Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich begrüße Sie sehr herzlich. Die Sitzung ist eröffnet.
({0})
- Ich freue mich über den sympathischen und herzlichen
Gruß.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Das Alter hat Zukunft - Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel.
({1})
- Für meine Jahrgänge ist es wichtig, dies festzustellen.
({2})
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, Herr Thomas Rachel. Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages! Das Bundeskabinett
hat heute die vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung - es ist hier federführend tätig - vorgelegte
Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel „Das Alter hat Zukunft“ - der Herr
Präsident hat das bereits zitiert - verabschiedet.
Diese Forschungsagenda schließt an den Demografiebericht der Bundesregierung an, der am 26. Oktober im
Kabinett beschlossen wurde, und markiert einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Demografiestrategie
der Bundesregierung, die voraussichtlich im Frühjahr
2012 vorgestellt wird. Es ist das erste ressortübergreifende Forschungskonzept einer deutschen Bundesregierung zu diesem Thema. Alle bei diesem Thema betroffenen Ressorts waren hier einbezogen.
Wir wissen, dass nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts die Bevölkerung in Deutschland, die
heute rund 81 Millionen Menschen umfasst, bis zum
Jahr 2060 auf 65 Millionen oder 70 Millionen sinken
wird. Zugleich wird allerdings das Durchschnittsalter
der Bevölkerung zunehmen. Beträgt heute der Anteil der
über 65-Jährigen rund 21 Prozent, so wird der Anteil der
65-Jährigen und Älteren im Jahr 2060 bereits bei 34 Prozent liegen.
Der Bevölkerungsrückgang auf der einen Seite und
die Änderung der Altersstruktur auf der anderen Seite
lassen sich natürlich nur wenig beeinflussen. Wir müssen jedoch die Umstände der demografischen Veränderungen aktiv gestalten. Die Politik kann gemeinsam mit
Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft die Bedingungen dafür schaffen, dass sich Wohlstand und gesellschaftlicher Zusammenhalt auch unter sich verändernden demografischen Bedingungen positiv entwickeln.
Wir bündeln die Aktivitäten in den Ressorts und wollen die Potenziale einer Gesellschaft des längeren Lebens nutzen. Ziel ist es, durch Forschung und Entwicklung neue Lösungen, Produkte und Dienstleistungen
voranzutreiben, die die Lebensqualität der Menschen,
aber auch die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen verbessern. Auf diese Weise sollen zum Wohle aller Generationen wertvolle und bislang nur unzureichend
genutzte Potenziale gehoben werden, die bisher noch
verborgen geblieben sind.
Im Mittelpunkt der Forschungsagenda stehen die
Handlungsfelder, die für ältere Menschen von besonderer
Bedeutung sind und von denen wir glauben, dass Forschung und Innovation hier einen wichtigen Beitrag leisten können: Mobilität und Kommunikation, längere Beschäftigungsfähigkeit, Wohnen, Gesundheit und Pflege,
aber auch gesellschaftliches und kulturelles Engagement.
Was sind die Kernpunkte? Wir haben bereits im „Rahmenprogramm Gesundheitsforschung“ einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Prävention, der Diagnose
und der Therapie von Krankheiten gelegt, gerade wenn
diese Krankheiten im Zusammenhang mit dem Alter auftreten. Diesen Weg werden wir weiter verfolgen.
Darüber hinaus richten wir unser Augenmerk besonders auf demenzielle Erkrankungen sowie auf die Unterstützung von Pflegebedürftigen und die Entlastung von
Pflegenden, zum Beispiel mit der Zukunftswerkstatt Demenz und dem Modellprogramm zur Verbesserung der
Versorgung Pflegebedürftiger.
Wir richten auch das Programm „Informations- und
Kommunikationstechnologie 2020“ entsprechend aus:
Wir wollen diese Techniken nutzen, um die gesellschaftliche Teilhabe gerade älterer Menschen zu unterstützen
und die Wohn- und Lebensräume altersgerecht zu gestalten.
Schließlich fördern wir die Entwicklung neuartiger
Lösungen zur Anpassung kommunaler und sozialer Infrastrukturen. In Forschungsprojekten und Modellversuchen werden Themen wie „öffentlicher Personenverkehr“, „Verkehrsinfrastruktur“ und „Mobilität im Alter“
adressiert.
Schließlich werden die Forschungsprogramme zum
lebenslangen Lernen, zur Arbeitsplatzgestaltung, zur
Produktionstechnologie und zu innovativen Dienstleistungen so weiterentwickelt, dass ältere Menschen künftig ihr Wissen und auch ihre Lebenserfahrung noch besser und länger in die Gesellschaft einbringen können, sei
es nun beruflich, privat oder im Ehrenamt. Wir werden
das Rahmenprogramm „Geistes- und Sozialwissenschaften“ verstärken und hier auch Grundsatzfragen einer älter werdenden Gesellschaft integrieren.
Meine Damen und Herren, mit den genannten Maßnahmen will die Bundesregierung einen Impuls für Forschung und Entwicklung, für eine Gesellschaft des längeren Lebens setzen. Dabei spielen technologische
Entwicklungen eine Rolle, aber nicht die alleinige: Soziale, ethische, rechtliche und andere gesellschaftliche
Aspekte müssen in die Umsetzung innovativer Lösungen
eingebettet werden.
Wir haben es so vorgesehen, dass die Forschungsagenda zunächst auf einen Zeitraum von fünf Jahren
- bis zum Jahr 2016 - ausgerichtet ist. Sie soll am Ende
der Förderperiode evaluiert werden. Dann ist zu entscheiden, ob es eine Anpassung der operativen Ziele geben soll und ob die Forschungsagenda über das Jahr
2016 hinaus fortgesetzt werden soll.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Bevor wir nun mit
der Befragung beginnen, erinnere ich an die berühmte
Ein-Minuten-Regelung: Ich bitte Sie, sich bei den Fragen und Antworten auf jeweils eine Minute zu beschränken. Nach Ablauf der Minute wird ein Signal daran erinnern, zum Schluss zu kommen.
Ich bitte, zunächst die Fragen zu dem Themenbereich
zu stellen, über den soeben berichtet wurde. - Ich beginne mit Ihnen, Frau Kollegin Petra Sitte. Bitte schön.
Herr Präsident, ich bin natürlich bestens vorbereitet.
Insofern schaffe ich das in einer Minute. - Herr Staatssekretär, danke für den Vortrag. Ich beziehe mich auf den
gesamten Bereich der pflegebedürftigen Menschen in
diesem Land. Sie haben unter der Überschrift „Demografischer Wandel“ vor allem Technologien gefördert,
insbesondere technische Unterstützungssysteme. Das ist
das eine.
Das andere ist aber, dass wir im Alltag einen Pflegenotstand erleben. Wir wissen, dass Fachkräfte fehlen.
Wir wissen aber auch, insbesondere aus unserer kommunalpolitischen Arbeit, dass moderne Wohnverhältnisse
für ältere Bürgerinnen und Bürger, vor allem für ältere
Menschen mit Behinderung oder Handicap, fehlen. Wir
wissen ferner, dass es einen großen Bedarf gibt, gute Arbeitsbedingungen für Pflegende im Bereich der Altenpflege zu schaffen. Deshalb halten wir es für notwendig,
dass sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung auch der Erforschung sozialer Innovationen widmet. Deshalb frage ich Sie,
({0})
ob Sie in diesem Bereich investieren und bei den Forschungsaktivitäten auch neue Dienstleistungen in den
Blick nehmen wollen.
Herr Staatssekretär.
Danke, Herr Präsident. - Liebe Frau Kollegin Dr. Sitte,
ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie die Bandbreite der
Themen - von Wohnen über Arbeit bis zur Pflege - unterstrichen haben, die wir letztlich gemeinschaftlich
adressieren wollen. Wir haben sehr wohl im Blick, dass
technologische Assistenzsysteme selbstverständlich Pflegenden und zu Pflegenden helfen können, ihre Situation
zu verbessern. Aber es werden auch soziale Gesichtspunkt in unsere Forschungsagenda aufgenommen. Ich
darf hier beispielhaft unsere Förderlinie „Forschung an
Fachhochschulen“ nennen, bei der es insgesamt um Pflegeforschung geht und wir ausdrücklich das Thema „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“ haben.
Vielen Dank. - Nächster für die Unionsfraktion, Dr.
Thomas Feist.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Sie haben davon gesprochen, dass in der Forschungsagenda auch soziale und ethische Komponenten eine
wichtige Rolle spielen und dass bei sozialer Teilhabe vor
allen Dingen auf Kommunikation abgehoben wird. Nun
haben wir in diesem Jahr das Jahr der Gesundheitsforschung. Wo gibt es besondere Schwerpunkte, die sich
mit diesem Themenbereich überschneiden?
Herr Kollege Dr. Feist, das gesamte Themenfeld der
Gesundheitsforschung ist eine der ganz großen Säulen
der Forschungsagenda. Sie wissen, dass wir ein großes
Gesundheitsforschungsprogramm auf den Weg gebracht
haben, das unter der Federführung des BMBF läuft und
bei dem wir in sachlicher und kollegialer Kooperation
mit dem BMG zusammenarbeiten.
Die Themenvielfalt ist riesig. Ich will deshalb mit Ihrem Einverständnis ein Beispiel herausgreifen, nämlich
die Frage, wie wir Gesundheitsversorgung auch im ländlichen Raum gewährleisten können. Hier haben wir ein
Forschungsprojekt, das in Nordbrandenburg, also in den
neuen Ländern - Sie kommen aus den neuen Ländern -,
im Rahmen der Aktion „Gesundheitsregionen der Zukunft“ durchgeführt wird. Anhand der kardiologischen
Versorgung im strukturschwachen ländlichen Raum
Nordbrandenburgs wird ein neues Betreuungsmodell für
Gebiete ohne dort ansässige Fachärzte entwickelt und
anschließend wissenschaftlich evaluiert. Ziel ist es natürlich, aus solchen Projekten Erfahrungen zu sammeln,
die auch auf andere ländliche Regionen übertragen werden können.
Vielen Dank. - Nächster Fragesteller, Kollege Franz
Müntefering.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, dass das, was
in den einzelnen Ministerien bisher zu Senioren, AuS,
Wohnen und Stadtentwicklung, Gesundheit und Pflege,
Verbraucherschutz und Verkehrssicherheit unter dem
Gesichtspunkt der Interessenlage der Älteren erforscht
worden ist, nicht mehr in den einzelnen Ministerien erforscht wird, sondern im Wissenschaftsministerium zusammengefasst wird. Sie sagen, das solle in den nächsten fünf Jahren zu Ergebnissen führen. Sie kündigen für
das nächste Frühjahr eine Demografiestrategie an. Daraus ergibt sich für mich die Frage: In welchem Verhältnis steht sie zur Forschungsagenda, die Sie beschrieben
haben? Besteht die Agenda der Bundesregierung darin,
dass sie in den nächsten fünf Jahren forscht oder forschen will? Falls die Ergebnisse davon noch nicht vorliegen: Wie belastbar und wie aussagestark wird dann die
Strategie sein, die im Frühjahr nächsten Jahres auf den
Tisch gelegt wird?
Herr Bundestagsabgeordneter Müntefering - ({0})
- Darf ich noch antworten? Gut.
Wir machen jetzt die Maschine aus.
({0})
Herr Kollege Müntefering, die Demografiestrategie,
die die Bundesregierung ausgehend von ihrem Bericht,
der im Oktober im Kabinett behandelt worden ist, im
Frühjahr beraten wird, ist sehr viel breiter angelegt. Sie
wird sozialpolitische Themen aufgreifen, was Sie in Ihrem federführenden Ausschuss sicherlich intensiv diskutieren werden. Sie wird sicherlich rechtliche Aspekte
sehr viel stärker in den Mittelpunkt rücken. Ich nenne
zum Beispiel das Thema Altersdiskriminierung. Was
kann bzw. was muss eine Gesellschaft tun, um Altersdiskriminierung zu verhindern? Wo liegen gegebenenfalls
Aufgaben des Gesetzgebers?
Das Thema unserer Forschungsagenda ist insofern ein
wichtiger Baustein, aber wahrlich nicht die gesamte Demografiestrategie. Vielmehr fragen wir, was neben sozialpolitischen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten
aus der Forschung an Lösungsansätzen angeboten werden kann, um beispielsweise die Mobilität von Älteren
in unserer Gesellschaft zu erhalten. Welche Möglichkeiten können wir für Ältere schaffen, damit sie in ihren
vertrauten Wohnräumen bleiben können und trotzdem
die Sicherheit haben, dass sie beispielsweise über ein
Notrufsystem ärztliche Unterstützung bekommen, falls
ihnen etwas passieren sollte? Das sind Fragen, die wir in
den Forschungsprojekten untersuchen werden.
Nächste Fragestellerin, Frau Kollegin Tabea Rößner.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, es
gibt die EU-Initiative zu Forschungsprogrammen im Bereich „Länger und besser leben - Möglichkeiten und
Probleme des demografischen Wandels“. Meine Frage
bezieht sich darauf: Wie ist es eingebettet, und wie erfolgt die Abstimmung mit den Forschungsergebnissen
aus anderen Ländern, um die Fragmentierung der Forschungsanstrengungen der Mitgliedstaaten, wie es dort
formuliert ist, zu verhindern?
Darüber hinausgehend stellt sich mir die Frage, wie
bisherige Erkenntnisse einfließen können. Beispielsweise im Bereich der Gesundheitsprävention muss man
Langzeitstudien heranziehen. Wie betten Sie diese ein?
Als Letztes noch eine Frage zu dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie. Auch auf
diesem Gebiet wollen Sie Forschungsprojekte vorantreiben. Ich nenne die Stichworte „50 plus“ und „IT-basierte
Dienstleistungskonzepte“. Wie soll das erfolgen? Wie
sollen sich diese Konzepte angesichts der Tatsache
durchsetzen, dass der demografische Wandel sich gerade
im ländlichen Raum auswirkt und eine BreitbandGrundversorgung dort nicht gegeben ist?
Frau Kollegin, Sie werden Verständnis dafür haben,
dass ich Ihre Fragen - es waren mindestens vier - nicht
in einer Minute beantworten kann. Ich werde mir aber
redlich Mühe geben, zumindest einen Teil abzuarbeiten.
Sie haben recht: Das, was wir national tun, sollten wir
auf internationaler Ebene abgleichen und in die internationale Diskussion einbringen, zumal die Bundesrepublik Deutschland nicht isoliert von den Veränderungen in
der Altersstruktur betroffen ist. Ich nenne in diesem Zusammenhang Japan, Kanada und Korea. Das sind drei
Länder, die von den demografischen Veränderungen
schon sehr viel stärker betroffen sind. Natürlich nehmen
wir auf, was in diesen Ländern in diesem Bereich unternommen wird.
Konkret heißt das, dass wir in den europäischen Prozess der Fortentwicklung des europäischen Forschungsrahmenprogramms - das 8. EU-Forschungsrahmenprogramm wird „Horizon 2020“ heißen - unsere
Vorstellungen im Bereich der Forschung für die älter
werdende Bevölkerung einbringen werden. Wir werden
dafür kämpfen - so steht es auch in einem Papier der
Bundesregierung für die EU -, dass dies ein wichtiges
Thema wird.
({0})
- Wenn der Präsident es mir erlaubt, greife ich zumindest noch eine weitere Frage kurz auf. Sie haben gefragt,
wie Aspekte wie Prävention aufgenommen werden können. Prävention ist im Rahmen der Gesundheitsforschungsaktivitäten ein eigenes Thema. Wenn ich darf,
werde ich ein bisschen konkreter: Wir müssen natürlich
Langzeituntersuchungen durchführen, und das tun wir
auch. Wir analysieren die biologischen Vorgänge des Alterns und versuchen, die Erkenntnisse mit der Frage in
Verbindung zu bringen, ob auch sozioökonomische Faktoren einen Einfluss auf den Alterungsprozess haben.
Ganz konkret: Hier in Berlin haben wir die Berliner Altersstudien - „BASE“ genannt - auf den Weg gebracht.
In dem Rahmen werden sowohl genetische als auch medizinische, aber auch immunologische Fragestellungen
untersucht und mit psychologischen und sozioökonomischen Faktoren kombiniert. Daran erkennen Sie, dass
wir uns disziplinübergreifend um ein Gesamtbild der
Prozesse des Alterns bemühen.
Vielen Dank. - Nächster Fragesteller, Kollege
Tankred Schipanski. Bitte schön, Kollege Tankred
Schipanski.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin zum einen angedeutet, dass das Programm evaluiert werden soll. Ich
möchte gerne wissen, wer diese Evaluierung vornehmen
wird. Zum anderen haben Sie uns die Themenfelder vorgestellt, mit denen sich die Forschungsagenda beschäftigt. Mich würde interessieren: Von wem hat sich die
Bundesregierung beraten lassen, als es darum ging, die
Themenfelder herauszufiltern? Wie ist man auf diese
konkreten Themenfelder gekommen? - Vielen Dank.
Herr Kollege Schipanski, wir haben erst einmal den
Sachverstand aus allen Ressorts der Bundesregierung
zusammengebracht, die ja ganz unterschiedliche Forschungsaktivitäten betreiben. Wenn ich die Frage von
Herrn Müntefering noch einmal aufgreifen darf: Das
wird eingebettet, miteinander besprochen und entwickelt. Das jeweilige Forschungsprogramm oder -projekt
wird aber selbstverständlich in der Verantwortung des jeweiligen Ministeriums - ich nenne jetzt einmal das
BMAS oder das Bundesministerium für Gesundheit durchgeführt, es sei denn, es findet in unserem Haus, im
BMBF, statt.
Darüber hinaus haben wir selbstverständlich die wissenschaftliche Community eingebunden. Das Thema
war auch Gesprächs- und Diskussionsgegenstand in der
sogenannten Forschungsunion, die, wie Sie als Forschungspolitiker wissen, aus Wissenschafts- und Wirtschaftsvertretern zusammengesetzt ist und die Bundesregierung bei der Weiterentwicklung der HightechStrategie insgesamt berät.
Wir haben uns vorgenommen, den Prozess zu begleiten. Es wird ja auch nicht alles gleich am ersten Tag gestartet. Am Ende der fünfjährigen Forschungsförderungsphase wird es eine Evaluation geben. Natürlich ist
heute noch nicht endgültig entschieden, welche Organisationen mit der Evaluation beauftragt werden. Es entspricht aber unserem Grundverständnis, dass betrachtet
wird: Welche Schwerpunkte sind gesetzt worden? Waren
sie richtig? Müssen Veränderungen für die Zukunft vorgenommen werden?
Vielen Dank. - Nächste Fragestellerin, Frau Kollegin
Sabine Bätzing-Lichtenthäler. Bitte schön.
Ganz herzlichen Dank. - Herr Staatssekretär, meine
Frage bezieht sich auf die Bauforschung. Hier stellt sich
mir die Frage: In welcher Form soll die Bauforschung im
Bereich der Gestaltung altersgerechter Wohnräume verstärkt gefördert werden? Dies frage ich vor allen Dingen
vor dem Hintergrund, dass es bereits sehr gute Programme für den altersgerechten Umbau gab, die aber
von der Bundesregierung eingestellt wurden. Das heißt,
hier besteht ein Widerspruch: neue Förderung auf der einen Seite, Einstellung gut laufender Programme auf der
anderen Seite. Dazu hätte ich gern eine Stellungnahme
von Ihnen, und ich wüsste gern, ob so etwas durch die
künftige Forschung und Förderung ausgeschlossen werden kann.
Ich würde sagen, dass dem Thema „Sicher und unabhängig wohnen“ als eigenem Schwerpunkt in der Forschungsagenda ein neues Gewicht gegeben wird. Ich
glaube, dass das wichtig ist, weil sich die Menschen fragen, was die Gesellschaft und was der Staat tun können.
Wir fragen auch: Was können die Tüftler, die Erfinder,
die Wissenschaftler dazu beitragen, dass Menschen, die
in ihrer angestammten Wohnung bleiben wollen, tatsächlich möglichst lange dort bleiben können?
Um es Ihnen bildhaft und konkret darzustellen: Wir
fördern beispielsweise das Projekt „AlterLeben“, die
„Mitalternde Wohnung“. Das sind neue Aktivitäten, aber
es ist nicht so, dass deswegen die Förderung für alle anderen Aktivitäten eingestellt wird; das will ich an dieser
Stelle sagen. Bei diesem Projekt werden Lösungen für
selbstbestimmtes Wohnen in den eigenen vier Wänden
im Alter entwickelt. Dazu gehören nicht nur technische
Assistenzsysteme, sondern auch bautechnische Maßnahmen. Die Wohnung für Ältere in fünf, sechs oder sieben
Jahren wird anders aussehen als heute. Dazu gehören
auch Dienstleistungskonzepte. Denn meine grundsätzliche Auffassung ist: Technik kann immer nur unterstützend sein. Die menschliche Zuwendung muss weiterhin
im Mittelpunkt stehen.
Vielen Dank. - Nächste Fragestellerin, Frau Kollegin
Elisabeth Scharfenberg.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, in der Forschungsagenda wird ressortübergreifendes Arbeiten angekündigt. Ich deute das so, dass es unter anderem eine
ressortübergreifende Arbeit zwischen dem Ministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem
Ministerium für Gesundheit geben soll. Wie wird sich
denn da die Zusammenarbeit gestalten, und wer wird sie
koordinieren? Wer wird zuständig sein? Wir erleben ja
die Arbeit der Ministerien, die ich gerade genannt habe,
als sehr konkurrenzbehaftet. Ich denke, ein ressortübergreifendes Vorgehen ist da dringend geboten.
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Ihr Erleben deckt sich
in dem Fall nicht mit meinem, jedenfalls nicht beim
Thema Forschungsagenda. Ich stelle ein sehr gutes Miteinander unserer Ministerien fest. Dies liegt vielleicht
auch daran, dass wir bei der Entwicklung der Forschungsagenda - hier hatten wir als BMBF die Federführung - nichts von dem, was in den anderen Ressorts
an Sinnvollem verantwortlich gemacht wird, infrage gestellt haben. Vielmehr haben wir die Dinge inhaltlich
und konzeptionell verknüpft. Es ging uns dabei auch darum, Doppelförderungen möglichst zu verhindern und
insofern einen insgesamt größeren Mehrwert zu erreichen.
Ich darf Ihnen beispielhaft aus der Verantwortung des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend zwei Schwerpunkte nennen, bei denen sich die
Kollegen aus dem Ministerium besonders engagieren.
Das sind die Bereiche „Zuhause im Alter - Wohnen im
Alter“ und „Demenz: Lebensqualität verbessern und
Pflegende unterstützen“. Hier wird sich das Familienministerium auch in Zukunft mit einbringen. Wir begrüßen das.
Nächster Fragesteller Kollege Dr. Stefan Kaufmann.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, können Sie schon eine Aussage darüber treffen, wie
sich im Rahmen der Forschungsagenda die Verteilung
der Fördergelder auf die technologiebezogene Forschung und die sozialwissenschaftliche Forschung gestaltet? Vielleicht können Sie auch ein Wort dazu sagen,
inwieweit die Forschungsagenda mit dem EU-Forschungsrahmenprogramm bzw. mit dem geplanten Folgeprogramm „Horizon 2020“ abgestimmt ist?
Eine - ich sage einmal - kleinteilige Aufteilung auf
die verschiedenen Felder - ob technologie- oder nicht
technologieorientiert - ist zum jetzigen Zeitpunkt noch
nicht möglich und wäre auch nicht sinnvoll. Aber ich
kann Ihnen sagen, dass es nach unserer Auffassung ein
ausgewogenes Verhältnis geben muss. Der erste Bereich,
den wir mit der Forschungsagenda überhaupt adressieren, das Forschungsfeld 1, heißt deshalb „Grundsatzfragen einer Gesellschaft des längeren Lebens“. Dabei geht
es um ganz grundsätzliche Fragen.
Erst einmal geht es darum, dass wir wissen, wie die
weitere demografische Entwicklung verlaufen wird. Das
Bild von den Älteren hat sich gewandelt. Auch das
Selbstbild der Älteren hat sich gegenüber früheren Jahrzehnten deutlich verändert: Sie sind selbstbewusst und
wollen Verantwortung wahrnehmen.
Daran können Sie schon erkennen, dass wir uns auch
sehr stark auf sozialwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Fragestellungen einlassen werden; das ist das
ausdrückliche Bekenntnis der Bundesregierung. Daraus
abgeleitet ist dann zu klären, welche technologischen
Gesichtspunkte von Bedeutung sein könnten, um die
aufgeworfenen Fragen zu beantworten.
Nächste Fragestellerin ist unsere Kollegin Petra
Crone.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Sie sagten, im Rahmen dieser Forschungsagenda solle
auch die Demenzforschung vorangetrieben werden. Ich
frage Sie: Ist es nicht viel wichtiger, jetzt erst einmal ein
Pflegekonzept vorzulegen und endlich einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, an dem ja nun schon lange gearbeitet wird, auf den Weg zu bringen?
Frau Kollegin, ich möchte Sie gerne dazu ermuntern:
Lassen Sie uns das eine debattieren und das andere trotz17250
dem tun! Ohne Zweifel: Die größte Herausforderung,
die wir alle, auch persönlich in unseren Familien, erleben werden, ist, dass das Thema Demenz keine Frage
sein wird, die nur wenige Menschen betrifft. Vielmehr
sind davon bereits heute 1,1 Millionen Menschen in unserem Lande betroffen. Wir wissen, dass wir bis zum
Jahr 2050 eine Steigerung auf 2 bis 3,5 Millionen Menschen, die an Demenz erkrankt sind, zu verzeichnen haben werden. Jeder kann sich vorstellen - auch die Zuschauer auf der Tribüne -: Dazu werden auch einige von
uns, die wir heute hier im Plenarsaal sind, gehören.
Insofern ist es von zentraler Bedeutung - sowohl für
die Menschen, die an Demenz erkranken, als auch für
ihre Familienangehörigen, die eine erhebliche Aufgabe,
nämlich die pflegerische Betreuung, zu bewältigen haben, als auch für die Gesellschaft und die Volkswirtschaft insgesamt, und zwar unter dem Gesichtspunkt der
Gesundheitskosten, die damit verbunden sind -, die Demenzforschung in den Mittelpunkt zu stellen. Die Bundesregierung hat das gemacht, indem sie erstmalig in der
Geschichte der Bundesrepublik ein nationales Demenzzentrum in Bonn gegründet hat. Damit rücken wir dieses
Thema - von der Ursachenerforschung bis zur Frage,
wie wir pflegerisch und betreuerisch korrekt mit an Demenz Erkrankten umgehen - in den Mittelpunkt.
Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Katharina
Landgraf.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
berücksichtigt Ihre Forschungsagenda auch die aktuelle
Situation auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere den Fachkräftemangel? Werden die Kompetenzen des Alters wie
Erfahrung und Fachkompetenz, die jetzt womöglich
brachliegen, der Kreativität und dem Innovationsdrang
junger Menschen gegenübergestellt? Kann man das
überhaupt gegeneinander abwägen? Könnte man die Älteren nicht motivieren, länger als bisher im Arbeitsleben
zu bleiben?
Vielen Dank, Frau Bundestagskollegin. - Ich glaube,
wir alle spüren in Gesprächen, auch in unseren Wahlkreisen, dass sich sehr viele Ältere gerne weiter einbringen wollen, sei es am Arbeitsplatz oder in die Gesellschaft insgesamt. Insofern sprechen Sie ein ganz
zentrales Anliegen an: Wir müssen den Erfahrungsschatz und die Bereitschaft der älteren Mitbürgerinnen
und Mitbürger, mitzutun, aufnehmen und ihnen entsprechende Möglichkeiten verschaffen. Das betrifft die Zivilgesellschaft, die Art und Weise, wie wir Diskussionsprozesse in der Gesellschaft insgesamt organisieren, aber
natürlich auch die Frage, wie wir Älteren mehr Hilfen
und Unterstützung auf dem Weg in den Arbeitsmarkt geben.
Wir haben das fest im Blick. Dabei spielt auch eine
Rolle, dass wir in Zeiten des Fachkräftebedarfs leben.
Wir tun dies aber nicht nur deshalb, sondern auch deshalb, weil wir wissen, dass Ältere aufgrund ihres Tuns
über Jahre und Jahrzehnte natürlich Erfahrungen haben,
die die Jüngeren noch nicht haben können, und dass das
Matching, das Zusammenführen beider Gruppen, einem
Unternehmen wie einer Institution einen deutlichen Vorsprung und Vorteil bringt.
Ich will abschließend ein Beispiel dafür nennen: Wir
führen das Projekt „Personalarbeit im demografischen
Wandel“ durch, in dem wir mit zwei Branchen, der Gesundheitswirtschaft und der maritimen Wirtschaft, an betriebsspezifischen Weiterbildungskonzepten und Qualifizierungsangeboten für Mitarbeiter in KMU arbeiten
wollen, um beispielhaft zu zeigen, dass dies zum Erfolg
des Betriebs und der beschäftigten Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer beiträgt.
