Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
setzen unsere Haushaltsberatungen - Tagesordnungs-
punkt II - fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2012 ({0})
- Drucksachen 17/6600, 17/6602 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015
- Drucksachen 17/6601, 17/6602, 17/7126 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({2})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({3})
Dazu rufe ich ohne weitere Vorankündigungen den
Tagesordnungspunkt II.10 auf:
Einzelplan 04
Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
- Drucksachen 17/7123, 17/7124 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Petra Merkel ({4})
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({5})
Über den Einzelplan 04 werden wir später namentlich
abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache dreieinhalb Stunden vorgesehen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es genügen drei Zahlen, um den von der Bundeskanzlerin vorgelegten Haushalt zu bewerten:
Die erste Zahl ist die Summe neuer Schulden, die
CDU/CSU und FDP im laufenden Jahr, 2011, aufgenommen haben. Sie beträgt nach Auskunft der Bundesregierung 22 Milliarden Euro.
Die zweite Zahl ist die Summe der Steuermehreinnahmen laut Steuerschätzung vom Herbst 2011 und die
Summe der Zinsersparnisse im kommenden Jahr. Die
beiden Summen ergeben im Saldo eine Entlastung im
Jahr 2012 in Höhe von mindestens 4,3 Milliarden Euro.
Die dritte Zahl ist die Summe neuer Schulden, die
Sie, Frau Bundeskanzlerin, im kommenden Jahr, 2012,
trotz dieser Entlastung um 4,3 Milliarden Euro aufnehmen wollen. Die Zahl liegt nicht etwa um 4,3 Milliarden
Euro niedriger als im Jahr 2011, sondern, im Gegenteil:
Angela Merkel und ihr Finanzminister wollen im kommenden Jahr trotz steigender Steuereinnahmen, trotz geringerer Zinsbelastungen, trotz sinkender Arbeitslosigkeit, trotz sinkender Sozialabgaben nicht etwa weniger
Schulden aufnehmen, sondern die Neuverschuldung um
sage und schreibe 4 Milliarden Euro auf 26 Milliarden
Euro erhöhen.
({0})
Es geht nicht um den Vergleich von Äpfeln und Birnen,
({1})
wie sich angesichts dieser drei Zahlen der Herr Bundesfinanzminister gestern herauszureden versucht hat. Es
geht vielmehr, meine Damen und Herren, um die Umstände, unter denen die Schulden erhöht werden sollen.
In einer Zeit sehr guten Wirtschaftswachstums, in einer
Zeit stetig steigender Staatseinnahmen vergrößern Sie,
vergrößert diese Koalition den Schuldenberg Deutschlands.
({2})
Die Schuldenbremse in unserer Verfassung will übrigens
das genaue Gegenteil: in guten Zeiten sparen und in
schlechten Zeiten investieren. Sie stellen diese Schuldenbremse in unserer Verfassung auf den Kopf, Frau
Bundeskanzlerin. Das ist verheerend, und deshalb werfen Ihnen das auch alle vor.
({3})
Ihr Finanzminister hat gestern so gereizt reagiert, weil er
sich dabei ertappt gefühlt hat. Denn Bundesrechnungshof, Bundesbank, Wirtschaftsweisen - alle kritisieren
das. Wie sagte die Frau Bundeskanzlerin, wie sagten Sie,
Frau Merkel, noch hier im Bundestag: Wir sparen, allerdings intelligent. - Das nennt man dann wohl Intelligenzbestie.
({4})
- Ich zitiere sie nur. - Wenn Sie der Öffentlichkeit sagen:
„Wir sparen, aber intelligent“, und die Schulden erhöhen, dann wollen Sie doch die Öffentlichkeit für dumm
verkaufen und zum Narren halten. Das haben Sie doch
vor.
({5})
Sie erklären landauf, landab, dass die Zeiten steigender Staatsverschuldung endlich zu Ende sein müssten.
Sie verordnen Europa einen ganz harten Sparkurs. Was
denken Sie eigentlich, wie glaubwürdig diese Politik in
Europa ist, wenn Sie hier in Deutschland, unter weit besseren Bedingungen als in allen anderen Staaten Europas,
die Schulden erhöhen? „Deutschland geht es so gut wie
lange nicht.“
({6})
- Man kann Sie ausrechnen; Sie sind wirklich ganz putzig. Wir haben darüber gewettet, ob Sie an der Stelle klatschen. Aber Sie haben den letzten Satz noch nicht gehört;
es handelt sich um ein Zitat von Ihrer Kanzlerin. - Der
letzte Satz lautet: Deshalb ist das zentrale Thema der
Abbau von Schulden und die Haushaltskonsolidierung.
({7})
Das ist das, was Sie gesagt haben; aber jetzt machen Sie
das genaue Gegenteil.
Ich habe ja Humor. Aber dass Sie selbst öffentlich erklären: „Wir wollen weniger Schulden machen“,
({8})
und damit durch die Lande ziehen und dann im Bundestag für nächstes Jahr 4 Milliarden Euro mehr Schulden
beschließen als für dieses Jahr, obwohl es Deutschland
so gut geht, und gleichzeitig anderen Ländern empfehlen, sie sollen ihre Schulden senken, obwohl sie in der
Krise stecken, das ist wirklich nicht zum Lachen. Das ist
eine ziemlich finstere Angelegenheit, was Sie hier in
Deutschland veranstalten.
({9})
Ich verstehe Sie: Sie haben sich an das Handeln der
Kanzlerin nach dem Motto „Was stört mich mein Geschwätz von gestern?“ längst gewöhnt, wir noch nicht;
das ist der einzige Unterschied in der heutigen Debatte.
({10})
Meine Damen und Herren, die öffentlichen Kommentare zu Ihrer Finanzpolitik sind entsprechend. Das Handelsblatt spricht von „deutscher Heuchelei“. Die Financial Times Deutschland titelt: „Bundesbank rechnet mit
Schäuble ab“ und zitiert dann die Bundesbank - vielleicht klatschen Sie jetzt wieder -:
„Mit dem Bundeshaushalt 2012 ist eine merkliche
Abkehr von den Konsolidierungsbeschlüssen vom
Juni 2010 verbunden“ …
Das kann man wohl sagen. Warum klatschen Sie jetzt eigentlich nicht? Das ist eine Beurteilung der Bundesbank.
({11})
- Bisschen nervös, oder? Es wird ja so unruhig bei Ihnen. Fühlen Sie sich ertappt, oder was ist der Grund?
({12})
Was hatten Sie der deutschen Öffentlichkeit nicht alles versprochen: 80 Milliarden Euro wollten CDU/CSU
und FDP zwischen 2011 und 2014 einsparen. Wir - anders als Sie - erinnern uns noch ganz gut an die vollmundigen Versprechungen vor einem Jahr. Was sollte da
alles passieren! Ein Jahrhundertpaket sollte es werden.
Kleiner geht es bei Ihren Selbstinszenierungen ja meistens nicht.
Schauen wir uns einmal an, was aus Ihrem Jahrhundertpaket geworden ist: 4 Milliarden Euro sollte die Abschaffung der Wehrpflicht einsparen. Aufgrund der
desaströsen Fehlleistung Ihres einstigen bayerischen Superstars fallen jetzt Mehrkosten an. 6 Milliarden Euro
sollte die Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten
der Finanzkrise bringen. Ergebnis: ersatzlos gestrichen.
Weit mehr als 10 Milliarden Euro sollte die Streichung
von Steuersubventionen und Steuervergünstigungen erbringen. Ergebnis: wieder Fehlanzeige.
Und was ist eigentlich aus der von Ihnen so lautstark
angekündigten Mehrwertsteuerreform geworden? Nur
weil es die Phrasendrescherei Ihrer Koalition so schön illustriert: Was ist mit den Milliardenbeträgen, die durch
Bürokratie- und Personalabbau eingespart werden sollten? Das Gegenteil ist passiert.
Besonders auffällig sind die Versorgungsfälle in den
FDP-Ministerien.
({13})
Sie reden vom Sparen, schaffen aber 480 neue Stellen alleine in den Bundesministerien. Beeindruckend - das
muss ich zugeben - sind die 166 neuen Stellen, die alleine im Entwicklungsministerium von Herrn Niebel geschaffen wurden - ein Ministerium, das er eigentlich
einmal ganz abschaffen wollte. Ausgerechnet eine Partei, die so gerne über den schlanken Staat und Entbürokratisierung schwadroniert, bringt noch schnell die letzten Mitarbeiter aus der FDP-Parteizentrale in einem
sicheren Job bei der Bundesregierung unter.
({14})
Das ist aus Ihren Versprechungen zum Personalabbau
geworden, meine Damen und Herren!
({15})
So kann man die Liste weiter fortsetzen. Aus Ihrem
Jahrhundertwerk, Frau Merkel, ist wohl eher eine Tagesbaustelle geworden. Wo Sie von anderen Staaten massive Einschnitte zum Abbau der Verschuldung fordern,
muten Sie sich selbst gar nichts zu - im Gegenteil: Statt
zu sparen, ziehen Sie auch noch die Spendierhosen an.
6 Milliarden Euro soll die Steuersenkung kosten, die
den Geringverdienern in Deutschland gar nichts bringt.
({16})
- Der Zwischenruf von Herrn Fricke ist wirklich klasse.
Ich kann Ihnen den nicht vorenthalten. Er sagt: Das ist
doch erst später, das ist doch nicht gleich in einem Jahr. Verstehen Sie eigentlich gar nicht, Herr Fricke, dass wir
uns mit wirtschaftlichen und konjunkturellen Risiken
auseinandersetzen müssen? Deshalb müssen wir jetzt
sparen, und zwar jeden Cent, damit wir morgen wieder
Arbeitsplätze in diesem Land sichern können. Das haben
Sie überhaupt nicht begriffen.
