prozent gesenkt wurden. Betrachten
wir also die Preisentwicklung in der letzten Dekade seit
2001, dann ergibt sich eine durchschnittliche Preisentwicklung der Bruttopreise von rund 16 Prozent, eine
Steigerung, die in etwa der Inflation entspricht.
Die Linken nehmen in ihrem Antrag nur Bezug auf die
Preissteigerung beim Normalpreis. Dies bildet aber nur
eine geringe Nachfrage im Preisportfolio der DB ab.
Die DB Fernverkehr hat seit 2004 den Anteil an hochrabattierten Angeboten durch kontinuierlichen Aufbau
der Sparpreise von circa 10 Prozent auf circa 40 Prozent
erhöht. In Summe gewährt die DB hohe Ermäßigungen
gegenüber dem Normalpreis zum Beispiel im Fernverkehr von durchschnittlich über 50 Prozent, vor allem für
Zielgruppen wie Familien und Pendler.
Die Linken unterstellen der DB Willkür. Das ist es
aber nicht. Die DB hat den Auftrag, ihre Fahrzeugflotte
auf einem guten, ja einem erstklassigen Stand zu halten.
Dass dies in der Vergangenheit nicht immer geklappt
hat, ist unbestritten. Aber wir müssen der DB doch auch
die Einkommensmöglichkeiten zugestehen, die Gelder
einzunehmen, die notwendig sind, ihre Betriebskosten zu
decken und in neue Züge zu investieren.
Gerade die Linken als Nachfolger der PDS sollten
doch wissen, was passiert, wenn nicht ausreichend investiert wird, wenn nur von der Substanz gelebt wird.
Während der SED-Diktatur wurde die Bahn doch vor die
Wand gefahren und zu einem absolut unzuverlässigen
Fortbewegungsmittel degradiert. Sie als direkte Nachfolgepartei haben mit zu verantworten, dass die Weichen
damals in die Sackgasse und nicht auf zukunftsorientierte Investitionen gestellt wurden.
Auf der anderen Seite können wir natürlich von der
DB erwarten, dass die Zuverlässigkeit der Zugverbindungen zunimmt. Seit Dr. Peter Ramsauer das Bundesverkehrsministerium und Dr. Rüdiger Grube den DBKonzern übernommen haben, haben sich die Verhältnisse bei der Bahn wesentlich verbessert.
Die unter Rot-Grün gestarteten Bemühungen, die DB
unter allen Umständen gewinnbringend an die Börse zu
bringen, hat der Leistungsfähigkeit der Bahn geschadet,
hat ihrem Ruf geschadet. Unter Schröder und Mehdorn
wurden alle Reserven abgebaut. Das konnte auf Dauer
nicht gut gehen. Aber die DB baut langsam die abgebauten Kontrollinstanzen und Reparatureinheiten auf, hat
für den zu erwartenden Winter Maßnahmen getroffen,
wie zusätzliche Enteisungsanlagen und Sicherungen bei
den Weichen. Aber es muss uns klar sein, dass abgebaute Kontroll- und Reparatureinheiten nicht von heute
auf morgen wieder aufgebaut werden können. Im Bahnbereich wird in Jahrzehnten geplant, bestellt und agiert.
Kurzfristige Änderungen sind kaum erfolgreich.
Konzernchef Grube hat gezeigt, dass er gewillt ist,
die frühere Leistungsfähigkeit und die geschätzte ZuverUlrich Lange
lässigkeit der Bahn wiederherzustellen. Hierfür braucht
er nicht nur ein wenig Zeit, sondern auch die notwendigen Einnahmen. Die von der Bahn durchgeführte Preiserhöhung ist moderat und angemessen.
Der vorliegende Antrag der Linksfraktion ist schlicht
und ergreifend eines: populistisch.
Mit ihrem Antrag kritisiert die Linksfraktion die Ankündigung der Deutschen Bahn AG, zum 11. Dezember
2011 die Fahrpreise im Fern- und Nahverkehr zu erhöhen. Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, bei
der DB AG auf einen Verzicht auf diese Erhöhung hinzuwirken. Natürlich möchte niemand Preiserhöhungen.
Kein Mensch will mehr bezahlen - egal wofür. Doch die
Frage ist hier, um welchen Preis dies möglich wäre.
Denn durch diesen Antrag wird deutlich, welches Verständnis die Linksfraktion von einer Bahn in Deutschland hat: Die Linke wünscht sich eine Staatsbahn, in der
die Politik die Entscheidungen diktiert - bis hin zur
Festlegung der Fahrpreise. Doch es war immer das Ziel
aller Fraktionen im Deutschen Bundestag, die Bahn aus
dem politischen Geschacher herauszuholen.
Daher hat der Bundestag vor sehr langer Zeit beschlossen, aus der Bahn eine Aktiengesellschaft zu machen. Auch die linke Seite des Plenums hat diese Politik
nicht nur getragen, sondern ist gerade in der Zeit sozialdemokratischer Verkehrsminister dabei sogar über das
Ziel hinausgeschossen: Die extreme Fokussierung auf
einen Börsengang hat die Bahn viel Reputation gekostet.
Dennoch: Wenn Politik ständig bei der Bahn „hineinfummeln“ würde, wäre der Schaden größer als der Nutzen.
Auch die öffentliche Anhörung zur Bahnstruktur, welche wir im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am 19. Oktober 2011 durchgeführt haben, hat deutlich belegt: Die Bahnreform von 1994 war die absolut
richtige Entscheidung. Das war auch unter den Sachverständigen unstreitig. Mit Recht genießt die deutsche
Bahnreform international ein hohes Ansehen. Ihr primäres Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, hat sie
erreicht, und zudem hat sie auch noch für eine Entlastung des Bundeshaushaltes gesorgt. So stieg etwa die
Verkehrsleistung auf der Schiene im Personenverkehr im
Zeitraum zwischen 1994 und 2010 von gut 65 Milliarden
Personenkilometern auf 83 Milliarden Personenkilometer. Auf der anderen Seite ist im gleichen Zeitraum die
nominelle jährliche Belastung des Bundeshaushaltes
von 20 Milliarden Euro auf etwa 17 Milliarden Euro gesunken. Im Vergleich dazu stieg in Großbritannien der
betreffende Wert im gleichen Zeitraum um 99 Prozent
und in Frankreich um 18 Prozent.
Auch der Wettbewerb funktioniert auf dem deutschen
Schienenmarkt immer besser. Die Bundesnetzagentur
überwacht als unabhängige und mit umfangreichen
Kompetenzen ausgestattete Regulierungsbehörde die
Markteintrittsbedingungen.
Zudem hat die DB AG seit der Bahnreform in der Zeit
von 1994 bis 2010 im Durchschnitt jährlich knapp
1 Milliarde Euro an Eigenmitteln in die Infrastruktur investiert.
Unabhängig davon ist Ihr Antrag nicht seriös. Sie benennen als Referenzjahr das Jahr 2003, ohne jedoch zu
erwähnen, dass es im Dezember 2002 im Rahmen der
Einführung des neuen Preissystems eine Absenkung der
Fahrpreise um rund 12 Prozent gegeben hatte. Richtigerweise sollte also der Betrachtungszeitraum auf das
Ausgangsjahr 2001 erweitert werden. Dabei wird deutlich, dass die Bruttopreise im Durchschnitt nur um insgesamt 16 Prozent gestiegen sind. Diese Entwicklung
liegt im Rahmen der Inflation.
Sie sind mit Ihrem Antrag also haarscharf an der
Wahrheit vorbeigeschossen, bestimmt nur unabsichtlich
und aus Versehen.
In der Sache bietet sich auch ein Vergleich zu den
Verkehrsverbünden an: Dort sind die Preise zwischen
2002 und 2011 um 37 Prozent angestiegen, während die
Preise bei der DB Regio im gleichen Zeitraum um etwa
30 Prozent und bei der DB Fernverkehr um rund 15 Prozent gestiegen sind.
Ein weiterer Punkt: Sie nehmen in Ihrem Antrag lediglich Bezug auf die Steigerungen der Normalpreise.
Damit lassen Sie außer Betracht, dass bereits seit mehreren Jahren ein breites Angebot stark rabattierter
Fahrkarten besteht. Viele der Bahnkunden nutzen diese
Sparpreise, die auch ohne Vorliegen einer Bahncard
verfügbar sind.
Bei aller auch berechtigten Kritik an der Bahn: Am
Ende schreiben auch Sie in Ihrem Antrag, dass die Nutzerakzeptanz immer weiter gestiegen ist und die Personenkilometer von Jahr zu Jahr anwachsen. Ich bin gespannt, wie sich die Preiserhöhungen darauf auswirken
werden. Denn die Bahn steht sehr wohl im Wettbewerb:
nicht nur zu privaten Konkurrenten, gerade im Regionalverkehr, sondern auch zum Flugzeug und zum Auto.
Gerade beim Auto gibt es auch immer mehr neuartige
Angebote: Man nehme nur die vielen Internetangebote,
durch die eine Nutzung von Fahrgemeinschaften sehr
viel attraktiver wird.
Nicht zuletzt würde aber insbesondere die Freigabe
von Buslinienverkehren für viel mehr Wettbewerb im
Fernverkehr sorgen und vor allem für sozial schwächere
Menschen ein deutliches Plus an Mobilität bringen.
Doch das blockiert die linke Hälfte dieses Hauses gerade im Bundesrat. Ich finde das absurd. Ich frage mich,
wie Sie Ihren Wählern eigentlich erklären wollen, warum gerade Sie preiswerte Fernverkehrsangebote verhindern. Wohlhabende Menschen haben auch heute
schon eine hohe Mobilität. Aber gerade für sozial
schwächere bedeuten die preiswerten Buslinienverkehre
ein echtes Plus an Mobilität.
Und dieser intermodale Wettbewerb würde auch
Druck auf die Preisgestaltung der Deutschen Bahn AG
ausüben. Auch das ist unser Modell. Eine kluge Lösung,
bei der durch den Staat der richtige Rahmen gesetzt
wird. Staatsintervention ist hingegen nicht einmal eine
schlechtere Alternative - es ist gar keine.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der 11. Dezember wird ein schwarzer Tag für die Verkehrswende in Deutschland. Denn da erhöht die Deutsche Bahn AG die Preise für Fahrkarten im Nah- und
Fernverkehr, für Platzreservierungen über das Internet
sowie für die BahnCards. Sparpreise werden gestrichen,
Bedienzuschläge werden mehr und der Mitfahrerrabatt
wird begrenzt. Für die Bürgerinnen und Bürger ist das
- verständlicherweise - schwer nachzuvollziehen. Ich
nenne nur drei Beispiele:
Da hören sie - erstens -, dass die Deutsche Bahn AG
in diesem Jahr einen Rekordgewinn von mehr als zwei
Milliarden Euro einfahren wird. Warum werden also die
Fahrpreise erhöht, wenn das Unternehmen so viel Gewinn macht? Da haben sie - zweitens - das Chaos im
Winter, die kaputten Klimaanlagen im Sommer oder die
Verspätungen und Zugausfälle vor Augen und fragen
sich: Warum werden die Fahrpreise erhöht, wenn die
Qualität nicht gestiegen ist? Und da fragen sich die Bürgerinnen und Bürger - drittens -, wie sie ausgerechnet
eine Preiserhöhung dazu motivieren soll, sich nicht für
das Auto oder das Flugzeug zu entscheiden, sondern auf
die Bahn umzusteigen.
Bahnfahren muss billiger werden in Deutschland,
denn die Menschen brauchen Alternativen im Verkehrsbereich. Eine Alternative zum Auto ist das Bahnfahren.
Für eine verkehrspolitische Wende muss vonseiten der
Bundesregierung aber wirksam eingegriffen werden: Ich
fordere die Bundesregierung auf, einen Bahngipfel zur
Umsetzung von billigeren Fahrkarten einzuberufen. Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen für günstigeren
und zuverlässigeren Schienenverkehr umzusetzen. Als
Eigentümerin der Deutschen Bahn AG ist die Bundesregierung an erster Stelle gefordert.
Wir müssen der Bahn wieder einen Vorrang bei den
Verkehrsträgern einräumen - und zwar in vielen Bereichen. Ich möchte an dieser Stelle nur zwei nennen: Wir
müssen endlich mehr in die Infrastruktur investieren. Ich
wünsche mir für eine Verkehrswende ein klares Bekenntnis zur Bahn und die Zusage des Bundes, deutlich in die
Infrastruktur zu investieren. Die 100 Millionen Euro zusätzlich für die Schiene sind zu wenig; das ist mehr als
offensichtlich.
Unter Schwarz-Gelb ist der Grundsatz „Schiene vor
Straße“ verloren gegangen. Wir müssen ihn wieder aufnehmen und es ermöglichen, dass die Schiene maximal
ausgelastet wird. Wir müssen die Bahn von Steuern entlasten. Da gibt es zwei Ansatzpunkte: Erstens: In keinem
Land der Welt außer in Deutschland zahlt die Bahn den
vollen Mehrwertsteuersatz. Deshalb sind in einem ersten Schritt die Bahnen von der Mehrwertsteuer zu befreien. Zweitens: In keinem Land der Welt schlägt die
Mineralölsteuer derart zu Buche wie bei uns. Da gibt es
also auch noch großen Spielraum - und damit auch bei
den Fahrpreisen, die deutlich günstiger werden könnten.
Die Bundesregierung spricht immer viel über Steuererleichterungen. Im Bahnverkehr wären sie sinnvoll, sowohl im Personen- als auch im Schienengüterverkehr.
Die Krux ist natürlich: Die Steuervergünstigungen müssen auch beim Fahrgast ankommen. Da sind sowohl die
Bundesregierung als auch die Bahnen in der Pflicht.
Von der Politik müssen Impulse für umweltschonende
und vernetzte Verkehrssysteme der Zukunft ausgehen.
Ideen und Konzepte sind vorhanden. Jetzt gilt es, diese
umzusetzen. Ziel muss es sein, den Personenverkehr attraktiver zu gestalten. Bahnfahren muss billiger werden,
damit die Verkehrswende in Deutschland gelingt. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, einen Bahngipfel einzuberufen und die Bahnen von der Mehrwertsteuer zu befreien. Von einem Bahngipfel erwarte ich
mir die Wende in der Mobilität in Deutschland.
Aus dem Antrag der Linken spricht einmal mehr der
Geist der Vergangenheit. Wie in alten Tagen soll der
Bund als Eigentümer die Preise des Unternehmens dekretieren. Das ist schlicht falsch. Man mag zur Preisentwicklung bei der Bahn - die übrigens unterhalb der
Teuerung im Individualverkehr liegt - stehen, wie man
will: Die Deutsche Bahn AG ist ein aktienrechtlich organisiertes Unternehmen, sein Vorstand ist dem Interesse
des Konzerns verpflichtet und trifft eigenständige Entscheidungen aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Und das
ist auch gut so! Wohin es führt, wenn die Politik die
Preise und das Angebot der Bahn diktiert, das haben wir
in der jüngsten deutschen Vergangenheit gleich zweimal
erlebt. Einen ausführlichen Rekurs über die Missstände
der Deutschen Reichsbahn will ich Ihnen an dieser
Stelle gerne ersparen. Vielleicht erinnern Sie sich ja einmal bei Gelegenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen bei
den Linken, wie es damals so aussah mit ostdeutschen
Zügen und dem Verkehrsangebot.
Aber auch im Westen hatten wir, wenn auch auf insgesamt besserem Niveau, unsere Bahnkatastrophe. Der gesamte Umsatz des Unternehmens reichte nicht einmal
aus, um die Personalkosten zu decken. Der Anteil am
Güterverkehr war auf unter 20 Prozent gesunken, die
Gesamtverschuldung auf 34 Milliarden Euro angestiegen. Nach damaligen Prognosen hätte sich diese Schuldenlast bis 2003 auf unglaubliche 195 Milliarden Euro
erhöht. Ein geradezu griechisches Niveau! Allein 1993
betrug der Unternehmensverlust der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn 4,8 bzw. 3,1 Milliarden Euro. Von dem vollkommen mangelhaften Angebot und Service für die Kunden ganz zu schweigen.
Die Bahnreform von 1993/94 hat daraus die Konsequenzen gezogen und die Deutsche Bahn dem politischen Einfluss entzogen. Wenn man sich die Ergebnislage und, bei allen Defiziten, auch die Qualität des
heutigen Angebots anschaut, stellt man fest: Diese Entscheidung war richtig und hat dem Unternehmen wie
den Kunden genutzt. Die Forderung der Linken, die Sie
hier und heute aufmachen, wäre ein großer Schritt zurück hinter diesen vielleicht größten Reformerfolg der
deutschen Verkehrspolitik in den letzten dreißig, vierzig
Jahren. Sie wollen aus der Deutschen Bahn wieder den
alten Staatskonzern, eine Behördenbahn machen. Das
kann nur schiefgehen. Erlauben Sie mir, Walter Eucken,
Zu Protokoll gegebene Reden
einen der Väter unserer sozialen Marktwirtschaft, zu zitieren:
Die Verstaatlichung von Monopolen löst das Monopolproblem nicht. Staatliche Monopole - zum Beispiel der Eisenbahn oder Elektrizitätswerke - treiben regelmäßig ebenso monopolistische Politik wie
private Monopole. […] Vielfach ist sogar die Neigung, die Monopolposition vollständig auszunutzen, bei staatlichen Monopolverwaltungen größer
als bei privaten. Die staatliche Monopolverwaltung
fühlt sich nämlich zu diesem Verhalten berechtigt,
weil die Einnahmen dem Staat oder der Stadt zufließen, also eine indirekte Steuer darstellen und nicht
zu privaten Zwecken verwendet werden. Im Übrigen fühlt sich der Staat viel sicherer vor einer möglichen Konkurrenz; er kann zum Beispiel aufkommende Substitutionskonkurrenz mit Mitteln der
Gesetzgebung beschränken.
Wenn Sie wirklich für besseren Service und niedrigere
Preise sind, dann sollten Sie sich nicht an Marx und
Lenin, sondern an Walter Eucken und Ludwig Erhardt
orientieren - das heißt, Monopole auflösen und einen
freien, fairen Wettbewerb ermöglichen. Das Problem im
Bahnverkehr ist ja gerade nach wie vor nicht, dass es
dort zu wenig Staat gäbe, sondern dass er zu oft an den
falschen Stellen tätig wird. Der Staat soll in der sozialen
Marktwirtschaft nicht die Preise diktieren, sondern einen fairen und offenen Wettbewerb um das beste Angebot gewährleisten. Bei diesem Ziel sind wir, vor allem
auch im Personenverkehr, immer noch nicht weit genug
gekommen.
Die FDP-Fraktion hat ihre Haltung in dieser Frage
in der Vergangenheit mehrfach und deutlich dokumentiert. Unser Nahziel ist eine strengere Trennung zwischen der Infrastrukturgesellschaft DB Netz AG und den
Betriebsgesellschaften. Dazu gehört bekanntermaßen
auch die Kappung der Gewinnabführungsverträge.
Dazu haben wir das Nötige im Koalitionsvertrag gesagt.
Als Fernziel muss man auch die Privatisierung zumindest einzelner Sparten im Blick behalten, auch wenn dies
derzeit sowohl aufgrund des Zustands der verschiedenen
Unternehmensteile als auch aufgrund der Bedingungen
an den Finanzmärkten nicht auf der Tagesordnung steht.
Der jetzige Zustand ist und bleibt ordnungspolitisch
nicht zufriedenstellend. Dieses Problem zu lösen, dazu
sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, einen Beitrag leisten - und nicht die Schlachten
von vorgestern noch einmal schlagen.
Bahnfahren wird schon wieder teurer - wie jedes
Jahr. Für uns Bundestagsabgeordnete kein Problem,
weil wir mit der kostenlosen Netzkarte reisen - und zwar
erste Klasse. Aber die allermeisten Leute, die umweltbewusst die Bahn nutzen oder die darauf angewiesen sind,
werden übermäßig zur Kasse gebeten. Und das dürfen
wir nicht zulassen. Konkret steigen die Preise zum Fahrplanwechsel in diesen Tagen um 3,9 Prozent im Fernverkehr und um 2,7 Prozent im Nahverkehr.
Wir haben mal alle Preiserhöhungen der letzten
Jahre zusammengestellt. Eine Grafik dazu finden Sie in
unserem Antrag. Das Ergebnis ist ein Ohrfeige für alle,
die mehr Reisende von der Straße auf die Schiene bringen wollen: Seit 2003 sind die Preise fürs Bahnfahren
um über 31 Prozent gestiegen - das ist doppelt so viel
wie die Inflationsrate in diesem Zeitraum; die lag bei
15,4 Prozent. Ungefähr so hoch war auch die Teuerungsrate für Autofahrer. Das heißt, dass diejenigen
draufzahlen, die sich vernünftig verhalten. Das ist doch
gesellschaftpolitische Dummheit.
Doch damit nicht genug. Neben den offiziellen wirken
sich die versteckten Preiserhöhungen noch schlimmer
aus. Zum Beispiel fallen mit dem diesjährigen Fahrplanwechsel die Sparpreise 25 und 50 weg, und Reservierungen im Internet werden 60 Prozent teurer. Der Preis für
die Bahncard 50 wird um 4,3 Prozent angehoben. Damit
ist der Preis dieser Karte für Vielfahrerinnen seit 2003
um fast 74 Prozent gestiegen. Also die Bahn verschreckt
mit dieser Preispolitik vor allem ihre besten Kunden.
Dazu kommt das Problem, dass das Preissystem der
Bahn über die Jahre immer unübersichtlicher gemacht
worden ist. Inzwischen ist es selbst für eingefleischte
Bahnfans schwierig, herauszufinden, wie man am günstigsten fahren kann. Nach Untersuchungen von Stiftung
Warentest schafft das oft nicht einmal das Servicepersonal in den Reisezentren. Bahnfahren wird also immer
mehr zum teuren Glücksspiel, und das schreckt die Menschen ab.
Nun könnte man ja sagen: Wenn die Bahn immer besser würde, wäre es angemessen, mehr Geld zu verlangen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Preise steigen,
aber der Bahnservice wird schlechter. Die Zahl der Züge
nimmt ab, und jetzt sollen diese auch noch seltener gereinigt werden, um Kosten einzusparen. Noch schlimmer: Immer mehr Zugverbindungen im Fernverkehr
werden komplett aus dem Fahrplan gestrichen. Wir haben bei widrigem Wetter im Winter chaotische Zustände
erlebt und sogar im Sommer. Aber selbst wenn alles normal läuft, sind nur noch zwei Drittel der Fernzüge
pünktlich. Das haben Stiftung Warentest und VCD nachgewiesen. Oft verpasst man dann den Anschlusszug, und
wegen 10 Minuten Verspätung kommt man erst ein oder
zwei Stunden später am Ziel an. Also leider keine bessere Bahn, sondern das Gegenteil. Das muss sich aber
ändern. Weil die Bahn zu 100 Prozent dem Bund gehört,
hat auch der Bundestag da eine Verantwortung.
Wir brauchen keine Deutsche Bahn AG die 2011 einen Rekordgewinn von über 2 Milliarden Euro anpeilt,
wenn das zulasten der Qualität und zulasten der Bahnreisenden geht. Wir wollen keine Bahn, die sich auf Geschäftsreisende und Besserverdienende konzentriert.
Was wir brauchen, ist eine Bahn für alle mit attraktiven
Angeboten für die breite Bevölkerung, um allen Menschen ein ökologisches Reisen zu ermöglichen.
Der Verkehrsminister sollte sich Rat holen bei der
Schweizer Bahn: Dort redet niemand von maximalen
Gewinnen. Dort hat das öffentliche Eisenbahnunternehmen klare Vorgaben, welche Angebote nach welchen
Qualitätskriterien gewährleistet werden müssen. Und
das ist auch richtig so.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sabine Leidig ({0})
Sorgen Sie dafür, dass Bahnfahren gut und günstig
wird! Mit einem einheitlichen und nachvollziehbaren
Preissystem, das deutschlandweit für den gesamten öffentlichen Verkehr gilt, wie es die Schweiz mit dem „direkten Verkehr“ macht. Mit Preisen, die auch für Menschen mit geringerem Einkommen erschwinglich sind,
und mit attraktiven Dauerkarten, um viel mehr Stammkundinnen und Stammkunden für die Bahn zu gewinnen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Bahnpreisspirale zu stoppen. Sorgen Sie dafür, dass die jüngste
Fahrpreiserhöhung zurückgenommen wird - so lange,
bis die Leistung stimmt!
Der Antrag der Linken zu Bahnpreisen greift ein Problem auf, das viele Menschen täglich trifft. Bahnfahren
ist in den letzten Jahren immer teurer geworden. Treueste Bahn-Fans wurden verprellt und steigen um: in Billigflieger. Vor allem aber spielen auch Pkw eine immer
größere Rolle. Die Nutzung von Mitfahrgelegenheiten
ist zu einem Massenphänomen geworden. Der einzige
Grund, warum sich Menschen für Fahrten quer durch
Deutschland zu dritt auf die Rückbank eines Kleinwagens quetschen, liegt in den hohen Preisen der Bahn.
Viele von ihnen würden viel lieber Bahn fahren, aber bei
oft dreimal höheren Kosten ist der Anreiz einfach nicht
gegeben.
Die Analyse der Fahrtkosten in dem Antrag ist grundsätzlich richtig. Sie haben hier das Offensichtliche und
jedem Bekannte noch einmal fein säuberlich aufgelistet.
Leider fehlt diese Sorgfalt für Ihren Politikansatz, wie
Sie dieses Problem lösen wollen, und es werden die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Hier wird eine einfache Lösung für ein sehr komplexes Problem vorgegaukelt. Das dürfte wahrscheinlich sehr populär sein, geht
aber an den Realitäten vorbei. Auch ich habe natürlich
nichts gegen niedrige Bahnpreise. Die Deutsche Bahn
ist jedoch ein selbstständiges Unternehmen, über das
der Bund als Eigentümer nur in strategischen Grundsatzentscheidungen im Aufsichtsrat Einfluss nehmen
kann. Ein Eingriff in die Preisgestaltung ab Dezember
gehört hier sicher nicht dazu. Wenn Sie in die Preise der
Bahn eingreifen wollen, dann müssen Sie die gesamte
rechtliche Form des Unternehmens ändern. Wollen Sie
etwa wieder zurück zur Behördenbahn? Mit einem Antrag zu den Preisen erreichen Sie hier gar nichts, und es
ist falsch, den Menschen in unserem Land etwas anderes
vorzugaukeln.
Auch bleiben Sie völlig unkonkret, was Sie unter einer
Reform des Preissystems verstehen und wie das umgesetzt werden könnte. Über den Aufsichtsrat werden Sie
nur begrenzt Einfluss nehmen können. Schließlich müssten Sie auch konkretisieren, was Sie mit der „Förderung
und dem Ausbau der Mobilitätskarten BC50 und
BC100“ meinen. Hierzu finden sich in Ihrer Begründung wieder ausführliche Analysen, aber leider ist nicht
zu erfahren, ob Sie hier eine Förderung aus dem Bundeshaushalt meinen, was das eventuell kosten würde und
womit Sie das finanzieren wollen. Dazu erwarte ich konkrete Vorschläge, und ich hoffe, dass Sie die in den Ausschussberatungen noch nachliefern können.
Wenn Sie wirklich und grundlegend etwas an den
Preisen der Bahn ändern wollen, ist ein ganz anderer
Ansatz notwendig: Wir brauchen schlicht und einfach
Wettbewerb. Ich spreche hier bewusst nicht von mehr
Wettbewerb - denn es gibt quasi gar keine Konkurrenz
zur Bahn im Personenfernverkehr. Jeder weiß, dass
Wettbewerb zu sinkenden Preisen führt - ich erinnere
nur an den Telekommunikationsmarkt - und dass Monopole genau das Gegenteil bewirken. Wer keine Konkurrenz hat, hat keinerlei Anlass, seine Preisgestaltung zu
ändern.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie wir zu Wettbewerb im Personenfernverkehr kommen können: Wir
müssten konsequent regulieren und Anreize zur Kostenminimierung schaffen - also endlich eine Anreizregulierung schaffen - sowie schließlich auch darüber reden,
wie wir das Schienennetz allen Anbietern zu gleichen
Bedingungen zur Verfügung stellen können. Nur damit
könnten sich auch Wettbewerber im Fernverkehr etablieren.
Als Eigentümerin des Schienennetzes hat die Deutsche Bahn entscheidenden Einfluss, wer zu welchen
Bedingungen die Strecken nutzt. Hier werden Wettbewerber konsequent benachteiligt. Wir kennen die Problematik aus der Versorgung mit Bahnstrom, wo die
Konkurrenz der DB etwa viel höhere Energiepreise zu
zahlen hat. Und jetzt wird auch noch angekündigt, die
Trassennutzung als Miete zu deklarieren und zu besteuern - natürlich nur für die Wettbewerber der Deutschen
Bahn und ausdrücklich weder für die DB selbst oder gar
für den Lkw-Verkehr oder den Fernbusverkehr. Wettbewerb wird damit konsequent verhindert.
Wer wirklich etwas ändern und für niedrigere Preise
sorgen will, muss also hier ansetzen. Leider geht die
Politik der Linken in eine andere Richtung. Sie wollen
das Monopol der Bahn erhalten und mit einer Rückverstaatlichung zementieren. Selbst eine Öffnung des Fernbusmarktes lehnen Sie ab, obwohl damit wenigstens
etwas Bewegung in den Personenfernverkehr kommen
würde.
Es immer wieder erstaunlich, dass Sie auf Fragen der
Zukunft mit den Ideen von gestern antworten. Jahrzehntelang hatten wir in Ost wie West die Behördenbahn, und
jeder weiß, wie unsere Züge und Bahnhöfe früher aussahen. Damals hatte der Staat ein vollständiges Durchgriffsrecht - aber leider hat das auch damals nicht zur
stets kundenfreundlichen oder pünktlichen Bahn geführt. Ich kann deswegen nicht nachvollziehen, wie Sie
mit einer solchen Konstruktion wieder zu einem besseren Bahnangebot kommen wollen.
Selbstverständlich bin auch ich mit vielem bei der
Bahn nicht einverstanden, und ganz sicher sind die
hohen Preise ein Grund zur Kritik. Wir müssen hierauf
aber neue Antworten finden und dürfen nicht mit den
Rezepten von vorgestern kommen. Mir ist klar, dass das
ein steiniger und langer Weg ist. Die Deutsche Bahn
wird ihr Monopol verteidigen. Jeder würde das tun. Als
Zu Protokoll gegebene Reden
Politiker haben wir aber die Aufgabe, nicht die Interessen eines Unternehmens zu bedienen, sondern wir müssen die gesamte Gesellschaft im Blick haben.
Insofern fordere ich die Kolleginnen und Kollegen
der Linken auf, konstruktiv an den Ursachen der hohen
Bahnpreise zu arbeiten und für mehr Wettbewerb auf der
Schiene zu sorgen, statt Augenwischerei zu betreiben
und eine einfache Lösung dort vorzumachen, wo ein
dickes Brett zu bohren ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7940 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht
KOM({1}) 635 endg.; Ratsdok. 15429/11
hier: Stellungnahme gemäß Protokoll Nr. 2
zum Vertrag über die Europäische Union und
zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ({2})
- Drucksachen 17/7713 Nr. A.5, 17/8000 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Ingrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. - Sie sind damit
einverstanden.
Eines möchte ich gleich zu Beginn meiner Rede betonen: Ich bin von ganzem Herzen überzeugter Europäer.
Die Europäische Union ist Garant für Stabilität und
Frieden, für Wachstum und Wohlstand in Europa - und
das seit über 50 Jahren.
Wenn der Deutsche Bundestag daher heute - zum
zweiten Mal überhaupt - eine Subsidiaritätsrüge gegen
den Verordnungsvorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht erhebt, hat dies rein
gar nichts mit einer europakritischen oder gar europaskeptischen Haltung zu tun. Im Gegenteil: Ich bin der
festen Überzeugung, dass Europa nicht nur die Antwort
auf die Schrecken der zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert war und ist, sondern dass Europa auch die Lösung für die in diesem Jahrhundert anstehenden Herausforderungen ist. Das gilt auch und gerade in der
aktuellen Staatsschuldenkrise in Europa.
Europa kann aber nur die Lösung sein, wenn die
Menschen Vertrauen in die europäische Integration haben, wenn sie den Einigungsprozess akzeptieren. Das
aber wiederum setzt voraus, dass Europa die in den Verträgen niedergelegten Regeln einhält. Dazu zählt die
Wahl einer tragfähigen Rechtsgrundlage, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im engeren Sinne und
des Prinzips der Verhältnismäßigkeit. Beim Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht bezweifeln wir, dass dies
der Fall ist. Die Subsidiaritätsrüge erheben wir daher
auch aus prinzipiellen Erwägungen.
Lassen Sie mich kurz den Hintergrund beleuchten:
Seit rund zehn Jahren wird in Europa über ein Europäisches Vertragsrecht diskutiert. Die Kommission meint,
hiermit Hindernisse für den Rechtsverkehr durch die unterschiedlichen nationalen Vertragsrechte beseitigen zu
können. Schließlich veröffentlichte die Kommission am
im Juli 2010 das Grünbuch „Optionen für die Einführung eines europäischen Vertragsrechts für Verbraucher
und Unternehmen“. Vorgeschlagen wurden insgesamt
sieben Optionen. Der Deutsche Bundestag hat zu diesem
Grünbuch und den vorgeschlagenen Optionen ausführlich Stellung genommen. Bereits damals haben wir fraktionsübergreifend die Einführung eines 28. Regimes
abgelehnt und uns stattdessen für eine Toolbox ausgesprochen, die als bindende interinstitutionelle Vereinbarung der gesetzgebenden Institutionen der Europäischen
Union für Qualität und Kohärenz der europäischen Gesetzgebung sorgen sollte.
Europaweit gingen zu diesem Grünbuch über
300 Stellungnahmen ein - die große Masse der Stellungnahmen war kritisch bis ablehnend. Dennoch hat die
Kommission am 11. Oktober 2011 ihren „Vorschlag für
eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des
Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht“
vorgelegt. Manche Kritikpunkte hat sie aufgegriffen, die
weit überwiegende Anzahl indes blieb unberücksichtigt.
Bei unserer Subsidiaritätsrüge leiten uns vor allem
folgende Gedanken:
Wir sind der Auffassung, dass die für die Verordnung
gewählte Rechtsgrundlage des Art. 114 AEUV nicht
trägt. Sie steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung des Merkmals der „Angleichung“ nationaler Rechtsordnungen. Denn nach
Zweck und Inhalt der Kaufrechts-Verordnung ist eine
Rechtsangleichung gerade nicht beabsichtigt. Das Gemeinsame Europäische Kaufrecht soll vielmehr auf freiwilliger Basis - also optional - Anwendung finden,
wenn alle betroffenen Vertragsparteien dies ausdrücklich beschließen. Das Europäische Kaufrecht tritt dabei
parallel neben die nationalen Rechtsordnungen, ohne
diese anzugleichen, zu verändern oder zu ersetzen. Der
EuGH hat in einer solchen Konstellation - in seinem Urteil zu den europäischen Genossenschaften - ausdrücklich geurteilt, dass solche optionalen Rechtsinstrumente
nicht auf Art. 114 AEUV gestützt werden können.