Vielen Dank. - Nächste Fragestellerin unsere Kollegin Frau Mechthild Rawert.
Herr Staatssekretär, Sie haben dargestellt, wie breit
die Forschungsagenda aufgestellt ist und dass das gesamte Spektrum auch unter sozialen, ethischen und
rechtlichen Aspekten zu erforschen ist.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Inwieweit
stellen Sie mit diesen Forschungsaktivitäten sicher, dass
in allen Projekten - auch in speziellen Projekten - der
Aspekt der Vielfalt in Deutschland aufgegriffen wird,
und wie kann die Forschung dazu beitragen, dass es
rechtliche Rahmenbedingungen gibt, die ein würdiges
Altern für alle, unabhängig von ihrer Herkunft, gewährleisten?
Sehr geehrte Frau Kollegin, die rechtlichen Rahmenbedingungen werden ein Thema von Ihnen sein; denn
der Deutsche Bundestag muss sich fragen, ob er rechtliche Veränderungen als notwendig erachtet.
Das Grundanliegen, das Sie ansprechen - wir haben
in der Bundesrepublik Deutschland des 21. Jahrhunderts
eine sehr viel heterogenere Gesellschaft mit vielen Tausenden, ja Millionen Menschen, die aufgrund ihrer Migrationsgeschichte andere kulturelle Erfahrungswerte
haben und insofern auch in schwieriger Lebensphase,
bei schwerster Krankheit oder auch im letzten Lebensjahr, in der Sterbephase, unter Umständen anders betreut
und behandelt werden müssen -, ist, wie ich finde, berechtigterweise thematisiert worden. Damit meine ich
natürlich nicht die medizinische Behandlung als solche,
sondern den kulturellen Umgang und das Eingehen auf
diese Menschen. Wir wissen ja, dass es bis hin zur unterschiedlichen Bestattungskultur ganz unterschiedliche
Anforderungen in unseren Kommunen gibt.
Natürlich muss und wird auch dies immer Teil der
Pflegeforschung sein. Hier wird natürlich eine Rolle
spielen, dass wir als Gesellschaft ein großes Interesse
daran haben müssen, Pflegekräfte zu haben, die sich beispielsweise auch in den Ursprungssprachen derjenigen
Menschen verständigen können, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind; denn wir wissen, dass gerade für Ältere, insbesondere wenn sie auf ihre eigenen
Ursprünge zurückblicken, die türkische, die italienische
oder die griechische Sprache unter Umständen eine größere Rolle spielt als in den 20 Jahren zuvor.
Nächste Fragestellerin unsere Kollegin Frau Ewa
Klamt.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
meine erste Frage geht in folgende Richtung: Kann man
schon sagen, welches Finanzvolumen für diesen Fünfjahreszeitraum vorgesehen ist?
Sie sagten, man gehe ressortübergreifend vor. Werden
sich auch andere Ressorts an der Finanzierung beteiligen?
Meine letzte Frage interessiert bestimmt all jene, die
heute davon gehört haben, dass die Forschungsagenda
auf den Weg gebracht worden ist: Wer ist dann antragsberechtigt?
({0})
Das waren mehrere Fragen, Frau Kollegin Klamt.
Wir haben im Haushalt des BMBF für das Jahr 2012,
unter der Voraussetzung, dass der Deutsche Bundestag
als Haushaltsgesetzgeber unserem Vorschlag zustimmt,
84 Millionen Euro vorgesehen. Dies wollen wir mit Unterstützung der Abgeordneten in den Folgejahren fortschreiben, sodass sich unser Ressort mit rund 415 Millionen Euro an der Umsetzung der Forschungsagenda
beteiligen wird.
Zur Frage, wer antragsberechtigt ist. Sie müssen sich
vor Augen führen: Die Forschungsagenda an sich ist
kein eigenes Programm, sondern es werden Programme,
Aktivitäten und auch Rahmenprogramme der verschiedenen Ressorts und der unterschiedlichen Häuser zusammengeführt. Insofern sind die verschiedenen Ministerien
natürlich erst einmal die Adressaten. Antragsberechtigt
sind, da es sich um eine Forschungsagenda handelt,
selbstverständlich die Hochschuleinrichtungen und -institutionen, die Vertreter von Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen, aber auch Unternehmen.
Uns liegt sehr daran, dass wir auch spätere Nutzer und
Anwender, wie etwa karitative Einrichtungen, einbeziehen, um anwendungsnahe Lösungen zu finden, beispielsweise die evangelische Diakonie oder die katholische Caritas. Das sind wichtige Kompetenzeinrichtungen, die
sich aufgrund ihrer Pflegeerfahrungen mit einbringen
können.
Nächster Fragesteller unser Kollege Oliver
Kaczmarek.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
ich möchte auf das Gesundheitsforschungsprogramm zurückkommen, das vorhin schon einmal eine Rolle gespielt hat, und möchte Sie fragen, inwiefern das, was Sie
als Forschungsagenda im Kabinett beschlossen haben,
konkret über das Gesundheitsforschungsprogramm hinausgeht und ob es nicht auch angezeigt gewesen wäre,
ein eigenes Aktionsfeld im Gesundheitsforschungsprogramm zu diesem Themenkomplex anzulegen.
Ich glaube, dass Sie an dieser Stelle in gewisser Weise
einem Missverständnis unterliegen; denn das Thema
Gesundheitsforschung wird in einem breiten, mehrere
100 Millionen Euro umfassenden Rahmenprogramm
vonseiten der Bundesregierung adressiert und angesprochen, federführend vonseiten des BMBF.
Worum es uns gehen muss, ist nicht die Strukturfrage,
sondern die Frage, welche Themen dort behandelt werden. Wir sind sehr froh darüber, dass gerade die Aspekte
einer älter werdenden Gesellschaft und die Fragen der
großen Volkskrankheiten - um zwei Beispiele zu nennen - zentrale Bausteine dieses Gesundheitsforschungsprogramms sind. Wir haben hier eine Reihe von Projekten, mit denen wir ganz zielgerichtet Gesundheitsfragen,
auch Fragen von Mehrfacherkrankungen, die für Ältere
hochrelevant sind, als besondere Herausforderung adressieren.
Ich will auf Folgendes hinweisen: Wir wissen, dass
Ältere auf Medikamente anders reagieren als Jüngere
und dass insofern ein Medikament, das ein Jüngerer einnimmt, sehr wohl hilfreich sein kann, aber bei einem Älteren Gefahren mit sich bringen kann. Auch diese Frage
wird intensiv behandelt werden.
Vielen Dank. - Wir haben jetzt noch drei Fragesteller
zu diesem Themenkomplex und eine Frage zu einem anderen Thema der heutigen Kabinettssitzung.
Zunächst Frau Kollegin Elisabeth Scharfenberg.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, zu den Handlungsfeldern der Forschungsagenda zählt unter anderem
die Verbesserung des Pflege- und Betreuungsangebots.
Mich würde im Speziellen interessieren, wie die Bemühungen in diesem Rahmen, konkret auf dieses Thema
bezogen, ressortübergreifend gebündelt werden sollen
und welche Maßnahmen sich daraus genau entwickeln
sollen. Ich bin der Auffassung, dass nur technikgestützte
Assistenzsysteme nicht ausreichend sind.
Sie haben natürlich vollkommen recht: Technik ist
eine Antwort und nicht die Antwort alleine. Deswegen
wird das Thema Pflegeforschung als solches inhaltlichkonzeptionell eine ganz wichtige Rolle spielen. Ich habe
schon auf das sozialwissenschaftlich ausgerichtete Pflegeprogramm in Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen hingewiesen.
Die verschiedenen Ressorts nehmen hier ihre ganz
unterschiedlichen Verantwortungen wahr. Ich denke an
die Aktivitäten im Familienministerium. Ich habe die
Themen Demenz und Wohnen im Alter bereits angesprochen, aber auch die Aktivitäten des Gesundheitsministeriums im Bereich der Gesundheitsforschung. Das
Bundesministerium für Gesundheit hat darüber hinaus
vor, ein Modellprojekt zur Verbesserung der Versorgung
Pflegebedürftiger auf den Weg zu bringen. Ich bin mir
sicher, dass sich die Kollegen des federführenden Fachausschusses in die Entwicklung und Fortentwicklung
dieses Modellprojekts einschalten werden.
Vielen Dank. - Als nächster Kollege Franz
Müntefering und dann Frau Kollegin Petra Sitte. Zunächst Franz Müntefering.
Herr Staatssekretär, ist in Ihrem Forschungspaket
auch die Situation älterer Menschen in Dörfern, Kreisen
und Regionen mit abnehmender Einwohnerzahl berücksichtigt, in denen es große Probleme mit der ärztlichen
und medizinischen Versorgung sowie der Daseinsvorsorge überhaupt gibt? Wollen Sie auf dieses akute Problem im Frühjahr nächsten Jahres mit der Strategie zum
demografischen Wandel antworten oder wollen Sie jetzt
eine Forschung beginnen, die in einigen Jahren zu Ergebnissen führt?
Herr Kollege Müntefering, die Frage der Versorgung
des ländlichen Raumes geht offensichtlich weit über den
Aspekt der Wissenschaftler und Forscher hinaus; sie
betrifft auch Fragen der Gesundheitspolitik, die kommunale Verantwortung und die ortsnahe Zurverfügungstellung entsprechender Aktivitäten. Das muss in den Bereichen verantwortet und diskutiert werden, die dafür
zuständig sind.
Wir versuchen, Lösungswege mit auf den Weg zu
bringen, die Antworten aus der Forschung entwickeln
können. Ich habe das Forschungsprojekt „Gesundheitsregionen der Zukunft“ angesprochen. Hier spielt der
ländliche Raum eine Rolle, der es - im Gegensatz zur
Hauptstadt mit der Charité - strukturell sehr schwer hat,
ein allumfassendes medizinisches Versorgungsnetz zur
Verfügung zu stellen. Ich erinnere an das Projekt, das ich
vorhin erläutert habe. Dabei geht es um die kardiologische Versorgung im strukturschwachen ländlichen Raum
Nordbrandenburg, wo ganz neue Betreuungsmodelle
entwickelt werden.
Das ist aber nur ein Projekt. Die Programme haben
das Ziel, dass auf der Wegstrecke auch neue, weitergehende Projekte entwickelt werden können.
Frau Kollegin Petra Sitte.
Danke, Herr Präsident. - Ihre Forschungsagenda trägt
den Titel „Das Alter hat Zukunft“ - da fällt einem ein
Stein vom Herzen -; dazu gehört auch Bildung. Sie haben 2001 eine Expertenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ eingesetzt. 2004 hat diese Expertenkommission ihren Bericht vorgelegt. Man sollte
annehmen, dass es seitdem mit der Finanzierung des lebenslangen Lernens aufwärtsgeht. Wir stellen aber fest,
dass der Titel seitdem jedes Jahr im Haushalt gekürzt
wurde, für 2012 beispielsweise um 40 Millionen Euro.
Wäre es nicht notwendig, wenn Sie mit Ihrer Agenda
neu ansetzen, dass man gerade in diesem Bereich wissenschaftliche Begleitforschung finanziert und inhaltlich
gestaltet?
Frau Kollegin Dr. Sitte, selbstverständlich spielt das
Thema „lebenslanges Lernen“ auch weiterhin für die
Bundesregierung eine wichtige Rolle. Insofern kann ich
Ihrer Bewertung an dieser Stelle keineswegs zustimmen,
zumal wir wissen, dass gerade auch die Weiterbildung
eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft ist.
Dabei ist noch keineswegs alles optimal, aber die Weiterbildung und auch die Unterstützung der Weiterbildung spielen eine große Rolle. Ich nenne beispielhaft die
von Bildungsministerin Annette Schavan eingeführte
Bildungsprämie, mit der ein sehr niedrigschwelliges, unkompliziertes und unbürokratisches Instrument geschaffen worden ist, durch das Menschen gerade aus sozial
und finanziell eher schwachen Verhältnissen, Frauen,
aber auch Migranten die Möglichkeit haben, sich weiterzuqualifizieren und dafür eine klare, eindeutige, auf die
Hand gelegte finanzielle Unterstützung des Staates bzw.
der Bundesrepublik Deutschland bekommen.
Ich finde, dies ist ein qualitativer Sprung in der Unterstützung der Qualifizierung von Menschen jüngerer,
mittlerer, aber auch älterer Altersgruppen in unserer Gesellschaft.
Vielen Dank. - Damit haben wir diesen Themenbereich abgeschlossen.
Jetzt gibt es noch eine Frage zur heutigen Kabinettssitzung, gestellt von Frau Kollegin Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Die Zukunft des Alters ist sicherlich
ein wichtiges Thema für uns alle. Aber das Kabinett hat
sich heute offenkundig auch mit dem Rüstungsexportbericht beschäftigt. Wie man hört, verzeichnet dieser
Bericht eine dramatische Zunahme der deutschen Rüstungsexporte. Ich frage Sie, welche Gründe die Bundesregierung dafür sieht und welche Konsequenzen sie aus
dieser Zunahme zieht.
Für die Bundesregierung, bitte schön, Herr Staatsminister.
Frau Kollegin Dr. Enkelmann, der Rüstungsexportbericht stand nicht auf der Tagesordnung der Kabinettssitzung vom heutigen Tage.
Vielen Dank. - Gibt es darüber hinaus weitere Fragen
an die Bundesregierung? - Das ist nicht der Fall.
So rufe ich den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/7901, 17/7922 Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in dieser Fragestunde gilt die Ein-Minuten-Regelung für Fragen und
Antworten. Bei der ersten Antwort werden wir das Signal jedoch jeweils nicht auslösen. Dennoch bitte ich darum, auch bei der ersten Antwort die Minute nicht zu
überziehen.
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 17/7922 auf:
Waren deutsche Kommandostäbe an dem NATO-Angriff
auf pakistanische Stellungen in der Nacht zu Samstag, dem
26. November 2011, beteiligt, bzw. hatten Deutsche Kenntnis
davon, und welche Auswirkungen haben die Vorkommnisse
auf die Sicherheitslage in Deutschland, besonders angesichts
der nächsten Afghanistan-Konferenz am 5. Dezember 2011 in
Bonn, an der Pakistan seine Teilnahme infrage gestellt hat?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Ich antworte auf Teil eins der dringlichen Frage der
Kollegin Dağdelen, inwieweit deutsche Kommandostäbe an dem NATO-Angriff auf pakistanische Stellungen in der Nacht zum Samstag, dem 26. November 2011,
beteiligt waren bzw. ob Deutsche Kenntnis davon hatten.
An der Operation vom 26. November 2011 waren weder
deutsche Stäbe beteiligt, noch hatten deutsche Soldaten
Kenntnis davon.
Herr Präsident, Teil zwei der Frage beantworte ich
mit dem Hinweis, dass dieser Teil in die Zuständigkeit
des Bundesministeriums des Innern fällt. Der Kollege
Dr. Schröder wird die Antwort darauf übernehmen.
Jetzt zunächst einmal der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schröder. - Bitte schön.
Auf der Grundlage polizeilicher und nachrichtendienstlicher Erkenntnisse muss auch weiterhin von einer
intensivierten Gefährdung durch den internationalen islamistischen Terrorismus ausgegangen werden, die sich
jederzeit in Form von Anschlägen bzw. Anschlagsversuchen jeglicher Intensität gegen Ziele sowohl mit geringem als auch mit hohem Symbolwert realisieren kann.
Aufgrund ihres Symbolcharakters und der hochrangigen
Teilnehmer dürfte die Afghanistan-Konferenz ein solches Anschlagsziel darstellen. Hinweise auf eine konkrete Gefährdung der Veranstaltung liegen den Bundessicherheitsbehörden gleichwohl aktuell nicht vor.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Dağdelen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich nehme zur Kenntnis, dass die Bundesregierung hier behauptet, keine
Kenntnis von einer deutschen Beteiligung an dem völkerrechtswidrigen NATO-Angriff gehabt zu haben. Das
klingt, angesichts der deutschen Präsenz in den NATOStäben wohlgemerkt, höchst unglaubwürdig. Offensichtlich hat aber Pakistan hierzu andere Informationen und
hat seine Teilnahme an der Petersberg-II-Konferenz, bei
der es auch um die dauerhafte Stationierung von NATOSoldaten in Afghanistan bis 2024 und darüber hinaus gehen soll, abgesagt. Die Absage der Teilnahme an dieser
Konferenz durch Pakistan, zu der auch etliche Kriegsverbrecher nach Bonn eingeladen worden sind, ist offensichtlich durch den Angriff der NATO auf die Stellungen
in Pakistan bedingt.
Kann die Bundesregierung bestätigen, dass die Absage Pakistans auch mit diesem NATO-Angriff zu tun
hat? Ist der Bundesregierung irgendetwas von pakistanischer Seite bekannt, dass dieser Angriff in Pakistan irgendwie zum Thema gemacht worden ist?
Frau Kollegin, nicht ohne vorher Ihre diversen rechtsbewertenden Unterstellungen in Ihrer Frage zurückgewiesen zu haben, darf ich Ihnen versichern, dass sich natürlich die gesamte Bundesregierung um Ihre Frage
bemühen und Antworten geben wird. Was die Zuständigkeit der Ressorts angeht, ist für die Frage der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg das Auswärtige
Amt federführend.
Herr Präsident, ich würde deswegen gerne an Herrn
Staatsminister Hoyer zur Beantwortung dieser Zusatzfrage weitergeben.
Bitte schön, Herr Kollege Hoyer.
Herr Präsident! Frau Kollegin Dağdelen, es ist in der
Tat so, dass wir mit Bedauern Medienberichte zur
Kenntnis genommen haben, die zum Inhalt haben, dass
Pakistan der Afghanistan-Konferenz fernbleibt. Nach
diesem Vorgang hat es eine Sitzung sowohl des Defense
Committee of the Cabinet als auch der Regierung selbst
gegeben, in der diese Frage wie auch andere Konsequenzen, die Pakistan zunächst einmal gezogen hat, eine
Rolle gespielt haben.
Allerdings haben wir nach intensiven Bemühungen
ausdrücklich keine offizielle Absage der pakistanischen
Regierung. Solange wir noch einen Hoffnungsschimmer
sehen, dass sich Pakistan beteiligen könnte, werden wir
auf allen Ebenen der Bundesregierung und auch mit unseren Partnern daran arbeiten, zu versuchen, die Pakistani davon zu überzeugen, dass es Sinn macht, an dieser
Konferenz teilzunehmen, welche wiederum selber auf
jeden Fall ihren Sinn nicht dadurch verliert, dass Pakistan möglicherweise nicht kommt. Denn Pakistan hat sich
ausgesprochen konstruktiv an dem einen großen Bereich, nämlich der Istanbul-Konferenz, bei der es um die
regionale Zusammenarbeit geht, beteiligt und wünscht
ausdrücklich - auch in der Kommunikation der Regierung, auf die ich eben Bezug genommen hatte - den Erfolg dieser Konferenz in Bonn.
Ihre zweite Nachfrage. Bitte schön, Frau Kollegin.
Lieber Herr Hoyer, Sie wünschen den Erfolg dieser
Konferenz. Die Friedensbewegung und auch die Linke
wünschen eigentlich keine Konferenz kolonialistischer
Manier, die Tausende Kilometer von Afghanistan entfernt über die Menschen und auch die Zukunft dieses
Landes nach zehn Jahren noch einmal entscheidet. Die
Bilanz nach zehn Jahren ist katastrophal; das sehen wir.
Insoweit werden wir natürlich gegen diese Konferenz
demonstrieren.
Ich komme zu meiner zweiten Frage - Sie selbst haben es schon angesprochen -: Rupert Neudeck und viele
andere sprechen nach der Absage Pakistans - Sie sagen,
offiziell gebe es noch keine Absage; in Pakistan selber
wird verlautbart, dass es eine Absage gibt - davon, dass
es nur noch - ich zitiere - eine „halbe Konferenz“ ist, da
die Hälfte der Akteure, die wichtig sind, überhaupt nicht
anreisen wird.
({0})
Wie beurteilt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund das Ziel, dauerhaft Soldaten in Afghanistan mithilfe Pakistans zu stationieren, das mit der Konferenz
verbunden war, und auf der Konferenz Einigung herzustellen, wenn Pakistan nicht anwesend sein wird?
({1})
Glauben Sie, dass es vor diesem Hintergrund nicht richtig wäre, von dieser Konferenz abzusehen und sie abzusagen?
({2})
Frau Kollegin, ich beziehe mich zunächst einmal auf
die wunderschöne Formulierung des Kollegen Schmidt
zu Beginn seiner Beantwortung Ihrer ersten Nachfrage
und distanziere mich von Ihren bewertenden Bemerkungen bezüglich der Konferenz. Wir halten diese Konferenz für ausgesprochen sinnvoll. Deutschland leistet einen großen Beitrag zur Zukunft Afghanistans, und wir
tun das mit großem Engagement und mit großem Stolz.
({0})
Es ist die größte Veranstaltung dieser Art, die in
Deutschland jemals organisiert und geschultert worden
ist, und die lassen wir uns nicht zerreden.
({1})
Wir würden uns freuen, wenn die Pakistani kämen.
Ich sage ausdrücklich, dass ich dem von mir sehr geschätzten Rupert Neudeck widersprechen muss, wenn er
von einer „halben Konferenz“ spricht. Auch die Beteiligung Pakistans an der langfristigen Problemlösung in
Afghanistan ist nach dem, was wir bisher wissen, gewährleistet. Nach dem ausdrücklichen Wunsch, den die
Pakistanis uns übermittelt haben, nämlich dass sie dieser
Konferenz einen großen Erfolg wünschen, gehe ich davon aus, dass wir weiterhin auf die Zusammenarbeit mit
Pakistan setzen können.
Nachfragen? - Jetzt Kollegin Katja Dörner, bitte
schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte wissen,
welche Informationen die Bundesregierung zu welchem
Zeitpunkt und von wem über den genannten Vorfall erhalten hat. Ich möchte auch wissen, ob die Bundesregierung die Entschuldigung der USA für angemessen und
ausreichend erachtet.
Vielen Dank. - Ich betrachte diese Zusatzfrage als
von mir zu beantworten. Die Angaben darüber, wann
und woher die Informationen über den Vorfall von offizieller Stelle zu uns gekommen sind, möchte ich schriftlich nachreichen. Es gab natürlich Informationen; die
ganze Öffentlichkeit war darüber informiert.
Ich will aber sagen, dass die weitere Befassung mit
dieser Angelegenheit, bei der 25 Menschen ums Leben
gekommen sind, was man nur bedauern kann, nicht in
der Verantwortung unseres Landes liegt.
Ich denke, dass es richtig ist, dass wir alle unser Bedauern ausdrücken. Dass wir das Ganze - ohne die Hintergründe im Einzelnen recherchieren zu können - im
Zusammenhang mit der Einladung an Pakistan, sich an
der Afghanistan-Konferenz zu beteiligen, betrachten,
wie Kollege Hoyer es dargestellt hat, darin liegt ein Angebot zu einer weiter gehenden Zusammenarbeit.
Nächste Frage: unsere Kollegin Frau Dagmar
Enkelmann.
Dann kommen wir zum Beitrag der deutschen Regierung. Die pakistanische Regierung hat gefordert, dass
der Vorfall im UN-Sicherheitsrat verhandelt wird.
Deutschland ist Mitglied des Sicherheitsrats. Wird
Deutschland dieses Ansinnen unterstützen, und mit welchen Initiativen wird Deutschland in den Sicherheitsrat
gehen?
Im Hinblick auf eine Befassung des Weltsicherheitsrates, gegebenenfalls aufgrund einer Initiative Deutschlands, gibt es noch keine Beschlusslage; deshalb kann
ich Ihnen davon nicht berichten.
Deutschland hat gegenüber den pakistanischen Kollegen in aller Form deutlich gemacht - jenseits des Bedauerns usw.; das versteht sich von selbst -, dass es darauf
drängen wird, im Rahmen der NATO für eine vollständige Aufklärung dieser Angelegenheit zu sorgen; denn
wir sind zutiefst betroffen.
({0})
Frau Kollegin Heidrun Bluhm.
Pakistan hat die USA bereits im Juni 2011 aufgefordert, den Luftwaffenstützpunkt Shamsi zu räumen.
Shamsi dient den USA für Starts und Landungen sowie
für die Wartung der US-Drohnen. Bisher ist diese Räumung aber offensichtlich nicht vollzogen worden. Mittlerweile wurden die USA ein weiteres Mal aufgefordert,
binnen 15 Tagen den Stützpunkt zu räumen. Welche Aktivitäten gibt es seitens der Bundesregierung, über die
ISAF-Kommandostäbe dahin gehend Druck auf die
USA auszuüben, dass sie die Forderungen Pakistans erfüllen?
Keine.
({0})
Nächster Fragesteller Kollege Harald Weinberg.
Herr Staatsminister, Sie haben gerade ausgeführt,
dass die Bundesregierung auf jeden Fall darauf drängt,
dass es eine vollständige Aufklärung dieses Vorfalls, des
Angriffs auf pakistanische Stellungen, gibt. Was mir
nicht ganz klar wurde - Deutschland ist ja Mitglied des
UN-Sicherheitsrates -, ist, ob es in irgendeiner Form Initiativen geben soll - das habe ich nicht heraushören können -, die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat dazu zu nutzen, diesen Vorfall dort zum Thema zu machen. Können
Sie dazu bitte noch einmal ganz klar Stellung nehmen?
Danke.
Eine Entscheidung über eine solche theoretisch denkbare Initiative gibt es im Rahmen der Bundesregierung
nicht.
Nachfrage, Frau Kollegin Katja Keul.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär Schmidt, nachdem
Pakistan die USA aufgefordert hat, einen Luftwaffenstützpunkt zu schließen, und bereits zwei Grenzübergänge zwischen Pakistan und Afghanistan geschlossen
worden sind: Wie schätzen Sie das im Hinblick auf die
Versorgung der ISAF-Truppen ein, und welche Schritte
übernimmt die Bundesregierung, um gegebenenfalls Gefährdungen von Bundeswehrsoldaten auszuschließen?
Frau Kollegin Keul, um noch einmal die kurze und
knappe Antwort meines Kollegen Hoyer zu interpretieren: Wir verstehen das so, dass das eine bilaterale Angelegenheit zwischen Pakistan und den Vereinigten Staaten
von Amerika ist und dass wir das dort auch belassen
sollten.
Zu Ihrer Frage hinsichtlich der Beeinträchtigung der
Nachschubmöglichkeiten für ISAF durch die Sperrung
des Khaiberpasses und einer anderen Zufahrt: Aufgrund
der Erfahrungen der letzten Jahre war dies eine aus der
Situation heraus zu erwartende Reaktion der pakistanischen Seite, die sich bisher nach einer gewissen Zeit immer wieder in eine Normalität der Abfertigung von
Lkws und Fuhrwerken entwickelt hat. Eine solche Entwicklung erhoffen auch wir. Eine Gefährdung der Versorgungslage ist nicht gegeben.
Ich darf außerdem ergänzen, dass zwischenzeitlich
ISAF dazu eingeladen hat, gemeinsam mit Repräsentanten von Pakistan und afghanischen Behörden die Untersuchung des Vorfalls vorzunehmen.
Nachfrage unserer Kollegin Frau Ulla Jelpke.
Danke schön, Herr Präsident. - Mit welchen Auswirkungen auf den Afghanistankrieg rechnen Sie, da der
Nachschub über Pakistan organisiert wird bzw. - er wird
ja zurzeit boykottiert - organisiert wurde?
Frau Kollegin, Militär und Ziviles ist immer auf
Nachschub angewiesen. Das ist natürlich eine Grunderkenntnis. Wie dieser Nachschub zu organisieren ist und
organisiert wird, muss dann anhand der örtlichen Gegebenheiten entschieden werden. Sie haben sicherlich auch
zur Kenntnis nehmen können, dass ISAF gerade unter
dem Eindruck der einen oder anderen Unsicherheit in
Afghanistan erhebliche Fortschritte bei der Diversifizierung der Nachschubmöglichkeiten erzielt hat.
Nächste Nachfrage unseres Kollegen Dr. Rolf
Mützenich. Bitte schön, Kollege Dr. Rolf Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte kurz nachfragen: Auch wenn noch keine offizielle Absage der pakistanischen Regierung im Hinblick auf die Bonner
Konferenz vorliegt, so habe ich doch zur Kenntnis genommen, dass die afghanische Regierung weiterhin großen Wert darauf legt, dass die pakistanische Regierung
daran teilnimmt, weil auch für Afghanistan Pakistan offensichtlich ein entscheidendes Land ist.
Vielleicht könnte die Bundesregierung hier auch darüber Auskunft geben, dass viele wichtige andere Nachbarländer ihre Bereitschaft signalisiert haben, an dem
Gelingen der Konferenz mitzuwirken. Wie bewertet die
Bundesregierung diese Aussagen?
Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich. - Wir sind
ausgesprochen erfreut, dass diese Konferenz in der
Nachbarschaft Afghanistans auf eine so große, positive
Resonanz stößt. Wir haben schon in Istanbul sehen können, mit welch konstruktivem Geist die Nachbarn
Afghanistans sich an diesem Prozess beteiligen möchten. Deswegen sind wir erfreut, dass sie kommen werden. Wir geben Pakistan auch nicht auf.
Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Pakistani in ihrer unmittelbaren Reaktion anlässlich der Kabinettssitzung gesagt haben:
Pakistan looks forward to the success of this conference, but in view of the developments and prevailing circumstances, it has decided not to participate …
Sie sind selber also stark an dem Erfolg dieses Prozesses
interessiert.
Wir alle sehen doch die Problemlösung für Afghanistan nur im regionalen Kontext. Deswegen ist es wichtig,
dass alle Nachbarn Afghanistans an dieser Konferenz
teilnehmen; darunter dann am Ende hoffentlich auch Pakistan. Aber das werden wir sehen.
Nächste Nachfrage durch unseren Kollegen Andrej
Hunko.
Vielen Dank. - Ich habe eine Frage zum Vorfall
selbst. Inwieweit hat die Bundesregierung der NATO
bzw. den USA für die Kampfhandlung in dem besagten
Zeitraum Satellitenaufklärungskapazitäten überlassen,
etwa den GeoInformationsDienst der Bundeswehr mit
ihrem hochauflösenden Radarsatelliten SAR-Lupe?
Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, haben Sie
gesagt: Deutschland war operativ nicht beteiligt. - Können Sie auch ausschließen, dass hier eine Beteiligung
über Satellitenaufklärung stattgefunden hat?
Nachdem ich nicht davon ausgehe, aber darüber, Herr
Kollege, keine definitiv positive Kenntnis habe, würde
ich Ihnen diese Antwort gerne schriftlich nachreichen.
Ich will in dem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass der Einsatz von Close Air Support, also Luftnahunterstützung, wie das in diesem Fall wohl gewesen ist,
nicht auf Ebene der betroffenen Einsatzverbände entschieden wird, sondern zentral auf Ebene COMISAF.
Das fällt ausschließlich in die Zuständigkeit des
COMISAF, also des Kommandeurs der Streitkräfte insgesamt.
Eine Nachfrage unseres Kollegen Uwe Kekeritz.
Herr Staatssekretär, ich möchte kurz auf die Versorgung und Ihre Aussage, dass das eine rein bilaterale Angelegenheit zwischen Pakistan und den USA sein soll,
zurückkommen. Ich stelle mir vor: Die Grenze ist dicht,
die Versorgung funktioniert nicht mehr. Kann es tatsächlich sein, dass Sie nie mit den Amerikanern oder anderen
Verbündeten darüber gesprochen haben und dass dies
wirklich eine bilaterale Angelegenheit ist? Wie funktioniert die Versorgung? Sie sagten, die Diversifizierung
habe große Fortschritte gemacht; darunter kann ich mir
aber relativ wenig vorstellen. Wie also ist das als bilaterale Angelegenheit zu erklären?
Herr Kollege Kekeritz, ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Der Begriff „bilateral“ bezog sich auf
die genannten Intentionen und Diskussionen seitens Pakistans, einen Stützpunkt der Amerikaner in Pakistan zu
schließen. Der Nachschub liegt natürlich im Interesse alParl. Staatssekretär Christian Schmidt
ler Staaten, die an ISAF beteiligt sind. Der Begriff „Diversifizierung“ hat sich auch nicht auf die Länder, sondern allein auf die Zufahrts- und Transportwege und die
Formen des Transports bezogen. Sie wissen ja, dass wir,
gerade was den Norden und den Weg über andere Landesteile angeht, durch Abkommen mit benachbarten
Staaten im Norden und Nordwesten Afghanistans und
durch andere Transportmöglichkeiten die schiere Abhängigkeit vom Khaiberpass reduziert haben. Das ist
das, was ich mit „Diversifizierung“ gemeint habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beantwortet worden ist,
({0})
rufe ich jetzt die mündlichen Fragen auf Drucksache
17/7901 in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amts. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister
Dr. Werner Hoyer zur Verfügung.
Frage 1 des Kollegen Volker Beck wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 2 des Kollegen Günter Gloser auf:
Was hat die Bundesregierung unternommen und was plant
die Bundesregierung weiterhin zu unternehmen, um die russische Regierung zur Unterstützung von weiteren Sanktionen
gegen Syrien im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu bewegen?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.
Herr Präsident! Herr Kollege Gloser, die Bundesregierung nutzt alle Kontakte mit der russischen Regierung, um diese von der Notwendigkeit einer klaren Stellungnahme des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
zur Lage in Syrien zu überzeugen. Wir werden vor dem
Hintergrund des menschlichen Leids der Zivilbevölkerung auch weiter intensiv um die russische Unterstützung werben und dabei insbesondere auch auf die entschiedene Haltung der Arabischen Liga hinweisen.
Insoweit hat sich eine qualitative Veränderung der Situation ergeben, die wir sehr ernst nehmen und sehr begrüßen. Die Arabische Liga hat ihrerseits weitere harte
Sanktionen angedroht. Von daher ist, denke ich, ein
wichtiges Argument weggefallen, das uns immer vorgetragen worden ist, wenn es darum ging, eine Resolution
des Sicherheitsrats zu vermeiden.
Bundesminister Westerwelle hat zuletzt am 16. November mit seinem russischen Amtskollegen zum
Thema Syrien telefoniert. Bundeskanzlerin Merkel hat
- ich war selber dabei - beim Besuch des Präsidenten
Medwedew das Thema angesprochen und für eine
schnelle Verabschiedung einer Syrien-Resolution des
Weltsicherheitsrats geworben.
Die Haltung Russlands in den Gremien der Vereinten
Nationen hat sich auch etwas verändert. Der dritte Ausschuss der Generalversammlung hat sich in der letzten
Woche mit einer Syrien-Resolution befasst. Russland hat
sich enthalten und nicht mehr dagegen gestimmt. Ich
glaube, hier ist etwas in Bewegung gekommen, das wir
sowohl im Hinblick auf Russland als auch im Hinblick
auf China nachhaltig unterstützen sollten.
Kollege Gloser, Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatsminister,
ich darf nachfragen? - Welche Schritte unternimmt die
russische Regierung selbst, um die Zustände in Syrien
positiv zu verändern? Ist das der Bundesregierung bekannt?
Sicherlich nicht umfassend und im Detail. Die russischen Partner haben in den Gesprächen mit uns zum
Ausdruck gebracht, dass sie mit dem, was in Syrien passiert, nicht gerade zufrieden sind. Sie haben nur bisher
die Hoffnung gehabt, das Regime Assad von seinem verwerflichen Tun abzubringen. Ich glaube, diese Illusion
löst sich langsam auf. Von daher glaube ich, dass wir
auch mit unseren russischen Partnern ein konstruktives
Gespräch hierüber führen können.
Ihre zweite Nachfrage, Herr Kollege Gloser.
Vielen Dank. - Sie haben schon die verschiedenen
Initiativen angesprochen. Auch die Volksrepublik China
hat ein sehr starkes Gewicht. Ist der Bundesregierung
bekannt, was die Volksrepublik China daran hindert, im
Sicherheitsrat weitere Schritte gegenüber Syrien mitzutragen?
Die Überlegungen Chinas sind den Überlegungen
Russlands ähnlich gewesen. Deswegen begrüße ich, dass
China sich, was seine Position angeht, geöffnet hat. Ich
will aber nicht zu weit gehen; denn ich sehe die Resolution des UN-Sicherheitsrates leider noch nicht. Bis dahin
ist es noch ein hartes Stück Arbeit.
Wir sehen, dass sich die Situation dramatisch verschärft. Es ist ein gewaltiger Schritt nach vorne, dass
sich die Arabische Liga so klar positioniert und nicht nur
redet, sondern auch handelt. Ich glaube, das wird seine
Wirkung in Beijing und in Moskau nicht verfehlen.
({0})
Nachfrage unseres Kollegen Dr. Rolf Mützenich.
Danke, Herr Präsident. Dank auch an den Staatsminister für die Beantwortung. - Ich möchte konkret
nachfragen. Offensichtlich werden innerhalb der Europäischen Union Überlegungen über eine weitere Runde
bei den Sanktionen angestellt. Es ist berichtet worden,
dass in diesem Zusammenhang offensichtlich auch eine
Einladung gegenüber der Arabischen Liga ausgesprochen worden ist, was ich insbesondere mit Blick auf die
Zusammenarbeit sehr begrüßen würde. Können Sie das
bestätigen, und können Sie bereits jetzt mitteilen, in welchem Zusammenhang diese Erörterungen stehen werden?
Vielen Dank. - Der Rat für Auswärtige Angelegenheiten der Europäischen Union wird morgen zusammentreten. Die Bundesregierung hat angeregt, den Generalsekretär der Arabischen Liga zu diesen Beratungen
hinzuzubitten. Nach meinem gegenwärtigen Kenntnisstand - das muss ich aber mit Vorbehalt sagen - wird das
stattfinden. Wir begrüßen es außerordentlich. Es erhöht
unsere Glaubwürdigkeit und wahrscheinlich auch die Effektivität unserer Bemühungen, wenn wir uns mit den
Vertretern der Arabischen Liga hier auf das Engste abstimmen.
Vielen Dank.
Die Fragen 3 und 4 der Kollegin Dr. Eva Högl werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe nun die Frage 5 unseres Kollegen Johannes
Pflug auf:
Welche konkreten Ergebnisse hat die Afghanistan-Konferenz in Istanbul Anfang November 2011 erbracht, die eine
konstruktive Einbindung der Nachbarstaaten Afghanistans in
den afghanischen Stabilisierungsprozess begünstigen sollen,
und wie werden sich die Ergebnisse der Konferenz, nach Einschätzung der Bundesregierung, auf das zukünftige deutsche
Engagement in Afghanistan auswirken?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Pflug, zum Teil bin ich schon auf Einzelaspekte des Themas eingegangen, das Sie mit Ihrer
Frage angesprochen haben.
Die Regionalkonferenz „Security and Cooperation in
the Heart of Asia“ am 2. November in Istanbul hat einen
regionalen Annährungsprozess, den sogenannten Istanbul-Prozess, zwischen Afghanistan und seinen unmittelbaren und weiteren Nachbarn in Gang gesetzt. Ziel ist es,
die regionalen Kooperationen bei Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungsfragen langfristig zu vertiefen
und zu systematisieren. Das Fundament bildet eine
Reihe von Prinzipien - unter anderem Gewaltverzicht,
territoriale Integrität und Nichteinmischung -, die für die
Sicherheit und Stabilität der Region als grundlegend angesehen werden und die für die Staaten der Region verpflichtend werden sollen. Dazu zählt auch die Unterstützung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses. Als
Grundlage für den nunmehr beginnenden Prozess dient
ein Katalog von vertrauensbildenden Maßnahmen. Als
weiterer Schritt ist ein Treffen auf Ebene der Außenminister im Juni 2012 in Kabul vereinbart worden. Das
wird zuvor auf Arbeitsebene vorbereitet, und es werden
voraussichtlich vertrauensbildende Maßnahmen im Bereich Sicherheit beraten.
Die Einbettung Afghanistans als selbstständiger und
souveräner Partner in der Region ist ein wichtiger Bestandteil der deutschen Afghanistan-Politik und ist für
die langfristige Stabilisierung des Landes unverzichtbar.
Sie ist natürlich auch integraler Bestandteil unseres Konzeptes für die Afghanistan-Konferenz Anfang der nächsten Woche in Bonn.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Johannes Pflug.
Herzlichen Dank, Herr Staatsminister. - Sind auf der
Konferenz in Istanbul irgendwelche Verifizierungsgespräche, Nachfolgekonferenzen oder Institutionalisierungen von Gesprächsformaten vereinbart worden, die
von uns auch im Hinblick auf die in Bonn anstehende
Konferenz genutzt werden könnten?
Ja und nein. Der Prozess soll eine Fortsetzung in der
Konferenz von Kabul finden, die aber erst nach der Bonner Konferenz stattfindet. Es macht Sinn, das, was in
Istanbul beschlossen worden ist, in die Bonner Konferenz einfließen zu lassen und dann weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. Um es etwas flapsig auszudrücken:
Die Istanbul-Konferenz ist keine Eintagsfliege.
Ihre zweite Nachfrage.
Herr Staatsminister, an dieser Konferenz hat Pakistan
noch teilgenommen. Wie würden Sie die Rolle Pakistans
auf dieser Konferenz charakterisieren?
Unter dem Vorbehalt, dass ich selbst nicht dabei war
und ich mich auf die Berichte von Bundesminister
Westerwelle, der an dieser Konferenz teilgenommen hat,
beziehen muss, will ich sagen: Ich fand die Teilnahme
und die Art der Teilnahme Pakistans an dieser Konferenz
hoffnungsspendend.
Deswegen halten wir ja so an dem Wunsch fest, mit
Pakistan weiterhin zusammenzuarbeiten. In der Pakistan-Politik gibt es im globalen Maßstab große Fragezeichen und große Probleme. Pakistan ist ein wichtiges Land
in der Region und in der Welt. Es ist auch ein Land, das
Probleme hat, die im Nuklearzeitalter für uns alle releStaatsminister Dr. Werner Hoyer
vant sind. Deswegen müssen wir uns intensiv darum
kümmern und müssen sagen, was geht und was nicht
geht. Ich warne vor der Dämonisierung eines solchen
Partners, der für die Stabilisierung dieser Region und der
Welt von herausragender Bedeutung ist. Deswegen sollten wir uns um einen konstruktiven Umgang bemühen.
Vielen Dank.
Wir kommen zur Frage 6 des Abgeordneten Johannes
Pflug:
Wie beurteilt die Bundesregierung die bisherigen Ergebnisse der Loya Jirga vom November 2011 mit Blick auf die
stagnierenden Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Aufständischen, und welche Schritte hat die
Bundesregierung unternommen und geplant, um diesen abgebrochenen Gesprächsprozess wieder in Gang zu bringen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Die Bundesregierung begrüßt es, dass die Delegierten
der Loya Jirga den Prozess einer politischen Einbindung
der Aufständischen ausdrücklich unterstützt haben.
Nach der Ermordung des Vorsitzenden des Hohen Friedensrates Burhanuddin Rabbani und der aufgeheizten
Stimmungslage in den Folgewochen setzten die Delegierten mit ihrer Resolution ein klares Zeichen der Fortsetzung der Friedenspolitik.
Die Bundesregierung teilt die Auffassung der afghanischen Regierung, dass eine Lösung letztlich nur politisch gelingen kann. Zwischen der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft besteht
Einigkeit, dass der Versöhnungsprozess unter afghanischer Führung stehen muss. Die Bundesregierung ist auf
Wunsch der afghanischen Regierung bereit, diesen Prozess im Rahmen des ihr Möglichen zu unterstützen. So
wurde unter deutschem Vorsitz im Sanktionsausschuss
der Vereinten Nationen die Trennung in ein Al-Qaidaund ein Afghanistan-Taliban-Sanktionsregime bewirkt.
Nach ersten bereits erfolgten Entlistungen - also die Streichung von den Listen, wie man das so schön nennt - im
Sommer 2011 werden zurzeit weitere Anträge im Sinne
von vertrauensbildenden Maßnahmen zur Unterstützung
des politischen Prozesses bearbeitet.
Wir sind insofern bei diesem überaus komplexen
Thema verhalten optimistisch.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Pflug.
Danke schön, Herr Staatsminister. - Ein wichtiges Ergebnis dieser Loya Jirga ist wohl die Akzeptanz einer
dauerhaften amerikanischen Truppenpräsenz in Afghanistan auch nach dem Jahr 2014. Angesichts des dramatisch verschlechterten Verhältnisses zwischen den USA
und Pakistan stellt sich natürlich die Frage, wie die Auswirkungen einer dauerhaften Truppenpräsenz in Afghanistan beurteilt werden. Halten Sie es für denkbar, dass
die Deutschen bzw. die Europäer gemeinsam mit den
Amerikanern versuchen, ihre Interessen in dieser Region
Südasiens zu definieren, um vielleicht doch noch zu einer ansatzweisen Stabilisierung zu kommen?
Es ist völlig klar, dass wir mit unseren amerikanischen Freunden in einem sehr engen Dialog stehen und
dass wir die Sensibilitäten im Hinblick auf die verschiedenen Truppensteller in der Region - Afghanistan selber, aber auch Pakistan und andere Länder - kennen.
Deswegen ist es logisch, dass sich die NATO mit diesen
Fragen befasst und wir direkt mit unseren amerikanischen Freunden kommunizieren.
Jetzt aber - unmittelbar vor der Bonn-Konferenz und
unmittelbar nach diesem furchtbaren Ereignis, das uns
vorhin beschäftigt hat - wäre es falsch, einen Schnellschuss zu machen.
Ihre nächste Nachfrage, Herr Kollege Pflug.
Herr Staatsminister, können Sie die Hoffnung bestätigen, dass es auch auf der Seite der Aufständischen Gesprächspartner gibt, mit deren Hilfe man vielleicht doch
noch zu positiven Ergebnissen in diesem Verhandlungsund Friedensprozess kommen kann?
Das ist einer der brisantesten Komplexe, die es hier zu
bearbeiten gilt. Ich möchte nicht einer Illusionspolitik
geziehen werden. Wenn Sie mich aber so persönlich fragen, würde ich sagen: Bei mir ist ein Funken Hoffnung
da.
Vielen Dank.
Die Frage 7 des Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele sowie die Fragen 8 und 9 des Abgeordneten
Dr. h. c. Gernot Erler werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 10 des Abgeordneten Dr. Rolf
Mützenich:
Welche gemeinsamen Kriterien legt die Bundesregierung
dem Begriff der Gestaltungsmächte zugrunde, und welche
Länder zählt sie im Einzelnen dazu?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Die Bundesregierung erstellt derzeit unter Federführung des Auswärtigen Amts ein ressortabgestimmtes
Konzept zur Zusammenarbeit mit aufstrebenden Mächten zur Gestaltung deutscher Globalisierungspolitik. Wir
befinden uns in einem intellektuellen Findungsprozess,
der von einem Abschluss noch weit entfernt ist. Insofern
kann ich Ihnen über Ergebnisse noch keinen Bericht er17260
statten. Ziel des Konzeptes ist es, das Zeitalter der globalen Interdependenzen mit aufstrebenden Mächten durch
eine kohärente Globalisierungspolitik aktiv mitzugestalten. Aber wir befinden uns hier in einer relativ frühen
Phase. Da das Thema eine solche Dimension hat, muss
ich sagen: Man muss etwas wachsen lassen, und die
politische Führung muss sich intensiv damit beschäftigen. Da würde ich nicht gleich jeden Referentenentwurf
für bare Münze nehmen.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Dr. Mützenich.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Ich gehe davon
aus, dass die Bundeskanzlerin keine Referentenentwürfe
in die Kabinettsberatungen einbringt. Es war aber die
Bundeskanzlerin, die im Zusammenhang mit der Diskussion über Panzerlieferungen an Saudi-Arabien sehr
konkret von der Gestaltungsmacht Saudi-Arabiens gesprochen hat. Deswegen verwundert es mich jetzt schon,
dass Sie auf der einen Seite noch in einem offenen intellektuellen Findungsprozess mit aufstrebenden Mächten
zur Gestaltung deutscher Globalisierungspolitik sind und
auf der anderen Seite bereits Waffenlieferungen in den
Nahen Osten genehmigt haben. Wie passt das zusammen? Wie bewerten Sie, wenn Saudi-Arabien zu den Gestaltungsmächten gehört, mit Blick auf die Waffenlieferungen an dieses Land eine Studie der Stiftung
Wissenschaft und Politik - die Stiftung arbeitet sowohl
der Bundesregierung als auch dem Bundestag zu; die
Studie ist im Netz abrufbar -, in der insbesondere steht,
dass Saudi-Arabien unruhigen Zeiten entgegengeht?
Das geht weit über den Scope Ihrer ursprünglichen
Fragestellung hinaus; aber das ist völlig legitim. - Ich
bleibe dabei, dass wir in dem Moment, in dem wir das zu
einem in der Regierung abgestimmten Konzept erklären,
eine Vorlage präsentieren müssen, die weit über die Definition des Begriffs „neue Gestaltungsmacht“ hinausgeht. Ein solches globalisierungspolitisches Konzept
gibt es aber noch nicht. Ich wäre da sehr vorsichtig. Deswegen würde ich den Begriff nicht auf einen Kontext reduzieren, der ausgesprochen streitig ist und differenziert
zu betrachten ist. Der von Ihnen hergestellte Zusammenhang mit Rüstungsexporten führt von vornherein auf
eine falsche Spur. Wenn man ein umfassendes Konzept
einer aktiveren Globalisierungspolitik erstellen möchte,
dann muss man sich mit dieser Frage umfassender beschäftigen.
Ansonsten bleibt es dabei, dass es hier um Staaten
geht, die im regionalen oder internationalen Bereich eine
besondere Wirtschaftskraft aufweisen, einen starken Gestaltungswillen in verschiedenen Politikbereichen haben
und denen eine zentrale Bedeutung bei der Gestaltung
globaler Ordnungspolitik zukommt. Das wäre der Versuch einer Definition; aber er reicht nicht aus, um ein
globalisierungspolitisches Konzept zu entwickeln.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Dr. Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatsminister,
trotz der großen Sympathie sowohl für Ihre Antwort als
auch für Ihre Person muss ich noch einmal nachfragen.
Sie sagen, es gebe zurzeit einen Abstimmungsprozess im
Hinblick auf die Rolle der Gestaltungsmächte in der
deutschen Außenpolitik. Wie lange muss der Bundestag
nach Ihrer Einschätzung auf die abschließende Bewertung der Rolle der Gestaltungsmächte in der internationalen Politik durch die Bundesregierung warten? Wird
eine solche Bewertung bis zum Ende der Legislaturperiode, egal wie lange sie dauert, vorliegen?
Da kann ich Sie beruhigen: Unsere Fachleute sind bei
der Behandlung dieser Frage sehr ambitioniert und
möchten bald etwas beschlossen sehen. Ich halte die
Frage aber für so brisant, dass wir in der politischen Führung sehr genau darüber diskutieren müssen und dass
wir unsere, wie ich finde, immer sehr anregenden Begegnungen im Auswärtigen Ausschuss dazu nutzen sollten, einen intellektuellen Diskurs darüber zu führen und
dann hoffentlich gemeinsam etwas zustande bringen.
Denn das ist die Frage, mit der wir uns in den nächsten
Jahren prioritär befassen werden: Wie werden wir die
Selbstbehauptung Deutschlands im europäischen Kontext und in der Globalisierung organisieren? Dies ist eine
ganz entscheidende Frage.
Wir kommen zur Frage 11 unseres Kollegen Dr. Rolf
Mützenich:
Warum beurteilt die Bundesregierung die Umbrüche in
Nordafrika als „Gefahr für die Sicherheit“ ({0}),
anstatt die ihnen innewohnenden politischen Chancen dieser
gesellschaftspolitischen Entwicklungen für die Nachbarregion
Europas aktiv politisch zu nutzen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Hier ist, glaube ich, ein begriffliches Problem entstanden, und zwar dadurch, dass der negativ konnotierte
Ausdruck „Gefahr für die Sicherheit“ in Zusammenhang
mit den Entwicklungen in Nordafrika verwendet worden
ist. Es ist natürlich völlig klar, dass die Bundesregierung
den Entwicklungen der vergangenen Monate in nordafrikanischen Ländern in Richtung Gewährleistung von
Rechtsstaatlichkeit, politischer Teilhabe und Menschenwürde mit großer Sympathie begegnet und sie begrüßt.
Die Bundesregierung sieht diese Entwicklungen zunächst einmal als eine große Chance für diese Länder
selber, aber eben auch als eine Chance für die Vertiefung
der bilateralen und der interregionalen Zusammenarbeit,
insbesondere der Zusammenarbeit Nordafrikas mit der
Europäischen Union. Die Bundesregierung unterstützt
diese Entwicklungen durch konkrete Vorhaben in der
Zusammenarbeit, wie sie in den Transformationspartnerschaften, zunächst mit Ländern wie Tunesien und Ägypten, zum Ausdruck kommen. Auch in der Europäischen
Union setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass
durch eine Neuausrichtung der europäischen Nachbarschaftspolitik insbesondere die reformorientierten Staaten Nordafrikas unterstützt werden und wir somit die
Chancen dieser Entwicklungen fördern.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege Dr. Mützenich.
Bitte schön.
Herr Staatsminister, ich bin dankbar, dass wir uns darauf verständigen können, dass es ein gewisses - wie Sie
es formuliert haben - begriffliches Problem gibt, was die
Stellungnahme der Bundesregierung an die Europäischen Kommission betrifft. In der Tat bergen solche Umbruchsituationen auf der einen Seite Risiken, aber sie
bieten auf der anderen Seite durchaus auch Chancen für
Europa. Das haben Sie eben ausgeführt.
Kann es dennoch sein, dass nicht ein begriffliches
Problem besteht - diese Stellungnahme wurde unter Federführung des Wirtschaftsministeriums erarbeitet -,
sondern dass damit die Begründung für eine Lieferung
sowohl von Dual-Use-Gütern als auch möglicherweise
von Rüstungsgütern erleichtert wurde?
Ich will das nicht auf die Federführung des Wirtschaftsministeriums reduziert wissen. Das ist ein umfassenderes Problem; denn die Entwicklungen in den einzelnen Ländern Nordafrikas sind sehr unterschiedlich.
Risiken durch die Umleitung von problematischen Gütern an Dritte sind angesichts teilweise längst noch nicht
hinreichend ausgeprägter staatlicher - auch rechtsstaatlich kontrollierter - Strukturen nicht ganz auszuschließen. Deswegen müssen wir uns offenen Auges mit diesem Problem befassen. Auf die möglichen Risiken und
Gefahren besonders vor dem Hintergrund der Ausfuhrkontrolle weist die Formulierung der Bundesregierung in
der Stellungnahme zum Grünbuch der EU-Kommission
hin, ohne einen falschen Verdacht produzieren zu wollen; das wäre sicherlich unangemessen.
Nehmen Sie als Beispiel die Risiken im Verhältnis zu
anderen fragilen Sahel-Staaten, in denen al-Qaida im islamischen Maghreb seine Aktivitäten ausdehnt. Neulich
wurde uns über massive Zuflüsse von Waffen aus libyschen Beständen an al-Qaida in der Region berichtet.
Das ist ein Problem, das man nicht einfach wegdiskutieren kann. Ich möchte aber um Himmels willen nicht die
demokratischen, rechtsstaatlichen Kräfte, die sich in
Nordafrika auf einen großartigen Reformweg begeben,
unter Generalverdacht stellen. Das wäre völlig unangemessen.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Dr. Mützenich.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatsminister,
da wir von Ihnen gerade gehört haben, dass es sich um
ein begriffliches Problem bzw. um eine unzutreffende
Zuschreibung handelt, gehe ich davon aus, dass die Bundesregierung in Zukunft vorsichtiger bei der Verwendung solcher Formulierungen sein wird. Ich hoffe, dass
das Auswärtige Amt seinen Beitrag dazu leisten wird.
Unabhängig davon: Sind Sie mit mir der Meinung,
dass - wie es auch in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch der Europäischen Kommission
heißt - eine Harmonisierung bei EU-Ausfuhren von
Dual-Use-Gütern oder Rüstungsgütern nicht mehr beabsichtigt ist? Gibt es in der Bundesregierung einen Paradigmenwechsel, was die Harmonisierung bei der Ausfuhr solcher Güter innerhalb der Europäischen Union
betrifft?
Dieser Zusammenhang geht mir jetzt zu weit. Das
wäre eine Frage der grundsätzlichen Orientierung, der
Neuorientierung der Rüstungsexportpolitik bzw. der
Dual-Use-Exportpolitik. Das lässt sich anhand dieses einen Beispiels nicht beantworten. Das wäre leichtfertig.
Nachdem der Kollege Dr. Mützenich seine zwei
Nachfragen gestellt hat, hat jetzt Frau Kollegin Katja
Keul das Wort.
Vielen Dank. - Nachdem Sie uns erklärt haben, dass
die Formulierung „Gefahr für die Sicherheit“ eine begriffliche Verwirrung ist, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen klar ist, dass nicht nur im Wirtschaftsministerium,
sondern auch im Verteidigungsministerium offensichtlich solche Verwirrungen herrschen. Wir haben in der
Debatte über eine Verlängerung des Militäreinsatzes
Operation Active Endeavour im Mittelmeer das seltsam
anmutende Argument gehört, dass es zwar schwierig sei,
diesen Einsatz angesichts seiner bisherigen Legitimation
zu rechtfertigen, dass aber durch die Umbrüche in Nordafrika jetzt alles so gefährlich sei, dass man die Begründung dieses Militäreinsatz darauf stützen könne. Das
scheint mir doch über eine begriffliche Verwirrung hinauszugehen. Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung des
Verteidigungsministeriums?
Ich glaube, wir sprechen hier ein Stück weit unterschiedliche Sprachen. Ich habe gesagt: Dieser Begriff ist
problematisch, wenn er mit den gegenwärtigen Reformprozessen in Nordafrika in Zusammenhang gebracht
wird. Diese Reformprozesse sind großartig. Sie verdie17262
nen unsere Unterstützung, nicht unsere Verdächtigungen.