({17})
Ich finde es auch interessant, sich mit dem Inhalt dieser Steuersenkung auseinanderzusetzen. Der Geringverdiener - für den soll sie ja vorgenommen werden - bekommt freundlicherweise 0 Cent; der zahlt nämlich
keine Steuern. 40 Prozent der deutschen Haushalte haben nichts von dem, was Sie da planen. Der Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von 2 250 Euro
hat eine monatliche Steuerersparnis von 4 Euro.
({18})
Glauben Sie eigentlich selbst an Ihre Sprüche, dass das
den Massenkonsum und die Binnenkonjunktur in
Deutschland fördern soll?
Herr Kollege Fricke, Sie fragen: Ist das nichts? Ich
will Ihnen einmal sagen, was die Folge ist. Die Folge ist
nicht, dass der Durchschnittsverdiener 4 Euro mehr hat.
Die Folge ist, dass Sie in diesem Zusammenhang 2 Milliarden Euro von den Städten und Gemeinden bezahlen
lassen. In der Folge wird der, der von Ihnen 4 Euro im
Monat geschenkt bekommt, mit höheren Kindergartengebühren und anderen städtischen Abgaben belastet werden. Das ist das Ergebnis, das dabei herauskommen
wird.
({19})
Die Gemeinden kostet das Ganze 2 Milliarden Euro, und
deswegen müssen wir darüber reden. Denn die Kommunen sind immer diejenigen, die bei Ihrer Steuerpolitik
am Ende daran glauben müssen. Das war schon beim
Hoteliergesetz so.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf unsere gestrige Debatte zum Kampf gegen Rechtsextremismus in
Deutschland zurückkommen.
({20})
- Hören Sie einmal zu. - Denn zwischen dem Ausbluten
der Städte und Gemeinden in Deutschland und dem Erstarken des Rechtsextremismus gibt es für mich einen
ganz eindeutigen Zusammenhang: Dort, wo sich Gemeinden und Städte aufgrund ihrer Finanznot zurückziehen, dringen Neonazis ein. Wo Jugendeinrichtungen geschlossen werden, Vereine, Ehrenamt und Sport nicht
mehr ausreichend gefördert werden und Freizeit- und
Kulturangebote verschwinden, dort entstehen sozial entleerte Räume. In diese sozial entleerten Räume dringen
Rechtsradikale ein.
({21})
- Da Sie hier unruhig werden: Sie sind doch genau wie
wir der Überzeugung, dass es uns nachdenklich machen
muss und zum Handeln auffordert, wenn die NPD den
Kommunen anbietet, den Betrieb von Jugendzentren und
Kindergärten fortzuführen, wenn sie wegen der kommunalen Finanznot geschlossen werden sollen. Das sind
doch praktische Beispiele, die wir in Deutschland präsentiert bekommen. Ich sage Ihnen: Mindestens so wichtig wie ein Verbot der NPD, mindestens so wichtig wie
die sichtbare Präsenz der Polizei in den Stadtvierteln und
Gemeinden, in denen die Rechtsradikalen die Herrschaft
übernehmen wollen, ist es, die soziale und kulturelle
Verwahrlosung in unseren Städten und Gemeinden zu
bekämpfen.
({22})
So wichtig die Debatten im Bundestag auch sind: Der
Kampf um Demokratie und gegen den Rechtsextremismus wird nicht hier im Parlament entschieden, sondern
vor Ort. Die soziale und demokratische Gesellschaft be16910
ginnt in der sozialen und demokratischen Stadt und Gemeinde. Es ist deshalb ein Fehler, den Kommunen nochmals Geld zu entziehen, ob durch Steuersenkungen oder
durch Kürzungen der Programme für die soziale Stadtentwicklung.
({23})
Die 6 Milliarden Euro für die Steuersenkung als Kaufpreis für das Stillhalten der FDP bei der Euro-Achterbahn
waren noch nicht genug. Frau Bundeskanzlerin, Sie mussten auch noch die CSU bedienen. Da haben Sie dann zulasten der Verschuldung unseres Landes eine wahrlich
abenteuerliche Verabredung getroffen: 150 Euro im Monat - Milliardenbeträge - sollen Eltern jetzt bekommen,
wenn sie ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken.
Ich muss wirklich fragen: Wie verrückt oder - besser wie verantwortungslos muss man eigentlich sein, um auf
diese Idee zu kommen?
({24})
Selbst die Bild-Zeitung ist fassungslos, Frau Bundeskanzlerin. Dort steht:
Statt Milliarden für ein unsinniges Betreuungsgeld
zu verpulvern, sollte die Regierung jeden Cent in
die Kinderbetreuung investieren!
Wo die Bild-Zeitung recht hat, hat sie recht: Das wäre
ein angemessener Umgang mit dem Thema gewesen.
({25})
Es ist übrigens - ich sage das an die CSU gerichtet keineswegs so, dass Eltern, die ihre Kinder in die Kindertagesstätte bringen, Rabeneltern sind.
({26})
Viele von denen müssen das übrigens, weil ihre Löhne
so niedrig sind, dass beide arbeiten gehen müssen. Da
wäre ein echter Mindestlohn eine richtige Hilfe für die
Eltern von Kindern; auch da wäre der Mindestlohn richtig,
({27})
aber nicht so ein Papiertiger, wie Sie ihn auf Ihrem Parteitag beschlossen haben. Fast 1,5 Millionen Menschen
in Deutschland stocken ihren Lohn mit Arbeitslosengeld II auf; 320 000 von ihnen sind sogar sozialversicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigt. Stundenlöhne von
3,18 Euro, 5,33 Euro und 6,19 Euro sind eine Schande
für unser Land.
({28})
Die FDP, die hier jahrelang eine Politik zur Bekämpfung
der Tariffähigkeit der deutschen Gewerkschaften gemacht hat, wirft jetzt den Gewerkschaften vor, dass sie
das nicht durch Tariflöhne verhindern können.
({29})
Das halte ich für eine Unverschämtheit den Gewerkschaften gegenüber, wie ich sie selten gehört habe.
Das alles kostet den Staat viel Geld: Mindestens
7 Milliarden Euro geben wir für Lohnzuschüsse aus. Übrigens: Wenn sich die Sozialministerin jetzt Sorgen um
die Altersarmut macht, ist das berechtigt. Aber irgendwer muss ihr einmal erklären, dass es Altersarmut nicht
ohne Erwerbsarmut gibt.
({30})
Ich finde, das muss doch irgendwann einmal bei Ihnen
ankommen.
Das eigentliche Problem ist aber, dass Sie nicht verstanden haben, was die CDU-Arbeitnehmer wirklich
wollten. Sie wussten, dass zwei Dinge wichtig sind:
Erstens. Mindestlohn bedeutet: Einer, der Vollzeit arbeiten geht, muss hinterher nicht zum Sozialamt, um
sich den Rest zu holen, damit er die Miete bezahlen
kann; denn das ist unwürdig. Ein Mindestlohn ist nur
dann ein guter Mindestlohn, wenn er von Hartz IV und
Sozialhilfe unabhängig macht.
Zweitens. Ihre CDU-Arbeitnehmer wussten, dass es
um die Würde der Arbeit geht und es demütigend ist,
Menschen, die Vollzeit arbeiten, hinterher zum Sozialamt zu schicken. Deshalb wollten die CDU-Arbeitnehmer einen gesetzlichen Mindestlohn für alle, der von Sozialhilfe unabhängig macht. Daher ist es eine Schande,
Frau Bundeskanzlerin, dass Sie Ihren Arbeitnehmern in
den Rücken gefallen sind; denn das ist gerade nicht das
Ergebnis der Mindestlohndebatte auf Ihrem Parteitag.
({31})
Meine Damen und Herren, das kostet uns 7 Milliarden Euro, die bei der Senkung der Verschuldung oder bei
unseren Schulen besser aufgehoben wären. Wir müssen
Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wiederherstellen. Frau Bundeskanzlerin, gut 10 Milliarden Euro
haben Sie insgesamt nächtens in Ihrer Koalitionsrunde
verteilt, um das Stillhalten Ihrer Koalitionspartner zu erkaufen. Die 10 Milliarden Euro zulasten der Verschuldung sind so etwas wie eine Stillhalteprämie in Ihrer Koalition gewesen. Wo sind allerdings, Frau Kanzlerin, die
Sparvorschläge für diese 10 Milliarden Euro? Nichts zu
sehen! Stattdessen machen Sie Politik auf Pump. Das ist
genau die alte Politik, die wir nicht mehr gebrauchen
können - weder in Griechenland noch in Italien noch in
Deutschland, Frau Dr. Merkel, weder dort noch hier.
({32})
Denn wann, wenn nicht jetzt, wo die Steuerquellen sprudeln, wollen wir eigentlich Schulden abbauen? Wann,
wenn nicht im wirtschaftlichen Aufschwung, wollen wir
Vorsorge treffen für die mit Sicherheit wieder kommenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten?
Frau Bundeskanzlerin, irritiert Sie eigentlich gar
nicht, dass Sie inzwischen einhellig Ihr eigener Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen, der Bundesrechnungshof und sogar Ihr ehemaliger Kanzleramtsberater
kritisieren? Ich weiß nicht, Frau Kanzlerin, was Sie unter
einer Schuldenbremse verstehen. Wir verstehen darunter, dass man weniger neue Schulden macht - und nicht
mehr.