Auch ein systematischer Vergleich mit Art. 118 AEUV
bestätigt dies. Mit dieser mit dem Vertrag von Lissabon
eingeführten Vorschrift können europäische Rechtstitel
über einen einheitlichen Schutz der Rechte des geistigen
Eigentums im ordentlichen europäischen Gesetzgebungsverfahren geschaffen werden. Diese Rechtstitel
treten dann neben die entsprechenden Rechtstitel der
Mitgliedstaaten, ohne diese anzugleichen, zu ändern
oder zu ersetzen. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass
nur in diesem begrenzten Bereich die Union die Kompetenz hat, legislative Maßnahmen zu erlassen, die parallel neben die mitgliedstaatlichen Regelungen treten. Das
Gemeinsame Europäische Kaufrecht kann daher nicht
auf Art. 114 AEV gestützt werden.
Dies wurde zuletzt auch durch die Sachverständigen
im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestages am 21. November 2011 bestätigt.
Diese fehlende Kompetenz kann nach unserem Verständnis auch im Rahmen der Subsidiaritätsrüge geprüft
und gerügt werden. Dieses weite Verständnis entspricht
mittlerweile auch der weit überwiegenden Auffassung
im Schrifttum. Die Frage der Kompetenz ist eine der
Subsidiarität notwendig vorgelagerte Frage. Eine Klärung durch den EuGH steht freilich noch aus. Falls unsere Rüge keinen Erfolg hinsichtlich der Rechtsgrundlage haben sollte, könnte im Wege einer Klage dann
auch insofern Rechtsklarheit geschaffen werden.
Ich möchte noch hinzufügen, dass ich mir vorstellen
kann, dass die Kommission diesen - nochmals: nicht
tragfähigen - Weg über Art. 114 AEUV deshalb gewählt
hat, um Mehrheitsentscheidungen bei der Einführung
und der späteren Änderung des Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts zu ermöglichen. Bei der als Alternative in Betracht kommenden Rechtsgrundlage des Art.
352 AEUV wäre nämlich jeweils ein einstimmiges Votum
erforderlich. Durch dieses Prinzip der Einstimmigkeit
im Rat wäre das Vorhaben der Justizkommissarin Reding zur Einführung eines EU-Kaufrechtes aber mit aller Wahrscheinlichkeit gescheitert. Denn sehr viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben wie wir
erhebliche Bedenken, dass ein einheitliches EU-Kaufrechts erforderlich ist. Zu nennen sind hier neben
Deutschland Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien und die Tschechische Republik. Die Wahl der
Rechtsgrundlage scheint mir also durchaus eine nicht
nur rechtliche, sondern auch politische Dimension gehabt zu haben.
Auch in der Sache glaube ich nicht, dass ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht den grenzüberschreitenden Handel entscheidend fördern wird. Das zeigen uns
nicht nur die Erfahrungen mit dem UN-Kaufrecht. In
seltener Allianz der Verbraucher- und der Wirtschaftsverbände wurde in der durchgeführten Anhörung des
Rechtsausschusses vielmehr bestätigt, dass entscheidende Barriere nicht so sehr die Unterschiedlichkeit der
jeweiligen Rechtsordnungen ist, sondern die Sprache
und die schiere räumliche Entfernung und die daraus resultierenden logistischen Probleme. Das ist ein Signal,
das auch die Kommission nicht ignorieren sollte: Diejenigen, denen das Gemeinsame Europäische Kaufrecht
dienen soll, lehnen es ab.
Einen Beleg, dass die unterschiedlichen Vertragsrechte der Mitgliedstaaten tatsächlich die entscheidenden Handelshemmnisse bei der Wirtschaftstätigkeit im
europäischen Rechtsraum darstellen, bleibt die Kommission damit schuldig. Tatsächlich ist es vielmehr so,
dass viele Verbraucher in Deutschland - anders als die
Kommission behauptet - längst grenzüberschreitend
einkaufen. Bestes Beispiel ist Amazon - dieses Unternehmen mit Sitz in Luxemburg hat allein 24,7 Millionen
deutsche Kunden. Damit kaufen mindestens 30 Prozent
aller Deutschen - auch ohne EU-Kaufrecht - grenzüberschreitend im Internet ein.
Es fehlt also im Ergebnis an einem Bedarf für ein gemeinsames EU-Kaufrecht und damit an der Erforderlichkeit der Maßnahme im Sinne des Art. 5 EUV, wenn
die Vielfältigkeit der Vertragsrechtsordnungen in
Europa wie dargestellt nur von untergeordneter Bedeutung für den grenzüberschreitenden Handelsverkehr ist.
Darüber hinaus - und hier blicke ich auf die konkreten Normen des Verordnungsvorschlages - zweifeln wir,
dass die Kommission ihr eigentliches Ziel, die Angleichung der Zivilrechtsordnungen bzw. der für den Vertragsschluss relevanten Normen, mit diesem Verordnungsvorschlag überhaupt erreichen kann. Wie soll ein
einheitliches EU-Kaufrecht entstehen, wenn wesentliche
Fragen im Zusammenhang mit dem Zustandekommen
eines wirksamen Vertrages nicht im gemeinsamen EUKaufrecht geregelt sind, sondern weiterhin dem innerstaatlichen Recht unterliegen? Soll sich der deutsche
Verbraucher vor der Wahl des EU-Kaufrechts darüber
informieren, welche Reichweite beispielsweise die Ungültigkeit des Vertrages wegen Geschäftsunfähigkeit, die
Stellvertretung, die Rechts- und Sittenwidrigkeit des Vertrages, die Abtretung, die Aufrechnung, die Gläubigerund Schuldnermehrheit und der Parteiwechsel in den
27 Mitgliedstaaten haben?
Gerade wegen dieser Zersplitterung wesentlicher
Teile der nationalen Rechtsordnungen werden die Parteien entgegen den Erwägungen der Kommission nicht
die Möglichkeit haben, ihren Vertrag auf der Grundlage
eines einzigen, einheitlichen Vertragsrechts zu schließen. Daher wird die Rechtsunsicherheit und -unklarheit
durch die unterschiedlichen Vertragsrechtsordnungen
im Binnenmarkt für die Vertragspartner durch EU-Kaufrecht gerade nicht beseitigt, sondern eher noch vergrößert. Das aber ist kontraproduktiv für den grenzüberschreitenden Handel.
Ein letzter Kritikpunkt: Der Verordnungsvorschlag
wird zu einer hohen Rechtsunsicherheit für die Unternehmen führen. Ihre Beratungskosten und damit Transaktionskosten werden daher steigen. Es werden eher
Nachteile als Vorteile durch den Entwurf entstehen.
Der Verordnungsentwurf enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe. Das Vertragsrecht ist aber - in
Deutschland wie auch in vielen anderen Mitgliedstaaten wesentlich durch Richterrecht geprägt und wurde in
Zu Protokoll gegebene Reden
weiten Teilen erst durch Gerichte herausgebildet. In der
Europäischen Union gibt es aber keine einheitliche Zivilgerichtsbarkeit, die diese Prägung und Fortbildung
vornehmen könnte. Vielmehr würden die unbestimmten
Rechtsbegriffe in den 27 Mitgliedstaaten durch die dortigen nationalen Gerichte zunächst nach den dort herrschenden Prinzipien und der dort herrschenden Methodik ausgelegt und angewandt. Hierbei gibt es in Europa
aber erhebliche Unterschiede - das zeigt allein der Vergleich zum Case-Law-System in Großbritannien. Dies
unterscheidet sich wesentlich vom Ansatz kodifizierter
Rechtsordnungen, wie er etwa in Deutschland oder
Frankreich besteht. Folge ist, dass - sicherlich als Extremfall - ein Begriff des Verordnungsvorschlages in
27 Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgelegt würde.
Klärung könnte nur der Europäische Gerichtshof herbeiführen. Dieser ist von seiner Funktion, Struktur und
Ausstattung dazu allerdings gar nicht in der Lage. Überdies würde ein solcher Prozess - wie wiederum der Vergleich der Entwicklungen der nationalen Rechtsordnungen zeigt - lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in
Anspruch nehmen. In dieser Zeit bis zur abschließenden
Klärung würde nicht mehr, sondern weniger Rechtssicherheit bestehen. In dieser Übergangszeit würde der
grenzüberschreitende Handel gerade nicht gefördert. Er
würde vielmehr wegen dieser Rechtsunsicherheit und
der damit einhergehenden höheren Transaktionskosten
gehemmt. Das sehen auch die Unternehmensvertreter so ihnen würden Steine statt Brot gegeben. Das wollen wir
nicht.
Lassen Sie mich abschließend festhalten: Der Deutsche Bundestag stellt sich nicht gegen die Intention der
Kommission, die Qualität und Kohärenz des europäischen Rechts, namentlich des Kaufrechts, zu verbessern.
Wir glauben aber, dass hier ein falscher - und wenn man
sich das Verfahren genau anschaut: in Teilen auch übereilter - Weg gewählt wurde: Es fehlt an einer Kompetenzgrundlage, und auch ein Bedarf für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht ist bislang nicht
hinreichend belegt.
Mit unseren Bedenken stehen wir nicht allein: Auch
Großbritannien hat Subsidiaritätsrüge erhoben. Aus Österreich und Frankreich erhalten wir ähnliche Signale.
Die heute zum Beschluss vorliegende Subsidiaritätsrüge wird von allen Fraktionen mitgetragen - das war
uns wichtig, weil wir ein starkes Signal nach Brüssel
senden wollten. Es ist die zweite Subsidiaritätsrüge, die
der Deutsche Bundestag überhaupt erhebt. Das zeigt,
dass der Bundestag seine Mitwirkungsrechte nach dem
Lissabonner Vertrag ernst nimmt. Wir kommen damit
auch unserer Integrationsverantwortung nach, die das
Bundesverfassungsgericht angemahnt hat.
Ich bitte Sie daher um Zustimmung.
Die Vorschläge der Europäischen Kommission für ein
Gemeinsames Europäisches Kaufrecht haben wir im
Rechtsausschuss außergewöhnlich intensiv erörtert.
Bereits im vergangenen Jahr haben wir bei einer Delegationsreise nach Brüssel das Gespräch unter anderem
mit Justizkommissarin Reding gesucht. Schon damals
wurde sehr deutlich, dass uns die Beweggründe der
Kommission - die Stärkung des Verbraucherschutzes innerhalb der Europäischen Union unter gleichzeitiger
Verminderung von Transaktionskosten im grenzüberschreitenden Verkehr - nicht überzeugen konnten.
Unsere Bedenken haben wir im Januar 2011 in Form
einer überfraktionellen Stellungnahme des Deutschen
Bundestages zum Grünbuch der Kommission zur Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen im Einzelnen dargelegt. Der
nunmehr vorliegende Verordnungsentwurf, der sich auf
das Kaufrecht als den praktisch bedeutsamsten Teil des
Vertragsrechts konzentriert, kann diese Bedenken nicht
ausräumen. Es ist daher nur konsequent, dass wir heute
die Subsidiaritätsrüge erheben. Es ist übrigens - nach
Beschlüssen zu Erbsachen und Europäischem Nachlasszeugnis sowie zu Einlagensicherungssystemen - die
dritte Subsidiaritätsrüge des Deutschen Bundestages
seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der
uns dieses Instrument zur Verfügung stellt.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir uns fraktionsübergreifend einig geworden sind, bei einer solchen begründeten Stellungnahme im Sinne des Subsidiaritätsprotokolls zum Lissabon-Vertrag einen weiten Prüfungsmaßstab anzulegen, der sich nicht allein auf die
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beschränkt. Vielmehr müssen die nationalen Parlamente ebenso die
Wahl der Rechtsgrundlage und die Beachtung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit prüfen. Insbesondere ist das Bestehen einer Rechtsetzungskompetenz der
EU eine notwendige Vorfrage für die Anwendung des
Subsidiaritätsprinzips.
Der Verordnungsentwurf der Kommission stützt sich
auf Art. 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der die Rechtsangleichung im Binnenmarkt ermöglicht. Die Verordnung zur Einführung
eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts sieht allerdings gerade keine Angleichung bestehender Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten vor,
sondern die Einführung eines 28. Regimes neben den
27 nationalen Zivilrechtsordnungen. Es geht also um
eine neue, eigenständige europäische Rechtsordnung,
die als optionales Instrument von den Vertragsparteien
gewählt werden kann. Wenn aber die Maßnahme des
Unionsgesetzgebers nicht auf die nationalen Rechtsordnungen einwirkt, wird auch keine Angleichung erzielt.
Bestätigt wird diese Auslegung des Art. 114 AEUV im
systematischen Zusammenhang mit Art. 118 AEUV. Danach hat die Europäische Union explizit die Kompetenz,
parallel neben mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen europäische Regelungen im Bereich des geistigen Eigentums zu erlassen. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass
von Art. 118 AEUV nicht benannte Rechtsbereiche - wie
ein Europäisches Kaufrecht - nicht über den Umweg des
Art. 114 AEUV geregelt werden dürfen. Auch die bisherige Gesetzgebungspraxis in der Europäischen Union
führt zu diesem Schluss. Bemerkenswert ist zudem, dass
in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses
vom 21. November 2011 acht von neun eingeladenen
Zu Protokoll gegebene Reden
Sachverständigen unsere Bedenken zur Nichtanwendbarkeit von Art. 114 AEUV bestätigt haben.
Wir dürfen in der Europäischen Union nicht länger
zulassen, dass Vorhaben auf den Weg gebracht werden,
weil sie politisch opportun erscheinen, und dann eine
Rechtsnorm „passend gemacht wird“, auf deren Grundlage das Vorhaben auf dem vermeintlich einfachsten
Wege realisiert werden kann. Es ist ja auffällig, dass die
Kommission im vorliegenden Fall gerade nicht die naheliegende Klausel zur Kompetenzergänzung nach
Art. 352 AEUV heranzieht, weil diese einstimmige Entscheidungen erfordert. Stattdessen wird Art. 114 AEUV
bemüht, der - wie wir alle wissen - Entscheidungen mit
qualifizierter Mehrheit vorsieht. Die Rechtsangleichung
im Binnenmarkt darf aber nicht einfach das Einstimmigkeitserfordernis des Art. 352 AEUV aushebeln und zu einem Einfallstor für allerlei Wünschenswertes werden,
für das der EU eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung
fehlt.
Doch auch jenseits der gewählten Rechtsgrundlage
haben wir massive Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit des vorliegenden Verordnungsentwurfs mit den
Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit.
Sowohl Verbraucherverbände als auch die Vertreter der
kleinen und mittleren Unternehmen - also ausgerechnet
die Kreise, für die das Europäische Kaufrecht gedacht
ist - haben mehrfach - zuletzt im Rahmen unserer öffentlichen Anhörung - bekräftigt, dass sie keine Notwendigkeit für ein Europäisches Kaufrecht sehen. Bei genauerem Hinsehen offenbaren dies auch die
Eurobarometer-Studien, die die EU-Kommission hierzu
selbst in Auftrag gegeben hat.
Die europäischen Verbraucherverbände befürchten
jedenfalls mittelfristig eine Abschwächung des Verbraucherschutzniveaus. Zudem sehen sie die Gefahr gesteigerter Verbraucherverwirrung bei parallel anwendbaren nationalen und europäischen Kaufrechtssystemen.
Die kleinen und mittleren Unternehmen betonen, dass
schon heute im grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr
keine nennenswerten Schwierigkeiten bestünden. Das
UN-Kaufrecht als bereits vorhandenes optionales Vertragsinstrument habe sich bewährt. Durch die Schaffung
eines zusätzlichen optionalen Instruments in Form des
EU-Kaufrechts sei Rechtsunsicherheit zu befürchten.
Das Zivilrecht ist mit seiner Fülle an unbestimmten
Rechtsbegriffen und Generalklauseln stark richterrechtlich geprägt. Dabei bedarf es vieler Jahre, bis ein Begriff wie „sittenwidrig“ durch die Rechtsprechung ausgefüllt wird. Bei einem Europäischen Kaufrecht müssten
unbestimmte Rechtsbegriffe und allgemeine gesetzliche
Regelungen neu durch die Judikative ausgelegt werden.
Es existiert aber keine einheitliche europäische Zivilgerichtsbarkeit. Der Europäische Gerichtshof ist für diese
Aufgabe weder ausgelegt noch ausreichend ausgestattet, sodass eine gefestigte Rechtsprechung Jahre oder
gar Jahrzehnte dauern würde.
Hinzu kommt: Die Haupthemmnisse für grenzüberschreitende Geschäfte innerhalb der Europäischen
Union sind Sprachbarrieren und räumliche Distanzen.
Diese natürlichen Hindernisse lassen sich auch durch
ein Europäisches Kaufrecht nicht überwinden. Schließlich kann die beabsichtigte Rechtsvereinfachung nicht
erreicht werden, sofern wesentliche Fragen des Vertragsrechts durch das Europäische Kaufrecht nicht abgedeckt werden. So sind etwa Geschäftsfähigkeit, Stellvertretung und Abtretung von dem Verordnungsentwurf
ausgenommen. In vielen Einzelfragen müsste deshalb
wieder auf die nationalen Zivilrechtsordnungen zurückgegriffen werden.
Unsere Bedenken werden in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten geteilt. So hat der Europaausschuss des österreichischen Bundesrats gestern eine entsprechende
Stellungnahme befürwortet, die noch in dieser Woche im
Bundesrat beschlossen werden soll. Das britische Unterhaus bereitet derzeit ebenfalls eine begründete Stellungnahme vor, die einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip rügt und die angesprochenen Kritikpunkte
aufgreift. Weitere Mitgliedstaaten wie Frankreich, Finnland und Schweden haben ebenfalls Bedenken angemeldet. Im Rat für Justiz und Inneres am 28. Oktober erklärten darüber hinaus die Vertreter Portugals, Sloweniens,
der Niederlande und der Tschechischen Republik ihre
Vorbehalte.
Die Intention der Europäischen Kommission und des
Europäischen Parlaments - dessen müssen wir uns bewusst sein - ist klar: Ein Europäisches Kaufrecht soll
der erste Schritt zu einer gesamteuropäischen Zivilrechtsordnung sein. Doch wenn es der EU darum geht,
einen Fuß in die Türe zu bekommen, dann kann erst
recht kein Modell hingenommen werden, das auf einer
unzureichenden Rechtsgrundlage fußt, das Rechtsunsicherheiten hervorruft und das seine Regelungsziele verfehlt. Ohnehin sind Zweifel angebracht, ob eine Vollharmonisierung erstrebenswert ist und praktikabel wäre.
Für die wachsende Internationalität von Rechts- und
Geschäftsbeziehungen, die über die EU und ihren Binnenmarkt weit hinausreichen, erscheint eine EU-zentrierte Perspektive doch als allzu schlicht und eng.
Vor kurzem erhielten wir den Kommissionsvorschlag
für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht: ein vermeintlich optionales System, das für grenzüberschreitende Fälle greifen soll. Ziel dieses Vorschlags soll sein,
Transaktionskosten - insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen - zu senken und den Handel zwischen
den Mitgliedstaaten anzukurbeln.
Unsere Fraktion trägt die interfraktionelle Entscheidung, eine sogenannte Subsidiaritätsrüge in Bezug auf
den Kommissionsvorschlag zu erheben. Hätte sich der
Bundestag anders entschieden, hätte man der Kommission freie Fahrt gelassen: Die vollumfassende Europäisierung des Privatrechts wäre in einem unauffälligen
und schleichenden Prozess erfolgt. Es ist daher rechtlich
und politisch notwendig, ein klares Zeichen zu setzen.
Zu Recht gehen viele Sachverständige davon aus,
dass gegen das Subsidiaritätsprinzip auch dann verstoßen wird, wenn keine Kompetenz für die Union besteht.
Wie sonst soll zielführend darüber verhandelt werden,
ob die Union die Materie besser regeln kann als die MitZu Protokoll gegebene Reden
gliedstaaten, wenn die EU doch schon nicht zum Erlass
respektiver Maßnahmen autorisiert ist? Noch letztes
Jahr fand zu diesem Thema eine Sachverständigenanhörung im Bundestag statt, und die Experten und Expertinnen befürworteten eine solche umfassende Auslegung
des Rügeumfangs.
Man muss sich insbesondere vor Augen führen, welchen Weg die Kommission eingeschlagen hat: Wider
besseres Wissen - so scheint es mir, nachdem wir die
Sachverständigen zu diesem Thema gehört haben - hat
die Kommission als einschlägige Rechtsgrundlage die
Querschnittskompetenz des Art. 114 AEUV benannt. Danach kann die Union die notwendigen Maßnahmen zur
Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten
erlassen, wenn sie die Errichtung und das Funktionieren
des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. Nur findet
eben eine solche Angleichung der Rechtsvorschriften
nicht statt. Wir sprechen hier über ein zusätzliches, fakultatives System. Wo liegt da eine Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften?
Und ja, es gäbe eine möglicherweise einschlägige
Vorschrift: Art. 352 AEUV. Danach kann der Ministerrat
auf Vorschlag der Kommission die geeigneten Vorschriften erlassen, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche
erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge
zu verwirklichen. Diejenigen, denen die Vorschrift bekannt ist, müssten jetzt aufhorchen; denn zwei bedeutende Verfahrensvoraussetzungen fehlen noch: Erst
nach Zustimmung des Europäischen Parlaments und bei
Einstimmigkeit des Ministerrats ist ein Tätigwerden
nach Art. 352 AEUV möglich. Mit dem Zustimmungsrecht hat das Parlament weitreichende Einflussmöglichkeiten auf diejenigen Vorschriften erhalten, die auf der
Grundlage der Flexibilitätsklausel erlassen werden sollen. Darüber hinaus darf der deutsche Vertreter im Rat
nur zustimmen, nachdem der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates ihn durch ein Gesetz gemäß
Art. 23 Abs. 1 des Grundgesetzes hierzu ermächtigt hat,
§ 8 Integrationsverantwortungsgesetz. Diese Anforderungen sehenden Auges durch die Wahl einer alternativen, aber nicht einschlägigen Kompetenzgrundlage unterlaufen zu wollen, lässt dem Deutschen Bundestag nur
eine Möglichkeit: Mit einer Subsidiaritätsrüge klar zu
adressieren, dass sich die deutschen Parlamentarier
nicht auf den Arm nehmen lassen.
Aber auch an der Verhältnismäßigkeit der durch den
Vorschlag verfolgten Regelung bestehen erhebliche
Zweifel. Zwar hat die Sachverständigenanhörung im
Hinblick auf das „Ob“ eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts keine endgültige Entscheidung gebracht. Das Ziel, den Binnenmarkt anzukurbeln und
Transaktionskosten zu senken, ist zwar begrüßenswert,
nur stellt sich die Frage: Kann und würde dieses Ziel
mithilfe des jetzigen Kommissionsvorschlags erreicht
werden? Hierzu kann ich nur auf die Experten verweisen: In einer bislang ungewohnten Übereinstimmung
sprechen sich die Vertreter der Verbraucher sowie der
Wirtschaft geschlossen gegen den Kommissionsvorschlag aus. Für beide Seiten entstünden durch das Gemeinsame Europäische Kaufrecht Nachteile. Die eigentlichen Handelshemmnisse seien die Sprachenvielfalt,
die gerichtliche Rechtsdurchsetzung im Ausland sowie
die weiterhin erforderliche Rechtsberatung. Auch ein
weiteres Vertragswerk würde über diesen Zustand nicht
hinweghelfen.
Rechtsunsicherheit: Mit diesem Schlagwort reagieren
viele auf den Kommissionsvorschlag. Was aber genau
bedeutet dies eigentlich? Um es kurz zu machen: Die
Verbraucher wüssten nicht, ob für sie im Einzelfall das
Europäische Kaufrecht oder das Deutsche Recht sinnvoller wäre; Rechtsunsicherheit ist vorprogrammiert.
Sollten sich doch beide Seiten für das Gemeinsame
Europäische Kaufrecht entscheiden, jedoch Uneinigkeit
über die Lieferung der belgischen Pralinen und deren
Rücknahme bestehen: Welches Gericht sollte dann über
diesen Rechtstreit entscheiden, wo es doch keine europäische Zivilgerichtsbarkeit gibt? Und wie soll die bislang den nationalen Gerichten obliegende Auslegung
der Rechtsvorschriften erfolgen? Diese und weitere Fragen müssen geklärt werden, bevor in einem Schnelldurchlauf ein zusätzliches Vertragsrecht normiert wird.
Es bedarf daher einer gewissenhaften Prüfung der
Vor- und Nachteile des vorgeschlagenen Gemeinsamen
Europäischen Kaufrechts. Bevor die zutreffende Kompetenzgrundlage für ein Tätigwerden der EU nicht benannt
ist und nicht sämtliche offensichtliche Nachteile für
deutsche Verbraucher und kleine und mittlere Unternehmen ausgeräumt sind, ist es Aufgabe des Deutschen
Bundestags, die Schritte der Kommission kritisch zu begleiten und dezidierte Erklärungen zu fordern.
Mitte Oktober dieses Jahres hat die Europäische
Kommission ihren Vorschlag für eine Verordnung über
ein Europäisches Kaufrecht vorgelegt. Damit verfolgt
die Kommission das Ziel, ein fakultatives europäisches
Vertragsrecht neben dem nationalen Zivilrecht der Mitgliedstaaten zu etablieren. Ich stehe diesem konkreten
Verordnungsvorschlag sehr skeptisch gegenüber und begrüße es sehr, dass sich hier im Hause ein interfraktioneller Konsens findet, um eine Subsidiaritätsrüge einzulegen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand:
Zunächst hege ich große Zweifel, dass der uns vorgelegte Verordnungsentwurf auf der Rechtsgrundlage von
Art. 114 AEUV erlassen werden kann, so wie die Kommission dieses beabsichtigt. Die Kompetenzgrundlage
gehört nach richtiger Auffassung zum Prüfprogramm
der Subsidiaritätsrüge. Mit dieser Ansicht befindet sich
der Deutsche Bundestag in bester Gesellschaft. Ein
Großteil des Schrifttums zu diesem Thema bejaht dies
ebenfalls.
Dass Art. 114 AEUV den Verordnungsvorschlag nicht
trägt, folgt zunächst aus der Rechtsprechung des EuGH.
Er hat bei seiner Entscheidung zur Europäischen Genossenschaft klargestellt, dass ein Gesetzgebungsakt,
welcher die nationalen Rechtsvorschriften unverändert
lässt, keine Angleichung der Recht- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 114
AEUV bezweckt und damit Art. 114 AEUV keine zulässige Rechtsgrundlage darstellt. Genauso verfährt aber
Zu Protokoll gegebene Reden
der Verordnungsentwurf. Er lässt das bestehende Zivilrecht der Mitgliedstaaten unberührt. Zu diesem Ergebnis gelangte auch die Mehrheit der Sachverständigten in
der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des
Bundestages am 21. November 2011.
Neben der fehlenden Rechtsgrundlage sprechen auch
materielle Argumente gegen den Entwurf. Die Kommission verfolgt angeblich das Ziel, Handelshemmnisse in
Europa abzubauen. Dazu sollen Transaktionskosten gesenkt werden, indem rechtlicher Beratungsbedarf vermindert wird. Der Verordnungsvorschlag löst dieses
Problem aber gerade nicht. Er sorgt nur noch für mehr
Aufwand. Denn im Ergebnis zeugt der Entwurf 27 zusätzliche rechtliche Chimären. Der Entwurf muss nämlich wegen seiner fragmentierenden Regelungstechnik
bei Stellvertretung, Geschäftsfähigkeit etc. auf das jeweilige Rechtssystem der Mitgliedstaaten zurückgreifen.
Der Aufwand für Rechtsberatung wird also nicht vermindert, sondern gesteigert.
Im Übrigen spricht es ja auch Bände, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages diese Skepsis teilen.
Das könnte nicht zuletzt auch mit der Tatsache zu tun haben, dass die Kommission den Eindruck erweckt, als
wäre sie an einem echten Austausch der Argumente
nicht interessiert. Bereits Anfang des Jahres 2011 haben
wir zu dem vorangegangenen „Grünbuch zur Einführung eines Europäischen Vertragsrechts“ interfraktionell eine kritische Stellungnahme gegenüber der
Kommission abgegeben. Damit standen wir in dem Konsultationsverfahren des Grünbuches keineswegs alleine
da. Über 300 größtenteils kritische Stellungnahmen erreichten die Kommission bis zum Ende des Konsultationsverfahren am 31. Januar 2011. Auch wurde in der
gesamten Bandbreite der Interessengruppen von Wirtschaft, Handwerk bis hin zu den Verbraucherschützern
Kritik an dem Vorhaben der Kommission geübt. Dass die
Kommission nur gut neun Monate nach Ende der Konsultation einen Vorschlag vorlegt und damit behauptet,
sie hätte diese 300 Stellungnahmen gewürdigt, ausgewertet und den Entwurf daraufhin verbessert, ist
schlicht nicht glaubwürdig.
Daher ist diese Subsidiaritätsrüge auch ein Signal an
die Kommission, mit dem wir zu einer besseren Berücksichtigung der Anregungen aus Praxis, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und aus den mitgliedstaatlichen Parlamenten aufrufen.
Bevor ich mich dem Gemeinsamen Europäischen
Kaufrecht widme, möchte ich noch eine Anmerkung zur
gemeinsamen Entschließung von Union, SPD, FDP und
Grünen zur Sache machen. Diese Entschließung der
Fraktionen im Rechtsauschuss ist inhaltlich sehr sinnvoll und findet die Zustimmung auch der Linken. Es ist
mir sehr wichtig, das zu erwähnen. Denn es kommt nicht
oft vor, dass gerade aus den Reihen von Union und FDP
derart vernünftige Vorschläge kommen. Mancher wird
sich fragen, warum Die Linke dann die Entschließung
nicht mitgezeichnet hat, wenn sie sich schon inhaltlich
einverstanden erklärt. Der Grund dafür ist einfach:
CDU und CSU sitzen noch immer in den Schützengräben des Kalten Krieges und verweigern der Linken, eine
gemeinsame Initiative miteinzureichen, die Konsens im
ganzen Hause ist. Damit konterkarieren CDU und CSU
ihr eigenes Anliegen, weil die beiden Fraktionen parteipolitischer Kleingeistigkeit den Vorrang vor einer starken Stimme des gesamten Deutschen Bundestages geben. Dabei wäre ein gemeinsames Agieren des gesamten
Parlaments wichtig und angezeigt.
Die Europäische Kommission will mit ihrem Vorschlag für ein Gemeinsames EU-Kaufrecht ein Problem
lösen, das es so nicht gibt, und verwendet dazu Instrumente, die nicht nur nicht funktionieren, sondern neue
Probleme schaffen, die wir bisher nicht kennen. Das
fängt schon bei der Grundannahme an, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten den Wettbewerb behindern, weil Käufer und Verkäufer gleichermaßen kaum in
der Lage seien, die verschiedenen Vorschriften des jeweils national gültigen Kaufrechts zu berücksichtigen.
In der Folge würden Unternehmen Verträge mit Partnern in den Mitgliedstaaten nur in geringerem Umfang
abschließen, als es ansonsten möglich wäre. Ein Gemeinsames EU-Kaufrecht, das sagt die Kommission,
würde Abhilfe schaffen.
Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Nicht unterschiedliche Rechtsordnungen, sondern ganz handfeste Gründe
wie Sprachbarrieren oder auch weite räumliche Entfernungen sind die Haupthindernisse für den grenzüberschreitenden Handel. Die Annahme, Käufer und Verkäufer würden einen Kaufvertrag allein aufgrund eines
gemeinsamen Kaufrechts abschließen, ist zudem völlig
unrealistisch und zeugt nicht von großem Sachverstand.
Die Beschlussempfehlung weist völlig zu Recht auf innerstaatliches Recht hin, das zu beachten ist: Geschäftsunfähigkeit, Sitten- und Rechtswidrigkeit, Abtretung und
so weiter und so fort.
Ich teile die Befürchtung, dass dieses Gemeinsame
EU-Kaufrecht wahrscheinlich keine Rechtsklarheit, sondern im Gegenteil erhebliche Rechtsunsicherheit
schafft. Auch hier weist die Beschlussempfehlung völlig
zu Recht darauf hin, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in den meisten Mitgliedstaaten das Kaufrecht
durch die Rechtsprechung, also durch Richterrecht, geprägt ist. Anders würde es sich bei einem Gemeinsamen
EU-Kaufrecht auch nicht verhalten: Relevante Regelungen müssten erst noch entstehen. Selbst wenn der Europäische Gerichtshof in der Lage wäre, durch seine
Rechtsprechung dafür zu sorgen, wären Unternehmen
sowie Bürgerinnen und Bürger womöglich über Jahrzehnte mit einer unklaren Rechtslage konfrontiert. Niemand könnte einschätzen, welche Rechten und Pflichten
sich tatsächlich aus einem Vertragsabschluss ergeben.
Die Folge wird sein, dass Verträge deshalb gar nicht
erst abgeschlossen werden. Das Gemeinsame EU-Kaufrecht würde das Gegenteil seines postulierten Zwecks
bewirken.
Auch deshalb ist es sehr sinnvoll, die Verordnung zum
Gemeinsamen EU-Kaufrecht zwar zur Kenntnis zu nehmen, aber - so wie es hier vorgeschlagen ist - eine begründete Stellungnahme nach Art. 6 des Vertrags über
Zu Protokoll gegebene Reden
die Europäische Union zu verabschieden. Die Linke
wird dem zustimmen; denn anders als die Kalten Krieger der Union nehmen wir unsere Verantwortung ernst.
Die europäische Integration hat mittlerweile eine
langjährige Geschichte. Einer der größten Erfolge der
Europäischen Union ist der gemeinsame Binnenmarkt.
Die Errichtung des europäischen Binnenmarkts hat den
grenzüberschreitenden Handel in der Europäischen
Union enorm erleichtert. Daher ist es grundsätzlich zu
begrüßen, dass die Kommission der Europäischen Union
den Handel im Binnenmarkt weiter ausbauen will. Dies
geschah in der Vergangenheit bereits durch vereinheitlichende Maßnahmen im Gesellschaftsrecht, Wettbewerbsrecht oder Verbraucherrecht.
Nun soll mit der vorliegenden Verordnung ein Schritt
weiter gegangen werden: Ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht mit hohem Verbraucherschutzstandard
soll Handelshemmnisse im Binnenmarkt beseitigen. Das
Anliegen, durch die Wahl eines Gemeinsamen Kaufrechts die Transaktionskosten in der Europäischen
Union zu senken, halten wir generell für sinnvoll. Aber
wir fragen uns: Ist dies der richtige Schritt zur richtigen
Zeit? Sind die Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union schon so weit, dass sie sich auf ein
Europäisches Vertragsrecht berufen wollen, wenn sie
grenzüberschreitend einkaufen? Und vor allem: Sind es
tatsächlich die Unterschiede in den Vertragsrechten der
Mitgliedstaaten, die die Bürger davon abhalten, Geschäfte in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union zu tätigen?
Wir denken, dass auch viele andere Faktoren den
Handel einschränken, wie zum Beispiel die fremde Sprache oder Bedenken bezüglich der Rechtsdurchsetzung in
einem anderen Staat. Erfahrungen mit dem Internationalen Kaufrecht der Vereinten Nationen haben dies bestätigt. Daher ist der Bedarf für eine solche Verordnung
fraglich. Besteht aber kein Bedarf, so ist die Verordnung
kein Instrument, um Handelshemmnisse zu beseitigen.