Trotzdem haben wir objektiv betrachtet Probleme mit
dem Nachweis des Verbleibs von bestimmten Gütern.
Deswegen müssen wir der Sache genau auf den Grund
gehen. Wenn Probleme im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit und die Belastbarkeit staatlicher Institutionen bestehen, auch im Kontrollbereich - auf der Konferenz der
Körber-Stiftung, die gestern in Berlin stattfand, haben
die Menschen aus der Region das nachhaltig unterstrichen -, dann müssen wir diese ernst nehmen, auch mit
Blick auf die Gefahren, die aus den Exportaktivitäten resultieren können. Das ist überhaupt keine diskriminierende Äußerung gegenüber den Ländern in der Region.
Man muss bei der Formulierung aufpassen. Dass das
Wirtschaftsministerium, welches diese Vorlage, wie ich
glaube, gemacht hat, darauf hinweist, dass es ein Problem gibt, finde ich vollkommen realistisch. Ich glaube,
Sie würden uns als Erste vorwerfen, nicht hinreichend
aufgepasst zu haben, wenn ein Rüstungsgut in einem
Land auftauchen würde, in das es nicht gehört.
Vielen Dank.
Wir bleiben in diesem Geschäftsbereich. Ich rufe die
Frage 12, gestellt von unserem Kollegen Niema
Movassat, auf:
Was hat der deutsche Botschafter in Namibia, Egon
Kochanke, am 16. November 2011 in Windhuk gemeint, als er
anlässlich der Unterzeichnung der bilateralen Vereinbarungen
der Entwicklungszusammenarbeit gegenüber der Presse Bezug auf die namibische Delegation in Berlin anlässlich der
Rückführung von Gebeinen von Opfern des deutschen Vernichtungsfeldzugs nach Namibia nahm und davon sprach,
dass diese „aufgrund ihrer versteckten Agenda“ einen „negativen Eindruck“ hinterlassen habe ({0})?
Herr Staatsminister, bitte.
Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in
der Republik Namibia hat gegenüber der namibischen
Presse anlässlich der Unterzeichnung eines Abkommens
über die Entwicklungszusammenarbeit zwischen
Deutschland und Namibia seine Hoffnung ausgedrückt,
dass die bilateralen Beziehungen davon bestimmt sein
mögen, zukunftsgerichtet die Entwicklungschancen Namibias zu erkennen und zu fördern, ohne - das möchte
ich betonen - die historischen Belastungen aus der gemeinsamen Geschichte zu vernachlässigen. Botschafter
Kochanke verwies mit seiner Äußerung darüber hinaus
auf den Umstand, dass die namibische Delegation, die
zur Entgegennahme von Schädeln von Herero und Nama
nach Berlin gereist war, wenn auch nur teilweise, Wiedergutmachungsforderungen erhoben hatte. Der Bundesregierung wurde im Vorfeld des Delegationsbesuchs von
der namibischen Regierung wiederholt versichert, dass
alleiniger Besuchszweck die Rückführung der Schädel
sein sollte.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege.
Danke schön. - Herr Staatsminister, es geht letztlich
um die Äußerung des deutschen Botschafters in Namibia, dass die namibische Delegation „aufgrund ihrer versteckten Agenda“ einen „negativen Eindruck“ hinterlassen habe. Das ist mit Blick auf die diplomatischen
Beziehungen eine sehr drastische Äußerung. Insofern
stellt sich sehr konkret die Frage - das ist meine Nachfrage -: Welche konkreten Absprachen gab es, die die
namibische Delegation angeblich nicht eingehalten hat?
Welche Absprachen gab es zwischen dem Auswärtigen
Amt, der Botschaft der Republik Namibia und der Charité? Welche davon soll die namibische Delegation verletzt haben, weil sie eine „versteckte Agenda“ verfolgt
hat?
Die namibische Delegation bzw. die namibische Regierung hatte vorher klargestellt - das war Konsens mit
der deutschen Regierung -, dass die Frage der möglichen Wiedergutmachungsleistungen nicht Gegenstand
dieses Besuchs sein würden. Ich bin sehr vorsichtig damit, den namibischen Partnern hier Vorwürfe zu machen; denn sie sind von Organisationen in Deutschland
geradezu aufgestachelt worden.
({0})
Diese Organisationen haben diesen Besuch genutzt, um
richtig zuzulangen und um zu erzwingen, dass dieses
Thema auf die Tagesordnung kommt. Ich glaube fast, es
wäre von den namibischen Partnern zu viel verlangt,
wenn man verlangen würde, darauf überhaupt nicht einzugehen. Deswegen sollten wir uns einmal selbst fragen,
ob dieser Besuch nicht möglicherweise doch in unangemessener Weise in eine falsche Richtung gelenkt worden
ist, nicht von den Namibiern, sondern von denen, die
hier als Kogastgeber aufgetreten sind.
Im Übrigen waren die Absprachen mit der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ausgesprochen
schwierig. Der Termin ist mehrfach verschoben bzw. abgesagt worden. Auch die Delegationszusammensetzung
ist immer wieder verändert worden. Zum Schluss wurden der Termin und der Ablauf der Veranstaltung von
der namibischen Seite einseitig festgelegt. Dennoch hat
sich die Bundesregierung eingebracht, auch durch die
persönliche Teilnahme und den Redebeitrag der Kollegin Staatsministerin Pieper.
Ihre zweite Nachfrage, Herr Kollege.
Danke. - Herr Staatsminister, wenn Sie die Kritik
nicht an der namibischen Delegation festmachen, sondern an der deutschen Zivilgesellschaft, die in diesem
Bereich aktiv ist, dann frage ich mich - das frage ich
Sie -: Warum hat die Bundesregierung nicht zumindest
die Chance zum Dialog genutzt? Es gab eine konkrete
Einladung zu einer Podiumsdiskussion am 28. September 2011. Dort hätte man in einen offenen, transparenten
Dialog mit der namibischen Delegation eintreten können. Man hätte auch über die Fragen „Völkermord“ und
„Wiedergutmachung“ in einer transparenten Art und
Weise reden und seine Position deutlich machen können.
Das wurde versäumt. Warum?
So laufen internationale Verhandlungen und Gespräche über so komplexe Angelegenheiten nicht. Man begibt sich nicht auf eine Initiativveranstaltung, um dort
mit den ausländischen Partnern Verhandlungen zu führen; so läuft das nicht. Vielmehr verabredet man vorher,
welche Themen bei einer solchen Reise behandelt werden sollen, welche Abläufe es geben soll und in welchen
Formaten diskutiert werden soll. Das wird dann abgearbeitet.
Wie gesagt: Den Vorwurf richte ich nicht in erster Linie an die namibischen Freunde, sondern wir müssen
selbstkritisch fragen, ob das alles in Deutschland gut gelaufen ist. Wir können eine solche Veranstaltung nicht in
einer solch chaotischen Weise durchführen. Es wäre besser gewesen, wenn es über Zeit, Ablauf und Zusammensetzung dieser Besuchsreise eine präzise Absprache mit
der Bundesregierung gegeben hätte. Das ist leider nicht
der Fall gewesen. Da wir es in der Tat mit einem ganz
komplexen und belastenden historischen Thema zu tun
haben, sollten wir aufpassen, dass dies in der Zukunft
nicht zu weiteren Belastungen des namibisch-deutschen
Verhältnisses führt.
Vielen Dank. - Wir kommen nun zu Frage 13, ebenfalls gestellt vom Kollegen Niema Movassat:
Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass
sie dem wiederholt und mit Nachdruck vorgetragenen Bekenntnis zum schweren historischen Erbe, zu der daraus resultierenden moralischen und historischen Verantwortung
Deutschlands gegenüber Namibia und der Sonderbeziehung
zwischen den beiden Staaten gerecht wird, wie es die Staatsministerin Cornelia Pieper am 30. September 2011 in ihrer
Rede in der Berliner Charité betonte, wenn der deutsche Botschafter in Namibia das durch die skandalöse Abfertigung der
namibischen Delegation durch die Bundesregierung ohnehin
strapazierte Verhältnis zu Namibia durch derartige Aussagen
zusätzlich belastet?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Wir sind nicht der Auffassung, dass Botschafter
Kochanke, der durchaus zu handfesten Äußerungen in
der Lage ist und diese auch immer gut begründen kann,
die namibische Delegation in irgendeiner Weise beleidigt oder das Verhältnis zu Namibia belastet hätte; das
sehe ich nicht. Im Übrigen weise ich auch deutlich den
Vorwurf zurück - dies wird in Ihrer Frage insinuiert -,
dass die namibische Delegation skandalös abgefertigt
worden wäre. Das sind Bewertungen, die ich mir ganz
gewiss nicht zu eigen mache.
Ihre erste Nachfrage, Kollege.
Danke. - Herr Staatsminister, bei der Beantwortung
der Frage einer unangemessenen Abfertigung der namibischen Delegation ist natürlich ein ganz entscheidender
Punkt, wie bei der Übergabe der Schädel mit der Delegation umgegangen worden ist. Bei dieser Veranstaltung
hat Frau Staatsministerin Pieper nicht die Rede des namibischen Ministers abgewartet, sondern ist nach ihrer
Rede sofort gegangen, was, soweit ich weiß, auch unter
diplomatischen Gesichtspunkten äußerst problematisch
ist; man sollte sich zumindest die Rede des Gastes anhören.
Ich muss Ihnen sagen, dass diese Veranstaltung - der
Vorwurf wird in diesem Zusammenhang manchmal geäußert - nicht in der Zuständigkeit des Bundes lag, sondern dass es sich um eine Veranstaltung der Charité handelte. Frau Kollegin Pieper ist während der exzellenten
Rede, die sie bei dieser Gelegenheit gehalten hat, auf unglaubliche Weise gestört worden, und ihr ist das Wort
abgeschnitten worden. Daher hielten es die Sicherheitskräfte der Charité für richtig, sie anschließend aus dieser
Veranstaltung herauszubringen.
Ich mache da - das sage ich erneut - den namibischen
Kollegen keinen Vorwurf, sondern weise darauf hin:
Deutsche Teilnehmer dieser Veranstaltung haben dafür
gesorgt, dass die Vertreterin der Bundesregierung nicht
richtig zu Wort kommen konnte. Bevor wir hier ein internationales Problem produzieren, sollten wir uns an die
eigene Nase fassen und darüber nachdenken, dass diese
sehr kritische Situation unter Umständen missbraucht
wurde, um billiges innenpolitisches Kapital daraus zu
schlagen.
Sie haben Ihre zweite Nachfrage, Herr Kollege.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatsminister, es ist
aber auch so - das muss man zur Kenntnis nehmen -,
dass in der namibischen Presse und in der namibischen
Gesellschaft das Vorgehen der Bundesregierung kritisiert worden ist. Es gibt den Vorwurf, dass die Äußerungen des Botschafters dazu geeignet sind, die innere Stabilität und den nationalen Versöhnungsprozess in
Namibia zwischen den schwarzen Volksgruppen und den
Nachfahren der weißen Siedler aus der Kolonialzeit zu
gefährden. Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf?
Ich halte davon nichts. Ich glaube, dass wir uns hier
einen Schuh anziehen, der nicht passt. Richtig ist, dass
die politische Situation in Namibia kompliziert ist und
dass es innerhalb der politischen Kräfte in Namibia in
der Frage der Wiedergutmachung und der Frage der
Rückführung der Schädel sehr unterschiedliche Positionen gibt. Das hat ja auch die Vorbereitung dieser Übergabe so kompliziert gemacht. Deswegen sind immer
wieder Termine abgesagt worden, neu angesetzt worden,
und zum Schluss ist diese Angelegenheit, wie ich finde,
auf eine unglückliche Art und Weise abgewickelt worden. Das hat die ganze Angelegenheit nicht erleichtert.
Aber wir sollten uns nicht einreden, Deutschland, das
sich ernsthaft bemüht, mit einer historischen Belastung
angemessen umzugehen, würde die Schuld auf sich laden, wenn es darum geht, dass der innenpolitische Prozess in Namibia schwierig ist.
Vielen Dank. - Eine weitere Frage hierzu stellt unser
Kollege Hartwig Fischer.
Herr Präsident! Herr Staatsminister, ist es nicht vielmehr so, dass dieses Thema in den vergangenen Jahren
bei Besuchen aller Delegationen angesprochen wurde,
dass es mit der Regierung in Namibia Einigkeit in Bezug
auf die Auseinandersetzung - ich meine das im positiven
Sinne - mit den Herero gegeben hat und dass mit der
Rede und der Entschuldigung von Frau Wieczorek-Zeul
in Namibia ein Grundkonsens auch mit den damals anwesenden Herero geschaffen wurde?
In der Tat, Herr Kollege Fischer: Das Problem ist damals in einer würdigen Form erledigt worden. Das heißt
nicht, dass wir uns unserer historischen Belastung nicht
immer bewusst sein werden und dies auch gegenüber
den namibischen Freunden zum Ausdruck bringen sollten. Aber das Thema Wiedergutmachung war damit
durch. Man muss schon feststellen, dass es ständig von
Kräften innerhalb der Bundesrepublik Deutschland neu
aufgemischt wird. Das ist nicht hilfreich für den weiteren Prozess in Namibia selber, und es ist mit Sicherheit
nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Die Frage 14 der Kollegin Kotting-Uhl wird schriftlich beantwortet.
Die Frage 15 der Kollegin Dağdelen wurde zurückgezogen.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.
Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung.
Ich rufe Frage 16 der Kollegin Dağdelen auf:
Wieso sieht die Bundesregierung keinen Anlass, sich mit
der niederländischen Regierung über die Frage der Anwendung und Auslegung des Verschlechterungsverbots des EWGTürkei-Assoziationsrechts auszutauschen ({0}), obwohl diese ganz im Gegensatz zur Bundesregierung das für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gültige Assoziationsrecht so auslegt, dass von
türkischen Staatsangehörigen zum Beispiel keine Sprachnachweise im Ausland als Voraussetzung für den Ehegattennachzug
verlangt werden dürfen, und inwieweit hält die Bundesregierung einen Verweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2010 noch für tragfähig, nachdem dieses
vom Gericht selbst in einer anderen europarechtlichen Frage
als überholt bezeichnet wurde ({1}) und nach
diesem Urteil weitere maßgebliche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ergangen sind, die damals noch nicht
berücksichtigt werden konnten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom
30. März 2010 die Rechtsauffassung der Bundesregierung bestätigt, dass die Regelungen zum Sprachnachweiserfordernis mit europäischem Recht, insbesondere
mit Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie und dem Assoziationsrecht EU-Türkei, vereinbar
sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem von der
Fragestellerin zitierten Kostenbeschluss vom 28. Oktober 2011 im Verfahren lediglich darauf hingewiesen,
dass die Europäische Kommission im Mai 2011 in einem
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof eine veränderte Rechtsauffassung vertreten hat. Entgegen der
Darstellung der Fragestellerin hat sich das Bundesverwaltungsgericht dabei weder auf eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs berufen, noch kann man dem
Kostenbeschluss entnehmen, dass das Bundesverwaltungsgericht von seiner Auffassung, wonach das deutsche Sprachnachweiserfordernis mit Grundgesetz und
europäischem Recht vereinbar ist, abweichen wollte.
Die Bundesregierung hält ebenfalls an dieser Rechtsauffassung fest. Unbeschadet der Tatsache, dass die
Europäische Kommission in der Frage der Vereinbarkeit
der Sprachnachweisregelung mit der Familienzusammenführungsrichtlinie eine andere Rechtsauffassung als
die Bundesregierung vertritt, bleibt der EuGH zur abschließenden Auslegung des Gemeinschaftsrechts berufen. Der EuGH hat sich zu dieser Rechtsfrage noch nicht
geäußert. Vor diesem Hintergrund besteht aus Sicht der
Bundesregierung kein Anlass für Gespräche mit der niederländischen Regierung über die Vereinbarkeit nationaler Sprachnachweisregelungen mit dem europäischen
Recht.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Dağdelen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
man kann es sich natürlich einfach machen, indem man
nur das wiederholt, was man bis vor kurzem auch immer
behauptet hat: dass das Gericht in seiner Entscheidung
vom März 2010 nicht von seiner Auffassung abgerückt
ist. Fast alle Expertinnen und Experten in der Fachwelt
sagen aber genau das Gegenteil von dem, was Sie hier
behaupten.
Natürlich ist mir die Rechtsauffassung der Bundesregierung aufgrund der Antworten auf die vielen Kleinen
Anfragen, die wir in dieser Sache gestellt haben, seit längerem bekannt. Eines verstehe ich aber nicht: Das Assoziationsabkommen gilt doch für alle EU-Mitgliedstaaten
gleichermaßen und mit gleichem Inhalt. Wenn man nun
sieht, dass die Niederlande, die, wenn ich das so sagen
darf, nicht unbedingt eine migrantenfreundliche Regierung haben - schließlich wird sie vom Rechtspopulisten
Wilders gestützt -, zu dem Schluss gekommen sind, dass
Gesetzesverschärfungen durch die Einführung von Regelungen bezüglich der Sprachanforderungen mit dem
Verschlechterungsverbot des Assoziationsrechts unvereinbar sind, dann darf das der Bundesregierung nicht
egal sein. Irgendein Land - entweder Deutschland oder
die Niederlande - muss ja bei der Umsetzung dieses Assoziationsrechts im Unrecht sein.
Insofern möchte ich gerne wissen: Warum wird seitens der Bundesregierung nicht der Versuch unternommen, sich hier auszutauschen, um eine EU-einheitliche
Umsetzung des Assoziationsrechts zu erreichen, bzw.
sich wenigstens über die unterschiedlichen Anwendungspraxen und juristischen Argumente auszutauschen?
Für uns ist nicht entscheidend, was ein niederländisches Gericht gesagt hat, sondern für uns ist erstens entscheidend, welche Gesetze der Deutsche Bundestag gemacht hat. Die Rechtslage in Deutschland ist so, dass ein
Sprachnachweis erforderlich ist. Das halten wir als Bundesregierung auch für richtig und notwendig, weil das
eine wichtige Maßnahme für eine bessere Integration ist.
Für die Bundesregierung ist zweitens maßgeblich,
was deutsche Gerichte sagen. Das Bundesverwaltungsgericht hat ein entsprechendes Urteil gesprochen, und
eine Verfassungsbeschwerde wurde nicht angenommen.
Das ist für uns entscheidend.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, Sie irren schon, wenn Sie von einem niederländischen Gericht ausgehen. Es ging nicht
um ein niederländisches Gericht, sondern es ging um
den EuGH, der einen Einzelfall aus den Niederlanden
betrachtet hat und kurz vor der Entscheidung stand. Daraufhin haben die Niederlande die Regelung zurückgezogen und ein Visum erteilt, ohne die Sprachkenntnisse
verpflichtend zu machen und festzustellen. Die Regierung hat also sozusagen unter Vorwegnahme eines Entscheides des EuGH gehandelt, weil sie wusste, dass das,
was in den Niederlanden geschehen und in Deutschland
heute noch immer gültig ist, einfach Unrecht und mit
dem Assoziationsrecht unvereinbar ist.
Ich frage mich, warum Sie noch immer mit diesem
Verweis auf das Bundesverwaltungsgericht agieren, obwohl es von seiner Meinung vom März 2010 ziemlich
abgerückt ist, dass diese Sprachanforderungen beim
Ehegattennachzug mit dem EU-Recht vereinbar sind. Da
das Bundesverwaltungsgericht von seiner Entscheidung
vom März 2010 abgerückt ist, kann sich die Bundesregierung heute doch nicht hier hinstellen und weiterhin
genau auf dieses Urteil verweisen. Deshalb noch einmal
meine Frage - es geht nicht um die politische Entscheidung -: Inwiefern überprüft die Bundesregierung überhaupt die Einheitlichkeit und die Vereinbarkeit mit dem
Assoziationsrecht und dem Verschlechterungsverbot?
Das niederländische Zentrale Berufungsgericht hat
mit Urteil vom 16. August 2011 entschieden, dass es mit
dem Assoziationsrecht EU - Türkei nicht vereinbar ist,
von türkischen Staatsangehörigen in den Niederlanden
einen Integrationstest zu verlangen. Die niederländische
Regierung hat dieses Urteil dann so interpretiert, dass
von türkischen Staatsangehörigen auch kein Sprachtest
vor dem Ehegattennachzug verlangt werden kann, und
die Rechtsanwendung entsprechend angepasst.
Der EuGH hat bislang keine Entscheidung zur Vereinbarkeit von Sprachnachweiserfordernissen mit europäischem Recht gefällt. Darauf möchte ich noch einmal
hinweisen. Letztendlich ist das auch eine politische
Frage. Solange es rechtlich möglich ist, einen solchen
Sprachnachweis zu verlangen, werden wir das auch tun,
weil wir der Meinung sind, dass es für diejenigen, die
nach Deutschland kommen, um sich hier zu integrieren,
von großem Vorteil ist, wenn sie wenigstens ein paar
Worte Deutsch sprechen können. Das ist eine wichtige
vorgelagerte Integrationsmaßnahme.
Vielen Dank. - Die Frage 17 des Abgeordneten HansChristian Ströbele und die Frage 18 des Abgeordneten
Andrej Hunko werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 19 der Kollegin Stüber auf:
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass kommunale Feuerwehren im Zuständigkeitsgebiet von Bundesautobahnen auch in Zukunft Spezialeinsätze in Unfall- und Katastrophenfällen auf Bundesautobahnen sicherstellen können?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Ich beantworte die Frage wie folgt: Das kommunale
Feuerwehrwesen sowie die Organisation des Rettungsdienstes sind ausschließlich Sache der Länder. Den Ländern und Kommunen obliegt die Sicherstellung einer
einsatzfähigen Feuerwehr. Der Bund hat diesbezüglich
keine Zuständigkeit. Aber ich möchte hinzufügen, dass
wir als Bundesregierung natürlich alles dafür tun, damit
die Kommunen handlungsfähig sind. Deswegen haben
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
wir sie mit der Übernahme von großen Teilen der Sozialkosten entlastet, nämlich der Grundsicherung.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
meiner Kenntnis nach ist die Verantwortung für Rettungsdienste erst Ende der 90er-Jahre an die Länder
übertragen worden. Meine Frage ist jetzt: Wenn sich eine
Kommune oder ein Land außerstande sieht, für die Anschaffung von Spezialtechnik aufzukommen, gibt es
dann Möglichkeiten, dass der Bund dafür Mittel zur Verfügung stellt?
Was wir machen, ist, die Länder im Bereich des Katastrophenschutzes zu unterstützen. Mit der Neukonzeption aus dem Jahr 2008 hat man sich darauf verständigt,
dass der Bund insgesamt 5 046 Einsatzfahrzeuge zur
Verfügung stellt. Von denen haben wir bisher 3 651 ausgeliefert. Daran sehen Sie schon, dass der Bund seiner
Verantwortung gerecht wird.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich darf noch einmal nachfragen. Habe ich Sie richtig
verstanden, dass Sie der Meinung sind, dass der Bund
seiner Verantwortung gerecht wird? Korrekt?
Ich fasse zusammen, dass das kommunale Feuerwehrwesen sowie die Organisation des Rettungsdienstes ausschließlich Sache der Länder sind. Nichtsdestotrotz unterstützen wir.
({0})
Vielen Dank. - Wir kommen nun zu Frage 20 der
Kollegin Jelpke:
Wie viele V-Leute sind vom Bundesamt für Verfassungsschutz, BfV, durchschnittlich in den letzten fünf Jahren in der
extrem rechten Szene geführt worden ({0})?
Ursprünglich war hier schriftliche Beantwortung erbeten
worden. Jetzt aber ist die Fragestellerin anwesend. Ist die
Bundesregierung sprechbereit?
({1})
- „Immer“ wird mir signalisiert. - Bitte schön, Herr
Wir sind davon ausgegangen, dass diese Frage
schriftlich beantwortet wird. Deshalb mussten mir erst
die Unterlagen gereicht werden. - Ich beantworte die
Frage wie folgt: Die Antwort auf die Frage ließe Rückschlüsse auf den operativen Kernbereich der Nachrichtendienste zu. Die Bundesregierung äußert sich zu solchen Fragen ausschließlich im dafür zuständigen
Parlamentarischen Kontrollgremium.
Ihre Nachfrage.
Danke, Herr Präsident. - Das ist sehr bedauerlich, zumal im Rahmen des Verbotsverfahren bekannt geworden
ist, dass mindestens 30 V-Leute in der Führung der NPD
tätig gewesen sind.
Ich frage Sie: Stimmen denn die Nachrichten in den
Medien, dass gegenwärtig mehr V-Leute in den NaziStrukturen und in der NPD tätig sind als vor dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren?
Ich kann nur noch einmal sagen, dass wir dazu in der
Öffentlichkeit keine Auskünfte geben, sondern dass dafür das Parlamentarische Kontrollgremium da ist.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin Jelpke.
Herr Staatsekretär, sind Sie nicht angesichts der Sicherheitslage vor dem Hintergrund der skandalösen
Nazi-Anschläge der Meinung, dass die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf hat, zu erfahren, nicht wie die Sicherheitsbehörden arbeiten, sondern wie viele V-Leute
dort im Einsatz sind?
({0})
Die Zahl selbst gibt überhaupt keine Auskunft darüber, inwieweit die Sicherheitsbehörden involviert sind.
Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich bei V-Leuten nicht um verdeckte Ermittler handelt, sondern um
Leute aus der Szene, die Informationen liefern. Das sind
wichtige nachrichtendienstliche Quellen der Verfassungsschutzbehörden. Ich bitte noch einmal um Verständnis dafür, dass ich dazu hier in der Öffentlichkeit
keine Auskunft geben kann.
Zu dieser Frage eine Nachfrage der Frau Kollegin
Enkelmann.
Die ganze Öffentlichkeit spricht inzwischen darüber.
Es gibt Zeitungsartikel. Es ist vieles an die Öffentlichkeit gedrungen. Aber hier soll es nicht möglich sein, wenigstens diese Fragen zu beantworten? Das ist schon
sehr eigenartig.
Meine Frage betrifft Brandenburg. Der dortige Verfassungsschutz hat bereits 1998 Hinweise auf das Trio
gegeben, um das es unter anderem geht. Warum sind
diese Hinweise vom Bundesamt für Verfassungsschutz
damals nicht so bearbeitet worden, dass es nicht noch
weiterer 13 Jahre bis zur Aufklärung bedurfte? Das ist
auch inzwischen vom Verfassungsschutz Brandenburg
öffentlich bestätigt.
Sie können es weiter versuchen, aber ich werde keine
Details zur Arbeit des Bundesamts für Verfassungsschutz preisgeben.
Wir kommen damit zur Frage 21:
Wie viel Geld wird vonseiten des BfV für den Einsatz von
V-Leuten in der Szene der extremen Rechten jährlich ausgegeben ({0})?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Ich hatte bereits beide Fragen beantwortet, indem ich
darauf hingewiesen habe, dass ich darauf keine Hinweise geben kann.
Frau Jelpke will es trotzdem nicht unversucht lassen
und hat ihre erste Nachfrage.
Ja, genau. Ich meine, dass die Öffentlichkeit ein
Recht hat, zu erfahren, wie viel Geld vom Verfassungsschutz gezahlt wird. Es sind schließlich Steuergelder, die
dafür ausgegeben werden.
({0})
Meine Nachfrage bezieht sich darauf, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz verhindern will, dass VLeute vom Staat Gelder bekommen, die sie dann wieder
in die Nazi-Szene investieren.
Der Verfassungsschutz hat hierfür Mechanismen, indem jede einzelne Aussage selbstverständlich kontrolliert und evaluiert wird. Mehr kann ich hierzu aber nicht
sagen.
Sie haben eine zweite Nachfrage.
Sie können sich vorstellen, Herr Präsident, dass ich
mit diesen Antworten nicht einverstanden bin, weil ich
meine, dass es gerade in dieser Situation ein öffentliches
Interesse besonderer Art gibt. Es gibt Fälle aus der gesamten Republik, in denen sich V-Leute offen dazu bekannt haben, dass sie den Verfassungsschutz ausgespäht
und die Gelder, die sie erhalten haben, wieder in die
Szene investiert haben, um entsprechende Nazi-Strukturen aufzubauen. Sind Sie bereit, uns darüber Auskunft zu
geben?
Was Sie beschreiben, muss unbedingt verhindert
werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat entsprechende Instrumentarien. Ich kann hier aber keine
weiteren Auskünfte darüber geben, weil wir in der Öffentlichkeit nicht über die Arbeitsweise der Nachrichtendienste reden. Dafür gibt es das Parlamentarische Kontrollgremium.
Jetzt gibt es Nachfragen. Zunächst der Kollege Uwe
Kekeritz.
Herr Staatssekretär, ich habe eine Frage zum September 1980. Sie erinnern sich: Das Oktoberfestattentat
wurde zuerst als die Tat eines Einzeltäters niedergebügelt. Meine Frage ist: Kommt es jetzt zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens, und wird der Generalbundesanwalt die Ermittlungen führen?