({33})
- Sie scheinen das eher mit dem Gaspedal zu verwechseln. Sie haben offenbar bei der Verfassungsänderung
nicht ganz aufgepasst.
({34})
- Ich kann verstehen, dass Sie das von mir nicht hören
wollen. Aber unangenehmer wird es - warten Sie ab -,
wenn Sie hören, wer noch alles Ihnen das sagt.
Dass Ihr Finanzminister den Ausgangswert der Verschuldung bewusst manipuliert und zu hoch angesetzt
hat, um Ihre viel zu geringe Absenkung der Verschuldung optisch zu verkleistern, schreibt Ihnen die Bundesbank ins Stammbuch. Dort heißt es - ich zitiere -:
Nach Artikel 143 d GG wäre eine entsprechende
Absenkung des Ausgangswertes und damit auch
des Anpassungspfades allerdings letztlich geboten.
Damit keine Missverständnisse aufkommen, was die
Bundesbank damit meint, erklärt der Bundesbankpräsident - ich zitiere -: Deutschland darf keine Zeit verlieren, seinen Haushalt auszugleichen. - Aber Sie erhöhen
die Schulden. Das kritisiert Herr Weidmann in seinem
Bericht der Bundesbank.
({35})
Manchmal, Frau Dr. Merkel, habe ich den Eindruck,
Sie halten das alles für Ratschläge an die Adresse Griechenlands, Italiens oder Portugals. Aber, ehrlich gesagt,
Herr Weidmann meint Sie ganz persönlich. Er ermahnt
Sie in diesem Bericht, keinen Verfassungsbruch zu begehen. Sie sind aber drauf und dran, genau das zu tun, nur
weil Sie Ruhe in der Koalition haben wollen und sich
eine Kriegskasse für den Wahlkampf anlegen wollen.
Denn um nichts anderes geht es hier.
({36})
Das eigentlich Besorgniserregende an dieser Kritik der
Bundesbank ist allerdings nicht einmal die kurzfristige
Wirkung Ihrer Schuldenpolitik, sondern die Bundesbank
sorgt sich um das Vertrauen der internationalen
Finanzmärkte auch in die Schuldentragfähigkeit Deutschlands. Ich zitiere noch einmal die Bundesbank:
Bei weiteren Belastungen geht das Vertrauen in die
Tragfähigkeit auch der deutschen Staatsfinanzen
verloren.
Die Bundesbank befürchtet also auf gut Deutsch: Ein
zu geringer Schuldenabbaupfad jetzt kann dazu führen,
dass bei einem wirtschaftlich schlechteren Klima die
deutschen Staatsschulden so stark steigen, dass auch unser Land in die Schwierigkeiten gerät, in die inzwischen
Frankreich gekommen ist. Sie befürchtet also, dass die
Zinsen für deutsche Staatsanleihen steigen und wir in einen ähnlichen Teufelskreis geraten könnten wie unsere
europäischen Nachbarn.
Der Spiegel bezieht sich in einem Artikel auf diesen
Bericht der Bundesbank und nennt Sie deshalb zu Recht
einen „Scheinriesen“, Frau Bundeskanzlerin. Fest steht:
Der Bundesfinanzminister kann beim Schuldendienst
enorm sparen, weil immer mehr Anleger die deutschen
Staatsanleihen suchen und das Zinsniveau deshalb sinkt.
Ganz nebenbei kassiert er auch noch Zinsen für die Kredite an Griechenland.
Wenn wir diese Krisengewinne stillschweigend kassieren, selbst keine Schulden abbauen, gleichzeitig aber
andere Länder lautstark für ihr Schuldengebaren kritisieren, obwohl deren Lage weitaus schlechter ist, gibt es
viele in Europa, die wegen dieser arroganten Haltung Ihrer Regierung, Frau Merkel, meine Damen und Herren,
zu Recht die Faust in der Tasche ballen.
({37})
Sie haben in den letzten 24 Monaten Ihre Position zur
Euro-Krise ständig gewechselt. Sehr lange wollten Sie
die Krise im europäischen Währungsraum den betroffenen Nachbarn selbst überlassen. Ich halte es für den
größten Fehler Ihrer Amtszeit, dass Sie der europäischen
Herausforderung sehr lange nur mit nationalen Antworten und nur mit dem Eigeninteresse Ihrer Regierung begegnet sind. Erst als nacheinander ein Land nach dem
anderen zum Spielball der Finanzmärkte wurde, haben
Sie gemerkt, dass Ihre nationalen Antworten nicht reichen. Nun ist die Verunsicherung so groß, dass selbst der
gigantische Rettungsschirm mit 1 Billion Euro nicht
mehr ausreicht. Im Gegenteil: Die Finanzmärkte misstrauen uns nicht nur, sie wetten sogar auf das Auseinanderbrechen der Euro-Zone.
Nichts von dem, was Sie jeweils in Ihren Regierungserklärungen zum Euro im Bundestag erklärt haben, hat
Wirkung gezeigt. Das meiste ist hinterher sowieso wieder verändert worden. Die Zinsen für die Krisenstaaten
steigen. Stattdessen erhalten die Staaten der Euro-Zone
auf den internationalen Kapitalmärkten selbst dann kein
Geld zu erträglichen Zinsen, wenn sie massive Sparprogramme auflegen. Im Kern geht es jetzt darum, dass wir
endlich die entscheidende Frage beantworten: Stehen
wir in Europa füreinander ein, und kann ein Investor in
der Euro-Zone sicher sein, dass er sein geliehenes Geld
zurückerhält, ja oder nein? Diese Frage werden wir, so
unangenehm das ist, endlich beantworten müssen.
({38})
Natürlich gehört dazu Klarheit über den Abbaupfad
hinsichtlich der Schulden in Europa, aber auch in
Deutschland, und eine gemeinsame Finanz-, Wirt16912
schafts- und Steuerpolitik. Statt dies klar zu beantworten, zwingen Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Europäische Zentralbank immer weiter dazu, Staatsanleihen
aufzukaufen. 200 Milliarden Euro beträgt inzwischen
das Risiko der Europäischen Zentralbank, für das wir gemeinschaftlich haften.
({39})
Wollten Sie, Frau Merkel, nicht genau das verhindern? Wollten Sie nicht ebenso, Frau Bundeskanzlerin,
verhindern, dass die Europäische Zentralbank zur Notenbank wird, die Staaten durch das Anwerfen der Notenpresse bedient? Wir wollten doch keine Schuldenund Transferunion in Europa zulassen. Aber genau das
passiert gerade durch die Hintertür der Europäischen
Zentralbank.
({40})
Das sind Euro-Bonds durch die Hintertür, aber ohne jeden Einfluss darauf, wie sich die Staaten hinterher benehmen. Das ist das, was Sie derzeit zu verantworten haben.
({41})
Die „Merkel-Bonds“, die die EZB ausgibt, sind superbequem für die Regierungschefin in Deutschland. Sie
kann sich nämlich öffentlich hinstellen und sagen: Ich
will das alles nicht, aber leider sind die unabhängig, deswegen dürfen die das weiterhin machen. - Vor allen Dingen hat das den Vorteil: Wenn die EZB diese Arbeit
macht, braucht sie Ihre seltsame Koalition nicht zu fragen, weil sie natürlich nicht weiß, welches Chaos entstehen würde, wenn Sie sich mit den Realitäten der Europäischen Zentralbank auseinandersetzen müssten.
({42})
Frau Bundeskanzlerin, Sie spielen mit dem Feuer. Sie
zwingen Europa in einen Zweifrontenkrieg. Sie zwingen
die Staaten, die schon in der Rezession sind, zu immer
weiteren Sparmaßnahmen, sodass sie nicht weniger, sondern höhere Schulden produzieren. Sie verhindern, dass
sie sich zu einigermaßen fairen Zinsen auf dem Kapitalmarkt refinanzieren können. Beides zusammen führt zu
einer von Ihrer Politik zu verantwortenden und organisierten Rezessionsgefahr. Sie können den Staaten und
Europa nicht beide Hände fesseln: die Zinsschraube auf
der einen Seite und die Schuldenschraube auf der anderen. Wenn beide Hände gefesselt sind, dann werden die
Leute in Europa und am Ende auch in Deutschland arbeitslos! Das ist das, was Sie gerade vorbereiten.
({43})
Sie müssen Ihre Politik ändern. Sie wollen keine
Euro-Bonds, wie sie die Wirtschaftsweisen vorschlagen.
({44})
- Passen Sie auf: Es ist doch gar nicht so schlimm, wenn
Sie gegen uns sind. Seien Sie aber wenigstens für das,
was Ihre eigenen Sachverständigen sagen.
({45})
Ihre Sachverständigen schlagen einen Schuldentilgungsfonds für Europa vor, und Ihre Kanzlerin ist nicht einmal
bereit, darüber öffentlich zu beraten. So gehen Sie mit
denen um, die Sie auf dem Weg zu einer besseren Politik
beraten sollen.
({46})
Wir brauchen deutlich mehr als diese beiden Mühlsteine der europäischen Politik. Europa braucht mehr als
ein reines Sparprogramm. Wir brauchen auch gezielte
Wachstumsprogramme in den Ländern, damit es wieder
Entwicklungsperspektiven gibt.
({47})
- Ja, genau. Und wissen Sie, wo ich es herhaben will?
Von denen, die Sie ständig schonen, genau Sie!
({48})
Ich will, dass die Finanzmärkte endlich einen Teil des
Geldes zurückgeben, das wir wegen ihnen haben versenken müssen. Und Sie - Sie schützen die Finanzmärkte
vor dieser Steuer.
({49})
Ja, wir wollen Geld ausgeben für Wachstum, wir wollen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen.