Das Gemeinsame Europäische Kaufrecht wäre dann
nicht geeignet, den Handel zu fördern.
Weitere Zweifel haben wir in Bezug auf die Wahl der
Rechtsgrundlage, auf die die Kommission ihren Verordnungsvorschlag stützt. Die Kommission wählt Art. 114
des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union, AEUV, als Kompetenznorm, eine Vorschrift, die
keine Einstimmigkeit für den Erlass der Verordnung voraussetzt, sondern eine Mehrheitsentscheidung im Rat
der Europäischen Union ermöglicht. Art. 114 AEUV
setzt voraus, dass es sich bei der zu erlassenden Verordnung um eine Maßnahme zur Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften handelt. Von einer Angleichung
kann hier jedoch keine Rede sein, denn die Verordnung
tritt als weiteres Vertragsrecht neben die nationalen Vertragsrechte. Sie bildet ein optionales Instrument, das
Unternehmer den Käufern anbieten können, wenn sie
grenzüberschreitenden Handel tätigen. Die Regelungen,
die in der Verordnung getroffen werden, beschränken
sich auch nicht auf das Kaufrecht. Sie regeln darüber hinaus andere wichtige Rechtsbereiche, wie das Anfechtungsrecht, die Vertragsauslegung und die Verjährung.
Diese sind zwar für den Abschluss eines Kaufvertrages
von Relevanz, behandeln aber nicht das Kaufrecht im eigentlichen Sinne.
Nach unserer Auffassung kann eine solch weitreichende
Verordnung nur auf die Rechtsgrundlage des Art. 352
AEUV gestützt werden. Maßnahmen auf dieser Grundlage erfordern Einstimmigkeit im Rat der Europäischen
Union. Für Deutschland bedeutet dies, dass der deutsche Vertreter im Rat nur zustimmen kann, wenn ein
Parlamentsgesetz erlassen wird, das ihn zur Zustimmung ermächtigt. Der Erlass dieses Parlamentsgesetzes
ist wiederum abhängig von der Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates.
Wie die Kommission wollen auch wir den Binnenmarkt und die europäische Integration fördern, jedoch
nur unter angemessener Wahrung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates. Daher erheben wir, gemeinsam mit den anderen Fraktionen, die Subsidiaritätsrüge gegen die Verordnung, um
unsere Beteiligungsrechte zu wahren. Wir wollen eine
weitere europäische Integration nicht aufhalten oder behindern, aber wir wollen, dass diese auf der Grundlage
der europäischen Verträge erfolgt. Die Bürger müssen,
gerade auch in Zeiten der Euro-Krise, erkennen können,
dass Demokratie nicht an den Grenzen Deutschlands endet, sondern auch in der Europäischen Union ein zentraler Aspekt ist.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8000, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung als Stellungnahme zur Anwendung der
Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag über
die Europäische Union anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind alle Fraktionen
des Hauses. Vorsichtshalber Gegenprobe! - Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Dr. Petra Sitte, Kathrin Vogler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen - Zugang
zu Medikamenten für arme Regionen ermöglichen
- Drucksache 17/7372 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Ausschuss für Gesundheit
Federführung strittig
Vizepräsident Eduard Oswald
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der vorliegende Antrag beschäftigt sich mit dem
wichtigen Thema vernachlässigter - oft armutsassoziierter - Krankheiten, und es ist wichtig und richtig, dass
sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages mit diesem Thema auseinandersetzen. Neben dem Antrag der
Fraktion Die Linke hat sich die SPD mit einem Antrag
zum Thema positioniert, und auch die christlich-liberale
Koalition wird in Kürze einen eigenen Antrag ins parlamentarische Verfahren einbringen, um das sehr zu begrüßende Engagement der Bundesregierung in diesem
Bereich konstruktiv zu begleiten. In diesem Punkt liegen
sicherlich die größten Unterschiede zwischen unserem
Antrag und den Anträgen der Opposition.
Bezüglich der Analyse der verheerenden Auswirkungen dieser Krankheiten sind wir uns sicherlich einig.
Von vernachlässigten Krankheiten sind weltweit Millionen von Menschen - insbesondere in Entwicklungs- und
Schwellenländern - betroffen. Zwar führen nicht alle
Krankheitsverläufe zwangsläufig zum Tod, doch schränken die Krankheiten oftmals das Leben der Betroffenen
so stark ein, dass von einer selbstbestimmten, unabhängigen Lebensführung nicht mehr gesprochen werden
kann.
Nicht so eindeutig wird allerdings oft die Frage diskutiert, welche Krankheiten denn eigentlich zu den vernachlässigten Krankheiten zu zählen sind. Einen guten
Anhaltspunkt gibt in dieser Frage die Weltgesundheitsorganisation, die 17 Krankheiten - wie die afrikanische
Schlafkrankheit, Leishmaniose oder Chagas - zu den
vernachlässigten Krankheiten zählt. Strittig ist, ob die
sogenannten großen Drei bzw. großen drei „Killer“
HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose auch dazu gezählt
werden können bzw. müssen. Dafür spricht, dass viele
Millionen Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern von diesen drei Krankheiten betroffen sind. Soweit vorhanden, sind entsprechende Medikamente zur
Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose oft
sehr teuer und damit für die meisten Menschen unerschwinglich.
Dagegen spricht, dass den drei großen „Killern“ eine
wesentlich höhere Aufmerksamkeit als den nach WHODefinition ausgewiesenen vernachlässigten Krankheiten
zukommt und große Summen in die Bekämpfung dieser
Krankheiten investiert werden. Doch der Fokus liegt
hier auf den Industrieländern, also auf lukrativen Märkten.
Von vernachlässigt im engeren Sinn kann also bei
HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose nicht so einfach gesprochen werden. Diese Differenzierung kommt im vorliegenden Antrag der Linken leider zu kurz. Da in die
Erforschung dieser Krankheiten von deutscher wie von
internationaler Seite schon sehr viel Geld fließt, traf die
Bundesregierung die richtige Entscheidung, sich im
Rahmen des Förderkonzeptes „Vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten“ zu fokussieren und nicht
das ganze Thema undifferenziert bedienen zu wollen.
Die Begriffe „vernachlässigt“ und „armutsassoziiert“ treffen den Kern des Anliegens. Diese Aspekte betreffen nämlich Fragestellungen der Krankheiten, die
speziell in Entwicklungs- und Schwellenländern von Relevanz sind. HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose gehören damit dazu, weil einige Aspekte der drei großen
„Killer“ durchaus als vernachlässigt angesehen werden
können bzw. müssen.
Außer Frage steht für die christlich-liberale Koalition, dass das deutsche Engagement im Bereich der vernachlässigten Krankheiten über die bestehende Förderlinie hinaus verstetigt werden muss. Dieses grundlegende Anliegen teilen wir. Klar ist aber auch, dass diesem Anspruch eine Evaluation der Wirkungen des aktuell anlaufenden Förderkonzeptes vorausgehen muss.
Die Bundesregierung hat sich mit der Förderung von
Produktentwicklungspartnerschaften - kurz PDPs - auf
Neuland begeben. Bevor zusätzliche Instrumente ins
Spiel gebracht werden und mehr Mittel gefordert werden, sollten die Effekte des aktuellen BMBF-Förderkonzeptes zu den vernachlässigten und armutsassoziierten
Krankheiten abgewartet werden. Ansonsten geht man
den zweiten vor dem ersten Schritt.
Die Förderung von PDPs in Höhe von 22 Millionen
Euro über einen Zeitraum von vier Jahren ist dabei ein
sehr guter erster Schritt. Mittel- und langfristig können
uns diese Zahlen - gerade im internationalen Vergleich
- nicht zufriedenstellen. Falsch wäre auch, das Engagement der Bundesregierung in diesem Bereich nur auf die
PDP-Förderung zu verengen. So ist die Förderung der
European and Developing Countries Clinical Trials
Partnership als weiterer wichtiger Baustein zur Bekämpfung der vernachlässigten und armutsassoziierten
Krankheiten im Förderkonzept des BMBF verankert.
Das BMBF unterstützt darüber hinaus national wie international viele Forschungsprojekte zum Thema HIV/
Aids.
Der Forderung, zukünftig auch HIV/Aids und Tuberkulose in die PDP-Förderung zu integrieren, stehen wir
offen gegenüber. Einen unspezifischen Rundumschlag
darf es aber auch da nicht geben. Die Zielvorstellung
muss dabei präzise sein, um die gewünschten Ergebnisse
zu erzielen.
Auch sollten wir uns keine Illusionen darüber machen, dass Deutschland in diesem umfangreichen Forschungsfeld alles leisten kann bzw. nur mit staatlichen
Mitteln die Probleme lösen kann. Nur durch europäische
und internationale Aufgabenteilung sowie die Einbeziehung des privaten Sektors werden wir den Herausforderungen bei der Erforschung vernachlässigter und armutsassoziierter Krankheiten gerecht. In der internationalen Staatengemeinschaft sollte jeder - auch die privaten Pharmaunternehmen - seinen spezifischen Beitrag
leisten.
Aus dem vorliegenden Antrag wird ersichtlich, wie
inhaltlich breit gefächert dieses Thema ist. Es tangiert
Forschungsfragen, rechtliche Belange hinsichtlich der
Ausgestaltung von Patenten und natürlich auch Fragen
der Entwicklungszusammenarbeit. Dieses breite Spektrum ist zwar richtig, allerdings wird bei fast allen angesprochenen Punkten genauso deutlich, dass die Rollen
von Opposition und Regierungsfraktion dann doch sehr
unterschiedlich sind.
Als Beispiel möchte ich den Punkt 7 und die damit
verbundene Forderung nach jährlich 500 Millionen
Euro für die nichtkommerzielle klinische Forschung mit
dem Schwerpunkt vernachlässigte Krankheiten aufgreifen. Bei allem Engagement für das Thema: Realitätssinn
sieht anders aus.
Ich finde es sehr schade, dass die Fraktion Die Linke
mit dem vorliegenden Antrag leider in vielen Punkten einen realitätsfernen Weg eingeschlagen hat, den wir
- trotz der Wichtigkeit des Themas - so nicht mittragen
können. Rechtliche und fiskalische Fantasterei sowie
Zwangsverpflichtungen helfen uns bei der Bekämpfung
von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten nicht weiter.
Ich freue mich aber auf interessante Debatten zum
Thema in den kommenden Monaten und hoffe, dass sich
die Oppositionsparteien unseren bald vorliegenden
- realistischen - Forderungen anschließen werden, um
das Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit voranzutreiben.
Der Antrag der Linken ist klar abzulehnen, da er haltlos ist, jeder Grundlage entbehrt und die Tatsachen verdreht. Als Oppositionspartei will sie - wie unter Punkt 7
im Antrag gefordert - „die nichtkommerzielle Forschung mit einer halben Milliarde jährlich aus Bundesmitteln fördern“. Das ist abenteuerlich. Aber von der
Linkspartei kennen wir das nicht anders: Immer vollmundig Geld ausgeben wollen, aber nicht sagen, wie es
bezahlt werden soll, wer es bezahlen soll und ob die Investitionsmittel nachhaltig eingesetzt werden.
Etwas Positives gibt es dennoch in diesem Antrag:
Einige Punkte sind tatsächlich eins zu eins aus unserem
Antrag zu Zeiten der großen Koalition übernommen
worden. Diese werden auch schon längst umgesetzt. Das
ist offensichtlich an der Linkspartei vorbeigegangen, da
sie sich mit diesem Thema augenscheinlich nur oberflächlich beschäftigt hat.
Ich kann und möchte gar nicht auf alle 26 geforderten
Punkte des Antrages eingehen, aber einige sollen schon
angesprochen werden. Die Erforschung der vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten müssen wir
weiter fördern, da über eine Milliarde Menschen darunter leiden. Zu diesen Krankheiten mit katastrophalen
Folgen oder gar tödlichem Verlauf zählen: HIV, Malaria, Tuberkulose, Chagas, das Dengue-Fieber oder die
Leishmaniose. Das sind nur einige der 17 vernachlässigten Krankheiten, die die WHO aufführt.
Wir fördern die Grundlagenforschung, die präklinische Forschung und die klinische Phase an vielen universitären und außeruniversitären Einrichtungen, Tendenz steigend. Mit der Gründung eines Deutschen
Zentrums für Infektionskrankheiten haben wir eine gute
Basis geschaffen, um diese Infektionen zu erforschen
und dadurch den Betroffenen in den Entwicklungs- und
Schwellenländern auch zu helfen.
Was wir brauchen sind nicht konzeptionslose Forderungen, sondern ein Förderkonzept und eine Förderstrategie, die effektiv und nachhaltig ist. Hier hat
Deutschland eine Vorreiterrolle übernommen.
Das BMBF fördert mit 22 Millionen Euro in den Jahren 2011 bis 2014 einen wichtigen Baustein in der Bekämpfung vernachlässigter und armutsbedingter Krankheiten, und zwar durch die Produktentwicklungspartnerschaften, PDPs: Product Development Partnerships. Das sind gemeinnützige Organisationen, die es sich
zur Aufgabe gemacht haben, Präventionsmethoden, Impfstoffe, Medikamente, Diagnostika oder Diagnosegeräte
zu entwickeln und kostengünstig auf den Markt zu bringen.
Vorrangiges Ziel ist hierbei die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und nicht die Gewinnschöpfung,
welche den Unterschied zur klassischen Pharmaforschung verdeutlicht. Im Übrigen sind erste Produkte aus
dem PDPs schon auf dem Markt. Das ist gut so. Da die
Kaufkraft in den Entwicklungsländern niedrig ist und
die Gesundheitssysteme stark unterfinanziert sind, besteht für die Industrie kaum ein Anreiz, Produkte speziell
für die von Armut betroffene Bevölkerung zu entwickeln.
Die PDPs sind daher ein gutes Konzept, Produkte speziell auf die Bedürfnisse von Menschen in armen Ländern zu entwickeln. Viele Menschen dort sind bildungsfern, und es kommt nicht selten vor, dass Medikamente
falsch oder/und in falschen Dosierungen eingenommen
werden.
Im Jahr 2000 formulierten die Vereinten Nationen
acht Millenniumsentwicklungsziele mit dem übergeordneten Ziel, die Armut der Welt zu bekämpfen. Die Bundesregierung fokussiert den Einsatz der Mittel vor allem
darauf, die Millenniumsentwicklungsziele 4 und 5 zu erreichen, und zwar die Kindersterblichkeit zu senken und
die Müttergesundheit zu verbessern, da insbesondere
dieser Teil der armen Bevölkerung von den Infektionskrankheiten betroffen ist.
Wie Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei, sind wir schon viel weiter, als Sie mit Ihren
26 Punkten in Ihrem Forderungskatalog uns glauben
machen wollen. Zweifellos kann man immer mehr tun,
und das wollen wir auch. Wir werden uns für eine Mittelerhöhung im Rahmen des Machbaren einsetzen.
Die Thematik der vernachlässigten Krankheiten in
Entwicklungsländern hat über lange Zeit leider viel zu
wenig Beachtung gefunden. Umso erfreulicher ist es,
dass die Probleme und Herausforderungen im Zusammenhang mit sogenannten vernachlässigten Krankheiten zunehmend ins Interesse der Öffentlichkeit geraten.
Dafür ist auch einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen zu danken, die sich überfraktionell für dieses Thema
einsetzen. Ein Ergebnis ist auch, dass sich der Deutsche
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundestag dieses Themas angenommen und einen Unterausschuss „Gesundheit in Entwicklungsländern“
- der sich auch mit den vernachlässigten Krankheiten in
diesen Ländern befasst - eingerichtet hat, der dem
Thema angemessenes Gewicht im parlamentarischen
Raum verleiht.
Dass die Thematik der vernachlässigten Krankheiten
vielschichtig ist und nicht nur die Dimension der Entwicklungspolitik betrifft, sondern auch wichtige Implikationen für die Forschungspolitik in Deutschland mit
sich bringt, wird auch an dem heute zur Debatte stehenden Antrag der Fraktion Die Linke deutlich: Die Schaffung von Grundlagen für eine nachhaltige Bekämpfung
der vernachlässigten Krankheiten beschränkt sich nicht
ausschließlich auf unsere Bemühungen in den Zielländern, sondern hängt auch ganz konkret von forschungspolitischen Weichenstellungen hier in Deutschland ab.
Das grundsätzliche Anliegen des hier zu debattierenden
Antrags, der Thematik der vernachlässigten Krankheiten auch in der Forschungsförderung des Bundes mehr
Gewicht zu verleihen, können wir nachvollziehen. Dies
wird im Grundsatz auch vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion befürwortet.
Nach eingehender Lektüre des Antrags kommen uns
jedoch erhebliche Zweifel, ob dieser Rundumschlag der
Fraktion Die Linke der Sache bzw. dem Ziel wirklich
dienlich ist. Vielmehr kann man sich des Eindrucks nicht
erwehren, dass dieser Antrag sich auf zahlreichen Nebenschauplätzen verliert und zudem mit einer Reihe unreflektierter und unrealistischer Forderungen gespickt
ist.
Da wäre zunächst die unter Punkt 7 erhobene Forderung, die nichtkommerzielle klinische Forschung mit
jährlich 500 Millionen Euro zu fördern. Mit einem Blick
auf den Forschungsetat des Bundes, der ein Gesamtvolumen von circa 13 Milliarden Euro umfasst, wird deutlich, dass eine Forderung in dieser Größenordnung als
wenig realistisch einzustufen ist. Mit unrealistischen
Forderungen dieser Art ist den Betroffenen in den jeweiligen Zielländern nur wenig geholfen: Wie zielführend
ist eine Forderung nach Mitteln, die der Haushalt nicht
hergibt? Zumal eine Förderung von klinischer Forschung in dieser Höhe einseitig Mittel im Forschungshaushalt binden würde. Dies ist weder ausgewogen noch
nachhaltig, zumal eine Mittelaufstockung in diesem Bereich unweigerlich Kürzungen an anderer Stelle zur
Folge hätte, etwa im Bereich der Grundlagenforschung.
Auf diese Weise könnte es auch negative Rückwirkungen
auf die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten
geben: etwa wenn durch eine mangelnde Finanzierung
der Grundlagenforschung die Entdeckung neuer, vielversprechender Wirkstoffe gegen vernachlässigte
Krankheiten nicht ermöglicht wird.
Daneben weist der vorliegende Antrag noch zahlreiche weitere unreflektierte Appelle auf. Ich will an dieser
Stelle nur auf die Forderung eingehen, die die öffentliche Förderung klinischer Studien zwangsläufig an die
Auflage einer Open-Access-Publikation binden möchte.
Ich halte es für richtig, darüber nachzudenken, wie mit
Ergebnissen aus öffentlich finanzierter Forschung umgegangen werden kann und soll. Wir haben als SPDFraktion in unserem Antrag zum Zweitverwertungsrecht
im Urheberrecht eine Position dazu formuliert. Wenn
aber die Linksfraktion die Bundesregierung auffordert,
die öffentlich finanzierten Forschungsinstitute zu verpflichten, bereits vorhandene Patente - sogar wenn sie
nichtöffentlich finanziert wurden - in einen noch so
sinnvoll erscheinenden Patentpool zu geben, baut sie
Potemkinsche Dörfer auf. Dies ist tatsächlich kaum zu
realisieren.
Diese Liste ließe sich noch erweitern; angesichts der
begrenzten Redezeit soll an dieser Stelle jedoch nicht
weiter darauf eingegangen werden. Das grundsätzliche
Problem der Unausgewogenheit des vorliegenden Forderungskatalogs ist hoffentlich in Teilen herausgearbeitet worden. Wie so oft im Leben, so wird auch in diesem
Fall deutlich, dass das Gegenteil von „gut gemacht“
auch „gut gemeint“ sein kann.
Armutsbedingte, vernachlässigte Krankheiten sind
auch heute noch dafür verantwortlich, dass die Lebenserwartung in den Entwicklungsländern bis zu 30 Jahre
unter der in Industriestaaten liegt.
Jahr für Jahr sterben Millionen Menschen an Krankheiten, die vermeidbar oder behandelbar wären. Bei
Aids nimmt die Zahl der Neuinfektionen insgesamt zwar
ab, liegt aber immer noch bei 2,7 Millionen pro Jahr.
Direkt in unserer Nachbarschaft, in den ehemaligen
GUS-Staaten, haben wir Steigerungsraten von 250 Prozent in den letzten zehn Jahren.
Trotz eines verbesserten Zugangs zu Medikamenten
werden auch heute noch täglich mehr als 1 000 Kinder
durch ihre Mütter infiziert. Darauf möchte ich am heutigen Welt-Aids-Tag noch einmal aufmerksam machen.
Malaria tötet in Subsahara-Afrika alle 30 Sekunden
ein Kind.
Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist mit Tuberkulose infiziert. Mehr als eine Milliarde Menschen sind
von den vernachlässigten Krankheiten, wie Schlafkrankheit oder Wurmerkrankungen betroffen. Etwa ein Drittel
der Weltbevölkerung, circa 2 Milliarden Menschen,
haben keinen Zugang zu existenziellen Medikamenten.
Dies sind die Fakten. Nach den Gesetzen der reinen
Marktwirtschaft, sind all diese Menschen nicht interessant, da sich mit der Entwicklung von Medikamenten für
sie kein Geld verdienen lässt.
Um ihnen dennoch zu ihrem Menschenrecht auf Gesundheit zu verhelfen, gibt es verschiedene Instrumente,
die in den vergangenen Jahren entwickelt wurden, so
zum Beispiel die sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften, PDP, die Medikamente für die vernachlässigten Krankheiten in Zusammenarbeit mit Industrie und
Forschung auf Non-Profit-Basis entwickeln.
Die Bundesrepublik ist seit diesem Jahr in die Förderung eingestiegen. Das begrüße ich sehr, auch wenn wir
als SPD uns einen deutlich höheren Förderbeitrag
gewünscht hätten. Es ist ein Einstieg, und ich danke
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
ausdrücklich dem Parlamentarischen Staatssekretär
Dr. Braun im BMBF für sein Engagement. In diesem
Falle hat die Kanzlerin die weise Entscheidung getroffen, dass das BMBF für die PDP zuständig sein soll.
Hätte man dies dem Minister Niebel überlassen, würden
heute vermutlich keine Gelder mehr zur Verfügung stehen. Dies zeigt die Einstellung der Förderung für die
Mikrobizidforschung deutlich.
Wenn jetzt unsere Forderung aus dem vergangenen
Jahr, PDP mit 100 Millionen Euro zu fördern, noch umgesetzt wird und dann Förderung auch auf die Bereiche
Aids/HIV und Tuberkulose ausgedehnt würde, wären wir
einen großen Schritt weiter.
Einen großen Schritt können wir auch gehen, wenn
wir endlich eine stärkere Kohärenz zwischen nationalem
und europäischen Handeln in der Forschung erreichen.
Deswegen setzen wir uns für eine Einbeziehung der PDP
in das 8. Forschungsrahmenprogramm der EU ein.
Ein anderer Weg ist das Projekt TBVI, das über Bürgschaften durch die Europäischen Mitgliedstaaten die
Finanzierung der Forschung und Entwicklung eines
Impfstoffes gegen Tuberkulose erreichen möchte. Auch
dieses Projekt unterstützen wir ausdrücklich.
Die SPD-Fraktion hat bereits im vergangenen Jahr
einen Antrag vorgelegt, der Maßnahmen zur verbesserten Medikamentenversorgung in den Entwicklungsländern aufzeigt. Dass jetzt ein weiterer Antrag vorliegt,
der unsere Forderungen unterstützt, lässt mich hoffen,
dass sich bald auch die Mehrheit des Hauses für eine
Verbesserung der Forschungs- und Versorgungssituation mit Medikamenten für die Armen dieser Welt einsetzen wird.
Es wäre sehr schön, wenn alle Menschen weltweit ungeachtet ihrer Kaufkraft Zugang zu den für sie notwendigen Medikamenten und Produkten hätten. So weit sind
wir natürlich noch lange nicht. Wir nähern uns so großen Zielen Schritt für Schritt. Einer davon ist das Förderkonzept für Forschung und Entwicklung zu vernachlässigten Krankheiten und zu solchen Krankheiten, bei
denen Armut eine große Rolle spielt. Es sind meist Infektionskrankheiten, und sie führen in Entwicklungs- und
Schwellenländern dazu, dass sehr viele Menschen chronisch krank sind oder früh sterben. Besonders die sogenannten Großen Drei - Malaria, HIV/Aids und Tuberkulose - haben eine hohe Sterblichkeit zur Folge. An der
Diagnose und Behandlung dieser Krankheiten wird seit
langem und auch erfolgreich geforscht. Die Weltgesundheitsorganisation zählt weitere 17 tropische Krankheiten zu den sogenannten vernachlässigten Krankheiten,
für die es bisher keine oder nur unzureichende Behandlungsmöglichkeiten gibt.
Sie meinen, der pharmazeutische Markt versage in
der Bereitstellung entsprechender Produkte. Das sehen
wir Liberalen anders. Wenn die Pharmaindustrie sich
auf Medikamente konzentriert, mit denen sich Gewinne
erzielen lassen, ist das kein Versagen und auch nicht
moralisch verwerflich, sondern das ist marktwirtschaftlich erfolgreiches Handeln. Wenn wir Politiker erreichen wollen, dass auch vernachlässigte Krankheiten erforscht und Behandlungen ermöglicht werden,
wo keine Gewinne zu erwarten sind, dann müssen wir
Anreize schaffen. Das BMBF schafft jetzt solche Anreize, indem es die Entwicklung von Produkten zur Prävention, Diagnose und Behandlung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten fördert und
unterstützt - mit bis zu 28 Millionen Euro in den Jahren
2011 bis 2014.
Das Förderkonzept der Bundesregierung hat sehr
wohl konkrete Ziele und es stellt Mittel bereit, um diese
Ziele zu verwirklichen. Die Ziele sind Verbesserungen
im Gesundheitsbereich für Menschen, die bisher keinen
Zugang zu Behandlung und Medikamenten haben. Im
Hinblick auf die „Großen Drei“ gibt es eine europäischafrikanische Kooperation. Das heißt, in Europa werden
Impfstoffe und Medikamente erforscht, und in Afrika
werden die dazu gehörenden klinischen Studien durchgeführt, mit dem Ziel, Malaria, HIV/Aids und Tuberkulose zurückzudrängen.
Im Hinblick auf die 17 vernachlässigten Krankheiten
wird eine neue Maßnahme erprobt. Es werden nämlich
sogenannte Produktentwicklungspartnerschaften, PDP,
gefördert, das sind Non-Profit-Organisationen, die
Impfstoffe und Medikamente für diese Krankheiten entwickeln und in den Entwicklungsländern den davon Betroffenen - Erwachsenen, aber ganz besonders auch
Kindern - kostengünstig anbieten werden. Damit leistet
die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung von vernachlässigten und armutsbedingten
Krankheiten. Für diese innovative Maßnahme sind
20 Millionen Euro bis 2014 reserviert.
Sie meinen, diese positive Initiative bleibe finanziell
weit hinter dem Erforderlichen zurück. Das ist nicht zu
bestreiten. Aber wir haben leider nicht die Möglichkeit,
alles zu finanzieren, was erforderlich und wünschenswert wäre. Dass die Bundesregierung in diesen Zeiten
dennoch so viel Geld locker macht, um kranken Menschen in armen Ländern zu helfen, verdient Anerkennung. Ihre Forderungen unterstützen wir nicht. Wir meinen, dass der Staat weder die Forschung noch die
Wirtschaft zu sehr reglementieren sollte. Wir glauben
auch nicht, dass Zwangsmaßnahmen hier zum Erfolg
führen. Die Politik ist für die politischen Ziele zuständig.
Und wenn die Bundesregierung ein Förderprogramm
startet, um ihre politischen Ziele zu verfolgen und in diesem Fall die Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten zu unterstützen, dann finden wir das richtig und leisten als Abgeordnete unseren
Beitrag dazu, dass die ergriffenen Maßnahmen zum
Erfolg führen. Ihren Antrag lehnen wir ab.
Das marktwirtschaftliche Prinzip von „Angebot und
Nachfrage“ versagt nirgendwo so kläglich wie bei der
Bereitstellung lebensrettender Medizin für die Ärmsten
dieser Welt. Obwohl Gesundheit ein Menschenrecht ist,
sterben jedes Jahr Millionen Menschen in den Entwicklungsländern an Infektionskrankheiten, für die es keine
Zu Protokoll gegebene Reden
adäquaten Behandlungsmethoden gibt. Denn nur zehn
Prozent der globalen Forschungsausgaben fließen in
Krankheiten, die etwa 90 Prozent zur globalen Krankheitslast beitragen. Zu den vernachlässigten Krankheiten zählen heute laut der Weltgesundheitsorganisation
WHO vor allem noch Malaria und Tuberkulose sowie
weitere 17 tropische und armutsassoziierte Krankheiten.
Die Pharmaindustrie betreibt indes lieber Wirkstoffforschung für Wellnessmedikamente, die später große
Gewinne in den Industrieländern versprechen, anstatt
den lebensnotwendigen Bedarf in den Entwicklungsländern zu bedienen. So forschen Wissenschaftler jahrelang
an einem Wirkstoff gegen Haarausfall, statt einen lebensrettenden neuen Tuberkulosetest zu entwickeln.
Kein anderes Beispiel zeigt das ganze Ausmaß des Dilemmas deutlicher: Wollen Ärzte heute eine Tuberkuloseinfektion nachweisen, sind sie im Grunde immer noch
abhängig von der Methode, die Robert Koch vor über
100 Jahren entwickelt hat - ein Test, der zudem nicht
sehr genau ist. Infizierte werden so schlussendlich nicht
behandelt und stecken weitere Menschen an.
Unterdessen sind wir auf den Mond geflogen und haben Atome gespalten. Aber für eine Krankheit, die in nur
einem einzigen Jahr nach Schätzungen der WHO über
1,8 Millionen Menschen tötet, haben wir noch nicht einmal neue Methoden bei der Diagnostik entwickelt! Für
die Menschheit im 21. Jahrhundert ist es ein absolutes
Armutszeugnis, dass die Tuberkulose immer noch die
weltweite Statistik der tödlichen Infektionskrankheiten
anführt.
Gleichzeitig investiert die Pharmaindustrie doppelt
so viel Geld in Marketing wie in Forschung. Durch die
profitgeleitete Schwerpunktsetzung auf unwichtige
Krankheitsbilder und Werbemaßnahmen erzielen die Investitionen heute kaum mehr einen therapeutischen
Mehrwert.
Eine Ausnahme bildet der Kampf gegen HIV/Aids:
Dieser war in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen sehr erfolgreich. Das macht Hoffnung. Die Weltgemeinschaft hat beweisen, dass sie die notwendigen Ressourcen mobilisieren kann, wenn sie will. Wir dürfen
aber in unseren Bemühungen nicht nachlassen. Die
Bundesregierung, und hier namentlich Dirk Niebel, tappen aber blauäugig genau in diese Falle: die mangelnde
finanzielle Unterstützung für den Globalen Fonds zur
Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose genau
in dem Moment infrage zu stellen, wo erste Erfolge zu
verzeichnen sind. Das gefährdet unmittelbar Menschenleben. Es ist bedauernswert, dass Schwarz-Gelb trotz
eindringlicher Appelle aller Oppositionsparteien und
mit dem Thema befassten zivilgesellschaftlichen Organisationen diesen Fehler begeht.
Öffentlich geförderte Grundlagenforschung in den
Industrieländern ist häufig die Basis für neue Pharmaentwicklungen. Die Politik nutzt die ihr dadurch entstehenden direkten Einflussmöglichkeiten bisher allerdings
kaum.
Wenn ein Pharmakonzern mithilfe von Patenten überhöhte Preise durchsetzt, behindert dies die weitergehende Forschung und verhindert die Versorgung in Entwicklungsländern. Wenn dies auch noch auf der Basis
öffentlicher Forschung geschieht, also mit Steuergeldern finanzierter Innovationen, ist die Allgemeinheit zugunsten der Pharmaindustrie doppelt benachteiligt. Das
muss sich ändern. Wir brauchen dringend eine öffentliche Forschungsförderung, die die komplette Kette der
Gesundheitsversorgung abdeckt.
Patente sind ein Konzept von gestern. Die Versorgung
der Betroffenen muss im Mittelpunkt der Bemühungen
stehen, nicht wie bisher Verwertungsinteresse der Pharmaunternehmen. Open-Access-Lösungen gehört die Zukunft. Da jeder wissenschaftliche Fortschritt das Ergebnis der durch die Öffentlichkeit geförderten Bildung und
Forschung ist, sollten ihr die Ergebnisse auch wieder
kostenfrei zur Verfügung stehen. Im Bereich der Pharmaforschung würde dies Innovationen beschleunigen
und Preise senken.
Wir müssen den milliardenschweren Ausgaben für
Lobbyarbeit, Beeinflussung und Manipulation zum Trotz
dem Menschenrecht auf Gesundheit endlich Vorrang
verschaffen vor dem Streben nach immer größeren Gewinnen der Pharmaindustrie. Mit dem vorliegenden
Bundestagsantrag „Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen - Zugang
zu Medikamenten für arme Regionen ermöglichen“ hat
die Linke weitreichende Vorschläge gemacht, wie dies
gelingen kann. Den Menschen in den Ländern des globalen Südens gegenüber ist es unsere Verpflichtung,
dass wir endlich vorankommen.
Heute ist Welt-Aids-Tag. Wir müssen heute investieren, um die Zukunft von morgen gestalten zu können!
UNAIDS veröffentlichte gerade die neuen HIV-Zahlen die Zahl der Neuinfektionen ist auf 2,7 Millionen gesunken. Auch die Zahl der Aidstoten ist leicht gesunken auf
1,8 Millionen Menschen. Absolut leben aber mehr Menschen denn je mit dem tödlich Virus, nämlich 34 Millionen, und nicht einmal die Hälfte der Erkrankten kann
mit entsprechenden Medikamenten versorgt werden.
Das ursprüngliche Ziel, bis 2010 universellen Zugang
zu Medikamenten, Behandlung und Betreuung zu
schaffen, ist gescheitert.
Nichtsdestotrotz, die positiven Erfolge zeigen, dass es
verantwortungslos wäre, im Kampf gegen die Krankheit
jetzt nachzulassen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, die finanziellen Zusagen insbesondere für den
Globalen Fonds einzuhalten. Entwicklungsminister Dirk
Niebel muss endlich seine Blockadepolitik gegenüber
dem Globalen Fonds beenden. Zuerst hat er die für 2011
vereinbarten Zahlungen lange zurückgehalten und nun
die für 2012 gemachte Zusagen nicht im entsprechenden
Haushaltstitel eingestellt. Das ist keine verlässliche
Partnerschaft, und gerade die brauchen wir in der Entwicklungszusammenarbeit. Es ist richtig, dass sich der
Fonds reformieren muss und die Korruptionsfälle lückenlos aufgeklärt werden müssen. Es ist aber nicht richtig, das mehr als transparente und kooperative Verhalten
des Fonds abzustrafen.
Zu Protokoll gegebene Reden
http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Koch
Vernachlässigte Krankheiten und der universelle Zugang zu Medikamenten ist neben dem Aufbau von sozialen Sicherungssystemen ein wichtiges Thema in der
Entwicklungs- und internationalen Gesundheitspolitik.