Das ist Sache des Generalbundesanwalts. Dazu kann
ich keine Auskünfte geben. Denn solche Verfahren werden in einem Rechtsstaat nicht von den Polizeien, sondern von den Staatsanwaltschaften geführt.
Frau Kollegin Enkelmann, Sie haben die nächste
Nachfrage.
Ich frage mich langsam, wozu wir hier sind.
({0})
Wir befinden uns in der Fragestunde. Wir befragen die
Bundesregierung und gehen davon aus, dass die Bundesregierung antwortet. Es gibt so etwas wie eine Auskunftspflicht der Bundesregierung. Daran möchte ich
Sie erinnern. Herr Präsident, Sie werden es schon vermuten: Das wird wieder Thema im Ältestenrat sein.
Dennoch stelle ich meine Frage. Sie haben gerade
festgestellt: Der Verfassungsschutz bekommt Geld. Das
wissen wir alle; denn wir haben gerade in der vergangenen Woche den Haushalt beschlossen. Deshalb wissen
wir, dass es dafür Gelder gibt. Können Sie wenigstens
sagen, wie hoch der Prozentsatz dessen ist, was von diesen Mitteln an V-Leute gezahlt wird?
Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen.
Die Fragen 22 und 23 der Kollegin Aydan Özoğuz,
die Fragen 24 und 25 der Kollegin Sabine Zimmermann,
die Fragen 26 und 27 des Kollegen Frank Tempel und
die Fragen 28 und 29 des Kollegen Jan Korte werden
schriftlich beantwortet. Wir sind immer noch im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.
Ich rufe die Frage 30 der Kollegin Wawzyniak auf:
Wie viele der 10 000 Personen, die sich auf der zweiten
Namensliste der Gruppierung Nationalsozialistischer Untergrund, NSU, befinden, wurden über ihre Erfassung durch die
Terrorzelle informiert, und wie wurden die Betroffenen unterrichtet?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Lassen Sie mich eingangs deutlich machen, dass wir
es mit mehreren Listen des Nationalsozialistischen Untergrunds, NSU, zu tun haben, die sich auf verschiedenen, in der ausgebrannten Wohnung des Zwickauer Trios
sichergestellten Datenträgern befinden. Das Bundeskriminalamt hat aus diesen Listen zur Vereinfachung der
weiteren Bearbeitung eine umfangreiche Liste mit circa
10 000 Personen und Institutionen erstellt. Alle Daten
auf diesen NSU-Listen stammen offenbar aus der Zeit
vor dem Jahr 2006 und wurden nach bisherigen Erkenntnissen aus öffentlich zugänglichen Quellen im Internet
erhoben.
Die Ermittlungsbehörden gehen aktuell nicht davon
aus, dass diese Liste einen größeren Verteilerkreis erfahren hat. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags
sowie ehemalige Abgeordnete, deren Namen sich in diesen Listen befinden, wurden vom BKA angeschrieben.
Ihnen wurde ein Beratungsgespräch angeboten. Nach
dem jetzigen Stand der Ermittlungen sind keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die in der Liste
aufgeführten Personen und Objekte Opfer einer Straftat
werden sollten oder in anderer Weise gefährdet sind.
Im Übrigen haben BKA und Landeskriminalämter
vereinbart, dass sie bzw. die örtlich zuständigen Polizeibehörden in eigener präventivpolizeilicher Zuständigkeit
mit den im jeweiligen Zuständigkeitsbereich lebenden
Personen, sofern es sich nicht um Mitglieder der Verfassungsorgane des Bundes handelt, schriftlich Kontakt
aufnehmen. Das ist aber auch schon bereits angelaufen.
Dabei wird zugleich darauf hingewiesen, dass Anhaltspunkte für eine Gefährdung dieser Personen und Institutionen nicht festgestellt werden konnten und die Möglichkeit besteht, sich bei gleichwohl bestehenden
Bedenken mit der nächsten Polizeibehörde oder dem zuständigen Landeskriminalamt in Verbindung zu setzen.
Das Wort zu einer Nachfrage hat die Frau Kollegin
Wawzyniak.
In der Erwartung, dass Sie jetzt sagen, dass Sie diese
Fragen nicht beantworten werden bzw. können, frage ich
nach, ob Ihnen Erkenntnisse vorliegen, nach welchen
Kriterien die NSU diese Personen ausgewählt hat.
Da es sich hierbei nicht um den Bereich der Nachrichtendienste handelt, kann ich Ihnen hierüber Auskunft geben. Es ist so, dass es sich hierbei offensichtlich um eine
Materialsammlung und nicht um eine Liste derjenigen
handelt, die im Visier dieser Terroristen standen.
Gibt es weitere Nachfragen? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen dann zur Frage 31:
Welche weiteren Zusammenstellungen von politischen
Gegnern, die durch Rechtsextreme erstellt wurden, sind der
Bundesregierung bekannt?
Auf der Grundlage der Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden des Bundes sind in Bezug auf Ihre Frage im
Wesentlichen folgende Initiativen der rechtsextremen
Szene, was Zusammenstellungen von Namen der jeweiligen politischen Gegner angeht, zu nennen: Outing-Aktionen, Anti-Antifa-Kampf und die Internetseite Projekt
Nürnberg 2.0.
Outing-Aktionen stellen im rechten wie übrigens
auch im linken Spektrum kein Novum dar. Sie werden
seit Jahren genutzt, um Angehörige der anderen Szene
als Anhänger des gegnerischen politischen Lagers öffentlich im Internet oder in Szenepublikationen bloßzustellen. Dabei werden in der Regel die politischen Aktivitäten der Personen, ihre Personalien sowie ihre Wohnund Arbeitsadressen offengelegt. In diesem Zusammenhang wird versucht, die vom Outing betroffenen Personen sozial zu isolieren, indem das soziale Umfeld der
Personen - zum Beispiel Arbeitgeber, Familie usw. über die politische Ausrichtung derselben aufgeklärt
wird.
Zum Anti-Antifa-Kampf: Bekanntermaßen bezeichnet die linke Szene die Aktivitäten gegen rechtsextremistische, sogenannte faschistische Bestrebungen als Antifa-Kampf. In Reaktion darauf betrachtet die rechte
Szene ihre gegenläufigen Aktivitäten als Anti-AntifaKampf.
Den Bundessicherheitsbehörden liegen hierzu seit Anfang der 90er-Jahre entsprechende Erkenntnisse vor. Seither haben Rechtsextremisten - in der Regel ausgehend
von regionalen Konflikten -, Namenslisten, Adressen,
Kfz-Daten und Einrichtungen der politischen Gegner veröffentlicht und zum Teil indirekt zu Gewaltaktionen aufParl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
gerufen. Seit einigen Jahren propagieren regional aktive
Kameradschaften den Kampf gegen die jeweils örtliche
Antifa.
Schließlich ist in diesem Zusammenhang die den
Bundessicherheitsbehörden im Juli dieses Jahres bekannt gewordene Internetseite Projekt Nürnberg 2.0 zu
nennen. Auf dieser Webseite wird mit Bezug auf die
Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse als Ziel angekündigt - ich zitiere -:
Aufbau einer Erfassungsstelle zur Dokumentation
der systematischen und rechtswidrigen Islamisierung Deutschlands und der Straftaten linker Faschisten zur Unterdrückung des deutschen Volkes.
Weiter heißt es wörtlich - ich zitiere -:
Aufgabe des Projektes Nürnberg 2.0 ist es, diese
Rechtsverstöße zu erfassen, die Verantwortlichen
zu benennen und sie zu einem geeigneten Zeitpunkt
öffentlich dafür, nach dem Muster des Nürnberger
Kriegsverbrecher-Tribunals von 1945, zur Verantwortung zu ziehen.
Auf der Unterseite „Verantwortliche“ sind nach Erkenntnissen der Bundessicherheitsbehörden Namen von rund
20 Politikern eingestellt.
Nachfrage, Frau Kollegin Wawzyniak.
Liegen Ihnen Anhaltspunkte vor, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von mobilen Beratungsteams gegen
Rechtsextremismus ebenfalls besonders bedroht werden?
Darüber habe ich keine Erkenntnisse. All diejenigen,
die auf der 10 000er-Liste stehen, werden benachrichtigt.
Diese werden selbst Kenntnis davon haben und können
sich dann wiederum an die Sicherheitsbehörden wenden.
Weitere Nachfrage?
Eine Nachfrage habe ich noch. Wie unterstützt die
Bundesregierung diese zivilgesellschaftlichen Projekte
in ihrem Kampf gegen Rechtsextremismus?
Das machen wir. Diese Bundesregierung gibt so viel
Geld für Projekte gegen Rechtsextremismus aus wie
keine Bundesregierung zuvor.
Die Fragen 32 und 33 des Abgeordneten Jens
Petermann werden schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zur Frage 34 der Kollegin Daniela
Kolbe:
Wie begründet es die Bundesregierung, an den gravierenden Kürzungen bei den Sachmitteln der Bundeszentrale für
politische Bildung im Haushalt des Bundesministeriums des
Innern festzuhalten, während im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Kürzungen bei Projekten gegen Rechtsextremismus teilweise
zurückgenommen wurden, und mit welchen Einschränkungen
in der Arbeit der Bundeszentrale ist deshalb zu rechnen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Um die haushaltskonsolidierenden Maßnahmen bei
der Bundeszentrale für politische Bildung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern verantwortungsbewusst umzusetzen, wurde in der Bundeszentrale
für politische Bildung ein Prozess der Aufgabenkritik
initiiert, der in einem ersten Schritt vollzogen ist und
fortlaufend erörtert und gegebenenfalls modifiziert werden wird. Es werden alle erforderlichen Anstrengungen
unternommen, um die Auswirkungen, insbesondere für
das Feld der Bildungsarbeit und der Präventionsmaßnahmen beim Thema Rechtsextremismus, zu neutralisieren
bzw. durch andere Maßnahmen aufzufangen. Unter Einbeziehung der seit 2010 von der Bundeszentrale für politische Bildung wahrgenommenen Aufgaben der Regiestelle des Bundesprogramms „Zusammenhalt durch
Teilhabe“ und der zum 1. April 2011 eingegliederten Geschäftsstelle des Bündnisses für Demokratie und Toleranz werden insgesamt seit 2011 die Maßnahmen gegen
Rechtsextremismus verstärkt. Im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend waren und sind keine Kürzungen bei Projekten
gegen Rechtsextremismus vorgesehen.
Nachfrage, Frau Kolbe?
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Staatssekretär! Vielen Dank für die Antwort. Sie haben
gerade die Höhe der Förderung im Kampf gegen Rechtsextremismus bzw. für Demokratie erwähnt. Stimmen Sie
mir zu, dass wir aufgrund der Kürzungen bei der Bundeszentrale für politische Bildung in Höhe von 3,5 Millionen Euro im Haushalt 2012 trotz der Geschehnisse
von einem Schrumpfen der Mittel, die für den Kampf
gegen Rechtsextremismus und für Demokratie bereitstehen, sprechen müssen?
Davon ist nicht auszugehen, weil es immer darauf ankommt, wie die Mittel innerhalb der Bundeszentrale für
politische Bildung ausgegeben werden. Die Haushaltsmittel für politische Bildung wurden nur leicht abgesenkt. Das Gleiche gilt für Zuschüsse auf diesem Gebiet.
Eine weitere Nachfrage.
Zunächst einmal will ich vehement widersprechen,
dass es sich um eine leichte Absenkung handelt. In Bezug auf die Haushaltsjahre 2011/2012 handelt es sich um
Kürzungen von insgesamt 5 Millionen Euro. Dieses
Geld wäre nur in Sachmittel geflossen, mit denen nur
politische Bildung finanziert worden wäre. Mit diesen
Kürzungen begeben wir uns auf das Niveau von vor der
Wiedervereinigung zurück. Da von geringen Kürzungen
zu sprechen, halte ich schon für eine gewagte Aussage.
Ich möchte auf einen Brief des Bundesministers des
Innern, Herrn Friedrich, zu sprechen kommen. Er hat auf
die Frage des Kuratoriums der Bundeszentrale für politische Bildung, das einen einstimmigen Beschluss gegen
diese Kürzungen gefasst hat, geantwortet, dass diese
Leistung eine freiwillige Leistung sei und man sie deshalb kürzen müsse, weil sonst die innere Sicherheit in
diesem Land gefährdet sei; sonst müsse man nämlich
Geld aus genau diesem Bereich nehmen. Entspricht es
dem Sicherheitsbild der Bundesregierung, dass Prävention nicht dazugehört?
Ich kann nur noch einmal betonen, dass keine Bundesregierung zuvor so viel Geld für Programme gegen
Rechtsextremismus ausgegeben hat wie diese. Wenn man
sich einmal die einzelnen Ansätze des Haushalts der Bundeszentrale für politische Bildung anschaut und vergleicht, wie es vor 2005 aussah, dann hat man festzustellen, dass im Jahr 2004 der Sollansatz bei 18 313 000 Euro
lag, während er im Jahr 2011 bei 18 686 000 Euro liegt.
Insofern, glaube ich, muss man das, was Sie gesagt haben,
etwas relativieren. Sie sehen natürlich nur den Gesamtansatz „Bundeszentrale für politische Bildung“ und nicht,
wofür die Gelder innerhalb der Bundeszentrale für politische Bildung verwandt werden.
Dann kommen wir zur Frage 35 der Abgeordneten
Daniela Kolbe:
Wie begründet die Bundesregierung die Kürzungen bei
den freien Trägern der politischen Bildung vor den aktuellen
Geschehnissen um das sogenannte Nazi-Trio, und welche
Auswirkungen erwartet die Bundesregierung im Kontext der
Bekämpfung des Rechtsextremismus in der Arbeit der Bundeszentrale?
Die haushalterischen Maßnahmen im Bereich der
Trägerförderung der Bundeszentrale für politische Bildung beziehen sich nicht auf einzelne Arbeitsbereiche
der Träger. Die freien Träger der politischen Bildung bestimmen ihre Arbeitsschwerpunkte in eigener Verantwortung. Da die Jahresanträge der Träger für 2012 erst
im Dezember 2011 gestellt und die Mittelvergabe durch
die Bundeszentrale für politische Bildung erst im Januar
2012 abgeschlossen werden, sind gegenwärtig keine entsprechenden Auswirkungen auf einzelne Themenfelder
absehbar. Die Bundeszentrale für politische Bildung
wird unter Berücksichtigung qualitativer und quantitativer Kriterien über die Förderung entscheiden und wie in
den vergangenen Jahren über Schwerpunktthemen Anreize setzen.
Nachfrage, Frau Kollegin Kolbe.
Sie haben in der ersten Antwort selber gesagt, dass
Sie darauf hinwirken wollen, dass der Kampf gegen
Rechtsextremismus durch die Bundeszentrale für politische Bildung fortgesetzt wird. Kann ich das so verstehen, dass Sie in der Trägerförderung darauf hinwirken,
dass für den Kampf gegen Rechtsextremismus und für
Demokratie gleichbleibend Geld zur Verfügung steht
und dass dies zulasten anderer Bereiche der politischen
Bildung gehen wird?
Sicherlich werden in diesem Bereich Schwerpunkte
gesetzt werden. Aber die Träger sind ja sehr frei in dem,
was sie dann letztendlich anbieten. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir gerade im Bereich der politischen
Bildung - in der Zusammenarbeit mit den freien Trägern - immer einen Schwerpunkt auf den Kampf gegen
Rechtsextremismus, aber natürlich auch gegen andere
Extremismusformen setzen.
Zweite Nachfrage, bitte.
Ich habe eine letzte Frage. Sie antworten hier als Mitglied der Bundesregierung. Mir ist zu Ohren gekommen,
dass Sie sich in der Unionsfraktion dafür verwandt haben, die Kürzungen der Mittel im Haushalt der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Kristina Schröder, für den Kampf gegen Rechtsextremismus zurückzunehmen. Haben Sie sich auch für
die Rücknahme der Kürzungen der Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung, die in Ihrem eigenen
Ressort beheimatet ist, verwandt?
Auch im Etat des Familienministeriums war nie eine
Kürzung der Mittel für Maßnahmen gegen Rechtsextremismus vorgesehen. Das heißt, die 2 Millionen Euro, die
im Haushaltsaufstellungsverfahren jetzt zusätzlich zur
Verfügung gestellt wurden, stellen eine Steigerung um
2 Millionen Euro dar. Wir sind damit jetzt bei 24 Millionen Euro. Wir haben nämlich erreicht, dass die Administrierung und Verwaltung der Programme nicht mehr wie
bisher extern durchgeführt wird, sondern vom Bundesamt für den Zivildienst. Von daher geben wir jetzt noch
mehr Geld für den Kampf gegen Rechtsextremismus aus
als zunächst vorgesehen.
Noch einmal: Es gab keine Kürzung. Diese Bundesregierung gibt mehr Geld für den Kampf gegen RechtsParl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
extremismus aus als beispielsweise Rot-Grün. Das bitte
ich zur Kenntnis zu nehmen.
({0})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Ministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Stadler zur Verfügung.
Die Fragen 36 und 37 des Abgeordneten Strässer sowie die Fragen 38 und 39 des Abgeordneten Dr. Franke
sollen schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zur Frage 40 der Kollegin Sonja
Steffen:
Hat sich, und wenn ja, wie, die Bundesregierung in Bezug
auf die Neuregelung des Sorgerechts nichtehelicher Väter geeinigt, bzw. ist eine Einigung absehbar?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Die Kollegin Steffen fragt nach der Neuregelung des
Sorgerechts nichtehelicher Väter. Auf eine schriftliche
Frage ihrer Kollegin Ingrid Hönlinger vom 24. Oktober
2011 nach einem Gesetzentwurf der Bundesregierung
habe ich eine Antwort gegeben und Folgendes ausgeführt - ich zitiere -:
Es trifft zu, dass sich die Koalitionsfraktionen derzeit
intensiv im Gespräch befinden, um sich auf einen gemeinsamen Regelungsvorschlag zur Neuregelung
der gemeinsamen Sorge bei nicht miteinander verheirateten Eltern zu verständigen. Ein konkreter
Termin der Vorlage eines Gesetzentwurfs an das
Kabinett ist noch nicht geplant.
Diese Darstellung stellt weiterhin den aktuellen Sachverhalt dar.
Frau Kollegin Steffen, haben Sie eine Nachfrage?
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
vielleicht können Sie Auskunft geben über den Stand der
Diskussion. Wir wissen ja, dass es zwei Grundmodelle
gibt: ein Antragsmodell und ein Widerspruchsmodell.
Können Sie vielleicht etwas genauer erklären, wie der
derzeitige Diskussionsstand ist?
Frau Kollegin Steffen, Sie benennen richtig den zentralen Streitpunkt. Es ist ja so, dass wir keinerlei Probleme haben, wenn nicht miteinander verheiratete Elternteile sich auf eine gemeinsame Sorge für das Kind
einigen. Es ist ebenfalls klar, dass im Streitfall am Ende
eine gerichtliche Entscheidung zu treffen ist und dass
diese gerichtliche Entscheidung sich am Kindeswohl zu
orientieren hat.
Die Diskussion dreht sich, verkürzt dargestellt, hauptsächlich um die Frage, wer eigentlich diesen Streit gegebenenfalls zu Gericht bringen soll, ob die Väter dort einen Antrag stellen sollen oder ob es Sache der Mütter ist,
auf eine Sorgerechtserklärung der Väter mit einem Widerspruch zu antworten. Darüber, um nur diesen Hauptpunkt zu nennen, konnte bisher keine Einigung erzielt
werden.
Eine weitere Nachfrage?
Vielleicht können Sie uns einmal ganz grob sagen, in
welchem zeitlichen Rahmen wir damit rechnen können,
dass wir uns zusammensetzen, wobei wir darauf hoffen,
dass wir dann eine gute Lösung finden werden.
Das Bundesministerium der Justiz begleitet die Gespräche der Fraktionen natürlich aktiv. Wir sind selber
an einer Lösung interessiert. Derzeit muss sich ja die
Praxis auf eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts stützen. Damit kommt die Praxis zwar
einigermaßen zurecht, aber trotzdem ist eine gesetzliche
Neuregelung wünschenswert. Wir arbeiten daran. Ich
kann leider nicht präzise vorhersagen, zu welchem Zeitpunkt eine Einigung erzielt wird.
Vielen Dank. - Dann kommen wir zur Frage 41 der
Kollegin Sonja Steffen:
Plant die Bundesregierung, weiterhin die von der Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in ihrer Rede
zum Insolvenzrechtstag angekündigte Reform des Verbraucherinsolvenzverfahrens umzusetzen, oder hat es in Bezug auf
die damals vorgestellten Eckpunkte Positionsänderungen der
Bundesregierung gegeben?
Ich darf Ihnen folgende Antwort mitteilen: Frau Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat
sich zuletzt am 28. Oktober 2011 auf dem Insolvenzverwalterkongress in Berlin umfassend zur Reform des Verbraucherinsolvenzverfahrens geäußert. Sie hat dort die
wesentlichen Eckpunkte für eine künftige Reform dargestellt. Ein Diskussionsentwurf des Bundesministeriums
der Justiz wird in Kürze der Öffentlichkeit vorgestellt
werden.
Nachfrage? - Frau Kollegin Steffen.
Können Sie ganz kurz schildern, ob eine Verkürzung
der Wohlverhaltensphase vorgesehen ist, und, wenn ja,
mit welchen Bedingungen diese verbunden sein wird?
Nach unseren Vorstellungen ist vorgesehen, dass die
Wohlverhaltensphase von sechs auf drei Jahre verkürzt
werden soll, falls der Schuldner innerhalb dieses Zeitraums eine Mindestbefriedigungsquote von 25 Prozent
erfüllt. Eine weitere Verkürzung - von sechs auf fünf
Jahre - ist vorgesehen, wenn der Schuldner innerhalb
dieses Zeitraums zumindest die Verfahrenskosten begleicht. Wenn keine der beiden Voraussetzungen erfüllt
wird, soll die Wohlverhaltensperiode sechs Jahre betragen und dann die Restschuldbefreiung erteilt werden.
Eine weitere Nachfrage? - Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zu Frage 42 des Kollegen Burkhard
Lischka.
Wie erklärt es die Bundesregierung, dass angesichts von
762 rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten im Jahr 2010
- darunter 638 Körperverletzungen - lediglich 68 Anträge auf
Gewährung von „Härteleistungen für Opfer extremistischer
Übergriffe“ positiv beschieden worden sind und im Jahr 2010
aus dem mit 1 Million Euro ausgestatteten Haushaltstitel
681 01 des Bundesamtes für Justiz insgesamt nur 8 160 Euro
für Opfer extremistischer Übergriffe ausbezahlt wurden?
Zu dieser Frage darf ich mitteilen, dass im Jahr 2010
bei dem für die Bearbeitung dieser Anträge zuständigen
Bundesamt für Justiz von Opfern rechtsextremistischer
Übergriffe insgesamt 97 Anträge auf Bewilligung von
Härteleistungen gestellt worden sind. Davon sind 67 Anträge positiv beschieden worden, 22 Anträge abgelehnt
worden, und über acht Anträge ist noch nicht entschieden.
Die Diskrepanz zwischen der Zahl der erfassten
rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten, die ja höher liegt, und der relativ geringen Zahl der gestellten Anträge lässt sich vielleicht teilweise dadurch erklären,
dass die jährlichen polizeilichen Statistiken über politisch motivierte Kriminalität weitaus mehr Taten erfassen als jene, bei denen die Opfer Härtefallleistungen erhalten können. Ein weiterer Grund dürfte darin liegen,
dass in den Bundesländern ein sehr unterschiedliches
Netz von Opferberatungsstellen existiert. In manchen
Ländern wird sehr intensiv beraten, in anderen weniger.
Gleichwohl sind diese Erklärungen auch für uns nicht
völlig ausreichend. Insgesamt sind die Gründe für die
geringe Zahl der Antragsstellungen daher nicht genau zu
benennen.
Wir bemühen uns, die Opfer verstärkt zu informieren.
Dafür gibt es verschiedene Maßnahmen, die ich wegen
der Ein-Minuten-Regel jetzt nicht im Detail aufzählen
kann. Aber das Bundesministerium der Justiz ist mit allen Stellen, die für die Opfer in Betracht kommen, in
Kontakt und informiert über die Möglichkeit der Antragstellungen, mehrmals jährlich auch mit Rundschreiben.
Es bleibt zu hoffen, dass damit diese Möglichkeit der Ersatzleistungen besser bekannt wird und die Zahl der Anträge, für die ja Mittel zur Verfügung stehen, zunehmen
wird.
Eine Nachfrage, Herr Kollege Lischka? - Bitte sehr.
Herr Stadler, könnten Sie mir mitteilen, wie viel Gelder im vergangenen Jahr zum einen an die Opfer rechtsextremistischer Gewalttaten und zum anderen an die Opfer linksextremistischer Gewalttaten ausgezahlt wurden?
Können Sie vielleicht auch etwas zu der Spannbreite der
ausgezahlten Einzelbeträge sagen?
Ich habe, da Sie ja insbesondere nach der Zahl der
rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten gefragt und
die Frage gestellt haben, wieso nur ein Teil der Opfer
Anträge gestellt hat, in Vorbereitung meiner Antwort
auch die Summe, die an Opfer rechtsextremistischer Gewalt ausgezahlt worden ist, notiert. Diese Summe betrug
im Jahr 2010 etwa 63 000 Euro. Im Jahr 2011 sind bisher
67 800 Euro zugesprochen worden. Die Summen variieren natürlich im Einzelfall. Sie werden sich erinnern,
weil es ja auch veröffentlicht worden ist, dass jetzt für
die Angehörigen der Opfer der Nazi-Mordserie Beträge
von 10 000 Euro vorgesehen sind.
Weitere Nachfrage.
Vielen Dank. - Herr Stadler, ich darf den letzten Aspekt, den Sie genannt haben, direkt aufgreifen. Es ist
durch die Bundesjustizministerin angekündigt worden,
dass die Angehörigen der durch die Zwickauer Terrorzelle Ermordeten eine Pauschalentschädigung in Höhe
von 10 000 Euro erhalten sollen. Nun habe ich dem
Merkblatt des Bundesamtes der Justiz entnommen, dass
darüber hinaus beispielsweise auch Unterhaltsschäden
ersetzt werden können, die im Einzelfall natürlich weitaus höher sein können als der Betrag von 10 000 Euro,
der jetzt pauschal ausgezahlt werden soll. Haben die Angehörigen - neben dieser Pauschalentschädigung - die
Möglichkeit, noch weitere Schäden geltend zu machen,
oder sollen diese mit der Pauschalentschädigung abgegolten sein?
Im streng juristischen Sinn kann man bei diesen Leistungen nicht von Entschädigung sprechen. Sie sind vielmehr als eine Art Soforthilfe und als Anerkennung des
erlittenen Unrechts gedacht. Daher wird dieses Geld
auch pauschal ausgereicht. In jedem Einzelfall wird geprüft, ob besondere Umstände hinzukommen, was zu einer zusätzlichen Entscheidung führen kann. Das kann
ich aber nur anhand des Einzelfalls bewerten.
Ich rufe nun die Frage 43 des Kollegen Lischka auf:
Wie begründet die Bundesregierung ihre in der Pressemitteilung vom 9. November 2011 vertretene Position, die EinVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
führung einer nachträglichen Therapieunterbringung würde
„vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte nicht bestehen“?
Ich darf dazu aus der Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 9. November 2011 die Passage, auf die Sie sich beziehen, wörtlich zitieren, sonst
kann man den Zusammenhang nicht verstehen. Dort
heißt es:
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, deren
Wiedereinführung nun einige Bundesländer fordern, war wenig praxisrelevant, rechtlich kaum
handhabbar und hatte negative Auswirkungen auf
den Vollzug insgesamt. Ihre Wiedereinführung birgt
das Risiko, dass das deutsche Recht vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte abermals nicht besteht. Das kann dazu führen, dass erneut Sicherungsverwahrte entlassen werden müssten. Dieses
Risiko sollte gerade angesichts des äußerst geringen
Anwendungsbereichs der nachträglichen Sicherungsverwahrung unbedingt vermieden werden.
Um Ihre Frage mit der hier gebotenen Kürze zu beantworten: Wir haben auf bestehende Risiken hingewiesen. Es kann keine sichere Prognose gestellt werden, wie
das von einigen Ländern vorgeschlagene Institut bei den
beiden genannten Gerichten letztendlich bewertet
würde. Aber wenn man die bisherige Rechtsprechung
betrachtet, sehen wir da jedenfalls ein erhebliches Risiko. Darauf haben wir hingewiesen.
Nachfrage, Herr Kollege Lischka?
Vielen Dank. - Herr Stadler, darf ich Ihrer Antwort
entnehmen, dass Sie es für unmöglich halten, eine verfassungskonforme Regelung im Hinblick auf eine nachträgliche Therapieunterbringung zu entwickeln?