Wenn 48 Prozent der jungen Menschen in Griechenland,
40 Prozent in Spanien und fast 30 Prozent in Frankreich
arbeitslos sind, wer soll denn dann die Zukunft Europas
aufbauen? Die Leute dürfen nicht in ihrer Existenz gefährdet werden. Wir können das nicht sich selbst überlassen. Sie überlassen die Finanzmärkte lieber sich
selbst.
({50})
Ja, wir wollen sie besteuern, auch in der Euro-Zone, und
wir wollen das Geld in den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in Europa investieren. Das ist der Unterschied
zwischen uns beiden.
({51})
- Ich habe leider nicht mit, womit ich gut auf Leute wie
Sie, die mich „Westentaschenkommunist“ nennen, reaSigmar Gabriel
gieren könnte. Es ist zwar schon viel behauptet worden,
aber dass einer behauptet, ich würde in eine Westentasche passen, ist noch nicht passiert.
({52})
Wissen Sie, wenn ich das schon höre: Das nächste Mal lesen wir Ihnen einmal - wir suchen eine nette Rede heraus,
mit der das geht - Karl-Hermann Flach vor. Das war mal
Ihr Generalsekretär. Wissen Sie, was der sagt? Wir müssen endlich die Vermögenden und die Erbschaften stärker
besteuern, damit der Staat Einfluss hat und Wachstum
kreieren kann. Er, der bei Ihnen früher Generalsekretär
war, würde heute wahrscheinlich wegen Linksabweichung aus der FDP ausgeschlossen; das nehme ich stark
an.
({53})
Wenn Sie wissen wollen, warum Sie da stehen, wo Sie
heute stehen: weil solche Leute bei Ihnen heute keine
Chance mehr hätten. Das ist der Grund, warum Sie bei
2 Prozent gelandet sind.
({54})
Frau Bundeskanzlerin, natürlich müssen wir an die
Veränderung der europäischen Verträge herangehen. Das
gilt aber nicht nur für die Stabilitätskriterien, sondern
auch für eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik in
der Euro-Zone; denn sonst bleibt die Währungsunion ein
Torso. Wenn Sie auf diesem Weg auch das Thema einer
Fiskalunion mit angehen wollen, haben Sie uns an Ihrer
Seite. Wenn Sie allerdings nichts von dem tun, dann zahlen in absehbarer Zeit auch die Deutschen die Zeche für
Ihren verfehlten Kurs.
In Deutschland zeichnet sich gerade ab, dass die
Exportindustrie bereits den Preis für Ihre doppelte Rezessionsstrategie in Europa zu zahlen hat. Statt nun beherzt zu sparen und damit Risikovorsorge für eine
schwierige Wirtschaftslage zu treffen, geben Sie das
Geld aus. Wir sagen Ihnen: Lassen Sie die nutzlosen
Ausgaben! Gewerkschaften und Arbeitgeber fordern
schon jetzt, die Kurzarbeiterregelung zu verlängern. Die
ahnen doch, dass es da losgeht. Das hat ein sozialdemokratischer Arbeitsminister durchgesetzt, und Sie wollen
das jetzt auslaufen lassen. Wir werden die Kurzarbeiterregelung wieder brauchen, um Jobs in Deutschland zu
sichern. Wissen Sie, wie viel diese Regelung kostet? In
der Krise hat sie 6 Milliarden Euro gekostet. Das sind
die 6 Milliarden Euro, die Sie gerade für Ministeuersenkungen verplempern. Für die Leute wird es wichtiger
sein, ihren Job und damit ihren Lohn zu behalten, als
4 Euro Steuersenkung durch den Unfug zu bekommen,
den Sie hier verbreiten.
({55})
- Nein, ich wehre mich nicht dagegen, dass die Leute
4 Euro bekommen. Ich glaube nur, dass sie dieses Geld
gar nicht bekommen werden, weil die Gebühren bei den
Kommunen steigen. Außerdem brauchen wir das Geld,
um die Jobs zu erhalten. Die Leute sind doch nicht
dumm! Die wissen doch, dass die Wirtschaftskrise naht,
und sie wollen, dass der Staat handlungsfähig ist und
notfalls wieder eine Kurzarbeiterregelung bezahlen
kann. Das sind die Forderungen von Gewerkschaften
und Arbeitgebern - und nicht der Blödsinn, den Sie da
mit den Steuersenkungen verbreiten.
({56})
Dieser Haushalt entlarvt alle Sprechblasen, auch die
der Kanzlerin, aus den letzten zwei Jahren. Wie hieß es
noch am 31. Januar dieses Jahres, Frau Merkel, aus Ihrem Munde?
Die Regierung hat einen klaren Kompass für den
Abbau der Schulden.
Diesen Kompass sollten Sie zur Reparatur bringen. In
See stechen würde ich damit jedenfalls nicht, meine Damen und Herren.
({57})
Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin, Frau
Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Meine Rede in der heutigen
Generaldebatte will ich nicht beginnen, ohne zunächst
auf die Ereignisse einzugehen, die seit dem 4. November, seit einem scheinbar routinemäßigen Polizeieinsatz
nach einem Banküberfall in Eisenach, Schritt für Schritt
ans Licht kommen.
Die Nachrichten über das eigentliche Ausmaß der
Verbrechen sind schockierend. Wir wissen heute, dass
wir es mit einer rechtsextremistischen Gruppe aus
Zwickau zu tun haben, der eine grausame Mordserie und
schreckliche Gewaltakte zur Last gelegt werden. Wir
sind entsetzt über das Maß an Hass und Fremdenfeindlichkeit, das hier zum Ausdruck kommt. Ich denke heute
zuallererst an die Opfer: Enver Şimşek, Abdurrahim
Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kiliç, Yunus
Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet
Kubaşik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Unsere
Gedanken sind bei ihnen und bei allen weiteren Menschen, die den grausamen Gewalttaten dieser Gruppe
zum Opfer gefallen sind.
Ich sage es noch einmal für die ganze Bundesregierung: Unsere Pflicht gegenüber den Angehörigen der
Opfer ist es, alles zur Aufklärung dieser furchtbaren Taten und ihrer Hintergründe zu unternehmen. Das erlittene Leid lässt sich nicht wiedergutmachen. Aber wir
sind es den Angehörigen schuldig, sie zu unterstützen.
Ich begrüße daher ausdrücklich den Vorschlag von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, die
Opfer und ihre Familien aus dem Fonds für Opfer extremistischer Übergriffe zu entschädigen. Ich danke auch
Bundespräsident Wulff, dass er sich heute mit Angehöri16914
gen trifft und damit ein Zeichen der Zuwendung und der
Verbundenheit des ganzen deutschen Volkes setzt.
Die Tatsache, dass solch eine rechtsextremistische
Zelle existiert, schweigend solche Gräueltaten begeht
und über ein Jahrzehnt unentdeckt im Untergrund agiert,
ist ohne Beispiel. Was die Ermittler, die mit ihrer Arbeit
erst am Anfang sind, an Perversion im Denken und Handeln, an Menschenfeindlichkeit und -verachtung aus einem verfestigten rechtsextremen Milieu ans Tageslicht
bringen, beunruhigt nicht nur mich zutiefst. Es schockiert unser Land und seine Bürger, und es ist eine Gefahr für uns auch mit Blick auf andere in der Welt.
Justiz- und Sicherheitsbehörden stehen angesichts einer Vielzahl von Pannen und Versagen vor sehr grundlegenden Fragen. In der letzten Woche hat sich das Kabinett mit diesen Verbrechen befasst. Die Innen- und
Justizminister von Bund und Ländern haben mit einer
kurzfristig anberaumten Konferenz reagiert und erste
Entscheidungen getroffen. Wir prüfen alle rechtsstaatlichen Mittel, auch die schwierige Frage von Parteiverboten. In der Vergangenheit wurde bereits eine Fülle von
Vereinigungen verboten. Bei Razzien wurden immer
wieder verhetzendes, menschenfeindliches Propagandamaterial und Schusswaffen sichergestellt. Wir nehmen
die Gefahren des Rechtsextremismus sehr ernst. Aber
wir sollten uns alle den Vorwurf, auf irgendeinem Auge
blind zu sein, ersparen. Das treibt nur einen Keil in die
Gemeinsamkeit der Demokraten.
Der Kampf gegen Extremismus jeglicher Couleur und
die Stärkung der Demokratie sind Daueraufgaben für jeden von uns. Deshalb hat die Bundesregierung allein
2011 so viele Mittel für die Extremismusprävention wie
nie zuvor bereitgestellt, und wir werden das auch weiter
tun.
Diese Taten sind nicht mehr und nicht weniger als ein
Angriff auf unser demokratisches Gemeinwesen. Die gestrige Abstimmung hat eines gezeigt: dass wir entschlossen sind, unser offenes, tolerantes und menschliches
Zusammenleben gegenüber gemeinen Verbrechern und
menschenverachtenden Ideologien zu verteidigen. Das
war das Signal von gestern, ein wichtiges Signal.
({0})
Diese Debatte über den Bundeshaushalt 2012 findet
in einer Zeit statt, in der wir insgesamt vor vielen und
schwierigen Herausforderungen stehen. Die größte Aufgabe ist zweifellos die Überwindung der Krise im EuroRaum. Dabei hat sich das Parlament in den vergangenen
Monaten in mehreren Abstimmungen in großer Mehrheit
ganz klar für die Zukunft entschieden, für eine Zukunft
in einem gemeinsamen Europa. Zuletzt am 26. Oktober
war parteiübergreifende Unterstützung des Deutschen
Bundestages vorhanden, als es um die Abstimmung über
die EFSF ging. Gerade weil viele von Ihnen diese Unterstützung nicht leichten Herzens gewähren konnten, weil
riesige Summen zur Disposition stehen, gerade wegen
mancher Zweifel und Unsicherheiten angesichts dessen,
was noch vor uns liegt, möchte ich noch einmal ganz
herzlich dafür danken, dass Sie diese Rückendeckung
durch den Deutschen Bundestag gegeben haben.