Krankheiten fördern Armut und haben entscheidende
sozioökonomischen Konsequenzen, ganze Gesellschaften sind in ihrer Entwicklung durch die enorme
Krankheitslast gehindert. Vernachlässigte Krankheiten
sind aber ebenso Ergebnis von missachteten Menschenrechten. Wir stehen in der Verpflichtung, diese umzusetzen, Menschenrechte sind nicht verhandelbar.
Wir Grünen begrüßen in diesem Zusammenhang die
neue Förderungslinie des BMBF für Produktentwicklungspartnerschaften im Bereich der vernachlässigten
und armutsbedingten Krankheiten. Allerdings ist die
jährliche Förderungssumme von 5 Millionen Euro nur
ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir Grünen haben daher auch in unserem Änderungsantrag zum Haushalt für
diesen Titel einen Aufwuchs von 20 Millionen Euro
gefordert.
Es braucht aber noch mehr, um für die 1,3 Milliarden
Menschen, die von diesen Krankheiten bedroht sind,
eine Perspektive zu schaffen. Gerade die Gelder, die in
die öffentliche Forschung investiert werden, müssen mit
sozialen Kriterien verknüpft werden können. Privatwirtschaftliche Unternehmen wie Pharmakonzerne,
die die Ergebnisse aus öffentlichen Forschungseinrichtungen nutzen, müssen sich der Gesellschaft gegenüber
verantworten und sicherstellen, dass es eine sozialverträgliche Verwertung der Ergebnisse gibt.
Vernachlässigte Krankheiten kämpfen vor allem mit
zwei zentralen Problemen: erstens mit einer eklatanten
Forschungslücke und zweitens mit einer großen Versorgungslücke. Es gibt zu wenige oder zu wenig geeignete
Medikamente für Krankheiten, die insbesondere in
ärmeren Ländern auftreten. Von 1 556 Neuzulassungen
zwischen 1974 und 2004 gab es nur 21 für vernachlässigte Krankheiten, einschließlich Malaria und Tuberkulose. Ebenso ermöglicht das derzeitige Patentrecht den
Pharmaunternehmen Monopolrechte und damit die
Möglichkeit, so hohe Medikamentenpreise zu erheben,
dass viele Menschen - insbesondere in Entwicklungsund Schwellenländern - sich das Medikament nicht leisten können. Hier werden falsche Anreize gesetzt. Nicht
die Gesundheitsrendite, also der größtmögliche gesellschaftliche und gesundheitliche Nutzen, ist ausschlaggebend, sondern die größten Gewinnchancen. Gesundheit
ist aber ein Menschenrecht. Mit der Doha-Erklärung
von 2001 zum WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, den
sogenannten TRIPS-Abkommen, haben sich die WTOStaaten verpflichtet, die öffentliche Gesundheit zu schützen und den Zugang zu Medikamenten zu fördern. Das
war ein wichtiger Schritt. Allerdings lassen sich die
TRIPS-Flexibilitäten, die die Umsetzung dieser Aspekte
sicherstellen sollen, oftmals nur schwer durchsetzen.
Hinzu kommt, dass wir mittlerweile beobachten müssen,
dass vor allem durch Freihandelsabkommen versucht
wird, TRIPS-Flexibilitäten gravierend einzuschränken
und verschärfte Regelungen in Bezug auf geistiges
Eigentum durchzusetzen. Das ist eine unsägliche Praxis,
die massiv das Menschrecht auf Gesundheit missachtet.
Der Antrag der Fraktion Die Linke hat wichtige
Punkte aufgegriffen, wenngleich wir dem Antrag nicht
zustimmen werden. So haben wir Grünen unter anderem
im Rahmen der Haushaltsberatungen entsprechend dem
entwicklungspolitischen Konsens, das 0,7-Prozent-Ziel
umzusetzen, klare finanzielle Aussagen getroffen, die
sich nicht mit den Forderungen des uns vorliegenden
Antrags decken. Auch einzelne der im Antrag
geforderten Modelle schließen andere wichtige Ansätze
in diesem Bereich aus oder lassen sich nur schwer mit
diesen verbinden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7372 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Koalitionsfraktionen wünschen die
Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung. Die Fraktion Die Linke
wünscht die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen CDU/CSU und FDP - Federführung beim
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
27 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP
Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU
2014-2020 - Ein strategischer Rahmen für
nachhaltige und verantwortungsvolle Haushaltspolitik mit europäischem Mehrwert
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Für einen progressiven europäischen Haushalt - Der Mehrjährige Finanzrahmen der
EU 2014-2020
- Drucksachen 17/7767, 17/7808, 17/8013 17514
Abgeordnete Bettina Kudla
Joachim Spatz
Dr. Frithjof Schmidt
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Lisa Paus, Viola von Cramon-Taubadel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein starker Haushalt für ein ökologisches und
solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020
- Drucksache 17/7952 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Die Reden werden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.
Wir beraten heute in zweiter Lesung den Antrag der
CDU/CSU und FDP zum Mehrjährigen Finanzrahmen
der EU 2014 bis 2020. Ebenso beraten wir einen Antrag
der SPD zum gleichlautenden Thema. Die Beratungen
sind geprägt von der aktuell schwierigen Situation der
Refinanzierung von Staaten. Die Krise hat zwei Ursachen: zu hohe Staatsverschuldung und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Daher muss die Prioritätensetzung
des Mittelfristigen Finanzrahmens besonders auf dem
Gebiet der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten liegen. Dies ist natürlich leichter gesagt
als getan.
Aber eines ist unstrittig: Investitionen und nicht konsumtive Ausgaben müssen der Schwerpunkt des Finanzrahmens sein - und zwar nachhaltige Investitionen. Eine
Investition ist ja immer langfristig angelegt. Dass innerhalb der Mittelfristigen Finanzrahmens die Schwerpunkte besonders in den südeuropäischen Ländern in
der Vergangenheit nicht immer richtig gesetzt wurden,
haben Abgeordnete anderer europäischer Parlamente
selbst bestätigt. Folglich gilt es, sowohl Planung als
auch die Konditionen der Gewährung von Mitteln zu
verbessern. Im Fokus sollte dabei stehen, eine gute Infrastruktur zu schaffen, die private Investoren anlockt
und die damit private Investitionen nach sich zieht.
Alles dies sollte immer vor dem Oberziel geschehen,
dass die Ausgaben der Europäischen Union einen europäischen Mehrwert haben müssen. Die Schaffung dieses
Mehrwertes ist Aufgabe des Haushaltes der Europäischen Union und damit des Mittelfristigen Finanzrahmens. Im Mittelfristigen Finanzrahmen liegen daher
auch immer enorme Chancen für das weitere Zusammenwachsen und die bessere Verzahnung der Staaten
Europas. Energie, Telekommunikation und Verkehr sind
hier die Schwerpunkte. Gerade die Mobilität der Menschen erlangt immer größere Bedeutung.
Die Bereitstellung von Fördermitteln ist allerdings
nur einer von mehreren Aspekten bei einer Investition.
Private Investitionsentscheidungen hängen auch von
vielen anderen Faktoren ab, wie zum Beispiel von verlässlichen Rahmenbedingungen im fiskalen und im ordnungspolitischen Bereich, von der Qualität der verfügbaren Arbeitskräfte und der Risikobereitschaft von
Unternehmern. Folglich muss vor allem auch in die
Köpfe - in die Aus- und Weiterbildung der Menschen investiert werden. Die EU-2020-Strategie sieht dies vor,
mit dem Ziel, die Zahl der Schulabbrecher zu verringern
und die Zahl der Hochschulabgänger zu erhöhen.
Allerdings gilt auch die EU-2020-Strategie vor dem
Hintergrund der Subsidiarität. Das heißt, alles, was auf
nationaler Ebene geregelt und erledigt werden kann, ist
auch dort umzusetzen. Jede öffentliche Investition benötigt auch einen Kofinanzierungsanteil. Bisher waren das
in der Regel 25 Prozent, auch hier sollte weiter Kontinuität herrschen. Eine zu starke Veränderung der Kofinanzierungsanteile belastet die öffentlichen Haushalte unnötig, da diese ihre Investition gegebenenfalls nicht
weiter erhöhen können. Auch sollten keine Brüche in der
Förderung von Regionen entstehen, die sich in den letzten Jahren gut entwickelt haben. Eine Region, die
75 Prozent des durchschnittlichen Bruttosozialproduktes überschreitet, sollte in ihrer Entwicklung nicht
weiter zurückfallen. Die Sicherheitsnetze für die Übergangsregionen und auch für die jetzigen Phasing-outRegionen sind daher von besonderer Bedeutung.
Wie wichtig ein vernünftig gestalteter Agrarsektor,
eine Kappung der Strukturfördermittel auf 2,5 Prozent
des BIP, eine Schaffung von neuen Investitionsanreizen
sind, damit nicht zu hohe nicht ausgeschöpfte Mittel entstehen, und gegebenenfalls eine Neugestaltung des Beamtenstatus. All dies sind wichtige Themen, die wir in
unserem Antrag inhaltlich ausgeführt haben, und die gilt
es in den kommenden Monaten insbesondere im Europaausschuss intensiv weiter zu beraten und zu gestalten.
Lassen Sie mich aber noch einen weiteren Punkt
besonders betonen: In unserem Antrag lehnen wir ein eigenes Erhebungsrecht von Steuern seitens der Europäischen Union ab. Entsprechende Vorschläge der Kommission sind zurückzuweisen. Keinesfalls dürfen wir den
unschätzbaren Wert, dass der EU-Haushalt, der als einer der wenigen öffentlichen Haushalte der Welt, nicht
verschuldet ist, so einfach aufgeben. Auch dürfen keine
Finanzinstrumente und Fondskonstruktionen eingeführt
werden, die zu einer Verschuldung des europäischen
Haushaltes führen. Deswegen lehnen wir auch in unserem Antrag die Einführung von Euro-Bonds nochmals
strikt ab.
Es verwundert schon sehr, wie leichtfertig die Opposition hier unserer deutschen Bevölkerung zumuten will,
für Schulden anderer Länder zu haften. Eine solche
Politik wäre völlig verantwortungslos. Sie würde
Deutschland unter Umständen in den Abgrund führen.
Sie würde Deutschland in eine Situation bringen der
übermäßigen Verschuldung - aus einer Situation, aus
der sich auch ein wirtschaftlich starker Staat nicht mehr
befreien könnte. Unserer eigener Wohlstand und auch
damit unserer Sozialsysteme wären gefährdet. Europa
würde nicht weiter zusammenwachsen, sondern eher
auseinanderdriften, da man unserer Bevölkerung das
Projekt Europa dann auch nicht mehr vermitteln könnte,
da es zu erheblichen Ungerechtigkeiten führen würde.
Deutschland hat selbst ein Schuldenstand von rund
80 Prozent des Bruttosozialproduktes. Wir können nicht
noch für Schulden anderer Länder aufkommen. Wir können daher auch nicht unsere Nettozahlerposition verschlechtern. Es ist geradezu eine Hybris, wie die SPD in
ihrem Antrag mit dem Steuergeld unserer Bürger umgeht, indem sie sagt, dass wir quasi Milliarden mehr
zahlen sollen. Die Zukunft Europas liegt darin, dass wir
die Menschen mitnehmen. Die Menschen sind bereit, in
der Krise solidarisch zusammenzustehen und sich als
Europäer zu verstehen. Diesen Vertrauensvorschuss
dürfen wir nicht mit Euro-Bonds, mit nicht abzuschätzenden Risiken oder Blankoschecks verspielen.
Wenn wir uns heute auf Antrag der Koalitionsfraktionen, auf Antrag der CDU/ CSU und der FDP, mit dem finanziellen Geschehen der Haushaltspolitik in der Europäischen Union befassen, dann sprechen wir ein Thema
an, das auch außerordentlich gut in die innenpolitische
Situation Deutschlands passt. Auch wir haben vor wenigen Tagen den Bundeshaushalt 2012 verabschiedet.
Auch wir wollen innerstaatlich bei uns in Deutschland,
sozusagen als Hausaufgabe, nachhaltig haushalten und
verantwortungsvoll unsere Haushaltspolitik umsetzen,
um die Grundpfeiler der Stabilität in Deutschland wieder zu gewährleisten.
Diese von uns und für uns vorgegebenen Rahmenrichtlinien müssen auch für andere gelten. Wir wissen,
dass ausschließlich stabilitätsorientierte Haushaltspolitik und stabilitätsorientiertes Wirtschaften die Schlüssel
für die Zukunft sind. Die jetzige Finanzkrise in Europa
hängt ja großenteils damit zusammen. Es sind in den
letzten Jahren außerordentlich viele Fehler gemacht
worden. Deutschland hat nicht das Recht, mit Fingern
auf andere zu zeigen.
Gerade in der Zeit der rot-grünen Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, unter dem
Vizekanzler Fischer und unter dem sozialdemokratischen Finanzminister Hans Eichel hat Deutschland in
den Jahren 2002 und 2003 die nachhaltig stabilitätsorientierte Haushaltspolitik verlassen. Die Maastricht-Kriterien wurden geradezu außer Kraft gesetzt, die Verschuldungsobergrenzen wurden mit einer Lockerheit
und Leichtigkeit verletzt, dass einem heute noch schwindelig werden könnte.
Die europäische Haushaltspolitik muss sich nach den
heutigen deutschen und auch den stabilitätsorientierten
Haushaltspolitiken anderer Länder richten. Die Zeit,
dass nur gefordert wird, und die Zeit, dass alle europäischen Töpfe im Gießkannenprinzip verteilt werden, muss
vorbei sein.
Wenn für den mittelfristigen Zeitraum von 2014 bis
2020, also für den Finanzrahmen dieser sieben Jahre,
die EU-Kommission vorschlägt, die Mitgliedstaaten
sollten ihr mehr als 1 Billion Euro zur Verfügung stellen
- das heißt genau 1 025 Milliarden Euro - und zusätzlich weitere 58 Milliarden Euro außerhalb des Haushaltes, so geht das unserer Meinung nach entschieden zu
weit. Der Vorschlag der CDU/CSU im jetzigen Antrag,
die Ausgaben auf höchstens 1 Prozent der kumulierten
Bruttonationaleinkommen zu begrenzen, trifft in der Tat
auch die Intention unserer Bundesregierung. Immerhin
wird damit ein Geldvolumen von 971 Milliarden Euro
ins Werk gesetzt. Das alles muss erst in den einzelnen
Mitgliedschaften erwirtschaftet werden, um nach Brüssel abgeführt werden zu können. Wir sprechen hier nicht
über „Peanuts“.
Gewiss hat Deutschland große Vorteile als stärkstes
Mitgliedsland der EU über den Handel, über unsere Außenwirtschaft, über unsere Exporte. Dennoch sind wir
unbestritten der größte Nettozahler mit Einzahlungen
von 22 Milliarden Euro im Jahr. Gerechterweise wird
man hinzufügen müssen, dass natürlich auch wieder
Rückflüsse nach Deutschland stattfinden. Unbestritten
ist aber auch, dass ein Nettobetrag von mehr als 8 Milliarden Euro pro Jahr zur Zahlung verbleibt. Meiner
Meinung nach muss es damit auch sein Bewenden haben. Wir machen das in unseren nationalen Haushalten
ja vor: Wirtschaftswachstum, Steigerung der Zahl der
Arbeitsplätze, nachhaltiges solides Wirtschaften, mehr
als Einhalten der Schuldenbremse.
Alles ist durchaus gleichzeitig möglich, wenn nur eine
konsequente Politik betrieben wird. Dies muss auch für
Europa gelten. Aus diesem Grunde schließen sich auch
Nebenhaushalte, quasi außerhalb des EU-Haushaltes,
aus. Uns ist in der Tat an einer lückenlosen Offenlegung
der EU-Ausgaben gelegen; eine Kontrolle all der Ausgaben ist für uns unabdingbar. In diesen Zusammenhang
passt natürlich, dass der Europäische Rechnungshof in
seinem Jahresgutachten über den EU-Haushalt 2010
festgestellt hat, dass „Zahlungen in wesentlichem Ausmaß mit Fehlern behaftet waren“. Es geht uns mit diesem Antrag natürlich auch darum, dass die so festgestellten Fehler abgestellt werden, und nicht bloß für das
Jahr 2010 betrachtet, sondern nachhaltig und dauerhaft. Allein damit hat die EU es selbst in der Hand, eigene finanzielle Ressourcen zu generieren, die ihr augenblicklich offensichtlich zwischen den Fingern
zerrinnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für mich ist unerheblich, ob die Fehlerquellen im
EU-Räderwerk, in Brüssel selbst, ihre Ursache haben
oder nach Zuteilung auf die europäischen Länder. Der
Bericht des Europäischen Rechnungshofes ist geradezu
erschreckend. Gerade bei Ländern, die offensichtlich
sehr leichtfertig mit europäischem Geld umgehen, ist es
unabdingbar notwendig, mit ganz besonderer Akribie
„hinzuschauen“.
Größtes Augenmerk muss dabei auf den EU-Ausgabenbereich „Kohäsion, Energie und Verkehr“ gelegt
werden. Man muss sich die Zahlen ja geradezu zweimal
anschauen. Beim ersten Lesen meint man, man sei einem
Schreib- oder Lesefehler unterfallen, wenn der Rechnungshof angibt, dass von 243 geprüften Zahlungen im
genannten Bereich geradezu die Hälfte fehlerhaft ist,
nämlich 49 Prozent. Diese unglaublich anmutende Fehlerquote ist nicht singulär. Schon im Jahr 2009 gab es
ähnliche Beanstandungen.
Jetzt, im Jahr 2010, wird mit einer Gesamtfehlerquote
von circa 7,7 Prozent gerechnet. Aus diesem Grunde ist
es geradezu ein Gebot des Augenblicks, dass insbesondere für Spanien und Italien, also jenen Staaten, die sich
am meisten in unverantwortlicher Weise aus diesen
Haushaltstiteln bedienen, ein Zahlungstopp verordnet
wird. Nach den mir vorliegenden Zahlen schuldet Spanien der EU allein im Kohäsionsbereich 2,9 Milliarden
Euro, Italien 930 Millionen Euro. Alleine an diesen Zahlen ist erkennbar, dass die EU mit einem auf 1 Prozent
des Bruttonationaleinkommens begrenzten Haushalt
- immer noch eine gigantische Summe von fast 1 Billion
Euro - durchaus auskommen kann, insbesondere dann,
wenn man die eigenen Missstände abbaut.
Die eigenen Versäumnisse aufrechtzuerhalten, um in
das „Fass ohne Boden“ die nationalen Gelder einfließen zu lassen, das wäre fürwahr die banalste Art. Mit
„Wirtschaften“ im wahrsten Sinne des Wortes hat das
nichts mehr zu tun. Wirtschaften bedeutet, mit knappen
Gütern sinnvoll umzugehen. Sinnvoller Umgang scheint
mir nicht gegeben zu sein.
Die Sache ist für EU-Behörden deshalb einfach, weil
sie mit fremdem Geld, nämlich den Beiträgen aus den
EU-Ländern, in einer nicht zu rechtfertigenden Großzügigkeit umgehen. Auch bei EU-Agenturen müssen wir zu
echter Erfolgskontrolle kommen. All diese 43 Agenturen
müssen einer unmittelbaren politischen Kontrolle unterstellt werden.
Auch mit einem anderen Unfug muss aufgehört werden: Geradezu jedes EU-Mitgliedsland, das für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, hat sich
scheinbar mit der Einrichtung einer „eigenen neuen
Agentur“ bedient, eines zusätzlichen Wasserkopfes, der
wie zum Beispiel die Agentur für Grundrechte in Wien
von den EU-Mitgliedstaaten dauerhaft bezahlt werden
muss.
Wegen der Kürze der Redezeit kann nicht auf jeden
Punkt eingegangen werden. Demnach unterstütze ich
ausdrücklich, dass der Anteil der Agrarpolitik am Gesamthaushalt deutlich verringert wird. Der Haushaltsvorschlag des Bundesministeriums für Ernährung mit
391 Milliarden Euro für den 7-Jahres-Zeitraum scheint
völlig ausreichend. Der Ansatz der EU-Kommission mit
397 Milliarden Euro ist überzogen, insbesondere deshalb, weil schon wieder 15 Milliarden Euro außerhalb
des Agrarhaushaltes, „im Schatten“ des Haushaltes sozusagen, mit eingefordert werden.
Selbstverständlich begrüßen wir auch eine Novellierung des Beamtenstatuts in der EU. Dennoch möchte ich
zur Ehrenrettung auch der Beamten sagen, dass wir natürlich auf eine funktionierende, geordnete und rechtstreue Verwaltung angewiesen sind. Was eine geordnete
Verwaltung an Nutzen bringt, das sehen wir an Griechenland, dort, wo eine ordentliche Verwaltung eben
fehlt.
Der Vorschlag der EU-Kommission, dass das Personal im 7-Jahres-Zeitraum um 5 Prozent abgebaut wird,
wird von uns genauso unterstützt wie die Anhebung der
wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden auf 40 Stunden. Auch im Bereich der Gleitzeit muss gerade für Leitungspersonal ein korrekter Weg gefunden werden. Auch
die Reduzierung der Sonderurlaubstage ist keineswegs
Schikane. Auch die Renteneintrittsdaten müssen im
europäischen Kontext angepasst werden. Da gibt es sicherlich keine Frage. Ich rege dennoch an, dass die Betroffenen nicht von heute auf morgen mit den Neuerungen und Erschwernissen konfrontiert werden. Wie in
Deutschland auch müssen durch korrekte Übergangsfristen soziale Härten abgemildert werden.
Aus all dem Vorgebrachten ist es durchaus richtig,
den strategischen Rahmen für nachhaltige und verantwortungsvolle Haushaltspolitik in dem Sinne zu ziehen,
wie das in unserem Ausschuss erarbeitet worden ist. Ich
empfehle, den Beschluss anzunehmen, so wie er von den
Koalitionsfraktionen hier vorgelegt wird.
Die Europäische Union befindet sich in erheblichen
Turbulenzen. Seit gut zwei Jahren werden die Tagesordnungen der europäischen Ratssitzungen und auch dieses
Parlamentes immer wieder von der Staatsschuldenkrise
der Euro-Zone bestimmt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die
öffentlichen Finanzen in der Europäischen Union sind
von der Finanz- und Wirtschaftskrise stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Mitgliedstaaten stehen unter erheblichem Konsolidierungsdruck.
Von diesen Umständen sind auch die Verhandlungen
über den Mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union ab 2014 betroffen. Dabei ist vollkommen
klar, dass trotz der Bedeutung der Krise der Staatshaushalte in Europa die Aufstellung eines tragfähigen und
auf die Bewältigung der zentralen europäischen Herausforderungen ausgerichteten EU-Haushaltes eine
der wichtigsten Aufgaben ist, die die Europäische Union
in den kommenden Monaten zu bewältigen hat. Im Kern
geht es um nicht weniger als den finanziellen Rahmen
für die Neuaufstellung Europas nach der Krise und die
Sicherung des Voranschreitens des europäischen Integrationsprozesses.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Debatte über den neuen Mehrjährigen Finanzrahmen und den EU-Haushalt müssen wir daher mit
Blick auf die politischen Prioritäten und weniger mit einem auf Nettozahlungsströme führen. Gerade in der Situation, in der sich der Prozess der europäischen Integration befindet, ist das entscheidend.
Wichtig sind Antworten auf die Fragen, was wir mit
dem Budget finanzieren wollen, wo Europa hin will und
was es leisten soll, wie es sich gegenüber anderen aufstrebenden Mächten in Asien und Südamerika aufstellt
und welches die europäischen Vorhaben sind, die einen
Binnenmarkt mit 500 Millionen Menschen für die Zukunft sichern, Innovationen bereitstellen und Wohlstand
generieren können?
Bei der Beantwortung müssen wir bereit sein, ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen, ohne dabei außer Acht zu lassen, dass Investitionen in einen Haushalt
auch Wirkung erzielen müssen. Wir müssen über den nationalen Tellerrand das große Ganze, das europäische
Projekt, im Blick haben. Die Aufstellung einer finanziellen Grundlage Europas unabhängig von gemeinsamen
politischen Zielen muss Stückwerk bleiben.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen der öffentlichen Haushalte weniger Mittel für den EU-Haushalt
bereitstellen zu wollen, ist nachvollziehbar. Wir müssen
nur aufpassen, dass wir nicht über das Ziel hinausschießen. Bei allen Konsolidierungsanstrengungen muss der
neue Haushalt auch den neuen Aufgaben der EU nach
dem Vertrag von Lissabon gerecht werden. Wir müssen
den Aufgabenbereich Außenpolitik - mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst - und den Innen- und Justizbereich angemessen ausstatten. Wir haben es mit erheblichen Herausforderungen im Bereich des Klimawandels
und der Umweltpolitik zu tun, mit der Notwendigkeit in
europäische Infrastruktur zu investieren. Wir müssen außerdem verhindern, dass die EU-2020-Strategie scheitert
und eine kohärente Wirtschaftspolitik, die zur Erholung
angeschlagener Volkswirtschaften notwendig ist, möglich wird. Dies würde im originären Sinne einen europäischen Mehrwert des Finanzrahmens ausmachen.
Ein wesentliches Ziel muss also die Balance zwischen
einer effizienten Gestaltung der Ausgaben und einer
ausreichenden Ausfinanzierung europäischer Politik
sein. Die Finanzen der EU müssen zu einem glaubwürdigen und substanziellen Baustein der neuen Wachstumsstrategie „EU 2020“ werden. Sie müssen nachhaltiges Wachstum generieren, Beschäftigung fördern und
wichtige Zukunftsfelder, wie Forschung, Innovation und
Energieeffizienz voranbringen. Sie müssten außerdem
behilflich sein, die für die Union schädlichen Wettbewerbsunterschiede zu überwinden.
Die Unwuchten des EU-Haushaltes sind historisch
gewachsen und spiegeln schwierige Kompromisse in
den letzten Jahrzehnten wider. Ein Großteil der Mittel
soll auch in der nächsten Periode in die Gemeinsame
Agrarpolitik und die Struktur- und Kohäsionsfonds fließen. Für die Agrarpolitik sind im Jahr 2020 noch immer
33 Prozent des Budgets vorgesehen. Wir werden es also
mit einem langsamen Abschmelzen zu tun haben, aber
auch 33 Prozent sind für einen Sektor, der keine 3 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung ausmacht, noch immer zu viel.
Wenn wir die Herausforderungen unserer Zeit ernst
nehmen und den Mehrjährigen Finanzrahmen als politisches Planungsinstrument gestalten wollen, dann wird
sich ein Perspektivwechsel vollziehen müssen: hin zu zukunftsorientierten Haushaltsrubriken, die Wachstum
fördern, Innovation und Forschung finanzieren, Bildung
ermöglichen, Investitionen in Infrastruktur fördern und
nachhaltiges Wirtschaften ermöglichen.
Um diese Ziele zu erreichen, sind innerhalb der Ausgabekategorien Reformschritte zwingend. Im Bereich
der Gemeinsamen Agrarpolitik hat die SPD-Bundestagsfraktion weitreichende Vorschläge gemacht. Das
bisherige Direktzahlungsmodell muss neu strukturiert
werden. Zahlungen aus der sogenannten 1. Säule sollten
sich auf einen Sockelbetrag konzentrieren, der an die
Einhaltung von ökologischen und sozialen Produktionsstandards gekoppelt ist. Die sogenannte 2. Säule ist inhaltlich und finanziell zu einem umfassenden und wirkungsstarken Politikansatz zur integrierten Entwicklung
ländlicher Räume auszubauen.
Die Kohäsionspolitik hat erheblich zum Abbau von
Disparitäten zwischen den Regionen beigetragen. Die
Mittel der Struktur- und Kohäsionspolitik müssen in eine
bessere und verbindlichere Abstimmung zwischen der
Strategie „Europa 2020“ und der Gemeinsamen Agrarpolitik einbezogen werden. Außerdem müssen wir darüber nachdenken, ob wir angesichts der krisenhaften
Entwicklungen in einigen südlichen Mitgliedstaaten die
Kofinanzierungsregeln lockern und flexibler gestalten,
damit diese Mittel einen Beitrag zu Wachstum, Beschäftigung und Armutsbekämpfung leisten können.
Der von der Kommission vorgeschlagene Mittelaufwuchs für Bildung, Forschung und Entwicklung wird
von meiner Fraktion ausdrücklich unterstützt. Eine angemessene finanzielle Ausstattung von Forschung und
Entwicklung ist notwendig, um die enormen Herausforderungen, die vor uns liegen, zu bewältigen.
Die Einnahmen der Europäischen Union orientieren
sich bisher an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der
Mitgliedstaaten. Das System der Übertragungen eines
bestimmten Anteils des Bruttonationaleinkommens hat
sich absolut bewährt. Einer EU-Steuer im Sinne einer
eigenen Steuererhebungskompetenz der EU sind rechtliche und politische Hürden gesetzt. Das sage ich unbenommen der Tatsache, dass gegenwärtig niemand eine
solche Kompetenzübertragung fordert.
Etwas anderes sind Pläne zu einer Erweiterung der
Einnahmequellen. Derartige Überlegungen der Europäischen Kommission oder des Europäischen Parlamentes sollten zumindest geprüft werden, gerade wenn
es sich beispielsweise um eine europäische Finanztransaktionsteuer drehen könnte. Mit solchen neuen Einnahmequellen müsste allerdings zwingend eine Rückführung der nationalen Überweisungen sichergestellt
werden, um eine Balance in der Belastung der Mitgliedstaaten wahren zu können. Neue Einnahmequellen
können zudem nur in Betracht kommen, wenn die AusgaZu Protokoll gegebene Reden
benstruktur so ausgerichtet wird, wie ich es eben beschrieben habe, also das Budget zu einem Planungsinstrument zukunftsorientierter Politiken entwickelt
wird.
Ich erwarte mit einiger Spannung, wie sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen zu den leidigen
Korrekturmechanismen schlagen wird. Der deutsche Rabatt auf den Briten-Rabatt läuft aus und das Prinzip der
Beitragsgerechtigkeit könnte auch weiterhin Korrekturmechanismen notwendig machen. Dabei ist aus unserer
Sicht ein allgemeiner und deutlich vereinfachter Korrekturmechanismus, der ungerechtfertigten Ungleichgewichten entgegenwirkt, sinnvoller als Sonderregelungen
für bestimmte Mitgliedstaaten. Bei diesen Gesprächen
wünsche ich den deutschen Vertretern eine gute Reise,
aber dennoch viel Erfolg.
Zum Schluss: Europa steht an einem Scheideweg, sowohl in der kurzfristigen Bewältigung der Staatsschuldenkrise als auch in der Entwicklung einer langfristigen
Vision eines Europas der Zukunft. Mit einem fortschrittlichen und ambitionierten Finanzrahmen für die Jahre
2014 bis 2020 hätten wir einen wichtigen Schritt schon
getan. Ich kann daher an die Bundesregierung nur appellieren, Kleinmut und Zaghaftigkeit für das zentrale
europäische Planungsinstrument hintanzustellen und
politische Prioritäten des reinen Saldos vorzuziehen.
Europa lohnt sich, auch wenn es etwas kostet.
Lassen Sie mich, kurz bevor ich auf die grundlegenden inhaltlichen Aussagen unseres Koalitionsantrags
zum Mehrjährigen Finanzrahmen der EU ab 2014 zu
sprechen komme, auf das Verfahren und die frühzeitige
Beratung und Verabschiedung des Antrages eingehen.
Auch mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Euro-Rettungsschirm, in der
das Gericht unterstreicht, dass der Bundestag bei wesentlichen haushaltspolitischen Fragen der Einnahmen
und Ausgaben nicht in die Rolle des bloßen Nachvollzugs gedrängt werden darf, freut es mich besonders,
dass dem EU-Haushalt und seiner strategischen Neuausrichtung für die kommenden sieben Jahren erstmals
in der vergangenen Haushaltswoche Platz in der immer
eng getakteten Haushaltsdebatte eingeräumt worden ist.
Denn: Auch wenn ein neuer Eigenmittelbeschluss noch
de jure der nachträglichen Zustimmung des Deutschen
Bundestages bedarf, wissen wir doch alle, dass nach
jahrelangen Verhandlungen, nach schwierigster Kompromisssuche und dem für Europa auch wichtigen und
notwendigen Interessensausgleich zwischen großen und
kleinen, neuen und alten, Agrar- und Nicht-Agrarländern ein Nein de facto dann nicht mehr möglich ist.
Umso wichtiger ist es deshalb, dass sich der Deutsche
Bundestag frühzeitig in die Verhandlungen einbringt
und der Bundesregierung einen klaren Rahmen für ihre
Verhandlungen auf europäischer Ebene in diesem frühen
Stadium mit auf den Weg gibt. Natürlich muss der Deutsche Bundestag vor seiner abschließenden inhaltlichen
Bewertung die Vorlage und Beratung aller Legislativvorschläge für die einzelnen Ausgabenbereiche abwarten und sich gegebenenfalls mit thematischen Folgebeschlüssen der Fachausschüsse einbringen. Dem EUAusschuss obliegt es, den Rahmen zu setzen und auch
divergierende Interessen miteinander zu versöhnen und
Prioritätensetzung anzumahnen und vorzuschlagen.
Als Liberale bekennen wir uns klar und deutlich zu
Europa. Wir haben den Ausführungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen, der natürlich auch harte Interessenpolitik mit sich bringt, bewusst vorangestellt, dass
Europa Deutschlands Zukunft war und bleibt, dass es
Frieden und Sicherheit gewährleistet und dass Europa
und sein Binnenmarkt die Grundlage unseres Wohlstandes bleiben.
Die Europäische Union steht nach Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon und gerade im Zusammenhang
mit der Schuldenkrise im Euro-Raum vor neuen Aufgaben und schwierigen Herausforderungen. Die Schuldenkrise fordert den Mitgliedstaaten erhebliche, teilweise
auch sehr schmerzliche Konsolidierungsmaßnahmen ab.
Wir sind deshalb zutiefst überzeugt, dass diese Bemühungen sich auch im EU-Haushalt der kommenden
Jahre widerspiegeln müssen. Wir müssen neue Herausforderungen auch ohne eine erweiterte Budgetobergrenze finanzieren. Neue Aufgaben müssen vor allem
durch Umschichtungen und nicht durch Erhöhung des
Haushalts finanziert werden. Die EU benötigt nicht
zwangsläufig mehr Geld, wenn zunächst die Spielräume
genutzt werden, das vorhandene Geld effizienter auszugegeben. Daher treten wir für eine Begrenzung der Ausgaben der EU auf 1 Prozent des EU-Bruttonationaleinkommens, BNE, ein.
Dies hat nichts mit mangelnder europäischer Solidarität oder einer Abkehr von Europa zu tun, im Gegenteil:
Wir Liberale wollen die EU zukunftsfähig machen und
die Bürger und Steuerzahler dabei so wenig wie möglich
belasten. Nur wenn die EU-Ausgaben derart nach oben
begrenzt werden, entsteht der notwendige Druck, bislang wenig effizient ausgegebene Mittel einzusparen und
sukzessive in Zukunftsbereiche umzuschichten. Wir wollen mehr Europa, wo es den Bürgern einen echten Mehrwert bringt, zum Beispiel bei transeuropäischen Verkehrsnetzen, der Verbesserung der Zusammenarbeit von
Justiz und Polizei, Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik, grenzüberschreitender Bildung, Forschung
und Innovation. In der gegenwärtigen Lage müssen alle
Ebenen sparen, die lokale und regionale, die nationale
und die europäische.