Das habe ich nicht gesagt. Ich darf auf Folgendes hinweisen: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung
- selbst wenn man jetzt eine andere Bezeichnung wählt,
handelt es sich unserer Meinung nach in der Sache um
eine nachträgliche Sicherungsverwahrung, die in die Debatte gebracht wird - ist mit der Reform zum 1. Januar
2011 vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat mit
den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der SPD zugunsten eines neuen Konzepts abgeschafft worden. Das
neue Konzept sieht den Ausbau der sogenannten primären Sicherungsverwahrung und der im Urteil vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vor. Auch die Fraktion der
Grünen hat diesen Teil der Reform für richtig gehalten.
({0})
Wir sind der Meinung, dass man bei der vor etwa einem Jahr politisch getroffenen Entscheidung bleiben
sollte, und weisen darauf hin, dass ein hohes Risiko im
Hinblick darauf besteht, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom Mai 2011 den Vertrauensgrundsatz bemüht hat. Man sollte daher jetzt hinter
die damals gemeinsam getroffene Entscheidung nicht
zurückgehen.
Wir kommen zu einer zweiten Nachfrage des Kollegen Lischka.
Herr Staatssekretär, vielen Dank. Eine kurze Nachfrage: Zu welchem Ergebnis kommt denn ein Gutachten,
das im Bundesjustizministerium zur Frage der Verfassungsmäßigkeit einer nachträglichen Therapieunterbringung gefertigt wurde?
Herr Kollege Lischka, ich weiß jetzt offen gestanden
nicht ganz genau, worauf Sie sich beziehen. Ich kann nur
die Position unseres Hauses vortragen; denn das ist das
Entscheidende und nicht die Frage, was in einer Meinungsäußerung dargelegt worden ist.
Dazu darf ich Folgendes ausführen: Die Bundesministerin der Justiz hat jetzt einen Entwurf zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung an die Bundesländer
versandt; denn im Mai 2011 sind die bisherigen Regelungen hauptsächlich wegen eines Verstoßes gegen das
Abstandsgebot zum Strafvollzug aufgehoben worden.
Das Bundesverfassungsgericht hat dabei keineswegs die
Konzeption des Reformgesetzes infrage gestellt, das wir
im Bundestag gemeinsam mit Ihnen zum 1. Januar 2011
beschlossen haben. Wir haben daher in dem Entwurf,
den wir versandt haben, die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht aufgeführt.
({0})
Wir werden jetzt die Antworten und Stellungnahmen der
Bundesländer bekommen und dann darüber diskutieren.
Ich darf noch einmal auf die Neuregelung mit dem Signalton hinweisen. Den jeweiligen Staatssekretären ist
für die Antwort auf die schriftliche Frage etwas mehr
Zeit gegeben; Nachfragen und Antworten aber sollen jeweils nur eine Minute dauern. - Ich hätte dem Kollegen
Stadler gerne mehr Zeit eingeräumt, weil er regelmäßig
so druckreif zu antworten versteht. Ich muss aber alle
Staatssekretäre gleich behandeln. Deshalb kann ich
keine Ausnahme machen.
Das ist ein alter Rechtsgrundsatz, Herr Präsident.
Wir kommen dann zur Frage 44 des Kollegen Stefan
Rebmann:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wie verhält sich die Anzahl der Anordnungen des Vorbehalts der Sicherungsverwahrung im Erwachsenenstrafrecht in
den ersten zehn Monaten dieses Jahres im Vergleich zu den
ersten zehn Monaten letzten Jahres?
Herr Kollege Rebmann, Sie fragen nach den Zahlen
der sogenannten vorbehaltenen Sicherungsverwahrung.
Darunter versteht man, dass in einem Strafurteil noch
nicht die Entscheidung getroffen wird, ob der Verurteilte
nach Verbüßung der Strafe in Sicherungsverwahrung
kommen wird, dass aber diese Möglichkeit vorbehalten
wird und eine Entscheidung darüber später ergeht.
Diese im Urteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung
wird in den Statistiken der Strafrechtspflege nicht erfasst. Wir werten aber die Einträge im Bundeszentralregister aus, weil sich daraus ein - wenngleich nicht vollständig präzises - Bild ergibt. Dem Register haben wir
folgende Zahlen entnehmen können: Im Jahr 2009 sind
bisher neun Urteile rechtskräftig geworden, in denen die
Sicherungsverwahrung im Urteil vorbehalten worden ist.
Im Jahr 2010 war dies erst in einem einzigen Urteil der
Fall.
Nachfrage, Herr Kollege Rebmann?
Herzlichen Dank. - Herr Staatsekretär Stadler, ich
habe eine Nachfrage: Wie beurteilen Sie und die Bundesregierung die Prognose, dass aufgrund des Wegfalls
der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung
die Anzahl der Anordnungen der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ansteigen wird?
Herr Kollege Rebmann, ich habe darauf hingewiesen,
dass die jetzt genannten Zahlen noch kein vollständiges
Bild ergeben. In das Bundeszentralregister werden nur
rechtskräftige Verurteilungen eingetragen. Das heißt, Urteile aus dem Jahr 2011, nach denen Sie gefragt haben,
werden erst nach und nach in dieses Register Eingang
finden, nämlich dann, wenn sie rechtskräftig geworden
sind. Außerdem gibt es bestimmte Fristen für den Eintrag, sodass das Ganze nur eine Momentaufnahme ist.
Ich rechne damit, dass der Anstieg der Zahlen, bei denen von der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung Gebrauch gemacht wird, erst noch bevorsteht. Wir haben
jetzt den Vergleich von einem Fall in 2010 zu neun Fällen in 2009. Das ist noch nicht aussagekräftig genug. Ich
rechne durchaus noch mit höheren Zahlen von vorbehaltener Sicherungsverwahrung im Urteil, so wie es der
Konzeption des von uns gemeinsam verabschiedeten Reformprojekts entspricht.
Weitere Nachfrage? - Nein. Danke schön.
Dann kommen wir zur Frage 45 des Kollegen
Rebmann:
Will die Bundesregierung entsprechend ihrem Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 und entsprechend der Forderung
der Justizministerinnen und Justizminister der Länder auf ihrer Herbstkonferenz vom 9. November 2011 in Berlin den
Ländern die Möglichkeit geben, ihre Verwaltungs- und Sozialgerichte zu einheitlichen Fachgerichten zusammenzuführen, und falls ja, wie weit sind die Pläne fortgeschritten?
Herr Kollege, ich darf Ihnen mitteilen: Das Bundesministerium der Justiz prüft derzeit die Möglichkeit einer gesetzlichen Umsetzung. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass jede Form der Zusammenlegung
dieser Gerichte einer Grundgesetzänderung bedarf. Davon wären auch die Bundesratsinitiativen zur Einführung bloß einer Länderöffnungsklausel aus der 15. und
16. Legislaturperiode betroffen gewesen; davon ist der
Bundesrat selber ausgegangen. Somit liegt hier eine sehr
hohe Hürde für eine Zusammenlegung der Verwaltungsund Sozialgerichte vor.
Nachfrage, Kollege Rebmann? - Keine Nachfrage.
Die Frage 46 des Kollegen Volker Beck wird schriftlich
beantwortet.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Stadler.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die Frage 47 des Kollegen Dr. Gerhard Schick, die Frage 48 der Kollegin Lisa
Paus sowie die Fragen 49 und 50 der Kollegin
Dr. Barbara Höll sollen schriftlich beantwortet werden.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf
Brauksiepe zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 51 des Kollegen Uwe
Kekeritz:
Mit welcher Begründung stellt sich die Bundesregierung gegen die von der Europäischen Union am 25. Oktober 2011 veröffentlichte Corporate-Social-ResponsibilityStrategie ({0}), und wie wird sich die Bundesregierung bei
der Überarbeitung der Rechnungslegungsrichtlinien ({1}) im Ministerrat verhalten?
Herr Kollege Kekeritz, die Bundesregierung begrüßt
grundsätzlich die Bemühungen der Europäischen Kommission, ihre eigene CSR-Strategie fortzuentwickeln und
Entwicklungen im internationalen Bereich zu reflektieren. Aus Sicht der Bundesregierung sollte dabei jedoch
an einem Verständnis von CSR als freiwillige, über gesetzliche Vorgaben hinausgehende Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung im Kerngeschäft eines Unternehmens festgehalten werden.
Die Bundesregierung hat am 6. Oktober 2010 eine
Nationale Strategie zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen beschlossen, um CSR in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung besser zu verankern. Der Aktionsplan CSR der Bundesregierung basiert
auf einer breiten Diskussion und Akzeptanz im deutschen Multi-Stakeholder-Gremium „Nationales CSRForum“.
Gerade der Grundsatz der Freiwilligkeit ist im gemeinsamen Verständnis des Nationalen CSR-Forums
deutlich zum Ausdruck gebracht und von der Bundesregierung bei Verabschiedung des Aktionsplans CSR übernommen worden. Die Bundesregierung hat dies in ihren
Stellungnahmen gegenüber der Kommission wiederholt
betont und darauf hingewiesen, dass eine strategische
Abkehr vom Prinzip der Freiwilligkeit mit dem in
Deutschland praktizierten Verständnis von CSR nicht
vereinbar ist. Die Bundesregierung spricht sich ausdrücklich gegen neue gesetzliche Berichtspflichten zur
Offenlegung sozialer und ökologischer Informationen,
wie von der Kommission in ihrer CSR-Mitteilung angekündigt, aus. Solche gesetzlichen Berichtspflichten würden eine Abkehr vom Prinzip der Freiwilligkeit bedeuten
und wären mit erheblichem Bürokratieaufwand insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen in
Deutschland, aber auch für alle anderen Unternehmensgruppen verbunden.
Der Vollständigkeit halber sei auf Folgendes hingewiesen: Soweit es um die Erweiterung bereits bestehender Berichtspflichten im Bereich der handelsrechtlichen
Rechnungslegung gehen könnte, führt die Kommission
derzeit nach eigenen Angaben eine Folgenabschätzung
durch, die Grundlage eines entsprechenden Regelungsvorschlags im kommenden Jahr werden könnte. Daher
sind die ebenfalls am 25. Oktober 2011 vorgelegten Vorschläge der Kommission zur Überarbeitung der zitierten
gesellschaftsrechtlichen Richtlinien 78/660/EWG und
83/349/EWG von einem entsprechenden neuen Vorschlag zu unterscheiden.
Vielen Dank. - Kollege Kekeritz, Ihre Nachfrage,
bitte.
Ich kann nicht ganz nachvollziehen, warum die Bun-
desregierung auf das Instrument der freiwilligen Selbst-
verpflichtung pocht, nachdem wir jetzt seit 30 Jahren Er-
fahrung mit dem Instrument haben. Ich kann mich an
kein Beispiel erinnern, bei dem dieses Instrument tat-
sächlich die Wirkung erzielt hat, die man sich von ihm
erhoffte. Außerdem isoliert sich die Bundesregierung da-
mit wieder im europäischen Kontext; viele andere euro-
päische Länder verabschieden sich inzwischen von der
Freiwilligkeit und halten eine verpflichtende Maßnahme
für sinnvoll.
Mein Thema ist aber Steuerhinterziehung in Steuer-
oasen. Dieses Thema wurde 2008 auf der G-8-Konfe-
renz in London sehr intensiv diskutiert. Damals veröf-
fentlichte die OECD eine Liste der Steueroasen, die
nicht bereit waren, mit den internationalen Gremien zu-
sammenzuarbeiten. Seitdem ist leider kaum etwas pas-
siert. Länderbezogene Rechnungspflichten wären ein
wichtiges Instrument, um die Verschiebung von Gewin-
nen transnationaler Unternehmen in Steueroasen zu ver-
hindern. Was gedenken die Bundesregierung, das Fi-
nanzministerium, das Wirtschaftsministerium und das
BMZ diesbezüglich zu unternehmen?
Herr Kollege, da ich in keinem der von Ihnen genann-
ten Ministerien arbeite und sich das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales nicht täglich mit Steueroasen be-
schäftigt, muss ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihnen diese
Frage nicht beantworten kann.
Die Fragen 52 und 53 der Kollegin Dr. Martina Bunge
sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 54 des Kollegen Markus Kurth auf:
Wann wird die Bundesregierung die vom sogenannten
Runden Tisch zur Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepa-
ketes in seiner Sitzung am 2. November 2011 beschlossenen
Verfahrensvereinfachungen umsetzen, und welche weiteren
Informations- und Kommunikationsmaßnahmen sind ge-
plant, um den Anspruch auf Bildung und Teilhabe bekannter
zu machen?
Bitte schön.
Die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes
obliegt nicht der Bundesregierung; denn Träger des Bil-
dungs- und Teilhabepaketes sind die Kreise und kreis-
freien Städte. Die Länder üben die Rechts- und gegebe-
nenfalls auch die Fachaufsicht aus. Der Bund hat hierbei
keine Regelungs- und Entscheidungskompetenz.
Die hohe Nachfrage nach den bereits bestehenden
vielfältigen Informationsangeboten bestärkt die Bundes-
regierung darin, auch im nächsten Jahr weitere Kommu-
nikationsmaßnahmen durchzuführen. So sind für das
erste Quartal 2012 Motivationsanzeigen in Verbands-
und Vereinszeitschriften der Bereiche Sport, Musik und
Kultur geplant. Ziel ist es, die Vereine auf die neuen
Möglichkeiten des Bildungspakets hinzuweisen und sie
zu motivieren, entsprechende Angebote für diese Ziel-
gruppe zu machen. Im direkten Umfeld von Discount-
Supermärkten soll mit Plakaten für das Bildungs- und
Teilhabepaket geworben werden. Auf diesen Plakaten
wird auf weiterführende Informationsangebote hinge-
wiesen.
Bevor wir zur Nachfrage kommen, will ich bekannt
geben, dass weitere Geschäftsbereiche nicht mehr aufge-
rufen werden, weil dann die Zeit für die Fragestunde ab-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gelaufen sein wird.1) Deswegen sind diese Kollegen
Staatssekretäre, wenn sie nicht an der Aktuellen Stunde
teilnehmen wollen, entlassen.
Herr Kurth, Ihre Nachfrage.
Herr Staatssekretär Brauksiepe, auch wenn Sie sagen,
dass die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes
nicht in der Verantwortung der Bundesregierung liegt, so
werden Sie mir doch zustimmen, dass die Bundesregierung dafür zu sorgen hat, dass der verfassungsrechtlich
garantierte, individuelle Rechtsanspruch auf Bildung
und Teilhabe sichergestellt ist. Bei einer Inanspruchnahme von derzeit unter 50 Prozent und einer noch niedrigeren Inanspruchnahme speziell der Bildungs- und
Teilhabeleistungen, die über die Pauschale von 10 Euro
im Monat gewährt werden, kann man nicht sagen, dass
das flächendeckend gewährleistet ist. Ab welchem Prozentsatz der Inanspruchnahme sehen Sie denn den individuell und verfassungsrechtlich garantierten Anspruch
auf Bildung und Teilhabe sichergestellt?
Herr Kollege Kurth, der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts richtete sich zunächst an den Gesetzgeber;
das sind Sie. Bundestag und Bundesrat sind, wie Sie wissen, für die gesetzgeberischen Maßnahmen zuständig, um
Bildung und Teilhabe und damit ein menschenwürdiges
Leben für jedes einzelne Kind zu garantieren. Die gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik Deutschland sind
diesem Auftrag, der sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergeben hat, gerecht geworden.
Selbstverständlich beteiligt sich die Bundesregierung
bzw. das Bundesministerium für Arbeit und Soziales am
gesamten Prozess und moderiert ihn. Selbstverständlich
sind mit einer solchen Umstellung auf Sach- und Dienstleistungen auch Probleme in der Übergangszeit verbunden. Wir stellen fest, dass die Leistungen des Bildungsund Teilhabepaketes mehr und mehr nachgefragt und in
Anspruch genommen werden.
({0})
Wenn Sie auf eine weitere Nachfrage verzichten, können wir Ihre zweite Frage auch noch abwickeln; sonst ist
die Zeit abgelaufen.
Dann bitte noch die nächste Frage.
Ich rufe die Frage 55 des Kollegen Markus Kurth auf:
Wie erklärt die Bundesregierung den offensichtlichen Wi-
derspruch, wonach das Bundesministerium für Arbeit und So-
1) Die Antwort auf Frage 98 lag bei Redaktionsschluss nicht vor und
wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt.
ziales einerseits behauptet, eine „KinderBildungsStiftung“ sei
dem Bundesministerium nicht bekannt ({0}), andererseits aber genau dieses Bundesministerium
sowohl ein Rechtsgutachten zur Bewertung der rechtlichen
Möglichkeiten für eine „KinderBildungsStiftung“ als auch
eine Prüfung der Praktikabilität einer solchen Stiftung in Auftrag gegeben hat?
Herr Kollege Kurth, es ist richtig, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zu den Regelleistungen in der Grundsicherung
für Arbeitsuchende, auf die ich in der vorherigen Frage
schon Bezug genommen habe, hatte prüfen lassen, inwieweit die Möglichkeit besteht, eine bundesunmittelbare
Stiftung des öffentlichen Rechts mit der Sicherung des
spezifischen soziokulturellen Existenzminimums von
Kindern und Jugendlichen zu betrauen. Zu einer entsprechenden Stiftungsgründung ist es aber nicht gekommen.
Entsprechende Vorüberlegungen sind bereits im Juni
2010 nicht weiter verfolgt worden, nachdem im Rahmen
gutachtlicher Prüfungen erhebliche Gegengründe offenbar geworden waren. Die Überlegungen sind auch später
nicht wieder aufgenommen worden.
Ob es anderweitig eine Stiftung namens KinderBildungsStiftung gibt, ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Nachfrage? - Keine. Vielen Dank.
Damit beende ich die Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Standort Deutschland sichern - Stuttgart 21
zügig umsetzen und geplante Mehrbelastung
für den Mittelstand durch grüne Steuerpolitik
verhindern
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich das Wort dem Kollegen Thomas Strobl von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Bürgerinnen und Bürger Baden-Württembergs haben am vergangenen Sonntag bei der Volksabstimmung
über den Bahnhof Stuttgart 21 eine sehr klare Entscheidung getroffen.
({0})
59 Prozent stimmten mit Nein. Sie stimmten gegen den
Ausstieg Baden-Württembergs aus diesem Bahnhofsprojekt. Nur 41 Prozent waren für einen solchen Ausstieg,
und das bei einer für Volksabstimmungen sehr, sehr hoThomas Strobl ({1})
hen Wahlbeteiligung von nahezu 50 Prozent. Das ist eine
sehr klare Entscheidung für den Bahnhof Stuttgart 21
und damit auch eine sehr klare Entscheidung für den
Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg und für den
Wirtschaftsstandort Deutschland.
({2})
Hier ist auch klar zu sagen, dass diese Entscheidung
in Baden-Württemberg sehr konsistent gewesen ist. Die
große Mehrheit der Menschen im ländlichen Raum in
Baden-Württemberg hat sich für diesen Bahnhof ausgesprochen. Auf der Alb, an der Donau, aber auch am
Neckar, im Hochverdichtungsraum und in der Stadt
Stuttgart selbst, in der dieses Thema
({3})
- von Ihnen, Herr Kollege Kuhn, immer wieder befeuert - über viele Monate hinweg eine große Rolle gespielt
hat, haben die Bürgerinnen und Bürger entschieden, dass
sie diesen Bahnhof wollen. In der Region Stuttgart war
die Mehrheit sogar noch größer. Das ist eine klare Entscheidung. Jetzt haben wir klare Verhältnisse.
({4})
Ich bin sehr froh darüber, dass dieses ökologisch und
ökonomisch wichtige Schienenprojekt
({5})
für Baden-Württemberg, aber auch für ganz Deutschland, jetzt realisiert werden kann, und es sollte schnell
realisiert werden. Herr Kollege Kuhn, damit sollten auch
die Querschüsse - nicht die Zwischenrufe, aber die
Querschüsse - ein Ende haben.
({6})
Das gilt beispielsweise für Querschüsse aus der Landesregierung Baden-Württembergs. Das gilt für die Querschüsse aus den Reihen der Grünen, und das gilt für
weitere Querschüsse. Deswegen fordere ich den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg und seinen Verkehrsminister nachdrücklich dazu auf, zum Stuttgarter Bahnhof zu gehen und mit den Menschen dort zu
sprechen, um ihnen das Abstimmungsergebnis zu erklären, um zu erklären, dass der Bahnhof gebaut wird. Die
Grünen haben die Menschen dort über Jahre hinweg auf
die Bäume gebracht.
({7})
Sie haben die Stimmung angeheizt. Jetzt holen Sie die
Menschen bitte wieder von den Bäumen herunter, und
erklären Sie, dass der Bahnhof gebaut wird.
({8})
Diese Entscheidung in Baden-Württemberg ist, so
meine ich, auch ein gutes Signal für Deutschland. Warum ist das so? Wir hätten ansonsten in Zukunft bei Projekten in Deutschland ein Problem gehabt, egal ob es
sich um einen Kindergarten oder ein Großprojekt gehandelt hätte, weil mit dem Hinweis auf Stuttgart 21 eine
Minderheit von Gegnern gesagt hätte: Wenn wir nur laut
genug sind und wenn wir nur lange genug dagegen sind,
werden wir es verhindern können. - Jetzt kommt von
den Bürgerinnen und Bürgern Baden-Württembergs ein
klares Signal für die Zukunft. Es wird in Deutschland
auch in Zukunft möglich sein, wichtige Infrastrukturprojekte zu planen und durchzusetzen. Das gilt für Straßenprojekte, das gilt für Schienenprojekte, das gilt für
Stromtrassen - und das ist wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für die Arbeitsplätze in der Zukunft und für unseren Wohlstand. Deutschland hat Zukunft.
({9})
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Ich
glaube, dass dieses Abstimmungsergebnis in BadenWürttemberg auch eine Bestätigung unserer parlamentarischen Demokratie gewesen ist.
({10})
- Jetzt hören Sie doch einmal zu; das gehört ebenfalls
zur parlamentarischen Demokratie, auch wenn es
schwerfällt. - Mit großer Mehrheit hat die Bevölkerung
in Baden-Württemberg, das Volk, bestätigt, was in jahrelangen parlamentarischen Prozessen - im Gemeinderat
der Stadt Stuttgart, in der Verbandsversammlung der Region Stuttgart, im Landtag von Baden-Württemberg, im
Deutschen Bundestag und im Europäischen Parlament beraten und entschieden worden ist. Ich finde, das ist
eine Bestätigung unserer parlamentarischen Demokratie.
Auch deswegen dürfen wir uns über diese klare Entscheidung der Baden-Württemberger Bürgerinnen und
Bürger freuen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im September letzten Jahres hat die Bundeskanzlerin von diesem Pult aus erklärt - ich zitiere -:
Bei völlig rechtmäßig getroffenen Entscheidungen
braucht man keine Bürgerbefragung in Stuttgart.
({0})
Vielmehr wird genau die Landtagswahl im nächsten
Jahr die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele an17278
Christian Lange ({1})
dere Projekte sein, die für die Zukunft dieses Landes wichtig sind.
Meine Damen und Herren von der CDU, Sie haben in
Baden-Württemberg alles auf eine Karte gesetzt, und Sie
haben alles verloren.
({2})
Ich sage Ihnen: Stellen Sie sich nur eine Sekunde vor,
Sie wären im September letzten Jahres auf den Vorschlag der SPD in Baden-Württemberg, auf den Vorschlag von Nils Schmid eingegangen!
({3})
Sie haben die Landtagswahl verloren, und die Bürgerinnen
und Bürger haben jetzt mit 58,8 Prozent für Stuttgart 21
gestimmt. Sie müssen sich doch angesichts dieser Bilanz
der CDU-Politik in Baden-Württemberg schwarzärgern.
({4})
Was zeigt uns Stuttgart 21? Erstens. Die Stuttgarter
Bürger haben uns darauf hingewiesen, dass die Legitimität eines Verwaltungsverfahrens nicht mehr genügt. Die
Konsequenz kann nicht sein, Bürgerproteste mit Wasserwerfern zu stoppen, sondern die Konsequenz muss sein,
die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen, die Planungs- und Genehmigungsverfahren zu verkürzen, die
Menschen in Baden-Württemberg zu beteiligen. Das ist
das Ergebnis des Prozesses von Stuttgart 21.
({5})
Zweitens. Was zeigt uns Stuttgart 21 darüber hinaus?
Wenn es die Menschen umtreibt, dann beteiligen sie sich
auch. Das ist das Gegenteil von Politikverdruss. Die
Wahlbeteiligung von 48,3 Prozent zeigt dies eindrucksvoll. Das ist ein Beweis, dass direkte Demokratie funktioniert. Das sollte uns ermutigen. Wir sollten dies nicht
abstreiten oder relativieren.
Drittens. Meine Damen und Herren von der CDU, haben Sie keine Angst! Den Dagegen-Parteien fällt die
Mobilisierung nicht zwangsläufig leichter. Im Gegenteil:
In Stuttgart bekam das Dagegen-Lager zwar mehr Menschen auf die Straße als das Dafür-Lager,
({6})
aber am Tag der Abstimmung war es genau umgekehrt.
Genau deshalb sollten wir ermutigt aus der Abstimmung
über Stuttgart 21 gehen.
({7})
Viertens. Wer von der schweigenden Mehrheit
spricht, wer davon spricht, dass nicht diejenigen die
Mehrheit sind, die am lautesten schreien, wer also der
Straße sein Misstrauen ausspricht, der muss Volksentscheide befürworten.
({8})
Deshalb ist es gut und richtig, dass die Landesregierung
angekündigt hat, dass die Quoren in Baden-Württemberg
abgesenkt werden, dass Bürgerbeteiligung in BadenWürttemberg möglich und üblich wird und dass die so
getroffenen Entscheidungen dann auch gelten.
({9})
Ich will für uns auf Bundesebene sagen: Mut zu mehr
Beteiligung heißt auch Mut zu mehr Beteiligung, wenn
es darum geht, das Recht auf Volksbegehren und Volksabstimmungen im Grundgesetz zu verankern.
({10})
Fünftens. Natürlich ist die Landesregierung in der
Pflicht. Ministerpräsident Kretschmann hat noch am
Sonntagabend unzweifelhaft klargestellt: Stuttgart 21
wird mit der Unterstützung der Landesregierung gebaut.
Landesverkehrsminister Hermann wird sich an seinem
Umgang mit Stuttgart 21 messen lassen müssen. Kritisch-konstruktiv zu begleiten, reicht nicht.
({11})
Projektförderpflicht ist angesagt. Insofern steht er unter
unserer verschärften Beobachtung.
Sechstens. Ja, direkte Demokratie ist anstrengend;
aber sie ist auch ein Beitrag zu politischer Kultur. Pround Kontrastände in bunter parteipolitischer Färbung
konnten wir in den letzten Wochen und Monaten in Baden-Württemberg erleben.
({12})
Mancher Passant war verdutzt und irritiert. Die üblichen
Schubladen passten nicht mehr. So zeigt sich Demokratie von ihrer besten Seite, wie ich finde.
({13})
Deshalb gibt es auch keine Verliererinnen und Verlierer
bei der Stuttgart-21-Debatte, sondern die Sache hat gewonnen. Stuttgart 21 wird gebaut.
Schließlich: Ja, die Volksabstimmung verlangt auch
von den Bürgern, das Ergebnis zu akzeptieren. Das Stuttgarter Ergebnis mit 52,9 Prozent für Stuttgart 21 hilft dabei - davon bin ich fest überzeugt -, eine befriedende
Wirkung zu entfalten. Gerade die Projektgegner haben
jetzt aber eine große Verantwortung. Trauern - ja. Doch
es waren keine Verschwörungen und auch keine finsteren Mächte, die das Ergebnis herbeigeführt haben.
({14})
Christian Lange ({15})
Wer so argumentiert, der kann der direkten Demokratie
nichts Richtiges abgewinnen. Auch das gehört zur ganzen Wahrheit.
Schließen will ich mit einem Zitat von Tissy Bruns.
Sie hat gestern im Tagesspiegel geschrieben:
In der Volksabstimmung zeigt sich ein erfreulicher
Common sense, den öffentliche Debatten in den
letzten Jahren so oft vermissen ließen. Das Ergebnis
hat nicht nur aufgeräumt mit der Vorstellung einer
allmächtigen Bürgerwut. Es entmystifiziert auch
die überzogenen Befürchtungen und Beschwörungen einer „Dagegen“-Republik, in der jeder und
jede nur noch an den eigenen Vorgarten denkt. Die
Energiewende wird schwierig; dass sie aber an den
Widerständen doppelmoralischer Bürger scheitert,
die keine Atomkraft wollen, aber den Netzausbau
blockieren, ist sehr unwahrscheinlich. Die Bürger,
hat sich in Stuttgart gezeigt, wollen mitreden, und
sie lassen mit sich reden.
Das finde ich ermutigend.
Herzlichen Dank.