Sie haben damit deutlich gemacht: Deutschlands Zukunft ist untrennbar mit der Zukunft Europas verbunden.
Deutschlands und Europas Zukunft sind untrennbar verbunden mit dem Zustand der internationalen Staatengemeinschaft und den globalen Herausforderungen, die wir
nur gemeinsam bewältigen können. Gleichzeitig ist klar:
Jedes Land muss seinen Beitrag dazu leisten. Genau das
erleben wir in diesen Tagen in Europa: gemeinschaftliches Handeln und Eigenverantwortung.
Wir sind in den vielen Monaten der Beschäftigung
mit der Schuldenkrise im Euro-Raum Schritt für Schritt,
glaube ich, sehr klar zu einer Analyse dessen gekommen, was in der Vergangenheit falsch gemacht wurde:
erstens eine übermäßige Staatsverschuldung, zweitens
eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit in einigen der
Staaten - das hat damit zu tun, dass sich die globale Entwicklung hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit gerade auch
auf anderen Kontinenten sehr beschleunigt hat - und
drittens grundlegende Mängel in der Konstruktion der
Wirtschafts- und Währungsunion. Deshalb gehören Krisenbewältigung, also Beschäftigung mit der Vergangenheit, und Vorsorge für die Zukunft unmittelbar zusammen.
Ich möchte noch einmal auf die Beschlüsse vom
26. Oktober zurückkommen. Da gab es zum einen das
Griechenland-Programm. Dazu muss man sagen: Hier
sind wir zu einer Vereinbarung über eine freiwillige Umschuldung Griechenlands gekommen. Herr Gabriel,
wenn Sie heute davon sprechen, dass es eine Verunsicherung darüber gibt, ob man für europäische Staatsanleihen noch das wiederbekommt, was man einmal investiert hat, dann muss ich sagen, dass das sehr viel mit
dieser freiwilligen Restrukturierung zu tun hat. Diese ist
notwendig, weil der IWF, die Kommission und die Europäische Zentralbank festgestellt haben, dass die Schuldentragfähigkeit Griechenlands nicht gegeben ist.
Sie haben sehr markig und oft gefordert, dass man
nun endlich einmal einen richtigen Schuldenschnitt machen soll. Ich habe immer wieder gesagt: Lasst uns diesen Schritt sehr wohl vorbereiten. Ich sage: Er ist richtig,
aber wir sehen auch die Nebenwirkungen dieses
Schnitts, ganz klar.
({1})
Denn jetzt steht die Frage im Raum - sie hätte zu jedem Zeitpunkt im Raum gestanden -: Was passiert mit
anderen Ländern? Deshalb ist es ganz wichtig, zu sagen
- dies haben wir beim Europäischen Rat am 21. Juli
2011 getan -: Griechenland ist ein Ausnahmefall. Hier
ist die Verschuldung sehr, sehr hoch, und deshalb mussten wir zu diesem Mittel greifen.
Wir haben dann einen weiteren Vertrauensverlust erlebt durch die unerwartete Ankündigung eines Referendums; verbunden gewesen damit wären im Falle eines
Neins bei einem solchen Referendum auch die Konsequenzen. Das alles hat Themen auf die Tagesordnung
gebracht, mit denen sich die internationalen Finanzmärkte, die ja keine anonymen Größen sind - es sind
zum Teil die Anleger von Lebensversicherungen und
viele andere -, befassen müssen.
Der Ausgangspunkt ist, dass Griechenland die Schuldentragfähigkeit nicht hat. Jetzt müssen wir schauen,
dass wir unsere Instrumente so weit entwickeln - das
geht leider ziemlich langsam, auch nach den Beschlüssen vom 26. Oktober -, dass wir uns dagegen wappnen
und wehren können.
Die griechische Frage ist jetzt noch nicht geklärt, weil
wir noch nicht die Voraussetzungen für die Auszahlung
der nächsten Tranche haben. Dazu ist erforderlich - ich
muss das heute hier in diesem Parlament noch einmal sagen; wir stimmen da, glaube ich, alle überein -, dass wir
nicht nur die Unterschrift des griechischen Premierministers haben, sondern auch die Unterschriften der die
Regierung in Griechenland tragenden Parteien. Ansonsten kann es keine Auszahlung der sechsten Tranche geben.
({2})
- Schauen Sie mal: Es ist doch wirklich der Ernsthaftigkeit gegenüber kleine Münze, ob das nun eine Partei ist,
die zur Europäischen Volkspartei gehört. Umso bitterer
ist es, dass derjenige nicht unterschreibt, für mich. Aber
ich wünsche Ihnen nicht, dass Sie einmal in eine Lage
kommen, wo auch von Ihnen einer etwas nicht tut, was
erwartet wird. Also wirklich!
({3})
Zweitens. Immer wieder ist gesagt worden: Wir brauchen eine Rekapitalisierung der europäischen Banken. Dazu haben wir einen Beschluss gefasst. Ich hoffe, dass
die europäische Bankenaufsicht am 30. November, wenn
der nächste Ecofin-Rat tagt, auch die präzisen Zahlen
bekannt gibt, wie die Rekapitalisierung ablaufen wird.
Denn die Tatsache, dass wir jetzt seit Wochen darüber
sprechen, aber noch keine komplette Klarheit da ist, trägt
auch nicht zur größeren Sicherheit bei. Wir haben gestern am Beispiel einer deutschen Bank gesehen, welche
Unsicherheiten dann die Banken selbst haben.
Auch da ist es so: Die internationale Staatengemeinschaft hat von uns verlangt - sicherlich mit guten Gründen -, auch die Risiken bei Staatsanleihen einem Stresstest zu unterziehen. Aber dies hat nicht nur eine positive
Wirkung - dass wir genügend Kapital für die Banken haben -, sondern es hat wiederum auch eine negative Wirkung, weil natürlich, wenn man Stresstests auch bei
Staatsanleihen macht, sofort die Diskussion aufkommt:
Was kriege ich für meine Staatsanleihen wieder? Das
heißt, wir sind durch die übermäßige Verschuldung in
eine Situation geraten, in der es den goldenen Weg, der
keine Risiken kennt, nicht mehr gibt. Deshalb müssen
wir diesen richtigen Weg immer sehr sorgsam finden.
Drittens. Wir haben hier miteinander beschlossen,
dass wir die EFSF schaffen und gleichzeitig die Möglichkeiten einer Hebelung prüfen. Auch hier müssen am
29. oder 30. November die entsprechenden Beschlüsse
bezüglich der Leitlinien endlich gefällt werden, damit
die Suche nach potenziellen Investoren dann in die richtige Runde gehen kann; denn ohne Leitlinien überzeugt
man Investoren nicht.
Jetzt wird beklagt, dass die europäische Währungsunion eine Zentralbank hat, die - das ist richtig und unterscheidet die europäische Währungsunion von der Situation von Nationalstaaten wie Großbritannien und den
Vereinigten Staaten von Amerika - die einzig und allein,
das war die Voraussetzung für diese Währungsunion, für
die Geldwertstabilität verantwortlich ist. Das ist ihr
Mandat; das übt sie aus. Ich wäre sehr vorsichtig, die
Europäische Zentralbank unentwegt zu kritisieren.
({4})
Ihre Unabhängigkeit, die wir alle so hochhalten, besteht
in jeder Richtung, ob sie etwas tut oder ob sie etwas
nicht tut. Das ist ähnlich wie beim Bundesverfassungsgericht. Es ist, glaube ich, auch ganz wichtig, dass Europa sich auf solche unabhängigen Instanzen gründet.
Deshalb darf an dem Mandat für die Europäische Zentralbank nach meiner festen Überzeugung nichts, aber
auch gar nichts geändert werden, meine Damen und Herren.
({5})
Das hat in dieser Schuldensituation aber nun zur
Folge, dass wir nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aber auch nach unseren Beschlüssen hier immer eine endliche Menge an Geld zur Verfügung haben, mit der wir Schutzwälle aufbauen können
- das liegt in der Definition der Fonds, der EFSF oder
Ähnlichem -, und damit gegenüber den Märkten natürlich ein Stück weit angreifbarer sind, als es Länder sind,
die nach ihrer Tradition eher Geld drucken können und
in denen die Zentralbanken Staatsanleihen aufkaufen
können.
Dennoch: Angesichts des politischen Konstrukts der
Europäischen Union und des Euro-Raums, in dem es
eine nationale Hoheit für die Budgets und eine gemeinsame Währung gibt, tritt jetzt der eigentliche Widerspruch oder die eigentliche Kalamität zutage, dass nämlich letztlich keine europäische Möglichkeit besteht,
durchzugreifen und einzugreifen, wenn ein Land sich an
die gemeinsamen Verabredungen des Stabilitäts- und
Wachstumspakts permanent nicht hält. Das eigentliche
Problem ist, dass wir in den zehn Jahren mindestens
60 solcher Verstöße hatten und dass in keinem der Fälle
irgendeine Wirkung entfaltet wurde, wodurch ein Land
daran gehindert worden wäre, so weiterzumachen. Des16916
halb ist Vertrauen verloren gegangen, Vertrauen der internationalen Märkte in die Handlungsfähigkeit.