Aus Sicht der Koalition müssen neben den Prinzipien
Subsidiarität und europäischer Mehrwert für die Neuausrichtung des Mehrjährigen Finanzrahmens der Gedanke der europäischen Solidarität und die Europa2020-Strategie Leitlinien sein. Letzteres ist insbesondere
wichtig, da die Beseitigung der mangelhaften Wettbewerbsfähigkeit in einigen Mitgliedstaaten neben dem
konsequenten Konsolidierungskurs Grundvoraussetzung ist, die Verschuldungskrise in Europa nachhaltig zu
beseitigen.
Zukünftige europäische Förderungen müssen sich
klar an diesen Grundsätzen messen lassen, und - das
muss auch allen Beteiligten klar sein - jede Förderung
Zu Protokoll gegebene Reden
Michael Link ({0})
aus öffentlichen Mitteln sollte im Prinzip degressiv und
befristet sein. Wir müssen uns ehrlich fragen: Welchen
europäischen Mehrwert und welche Wirkung hat uns
diese oder jene Politik gebracht und was bringt diese
uns für die Zukunft?
Natürlich - und das bedingt auch das Wort Degression - dürfen Erfolge bei der Förderung nicht durch
plötzliche Brüche gefährdet werden. Deshalb wollen wir
beispielsweise im Bereich der Struktur- und Kohäsionspolitik nicht nur Verbindungen zwischen den Kohäsionsund Konvergenzzielen sowie dem Ziel der Steigerung
der Wettbewerbsfähigkeit herstellen, sondern gleichzeitig die Erfolge der Strukturpolitik in Bezug auf die positive wirtschaftliche Entwicklung vieler Regionen dadurch sichern, dass für diejenigen Regionen, die
absehbar aus dem Konvergenzziel herausfallen werden,
sowie für die aktuellen Phasing-out-Regionen ein
Sicherheitsnetz in Höhe von zwei Dritteln der Förderung
aus 2007 bis 2013 etabliert wird.
Dies gilt auch für den zweiten sehr großen Posten im
EU-Haushalt, dem Agrarbereich. Hier ist das Ziel, einen
marktorientierten, wettbewerbsfähigen und umweltverträglichen EU-Agrarsektor zu schaffen, was sich dann
auch in einem sinkenden Anteil des Agrarbereichs am
Gesamthaushalt widerspiegeln muss. Dieser weitere Reformweg, unter anderem durch den Vollzug der Entkoppelung von der Produktionsart auch in allen übrigen
EU-Ländern, ist eine wichtige Voraussetzung, um eine
Absenkung der Direktzahlung fortzuführen, ohne landwirtschaftliche Betriebe existenziell zu gefährden - wie
wir dies auch ausführlich in unserem Antrag dargelegt
haben.
Leider bleibt mir nicht genügend Zeit, auf jeden Politikbereich ausführlich einzugehen. Ich möchte jedoch
unterstreichen, dass für die FDP-Fraktion neben der
allgemeinen Förderung der Wettbewerbsfähigkeit in allen Politikbereichen insbesondere die Stärkung der Innovationskraft der EU als ein Kernelement der Europa2020-Strategie die Zukunftsfähigkeit Europas sichert.
Prioritäre Ziel müssen deshalb Forschung und Entwicklung, Bildung und der Ausbau grenzüberschreitender Infrastruktur sein.
Uns als bürgerlich-liberale Koalition ist es gerade in
Zeiten der notwendigen öffentlichen Haushaltskonsolidierung wichtig zu betonen, dass eine ausschließliche
Finanzierung des Netzausbaus mit EU-Haushaltsmitteln
aus ordnungspolitischer Sicht nicht die Lösung sein
kann und zur Realisierung notwendiger Zukunftsinvestitionen zusätzlich auch privates Kapital mobilisiert
werden muss. Bei der Planung und Finanzierung des
Ausbaus von Energie- sowie Informations- und Kommunikationstechnologienetzen sind wir zudem der Meinung, dass bis auf wenige bestimmte Ausnahmefälle wie
beispielsweise bei der Peripherieproblematik dies Sache
der Privatwirtschaft bleiben muss.
Während wir uns als Koalition privatwirtschaftliche
Projektanleihen zur Erschließung neuer Finanzierungsquellen für Infrastrukturprojekte unter bestimmten
Voraussetzungen - keine Erhöhung der mittel- bis langfristigen Finanzierungslasten der nationalen Haushalte,
vollständige Budgetierung der Garantieübernahmerisiken im EU-Haushalt und eine strenge Prüfung auf ökonomische Ertragsfähigkeit und Förderungswürdigkeit vorstellen können, lehnt die FDP die von der Kommission, von der Mehrheit des Europäischen Parlaments,
aber auch von den deutschen Sozialdemokraten und
Grünen propagierten Euro-Bonds klar ab. Durch EuroBonds würde Deutschland gesamtschuldnerisch für
sämtliche damit aufgenommenen Kredite anderer Staaten haften müssen. Die infrage kommenden Staaten haben zur Zeit insgesamt circa 3 900 Milliarden Euro
Schulden. Ungefähr 700 bis 800 Milliarden Euro an
Schulden dieser Staaten werden alleine 2012 fällig, derselbe Betrag noch einmal 2013. Angesichts der Dimension der Verschuldung dieser Staaten wäre das selbst für
ein wirtschaftlich starkes Land wie Deutschland nicht
mehr zu schultern. Unser gesamter Bundeshaushalt beträgt circa 300 Milliarden Euro. Würden Euro-Bonds
eingeführt, würden sie die wenigen verbliebenen AAAStaaten vollends in den Schuldensumpf hineinziehen.
Euro-Bonds wären damit keineswegs eine Lösung der
Verschuldungskrise, sondern ein Herumkurieren an
Symptomen und würden das Problem nur verschleppen.
Die Diskussion um Euro-Bonds lenkt von der eigentlichen Aufgabe ab: Die Anleger werden den hochverschuldeten Staaten nämlich erst dann wieder Geld zu
niedrigeren Zinsen leihen, wenn sie davon überzeugt
sind, dass diese Staaten ihre eigenen Hausaufgaben gemacht haben. Die verschuldeten Staaten müssen die notwendigen und zum Teil schmerzhaften Reformen umsetzen, damit sich ihre Arbeitsproduktivität wieder erhöht,
damit sie konkurrenzfähiger werden, damit die Steuermoral wieder steigt und diese Staaten wieder ausreichend eigene Einnahmen generieren, um ihre Schulden
wieder selbst bedienen und auch zurückzahlen zu können. Staaten wie Lettland oder Irland zeigen, wie das
geht.
Nach Bürgen wie den Steuerzahlern der wenigen verbliebenen AAA-Staaten zu rufen, erscheint einigen natürlich als der bequemere Weg. Dieser führt aber alle in
den Abgrund untragbarer Überschuldung. Eine Sozialisierung der Haftung führt keineswegs zu mehr Ausgagendisziplin der Schuldner. In einigen südeuropäischen
Staaten war das sehr schön zu beobachten: Der Reformeifer der Regierung stieg linear mit dem Ansteigen der
Zinsen und fiel auch wieder, sobald Finanzhilfe von außen geleistet wurde.
Euro-Bonds dienen dazu, die Zinsen, die Schuldensünder zahlen müssen, abzusenken. Damit nehmen sie
zugleich den Druck, wirksame Reformen vor Ort umzusetzen. Zugleich steigen die Zinsen, die die Geberländer
für ihre Staatsschulden zahlen müssen. Damit stiege
auch die Zinslast von Bund, Ländern und Kommunen in
Deutschland. Zudem halten wir Euro-Bonds für verfassungswidrig, da sie einen unbegrenzten Eingriff in das
deutsche Budgetrecht bedeuten und damit das Demokratiegebot verletzt würde. Dass SPD, Grüne und Linkspartei immer wieder solche Euro-Bonds fordern und
versuchen, die Bundesregierung als antieuropäisch hinzustellen, ist ein trauriges Zeichen von Verantwortungslosigkeit dieser Opposition.
Zu Protokoll gegebene Reden
Michael Link ({1})
Durch diese anderen privatwirtschaftlichen Projektanleihen verbliebe zudem noch mehr Spielraum im
Haushalt, den neu geschaffenen institutionellen Rahmen
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und
das bisher notorisch unterfinanzierte Auswärtige Handeln und die Außeninstrumente der EU angemessen auszustatten.
Auch die künftige EU-Finanzierung im Bereich der
Innen- und Rechtspolitik muss angemessen im Hinblick
auf die Aufgaben und Herausforderungen angepasst
werden. Dazu gehört für uns Liberale beispielsweise bei
der Bekämpfung der illegalen Migration auch die angemessene finanzielle Ausstattung bei der Unterstützung
von Drittstaaten bei der Reintegration und der Umsetzung von EU-Rücknahmeabkommen unter Berücksichtigung der national und international geltenden Flüchtlings- und Menschenrechtsvorschriften.
Während ich bisher schwerpunktmäßig die Ausgabenstruktur dargestellt habe, lassen Sie mich noch kurz
auf wichtige Prinzipien der Struktur des Haushalts und
vor allem auf die Frage eingehen, wie die Finanzierung
dieser Ausgaben gesichert werden soll.
Als Liberale setzen wir uns mit Blick auf das Gebot
der Haushaltsklarheit und -wahrheit sowie der parlamentarischen Kontrolle seit langem für die notwendige
Überführung aller Fonds außerhalb des Finanzrahmens
ein. Deshalb lehnen wir ebenfalls die nun von der Kommission vorgeschlagenen neuen Nebenhaushalte klar ab
und fordern eine Struktur, die Transparenz und eine
lückenlose Prüfungskontrolle der EU-Gelder bietet.
Lassen Sie mich nun zu meinem letzten, aber nicht
minder wichtigen Punkt kommen, zu der Frage der
Finanzierung der Europäischen Union.
Die von der EU-Kommission angestrebte Einführung
von EU-Steuern - namentlich einer EU-Finanztransaktionsteuer und einer EU-Mehrwertsteuer - wird auch
von der hiesigen Grünenopposition herzlich willkommen geheißen. EU-Steuern widersprechen aber klar ordnungspolitischer Vernunft. Der positive Prüfauftrag der
Sozialdemokraten zur Überwindung rechtlicher und
politischer Hürden zur Einführung einer EU-Steuer im
Sinne einer eigenen Steuererhebungskompetenz verwundert deshalb nicht.
Diese Einführung würde weder Transparenz noch Akzeptanz bei den Bürgern schaffen und würde aufgrund
der mangelnden Planbarkeit von Steuereinnahmen die
existierende Nullverschuldung des EU-Haushalts gefährden. Die Zusage der Kommission unter anderem in
Person des Kommissars Lewandowski und die blauäugigen Aussagen von Grünen und SPD, die Zahlungen der
Mitgliedstaaten dann um die Einnahmen aus künftigen
Steuern zu reduzieren, hören sich zwar gut an, werden
sich aber in der Praxis nicht realisieren lassen. Denn
Aufkommensneutralität ist bei einem Übergang zu einem
steuerfinanzierten System nicht sicherzustellen. Diese
Forderung greift ins Leere, da die Nationalstaaten weder politisch noch rechtlich gezwungen werden können,
eine Absenkung um bestimmte Prozentpunkte durchzusetzen.
Dagegen gewährleistete die Praxis der Eigenmittelfinanzierung der EU durch vertraglich festgelegte Zahlungen der Mitgliedstaaten die Verklammerung von
europäischen und mitgliedstaatlichen Haushaltsprioritäten. Diese Klammer würde durch die Steuerpläne der
Kommission gekappt.
Unter dem Gesichtspunkt der Beitragsgerechtigkeit
sollte das Bruttonationaleinkommen als Indikator für
die Wirtschaftskraft der einzelnen Mitgliedstaaten zentraler Pfeiler der gemeinsamen EU-Finanzierung bleiben, kombiniert mit einem allgemeinen Korrekturmechanismus, um die noch bestehenden Verzerrungen auf
der Ausgabenseite so zu kompensieren, dass eine faire
Lastenteilung gemäß dem Beschluss von Fontainebleau
zwischen den großen Nettozahlern gewährleistet ist, wie
wir das auch im Antrag ausgeführt haben. Denn nur auf
diese Weise lassen sich die Ansprüche an ein gerechtes,
einfaches, sicheres, sparsames und nachhaltiges Finanzierungssystem erfüllen.
Die Mehrheit des Deutschen Bundestages, die bürgerlich-liberale Koalition, lehnt deshalb klar die Einführung einer europäischen Steuer ab - unabhängig davon, ob direkt oder indirekt erhoben. Neben weiteren
negativen Auswirkungen, die wir ebenfalls im Antrag
herausgearbeitet haben, ist anzuführen, dass diese unweigerlich zu neuen Verzerrungen führen, einzelne Steuerzahler übermäßig zur Finanzierung der EU heranziehen und die gebotene Transparenz verletzen würde.
Der Koalitionsantrag zum nächsten Mehrjährigen
Finanzrahmen, MFR, verdeutlicht immerhin: Der Wahnsinn hat Methode. Allerdings ist methodisches Agieren
in diesem Zusammenhang ein äußerst schwacher Trost.
Ich bezeichne es als schlicht irrwitzig, wenn demokratisch gewählte Politiker eine Politik betreiben, die sich
nicht an den Interessen der sie zumindest zum Zeitpunkt
der Wahl tragenden Mehrheit orientiert. Statt Regeln für
das Gemeinwesen zu setzen, machen Sie sich angeblich
alternativlose Forderungen der Konzern- und Bankenwirtschaft zu eigen. Methode hat der Wahnsinn insofern,
als die Instrumentalisierung des Rechts und die Unterwerfung des Sozialen unter einen Wirtschaftsliberalismus, der in Deutschland bereits als Konjunkturbremse
„erfolgreich“ mit der Agenda-Politik praktiziert wurde,
auf europäischer Ebene weitergeschrieben werden soll.
Die Pervertierung des Solidargedankens, wonach jeder seine Hausaufgaben zu machen habe und sich nicht
nur auf die fleißigen und sparsamen Nettozahler verlassen könne, was vor allem Deutschland meint, drückt sich
im erklärten Ziel von Bundesregierung und Koalition
aus, den nächsten MFR auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu deckeln. Diese vergiftete Solidarität
gibt sich dann gern noch den Anschein von Verantwortungsbewusstsein gegenüber künftigen Generationen,
denen sonst nur Schulden blieben. Die Behauptung, dies
wäre auch eine Frage der Generationengerechtigkeit,
ist nämlich falsch; denn die Verteilung erfolgt nicht zwischen den Generationen, sondern innerhalb einer Generation. Jedem Schuldner steht ein Gläubiger gegenüber.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nicht nur Schulden, auch Forderungen werden vererbt.
Diese Schuldner sind auch nicht sakrosankt für die Heranziehung zur Krisenbezahlung.
Die kenntnislose und ökonomisch falsche Gleichsetzung von überschuldeten Staats- mit schwäbischen Privathaushalten, die dem politischen Pennälerniveau der
„Bild“-Zeitung entspricht, und die daran geknüpfte Deckelungsforderung ist ja nichts anderes als Austeritätspolitik - auch so ein Euphemismus: Verarmungspolitik
wäre treffender, aber auch aufscheuchender. Die Auswirkungen der 1-Prozent-Forderung kann man exemplarisch bereits an der Einigung auf den EU-Haushalt
2012 beobachten: Mit einer unterhalb der Inflation liegenden Steigerungsrate handelt es sich de facto um eine
Schrumpfung. Dann muss die Politik natürlich Farbe
bekennen und sagen, wo sie kürzen will.
Die verordnete Methode ist bekannt: So wie in den
krisengeschüttelten Mitgliedstaaten die Realwirtschaften geschliffen und die Sozialsysteme gleich ganz zerstört werden, zeichnet sich auch in den Ausgabenrubriken des MFR eine ähnliche Schwerpunktsetzung ab.
Beim Instrument für „Heranführungshilfe“, also der
Hilfe für Beitrittskandidaten, wird gekürzt, bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hingegen
nicht.
Im Agrarsektor, dem neben der Kohäsionspolitik
größten Posten im Haushalt, sind gerade einmal 2 bis
3 Prozent aller Beschäftigten in der EU tätig. Und diese
ist nicht einem Dreiklang aus sozialen, ökonomischen
und ökologischen Kriterien verpflichtet, sondern die
Kommission redet dezidiert von Ressourceneffizienz und
der Koalitionsantrag will gleich die Entkoppelung der
Direktzahlungen von der Produktionsart. Das nützt vielleicht einigen wenigen Großagrariern, aber gewiss nicht
der Mehrheit der EU-Bürger. Hier haben wir es in der
Tat mit einer Frage der Generationengerechtigkeit zu
tun.
Auch die geplante Beteiligung privater Investoren am
Infrastrukturausbau ist sowohl aus grundsätzlichen Erwägungen als auch ganz praktischen Erfahrungen nur
als wahnsinnig zu bezeichnen. Mobilität ist ein öffentliches Gut und kein Spekulationssektor.
Wenn der stellvertretende Generaldirektor für Forschung und Innovation der EU-Kommission, Rudolf
Strohmeier, erklärt, dass der Forschungsetat auf 80 Milliarden Euro aufgestockt werden soll, klingt das ja erst
mal ganz nett. Die Kommission will aber künftig nicht
nur Forschungsprogramme fördern, sondern „die gesamte Innovationskette berücksichtigen“. Das heißt
übersetzt, dass nicht mehr nur die Wissenschaft, sondern
auch die Industrie die EU-Forschungsthemen definieren
wird.
Gespart werden soll hingegen in dem Bereich, der
sich direkt auf die Realwirtschaft und die Lebenswirklichkeit der Menschen auswirkt - die Kohäsionspolitik -,
und das, obwohl doch die Kommission selbst bekennt,
dass die Armut in Europa ein „untragbares Maß“ - unerträglich ist es im Übrigen auch - erreicht hat. Ist die
Konditionierung der Mittelvergabe auf wirtschaftliche
und institutionelle Reformen bereits demokratisch äußerst fragwürdig, so sind die Pläne zur Umstellung auf
revolvierende Fonds - deren Ressourcen müssen aus
dem Erlös der damit zuvor finanzierten Projekte aufgefüllt werden - entlarvend. Das heißt nämlich im Umkehrschluss, dass, wenn sich Armutsbekämpfung nicht
rentiert, sie einfach unterbleibt! Mit den anvisierten finanziellen Sanktionen im Falle der Nichteinhaltung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts schließt sich der Kreis
im Sinne der eingangs kritisierten und vor allem auch
wirtschaftspolitisch unsinnigen Austeritätspolitik. Wer
konkreten Anschauungsunterricht hierfür benötigt,
richte seinen Blick nach Griechenland, Portugal oder
Spanien - diese Länder kommen aus dem Teufelskreis
von durch die Finanzmärkte in die Höhe getriebener
Verschuldung und verordneter Austeritätspolitik nicht
mehr heraus. Das nämlich versteht die Bundesregierung
unter Solidarität: Nicht der Starke helfe dem Schwachen, sondern der Schwache helfe sich doch gefälligst
selbst.
In der Diskussion über den Haushalt der Europäischen Union können wir die aktuelle Krise nicht ausklammern. Wir müssen den künftigen EU-Finanzrahmen
als Möglichkeit begreifen, die aktuelle Krise zu bekämpfen und künftigen Krisen vorzubeugen. Wir brauchen
kein europäisches Sparschwein, wir brauchen eine Antwort auf die Krise. Das muss die Maxime für die anstehenden Verhandlungen sein.
Der aktuelle Finanzrahmen, der die EU-Haushalte
von 2007 bis 2013 regelt, umfasst 1,12 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU. Das ist der Status quo. Die Koalition schreibt jetzt in ihrem Antrag, dass sie den künftigen Haushalt auf 1 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzen will. Da können Sie ruhig ehrlich sein: Ein Deckel bei 1 Prozent bedeutet eine drastische Kürzung im
Vergleich zu heute, eine Kürzung um gut 10 Prozent. Wo
Sie kürzen wollen, sagen Sie aber nicht. Nein, es kommt
noch besser: Mittel der Gemeinsamen Agrarpolitik beibehalten, Strukturfonds stärken, Prioritäten bei Wettbewerbsfähigkeit, Forschung und Entwicklung, Bildung
und so weiter. Wie wollen Sie denn da auf 1 Prozent kommen? Indem Sie am Beamtenstatut rütteln? Dazu passt,
dass die Bundesregierung überhaupt keine Idee hat, wie
denn ein EU-Haushalt nach einer Kürzung auf 1 Prozent
aussehen soll. Ein entsprechender Vorschlag sei von den
einschlägigen Ministerien abgelehnt worden, eine gemeinsame Position nicht in Sicht. Ich freue mich, dass
Herr Hintze das gestern so offen im EU-Ausschuss zugegeben hat. Denken Sie daran: Die Rechnung muss am
Ende auch aufgehen.
Ich habe schon gesagt: Ein EU-Sparschwein ist der
falsche Weg. Was wir brauchen, ist eine Antwort auf die
Krise. Wir wollen daher an einem Umfang von 1,12 Prozent der Wirtschaftsleistung auch in Zukunft festhalten.
Europa braucht dieses Geld, um seine Aufgaben und die
notwendigen Prioritäten auch erfüllen zu können. Wir
sagen aber auch ganz klar: Eine Erhöhung kommt zurzeit nicht infrage. Die Belastungen der Krise sind für
viele nationale Haushalte einfach zu hoch. Deswegen
Zu Protokoll gegebene Reden
müssen EU-Gelder sinnvoller, zielgenauer und effizienter eingesetzt werden. Wir müssen einen Mehrwert bei
gleichbleibendem Umfang schaffen.
Neben der Höhe unterscheidet sich unser Antrag
auch in der Frage einer EU-Steuer. Meine Kollegin hat
diesen Punkt in der ersten Lesung bereits ausführlich erläutert. Daher nur so viel: Wir wollen die Finanztransaktionsteuer als echte EU-Steuer bei gleichzeitiger Zurückführung der Beiträge der Mitgliedstaaten. Wir
wollen keine zusätzlichen Einnahmen für die EU. Das ist
auch nicht der Vorschlag der Kommission. Die Koalition sollte auch damit aufhören, dieses Märchen immer
wieder zu erzählen. Die Finanztransaktionsteuer ist eine
unserer Antworten auf die Krise: Wir beteiligen einen
Bereich, der die Krise mit verursacht hat. Außerdem setzen wir in den Mitgliedstaaten Mittel für dringend notwendige Investitionen frei.
Es geht aber auch darum, auf der Ausgabenseite eine
Antwort auf die Krise zu finden. Ich möchte das an einem Beispiel zeigen: Eine Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt prognostiziert, dass erneuerbare Energien 2050 in Griechenland 144 Prozent
des Strombedarfs abdecken können. Im Fall von Spanien
sind es sogar 473 Prozent. Ähnlich sieht es bei Portugal
und Irland aus. Wir stehen also heute vor der Entscheidung, ob wir weiterhin jedes Jahr Milliardenbeträge für
Energieimporte ausgeben wollen oder ob wir das Potenzial nutzen, das in Griechenland, Spanien, Portugal und
Irland steckt. Ich finde, wir sollten das Potenzial nutzen
und Energie als den Exportschlager erkennen, mit dem
Länder wie Griechenland ihre Handelsbilanzdefizite zurückfahren können.
Gleichzeitig wird in Brüssel gerade über einen EUHaushalt 2012 verhandelt, der 1,3 Milliarden Euro für
den Nuklearsektor vorsieht. Für Windenergie bleiben
unterm Strich 24 Millionen. Noch einmal zum Mitschreiben: 1,3 Milliarden für den Nuklearsektor, 24 Millionen
für Windenergie. Das können und dürfen wir uns in Zukunft nicht mehr leisten. Da müssen wir radikal umsteuern. Ein Großteil der 1,3 Milliarden geht für das Kernfusionsprojekt ITER drauf, ein Projekt, das uns frühestens
2050 Energie liefern wird - wenn überhaupt. Wir wollen
dieses Projekt daher auf Eis legen, um das frei werdende
Geld sinnvoller einsetzen zu können.
Zu den wichtigen Aufgaben für den EU-Haushalt ab
2014 zählen aus unserer Sicht vor allem Forschung und
Entwicklung und die Realisierung des Green New Deals
auf europäischer Ebene. Neben der Förderung der erneuerbaren Energien zählt vor allem der Ausbau des europäischen Stromnetzes dazu. Die EU muss vor allem
bei grenzüberschreitenden Stromnetzen die notwendigen
Anreize und Impulse setzen, um so die Voraussetzung für
eine Europäische Gemeinschaft für erneuerbare Energien zu schaffen.
Für die Bewältigung der wichtigen Zukunftsaufgaben, die wir in unserem Antrag noch ausführlicher ausführen, müssen vor allem die beiden großen Ausgabenblöcke Strukturpolitik und die Gemeinsame Agrarpolitik
ihren Beitrag leisten.
Neben der inhaltlichen Umsteuerung muss der Haushalt der EU aber auch auf technischer Seite eine Antwort auf die Krise finden. Die EU-Kommission hat bereits vorgeschlagen, die Kofinanzierungsanteile für
Mitgliedstaaten, die Finanzhilfen erhalten, zeitweise abzusenken. Das finden wir richtig und muss im Finanzrahmen ab 2014 fortgeführt werden. Mit dieser Maßnahme kann den teilweise geringen Abrufraten der
Strukturgelder entgegnet werden. Zur Wahrheit gehört
aber auch, dass zum Beispiel Griechenland einen Großteil seiner Gelder noch nicht abgerufen hat, weil dafür
schlichtweg die administrativen Kapazitäten fehlen.
Diesem Problem muss sich die Kommission in Zukunft
stellen: Sie muss die Mitgliedstaaten in die Lage versetzen, Gelder abrufen zu können. Im Extremfall muss sie
auf Bitten eines Staates auch entsprechende administrative Hilfe zur Verfügung stellen.
Das ist aus unserer Sicht die richtige und notwendige
Antwort auf die jetzige Krise: Erstens wollen wir mit der
Finanztransaktionsteuer die Mitverursacher der Krise
beteiligen und gleichzeitig Gelder für notwendige Investitionen in den Mitgliedstaaten frei machen. Zweitens
müssen wir den Haushalt auf die skizzierten Aufgaben
ausrichten. Drittens müssen wir sicherstellen, dass die
vorhandenen Mittel auch abgerufen und effizient und
sinnvoll eingesetzt werden.
Wenn Europa das schafft, dann haben wir ab 2014 einen starken EU-Haushalt für eine zukunftsfähige Europäische Union. Wir werden sie auf diesem Weg unterstützen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union auf Drucksache 17/8013.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7767 mit
dem Titel „Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU
2014-2020 - Ein strategischer Rahmen für nachhaltige
und verantwortungsvolle Haushaltspolitik mit europäischem Mehrwert“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen?
- Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/7808 mit dem Titel „Für einen progressiven europäischen Haushalt - Der Mehrjährige Finanzrahmen der
EU 2014-2020“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die
Linksfraktion. Gegenprobe! - Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 17/7952 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Seefischereigesetzes und des
Seeaufgabengesetzes
- Drucksache 17/6332 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 17/7992 Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der
Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Nach diesem
Grundsatz handelte die EU und beschloss im September
2008 die EG-Verordnung zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen Fischerei, IUUVerordnung. Dieser folgte ein Jahr später die EG-Verordnung zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung, Kontrollverordnung.
Die illegale Fischerei ist eine der größten Gefahren
für die lebenden aquatischen Ressourcen. Sie untergräbt
die Grundlage der gemeinsamen Fischereipolitik und
alle internationalen Bemühungen um einen verantwortungsbewussteren Umgang mit den Weltmeeren. Sie bedroht die biologische Vielfalt der Meere, und sie nimmt
zu - an Ausmaß, aber auch an Spielarten.
Wer illegal handeln will, ist kreativ und dreist. Große
Fahrzeuge fangen unter irgendeiner Drittweltflagge jenseits von Quoten und Bewirtschaftungssystemen, die
Fänge werden verarbeitet und dann in die EU verkauft.
Umladungen auf See entziehen sich jeglicher Kontrolle
und sind vor so mancher Küste gängige Praxis, um die
unrechtmäßige Herkunft der Fänge zu verschleiern. Bei
Fischereierzeugnissen, die von Fahrzeugen aus Drittländern gefangen und in die EU eingeführt werden, war
bislang keine ausreichende Kontrolle gewährleistet.
Die bisherigen Regelungen konnten nicht alle Aspekte dieses Phänomens erfassen. Als weltweit größter
Markt für Fischereierzeugnisse und Importeur musste
die EU reagieren und neue Vorschriften erlassen. Dies
erfolgte in Gestalt der IUU- und der Kontrollverordnungen.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden diese Verordnungen in
nationales Recht umgesetzt - und zwar fristgerecht.
Denn die EU hatte den Mitgliedstaaten eine Frist bis
zum 31. Dezember 2011 gesetzt.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Für die
CDU/CSU-Fraktion steht fest: Illegale Fischerei muss
verfolgt, bekämpft und bestraft werden. Schwarzen
Schafen muss das Handwerk gelegt werden. Denn sie
gefährden die Nachhaltigkeit unserer Fischbestände,
und sie verschaffen sich auf verwerfliche Weise einen
Vorteil gegenüber unseren deutschen Fischern. Diese
zeichnen sich durch besondere Rechtstreue aus und handeln weltweit vorbildlich. Dies zeigen schon die Zahlen.
Denn faktisch hat es bei uns keine nennenswerten Verstöße gegeben. In Nord- und Ostsee wurden kaum
schwere Zuwiderhandlungen gegen das Fischereirecht
festgestellt. In den Jahren 2009 und 2010 wurde in nur
fünf Fällen die Schwelle zum schweren Verstoß überschritten.
Die Kontrollverordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, ein Punktesystem für schwere
Verstöße gegen Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik einzuführen. Dies gilt sowohl für die Inhaber
einer Fanglizenz als auch für Kapitäne von Fischereifahrzeugen. Es werden insgesamt zwölf schwere Verstöße aufgelistet, für die eine Punktzahl zwischen 3 und
7 Punkten vorzusehen ist. Allerdings enthält das EURecht keine genauere Definition der schweren Verstöße.
Dies ist Aufgabe der Mitgliedstaaten.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat inzwischen entsprechende Definitionen für die zwölf schweren Verstöße
erarbeitet. Diese sollen jetzt mit den Bundesländern abgestimmt werden, um ein möglichst einheitliches Vorgehen der deutschen Kontrollbehörden sicherzustellen.
Nach Abstimmung mit den Ländern sollen die Definitionen im Wege von internen Verwaltungsvorschriften festgelegt werden. Hierbei wird es Schwellenwerte geben,
um Bagatellfälle von vornherein vom Punktesystem auszuschließen.
Bei der Anhörung, die der Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 28. September 2011 zu dieser Gesetzesnovelle durchführte, lag dieser Entwurf einer Seefischereibußgeldverordnung noch
nicht vor. Es war nicht zu erkennen, ob und wie Bagatellen geahndet werden sollten. Die geplante Bußgeldhöhe
von 200 000 Euro machte da besondere Angst ebenso
wie die neuen Strafvorschriften - und dies alles neben
dem angedrohten Entzug des Kapitänspatentes.
Auch dies führte dazu, dass die Sachverständigen den
Gesetzentwurf nahezu unisono kritisierten. Fast alle sahen die Gefahr, dass der Begriff IUU-Fischerei in seinem internationalen Verständnis auf eine geregelte und
meldende Fischerei übertragen und damit über das Ziel
hinausgeschossen werden würde. Es wurde moniert,
dass der Gesetzentwurf über die Vorgaben des EURechts hinausgehen würde.
Gerade das wäre aber mit uns, der CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen gewesen. Denn wir wollen EU-Vorgaben nur eins zu eins in deutsches Recht umsetzen. Unser Anliegen war und ist es, die EU-Vorgaben national
so umzusetzen, dass Wettbewerbsverzerrungen für unsere heimischen Fischer vermieden werden.
Deshalb haben wir die Kritik der Sachverständigen
auch sehr ernst genommen. Wir haben uns die erforderliche Zeit genommen, um in den Beratungen der letzten
Wochen wirksame Veränderungen an dem Gesetzentwurf einzubringen. Insoweit richte ich stellvertretend
meinen Dank für die sehr konstruktive und intensive Zusammenarbeit insbesondere mit dem Bundesministerium
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
an den Leiter des Referates für Seefischereimanagement
und -kontrolle, Herrn Walter Dübner. Dank des großen
Engagements aller Beteiligten liegt jetzt ein Gesetzentwurf vor, mit dem wir der IUU-Fischerei wirksam entgegentreten können und der gleichzeitig die besonderen
Vorleistungen unserer heimischen Fischer berücksichtigt.
Dort gab es zum Beispiel spezielle Hinweise wie die
Forderung nach einer Ausnahme von der Wiegeverpflichtung vor jeder Anlandung. Für unquotierte Arten
macht sie keinen Sinn und schafft nur Bürokratie und
Kosten. Die Krabbenfischerei müsste eine Waage anschaffen, warten und den Fang, der ohnehin direkt nach
der Anlandung gesiebt und gewogen wird, vor dem
Transport zur Siebstelle noch zeitaufwändig wiegen.
Deshalb haben wir darauf bestanden, dass in der Verwaltungsverordnung zu diesem Gesetz Ausnahmen von
Wiegeverpflichtungen ermöglicht werden, soweit dies
mit dem Fischereirecht der Europäischen Union vereinbar ist.
Wir haben uns für die Einführung praktikabler Bagatellgrenzen eingesetzt. So wurde einer Forderung fast aller Sachverständigen Rechnung getragen. Damit wird
die Verhältnismäßigkeit bei geringfügigen Verstößen gewahrt. Und so konnten wir verhindern, dass unsere
Fischer kriminalisiert werden. Wenn eine einzelne
Scholle einem Dorschfischer in der Ostsee ins Netz geht,
zieht dies keine Konsequenzen nach sich. Vorgesehen ist,
dass ein schwerer Verstoß erst dann vorliegt, wenn die
zulässige Beifangmenge um mehr als 1 Tonne bei einem
Gesamtfang von 5 Tonnen überschritten wird.
Zur Verhältnismäßigkeit gehörte es übrigens auch,
den Bußgeldrahmen von 200 000 Euro auf 100 000 Euro
zu senken.
Auf der anderen Seite mussten wir aber nach intensiver Prüfung auch feststellen, dass manche Kritik nicht
griff. So wurde die Einführung einer Strafvorschrift
durch den Gesetzentwurf scharf angegriffen. Die Sachverständigen rügten, dass der Gesetzgeber von der alternativen Möglichkeit der Verhängung von Verwaltungssanktionen keinen Gebrauch gemacht habe.
Tatsächlich schreibt Art. 44 Kontrollverordnung vor,
dass ein schwerer Verstoß mit administrativen Sanktionen oder alternativ mit strafrechtlichen Sanktionen geahndet werden muss. Das deutsche Recht kennt aber
keine Verwaltungssanktionen. Diese wären nach Auffassung des Bundesjustizministeriums auch nicht mit dem
Grundgesetz vereinbar, da eine Sanktion nur nach dem
Schuldprinzip festgelegt werden könne und nicht nach
der Höhe des wirtschaftlichen Wertes eines Verstoßes.