({16})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Patrick
Döring das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst erlaube ich mir, weil man das der Rede des geschätzten Kollegen Lange nicht so sehr anmerkte, die
Bemerkung, dass die Mehrheit der Bevölkerung von Baden-Württemberg bereits bei der vergangenen Landtagswahl überwiegend für die Parteien, die für Stuttgart 21
waren, gestimmt hat; denn die SPD konnte man ja eindeutig dazuzählen. Deshalb war die Wahl als solche
keine Abstimmung über dieses Projekt. Aber ich sage
auch: Die Mehrheit vom vergangenen Sonntag bestätigt
das, was der Kollege Strobl gesagt hat: Stadtrat, Landtag
und Bundestag haben in ihren zahlreichen Entscheidungen für Stuttgart 21 nicht gegen den Willen des Volkes
agiert, sondern den Geist und den Mut der Menschen
ganz offensichtlich getroffen.
({0})
Die deutsche Bevölkerung ist demnach zukunftsfähiger, aufgeschlossener gegenüber Neuem und aufgeschlossener gegenüber Innovationen, als von einigen in
diesem Hause gelegentlich der Eindruck erweckt wird.
Die deutsche Bevölkerung ist offenbar auch viel mehr
bereit, Opfer auf sich zu nehmen - in Stuttgart selbst
durch jahrelange Bautätigkeit -, als hier gelegentlich geglaubt wird. Ja, die repräsentative Demokratie hatte bei
diesem Thema in den vergangenen 15 Jahren offenbar
den richtigen Riecher. Dafür dürfen wir all denjenigen,
die daran über Jahrzehnte parlamentarisch beteiligt waren, durchaus auch einmal ein Kompliment machen. Demokratie funktioniert in diesem Land, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({1})
Ich bin sehr dankbar, dass der Kollege Lange auf die
Rolle der Landesregierung hingewiesen hat. Es gehört
eben mehr zur Projektbeförderung durch einen Vertragspartner als konstruktiv-kritische Begleitung. Der Finanzierungsvertrag gilt.
({2})
Deshalb erwarte ich, dass auch die Landesregierung ihren Teil dazu beiträgt, die jetzt entstandene zwölfmonatige Verzögerung bei der Realisierung des Projekts durch
schnelles Verwaltungshandeln ein Stück weit aufzuholen. Es muss aufhören, dass die von Herrn Minister
Hermann in Dienst gestellten früheren Demonstranten in
seinem Ministerium Häcksel in die Wurst schneiden. Sie
müssen endlich damit anfangen, das Projekt wirklich zu
befördern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Am letzten für die Grünen in diesem Hause so
schmerzlichen Sonntag hat auch ein Bundesparteitag der
Grünen stattgefunden.
({4})
Ich will mir, weil wir über Mobilität und Verkehr sprechen, bei dieser Gelegenheit erlauben, dieses Hohe
Haus, aber auch die Zuhörerinnen und Zuhörer auf die
verkehrspolitisch und mobilitätspolitisch relevanten Entscheidungen hinzuweisen, die dort getroffen wurden.
({5})
Sie haben sich in Ihrem Beschluss dazu bekannt, dass
Sie mit Steuern steuern wollen. Sie wollen nicht nur in
eine ganz andere Richtung steuern, nein, Sie wollen den
Menschen in Wahrheit ihr Lebensgefühl und ihre Lebensart diktieren. Dazu sagen wir: Das ist der falsche
Weg, um die Menschen mitzunehmen - auch in der politischen Debatte.
({6})
Sie haben entschieden, die Pendlerpauschale zu streichen und damit den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte für Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jeden Morgen viele Kilometer auf sich nehmen,
um ihrer Arbeit nachzugehen, ihr Leben schwerer zu
machen, deren Steuerlast zu erhöhen und damit leistungsfeindliche Anreize zu setzen.
({7})
Das ist falsch.
({8})
Sie haben sich dafür entschieden, die Lkw-Maut zu
einer Schwerverkehrsabgabe umzubauen und damit auf
allen Straßen in Deutschland für alle Fahrzeuge schwerer als 3,5 Tonnen Gebühren zu erheben. Das ist leistungsfeindlich für die vielen Handwerkerinnen und
Handwerker in Deutschland, die Arbeitsplätze schaffen,
für den Mittelstand und für das örtliche Gewerbe. Das ist
falsch in der sozialen Marktwirtschaft.
({9})
Obwohl Deutschland als eines der wenigen Länder
auf der Erde bereits eine Luftverkehrsabgabe erhebt, haben Sie sich entschieden, zusätzlich als einziges Land
auf der Welt Kerosin zu besteuern. Das ist falsch in einem Land, das vom Export lebt, das international denkt
und handelt und das vor allen Dingen ohne Luftfracht
nicht existieren könnte. Auch das eine falsche Entscheidung.
({10})
Noch viel besser finde ich, dass Sie die tolle Idee geboren haben, die Besteuerung von Mineralöl zukünftig
an einen Verbraucherpreisindex zu koppeln. Man muss
dazu wissen, dass die Inflation in diesem Bereich seit
1999 etwas höher als insgesamt war. Das würde dazu
führen - ich habe das heute einmal ausgerechnet -, dass
die Mineralölsteuer für 1 Liter Diesel um etwa 5 Cent
und danach jedes Jahr um die Teuerungsrate des Energiepreises steigen würde. Es gibt dann also noch extra
einen Anreiz dafür, dass der Staat nicht preismildernd
eingreift, zum Beispiel durch die Zerschlagung von Kartellen, sondern preistreibend.
({11})
Wer das in der Steuerpolitik tatsächlich realisieren will,
ist auf dem falschen Dampfer und handelt wieder leistungsfeindlich und entgegen den Prinzipien der sozialen
Marktwirtschaft.
({12})
Ein Letztes. Sie haben den schönen Satz beschlossen
- ich will ihn deshalb hier vorlesen, weil er so unfassbar
ist -:
Die Bundesregierung muss endlich ihre Blockadepolitik gegen Möglichkeiten aufgeben, Sanktionen
nicht nur bei übermäßigen Defiziten, sondern auch
bei übermäßigen Leistungsbilanzüberschüssen verhängen zu können, um makroökonomische Ungleichgewichte abzubauen.
({13})
Das ist eine Verelendungsstrategie für das Exportland
Deutschland. Wir müssen uns für die Leistung unserer
Wirtschaft nicht entschuldigen - nicht bei Ihnen und bei
niemand anderem in Europa.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leidig von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja,
wir haben in der vergangenen Woche erlebt, wie die Projektbetreiber einen Machtkampf um Stuttgart 21 organisiert haben - Goliath gegen David, sozusagen.
({0})
Die Freundinnen und Freunde des Kopfbahnhofes sind
unterlegen. So ist es.
Es würde sich lohnen, sich die Bedingungen, die Irreführungen und die konkreten Ergebnisse dieser Volksabstimmung im Detail anzuschauen. Aber das würde
meine Redezeit hier sprengen. Nur so viel: In der Stadt
Stuttgart haben über 47 Prozent für den Ausstieg gestimmt. Die Bevölkerung ist tief gespalten. Daran sind
die Grünen in der Landesregierung mit schuld, weil sie
die offensichtlichen Fehler dieses Projektes nicht zum
Ausstieg genutzt haben, sondern auf Koalitionsfrieden
mit der SPD setzen.
Damit bin ich bei dem Thema, das tatsächlich auf die
Tagesordnung des Bundestages gehört: Stuttgart 21 ist
zum Scheitern verurteilt, so oder so, weil eine Reihe
ganz gravierender Probleme überhaupt nicht gelöst ist.
Davon will ich hier nur zwei herausgreifen:
Erstens: die Kostenfrage. Bereits am Tag nach der
Volksabstimmung hat Bahnchef Grube angedeutet, was
alle schon längst wissen: Bereits vor Baubeginn ist die
Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro überschritten.
({1})
Jeder hier im Plenarsaal weiß, dass bis ins nächste Jahrzehnt hinein 7 Milliarden Euro und mehr für dieses Projekt fällig werden, aber Bund, Land und Stadt haben erklärt, keine Mehrkosten zu tragen, und die DB AG
weigert sich, die Kostenübernahme zuzusichern.
Was bedeutet das? Wenn angefangen wird, zu graben,
könnten Bauruinen entstehen. Die Anlagen können nämlich erst dann in Betrieb genommen werden, wenn sie
vollständig fertiggestellt sind. Wir werden etwas Ähnliches erleben wie bei der Hochgeschwindigkeitsstrecke
Nürnberg-Erfurt, wo seit Jahren So-da-Brücken in der
Landschaft stehen, Brücken, die einfach so da stehen,
weil das Bauprojekt nicht fertiggestellt wird. Der Unterschied ist, dass die gigantische Bauruine inmitten der
Landeshauptstadt liegen wird.
({2})
- Nein, das liegt daran, dass das Geld nicht reicht.
({3})
Als zweiten Punkt nenne ich den Schaden für die
Schiene. Dieser Punkt ist der allergravierendste. Die Argumente dafür, dass dieses Projekt der Schiene schadet,
waren von Anfang an der wichtigste Einwand gegen den
Tunnelbahnhof. Das hat auch in der Faktenschlichtung
eine zentrale Rolle gespielt. Ich erinnere an den Schlichterspruch von Heiner Geißler vor etwa einem Jahr, an
den sich alle Projektbeteiligten quasi wie an einen Urteilsspruch gehalten haben. Dort heißt es:
Die Deutsche Bahn AG muss dabei den Nachweis
führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist.
Im Sommer dieses Jahres hat die Bahn verkündet:
Unsere Überprüfung der Simulationsergebnisse hat
gezeigt, dass die geforderten 49 Ankünfte im
Hauptbahnhof Stuttgart in der am meisten belasteten Stunde … abgewickelt werden können.
Auch dazu haben Sie hier in einer Aktuellen Stunde triumphiert, während das Aktionsbündnis aus guten Gründen gezweifelt hat. Nun ist vergangene Woche bekannt
geworden, dass die Ergebnisse dieses Stresstests falsch
sind. Die Fakten über die Fälschung sind auf der Internetplattform WikiReal nachzulesen. Sie wurden von
Dr. Engelhardt zusammengetragen, der als Sachverständiger an der Stresstestpräsentation teilgenommen hat.
Das ist unter anderem im ZDF-Magazin Frontal 21 dokumentiert und durch einen der bekanntesten Verkehrswissenschaftler im deutschsprachigen Raum bestätigt
worden, Professor Knoflacher.
Demnach hat die Bahn systematisch gegen die Richtlinie verstoßen, die für eine solche Simulation maßgebend ist, nämlich die Richtlinie mit der Bezeichnung
„Fahrwegkapazität R 405“. Tatsächlich können in der
Spitzenstunde nämlich nicht 49, sondern maximal
38 Züge abgefertigt werden. Was bedeutet das? Das sind
weniger Züge als im heutigen vernachlässigten Kopfbahnhof und nur 60 Prozent von dem, was ein ertüchtigter Kopfbahnhof leisten könnte.
({4})
Das ist der Punkt, an dem die Bundesregierung eingreifen muss, Herr Ramsauer. Die Untersuchung zeigt,
dass mit Stuttgart 21 faktisch ein Rückbau der Eisenbahninfrastruktur des Bundes geplant ist.
({5})
Da können Sie sich nicht einfach zurücklehnen und sich
damit herausreden, dass es sich um ein eigenwirtschaftliches Projekt der Bahn handelt.
({6})
Mit Stuttgart 21 wird der entscheidende Bahnknoten
in Südwestdeutschland enger gezogen. Es wird ein Nadelöhr geschaffen. Dafür sollen Milliarden Euro an Steuergeldern fließen. Wenn Sie es mit dem Standort
Deutschland gut meinen, dann dürfen Sie nicht zulassen,
dass die Eisenbahn in ihrer zukünftigen Entwicklung behindert wird.
({7})
Wir werden nicht nachlassen, die Fakten auf den
Tisch zu bringen. Die Linke will dazu beitragen, dass
Stuttgart 21 aus vernünftigen Gründen scheitert und
nicht im Desaster endet.
({8})
Ich fordere Sie auf, Herr Ramsauer: Übernehmen Sie die
Verantwortung, und wenden Sie Schaden von der Bahninfrastruktur in diesem Land ab!
Danke.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Aktuelle Stunde heißt: Standort Deutschland sichern S 21 zügig umsetzen und grüne Pläne zur Belastung des
Mittelstands stoppen. - Ich kann nur sagen: Jedem
Zehntklässler in Deutschland würde man diese Formulierung um die Ohren hauen.
({0})
Wenn Sie in Zukunft einmal Formulierungshilfen brauchen, können Sie sich gerne an meine Fraktion wenden.
Wir beherrschen so etwas, Herr Kauder.
Ich kann zur Abstimmung über Stuttgart 21 nur sagen, Herr Kauder: Damit hat die grün-rote Regierung
dem Land und der Demokratie einen großen Gefallen
getan.
({1})
Was ihr in 17 Jahren nicht geschafft habt - so lange
läuft das Ganze schon -, ist jetzt durch einen Volksentscheid entschieden worden. Selbstverständlich werden
wir als Grüne - das hat die Landesregierung immer zum
Ausdruck gebracht - uns an dieses Votum halten und
Stuttgart 21 jetzt umsetzen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Dr. Martin Lindner ({2}) ({3}): Sie sehen
das jetzt demokratieexperimentell!
konstruktiv-kritisch, Herr Kauder. Das bedeutet: Es gibt
einen vereinbarten Kostendeckel von 4,5 Milliarden
Euro. Vor dem Entscheid hat Herr Grube noch gesagt: Es
ist kein Problem, ihn einzuhalten. - Seit Montag ist ihm
der Kupferpreis eingefallen, wodurch es eventuell doch
teurer wird.
Aber wir werden auf den Kostendeckel achten:
4,5 Milliarden Euro. Der Landesanteil kann nicht zunehmen; die Bahn muss sich eben darum kümmern, wie sie
das finanziert.
({4})
Wichtig ist, dass Ihre These „Das ist jetzt gut für den
Standort Deutschland“ ein bisschen überhöht ist, Herr
Strobl.
({5})
Wir werden weiter die Frage stellen: Was ist gut für den
Standort Deutschland? Es könnte sein, dass die Milliarden, die jetzt für den unterirdischen Bahnhof verwendet
werden - wie gesagt, wir akzeptieren die Entscheidung -,
an anderen Stellen auch in Baden-Württemberg fehlen
und Schieneninfrastruktur dann nicht mehr gebaut werden wird.
({6})
Wir sind sehr gespannt, ob Herr Ramsauer die Rheintaltrasse oder die Strecke Frankfurt-Mannheim in den Investitionsplan aufnehmen wird oder ob die Mittel dafür
fehlen.
({7})
Das werden wir genau verfolgen.
({8})
Interessant ist jedenfalls, dass Sie auf einmal, obwohl
Sie die Volksabstimmung im Landtag immer abgelehnt
haben, dies alles toll finden. Wir sind sehr gespannt darauf, ob für CDU/CSU und FDP daraus folgt, Volksbegehren in Zukunft zu erleichtern, und wie Sie dieses
Thema auf der Bundesebene verorten wollen.
({9})
Sonst wird Ihre Begeisterung nämlich als taktische Begeisterung in die Geschichte eingehen, die keine fünf
Tage lang anhält.
({10})
Ich rate Ihnen, Herr Strobl: Wenn man gewonnen hat,
dann muss man souverän sein und sich freuen, statt zu
brüllen wie von der Tarantel gestochen.
({11})
Seien Sie doch einfach souverän und freuen Sie sich,
dass Sie nach der verlorenen Landtagswahl jetzt eine
Volksabstimmung gewonnen haben!
In dieser Debatte soll es angeblich auch um Wirtschaftspolitik, Belastung des Mittelstands und was auch
immer gehen.
({12})
Dazu will ich noch wenige Punkte ansprechen.
Herr Döring, Sie haben gesagt, wir würden das Fliegen verteuern. Ich kann Ihnen ehrlich sagen: In dem Beschluss, den wir gefasst haben, haben wir in der Tat die
Frage gestellt: Wie kann es mit der ökologischen Steuerreform weitergehen? Ich sage Ihnen, warum: Wir finden,
dass eine Marktwirtschaft heute eine ökologische Marktwirtschaft sein muss, in der die Preise die ökologische
Wahrheit sagen.
({13})
Wir machen uns Gedanken, während von Ihnen nur
„Blockade“, „Nein“, „Nichts“, „Wollen wir nicht“,
„Geht nicht“, „Stillstand“ usw. kommt.
({14})
Sie haben noch gar nicht begriffen - deswegen stehen
Sie in Umfragen in Baden-Württemberg und im Bund
jetzt bei 3 Prozent -,
({15})
dass die Menschen in Deutschland eine ökologische
Politik wollen, aber nicht den Murks, den Sie veranstalten.
({16})
Herr Strobl, dass hohe Leistungsbilanzüberschüsse
ebenso wie hohe Leistungsbilanzdefizite in einem Gemeinschaftsmarkt mit einer gemeinsamen Währung
schwierig sind und ein Problem darstellen, können Sie in
jedem Volkswirtschaftshandbuch nachlesen. Ich finde es
erstaunlich, wie wenig Ahnung die FDP inzwischen bei
solchen Fragen an den Tag legt.
({17})
Wir haben uns auf dem Parteitag eine Frage gestellt,
die bei Ihnen bisher noch fehlt, nämlich: Wie kann man
die 40 Milliarden Euro, um die sich Bund, Länder und
Gemeinden heute noch verschulden, bewältigen? Wir
haben Vorschläge gemacht, zum Beispiel eine einmalige
Vermögensabgabe,
({18})
mit der wir 100 Milliarden Euro Schulden, durch die Finanzkrise und die Konjunkturprogramme verursacht, tilgen wollen. Wir sind die erste Partei, die sagt, wie man
Schulden tilgen kann. Sie sagen nur immer, wie man sie
erhöhen kann.
({19})
Der Haushalt, den Sie vorgelegt haben, hat dies entsprechend dargestellt.
Deswegen rate ich Ihnen: Wenn Sie wieder solche
depperten Titel für eine Aktuelle Stunde auswählen, denken Sie besser vorher nach. Das hätte sicherlich geholfen.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Kaufmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss zunächst noch etwas zurechtrücken, lieber
Kollege Kuhn. Sie, die Grünen, haben im Herbst 2010
im Landtag die Absenkung des Quorums auf 25 Prozent
verhindert. Das muss hier einfach einmal klargestellt
werden.
({0})
Seit Sonntag haben wir Gewissheit: Stuttgart 21 ist
nicht nur von den Parlamenten mehrfach demokratisch
legitimiert worden, nein, es entspricht auch dem klaren
Willen der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung.
({1})
Die Bürgerinnen und Bürger haben der grün-roten Regierung gezeigt, dass sie ihre Steuergelder lieber in die
Zukunftsfähigkeit von Stadt, Region und Land investiert
haben wollen als in die Finanzierung von Nostalgie oder
die Erfüllung hoher Schadensersatzforderungen. Nun
wissen wir auch, dass die Grünen und Teile der Medien
Augenwischerei betrieben haben, als sie immer so taten,
als ob ganz selbstverständlich eine Mehrheit im Land gegen das Projekt sei. Die sogenannten Wutbürger wurden
schlichtweg von der bisher schweigenden Mehrheit
überstimmt.
Dies scheint der Münchner SPD-Oberbürgermeister
Ude genauso zu sehen: Er plant einen Volksentscheid für
die dritte Startbahn des dortigen Flughafens mit der Begründung - ich zitiere -:
Es soll den Grünen nicht gelingen, wie bei Olympia
in Garmisch oder bei Stuttgart 21 viele Monate zu
behaupten, sie würden im Namen der Bürger sprechen, und erst am Ende zeigt sich: Es gibt keine
Mehrheit!
({2})
Er fährt fort: Der Glaubenskrieg um Verkehrsprojekte
kann die Grünen die Politikfähigkeit kosten.
({3})
Für uns Projektbefürworter gilt es nun, den Kritikern
die Hand zu reichen und alle einzuladen, sich konstruktiv einzubringen und das Projekt zu begleiten. Nutzen
wir die Chance, in Stuttgart die Spaltung der Stadtgesellschaft zu überwinden und den Konflikt zu befrieden!
Möglichkeiten gibt es genug: Auf Initiative von Oberbürgermeister Schuster wird noch im Dezember das
erste Bürgerforum starten. Auch die Bahn hat mehrfach
erklärt, dass sie den Austausch mit den Bürgern intensivieren wird. Insbesondere bei den anstehenden Planfeststellungsbeschlüssen für die Anbindung des Flughafens
muss es einen echten Dialog geben.
Ich begrüße es zudem ausdrücklich, dass Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer an einem Gesetz arbeitet,
das Verwaltungsverfahren bei Infrastrukturprojekten
übersichtlicher gestalten und Bürger noch vor Beginn
des Planfeststellungsverfahrens einbinden soll.
({4})
Klar ist: Wir müssen Lehren aus den jahrelangen heftigen Diskussionen ziehen und über neue Formen der
Bürgerinformation und -beteiligung nachdenken. Aber
zur Beteiligung gehört auch, dass sich die Betroffenen
selbst frühzeitig einbringen - und nicht erst, wenn die
Bagger rollen und die Bäume gefällt werden.
Ich selbst habe diese Rede übrigens dazu genutzt, die
Bürgerinnen und Bürger im Wahlkreis im Vorfeld über
Facebook zu beteiligen, indem ich um Vorschläge zum
Inhalt dieser Rede gebeten habe. Die Resonanz auf dieses Demokratie-Experiment war grandios.
({5})
So einfach, meine Damen und Herren und meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, kann eine Politik
des Gehörtwerdens sein.
Was Stuttgart 21 angeht, so steht fest: Querschüsse
aus der Landesregierung und Irreführungen der Bürger
durch den grünen Teil der Regierung sind nicht mehr
länger hinnehmbar.
({6})
Sie schaden dem Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg und dem Vertrauen in Deutschland als Rechtsstaat.
({7})
Schädlich ist auch, Frau Kollegin Leidig, wenn man
nach der verlorenen Volksabstimmung nun fortlaufend
monothematisch bei jeder passenden und unpassenden
Gelegenheit erklärt, man wolle nicht mehr bezahlen als
ursprünglich vereinbart. Im Finanzierungsvertrag ist klar
geregelt, dass bei etwaigen Mehrkosten „Gespräche zwischen den Projektpartnern aufzunehmen sind“. Nun
kann man Verträge gut finden oder schlecht, sie als Vertragspartner zu ignorieren, ist unseriös.
({8})
Das Projekt wird bis Ende 2019 gebaut werden. Heute
über Kostensteigerungen zu streiten, die vielleicht oder
vielleicht auch nicht in einem halben Jahrzehnt auftreten, ist einfach nicht produktiv. Überdies scheint den
Herren Kretschmann und Hermann nicht ganz klar zu
sein, dass Wirtschaftsunternehmen wie die Deutsche
Bahn allein schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen
ein originäres Interesse daran haben, dass die Kosten im
Rahmen bleiben.
({9})
Ich will mit einigen Forderungen schließen: Ich rufe
die Bahn auf, den Bau nunmehr, wie angekündigt, zügig
fortzusetzen und Stuttgart 21 im geplanten Zeitrahmen
({10})
abzuschließen.
Die Projektpartner rufe ich auf, sich zum Finanzierungsvertrag zu bekennen und die Bahn zu unterstützen.
Das heißt auch: Wer Stuttgart 21 plus will, muss auch
Stuttgart 21 plus bezahlen.
Ich rufe die Grünen auf, ihre Beteiligung am Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 umgehend zu beenden.
({11})
Eine Gruppierung, die das Ergebnis der Volksabstimmung - jedenfalls in Teilen - nicht akzeptiert, kann nicht
mehr Dach für Handlungen einer Regierungspartei sein.
Ich rufe die Grünen des Weiteren auf, nicht mehr alle Infrastrukturprojekte in der Bundesrepublik grundsätzlich
abzulehnen,
({12})
sondern im Interesse des Landes auch einmal Ja zum
Fortschritt zu sagen. Ich rufe das Aktionsbündnis auf,
seine Demonstrationen zum Zwecke der Deeskalation
vom Bahnhof weg zu verlagern
({13})
und unseren Polizei- und Ordnungskräften, die in den
letzten Wochen und Monaten viel gelitten haben, wieder
mit Respekt zu begegnen. Rücken Sie von Ihren Verschwörungstheorien ab und gestalten Sie die Zukunft
von Stadt und Land mit!
({14})
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Kaufmann, wer Fortschritt organisieren und den Standort sichern will, der, glaube ich,
muss für einen neuen Konsens bei Infrastrukturprojekten
sorgen. Das bedeutet eine ganze Menge mehr als das,
was wir heute in der Debatte bisher gehört haben. Ich
freue mich, dass die Begeisterung für direkte Demokratie in der Union und in der FDP nach dem letzten Sonntag auf einmal so gewachsen ist.
({0})
Aber vor diesem Sonntag schaute das ganz anders aus.
({1})
Sie, die CDU, haben eine Landtagswahl in BadenWürttemberg verloren,
({2})
weil Sie Angst vor dem Votum der Bürgerinnen und
Bürger hatten. Sie haben ihnen misstraut und nicht geglaubt, dass sie zu vernünftigen Entscheidungen fähig
sind. Das ist die Wahrheit. Sie hätten das alles ja nicht zu
blockieren brauchen.
({3})
Auch die Grünen hatten große Bedenken bei dem Volksentscheid. Sie sind aber das Risiko wenigstens eingegangen. Das ist, so finde ich, lobenswert. Sie stehen auch in
einer anderen Tradition. Sie hatten vielleicht geahnt,
dass es keine Mehrheit für die Ablehnung von Stuttgart 21 gibt, und waren deswegen ein bisschen vorsichtiger. Aber die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen
müssen, ist doch: Wie stellen wir einen neuen Konsens
bei Infrastrukturprojekten her? Da hilft es nicht, im
Nachhinein Volksentscheide zu loben, sondern man
muss sagen, was man in Zukunft tun will, um Bürgerinnen und Bürger besser beim Ob und Wie einer Infrastrukturplanung zu beteiligen. Sie selber haben das Planungsbeschleunigungsgesetz, das im Innenministerium
erarbeitet wird - jetzt habe ich gehört, es werde neuerdings im Verkehrsministerium weiter bearbeitet; das
weiß ich aber nicht -, gestoppt.
({4})
Es wäre übrigens ein Fehler, wenn dieses Gesetz diesen Titel behalten würde. Wenn es nämlich nur um Planungsbeschleunigung geht - ich halte es übrigens für
wichtig, dass das geschieht -,
({5})
aber das Gesetz keine echte Bürgerbeteiligung, und zwar
eine neue Form der Bürgerbeteiligung, beinhaltet, dann
werden wir die Planungsbeschleunigung, die wir vielleicht erreichen, zum Schluss wieder verlieren, weil es
eine ganze Menge Klagen geben wird. Es braucht einen
neuen Konsens für Infrastrukturprojekte, und das heißt
echte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern.
({6})
Wir in Bayern haben die Debatte - Herr Kaufmann,
Sie haben es angesprochen - über die dritte Startbahn.
Da ist es ähnlich wie bei Stuttgart 21. Christian Ude und
ich, wir haben bereits im Sommer den Vorschlag gemacht, die bayerische Verfassung zu ändern, um bayernweite Volksentscheide zu ermöglichen.
({7})
Das hat die CSU abgelehnt.
({8})
Gestern höre ich, dass auch Horst Seehofer auf einmal
dafür ist, aber nach dem Motto „Copy and paste“ und
ohne Quellenangabe. Guttenberg lässt grüßen.
({9})
- Das kennen wir. - Eine echte Kultur der Bürgerbeteiligung heißt aber, dass man tatsächlich über das Ob reden
können muss. Wenn Sie nämlich nur über bessere Information reden, was auch wichtig wäre - in diesem Zusammenhang muss man die Möglichkeiten des Internets
nutzen -, es aber keine Möglichkeit gibt, über das Ob zu
reden, dann handelt es sich um keine echte Bürgerbeteiligung. Dann fühlen sich die Menschen zu Recht hinter
die Fichte geführt. Das darf nicht sein.
Wir haben in der SPD-Bundestagsfraktion einen Infrastrukturkonsens auf den Weg gebracht. Wir werden
das Planungsbeschleunigungsgesetz begleiten. Aber ich
sage Ihnen ganz deutlich: Da muss eine Menge mehr als
das passieren, was bisher bekannt ist. Das ist das Entscheidende. Lassen Sie uns doch nicht nach der Entscheidung zu Stuttgart 21 im Nachhinein ein Hickhack
veranstalten. Die CDU erweckt allein durch den Titel der
Aktuellen Stunde den Eindruck, dass es jetzt darum geht,
die letzte Wahlniederlage psychologisch aufzuarbeiten.
({10})
Lassen Sie uns die Aktuelle Stunde vielmehr dafür nutzen, zu überlegen, wie wir die Bürgerinnen und Bürger
besser beteiligen können. Dazu gehört die Frage des Monitorings, die Frage der Information und die Frage, wie
Bürgerinnen und Bürger auf Augenhöhe mit der Verwaltung beteiligt werden können. Dazu gehört auch die Beantwortung der Fragen: Wie beschleunigen wir das
Ganze? Wie können wir dafür sorgen, dass die Prozesse
schneller ablaufen? Ich glaube, dass es dann, wenn man
die Bürgerinnen und Bürger früher an den Entscheidungen, auch über das Ob, beteiligt, gelingen kann und gelingen muss, im Gegenzug die Verfahren zu beschleunigen.