Deswegen sage ich: Ich halte es für außerordentlich
bekümmerlich - sage ich mal -, unpassend, dass die
Kommission heute Euro-Bonds in verschiedener Ausprägung vorschlägt, also so tut, als könnten wir - das
wird die kommunikative Wirkung sein, selbst wenn das
vielleicht nicht so gesagt wird - durch Vergemeinschaftung der Schulden aus den Mängeln der Struktur der europäischen Währungsunion herauskommen. Genau das
wird nicht klappen.
({6})
Deshalb darf man das Pferd nicht von hinten aufzäumen, sondern man muss jetzt mit dem nächsten Schritt beginnen und sagen: Wenn wir wieder Vertrauen bekommen
wollen, dann dürfen wir freiwilligen Beteuerungen nicht
mehr glauben, sondern dann wird man verlangen, dass
vertraglich, rechtlich bindend durchgesetzt wird - dazu
brauchen wir Vertragsänderungen -, dass die Regeln des
europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts auch eingehalten werden.
({7})
Das ist der erste Schritt in Richtung einer Fiskalunion,
in Richtung eines politischen Gebäudes, das natürlich
auch Harmonisierungen in Bereichen nach sich ziehen
wird, die in nationaler Kompetenz liegen. Das genau war
der Grund, warum ich für einen Euro-Plus-Pakt eingetreten bin, einen Pakt, in dem wir über Arbeitsrecht, über
Renteneintrittsalter und über Harmonisierung von Steuersystemen sprechen, und das war der Grund, warum ich
mit dem französischen Präsidenten verabredet habe, dass
Deutschland und Frankreich zum Jahrestag des ÉlyséeVertrags im Jahre 2013 ein gemeinsames Unternehmensteuerrecht vorlegen wollen, damit wir ein gutes Beispiel
für mehr Gemeinsamkeit im Euro-Raum geben, weil es
anders auf Dauer nicht funktionieren wird.
({8})
Es hat keinen Sinn, dass man, wie es oft geschieht
- mit welchen Wortschöpfungen auch immer -, versucht, leichte Lösungen vorzugaukeln, sondern wir müssen den Vertrauensverlust Schritt für Schritt abarbeiten
und Vertrauen wieder zurückbekommen. Das muss natürlich mit einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit und
einem Wachstumspfad kombiniert werden, den wir in
der Europäischen Union einschlagen. Hier können wir
vieles zur Vervollkommnung des Binnenmarktes tun;
hier können auch wir in Deutschland noch einiges tun.
Wir können vieles tun durch bessere Ausnutzung der
Struktur- und Kohäsionsfonds, die von den Ländern, die
jetzt sparen müssen, ja noch gar nicht ausgenutzt wurden, und vor allen Dingen können wir vieles tun, indem
wir für die zukünftige finanzielle Vorausschau noch einmal überlegen, ob die Struktur der Struktur- und Kohäsionsfonds richtig ist oder ob wir das Wachstum damit
gar nicht so gefördert haben, wie wir uns das eigentlich
gewünscht haben.
({9})
Das ist es, wie wir Europa angehen müssen. Zumindest
ist das meine Überzeugung.
Die Bundesregierung wird beim Europäischen Rat am
8. und 9. Dezember 2011 genau diese Vorschläge vorbringen. Weil politisches Vertrauen verloren gegangen
ist, wird dieses Vertrauen auch nur durch politische
Maßnahmen Schritt für Schritt wiedergewonnen werden
können. Das ist unsere Überzeugung.
({10})
Natürlich schaut die Welt jetzt auf Europa, weil alle
wissen, dass wir in der globalen Verflechtung alle gemeinsam für das Wirtschaftswachstum verantwortlich
sind. Das wurde auch durch das G-20-Treffen in Cannes
ausgedrückt. In den nächsten Jahren wird sich - ich
glaube, die Gruppe der G 20 auf der Ebene der Staatsund Regierungschefs hat sich bewährt - im weltweiten
Gefüge vieles verschieben. Man sieht das zum Beispiel
schon am internationalen Währungssystem. Wir werden
Schritt für Schritt zu einem multipolaren Währungssystem kommen, indem zum Beispiel auch China eine größere Rolle in dem Maße spielt, wie China bereit ist, einen Wechselkurs zuzulassen, der den Fundamentaldaten
der eigenen Wirtschaft entspricht. Aber diese Tendenz
ist erkennbar. Die Arbeiten am gemeinsamen Weltwährungssystem sind unter der französischen Präsidentschaft deutlich vorangekommen.
Wir brauchen vor allen Dingen weiterhin - dafür sind
alle europäischen Teilnehmer in Cannes sehr stark eingetreten - eine Regulierung der Finanzmärke, die die
Dinge endlich wieder geraderückt, nämlich dass die Finanzwirtschaft im Dienste der Realwirtschaft und der
Menschen zu stehen hat und nicht umgekehrt. Da sind
wir noch nicht angelangt; das sage ich ausdrücklich.
({11})
Das wird auch nicht von alleine passieren, sondern
dazu muss der gemeinsame Wille der Regierungen da
sein. Deshalb ist es nicht erfreulich, dass wir auch in diesem Jahr kein globales Einvernehmen darüber erreicht
haben, dass eine Finanztransaktionsteuer die richtige
Antwort und, wenn man es global machte, die beste Antwort wäre. Deshalb werden wir jetzt ganz intensiv den
Vorschlag der Kommission für die Erhebung einer Finanztransaktionsteuer im europäischen Raum weiter diskutieren. Da sich in Europa schon vieles geändert hat,
werde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Wir sind alle einer Meinung, dass eine Finanztransaktionsteuer ein richtiges Zeichen wäre, um zu zeigen: Wir haben verstanden, dass die Finanzmärkte ihren Teil zur Gesundung der
Volkswirtschaften beitragen müssen.
({12})
Wir haben in Cannes einen wichtigen Erfolg errungen
- wir haben bei der Finanzmarktregulierung schon einiBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
ges geschafft -, nämlich dass jetzt klar ist, dass die
29 systemischen, weltweit agierenden Bankinstitute, die
bisher als „too big to fail“ galten, also zu groß, um pleitezugehen, in Zukunft Auflagen bekommen, damit das
nicht mehr durch die Gemeinschaft, durch die Bürgerinnen und Bürger gezahlt werden muss. Das ist ein wichtiger Schritt. Aber mindestens so wichtig wie dieser
Schritt ist, dass wir ähnliche Regulierungen auch für die
Schattenbanken bekommen. Deshalb war es gut, dass
das Financial Stability Board den Auftrag bekommen
hat, uns bis zum nächsten G-20-Treffen hierfür Vorschläge zu machen.
Angesichts der Finanzkrisen ist ein Thema leider etwas in den Hintergrund geraten, das ich hier aber auch erwähnen möchte, weil die CO2-Emissionen in diesem Jahr
weltweit so hoch waren wie nie zuvor. Demnächst wird
die Konferenz zum Klimaschutz in Durban stattfinden.
Wir befinden uns in einer ausgesprochen schwierigen und
unerfreulichen Situation; ich will das klar beim Namen
nennen. Das Kioto-Protokoll läuft aus. Wir sind nicht so
weit - das wird in Durban leider nicht passieren -, dass
eine Anschlussregelung für das Kioto-Protokoll gefunden wird.
Das heißt nichts anderes - das bringt für Europa natürlich schwierige Situationen mit sich -, als dass gerade
die großen Emittenten der Zukunft, teilweise auch schon
der Gegenwart, wie China, Indien, Brasilien usw., im
Augenblick noch nicht bereit sind, bindende internationale Abkommen zur Reduktion oder aber zur Begleitung
ihrer CO2-Emissionen einzugehen. Das bedeutet, dass
wir leider eine Welt bekommen werden, in der zwar die
Bedeutung der neuen Wirtschaftskräfte, der aufstrebenden Ökonomien wirtschaftlich größer wird, aber dies
nicht mit einer entsprechenden Beteiligung auch an den
Fragen der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes einhergeht.
Europa wird hier einen sehr klaren Kurs fahren. Unsere Reduktionsziele stehen fest. Diese werden wir nicht
ändern. Wir werden sie auch weiterhin international bindend halten. Aber wenn wir uns anschauen, dass der
europäische Anteil an der Weltproduktion tendenziell
abnehmen wird, dann ist schon heute sicher: Das
2-Grad-Ziel im Klimaschutz kann man nicht erreichen,
wenn nicht die aufstrebenden Ökonomien bereit sind,
bindende Verpflichtungen einzugehen.
Deshalb geht es jetzt in Durban vor allen Dingen darum, den ärmsten und gefährdetsten Ländern weiterzuhelfen. Wir müssen auf dem Weg, den wir in Kopenhagen gefunden haben, dem sogenannten Copenhagen
Accord, mit freiwilligen Verpflichtungen weitergehen.
Aus diesen Verpflichtungen wird aber klar, dass dann,
wenn ihnen nichts hinzugefügt wird, das 2-Grad-Ziel bis
zum Jahre 2050 nicht erreicht werden kann.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns die internationale Situation ansehen, dann sind neben dem Klimaschutz und der Bewältigung der Finanzkrise auch im sicherheitspolitischen Bereich intensive Entwicklungen zu
beobachten. Das ist auf der einen Seite der sogenannte
arabische Frühling mit Höhen und auch mit Enttäuschungen. Ich will ausdrücklich sagen, dass die Wahl zur
parlamentarischen Versammlung in Tunesien ein ausgesprochen erfreuliches Ereignis war. Wir beobachten mit
Bangen die Entwicklung in Ägypten. Wir sehen mit
Schrecken die Entwicklung in Syrien. Ich will ganz eindeutig sagen, dass die gesamte Bundesregierung mit
aller Kraft daran arbeitet, dass wir endlich eine UNSicherheitsratsresolution gegen die Menschenrechtsverletzungen in Syrien bekommen.