Insoweit bleibt laut Ministerium für Deutschland nur die
Möglichkeit, von der Alternative der Strafvorschriften
Gebrauch zu machen. Die geforderte Streichung des
§ 19 des Gesetzentwurfs kam damit nicht in Betracht.
Einen großen Raum nahm die Diskussion um den Entzug des Kapitänspatentes bei schweren Verstößen ein auch nach der Anhörung. Um unbillige Härten für den
Kapitän in jedem Fall zu vermeiden, sieht der Gesetzentwurf ein stufenweises System vor: Beim erstmaligen Erreichen von 18 Punkten wird das Patent zwei Monate
ausgesetzt, beim zweiten Mal vier Monate, beim dritten
Mal acht Monate, beim vierten Mal ein Jahr. Erst wenn
der Kapitän zum fünften Mal die Höchstpunktzahl erreicht, wird ihm das Patent ganz entzogen.
Für uns in der CDU/CSU-Fraktion kam es dabei auf
Folgendes an: Dem Kapitän muss in diesem Fall die
Möglichkeit bleiben, eine gleichwertige alternative seemännische Tätigkeit aufzunehmen und seine Existenzgrundlage nicht vollständig zu verlieren. Die Festschreibung im Gesetz ist gelungen. Ein Befähigungszeugnis
für ein Patent für Handelsschiffe ist zu erteilen. Jetzt ist
sicherzustellen, dass auch die organisatorischen Voraussetzungen, zum Beispiel in Gestalt entsprechender
Ausbildungsmodule, vorhanden sind. Dies haben wir in
einem Entschließungsantrag als Forderung an die Bundesregierung formuliert.
In diesem Entschließungsantrag fordern wir auch,
dass die Bundesregierung sich auf EU-Ebene für eine
schnelle Umsetzung der Verordnungen in allen Mitgliedstaaten, insbesondere in denen mit bedeutender Fischereiwirtschaft, einsetzt und uns darüber in einem Jahr einen Bericht vorlegt.
Denn wie sieht es derzeit bei unseren europäischen
Nachbarn wie zum Beispiel den Niederlanden und Dänemark aus? Die Niederlande haben die Verordnungen
bislang noch nicht umgesetzt. Dort ist dies allerdings
schneller als bei uns möglich, da die Umsetzung nicht
per Gesetz mit Parlamentsbeteiligung erfolgen muss. In
Dänemark soll das nationale Fischereigesetz zur Umsetzung der Verordnungen geändert werden. Auch dort liegt
noch kein Gesetzentwurf vor. Beide Länder riskieren damit ein Vertragsverletzungsverfahren der EU - anders
als Deutschland. Wir setzen mit der heutigen Entscheidung die Verordnungen fristgerecht um.
Unser Augenmerk liegt nun darauf, Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Markt zu vermeiden. Diese
könnten eintreten, da andere EU-Mitgliedstaaten die europäischen Vorgaben später als wir umsetzen. Deshalb
soll der Bericht der Bundesregierung im kommenden
Jahr auch Angaben dazu enthalten, in welchen Punkten
es in anderen Mitgliedstaaten relevante Abweichungen
zur deutschen Gesetzgebung gibt. Dies gibt uns dann
- soweit erforderlich - die Möglichkeit zur Nachjustierung. Wir werden dies sehr genau beobachten. Getreu
dem Motto: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
Heute verabschieden wir die Änderung des Seefischereigesetzes. Wir tun das fristgerecht. Denn bis zum 1. Januar 2012 müssen alle Mitgliedstaaten die Regelungen
aus IUU- und Kontrollverordnung umgesetzt haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich möchte aber zunächst sagen: Ich bin der Ansicht,
dass wir das Beste für unsere Fischerei erreicht haben.
Kein Fischer muss nun fürchten, dass ihm bei einem
kleinen Vergehen das Patent entzogen wird. Die Fischer
werden auch nicht an den Pranger gestellt. Wir tun mit
der Änderung des Gesetzes vielmehr etwas gegen die
schwarzen Schafe. Wer hier also tatsächlich Schindluder
treibt, muss sich zukünftig noch wärmer anziehen.
Wir hatten in der Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am
28. September 2011 vereinbart, noch etwas länger abzuwarten, um zu sehen, was die anderen Mitgliedstaaten
machen.
Fakt ist aber: Wir sind bei der Umsetzung ganz vorne,
wie so oft. Wir müssen jetzt hoffen, dass die anderen Mitgliedstaaten unserem Beispiel folgen. Wir haben jetzt
über mehrere Monate über schwere Verstöße, Strafpunkte, Patententzug und Gefängnisstrafen im Zusammenhang mit der Fischerei gesprochen. Wir haben auch
eine Anhörung im Ausschuss dazu abgehalten, und offensichtlich haben wir gut daran getan. Zu einigen der
in der Anhörung von Fischereiseite vorgetragenen Kritikpunkte möchte ich gleich noch nähere Ausführungen
machen.
Es gibt viele Umweltverbände, die sich in Zeiten, da
die EU ihre Fischereipolitik reformiert, lautstark engagieren. Beim Seefischereigesetz war das nicht so. Keine
NGO war bereit, einen Sachverständigen zur Anhörung
zu stellen. Wahrscheinlich war das Thema nicht öffentlichkeitswirksam genug.
Eines wurde in der Anhörung aber klar: Die Fischer
fühlen sich langsam, aber sicher kriminalisiert. Außerdem fürchten die Fischer, dass ihnen in Zukunft schon
bei einem kleinen Vergehen das Patent entzogen wird
oder ihr Schiff an der Kette liegt. Ich möchte an dieser
Stelle den Fischern versichern, dass wir sie keineswegs
für Kriminelle halten. Ich bin mir auch sicher, dass
durch das neue Seefischereigesetz niemand ins Gefängnis wandern oder einem Kapitän das Patent entzogen
wird.
Denn Fakt ist: So gesetzestreu wie der gemeine Deutsche, so gesetzestreu sind auch unsere Fischer. Wir haben uns genau angesehen, welche Verstöße es in der Vergangenheit gegeben hat und wie diese Verstöße unter
dem neuen Regime geahndet worden wären. Es stellte
sich heraus, es wären nur eine Handvoll Punkte vergeben worden und niemand hätte sein Patent verloren.
Sollten wir aber doch ein schwarzes Schaf in unseren
Reihen haben, so muss dieser Mensch in Zukunft mit erheblichen Strafen rechnen, zusätzlich zu denen aus bestehenden Regelungen.
Der Anreiz für deutsche Fischer, schwere Verstöße zu
begehen, ist äußerst gering. Die deutschen Fischer verfügen nämlich über ein sehr günstiges Verhältnis von
Fangmöglichkeit zu Kapazität. Das soll heißen, die
Fischer kommen mit den ihnen zur Verfügung stehen
Quoten ziemlich gut zu recht. In anderen Mitgliedstaaten ist dieses Verhältnis deutlich ungünstiger und dementsprechend der Anreiz zur Gesetzesübertretung wesentlich größer.
Wie allgemein bekannt ist, ist eines der großen Probleme der Gemeinsamen Fischereipolitik die mangelhafte Durchsetzung. Bei Kontrolle und Sanktion gibt es
noch einige Defizite. Ein Problem ist aber auch, dass
Strafen für das gleiche Vergehen in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfallen. Wir hoffen, dass
das in diesem Fall anders ist.
Die EU hat in der Kontrollverordnung ein Strafpunktesystem für Lizenzinhaber erlassen. Die Vergabe von
Strafpunkten ist damit europaweit einheitlich geregelt.
Gleichzeitig hat die EU den Mitgliedstaaten die Einführung eines Strafpunktesystems für Kapitäne auferlegt,
weil das in der Regelungsgewalt der Mitgliedstaaten
liegt. Dieses Punktesystem für die schweren Verstöße ist
nun das Kernstück des Gesetzes. Bei der Einführung des
Punktesystems war es unser wichtigstes Anliegen, dass
dieses Punktesystem in allen Mitgliedstaaten gleich aussieht. Hier darf es aus unserer Sicht zu keinen ungleichen Regeln kommen. Es war aber bislang nur schwer in
Erfahrung zu bringen, wie die anderen Mitgliedstaaten
ihr Punktesystem für Kapitäne ausgestalten.
Wir haben alle relevanten Mitgliedstaaten abgefragt.
Wir Deutschen sind natürlich mal wieder die Vorreiter.
Schweden und Großbritannien zum Beispiel lassen sich
bis Mitte 2012 Zeit. Dänemark hat sich geweigert, auf
unsere Anfrage zur Umsetzung der Kontrollverordnung
zu antworten. Das möchte ich nicht unerwähnt lassen.
Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir uns bei
der Gesetzgebung noch etwas mehr Zeit gelassen, um
uns mit anderen Mitgliedstaaten abzustimmen. Dass wir
heute trotzdem dem Gesetzentwurf zustimmen können,
liegt vor allem daran, dass das Punktesystem für
schwere Verstöße von Kapitänen in einem Erlass geregelt wird. Dadurch lässt sich das System wesentlich einfacher verändern, falls dazu Bedarf besteht.
Das Argument der Bundesregierung, Deutschland sei
Vorreiter und die anderen werden sich nach uns richten,
teile ich nur bedingt. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auch per Entschließungsantrag auf, den Deutschen Bundestag über die Umsetzung des Punktesystems
für schwere Verstöße für Kapitäne von Fischereifahrzeugen in den anderen Mitgliedstaaten zu unterrichten.
Von der Seite der Fischerei wurde vielfach eine Bagatellregelung gefordert. Dem wird mit der Einführung
von Bagatellgrenzen in der Durchführungsverordnung
Rechnung getragen. Mit der Änderung des Seefischereigesetzes bestrafen wir aber auch nur die schweren Verstöße.
Die grundlegende Kritik der Fischereiverbände an
der Einführung eines Straftatbestandes konnten wir leider nicht aufnehmen. Da wir in Deutschland keine Verwaltungsstrafen kennen, mussten wir den Straftatbestand einführen. Man muss sich aber auch ansehen, was
Fischer tun müssen, um ins Gefängnis zu kommen. Das
sind wirklich schwerwiegende Vergehen, die man nicht
mal eben wegen einer Unachtsamkeit begeht. Dazu gehört zum Beispiel das wissentliche Fischen während eiZu Protokoll gegebene Reden
nes Moratoriums oder eines Fangverbots. Dazu zählt
auch das Fangen ohne Fangerlaubnis. Allerdings geht
es hier nicht um ein paar Kilo Beifang, für den der
Fischer keine Quote hat. Hier geht es um das wissentliche Fangen ohne Fangerlaubnis, bei dem der Fischer
aus Gewinnsucht oder gewerbsmäßig handelt. Hier geht
niemand wegen ein paar Kilo Beifang ins Gefängnis.
Gleiches gilt für die Manipulation der Maschine, das
Führen eines Schiffs ohne Flagge oder das Umladen mit
einem bekannten IUU-Schiff. Aber auch hier gibt es
noch eine Hürde, denn der Täter muss sein Handeln beharrlich wiederholen.
Diese Beispiele machen deutlich, dass hier niemand
ins Gefängnis muss, wenn er nicht etwas wirklich
Schwerwiegendes getan hat.
In der täglichen Praxis wird sich also bald erweisen,
dass die Ängste auf Fischereiseite unbegründet waren.
Sollte einem Fischer tatsächlich das Patent entzogen
werden, handelt es sich dabei auch nicht um ein Berufsverbot. Der Kapitän wird die viel bemühte Barkasse im
Hamburger Hafen fahren können. Damit wurde auch der
Kritik Rechnung getragen, bei den begangenen Vergehen handele es ich um fischereiliche Vergehen und nicht
um verkehrsrechtliche.
Ein weiterer Kritikpunkt der Fischer, dem wir nachgekommen sind, war die Forderung nach einer einheitlichen Anlaufstelle für die elektronische Voranmeldung
und die Anlande- und Umladeerklärung.
Auch wenn die Länder formal die Zuständigkeit für
die Fahrzeuge bis 500 BRZ haben, so macht es doch wenig Sinn, dass jedes der drei Küstenländer eine Stelle
hat, die 7 Tage die Woche 24 Stunden besetzt ist.
Ich möchte auch noch etwas zum Bußgeldrahmen sagen. Dieser war im Regierungsentwurf auf 200 000 Euro
für bestimmte Vergehen festgesetzt, die in Art. 90 Abs. 1
der Kontrollverordnung näher benannt werden. Dazu
zählt zum Beispiel das wissentliche Fischen während eines Moratoriums oder das Einlaufen in einen Hafen
ohne Genehmigung. Letzteres hat es in Deutschland ja
schon mal gegeben.
Ich möchte aber nicht verschweigen, dass der Bußgeldrahmen für alle anderen Vergehen von bislang
75 000 Euro auf 50 000 abgesenkt wird. Der bisherige
Bußgeldrahmen wurde allerdings auch niemals ausgenutzt.
Deshalb ist es richtig, dass wir den Bußgeldrahmen
auf 100 000 Euro festgesetzt haben. Den Fischer, der
sich tagtäglich an Recht und Gesetz hält, betrifft das
aber nicht. Abschließend möchte ich sagen, dass wir sowohl den Vorgaben der Europäischen Union Rechnung
getragen als auch die deutschen Fischer vor ungerechtfertigten Strafen bewahrt haben.
Wir haben es leider nicht geschafft, Bürokratie zu
verringern. Das Gegenteil ist der Fall. Nichtsdestotrotz
haben wir unter den gegebenen Umständen das Beste
getan. Die SPD stimmt diesem Gesetzentwurf aber zu,
denn wir haben uns aktiv im Gesetzgebungsverfahren
beteiligt und wollen nun auch Verantwortung für die gefundenen Regelungen übernehmen.
Die weltweit in den Meeren gefangene Fischmenge
stagniert. Zwei Drittel der Fischbestände im Nordostatlantik, so eine Mitarbeiterin des WWF im Fachgespräch der FDP-Bundestagsfraktion, sind überfischt,
über 55 Prozent der Fischarten fehlen gesicherte Erkenntnisse. Mit steigender Weltbevölkerung, für deren
Eiweißversorgung Fischerei und Aquakultur eine große
Bedeutung haben, rückt eine nachhaltige Bewirtschaftung der Fischbestände in den Mittelpunkt des Interesses. Die Bestandsaufnahme der EU-Kommission hat
ergeben, dass die seit 2003 geltende Gemeinsame Fischereipolitik die heute herrschenden Probleme nicht lösen konnte.
Mit der Änderung des Seefischereigesetzes und Seeaufgabengesetzes werden die von der EU erlassenen
Verordnungen zur Bekämpfung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei und die EU-Kontrollverordnung zum Schutz der Fischbestände in Nordund Ostsee in nationales Recht umgesetzt. Während der
parlamentarischen Beratungen hat die Koalition gemeinsam mit dem zuständigen Ministerium und den
Fischereiverbänden notwendige Verbesserungen zum
ersten Entwurf erarbeitet.
In der Anhörung wurde uns von den Experten dargestellt, dass die Strafvorschriften im ersten Entwurf des
Gesetzes bedenklich wären. Es musste geklärt werden,
was als schwerer Verstoß zu bewerten ist, und es wurde
das Fehlen von Bagatellgrenzen für Ordnungswidrigkeiten angemahnt. Ebenso wurde der Verlust des nautischen Patentes als Strafmaß als unverhältnismäßig
eigestuft. Hier wurde mit dem Vorlegen des neuen
Punktsystems nachgebessert. Praktikable Bagatellgrenzen zum Beispiel bei Abweichung der vorgeschriebenen
Netzmaschengröße wurden eingeführt. Wir sprechen uns
nachdrücklich dafür aus, die Strafvorschriften mit den
Nachbarstaaten zu harmonisieren. Im Interesse unserer
kleinen, mittelständischen Kutter- und Küstenfischerei
sollten wir uns besser mit den anderen abstimmen, statt
im Alleingang unsere Fischer unverhältnismäßig zu belasten. Der Gesetzentwurf erhielt gestern im zuständigen Ausschuss eine breite Mehrheit.
Deutschland geht beim Schutz der Fischbestände in
Nord- und Ostsee voran. Mit der Novellierung des Seefischerei- und Seeaufgabengesetzes sind die EU-Vorgaben zur Bekämpfung der illegalen, nicht gemeldeten und
unregulierten Fischerei in deutsches Recht umgesetzt.
Wir sind uns alle bewusst: Nur der Erhalt der Fischbestände sichert die Zukunft der Fischerei.
Jetzt sind auch die anderen Mitgliedstaaten mit bedeutender Fischereiwirtschaft in der Pflicht, die Verordnung umzusetzen. In unserem auf Initiative der FDP
formulierten Entschließungsantrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für eine rasche Durchführung des unmittelbar geltenden Unionsrechtes in allen
Mitgliedstaaten einzusetzen und über diese Umsetzung
in den Mitgliedstaaten dem Bundestag zu berichten. Wir
Zu Protokoll gegebene Reden
wollen dadurch sicherstellen, dass unserer heimischen
Fischerei keine Wettbewerbsnachteile entstehen. Ich
danke für die breite Unterstützung dieses Antrages im
Ausschuss.
Die deutschen Fischer verhalten sich bereits heute
weitgehend vorbildlich. Es gab in den letzten Jahren
keine nennenswerten Verstöße gegen die umfassenden
europäischen und nationalen Regelungen zur Seefischerei. Deshalb ist es sachgerecht, den Bußgeldrahmen auf
100 000 Euro zu begrenzen. Der Wunsch der Grünen auf
Beibehaltung eines hohen Bußgeldrahmens, der zu keiner Zeit auch nur annähernd ausgeschöpft wurde, ist
reine Symbolpolitik und ohne praktische Relevanz.
Als Instrument des Schutzes der Fischbestände sollten, dort wo es möglich ist, allein Quoten und nicht zusätzlich Fangaufwandsregelungen verwendet werden.
Ob die EU-Verordnungen einen wirksamen Beitrag zum
Schutz der Fischbestände und zur Nachhaltigkeit der
Fischereiwirtschaft leisten, soll nach drei Jahren evaluiert werden. Auch das haben wir in unserem Entschließungsantrag festgelegt.
Ebenso sollten offene Fragen zum Datenschutz geklärt werden. Eine lückenlose Videoüberwachung der
Fischer ist unangebracht und lässt sich trotz hoher Kosten von 30 000 Euro pro Boot prinzipiell umgehen. Sinnvoller wären Inspekteure an Bord, wenn ein begründeter
Verdachtsfall vorliegt.
Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass die meldepflichtigen Positionsdaten nicht an die Konkurrenz
aus den Nachbarstaaten gelangen kann. Hier müssen
praktikable Durchführungsverordnungen von der Bundesregierung vorgelegt werden. Die Fischereiwirtschaft
ist entscheidend abhängig vom Zustand der maritimen
Ressourcen. Gleichzeitig beeinflussen der Klimawandel,
die wirtschaftliche Entwicklung, der gesellschaftliche
Wandel und regionale Entwicklungen die Zukunft der
Fischer in Deutschland und Europa. Nur eine konsequente europaweite Umsetzung der IUU-Verordnung
kann eine nachhaltige Bewirtschaftung unserer maritimen Ressourcen sicherstellen und gewährleisten, dass
die Bevölkerung ausreichend mit Fischen und Meeresfrüchten versorgt wird, die wirtschaftliche Zukunft der
Fischer gesichert wird und die natürlichen Bestände erhalten bleiben.
Wenn es um die Ernährung der Welt geht, richten sich
die Blicke meistens auf Wiesen, Weiden und Äcker. Auf
das Meer schaut kaum jemand, doch birgt es unvorstellbar große, wenn auch bedrohte Potenziale, nicht nur für
die Ernährung des Menschen, sondern auch für das
Klima und als Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Über
370 Millionen Quadratkilometer der Erdoberfläche sind
Wasser. Das sind circa 71 Prozent. In fast allen diesen
Gewässern darf gefischt werden, angefangen vom kleinen Angler bis hin zum großen industriellen Fischtrawler. Egal wo: Entscheidend ist, dass nachhaltig gefischt
wird. Dass heißt: Die Fischerei darf die Fischbestände
nicht gefährden. Das aquatische Ökosystem darf dabei
nicht zerstört werden. Gerade im Bereich der Tiefseefischerei gibt es hier erhebliche Defizite. Möglicherweise werden hier Arten ausgerottet, die wir noch gar
nicht kennen.
Die Fischereipolitik darf sich nicht nur ökologisch
ausrichten, sie muss auch sozial gerecht sein. Deshalb
ist es wichtig, dass die Fischereiressourcen der Erde zuallererst den an den Küsten wohnenden Menschen und
dann den dazugehörigen Nationen zur Verfügung stehen. Nur wenn auch nachhaltig noch mehr gefischt werden kann, sollten andere Nationen Fischereirechte erwerben können.
Als Linke haben wir daher die partnerschaftlichen Fischereiabkommen im Rahmen der externen Dimension
der Gemeinsamen Europäischen Fischereipolitik, GFP,
kritisch im Blick. Eine nachhaltige Bewirtschaftung der
Meere setzt zwei Dinge voraus: die verbindliche Einigung auf wissenschaftlich fundierte Fangmengen auf
der Grundlage mehrjähriger Bewirtschaftungspläne
und ihre Einhaltung. Jede Fangbeschränkung wird unglaubwürdig und wirkungslos ohne konsequente Bekämpfung der illegalen Fischerei. Wer gegen die Regelungen verstößt oder - noch schlimmer - vorsätzlich
illegal fischt, gefährdet dieses System. Wobei es dabei
nicht um illegale Fangaktivitäten einheimischer Fischerinnen und Fischer zum Beispiel in Afrika geht; denn
ihre Fangrechte wurden durch Abkommen ihrer Länder
mit der EU an große Trawler verhökert. Für die Linke ist
das nicht akzeptabel.
Der Kampf gegen die illegale Fischerei und für eine
nachhaltige Fischerei ist wichtig. Darum begrüßt die
Linksfraktion das neue EU-Verordnungsrecht zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei und
zur Reform des EU-Fischerei-Kontrollsystems. Zudem
ist das Seefischereigesetz an das geltende EU-Fischereirecht anzupassen. Genau das war die Aufgabe des Gesetzentwurfes 17/6332, den die Bundesregierung Anfang
September in den Bundestag eingebracht hatte. Trotz
klarem und unstrittigem Ziel war die parlamentarische
Befassung alles andere als einfach.
Zur Anhörung zum Gesetzentwurf Ende September
waren mehrheitlich aktive Fischerinnen und Fischer geladen. Ihr Urteil war vernichtend. Sie wiesen nicht nur
auf erhebliche Unklarheiten und Missstände im Gesetzentwurf hin, sondern verrissen ihn regelrecht. Der Gesetzentwurf sei überzogen, realitätsfern und missverständlich. Die Gleichbehandlung auf See sei durch den
Gesetzentwurf gefährdet. Bagatellgrenzen wurden gefordert. Die Praktikabilität der vorgeschlagenen Lösungen wurde angezweifelt und Datenschutzbedenken geäußert. Nicht nur ich war von der Wucht der Vorwürfe
überrascht. Selbst bei der sonst oft beratungsresistenten
Koalition aus Union und Liberalen hat diese Anhörung
offensichtlich Wirkung hinterlassen.
Kritisiert wurde speziell die Einführung eines Punktesystems für schwere Verstöße, also quasi ein „Flensburg 2.0 für die Fischerei“. Bei mehr als 18 Punkten soll
dem Kapitän eines Schiffes das nautische Patent ({0}) entzogen
werden. Das bedeutet, dass er für einen bestimmten ZeitZu Protokoll gegebene Reden
raum als „unzuverlässig“ eingestuft wird und somit kein
Schiff mehr führen darf. Die Linksfraktion will aber wie
die meisten Sachverständigen, dass das Fahren eines
Fischerbootes verboten werden kann, aber die Navigation eines anderen Schiffes weiterhin erlaubt bleiben
soll. Im Änderungsantrag der Koalition steht nun, dass
der Entzug des Führerscheins verschoben werden kann.
Wir sind mit diesem Kompromiss weiter nicht zufrieden.
Richtig ist, dass Straf- und Bußgeldvorschriften nur
dann Sinn machen, wenn auch was dahinter steht. Daher
ist der Ansatz mit der Punktesammlung angemessen.
18 Punkte sind keine Bagatelle. Aber es ist richtig, dass
der maximale Bußgeldrahmen von 200 000 auf
100 000 Euro wieder herabgesetzt wurde. Bisher gab es
überhaupt noch keine Verurteilungen zu 100 000 Euro.
Deshalb muss man nicht unnötig mit dem Säbel rasseln
und höhere Strafen androhen, wie die Grünen fordern.
Das ist eine unangemessene Drohgebärde gegen die
überwiegend gesetzeskonformen Fischerinnen und
Fischer. Dass sie das auf die Palme bringt, weil sie sich
kriminalisiert und vorverurteilt fühlen, kann ich gut
nachvollziehen. Dazu gehört im Übrigen auch die Debatte über Kameras oder Kontrolleure an Bord. So richtig Kontrollen sind, so verständlich finde ich Argumente
gegen solche Überwachungsinstrumente. Die Schiffspositionen werden sowieso online erfasst, also ist auch
eine gezielte Kontrolle möglich. Eine Kameraüberwachung in den Abgeordnetenbüros würden wir ja auch ablehnen - und nicht nur, weil wir als frei gewählte Abgeordnete eine Sonderstellung haben.
Als Linksfraktion begrüßen wir die beiden EU-Verordnungen; auch den Ansatz des Gesetzentwurfes finden
wir richtig. Die Kritik der Fischerinnen und Fischer in
der Ausschussanhörung hat die Koalition jedoch nur
teilweise durch ihren Änderungsantrag aufgegriffen.
Daher können wir uns beim geänderten Gesetzentwurf
nur enthalten. Dass die Koalition mit dem Ergebnis ihrer Nachverhandlungen selbst nicht ganz zufrieden ist,
kann man gut im Entschließungsantrag der Koalition
nachlesen. Wir teilen seinen Inhalt und stimmen zu.
Die IUU-Verordnung und die Fischereikontrollverordnung der EU, die durch das neue Seefischereigesetz
umgesetzt werden, stehen in der Fischereiwirtschaft
vielfach in der Kritik, weil sie ein schwer zu überblickendes Maß an Regelungen und ein enormes Maß an
zusätzlicher Bürokratie gebracht haben. Diese Kritik ist
sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Dennoch
muss man feststellen: Beide Verordnungen sind für die
Bekämpfung der illegalen, unregulierten und ungemeldeten Fischerei und für die Einhaltung der Rechtsvorschriften der EU-Fischereipolitik dringend notwendig
und waren ein enormer Schritt nach vorn.
Ein erfolgreiches Fischereikontrollrecht der EU wird
Dumping-Fischimporte aus der illegalen Fischerei in
den EU-Markt spürbar vermindern. Das dürfte sich für
die rechtstreuen Fischereibetriebe wirtschaftlich positiv
auswirken. Wenn die Fischereikontrolle erfolgreich ist,
dann wird sie auch zur Erholung überfischter Bestände
beitragen. Das ermöglicht mittel- bis langfristig mehr
Fischfang bei niedrigerem Aufwand. Auch das wird sich
wirtschaftlich positiv auf die einheimischen Fischereibetriebe und die deutsche Fischereiwirtschaft auswirken.
Man darf also nicht nur die Kosten und den Aufwand der
Fischereikontrolle sehen, sondern auch den Nutzen.
Aber: Aufwand und Nutzen müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Dies ist die
Messlatte für die Überprüfung des von der schwarz-gelben Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfes. Die
Anhörung der betroffenen Fischer hatte gezeigt, dass
der Regierung das an mehreren Punkten nicht gelungen
war.
Einige der Kritikpunkte hat die Koalition mit dem Änderungsantrag ausgeräumt. Fakt bleibt aber, dass das
Gesetz kaum lesbar und schwer verständlich ist und
durch Verordnungsermächtigungen eine hohe Unübersichtlichkeit schafft. Handwerkliche Mängel und einige
zweifelhafte Entscheidungen machen uns eine Zustimmung zu diesem aus grüner Sicht notwendigen Gesetz
jedenfalls nicht möglich. So ergibt es wenig Sinn, die Zuständigkeiten so aufzuteilen, dass sowohl Bundes- als
auch Landesbehörden sich mit den gleichen Aufgaben
befassen müssen und Personal ausbilden und vorhalten
müssen, je nachdem wie groß die Schiffe sind oder woher sie kommen. Aufgaben sollten entweder vollständig
dem Bund oder dem Land zugewiesen werden. Dieses
Problem hat der Änderungsantrag der Koalition nicht
vollständig gelöst. Ich bin gespannt, ob die Bundesländer das akzeptieren werden.
Die Koalition verpasst die Gelegenheit, etwas für den
Erhalt unserer Küstenfischer zu tun. Dazu hätte sie die
Regelungen zur Aufteilung der Fischfangmengen um
eine Klausel ergänzen sollen, die dem Schutz der erhaltenswerten Küstenfischerei dient.
Die Koalitionsfraktionen haben den Gesetzentwurf so
geändert, dass der Entzug des Befähigungszeugnisses
für den nautischen Dienst auf Fischereifahrzeugen - wie
beim zeitweiligen Entzug des Führerscheins - auf einen
späteren Zeitpunkt verschoben werden kann. Was aber
hilft dieser Entzug - für zwei Monate bei der erstmaligen
Erreichung von 18 Punkten -, wenn er in eine Zeit gelegt
werden kann, in der sowieso nicht gefischt wird? Damit
wird diese Sanktion weitgehend entwertet.
Zusätzlich haben die Koalitionsfraktionen die im Gesetzentwurf für verschiedene Ordnungswidrigkeiten vorgesehene maximale Geldbuße von 200 000 auf
100 000 Euro abgesenkt. Da diese in der Praxis nur bei
sehr schweren bzw. wiederholten Verstößen verhängt
werden kann, fragt man sich, was mit dieser Herabsetzung erreicht werden soll. Dass damit bei den Fischern
wirklich Punkte zu sammeln sind, darf bezweifelt werden.
Bereits der Gesetzentwurf war weit davon entfernt,
unsere Fischerei zu kriminalisieren. In der Anhörung ist
darauf hingewiesen worden, dass angesichts der in den
letzten Jahren festgestellten Verstöße gegen das Fischereirecht nur in wenigen Fällen überhaupt Punkte vergeben worden wären. Insofern waren die ganze Aufregung
Zu Protokoll gegebene Reden
über das Punktesystem und die Furcht vor dem Entzug
von Fanglizenzen und Kapitänspatenten doch ein gewisser Sturm im Wasserglas. Um eine Kriminalisierung unserer Fischerei zu verhindern, waren die geringfügigen
Änderungen durch die Koalitionsfraktionen also gar
nicht mehr nötig, auch wenn die sich diesen Erfolg
gerne an die Brust heften wollen.
Zum geforderten Gleichklang der Umsetzung in allen
EU-Mitgliedstaaten bzw. zu der Vermeidung von strengeren deutschen Regeln ist zu sagen, dass das nur erreicht werden kann, wenn entweder die EU haarklein jedes Detail vorgibt - was wohl niemand von uns will -,
oder aber, indem sich Deutschland immer nur am niedrigsten Standard aller EU-Mitgliedstaaten orientiert. Sicherlich ist es richtig, wenn die Bundesregierung dem
Bundestag wie gefordert berichtet, wie die anderen Mitgliedstaaten das EU-Fischereikontrollrecht umsetzen.
Es kann aber nicht richtig sein, daraus einen Wettbewerb um den niedrigsten gemeinsamen Standard zu machen. Vielmehr gilt es, alles daran zu setzen, dass die
Kommission auf eine ambitionierte Umsetzung in allen
Mitgliedstaaten drängt. Das hilft dann nicht nur unseren
Fischern, sondern auch dem Erhalt der Fischbestände.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7992, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6332 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/
Die Grünen und Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7992 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und die Linksfraktion.
Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Bündnis 90/
Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einrichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen
Frauen“ ({0})
- Drucksache 17/7238 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 17/8008 Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Marlene Rupprecht ({2})
Nicole Bracht-Bendt
Yvonne Ploetz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen im Präsidium vor.
Die Einrichtung des Hilfetelefons ist ein sehr wichtiges Signal an die Frauen in unserem Land, die von
Gewalt betroffen sind. Es wird ihnen den Zugang zu
Beratung und Hilfeangeboten deutlich erleichtern. Es
wird ein kostenloses Angebot auf Erstberatung und
Information über Hilfemöglichkeiten zu allen Formen
von Gewalt gegen Frauen vorhalten. Das Hilfetelefon ist
damit ein wichtiger Baustein im Bemühen, Gewalt an
Frauen zu bekämpfen. Ab 2013 wird es möglich sein, das
bundesweite Hilfetelefon in Betrieb zu nehmen.
Damit setzen wir ein zentrales Vorhaben in dieser
Legislaturperiode im Kontext Gewalt gegen Frauen um.
Die christlich-liberale Koalition hält mit der Umsetzung
dieses Gesetzes ihr Versprechen, Frauen besser vor Gewalt zu schützen. Auch die Verpflichtung durch die neue
Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt setzen
wir damit um.
Eine Studie des BMFSFJ besagt, dass Frauen aller
Altersgruppen, Schichten und ethnischen Zugehörigkeiten in Deutschland in hohem Maße von Gewalt betroffen
sind. 40 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen
haben körperliche oder sexuelle Gewalt mindestens einmal im Lebenslauf erlebt, oftmals durch den eigenen
aktuellen oder ehemaligen Partner; sie erleben oft
schwere oder lebensbedrohliche Gewalt. Es ist wichtig,
dass diese traumatisierten, gedemütigten Frauen Hilfe
bekommen.
Trotz des bestehenden Hilfesystems in Deutschland
kommen dort aber nur circa 20 Prozent der Frauen an.
Ein Großteil der Frauen findet im entscheidenden
Moment keine Hilfe; ein entscheidender Grund ist, dass
die Unterstützersysteme zu wenig bekannt sind oder nur
zu begrenzten Öffnungszeiten erreichbar. Hier setzt das
Hilfetelefon an als niedrigschwelliges, jederzeit zu
erreichendes Angebot, das 24 Stunden am Tag jederzeit
kostenlos und barrierefrei zu erreichen ist. Die Frauen
benötigen zur ersten Orientierung häufig eine Stelle, an
die sie sich jederzeit, auch anonym, wenden können.
Das Hilfetelefon richtet sich aber nicht ausschließlich an Betroffene, sondern ist auch ein Angebot an
Menschen aus dem Umfeld der betreffenden Frauen,
zum Beispiel Verwandte, Freunde und Kollegen oder
Kinder, die miterleben müssen, wie die Mutter geschlagen wird, Menschen, die gewaltbetroffenen Frauen helfen wollen. Auch hier bietet das Telefon Unterstützung.
Das Hilfetelefon ist für alle Menschen zugänglich, die
Frauen in ihrer Notsituation helfen wollen. Das vergrößert die Chancen, auf den gesamten Kontext der Gewalt
einwirken zu können.