({11})
Das, was wir in Stuttgart erlebt haben, kann ja nicht richtig sein: dass 17 Jahre, nachdem das Verfahren gestartet
worden ist,
({12})
Baubeginn ist. Bürgerfeindlich ist übrigens auch, wenn
Verfahren so lange dauern.
Es wäre eine wichtige Aufgabe für dieses Haus, jetzt,
kurz nach diesem - aus Sicht der Mehrheit gut ausgegangenen - Volksentscheid, nicht nur Lippenbekenntnisse
zu äußern und auf einmal das Hohelied der Demokratie
zu singen, sondern dafür zu sorgen, dass in einem Bereich, in dem „mehr Demokratie“ normalerweise nicht
stattfindet, nämlich bei der Planung von Infrastrukturprojekten, künftig mehr Demokratie praktiziert wird.
({13})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Daniel Volk.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Kollege Pronold, Sie haben
mit der Forderung, wir müssten jetzt einen neuen Konsens für Infrastrukturprojekte schaffen, eigentlich unterstellt, dass es zuvor keinen Konsens gegeben habe.
({0})
Ich möchte dem ganz deutlich widersprechen. Ich
glaube, wir haben über die mehr als 15 Jahre Planung
des Projekts Stuttgart 21 durchgehend einen Konsens gehabt.
({1})
Es gab auch eine Bürgerbeteiligung: mehr als 3 000 Eingaben. In der Volksabstimmung am letzten Sonntag hat
sich dieser Konsens noch einmal deutlich abgebildet.
({2})
Insofern sehe ich nicht, dass hier ein neuer Konsens herbeigeführt werden muss, sondern es muss der Konsens,
den wir über Jahre hatten, beibehalten werden.
({3})
Ich halte es für vollkommen sinnvoll, dass hier eine
Aktuelle Stunde angesetzt wird, in der die beiden Themen, nämlich die Verhinderung von wichtigen Infrastrukturmaßnahmen durch die Grünen und die von den
Grünen beabsichtigte Steuerpolitik, behandelt werden.
Eines wird klar: Durch die Verhinderung von wichtigen
Infrastrukturprojekten einerseits, durch massive, geradezu unverschämte Steuererhöhungen andererseits, die
die Grünen für den Fall einer Regierungsbeteiligung ankündigen, wird ein Frontalangriff seitens der Grünen gegen den deutschen Mittelstand, gegen die deutsche Mittelschicht, gegen die Zukunft unseres Landes gefahren.
({4})
Ich möchte Ihnen nur ein paar Punkte aus dem fantastischen Steuerbeschluss der Grünen vom Wochenende
darlegen. Sie sagen, der Staat müsse mehr Steuern einnehmen, damit er Schulden abbauen kann. In den Bundesländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, fällt auf, dass Sie zusätzliche Steuereinnahmen
nicht zum Schuldenabbau verwenden.
({5})
Vielmehr stellen Sie in Baden-Württemberg großzügig
neue Stellen für Demonstranten gegen Stuttgart 21 zur
Verfügung.
({6})
In Nordrhein-Westfalen müssen Sie sich vom Verfassungsgerichtshof schwarz auf weiß erklären lassen, dass
Sie einen verfassungswidrigen Haushalt aufstellen.
({7})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Mehr Steuereinnahmen werden von den Grünen niemals in den Abbau von
Staatsverschuldung gesteckt, sondern immer für eine
Ausgabenerhöhung verwendet. Das Schlimmste an dieser Sache ist: Dieses Geld wird in sinnlose Ausgaben gesteckt.
({8})
Ich möchte Ihnen hier einfach einmal einen Schlüsselsatz aus Ihrem Beschluss vorlesen:
({9})
… Finanz- und Haushaltspolitik … darf nicht im
engen Gewand des strengen Kassenwarts daherkommen.
So Ihr O-Ton.
({10})
Das ist genau der Schlüsselsatz, der zeigt: Sie wollen
den Bürgern nur noch mehr Geld wegnehmen, damit Sie
noch mehr Geld für sinnlose Dinge ausgeben können.
({11})
Wenn man sich dann einmal direkt die steuerpolitischen Vorschläge anschaut, so stellt man fest, dass die
Grünen die Linkspartei mittlerweile links überholen. Da
wird eine Vermögensabgabe und in der Ferne eine Vermögensteuer vorgeschlagen, die allerdings nicht nur private Vermögen, sondern auch betriebliche Vermögen belasten soll.
({12})
Interessant, dass Sie dies fordern. Die Linkspartei fordert
ja mit der Vermögensteuer „nur“ die Belastung des privaten Vermögens. Erklären Sie doch bitte einmal dem
Mittelstand oder kleinen Handwerksbetrieben, dass sie
auf Betriebsfahrzeuge Vermögensteuer zahlen sollen.
Das ist doch insgesamt ein Angriff auf die Kapitalbasis
des Mittelstandes. Das kann diesem Lande nicht guttun.
({13})
In der Überschrift wird von einem „solidarischen Finanzkonzept“ gesprochen, im Text ist dann aber die
Rede von einer „massiven Erhöhung der Grundsteuer“.
Sie wollen die Grundsteuer massiv erhöhen, indem Sie
als Bemessungsgrundlage den Verkehrswert der jeweiligen Immobilie ansetzen.
({14})
Das wird zwangsläufig dazu führen, dass sich die
Grundsteuer massiv erhöht. Jetzt frage ich mich nur, wie
solidarisch es ist, dass der Vermieter,
({15})
der möglicherweise mehrere Wohnungen hat, also ein
Vermögender, diese massiv erhöhte Grundsteuer als umlagefähige Nebenkosten seinem Mieter, der sich gerade
einmal eine Wohnung zur Miete leisten kann, in Rechnung stellt. Wie solidarisch ist eigentlich Ihr Finanzkonzept?
({16})
Ich kann nur eines sagen: Das Finanzkonzept der Grünen
ist weder solidarisch noch solide. Das Einzige, was es
ist: Es ist grün und damit auf jeden Fall zu verhindern.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Kumpf von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werter Kollege Dr. Volk, ich glaube, Sie haben am Sonntag gepennt. Wir hatten am Sonntag einen Volksentscheid, und Baden-Württemberg hat entschieden. Erst
durch diesen Volksentscheid ist für das Projekt Stuttgart 21 Klarheit geschaffen worden. Das müssten Sie
einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
({0})
Ich kann mich gut erinnern: Wie wurden wir hier vor
15 Monaten mit Häme überschüttet, wie sehr wurden wir
als dumm und dusselig dargestellt, als wir diesen Volksentscheid ins Spiel gebracht haben!
({1})
Der Kollege Kauder und der Kollege Strobl, auch der
Kollege Pfeiffer, auch der Kollege Kaufmann, auch die
Frau Maag, Sie alle waren dagegen.
({2})
Wer war denn noch dagegen? Auch der Kollege Kuhn
und die Grünen im Landtag waren dagegen.
({3})
Auch die FDP war dagegen.
({4})
Jetzt lassen Sie sich auf einmal feiern, als wären Sie der
Urheber des Ganzen und hätten es zum Erfolg geführt.
Bitte bleiben Sie einmal bei der Wahrheit!
({5})
Es zeigt sich, dass dieser Vorschlag, eine Volksabstimmung durchzuführen, richtig war und dazu beigetragen hat, dass es zu einer Versöhnung der widerstreitenden Parteien gekommen ist, zumindest im Hinblick auf
die Frage, die jetzt am Sonntag geklärt wurde.
({6})
Lieber Kollege Strobl, es ist keine Zeit für Triumphgeheul. Sie müssten schon ein bisschen im eigenen
Hause kehren und nachschauen, welchen Anteil die
CDU an dem Konflikt um Stuttgart 21 hat. Insbesondere
Ihr OB hat für Verwirrung gesorgt: Er hat 2004 einen
Bürgerentscheid in Aussicht gestellt und ihn dann doch
nicht stattfinden lassen, er hat nicht informiert und die
Leute nicht, wie es so schön heißt, mitgenommen, und,
und, und.
({7})
Bleiben Sie auf dem Teppich! Ich glaube, es tut uns allen
hier gut, aus der Auseinandersetzung um dieses Projekt
zu lernen und unsere Lehren daraus zu ziehen.
({8})
Ich denke, es ist eher Demut angesagt, schlichtweg
Demut. Auch die CDU sollte sich an die Nase fassen. Es
wurde uns nämlich mit dieser Entscheidung am Sonntag
Verantwortung übertragen und auch Vertrauen geschenkt, dass das, was wir zur Entscheidung vorgelegt
haben, auch richtig ist, dass wir das, was wir in der Auseinandersetzung besprochen haben, auch einhalten. Dieses Vertrauen, das uns geschenkt wurde, gilt für uns alle
hier im Parlament. Es gilt aber auch für das Verkehrs17288
ministerium und für die Bahn. Dieses Vertrauen darf
nicht wieder enttäuscht werden, sonst kann dieses Projekt nicht zügig und auch nicht sinnvoll zu Ende geführt
werden.
({9})
Es hat sich auch gezeigt, dass direkte Demokratie
nicht zwangsläufig eine Dagegen-Bewegung ist.
({10})
Sie stellt eine große Chance dar, dass Projekte zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern endgültig zu einem guten Abschluss gebracht werden.
Ich will gern Tissy Bruns, eine sehr kluge Journalistin, zitieren, die geschrieben hat:
Der Wutbürger ist im Licht der Abstimmung klein
geworden, viel kleiner als er im Scheinwerferlicht
der Medien vor einem Jahr schien.
({11})
Das heißt, Verantwortung haben auch die Medien, und
zwar dafür, wie sie solche Projekte begleiten, wie sie für
Transparenz und Information sorgen und auch die Kommunikation organisieren. Ich denke, es ist ganz wichtig,
dass man auch dies einmal untersucht und beleuchtet.
({12})
Das heißt, Kollege Strobl, die CDU wird ja nicht so
dumm sein, sich einzuigeln und jetzt so zu tun, als hätte
sie alles schon vorher gewusst.
({13})
Ich hoffe, die CDU lernt dazu, nicht zu viel, damit sie in
Baden-Württemberg nicht so erfolgreich wird.
({14})
- Das hat immer Kollege Rommel zu mir gesagt. Er hat
gesagt: Frau Kumpf, ich wünsche Ihnen viel Erfolg, aber
nicht zu viel.
Es hat sich gezeigt, dass die Wirtschaftsbürger keinen
Polizeieinsatz im Schlossgarten wollen; denn es könnten
ihre Kinder oder ihre Enkel dabei sein.
({15})
Solche Projekte können also nicht mit der Polizei und
mit Knüppeln durchgedrückt werden.
({16})
- Klatschen, genau.
Jetzt kommen die Grünen an die Reihe
({17})
und auch die Linken. Viele von uns haben so wie ich
maßlos darunter gelitten, wie mit uns Abgeordneten umgegangen worden ist, dass die Grünen und die Linken
nicht dagegengehalten haben, als Parlamentarier diffamiert und als Lügenpack und alles Mögliche verschrien
wurden.
({18})
Das heißt, es muss auch wieder eine politische Kultur
Einzug halten, sodass man unterschiedliche Positionen
sachlich und sauber miteinander diskutiert. Es steht uns
an, aus diesem Projekt auch zu lernen.
({19})
Stuttgart hat gezeigt, dass die bisherigen Beteiligungsverfahren nicht ausreichen. Vor 17 Jahren wurde
das eben nicht zur Abstimmung gestellt. Wir müssen uns
hier weiterentwickeln. Nicht nur das Planungsbeschleunigungsgesetz ist nötig; Beteiligungsformen, ein Pflichtenheft für Beteiligung und vor allem für Information
und Kommunikation müssen bei großen Infrastrukturprojekten vorgeschrieben und Standard werden. Alle
müssen qualifiziert werden, betroffene Bürger nicht als
Gegner, sondern als Zuspieler und Mitspieler zu begreifen, damit wir Infrastrukturprojekte wirklich in eine gute
Zukunft führen.
Ich will mit einem guten Spruch von Robert Bosch
schließen, der gesagt hat: „Lieber Geld verlieren als Vertrauen“. Es ist ganz wichtig, dass wir nicht weiter das
Vertrauen in dieses Projekt verspielen und dass wir darangehen, es zügig umzusetzen.
({20})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In Baden-Württemberg wurden die schreienden Wutbürger auf der Straße von der schweigenden Mehrheit, nämlich, wenn man es richtig rechnet, von 80 Prozent, einfach überrollt.
({0})
Oder wie die FAZ sagt: Das Volk hat der Straße gezeigt,
wo es langgeht.
({1})
Jetzt, lieber Kollege Kuhn, beginnt für die grüne Regierung in Baden-Württemberg der echte Stresstest, und
den werden wir auch entsprechend begleiten.
({2})
Der vergangene Sonntag hat aber auch gezeigt: Die Bürgerinnen und Bürger sind bei weitem klüger, als wir denUlrich Lange
ken oder als wir es hier manchmal diskutieren. Sie wissen nämlich, wie man mit langfristig notwendigen
Investitionsentscheidungen umgehen muss
({3})
und dass Zukunftsprojekte, die Generationenprojekte
sind, umgesetzt werden müssen. Schienenausbauprojekte waren immer schon langfristige Projekte und Projekte für gesamte Regionen. Ich darf aus bayerischer
Sicht sagen, dass wir uns im bayerisch-schwäbischen
Raum über die Entscheidung besonders freuen.
({4})
Lieber Kollege Pronold, Sie haben bei der dritten
Startbahn des Münchener Flughafens die erste Pirouette
gerade hinter sich. Auch Ihnen sei es vergönnt, jeden
Tag ein bisschen mehr Einsicht zu gewinnen. Aber wenn
ich den Beschluss der bayerischen SPD aus dem Jahr
2009 richtig im Kopf habe, dann waren Sie bis zur „Krönung“ von Ude der Meinung, die dritte Startbahn verhindern zu müssen.
Jetzt stellen Sie sich hier hin und sagen, dass Sie sich
gemeinsam mit uns und mit der Bayerischen Staatsregierung für diese dritte Startbahn einsetzen und sogar ein
Ratsbegehren beantragen wollen.
({5})
Lieber Herr Pronold, ich sage Ihnen: Die CSU im Münchener Stadtrat hat bereits ein Ratsbegehren für diese
dritte Startbahn beantragt. Sie kommen wieder hinterher.
({6})
Auf den Krach in der Koalition im Münchener Rathaus
können wir uns heute schon einstellen. Ich verweise nur
auf die gescheiterten Koalitionsverhandlungen in Berlin.
Die A 100 lässt grüßen.
({7})
An die Adresse der Grünen muss ich sagen: Toni
Hofreiter hat gestern in der Welt auf die Frage, ob Stuttgart 21 gebaut wird, gesagt: Das ist offen. - Ich kann
dem Vorsitzenden des Infrastrukturausschusses, des Verkehrsausschusses, nur raten, er möge jetzt nicht als
Trotzkopf durch die Gegend laufen,
({8})
sondern mit dem Verkehrsausschuss gemeinsam dieses
Projekt entsprechend unterstützen. Das hat der Souverän
am Sonntag so entschieden. Diese Entscheidung gilt
auch für die Mitglieder unseres Ausschusses.
({9})
Ein herzliches Dankeschön gilt dem Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, der als Infrastrukturminister
standhaft war. Ja, Herr Kuhn, auch in der Zeit, als Sie so
gekübelt haben, haben wir zu diesem Projekt gestanden.
Wir tun dies auch weiterhin. Da können Sie noch so viel
den Kopf schütteln: Wir haben bei der A 100, bei der
Waldschlösschenbrücke und bei Stuttgart 21 gestanden,
und wir stehen bei der dritten Startbahn.
({10})
Da können Sie sich winden, wie Sie wollen: Infrastruktur ist unser Markenzeichen. Anders verhält es sich bei
den Grünen, wie auf ihrem Parteitag deutlich wurde:
({11})
für mehr Bahnverkehr, aber gegen den Ausbau von
Bahntrassen; für regenerative Energien, aber gegen den
Ausbau der Stromnetze.
({12})
Herr Kuhn, ich sage Ihnen noch eines: Sie haben beschlossen, die Schulden tilgen zu wollen. Die Koalition
in Bayern tilgt bereits Schulden. Sie kommen wieder
hinterher.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sonntag war ein
Glück für unsere Infrastruktur, aber auch ein Glück für
die Demokratie. Die Demokratie braucht nämlich keine
Neinsager, die Demokratie braucht keine Wutbürger
oder Berufsverweigerer. Was wir brauchen, sind Bürgerinnen und Bürger, die mit einem vernünftigen, transparenten und mutigen Dafür für unseren Wirtschaftsstandort und für unser Land stehen und arbeiten.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Volk hat in der Tat am vergangenen Sonntag
nicht nur der Straße gezeigt, wo es langgeht. Die übergroße Mehrheit der Baden-Württemberger hat am Sonntag auch all jenen eine Lektion erteilt, die sich angemaßt
haben, sie seien das Volk und sie seien im Besitz der alleinigen Wahrheit und Deutungshoheit.
({0})
Egal ob drittklassige Schauspieler, Berufsquerulanten
oder grüne Verkehrsminister: Das Volk hat klar gegen
deren Position entschieden, und das ist auch gut so.
({1})
Ich darf jetzt, wo alles klar ist, Winfried Hermann, der
in diesem Hause kein Unbekannter ist, zitieren. In den
letzten Monaten war ihm als Minister, aber auch schon
in der Zeit davor keine Lüge zu dreist und keine Halbwahrheit zu dumm, um gegen Stuttgart 21 vorzugehen
und dagegen zu kämpfen.
({2})
Nach dem Ergebnis vom Sonntag hat er gesagt ({3})
- wer gelogen hat, ist im Landtag von Baden-Württemberg festgestellt worden; da hat er nämlich eindeutig die
Unwahrheit gesagt -: Die Volksabstimmung gibt keine
Legitimation mehr, gegen das Projekt zu kämpfen. Und
wo er recht hat, hat er recht. Da kann ich ihm nur vorbehaltlos zustimmen.
Ich erwarte jetzt von den Grünen - denen kommt eine
besondere Aufgabe zu -, dass sie dafür sorgen, dass sich
nicht weiterhin die Straße gegen das Volk stellt, sondern
dass jetzt Einsicht waltet und das Ergebnis akzeptiert
wird.
({4})
Da steht Ihnen eine Aufgabe bevor. Der Herr Lösch
- auch so ein Aktivist -, ein Regisseur, ich glaube, sogar
der Mann von der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag,
({5})
sprach noch am Montag von einer sogenannten Volksabstimmung, die als scheindemokratisch zu verwerfen und
nicht anzuerkennen sei.
({6})
So viel zu dem, was die unter Demokratie verstehen.
({7})
Das Ergebnis stimmt mich aber froh, weil ganz offensichtlich der Wutbürger zwar medial präsent ist, er oft
sogar überhöht wird - das sind ja auch viele, kein Zweifel -, er aber Gott sei Dank in diesem Lande nicht die
Mehrheit ist.
({8})
Das ist, so glaube ich, die wichtigste Botschaft vom vergangen Sonntag, insbesondere für den Ausbau der Infrastruktur, egal ob im Verkehr, auf der Schiene oder auf
der Straße, ob bei Flughäfen oder bei der Energieinfrastruktur.
({9})
Aber in der Tat - ich freue mich, dass das schon angeklungen ist -: Wir können jetzt nicht zum „Weiter so!“
übergehen, sondern müssen uns genau überlegen, welche Lehren und Schlussfolgerungen wir daraus ziehen,
auch im Hinblick auf Planungsrecht und Planungsverfahren. Ganz offensichtlich liegt es doch schon dort im
Argen.
Stuttgart 21 beschäftigt mich persönlich - weil ich bei
Professor Heimerl studiert habe - seit 1988. Dort wurde
vor 23 Jahren die Ursprungsidee entwickelt.
({10})
1994 ist das Projekt daraus entstanden. Ein solches zeitliches Auseinanderfallen von Planung und Umsetzung
- es vergehen ja noch einmal zehn Jahre, bis das Ganze
fertig ist - können wir uns nicht leisten.
({11})
Warum brauchen wir eine solch lange Zeit? Diese
Zeit brauchen wir, weil wir immer mehr Bürgerbeteiligungen, immer mehr demokratische Rechtsmittel und
was auch immer eingebaut haben.
({12})
Dazu gehören auch Umweltverträglichkeitsprüfungen
usw. Aber ganz offensichtlich kommen die bei den Menschen gar nicht an; denn all die Auslegungen in Rathäusern, die Erörterungstermine zu den Einwendungen in
Turnhallen oder wo auch immer sie stattfinden, erreichen ganz offensichtlich die Menschen nicht oder erreichen sie dann, wenn es sie nicht interessiert. Fünf oder
zehn Jahre später, wenn es dann an den Bau gehen soll,
will oder kann sich keiner mehr daran erinnern.
Deshalb müssen wir in der Tat etwas ändern. Es genügt nicht, dass wir die bestehenden Prozesse so lassen,
wie sie sind, und um eine wie auch immer geartete bessere Beteiligung der Bürger ergänzen. Vielmehr müssen
wir die Projektzeiten insgesamt kräftig verkürzen und
Mittel und Wege finden, die Bürger direkt am Anfang eines Vorhabens bei der grundsätzlichen Frage nach dem
Ob einzubeziehen und sie bei der Frage nach dem Wie in
anderer Form zu beteiligen. Das Ganze muss aber auf jeden Fall schneller gehen. Deshalb müssen wir die bestehenden Planungs- und Genehmigungsverfahren umstellen.
Lassen Sie mich aber - weil wir ja zwei Teile haben,
wie der Kollege Kuhn sehr klug festgestellt hat - abschließend noch etwas zu dem direkten Angriff auf diejenigen, die im Lande den Wohlstand erwirtschaften, sagen. Die Grünen wollen nicht nur Politik gegen Familien
machen, das Ehegattensplitting und anderes mehr abschaffen und eine Steuerorgie veranstalten,
({13})
sondern - das will ich noch einmal betonen - auch den
Spitzensteuersatz auf 49 Prozent erhöhen.
({14})
Das trifft aber nicht nur den normalen Bürger, das trifft
vor allem die Unternehmen. 76 Prozent der Unternehmen in diesem Land mit rund 80 Prozent der Beschäftigten sind Personengesellschaften und Einzelunternehmen,
und die wollen Sie in dieser Krise mit Ihren Steuererhöhungsorgien überziehen.
({15})
Auch das muss man, glaube ich, den Menschen draußen sagen. Dann wird es gar nicht erst zu Fragen wie bei
Stuttgart 21 kommen, denn dann werden Sie, die Grünen, von vornherein überhaupt nicht gewählt.
({16})
Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile
ich dem Kollegen Steffen Bilger von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den vergangen Monaten haben wir im Bundestag uns
schon vielfach mit dem Projekt Stuttgart 21 beschäftigen
müssen. Ich hoffe doch sehr, dass wir uns nach dem
Votum der Bürger in Stuttgart und ganz Baden-Württemberg nun auf die positive Begleitung dieses Projekts, vor
allem im Verkehrsausschuss, konzentrieren können. Um
es einmal deutlich zu sagen: Eine konstruktiv-kritische
Begleitung, wie sie Winfried Hermann angekündigt hat,
wäre, so wie wir ihn kennen, nach diesem Votum zu wenig.
({0})
Ich halte die aktuelle Diskussion über mögliche Kostensteigerungen bei Stuttgart 21 für unangemessen. Das
wirkt für mich wie das Nachkarten schlechter Verlierer.
({1})
Es drängt sich doch der Eindruck auf, die Grünen würden höhere Kosten geradezu herbeisehnen.
({2})
Das ist für mich nicht kritisch-konstruktiv; das ist
schlicht destruktiv.
({3})
Einige von Ihnen scheinen die Grundeinstellung zu haben, immer nur das Negative zu erwarten oder zu erhoffen.
({4})
Aber das ist keine Einstellung, mit der wir die Herausforderungen der Zukunft meistern können.
Ja, die Volksabstimmung hat Klarheit gebracht;
({5})
aber sie hat auch viel Zeit und Geld gekostet,
({6})
um letztendlich doch die demokratischen Mehrheitsbeschlüsse aller Gremien, von Gemeinderat bis Bundestag,
zu bestätigen.
({7})
Ich kann Sie von den Grünen nur auffordern, endlich
damit aufzuhören, Stuttgart 21 teurer machen zu wollen,
um so doch noch irgendwie das klare Bürgervotum umgehen zu können.
({8})
Wer jetzt sagt, bei der Volksabstimmung sei es doch nur
um ein Ja oder Nein zum Finanzierungsanteil des Landes
gegangen, wie es einige Vertreter der Stuttgart-21-Gegner getan haben, der nimmt den Bürger nicht ernst. Denn
das Votum ist ganz klar: Ja zu Stuttgart 21.
({9})
Wir alle können sicherlich aus den ganzen Entwicklungen bei Stuttgart 21 lernen. Dazu gehört für mich
auch, dass wir von der Union durchaus Versäumnisse im
Prozess der Planung von Stuttgart 21 eingestehen und
daraus Lehren für die Zukunft ziehen.
({10})
Es ist gut, wenn sich Bürger mittlerweile mehr für sie
betreffende Projekte interessieren. Es sollte sich aber
nicht wiederholen, dass ein solches Interesse auf die Art
und Weise politisch instrumentalisiert wird, wie es die
Grünen in Baden-Württemberg getan haben.
({11})
Meine Damen und Herren, bei allem Protest und der
Berichterstattung darüber wurde lange kaum zur Kenntnis genommen, wie viele Befürworter von Stuttgart 21
es gab und gibt. Umso mehr will ich all den Bürgern, die
sich zum Teil trotz Beleidigungen und harter Auseinandersetzungen für Stuttgart 21 einsetzen, an dieser Stelle
für ihr Engagement danken.
({12})
Mein Dank gilt auch den Polizisten, die seit Jahren am
Stuttgarter Hauptbahnhof sehr viel hinnehmen müssen,
obwohl sie nur ihren Dienst tun.
({13})
Dasselbe gilt im Übrigen für die Polizeibeamten, die
beim Castortransport im Einsatz waren. Herr
Kretschmann sagt:
… Protest macht jetzt eigentlich keinen Sinn mehr.
Recht hat er. Aber was fällt Frau Roth dazu ein? Sie sagt:
Der Polizeieinsatz … ist ein Anschlag auf die Demokratie.
Eine solche Aussage ist unglaublich.
({14})
Meine Damen und Herren, die Bahnhofsgegner in
Stuttgart wurden von unserem früheren Verkehrsausschussvorsitzenden Winfried Hermann massiv unterstützt. Ich muss ehrlich sagen, dass es mich beim Ergebnis der Volksabstimmung mit am meisten gefreut hat,
dass die Verunsicherungstaktik von Herrn Hermann
nicht aufgegangen ist:
({15})
Weder hat das Sichten alter Ministeriumsakten durch
seine zahlreichen neuen Mitarbeiter und die gezielte
Weitergabe an Journalisten zur Aufbauschung vermeintlicher Skandale etwas bewirkt, noch hat es funktioniert,
die Regionen Baden-Württembergs gegeneinander auszuspielen.
({16})
Die Bürger waren zu schlau, um auf all das hereinzufallen.
({17})
Es war gut, dass Minister Ramsauer sich am vergangenen Freitag noch einmal deutlich zu den anderen
Schienenprojekten in Baden-Württemberg bekannt hat:
Lärmschutz an der Rheintalbahn, Elektrifizierung der
Südbahn und Ausbau der Gäubahn.
({18})
Alle diese Projekte verdienen Unterstützung, aber nicht
nur hier von uns, sondern endlich auch von der Landesregierung in Stuttgart.
({19})
Ich erwarte endlich Einsatz für die berechtigten Anliegen der Menschen, sei es bei den genannten Bahnprojekten oder bei notwendigen Straßenbaumaßnahmen.
Nach einem halben Jahr Kampf gegen Stuttgart 21 wird
es endlich Zeit, dass sich Winfried Hermann, wenn er
denn im Amt bleiben will, endlich um die eigentliche
Arbeit eines Verkehrsministers kümmert. Ich weiß nur
nicht, ob der Wille dazu vorhanden ist.
({20})
Zwei Tage nach der Volksabstimmung gab es bei den
Beratungen zwischen Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg zur zweiten Rheinbrücke die Gelegenheit
dazu. Man hätte darauf wetten können - das Ergebnis
war vorhersehbar -:
({21})
Nichts ist passiert. Die Grünen wollen auch hier keine
Infrastrukturinvestitionen. Dabei ist das Signal vom
Sonntag klar: Die Menschen wollen eine Zukunft, in der
wir weiterhin eine führende Wirtschaftsnation mit Innovationsgeist und dem Mut zur Veränderung sind. Dazu
sollten wir alle unseren Beitrag leisten.
({22})
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 1. Dezember
2011, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.