({13})
Es ist nicht mehr verständlich, dass das, was dort passiert, nicht endlich auch in Form einer UN-Sicherheitsratsresolution geahndet wird.
Der Bundesaußenminister wird Gastgeber einer Konferenz über die Zukunft Afghanistans sein.
({14})
Diese Afghanistan-Konferenz in Bonn wird vor allen
Dingen den politischen Prozess hin zu einem friedlichen
und stabilen Afghanistan im Fokus haben. Hier sind von
der deutschen Seite sehr große Anstrengungen erbracht
worden. Wir werden dafür auch international sehr geachtet. Ich glaube, es ist wichtig, noch einmal in Erinnerung
zu rufen: Wir sind in Afghanistan wegen Afghanistan,
aber auch wegen unserer eigenen Sicherheit. Deshalb
bleibt es in unserem Interesse, auch nach 2014 Afghanistan zur Seite zu stehen, um nicht wieder einen Staat zu
haben, der nicht stabil ist und von dem internationaler
Terrorismus ausgehen kann.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass unsere
Soldatinnen und Soldaten nicht nur in Afghanistan, aber
vor allem auch dort ihren Dienst tun. Deshalb möchte
ich auch in dieser Debatte noch einmal daran erinnern,
dass wir 2011 bereits sieben Gefallene haben und seit
Beginn der Mission 52 Soldaten zu Tode gekommen
sind, davon 34 durch Feindeinwirkung. Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, unseren Soldatinnen und Soldaten
für ihren Dienst in unserem Interesse ein herzliches Dankeschön zu sagen.
({15})
Ich bin sehr froh, dass sich heute schon abzeichnet, dass
wir, wenn wir im Dezember und Januar die nächste Verlängerung des Afghanistan-Mandats diskutieren, die
Zahl unserer Soldaten verringern können: von heute maximal 5 350 auf 4 900 mit weiteren Reduzierungen bis
zum Ende des Mandatszeitraums. Ich bedanke mich bei
allen, die sich mit dem Gedanken tragen, dies zu unterstützen. Je breiter dieses Mandat vom Hohen Haus getragen wird, desto besser ist es für die Soldatinnen und Soldaten.
Wir haben als eine der großen Reformen dieser Legislaturperiode die Bundeswehrreform zu nennen. Wir wissen, dass wir natürlich mittelfristig Einsparungen haben.
Aber ich will ausdrücklich sagen - ich danke auch allen
in den Wahlkreisen und Ländern, die dies bei der Um16918
strukturierung eingesehen haben -, dass es keine Umstrukturierung ohne Veränderung gibt. Ich will dem Bundesverteidigungsminister dafür danken, dass er dies
durch gute Vorbereitung und Einbindung so gestaltet hat,
dass sich die Schmerzen, die damit verbunden sind, in
Grenzen halten und die Einsicht in die Reform überwiegt.
({16})
Natürlich müssen wir auch in Deutschland unseren
Beitrag für die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents
und unseres Landes leisten. Dabei stehen zwei Fragen
im Vordergrund. Die eine heißt: Wovon wollen wir in
Deutschland in Zukunft leben? Wir sind ein Land, in
dem sich die Bevölkerungszusammensetzung verändert.
Wir werden mehr Ältere haben und weniger Jüngere.
Wir werden eine vielfältigere Bevölkerung haben, weil
der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund zunimmt, und wir werden weniger werden. Darauf müssen
wir uns in allen Facetten vorbereiten.
Wenn wir uns fragen, wovon wir leben wollen, dann
ist sicherlich eine der großen und hier im Hause parteiübergreifend entschiedenen Veränderungen die unserer
Energiepolitik gewesen. Wir haben verstanden, dass wir
in den nächsten Jahren diesen Wandel hin zum Zeitalter
der erneuerbaren Energien gestalten müssen. Das geht
nicht mit Nein, sondern nur mit Ja. Deshalb hat die Bundesregierung einen Monitoringprozess in Gang gesetzt.
Wir werden jährlich dem Parlament berichten. Die Arbeit ist noch nicht getan. Der Bundeswirtschaftsminister
und der Bundesumweltminister werden gemeinsam diesen Prozess mit aller Intensität voranbringen. Wir werden auch Konflikten nicht aus dem Wege gehen, die damit verbunden sind, dass neue Infrastruktur gebaut
werden muss. Ohne die wird das Zeitalter der erneuerbaren Energien nicht zu erreichen sein.
({17})
Ich glaube, es ist auch gut, dass wir in der Endlagerfrage ein neues Herangehen vereinbart haben. Hier wird
es in Gesprächen mit den Ländern bis zum Sommer konkrete Ergebnisse geben. Ich sage ganz ausdrücklich: Der
Umstieg auf die erneuerbaren Energien ist eine Generationenaufgabe. Das wird in einer Legislaturperiode
selbstverständlich nicht zu machen sein.
Ein Zweites im Zusammenhang mit der Frage, wovon
wir leben wollen: Wir müssen die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass wir in vielen Bereichen heute von der
Substanz leben. Deshalb ist es ein ganz wichtiger
Schwerpunkt in diesem Haushalt, dass wir mehr in die
Verkehrsinfrastruktur investieren. Nur so werden wir als
ein Land im Zentrum Europas überhaupt wettbewerbsfähig sein. Das ruft bei den Grünen nur ein schmales Lächeln hervor, weil man darauf nicht so viel Wert legt,
({18})
angefangen von den Autobahnen bis hin zu den Bahnhöfen.
({19})
Aber wir sind davon überzeugt, dass wir ohne moderne
Infrastruktur kein Land mit Wohlstand sein können. Deshalb ist die Verkehrsinfrastruktur ein wesentlicher Bestandteil der Frage, wovon wir morgen leben wollen.
({20})
Wir sind uns vielleicht mehr einig darüber, dass unsere Zukunftschancen, auch angesichts der demografischen Veränderungen, vor allen Dingen in dem Erfolg
bei Innovation, in der Kreativität der Menschen in unserem Lande und in der produktiven Unruhe, weiter nach
der besten Lösung zu suchen, liegen. Die Bundesregierung ist genau auf dem richtigen Pfad, wenn sie in dieser
Legislaturperiode 6 Milliarden Euro mehr für Forschung
und 6 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgibt. Das
gab es bisher in der Geschichte der Bundesrepublik noch
nie. Die Ausgaben dafür sind höher denn je. Das sind
Zukunftsinvestitionen, die wir dringend brauchen.
({21})
Wir wissen, dass wir angesichts der demografischen
Veränderungen darauf achten müssen, dass Kinder mit
Migrationshintergrund einen guten Schulabschluss haben, die deutsche Sprache vernünftig lernen und in die
Arbeitswelt integriert werden. Wir wissen, dass wir unter 3 Millionen Arbeitslose haben - eine so niedrige Zahl
hat es seit der deutschen Einheit nie gegeben -,
({22})
dass wir mit über 41 Millionen Menschen im Übrigen
mehr Erwerbstätige haben, als wir jemals hatten, und
dass die Zahl der versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse deutlich zugenommen hat. Aber wir
wissen auch, dass wir noch viel zu tun haben. Die Ausgaben im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit sinken an
einigen Stellen, aber durch die Erhöhung der Hartz-IVSätze sinken sie in der Summe nicht so, wie wir uns das
vorstellen. Deshalb liegt der Fokus auf der Bekämpfung
der Langzeitarbeitslosigkeit und in ganz besonderer
Weise auf der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit derer,
die jung sind und noch ein langes Leben vor sich haben.
Diese müssen in Arbeit gebracht werden. Dabei haben
wir Erfolge vorzuweisen.
({23})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie so schreien. Ich erinnere
mich an die Schröder-Zeit und daran, wie Sie in Sachen
Arbeitslosigkeit dastanden. Wir haben die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen halbiert. Das hätten Sie einmal
schaffen sollen. Das waren sieben verschwendete Jahre
in diesem Bereich.
({24})
Wir bieten Chancen für junge Menschen. Deshalb
werden wir da weitermachen. Gleichzeitig wissen wir,
dass wir auch einen Fachkräftebedarf haben und um die
besten Köpfe auch von außen werben müssen. Deshalb
haben wir zwei Dinge gemacht: Erst einmal haben wir
die Berufsabschlüsse derjenigen anerkannt, die aus einem anderen Land kommen und dort ihren BerufsabBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
schluss erworben haben. Auch dazu hätten Sie sieben
Jahre Zeit gehabt, wenn Ihnen das so am Herzen gelegen
hätte. Sie haben das nicht gemacht. Die Bundesbildungsministerin hat es jetzt in mühevoller Kleinarbeit gemacht. Wir haben auch die Länder dafür gewonnen, dem
zuzustimmen. Jetzt muss es nur noch umgesetzt werden.
Das ist ein Riesenerfolg, weil Menschen in Zukunft endlich wieder entsprechend ihrer Qualifikation arbeiten
können. Das sind wir diesen Menschen schuldig.
({25})
Gleichzeitig werden wir die Blue-Card-Richtlinie umsetzen und die Gehaltsschwelle für diejenigen, die nach
drei Jahren durch eine Überprüfung, ob sie auch wirklich
Arbeit haben, eine Niederlassungserlaubnis bekommen,
von 66 000 Euro auf in Zukunft 48 000 Euro absenken.
Auch das ist eine Reaktion auf die Erfordernisse.