Als eigenes Unterstützungsangebot ergänzt das bundesweite Hilfetelefon die Einrichtungen, die auf Länderund kommunaler Ebene agieren. Das Hilfetelefon soll
eine Erstanlaufstelle sein und dann eine Lotsenfunktion
übernehmen. Das heißt, der anrufenden Person werden
geeignete Hilfen und Unterstützungsangebote in Wohnortnähe oder, wenn Distanz sinnvoller ist, in ganz
Deutschland angeboten. Es übernimmt damit eine wichtige Brückenfunktion in das bestehende Hilfesystem.
Damit werden auch die Beratungsstellen entlastet, weil
die Frau dann direkt bei der richtigen Stelle ankommt.
Damit wird auch die wichtige Rolle der Unterstützungseinrichtungen vor Ort gestärkt; es wird sichtbarer werden, was diese leisten. Es ist zu erwarten, dass ein
Erfolg des Hilfetelefons auch eine Steigerung der Nachfrage nach Unterstützungsangeboten vor Ort hervorbringen wird, zum Beispiel auch die Nachfrage nach
Plätzen in Frauenhäusern.
Wir hatten im Koalitionsvertrag deshalb neben der
Einrichtung der bundesweiten Hilfenummer auch einen
Bericht zur Lage der Frauenhäuser vereinbart. Das
Bundesministerium für Familie hat dazu Gutachten in
Auftrag gegeben: zum einen zu einer Bestandsaufnahme
zum bestehenden Hilfesystem und auch zum verfassungsrechtlichen und sozialrechtlichen Hintergrund.
Diese Gutachten werden aller Voraussicht nach bis zum
Ende des Jahres vorliegen. Sobald die Auswertung dazu
erfolgt ist - dies soll nach meiner Information im ersten
Quartal 2012 der Fall sein -, wird die Frage nach einer
nachhaltigen Finanzierung der Frauenhäuser erneut zu
diskutieren sein. Solange es Gewalt gegen Frauen gibt,
brauchen wir Frauenhäuser. Ich hoffe, dass wir zukünftig zu einer Lösung kommen können, die den Frauenhäusern mehr Planungssicherheit gibt.
Das Thema Gewalt gegen Frauen muss in der gesellschaftspolitischen Debatte eine viel größere Rolle spielen. Mit dem bundesweiten Hilfetelefon wird ein neues
öffentliches Signal zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen gesetzt. Es ist gut, dass das Hilfetelefon mit kontinuierlichen Kampagnen einer bereiten Bevölkerung
bekannt gemacht werden soll und auf diesem Weg öffentlichkeitswirksam zur weiteren Enttabuisierung des Themas Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen beitragen
kann.
Das Hilfetelefon ist mit einem umfassenden Etat ausgestattet: 3,1 Millionen Euro sind für den Aufbau des
Hilfetelefons im Jahr 2012 vorgesehen. Für den Vollbetrieb ab 2013 sind circa 6 Millionen Euro pro Jahr
veranschlagt. Dadurch soll der Bestand auf Dauer abgesichert werden.
Das Hilfetelefon soll unter dem Dach des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
angesiedelt werden. Hier kann die vorhandene Infrastruktur und vorhandenes qualifiziertes Personal für
technische und Verwaltungsaufgaben genutzt werden.
Entscheidend für den Erfolg der Helpline ist letztlich die
Qualität der Beratung, das heißt die Kompetenz der Beraterinnen. Sie müssen sowohl über breite berufliche als
auch menschliche Kompetenzen verfügen, um den
Frauen in ihrer schwierigen Situation weiterhelfen zu
können. Es wird davon ausgegangen, dass circa 80 bis
90 Stellen für Beraterinnen, Leitung und Verwaltung des
Hilfetelefons benötigt werden.
Alle bisher eingegangenen Stellungnahmen der Fachverbände beurteilen den Gesetzentwurf durchweg positiv und signalisieren Unterstützung für die Einrichtung
und den Betrieb des Hilfetelefons. Mit der baldigen Umsetzung ist ein weiterer wichtiger Meilenstein im Bemühen, Gewalt an Frauen abzubauen, erreicht.
40 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen werden in ihrem Leben mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt. Das ist auch im europäischen Vergleich ein hoher Anteil. Dabei fällt auf, dass
bestimmte Frauengruppen deutlich stärker von Gewalt
betroffen sind als der Durchschnitt der weiblichen Bevölkerung in Deutschland. Die Opferschutzorganisation
„Weißer Ring“ hat ermittelt, dass Migrantinnen, Bewohnerinnen von Asylbewerberheimen und Prostituierte
in höherem Maß der Gewalt ausgesetzt sind als Frauen,
die stärker in unsere Gesellschaft integriert sind.
Das kann nicht verwundern. Diese Frauen leben in
einem Milieu, in dem Gewalt nicht selten an der Tagesordnung ist. Gerade deshalb aber müsste die Polizei
hier eine größere Präsenz zeigen und stärker durchgreifen. Es darf nicht sein, dass Migranten in ihrem Getto
leben, in das die staatliche Gewalt nicht hineinreicht.
Deshalb muss den Migranten klargemacht werden, dass
sie in Deutschland leben und nicht in einem Land, in
dem es keine Besonderheit ist, wenn Männer ihre
Frauen schlagen. Auch wenn die Scharia Gewalt gegen
Frauen in bestimmten Fällen zulässt: In Deutschland
gilt das Strafgesetzbuch, und danach sind Gewalttaten
mit Körperverletzung strafrechtlich zu verfolgen.
Die Frauen von Migranten müssen sich aber selbst
auch stärker zur Wehr setzen. Sie dürfen die Gewalt, die
sie erfahren müssen, nicht einfach hinnehmen. Untersuchungen der Universität Ankara habe ergeben, dass
Frauen türkischer Herkunft eher bereit sind, Gewalt von
ihrem Partner hinzunehmen als deutsche Frauen. Wenn
aber eine Frau sich wehrt und Strafanzeige erstattet,
muss die Polizei und die Staatsanwaltschaft dieser Sache auch nachgehen und darf sie nicht als privaten Streit
abtun. Hier kann das Hilfetelefon große Bedeutung erlangen. Solche Frauen wenden sich nicht so schnell an
Frauenhäuser oder die Behörden. Sie sind aber bereit,
das Telefon als ein erstes, anonymes Hilfeangebot anzunehmen.
Wir reden viel von Integration. Hier ist ein Ansatzpunkt: Den Männern ausländischer Herkunft muss klargemacht werden, dass Gewalt gegen Frauen ein schlimmes Vergehen, ja auch ein schweres Verbrechen sein
Zu Protokoll gegebene Reden
kann, das entsprechend geahndet werden muss. Nur
wenn solche Gewalttäter erkennen, welche Folgen ihr
Verhalten hat, werden sie umdenken und sich in ihrem
Verhalten anpassen.
Das Gleiche gilt für Prostituierte und Frauen in Asylbewerberheimen, die überproportional oft Gewalttätigkeit ausgesetzt sind. Auch hier muss die Polizei mehr als
bisher eingreifen und solche Straftaten verfolgen. Die
sozialen Dienste müssen stärker auf solche Vorfälle in
diesem Milieu achten. Gerade für diese Frauen kann das
mehrsprachige Hilfetelefon eine große Hilfe sein. Denn
dort können sie in ihrer Muttersprache ihre Sorgen der
Mitarbeiterin am anderen Ende des Hilfetelefons kundtun und ohne Angabe von persönlichen Daten fachkundigen Rat erhalten. Auch kann von dort durch entsprechende Benachrichtigung der Behörden Unterstützung
herbeigerufen werden.
Gewalt gegen Frauen gibt es aber nicht nur in den
drei vorgenannten Gruppen. Gewalt wird mindestens im
selben Umfang auch gegen deutsche Frauen von deutschen Männern verübt, und dies sehr oft in der häuslichen Umgebung, in der eigenen Wohnung, also im privaten, intimen Bereich. In zwei Drittel dieser Fälle, so
sagt uns eine Studie aus dem Familienministerium,
kommt es zu schweren bis lebensbedrohlichen Verletzungen. Opfer sind oft Schwangere, die in einer besonderen
hilflosen Situation sind, aber auch Mädchen mit Behinderungen, insbesondere auch geistigen Behinderungen,
die sich nicht wehren können. Die Folgen sind nicht selten schwere körperliche, aber auch schwere psychische
Schäden.
Meist kommt diese Gewalt im intimen Bereich der
Wohnung von ehemaligen oder auch aktuellen Partnern
vor. Die betroffenen Frauen sind dann nicht selten so
sehr in ihrem Innersten verletzt, so eingeschüchtert,
dass sie außerstande sind, sich selbst aus diesem Teufelskreis von Privatheit, Abhängigkeit und Gewalt zu befreien. Wegen dieser außerordentlichen Betroffenheit
sind diese Frauen auch gar nicht in der Lage, sich an die
nächstmögliche Einrichtung zu wenden, um Hilfe zu suchen - dies, obwohl wir in Deutschland ein dichtes Netz
von entsprechenden Einrichtungen haben. Die von Gewalt bedrohten Frauen wenden sich aus den verschiedensten Gründen nicht an solche Einrichtungen. Sie
schämen sich. Sie wollen nicht, dass ihre Situation bekannt wird. Sie haben Angst vor ihrem Partner, er könne
davon erfahren und sie erneut schlagen und quälen und
so ihre Not nur noch vergrößern. Aus all diesen Gründen
nehmen 80 Prozent der betroffenen Frauen die angebotene Hilfe nicht in Anspruch.
Von daher ist es nicht nur richtig, sondern dringend
geboten, ein niederschwelliges Angebot vorzuhalten,
das schnell erreichbar ist. Diese Aufgabe kann das geplante bundesweite Hilfetelefon leisten. Dort können die
Frauen kostenlos, anonym, auch in fremder Sprache,
anrufen und so Hilfe erlangen. Entscheidend ist, dass
dieses Telefon barrierefrei, das heißt kostenlos, jederzeit
und ohne Probleme benutzt werden kann, dass die Telefonnummer bekannt ist und am anderen Ende immer sofort abgehoben und von geschultem Personal sofort entsprechend beraten und nach Unterstützung gesucht
wird. Bei Gefahr im Verzug kann sofort die Polizei, die
Feuerwehr und der Krankenwagen gerufen und die Justiz verständigt werden. Immer aber muss die Anonymität
der Anruferin gewahrt bleiben, und die Daten müssen
wieder gelöscht werden, wenn keine Notwendigkeit zur
Speicherung mehr besteht.
Das Hilfetelefon kann auch von den Kindern, von
Verwandten, Nachbarn, Kollegen und Kolleginnen, Bekannten, aber auch Personen beansprucht werden, die
ganz zufällig von der Gewalt gegen eine Frau Kenntnis
erhalten. Auch Personen, die durch ihren Beruf, seien es
Beraterinnen, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte
oder im medizinischen Dienst, mit Gewalt konfrontiert
werden, können das Hilfetelefon beanspruchen und sich
Rat holen. Die Hilfe, die angeboten wird, ist breit gefächert. Das bundesweite Hilfetelefon wird nicht nur technisch, sondern vor allem auch personell hervorragend
ausgestattet sein. Jährlich sind für das Hilfetelefon rund
6 Millionen Euro veranschlagt.
Der Ministerin ist für ihre Initiative sehr zu danken.
Entscheidend aber ist, dass sich unsere Gesellschaft
durch nachbarschaftliche Hilfe und durch ein größeres
bürgerschaftliches Engagement der gefährlichen Tendenz zur Gewalt widersetzt. Die Menschen, in deren
Nähe sich Gewalt ereignet, dürfen nicht wegschauen.
Sie müssen private Initiative entwickeln und sofort die
Polizei rufen. Der Gewalttäter muss spüren, dass er auf
eine geschlossene Ablehnung in der Gesellschaft stößt,
die auch zur handfesten Gegenwehr fähig ist.
Insbesondere aber muss der Staat in stärkerem Maße
die Gewalt verfolgen. Er muss wegkommen von der Vorstellung, wenn der Partner die Partnerin schlägt, handele es sich um eine Privatangelegenheit und die Staatsanwaltschaft könne ein solches Verhalten auf den
Privatklageweg verweisen, weil kein öffentliches Interesse bestehe. Im Gegenteil: Durch solche Gewalttaten
wird die öffentliche Ordnung ganz empfindlich verletzt.
Der Friede in der Gesellschaft und die Rechtsordnung
werden dadurch viel stärker gefährdet als durch ein
Fehlverhalten im Straßenverkehr. Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung ist in solchen Fällen immer
gegeben. Staatsanwaltschaft und Gerichte müssen deshalb einschreiten. Die weitverbreitete Auffassung, es
handle sich bei häuslicher Gewalt um ein privates Delikt, das die Öffentlichkeit nichts angehe, ist falsch. Gerade Gewalt in der intimen Sphäre der eigenen Wohnung
ist besonders verwerflich. Hier liegt nicht nur eine Verletzung von Art. 1 und Art. 2 GG vor, sondern auch eine
Verletzung des hohen Rechtsgutes der eigenen Wohnung.
Durch solche schweren Verfehlungen wird immer auch
der öffentliche Frieden verletzt.
Gewalt gegen Frauen ist nicht nur individuelles
Schicksal, sondern immer auch eine schwere Menschenrechtsverletzung. Körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt sind die höchsten Gesundheitsrisiken, mit
denen Frauen auf der ganzen Welt konfrontiert sind. In
Deutschland ist etwa jede vierte Frau im Laufe ihres LeZu Protokoll gegebene Reden
Marlene Rupprecht ({0})
bens Gewalt ausgesetzt. Täter sind häufig Partner, Ehemänner oder Menschen aus dem familiären Umfeld. In
besonders hohem Maße sind Frauen und Mädchen mit
Behinderungen gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden.
Dies wurde anlässlich des Internationalen Tages gegen
Gewalt an Frauen, den wir letzte Woche begangen haben, wieder einmal deutlich gemacht.
Wir begrüßen die geplante bundesweite Einführung
des barrierefreien Frauenhilfetelefons ausdrücklich. Ich
freue mich über die Einstimmigkeit, die wir hier bei dieser
Maßnahme zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erzielen. Das Frauenhilfetelefon wird unter einer bundesweit einheitlichen Nummer erreichbar und rund um die
Uhr besetzt sein. Die Frauen können sich darauf verlassen, dass ihre Anonymität gewahrt ist, und sie können in
ihrer Muttersprache reden. Das Hilfetelefon stellt keine
Konkurrenz dar zu den bereits bestehenden Einrichtungen, die wichtige und hervorragende Arbeit leisten. Vielmehr ist es eine Ergänzung, um noch niedrigschwelligere
Hilfe zu gewährleisten. Die Erstberatung durch das Hilfetelefon wird den Frauen eine erste Hilfestellung geben
und ihnen den Weg zu den jeweiligen Unterstützungseinrichtungen vor Ort weisen helfen.
Der Schutz von Frauen vor Gewalt ist Bestandteil der
sozialen Daseinsvorsorge. Die Beratungsstellen und
Frauenhäuser vor Ort leisten eine unverzichtbare und
wertvolle Arbeit. Sie brauchen endlich eine gesicherte
Finanzierung und bundesweit einheitliche Regelungen.
Hier ist die Bundesregierung gefordert, in Zusammenarbeit mit den Ländern Lösungen zu finden. Die zu schaffenden und auszubauenden Schutz- und Unterstützungseinrichtungen müssen dabei auch die besondere
Situation von Frauen mit Behinderungen, wie bereits
ausgeführt, aber auch die Situation von Migrantinnen
berücksichtigen.
Das Frauenhilfetelefon ist Bestandteil der Umsetzung
europäischer Vorgaben zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Hier ist viel bereits geschafft worden in Deutschland. Aber es ist auch noch viel zu tun. Besonders der
Europarat - ich bin Mitglied der Parlamentarischen
Versammlung des Europarats - ist bei dem Thema
Schutz von Frauen vor Gewalt vorbildlich aktiv. Er hat
eine Konvention erarbeitet, die inzwischen von 17 Staaten unterzeichnet wurde.
Es wird höchste Zeit, dass Deutschland die Konvention des Europarats gegen Gewalt an Frauen ratifiziert
und umsetzt. Das Abkommen schafft einen übergreifenden rechtlichen Rahmen zur Bekämpfung von Gewalt
und beschreibt auch konkrete Maßnahmen.
Der Europarat hat auch eine wie ich finde sehr gute
Kampagne zum Thema Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt gestartet. Als Kontaktparlamentarierin der
Kampagne für Deutschland würde ich mich sehr freuen,
wenn wir als Abgeordnete, wenn dieses Parlament die
Kampagne aktiv unterstützen würde.
In Deutschland haben wir schon viel erreicht in Sachen Schutz von Frauen vor Gewalt, sowohl was die Gesetzgebung angeht als auch die Arbeit von Beratungseinrichtungen und Frauenhäusern vor Ort. Ich danke
allen herzlich für die gute Arbeit und besonders dafür,
dass wir hier parteiübergreifend zusammenarbeiten, im
Sinne der betroffenen Frauen.
Am 30. November 2011 haben alle Fraktionen im
Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend geschlossen für das Hilfetelefongesetz votiert.
Dies ist ein gutes Signal für die Betroffenen und ein
wichtiger Schritt, häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe gegen Frauen konsequent zu bekämpfen. Mit der
Einrichtung des bundesweiten Hilfetelefons für von Gewalt betroffene Frauen setzen wir nicht nur eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag um, sondern leisten
auch einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen. Die Hotline
hilft Frauen, die geschlagen und misshandelt oder vergewaltigt werden, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden.
Als Familienanwältin kenne ich die Dimensionen
häuslicher Gewalt mit all ihren auch langfristigen Wirkungen, nicht nur auf die Frauen selbst, sondern auch
auf ihre Kinder. Alle Formen von Gewalt sind mit zum
Teil erheblichen gesundheitlichen, psychischen und psychosozialen Folgen verbunden. Dies verursacht erhebliche Folgekosten im Gesundheitssystem, in den Sozialsystemen, den Einrichtungen der Kinder- und
Jugendhilfe und im öffentlichen Dienst.
Opfer häuslicher Gewalt brauchen schnelle, unbürokratische und niedrigschwellige Hilfe, die jederzeit und
ohne großen Aufwand anonym genutzt werden kann.
Das zentrale Hilfetelefon wendet sich an gewaltbetroffene Frauen und Personen aus deren sozialem Umfeld,
die durch eine erste Beratung und eine Weitervermittlung an Unterstützungseinrichtungen vor Ort Zugang
zum Hilfesystem erlangen. Mit dem Hilfetelefon werden
insbesondere Frauen erreicht, die bisher nicht oder sehr
spät in kommunalen Hilfeeinrichtungen angekommen
sind.
Entscheidend für Frauen in einer Gewaltsituation ist,
dass sie sich an eine qualifizierte Vertrauensperson wenden können. In besonderem Maße gilt dies für Opfer von
Menschenhandel, Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung oder für Frauen, die aufgrund einer Behinderung eingeschränkt sind, aber auch für Migrantinnen,
die der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend
mächtig sind. Diese bestehenden Barrieren halten
betroffene Gewaltopfer fast immer davon ab, sich nach
außen zu wenden.
Genau dieser schwer erreichbaren Zielgruppe - nämlich Frauen mit Behinderung, Migrantinnen oder auch
älteren Frauen - wird der Weg ins Hilfesystem durch die
barrierefreie, mehrsprachige und standortunabhängige
Inanspruchnahme des Hilfetelefons, das rund um die
Uhr erreichbar ist, geebnet.
Untersuchungen zufolge werden circa 80 Prozent der
Betroffenen von den bestehenden Hilfestrukturen nicht
oder nicht früh genug erreicht. Sie sind entweder wenig
oder nicht bekannt oder nur zu begrenzten Öffnungszeiten erreichbar. Wir müssen nun dafür sorgen, dass das
Zu Protokoll gegebene Reden
Hilfetelefon mittels nachhaltiger Öffentlichkeitsarbeit
bundesweit bekannt wird. Es darf in Zukunft den Fall
nicht mehr geben, dass eine von Gewalt betroffene Frau
aufgrund der üblichen Öffnungs- und Telefonzeiten von
Unterstützungseinrichtungen vor Ort keine qualifizierte
Hilfe erreicht. Gewaltopfer müssen wissen, dass sie sich
jederzeit, entgeltfrei, mehrsprachig und barrierefrei an
die Hotline wenden können.
Abschließend möchte ich ein mir besonders am Herzen liegendes Thema ansprechen: Die Finanzierung von
Frauenhäusern. Das Hilfetelefon ist ein wichtiger erster
Schritt der Kontaktaufnahme und kann somit eine Brücke zu bestehenden Hilfeangeboten bauen. Gerade deswegen müssen wir jetzt in besonderem Maße auch diese
Beratungs- und Hilfeeinrichtungen in den Blick nehmen.
Wir müssen, um die kommunalen Angebote zu stärken,
eine Lösung für eine nachhaltige Finanzierung von
Frauenhäusern finden, die bundesweit einheitlich geregelt ist. Opfer von familiärer Gewalt brauchen sichere
Zufluchtsorte. Wir müssen dafür sorgen, dass diese
Schutzräume langfristig finanziell abgesichert werden.
Die Einrichtung eines bundesweit erreichbaren, kostenlosen und rund um die Uhr besetzten Hilfetelefons ist
eine richtige Maßnahme, um möglichst viele Betroffene
an die Hilfeeinrichtungen in Wohnortnähe weiterzuleiten. Damit kann eine Lücke im bestehenden Unterstützungssystem für von Gewalt Betroffene geschlossen werden. Die bedrückende Zahl, dass 80 Prozent der von
Gewalt betroffenen Frauen bisher in keine der bestehenden Hilfenetze vermittelt werden können, spricht für sich
selber. Darin sind sich wohl alle hier im Hause ebenso
wie auch die Vertreterinnen der Schutz- und Hilfseinrichtungen vor Ort einig.
Die Implementierung des Hilfetelefons muss aber von
einer Reihe von Maßnahmen begleitet werden, die in der
vorliegenden Gesetzesvorlage leider nicht vorkommen.
So sollten vor der Inbetriebnahme exakte Standards festgelegt werden, die sich an denen der vorhandenen Notrufe orientieren. Denn wenn dieses Hilfetelefon einen
Lotsencharakter haben soll, also an die richtige Stelle
weiterleiten und zugleich für die gesamte Bandbreite der
Gewaltfälle zuständig sein soll, brauchen wir Konkretisierungen und entsprechende Standards.
Das Hilfetelefon soll in folgenden Fällen weiterhelfen durch weiterleiten: im Falle häuslicher Gewalt, im
Falle von Gewalt außerhalb von Beziehungen, im Falle
sexualisierter Gewalt, bei Stalking, Zwangsheirat, Gewalt im Namen der „Ehre“, Genitalverstümmelung,
Zwangsprostitution, Gewalt an Migrantinnen, an
Frauen mit Behinderungen sowie älteren Frauen und
andere Gewaltfälle gegen Frauen. An das Hilfetelefon
sollen sich sowohl die direkt Betroffenen wenden können, aber auch Nachbarn, Familienangehörige, Ärzte,
Lehrerinnen, alle diejenigen, die versuchen zu unterstützen und dafür Rat brauchen.
Das setzt umfangreiche Datenbanken voraus, damit
die Frauen bei den unterschiedlichen Schutz- und Hilfeeinrichtungen vor Ort auch tatsächlich ankommen. Die
einzustellenden Fachkräfte müssen entsprechend qualifiziert sein, Angebote für unterschiedliche Behinderungsarten und mehrere Sprachen abdecken. Da reicht
eine Call-Center-Erfahrung nicht aus. Sollten die Anrufe den Umfang erreichen, den die Bundesregierung
prognostiziert - also 700 täglich -, dann ist uns allen
auch jetzt schon klar, dass das heute existierende Hilfesystem finanziell und personell besser ausgestattet werden muss. Es bietet bereits heute nicht genügend Räume,
Personal und Ausstattung, um wirklich allen zu helfen.
Melden sich mehr, braucht es auch mehr Angebote. Das
ist eine einfache Rechnung.
Ein weiterer Punkt muss in der Umsetzung noch
nachgebessert werden: die geplanten Sprachangebote.
Hier will die Bundesregierung der europäischen Richtlinie folgen und lediglich Übersetzungen für Englisch,
Türkisch und Russisch anbieten. Aber dieses Angebot
greift zu kurz. Ich habe eingangs auf die Vielzahl der Gewaltformen verwiesen, für die die Notrufnummer zuständig sein soll. Dazu gehört auch Zwangsprostitution, die
ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat. In
der Bundesrepublik haben wir es mit einer Welle von
zwangsprostituierten Roma aus Rumänien, Bulgarien
und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern zu
tun. Für sie brauchen wir ebenso dringend das Hilfetelefon. Ihre Sprachen müssen im Angebot enthalten sein.
Auch die Vertreterinnen von Frauen mit Behinderung
äußern sich kritisch zum bisherigen Notrufkonzept der
Bundesregierung. Weil für die Umsetzung immer noch
unklar ist, ob wirklich alle Frauen mit Behinderungen
das Nothilfetelefon auch nutzen können. Dies würde
nämlich erfordern, dass für jede Behinderungsart eine
adäquate Nutzungsmöglichkeit bereitgestellt werden
müsste. Es reicht eben nicht, gehörlosen Frauen mitzuteilen, sie könnten ja ein Faxgerät benutzen.
Es geht außerdem um die Befähigung der Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen am Telefon, auf verschiedene Behinderungsarten auch angemessen zu
reagieren. Einen Schwerpunkt bildet die „einfache
Sprache“ - die Fähigkeit, komplexe Inhalte in einfache
Sprachformen für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu
„übersetzen“. Frauen mit solcher Behinderung sind
- ähnlich wie gehörlose Frauen - in besonders hohem
Masse von Gewalt betroffen.
Meine Gespräche mit Vertreterinnen der Hilfesysteme
haben die Forderungen nach einer begleitenden Evaluierung unter Beteiligung der bestehenden Hilfenetze,
unter anderem Frauenhäuser, Beratungsstellen, Hilfetelefone, bestätigt. Nach einer Anlaufzeit des bundesweiten Hilfetelefons, aber nicht später als ein Jahr nach
dem Start, sollte ein erneuter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Schutz- und Hilfeeinrichtungen
vorgelegt werden. Die Einrichtungen vor Ort müssen
von Anfang an in die Überlegungen zur Umsetzung des
Hilfetelefons einbezogen werden. Denn noch einmal:
Dieses Hilfetelefon wird einen Lotsencharakter haben.
Die eigentliche Hilfe muss vor Ort geleistet werden und
gesichert sein.
Innerhalb der EU gibt es die Forderung, dass eine international besetzte, unabhängige Expertengruppe die
Zu Protokoll gegebene Reden
Umsetzung der Hilfetelefone auf der nationalen Ebene
überwachen soll. Dieser Forderung schließt sich die
Linke an. Nach all dem Gesagten wird deutlich, dass die
im Gesetz vorgesehene Evaluierung des Hilfetelefons
nach fünf Jahren völlig an der Realität vorbei geht. Bereits in der Einführungsphase ist eine wissenschaftliche
Begleitung notwendig, damit rechtzeitig Schwachstellen
erkannt und beseitigt werden können. Die Evaluierung
muss sich auf das gesamte Hilfesystem erstrecken und
sollte nicht nur das zentrale Hilfetelefon abdecken.
Die Bundesregierung muss also trotz der im Gesetzentwurf erkennbaren guten Absicht noch deutlich nacharbeiten. Damit sollte sie schnell beginnen, damit die
dringend nötige Hilfe dann 2013 auch in vollem Umfang
geleistet werden kann.
Jedes Jahr fliehen in Deutschland etwa 40 000
Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt in eines der
etwa 360 Frauenhäuser. Jede vierte in Deutschland lebende Frau hat körperliche oder sexuelle Gewalt durch
aktuelle oder frühere Partner erlebt. 60 Prozent der Betroffenen leben mit Kindern zusammen. Häusliche Gewalt ist die häufigste Ursache für Verletzungen bei
Frauen, häufiger als Verkehrsunfälle, Überfälle und
Vergewaltigungen zusammen. Diese Zahlen machen
deutlich: Gewalt gegen Frauen ist kein individuelles,
sondern ein gesellschaftliches Problem.
Gewaltfreiheit gehört zu den zentralen Grundwerten
des menschlichen Zusammenlebens. Die Ausübung von
Gewalt verletzt Menschen in ihren verfassungsmäßig
verbürgten Grundrechten und beschränkt sie in ihrer
Entfaltung und Lebensgestaltung. Es ist Aufgabe des
Staates, Gewalt gegen Frauen auch im sozialen Nahraum zu verhindern, ihr vorzubeugen und für Schutz und
Hilfe für die Opfer zu sorgen. Wir sind uns einig: Die
Einrichtung des Hilfetelefons ist richtig.
Ich möchte an dieser Stelle jedoch noch einmal darauf hinweisen, dass eine gute Umsetzung nur in Zusammenarbeit mit den Fachfrauen aus den bereits bestehenden Notrufen und Beratungsstellen gelingen kann. Die
Besetzung des Beirats muss nun zügig angegangen werden, damit die Fachfrauen die Umsetzung des Gesetzes
aktiv mitgestalten können. Es muss abgesprochen werden, wie das Hilfetelefon qualitativ ausgestaltet werden
muss, welche Aspekte die Evaluation beinhalten soll und
wie das Ziel erreicht wird, das Telefon bundesweit bekannt zu machen.
Ich finde es richtig, dass der Bund im Sinne der öffentlichen Fürsorge die Kosten der Einrichtung des Hilfetelefons übernimmt. Der Bund ist zuständig und darf
die Länder damit nicht alleine lassen. Unklar bleibt bisher jedoch, wer die Folgekosten trägt.
Die Schutzräume und Beratungsstellen sind von zentraler Bedeutung für den nachhaltigen Erfolg des neuen
Angebots des Hilfetelefons. Die Kommunikation mit den
Ländern muss deutlich verbessert werden, damit es nicht
zu Kürzungen bei den Hilfeeinrichtungen vor Ort
kommt. Lokale Strukturen müssen erhalten bleiben, da
der Hilfebedarf bei erfolgreicher Umsetzung des Hilfetelefonangebots steigen wird. Denn das Bundesangebot
ist auf eine Erstberatung ausgerichtet, es vermittelt an
die lokalen Angebote. Damit sich die Situation nachhaltig verbessern kann, müssen Länder und Kommunen die
Mittel aufstocken, anstatt etwa mit Verweis auf das vom
Bund geschaffene Angebot Einsparungen vorzunehmen.
Der Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt darf
nicht von Fragen der Finanzierung abhängen. Noch immer sind die Frauenhäuser nicht durchgehend finanziell
abgesichert. Das trägt dazu bei, dass Opfern häuslicher
Gewalt nicht immer und überall ein unmittelbarer und
freier Zugang zu einem Frauenhaus gewährleistet werden kann.
In schwierigen Haushaltszeiten wird an freiwilligen
Zuschüssen gespart. Dort, wo der Aufenthalt über Tagessätze finanziert wird, haben manche Frauen mangels
Anspruch auf soziale Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch, SGB II, nur unter großem bürokratischem Aufwand Zugang zu einem Frauenhaus. Dies betrifft volljährige Schülerinnen, Studentinnen und
Auszubildende, wenn sie den Tagessatz nicht selbst aufbringen können. Auch Migrantinnen mit einer räumlichen Beschränkung müssen viele Barrieren überwinden,
um aus einer gewaltvollen Partnerschaft zu flüchten.
Die aktuell von der Universität Bielefeld vorgelegte
Studie zur Lebenssituation und zu Belastungen von
Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen
macht deutlich, dass diese Gruppe von Frauen bislang
unzureichend vor Gewalt geschützt wird. Insbesondere
Frauen, die in Einrichtungen leben, haben es schwer,
aus Gewaltsituationen zu entkommen. Es bedarf Maßnahmen zur Stärkung des Selbstvertrauens, eines respektvollen Umgangs mit beeinträchtigten Frauen durch
Personen in Ämtern und Hilfeeinrichtungen sowie barrierefreier Unterstützungsangebote. Auch die Mitarbeiterinnen des Hilfetelefons müssen für die besonderen Bedarfe von Frauen mit Behinderungen geschult werden.
Eine Erreichbarkeit zu jeder Zeit muss sichergestellt
werden, da ein nicht durchgegangener Anruf dazu führen kann, dass die Frauen keinen zweiten Anlauf nehmen
oder nehmen können.
Wir sind dazu verpflichtet, uns dafür einzusetzen,
dass Frauen, die von Gewalt betroffen sind, unmittelbare und unbürokratische Hilfen erhalten. Sie dürfen
nicht von Amt zu Amt geschickt werden, um ihren Leistungsanspruch überprüfen zu lassen. Die Tagessatzfinanzierung ist daher grundsätzlich der falsche Weg der
Finanzierung für die Frauenhäuser und Schutzeinrichtungen.
Wir brauchen ein gemeinsames Konzept von Bund,
Ländern und Kommunen, um bundesweit eine qualitativ
hochwertige, bedarfsgerechte Infrastruktur an Hilfeangeboten, zu der alle von häuslicher Gewalt betroffenen
Frauen freien Zugang haben, sicherzustellen. Dieser
Appell richtet sich vor allem an die Regierung. Die Opposition ist seit langem bereit, über eine strukturelle Novellierung der Finanzierung der Frauenhäuser zu sprechen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Legen Sie den lang angekündigten Bericht zur Lage
der Frauenhäuser vor! Dann können wir gemeinsam ein
Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen
angehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8008, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/7238 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind alle Mitglieder des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({0}), Peter Altmaier, Dorothee
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia
Winterstein, Burkhardt Müller-Sönksen, Gabriele
Molitor, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten - Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte
- Drucksache 17/7709 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Kunst und Kultur sind unsere geistige Nahrung. Sie
erweitern den Horizont jedes Einzelnen und tragen zur
Identitätsbildung unserer Bürgerinnen und Bürger und
Gesellschaft bei. Sie bereichern uns mit Lebensmut und
Lebensfreude. Ohne den Zugang zu Kunst und Kultur
wäre das Leben für uns alle ärmer.
Diese Wirkungen gelten ebenso für Menschen mit Behinderungen. In Deutschland leben etwa 9,6 Millionen
Menschen mit einer Behinderung, also mehr als
11,7 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Darunter befinden sich circa 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte
Menschen sowie weitere Millionen gehörlose, schwerhörige und ertaubte Menschen.
Aus Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt sich für uns - und es sollte selbstverständlich sein:
Auch Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf
Zugang zum Angebot an Kunst und Kultur in unserem
Land, ohne Abstriche! Inklusion bedeutet für uns, dass
Kunst und Kultur sich für Menschen mit Behinderungen
ohne Hindernisse erschließen lassen sollen. Das
schließt den Kinofilm ein.
Wir als christlich-liberale Koalition wollen mit unserer Initiative, dass Teilhabe behinderter Menschen auch
bei Film, Kino und den audiovisuellen Medien nicht nur
Theorie bleibt, sondern Wirklichkeit wird.
Die Behindertenbeauftragte meiner Fraktion, Maria
Michalk, hat den Film und das Fernsehen als notwendigen Bestandteil der barrierefreien Organisation unserer
Gesellschaft bezeichnet: „Barrierefreiheit bezieht sich
nicht nur auf bauliche Vorhaben, sondern auch auf barrierefreie Kommunikation, auf ein barrierefreies Filmund Fernsehangebot sowie ein barrierefreies Internet.“
Für blinde und sehbehinderte Menschen bietet sich
als Instrument der Barrierefreiheit von Kinofilmen die
Audiodeskription an, für hörbehinderte Menschen die
Untertitelung.
Die Audiodeskription eines 90-Minuten-Films kostet
circa 5 000 Euro. Die durchschnittlichen Untertitelungskosten betragen bei einem entsprechenden Film
circa 1 000 Euro. Gemessen an den Produktionsbudgets
vieler Kinofilme sind dies sehr kleine Summen. Der
Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben die
Notwendigkeit der barrierefreien Ausstattung bereits in
der Vergangenheit erkannt.
Die fünfte Novelle des Filmförderungsgesetzes, FFG,
von 2009 sieht Förderungshilfen für Filme mit deutscher
Audiodeskription und mit deutschen Untertiteln vor, so
haben wir es von der Union gewollt. Dadurch sollte ein
Anreiz für das barrierefreie Abspielen für Seh- und Hörbehinderte geschaffen werden - § 15 Abs. 1 Nr. 6 lit. h.
FFG. Die Herstellung einer Endfassung mit einer deutschen Audiodeskription und einer Untertitelung kann als
eines von drei notwendigen Kriterien herangezogen
werden, die für den kulturellen Eigenschaftstest erfüllt
sein müssen.
Nach Aussage der Filmförderungsanstalt, FFA, gibt
es zu dieser Fördermaßnahme noch keine aussagekräftigen Zahlen und keine Nachweise funktionierender Umsetzung. Was bisher ermittelt wurde, gleicht mehr einem
Nullzustand.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband
stellt hierzu fest: „Die Produzenten von Audiodeskriptionen ... können bisher keinen Auftrag für eine Hörfilmproduktion auf die Novellierung des Filmförderungsgesetzes zurückführen, das heißt, dass eine Audiodeskription
für einen Film produziert wurde aufgrund der Nennung
des Kriteriums 6h beim Filmförderantrag. ... Aus unserer Sicht haben die allgemeinen Förderungskriterien des
FFG keine positive Auswirkung auf eine erhöhte Produktion von Audiodeskriptionen.“
Über diese Neuerung in der letzten FFG-Novelle hinaus gibt es Fördermöglichkeiten für praktisch alle
Glieder der Produktions- und Verwertungskette von Fil17536
Wolfgang Börnsen ({0})
men: die Verleihförderung und die Förderung des Video-/
DVD-Bereichs sowie für die Filmtheater.
Was nützt ein barrierefrei ausgestatteter Film, wenn
in den Kinosälen die Kopfhörer für die Übermittlung der
Audiodeskription fehlen?
Zwar hat für Hör- und Sehgeschädigte das Ansehen
von Kinofilmen per DVD oder Video eine besondere Bedeutung, trotzdem sollen auch sie nach unserer Auffassung am Gemeinschaftserlebnis Kino teilhaben können.
Die Resonanz auf alle diese Förderangebote ist jedoch verschwindend gering. Es besteht Handlungsbedarf. Offensichtlich spielen die Kosten eine entscheidende Rolle.
Möglicherweise muss bei allen Akteuren ein entsprechendes Problem- und Bedarfsbewusstsein verbessert
werden. Der Film muss sich stärker öffnen für die Hörund Sehgeschädigten. Im Präsidium der Filmförderungsanstalt haben wir mehrfach auf diese Problematik
hingewiesen und wiederholt für den Ausbau der barrierefreien Angebote plädiert.
Inzwischen haben wir erste positive Resonanzen darauf erhalten.
Wir begrüßen, dass die Allianz Deutscher Produzenten - Film & Fernsehen in einem Rundschreiben bei ihren Mitgliedern dafür geworben hat, dass möglichst
viele Filme entsprechend ausgerüstet werden. Dies lässt
vorsichtig hoffen, dass die Filmwirtschaft nicht nur die
Berechtigung dieses Anliegens von Millionen Hör- oder
Sehgeschädigter im Land anerkennt, sondern dass sie
auch den Nutzen für sich selbst erkannt hat: Sie kann mit
ihren Produktionen deutlich mehr Zuschauer und Zuhörer erreichen. Weitere erste Ansätze gibt es erfreulicherweise schon, unter anderem durch die Berlinale, die regelmäßig Wettbewerbsfilme mit Audiodeskription zeigt,
und durch den Deutschen Hörfilmpreis. Beispielgebend
ist der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung: Er
kooperiert seit 2007 mit der Deutschen Hörfilm gGmbH
und bietet hierbei regelmäßig Hörfilme im Kleisthaus in
Berlin an.
Auch die Rundfunkanstalten, vor allem die öffentlichrechtlichen, sehen wir in der Pflicht. Die Haushalts- und
Betriebsstättenabgabe, die ab dem Jahr 2013 eingeführt
werden soll, werden auch hör- und sehbehinderte Menschen zahlen müssen. Also haben sie auch Anspruch darauf, die öffentlich-rechtlichen Sendungen und Fernsehfilme rezipieren zu können.
Großbritannien erweist sich hier als vorbildlich. Die
britischen Sender haben sich auf eine Hörfilmquote von
20 Prozent verpflichtet. Wir appellieren an die Bundesländer, zusammen mit den Rundfunkanstalten ähnliche
Zielmarken ins Auge zu fassen.
Wir erkennen an, dass es auch hier erste Bewegung
gibt. Die Ankündigung der ARD vom September dieses
Jahres, wonach bis 2013 alle Erstsendungen mit Untertiteln versehen werden sollen, werden wir auf ihre Realisierung hin überprüfen.
Im Rahmen der bevorstehenden Novellierung des
Filmförderungsgesetzes müssen wir ein besonderes Augenmerk auf den barrierefreien Film legen.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bereits eine Prüfung angekündigt
hat, ob die Erleichterung der Förderbedingungen für
barrierefreie Filme zu einer Steigerung des Angebots geführt hat. Sollte sich in der Tat keine Ausweitung des
barrierefreien Angebots zeigen, sind im Gesetzentwurf
für die nächste FFG-Novelle entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Wir haben in unserem Antrag verschiedene Handlungsoptionen aufgezeigt. So sollte geprüft werden, ob
Kinos für Investitionen in die barrierefreie Ausstattung
ihrer Säle Ermäßigungen ihrer Abgabe an die Filmförderungsanstalt erhalten können. Außerdem könnten geförderte Filmproduktionen ab einer bestimmten Förderhöhe zur barrierefreien Ausstattung des Films
verpflichtet werden. Ziel sollte es sein, eine Regelung zu
finden, die den Bedürfnissen von seh- und hörbehinderten Kinobesuchern besser gerecht wird.
Darüber hinausgehende Perspektiven zeigt der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Hubert
Hüppe auf: „Neben mehr Hörfilmen im Fernsehen und
im Kino muss auch das Angebot an Filmen und Sendungen in leichter Sprache und mit Untertitelungen ausgebaut werden. Außerdem sind Angebote in Gebärdensprache immer noch äußerst rar. Wer wirksame Teilhabe
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention will,
kann den derzeitigen Zustand nicht einfach akzeptieren“.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband
hat im Oktober 2011 unter seiner Präsidentin Renate
Reymann eine Resolution „Mehr Barrierefreiheit in
Film und Fernsehen“ verabschiedet. Ihre anerkennenswerten Vorschläge werden in unsere weiteren Beratungen mit einfließen.
Wir betreten mit unserer nationalen Initiative Neuland. Denn wir haben eine Rechercheumfrage in einer
Vielzahl europäischer Staaten unternommen: Diese Umfrage ergab, dass kein europäisches Land bei der Normsetzung zur barrierefreien Ausstattung von Kinofilmen
weiter vorangeschritten ist als Deutschland.
Auch die Europäische Union ist über unverbindliche
Empfehlungen der EU-Kommission bislang nicht hinausgegangen. Kein akzeptabler Zustand!
Mit dem vorliegenden Antrag verfolgen wir das Ziel,
alle Beteiligten stärker für die Notwendigkeit der barrierefreien Ausstattung von Filmen zu sensibilisieren. Die
Filmbranche ist aufgerufen, dem Geist der 2009 in das
FFG aufgenommenen Förderhilfen stärker gerecht zu
werden, den Briefen Taten folgen zu lassen.
Der vorliegende Antrag ist auch eine Einladung an
die anderen Fraktionen, dieser Initiative beizutreten,
denn warum sollten wir nicht gemeinsam für mehr Partizipation sorgen!
Zu Protokoll gegebene Reden
„Deutschland wird inklusiv“ - so heißt die Dachkampagne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention der Bundesregierung. Das Schwerpunktthema in
diesem Jahr ist Arbeit und Barrierefreiheit.
Die Kampagne macht mit sehr eindrücklichen Bildern zum Beispiel von unerreichbaren Geldautomaten
darauf aufmerksam, dass man „einfach alles erreichbar“ machen kann. Alle, die keinerlei Behinderungen
haben, vergessen sehr leicht, wie beschwerlich der Weg
durch eine Stadt mit einem Rollstuhl sein kann. Erst
wenn man Eltern wird, wird man ansatzweise daran erinnert, steht man mit Kinderwagen und vollen Einkaufstaschen vor einer endlosen Treppe.
Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich in einer
alltäglichen Situation daran erinnert wurde, wie es ist,
einen wunderbaren Film nicht sehen zu können. Ich begann den Oscar-nominierten Film von Caroline Link
„Jenseits der Stille“ zu Hause an meinem Fernseher anzusehen. Die Einstellungen waren aus irgendwelchen
Gründen automatisch so, dass die Audiodeskription eingeschaltet war. Im ersten Moment dachte ich, es gehöre
zu dem Film dazu, die Beschreibung der mündlichen
Szenerie war einfach wunderschön und sehr exakt. Nach
einer Weile schaltete ich dann die Audiodeskription aus,
aber ich musste noch oft daran denken, welch einmalige
Filmerlebnisse sehbehinderte Menschen mit anderen
Menschen auch im Kino würden teilen können, gäbe es
nur regelmäßig das Angebot dazu.
Die Digitalisierung der Kinos bietet dazu derzeit eine
einmalige Chance. Ich danke dem BKM, der Filmwirtschaft, der FFA, dem Bund und den Ländern ausdrücklich für das gemeinsame Förderprogramm zur Digitalisierung der Kinos und bitte darum, dass die
Förderungsrichtlinien der Filmförderungsgesellschaften in dieser Hinsicht um verpflichtende Richtlinien zur
Barrierefreiheit ergänzt werden ({0}). Der Bundestag hat beschlossen, dass hierfür im Jahr 2010, dieses Jahr und auch
2012 jeweils vier Millionen Euro bereitgestellt werden.
Dabei kann auch die technische Voraussetzung für
die Filmvorführungen mit Audiodeskription in Kinos geschaffen werden. Durch diese simple technische Voraussetzung ({1}) und natürlich durch ein großes Filmangebot mit Audiodeskription würden wir vielen sehbehinderten Menschen ein „inklusives“ Filmerlebnis ermöglichen. Das ist natürlich nur ein Teil des barrierefreien Filmangebots. Angebote mit Gebärdensprache
sowie mit deutschen Untertiteln und in einfacher Sprache müssen ebenso ausgebaut werden.
Hier sind besonders die öffentlich-rechtlichen Sender
gefordert und kommen dem auch bereits teilweise nach.
Auch durch den einfachen Schritt der Überarbeitung der
Brandschutzverordnungen können wir Rollstuhlfahrern
auch in Gruppen den barrierefreien Kinogenuss ermöglichen.
Unser gemeinsames Ziel muss es schlichtweg sein,
mehr Bewusstsein für die Problematik zu schaffen. Der
Zeitpunkt ist durch die Digitalisierung der Kinos und
durch die Umstellung auf die Haushalts- und Betriebsstättenabgabe günstig. Ich würde mich daher sehr
freuen, wenn das Haus gemeinsam für unseren Antrag
stimmen würde, damit Deutschland ein „inklusives“
Land wird, das viele gemeinsame ({2})Erlebnisse ermöglicht.
Filme sind ein zentraler Bestandteil unseres kulturellen Lebens. Sie sind Gesprächsstoff am Arbeitsplatz, in
der Familie und im Freundeskreis. Mitreden können
über Filme, das wollen auch Menschen, die sinnesbehindert sind. Und dabei handelt es sich nicht um eine kleine
Minderheit.
Bei uns in Deutschland sind circa 1,2 Millionen Menschen sehbehindert oder blind sowie ebenso viele
schwerhörig oder gehörlos. Und sie wollen beim Film
auch mitfiebern, mitleiden und mitlieben können. Hörfilme machen das möglich und Filme mit Untertitelung
auch. Aber davon gibt es leider immer noch viel zu wenige. Gerade bei den aktuellen Produktionen ist dieser
Mangel zu beklagen.
Dieser Situation widerspricht Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention, die klipp und klar „die volle
und wirksame Teilhabe am kulturellen Leben“ fordert.
Heute Vormittag haben wir hier bereits über die Forderung der SPD nach Umsetzung der UN-Konvention in
allen Lebensbereichen beraten.
Es gibt einige wunderbare Initiativen, wie den alljährlichen Hörfilmpreis, vergeben vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. Hier bin ich regelmäßig dabei und kann erfahren, mit welcher Begeisterung
die barrierefreien Filmpräsentationen aufgenommen
werden. Oder es gibt den LUX-Filmpreis des Europäischen Parlamentes. Damit ist die Finanzierung der Erstellung einer Fassung für hör- und sehbehinderte Menschen verbunden. Jedem Mitgliedsland wird eine
entsprechende Kopie bereitgestellt und die Verbreitung
auf DVD gefördert. Der prämierte Film geht anschließend auf Tournee durch die Mitgliedsländer. Preisträger
war im vergangenen Jahr die herausragende deutsche
Produktion „Die Fremde“, die auch den Deutschen
Filmpreis bekommen hat. Dieser Film wurde im Sommer
in Berlin in bearbeiteter Fassung präsentiert.
Solche Initiativen sind schon deshalb wichtig, weil sie
das Problembewusstsein schärfen und auf den drängenden Handlungsbedarf hinweisen. Als wir vor drei Jahren
das Filmförderungsgesetz novelliert haben, haben wir
bei der Produktionsförderung im § 15 FFG gemeinsam
beschlossen, dass wenigstens eine Endfassung eines geförderten Films in einer Version mit deutscher Audiodeskription für Sehbehinderte und mit deutschen Untertiteln für Hörgeschädigte hergestellt wird. Allerdings
war dies eine von acht Bedingungen, von denen drei erfüllt sein müssen, damit Fördergelder fließen. In der
Praxis haben die Produzenten dann eher andere Voraussetzungen gewählt. Ich hatte da, ehrlich gesagt, auch ein
wenig darauf gesetzt, dass in der Filmbranche an dieser
Stelle auch ein Stück gesellschaftspolitische VerantworZu Protokoll gegebene Reden
tung zugunsten von barrierefreien Filmfassungen wahrgenommen wird. Bin aber leider enttäuscht worden.
Ich selbst habe mich an den Vorstand der Filmförderungsanstalt gewandt, um zu erfahren, für wie viele
geförderte Filme eine Endfassung mit einer deutschen
Audiodeskription und einer Untertitelung hergestellt
worden sind. Auch wenn es dazu noch keine aussagekräftigen Zahlen gibt, deutet doch alles darauf hin, dass
sich kaum ein Produzent für die Bedingung der Erstellung einer barrierefreien Filmfassung entschieden hat.
Hier müssen wir nachlegen. Die Förderbedingung ist
ganz offensichtlich zu weich formuliert. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert eine klare Regelung, die nicht
mehr zu umgehen ist. Wir werden auch die Länderförderer auffordern, ähnlich zu verfahren. Auch die Fördermöglichkeiten für Untertitelung und Audiodeskription in
der Verleih- und Videoförderung haben bisher keine
wirkliche Verbesserung der Situation gebracht, weil einfach viel zu wenig Gebrauch gemacht wird davon. Das
Gleiche gilt für Förderung von Modernisierungsmaßnahmen im Rahmen der Kinoförderung nach dem FFG.
Danach kann theoretisch der Umbau von Kinos zum
Einbau von Induktionsschleifen für den Einsatz von
Kopfhörern für hörgeschädigte Menschen gefördert
werden. Auch diese Fördermöglichkeit wird kaum genutzt. Auch hier müssen wir Anreize schaffen, damit
wirklich etwas passiert.
Wenn bisher immer das Kostenargument als größtes
Hindernis vorgebracht wurde, dann eröffnen sich mit
der Digitalisierung doch jetzt ganz neue Möglichkeiten.
Demnächst wird es in der Regel nur noch digitale Endfassungen von Filmen geben. Mit der digitalen Filmdistribution und digitalen Filmvorführung müssen nicht
mehr aufwendig einzelne barrierefreie Kopien gefertigt
werden, sondern jeder Film kann kostengünstig digital
sowohl mit Audiodeskription als auch Untertitelung versehen werden. Dieses Angebot kann dann nach Belieben
aktiviert werden. Deshalb fordern wir, dass sich diese
neuen Möglichkeiten auch in den verschiedenen Förderrichtlinien niederschlagen.
Das neue Filmförderungsgesetz wird ab 2014 in Kraft
treten. Wir bereiten es jetzt vor, aber das dauert. Wir
sollten jetzt prüfen, ob wir nicht schon vorher Übergangsregelungen - etwa über untergesetzliche Richtlinienänderungen - finden können. Ich bin dafür!
Die SPD-Bundestagsfraktion erarbeitet derzeit einen
Antrag, mit dem wir den Handlungsbedarf für den gesamten Kultur- und Medienbereich aufzeigen, der sich
aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen ergibt. Darin fordern wir konkrete
Maßnahmen, die einen gleichberechtigten Zugang von
Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und
Kommunikation sicherstellen. Auch unsere Forderungen
zum Filmbereich finden sich hier. Ganz wichtig: Die
nötigen Anpassung gehen über das Filmförderungsgesetz hinaus. Denn die Anreize für barrierefreie Filme
müssen sich im gesamten Filmförderungssystem niederschlagen. Auf die Länderförderer bin ich schon eingegangen. Auf Bundesebene müssen auch für den Deutschen Filmförderfonds die entsprechende Richtlinien
verbindlich werden. Ebenso muss das in der kulturellen
Filmförderung in der Zuständigkeit des Kulturstaatsministers umgesetzt werden.
Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
bleibt da viel zu zögerlich. Die Analyse ist zwar richtig,
aber die angemessenen Schlussfolgerungen werden
nicht gezogen. Wenn wir hier wirklich etwas ändern
wollen, dann brauchen wir nur zu handeln. Der Koalitionsantrag beschränkt sich nur auf das Filmförderungsgesetz. Wir müssen aber alle Förderungsinstrumente in den Blick nehmen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir uns in den anschließenden Ausschussberatungen hier einander annähern.
Denn im Ziel sind wir uns doch einig: Wir wollen mehr
Filme mit Audiodeskription und Untertitelung. Ich wünsche mir, dass wir im Interesse unserer sehbehinderten
und hörgeschädigten Mitbürger zu einer gemeinsamen
Beschlussempfehlung kommen können. Die SPD-Bundestagsfraktion ist dazu bereit.
Wir alle sehen gerne Filme. Einige gehen gerne ins
Kino, andere wiederum genießen Filme zu Hause auf
Blu-ray, DVD oder im Fernsehen.
Circa 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen sowie weitere Millionen gehörlose, schwerhörige
und ertaubte Menschen in Deutschland können das Filmerlebnis nur eingeschränkt erleben, da das Angebot
von barrierefreien Filmen in Deutschland bisher leider
sehr gering ist. Aus Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt sich, dass Kunst und Kultur sich ohne
Abstriche auch für Menschen mit Behinderungen erschließen lassen müssen. Das schließt den Film mit ein.
Die technischen Errungenschaften vereinfachen es,
Filme teilhabegerecht zu gestalten. Insbesondere die Digitalisierung der Kinos kann dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für den barrierefreien Film zu verbessern. Durch den Einsatz von Audiodeskription und
Untertitelung können auch Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen am Erlebnis Film teilhaben.
Die Audiodeskription ist eine akustische Bildbeschreibung, mit deren Hilfe Blinden und sehbehinderten
Menschen eine verbesserte Wahrnehmung ermöglicht
wird. In kurzen Worten werden handlungstragende, visuelle Elemente wie Szenerie, Gestik und Mimik beschrieben. Der Text wird sprachlich genau fixiert und in den
Dialogpausen eingesprochen. Die Untertitelung für
Gehörgeschädigte beschreibt zusätzlich zu den sprachlichen Inhalten auch Umgebungsgeräusche im Bild. Zudem können durch die Einfärbung der Untertitel die
Texte den jeweiligen Hauptcharakteren zugeordnet werden.
Diese Hilfsmittel können eingesetzt werden, ohne
dass die übrigen Kinobesucher davon etwas mitbekommen. Durch eine Kinobrille, welche die Untertitelung
des Filmes nur dem Brillenträger anzeigt, oder durch
die Benutzung eines Kopfhörers, der die Audiodeskription einzig dem Hörer vermittelt, kann auf Sondervorstellungen im Kino verzichtet werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Handlungsbedarf haben der Deutsche Bundestag und
die Bundesregierung bereits in der Vergangenheit gesehen. So existiert bereits eine Reihe von Fördermöglichkeiten für barrierefrei produzierte Filme: Das FFG sieht
Förderungsmöglichkeiten für programmfüllende Filme
mit deutscher Audiodeskription und mit deutschen Untertiteln für Menschen mit Hörbehinderungen vor.
Ebenso sind die Kosten für die Herstellung von ausführlicher Untertitelung oder von Audiodeskription sowohl
im Rahmen der Verleihförderung als auch im Rahmen
der Videoförderung nach dem FFG anerkennungsfähig.
Dennoch ist die Anzahl der bisher produzierten barrierefreien Filme sehr gering. Auch die Förderungsmittel,
welche für die barrierefreie Ausstattung von Kinosälen
für Hör- und Sehbehinderte gewährt werden können,
sind wenig beantragt worden.
Die gemeinsame Aufgabe liegt nun darin, den barrierefreien Film weiterzuverbreiten und ihn aus seiner
Nische hervorzuholen. Einige Institutionen haben die
Bedeutung und das Potenzial bereits erkannt. Die Berlinale hat seit 1999 jährlich mindestens zwei Filme, darunter auch Wettbewerbsfilme, mit Audiodeskription gezeigt. Insbesondere der Deutsche Hörfilmpreis erbringt
in dieser Hinsicht einen wichtigen Beitrag. Die Deutsche Hörfilm gGmbH leistet im Bereich des barrierefreien Films sehr konstruktive Arbeit.
Mit dem vorliegenden Antrag der christlich-liberalen
Koalition soll bei allen relevanten Akteuren der Filmbranche das schon vorhandene Problem- und Bedarfsbewusstsein noch weiter gesteigert werden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, zu prüfen, ob Kinos für
Investitionen in die barrierefreie Ausstattung ihrer Vorführsäle Ermäßigungen ihrer Abgabe an die Filmförderungsanstalt, FFA, erhalten können. Darüber hinaus ist
zu prüfen, ob geförderte Filmproduktionen ab einer bestimmten Förderhöhe zur barrierefreien Ausstattung des
Films verpflichtet werden können.
Mit der nächsten FFG-Novelle sollte eine Regelung
gefunden werden, deren Ziel es ist, die Bedürfnisse von
seh- und hörbehinderten Kinobesuchern besser einzubeziehen.
Auch die Rundfunkanstalten sehen wir in der Pflicht.
Sie sollen ihr barrierefreies Angebot erweitern. Damit
könnten sie Nutznießer einer wachsenden Zielgruppe
sein.
Die Filmbranche ist aufgerufen, dem Ziel der Förderhilfen stärker gerecht zu werden. Unser Ziel ist es, dass
sich mittelfristig Investitionen in die barrierefreie Ausstattung von Filmen aus dem Markt refinanzieren lassen.
Wir freuen uns auf die gemeinsame Beratung im Ausschuss. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam daran arbeiten, dass jeder von uns in Deutschland Filme uneingeschränkt erleben kann.
Auf meine Frage an die Bundesregierung, welche in
den Jahren 2009 und 2010 mit Bundesmitteln geförderte
Filme barrierefrei - Audiodeskription, Untertitelung
und Gebärdensprache - produziert worden sind und
welche nicht, antwortete der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd
Neumann, am 30. Dezember 2010:
„Die 2009 und 2010 von der Filmförderungsanstalt,
dem Deutschen Filmförderfonds und der kulturellen
Filmförderung des Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien, BKM, geförderten Filme sind
zum überwiegenden Teil noch nicht fertiggestellt. Erst
die sich an die Fertigstellung anschließende Verleihförderung ermöglicht auch eine direkte Förderung barrierefreier Fassungen. Eine genaue Bezifferung der in den
Jahren 2009 und 2010 mit Bundesmitteln geförderten,
barrierefreien Filme ist daher zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht möglich. Im Bereich der Filmförderung ist
auf folgende Maßnahmen der Bundesregierung hinzuweisen:
Das Fünfte Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes, das am 1. Januar 2010 in Kraft getreten ist,
sieht auf Initiative des BKM eine Erleichterung der Förderbedingungen für Filme mit Audiodeskription und
ausführlicher Untertitelung für hörbehinderte Menschen vor. Hierdurch soll ein Anreiz für die Herstellung
barrierefreier Fassungen von Kinofilmen geschaffen
werden. Da der Großteil der deutschen Filme eine Förderung nach dem Filmförderungsgesetz erhält, geht die
Bundesregierung von einer gesteigerten Verfügbarkeit
deutscher Kinofilme mit Audiodeskription und erweiterter Untertitelung aus. Eine verpflichtende Regelung zur
Herstellung barrierefreier Fassungen aller geförderten
Filme wurde auch von den im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens eingebundenen betroffenen Verbänden
nicht als sinnvoll erachtet.
Zudem sind die Kosten für die Herstellung von ausführlicher Untertitelung für hörbehinderte Menschen
oder von Audiodeskription für blinde und sehbehinderte
Menschen sowohl im Rahmen der Verleihförderung als
auch im Rahmen der Videoförderung nach dem Filmförderungsgesetz anerkennungsfähig. Ein Teil der Kosten
für die Erstellung barrierefreier Fassungen von Kinofilmen für die Aufführung im Kino oder die Herausbringung auf DVD können daher über die Förderung
finanziert werden. Als Modernisierungsmaßnahme im
Rahmen der Kinoförderung nach dem Filmförderungsgesetz ist auch der Umbau von Kinos zur Einrichtung
von geeigneten Plätzen für Rollstuhlfahrer oder der Einbau von Induktionsschleifen für hörgeschädigte Menschen förderfähig.
Auch die mit dem Kinoprogrammpreis des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien verbundenen Fördermittel könnten für derartige Maßnahmen
eingesetzt werden.“
Das ist also die - öffentlich für alle zugängliche Antwort der Bundesregierung vor einem Jahr, nun der
grandiose Antrag der Koalitionsfraktionen mit teilweise
wörtlichen Übereinstimmungen - hier ist Abschreiben ja
durchaus erlaubt - und inhaltlich genauso inhaltslos
und allgemeinkonkret. Da dies der einzige in einen Antrag gegossene Beitrag der Koalition am Vorabend des
Welttages der Menschen mit Behinderungen und des
5. Jahrestages der Annahme der BehindertenrechtskonZu Protokoll gegebene Reden
vention in der UNO-Vollversammlung ist, frage ich, inwieweit die Koalition den Geist dieser Menschenrechtskonvention begriffen hat.
Zu Recht verweist die Koalition in ihrem Antrag auf
Art. 30 „Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“, aber es ist zu dieser Thematik
nicht der einzig wichtige Artikel. Grundlage sind auch
Art. 2 bis 5, 8 „Bewusstseinsbildung“, 9 „Barrierefreiheit“, 21 „Recht der freien Meinungsäußerung, Meinungsfreiheit und Zugang zu Informationen“, 24 „Bildung“ und 29 „Teilhabe am politischen und öffentlichen
Leben“. Die Koalition „vergisst“ beim Verweis auf die
UN-Behindertenrechtskonvention, dass zu Beginn jedes
Artikels steht, dass der Staat die nachfolgenden Rechte
zu gewährleisten hat. Es geht also nicht um „sollte“ und
„könnte“, um Prüfaufträge und Bitte-Bitte-Gespräche,
sondern um die Wahrnahme von - spätestens seit dem
26. März 2009 gesetzlich verankerten - Pflichten der
Bundesregierung.
Die Koalition stellt - wie bei allen Maßnahmen für
Menschen mit Behinderungen - auch bei diesem Antrag
unter Punkt II die Formulierung „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der
verfügbaren Haushaltsmittel …“ voran. Nun haben wir
vor einer Woche gerade den Bundeshaushalt 2012 beschlossen, und trotz entsprechender Vorschläge von den
Linken wurden zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, auch in den Bereichen Kultur und Medien, keine nennenswerten Akzente gesetzt. Nichts, was
in diesem Antrag steht, steht nicht auch schon im Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention vom 15. Juni 2011. Wozu
also dieser Antrag? Statt Prüfaufträge brauchen wir
endlich wirksame Maßnahmen. Auch wenn ich mich
wiederhole: Die Linke fordert, dass bei allen Förderungen mit Mitteln der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
die Barrierefreiheit ein verbindliches Kriterium sein
muss. Das heißt auch: keine Förderung einer Filmproduktion, welche nicht auch mit Audiodeskription, Untertitelung und Gebärdensprache produziert wird; keine
Förderung von Filmfestivals und Filmveranstaltungen
mit Filmen, die nicht barrierefrei zur Verfügung stehen,
und keine Förderung von Baumaßnahmen und Investitionen in Kulturstätten, die auch nach der Maßnahme
nicht barrierefrei sind.
Die Linke fordert ein Baurecht in Bund und Ländern,
welches barrierefreies Bauen nicht nur als Empfehlung,
sondern als grundsätzlich zwingende Verpflichtung vorsieht. Die Linke fordert, dass Bundestag und Bundesregierung bei der Bereitstellung barrierefreier Angebote
an Kultur und Information beispielhaft vorangehen. Das
schließt entsprechende Angebote bei der Übertragung
von Sitzungen des Bundestages - auch wenn sie mal
nicht so kulturvoll und inhaltsreich sind - mit ein.
Vor wenigen Monaten hatte ich die große Ehre, der
Jury des Deutschen Hörfilmpreises anzugehören. Dort
habe ich in tief beeindruckender Weise erfahren, welche
Bedeutung der barrierefreie Zugang zu Filmen für
blinde und sehbehinderte Menschen hat. Die Hörfassungen der 2011 mit Preisen ausgezeichneten Filme „Die
Päpstin“, „Lippels Traum“ und „Ganz nah bei Dir“ zeigen beispielhaft, was möglich ist.
Meine erste Reaktion auf diese Juryarbeit war die
Frage, warum das Angebot an barrierefreien Filmen in
Deutschland immer noch so gering ist - auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Denn Hörfilmfassungen können mit einem relativ geringen Aufwand,
mit circa 55 Euro pro Filmminute, erstellt werden. Damit lassen sich Zugangsbarrieren für über eine Million
blinde und sehbehinderte Menschen absenken und ihre
Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe deutlich erweitern. Bei der Untertitelung für hörbehinderte Menschen
fallen die Kosten sogar noch geringer aus.
Weil das Angebot so unzureichend ist, habe ich mich
im März 2011 mit schriftlichen Fragen an die Bundesregierung gewandt und wollte unter anderem wissen, ob
die Erleichterung der Förderbedingungen für Filme mit
Audiodeskriptionen für blinde und sehbehinderte Menschen und für Filme mit ausführlicher Untertitelung für
Hörbehinderte, die die letzte Novelle des Filmfördergesetzes ja vorsieht, zu einer Zunahme des Anteils von barrierefreien Filmen bei den durch Bundesmitteln geförderten Filmen geführt hat. Die Bundesregierung konnte
keine Auskunft geben mit dem Hinweis, dass die in den
Jahren 2009 und 2010 geförderten Filmen zum überwiegenden Teil noch nicht fertiggestellt seien.
Diese Antwort halte ich für unzureichend. Die Bundesregierung hätte ja bei der FFA oder auch bei Firmen
und Institutionen, die mit der Herstellung von barrierefreien Filmen beschäftigt sind, nachfragen können, ob
zumindest eine Tendenz abzusehen ist, was die Wirksamkeit der Neuregelungen im FFG angeht.
Wir haben uns deshalb selbst auf die Suche gemacht mit einem negativen Resultat. Der Deutsche Blindenund Sehbehindertenverband, der einen guten Überblick
in der Sache hat, signalisierte uns, dass so gut wie keine
positiven Tendenzen abzusehen seien. Die wichtigsten
Produzenten von Audiodeskriptionen - DHG, Bayerischer Rundfunk, Hörfilm e. V. - konnten keinen Auftrag
für Audiodeskriptionen und Hörfilmproduktionen auf
die Novellierung des FFG und die Einführung des Förderkriteriums 6 h - Herstellung einer deutschen Audiodeskription und deutschen Untertitelung - zurückführen.
Bei den FFA-Anträgen wird dieses Kriterium wohl auch
nur in ganz wenigen Fällen angekreuzt.
Mit dieser Erkenntnis wandten wir uns dann im Juni
an Herrn Staatsminister Neumann und auch an Herrn
Börnsen von der Unionsfraktion - mit einer deutlichen
Problemanzeige und auch dem Angebot, hier gemeinsam nach einer schnellen und sachgerechten Lösung zu
suchen. Ich freue mich, dass die Regierungskoalition mit
ihrem Antrag, den sie nun einbringt, zumindest andeutet,
dass auch sie hier inzwischen eine Aufgabe sieht und
sich damit - zumindest in der Problemanzeige - in unsere Richtung bewegt. Enttäuschend ist aber, dass der
Antrag sich an vielen Stellen nur mit Prüfaufträgen begnügt. Statt klare Handlungsaufträge zu erteilen, regiert
Zu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
über weite Strecken der Konjunktiv. Das ist nicht ausreichend.
Gut wäre es auch gewesen, zwischen den Fraktionen
koordinierter vorzugehen und einen interfraktionellen
Antrag auszuarbeiten - so wie wir das vorgeschlagen
hatten. Wenn es nun Hinweise aus der Koalition gibt,
dass wir in der weiteren Beratung eine gemeinsame Beschlussempfehlung erarbeiten können, in die dann auch
weitere Anträge und Überlegungen einfließen, dann ist
das ein gutes Signal und wäre auch für uns ein gangbarer Weg. Bedingung wäre allerdings, dass wir bei den
konkreten Handlungsaufträgen weiterkommen.
Wir Grüne wollen rasch mehr barrierefreie Filme und das nicht um Jahre aufschieben, bis Regelungen in
einer kommenden FFG-Novelle greifen. Angesichts der
überschaubaren Kosten und nicht zuletzt auch der
Marktchancen für barrierefreie Filme müsste eine solche rasche Ausweitung des Angebots doch möglich sein!
Deshalb von unserer Seite nochmals ein klares Gesprächsangebot und der Wunsch, gemeinsam nach
schnell wirksamen Lösungen zu suchen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7709 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht
glauben: Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ich weiß, dass wir alle gemeinsam
noch die Kraft hätten, weiter zu beraten.
Dennoch werde ich die Sitzung jetzt beenden und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf
morgen, Freitag, den 2. Dezember 2011, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.