Wir werden auch intensiv an dem Thema Integration
weiterarbeiten. Ende Januar wird der nächste Integrationsgipfel stattfinden. Wir werden von der Situation
wegkommen, nur Einzelfälle zu betrachten, und künftig
ganz klare Zielvorgaben machen, was wir bei der Integration erreichen wollen. Auch das ist eine Weiterentwicklung.
Wir wissen: Vorbereitung auf den demografischen
Wandel heißt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode mit der Rente
mit 67 darauf reagiert. Wir tun das jetzt mit einer Erweiterung der Pflegeleistungen. Zum ersten Mal werden wir
sowohl für die Betroffenen von Demenzerkrankungen
als auch für die pflegenden Angehörigen und die Beschäftigten in den Pflegeheimen die Leistungen deutlich
erweitern. Zwar kann man immer sagen, das sei zu wenig. Aber es ist erst einmal das richtige Signal, um Menschen und ihren Angehörigen zu helfen, die heute von
der Pflegeversicherung nicht erfasst werden.
({26})
Wir werden einen Einstieg in die private Vorsorge
vornehmen. Die Arbeiten zum neuen Pflegebegriff werden in dieser Legislaturperiode abgeschlossen werden.
({27})
- Herr Kuhn, man kann so tun, als ob dies einfach wäre.
Das ist es aber nicht. Ich habe mich sehr intensiv damit
beschäftigt. Man kann nicht einfach einen neuen Pflegebegriff einführen, in dessen Folge es anschließend vielen
besser geht, viele aber auch schlechter dastehen als
heute. Das wollen wir nicht. Wir machen das gründlich,
damit wir für die Pflegenden nicht eine einzigartige Enttäuschung produzieren.
({28})
Mit der Familienpflegezeit haben wir ein wichtiges Signal zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesetzt.
Ich möchte noch ein Wort zur Wahlfreiheit und zum
Betreuungsgeld sagen. Als wir damals das Elterngeld
eingeführt haben, hat jeder das schwedische Vorbild in
den höchsten Tönen gelobt und gesagt, dass man von
den skandinavischen Ländern fürchterlich viel lernen
könne und dass die das prima machten. Die machen das
im Übrigen auch prima, was die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie angeht. Aber schauen Sie sich bitte einmal
die Regelungen an: Dort gibt es das Elterngeld und das
Betreuungsgeld. Das gibt es in Schweden, in Finnland
und in Norwegen. Wollen Sie uns etwa erzählen, dass
das die Länder sind, in denen man Familienpolitik so
macht, wie Sie es nicht wollen? Man sorgt für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für Wahlfreiheit.
Akzeptieren Sie das doch einmal! Machen Sie keine Rosinenpickerei - Elterngeld ja, aber ansonsten ist es das
Letzte, was wir machen. Das, was Sie tun, ist nicht fair.
({29})
Man kann sagen - daran kommt niemand vorbei -,
dass sich die Situation in Deutschland in den letzten Jahren verbessert hat, obwohl wir noch viele große Aufgaben vor uns haben und obwohl wir bereits viele Schritte
in Richtung einer nachhaltigen Politik gegangen sind
und die Nachhaltigkeitslücken noch längst nicht an allen
Stellen geschlossen haben.
({30})
Nach vielen Einschränkungen in der Wirtschafts- und
Finanzkrise ist es erfreulich - Sie werden nicht bestreiten, dass das erfreulich ist -, dass die Realeinkommen in
Deutschland in diesem Jahr gestiegen sind und auch im
nächsten Jahr steigen werden.
Jetzt kommen wir zu einem ganz spannenden Punkt:
({31})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, dass
die Regelsätze für das Arbeitslosengeld II jedes Jahr anzupassen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
schon vor vielen Jahren aufgegeben, dass angesichts der
Lebenshaltungskosten nicht nur die Regelsätze für Langzeitarbeitslose anzupassen sind, sondern genauso der
Grundfreibetrag im Steuersystem.
({32})
Wenn Sie den Menschen in Deutschland ernsthaft sagen
möchten: „Wir tun etwas für die, die leider keine Arbeit
haben, aber für die, deren Verdienst im Eingangssteuerbereich liegt, tun wir nichts“, dann können wir das gerne
in der Öffentlichkeit austragen. Ich sage Ihnen unter dem
Motto „Wer arbeitet, muss mehr haben als dann, wenn er
nicht arbeitet“: Wir werden dafür Mehrheiten bekommen. Dass man den Grundfreibetrag angleichen muss, ist
überhaupt keine Frage.
({33})
Wenn der Hartz-IV-Satz um 10 Euro steigt und die Steuerentlastung nur 4 Euro beträgt, dann werden Sie eher
Mühe haben, das zu erklären. Ich würde an Ihrer Stelle
nicht zu laut davon sprechen, sondern sagen: 4 Euro sind
das Mindeste, was man machen muss.
Wenn Sie sich den Verlauf der Steuerprogression im
Eingangssteuerbereich anschauen - den kennen Sie genauso gut wie wir -,
({34})
und den Menschen sagen wollen: „Wir heben den
Grundfreibetrag an; das müssen wir machen, weil uns
das Bundesverfassungsgericht das abverlangt“, Sie aber
nicht bereit sind, Verschiebungen vorzunehmen, sodass
die Progression nicht mehr steigt, dann diskutiere ich mit
Ihnen darüber wieder gerne in der Öffentlichkeit.
({35})
Das sind die Belastungen, die auf die Kommunen und
die Länder zukommen. Weil wir uns freuen, dass die
Bruttolöhne im Jahr 2011 im Durchschnitt um 3,4 Prozent steigen, aber auch wissen, dass wir eine Inflationsrate von 2,3 Prozent haben, wollen wir in Zukunft das,
was durch die Inflation verloren geht, durch eine weitere
Verschiebung des Steuertarifs kompensieren. Weil wir
wissen, dass die Kommunen und die Länder den daraus
resultierenden Steuerausfall wahrscheinlich nicht ausgleichen können, sagen wir: Der Bund übernimmt das
ganz. - Das ist das, was wir für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in der Republik tun, die in der Krise
viel geleistet haben. Ich finde das nicht nur vernünftig,
sondern auch absolut gerecht. Steuergerechtigkeit, darum geht es.
({36})
Meine Damen und Herren, nun möchte ich auf das
eingehen, was Sie zu den Verschuldungsraten und den
Ausgabepositionen gesagt haben. Die Steigerung im
Bundeshaushalt lag in der Vergangenheit bei 1 Prozent.
({37})
Das wurde zu Ihren Zeiten so gut wie nie erreicht, um es
ganz vorsichtig zu sagen.
({38})
Wenn wir uns aufgrund der Tatsache, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr stärker ist, als wir prognostiziert haben, dafür entscheiden, das zusätzliche Geld
nicht in letzter Minute auszugeben, um die Verschuldung
zu verringern, und sagen: „Wir haben eine geringere
Verschuldung, weil wir ein höheres Wachstum haben,
und nächstes Jahr eventuell eine höhere Neuverschuldung, weil das Wachstum dann wieder geringer ist“,
dann ist das ehrlich. Dann finde ich das richtig, und dann
ist Ihre Argumentation wohlfeil.
({39})
Wenn es um Europa und Deutschland geht, ist Ihre Argumentation an Doppelzüngigkeit nicht zu überbieten.
Wenn Sie über Griechenland, Portugal, Spanien und andere Länder sprechen, dann sagen Sie jedes Mal mit Tränen in den Augen, wie schlimm es ist, dass dort kein
Wachstum mehr stattfinden kann, weil man dort die Verschuldung abbauen muss, und was es für eine üble Politik
Deutschlands ist, darauf zu beharren, dass die Stabilitätskriterien wieder eingehalten werden. Wenn gleichzeitig
wir die Stabilitätskriterien einhalten und uns ganz
Europa bittet - weil wir das können -, wenigstens dann
einen Beitrag zum Wachstum zu leisten, dann werfen Sie
uns das vor. Das passt nicht zusammen, meine Damen
und Herren. Das werden wir auch immer wieder sagen.
({40})
Jeder in Europa sagt: Ihr habt glücklicherweise noch
Wachstum, könnt einen Beitrag leisten und unsere Produkte kaufen. - Denn inzwischen ist unser Wachstum
nicht mehr exportgetrieben.
({41})
- Ich habe die Eigenschaft, überall gleich zu sprechen,
ob ich mit Ihnen rede, mit meinen politischen Freunden,
mit der Bundesbank oder mit meinen europäischen Kollegen. Das macht mein Leben so einfach, weil ich überall gleich spreche und nicht doppelzüngig spreche. Das
ist mein Vorteil.
({42})
Unser Wachstum ist inzwischen binnenmarktgetrieben; das ist gut, und das ist richtig. Wir tun im Rahmen
dessen, was wir können, das, was dazu notwendig ist.
Wir müssen die Fragen beantworten: Wovon wollen
wir morgen leben? Wie wollen wir morgen zusammenleben? Die Bundesregierung geht da Schritt für Schritt
voran. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird weiter
so sein, auch im nächsten Jahr, dass wir vor riesigen
Herausforderungen in einer Welt stehen, die sich massiv
ändert. Es gibt Herausforderungen, mit denen sich noch
künftige Generationen beschäftigen werden. Aber wir
können sagen: Unser Land hat gute Ausgangsbedingungen. Die christlich-liberale Koalition stellt sich mit Entschlossenheit genau dieser Aufgabe. Ich sage Ihnen: Unser Ziel ist eine menschliche Gesellschaft und eine
erfolgreiche Gesellschaft - das ist die Botschaft an die
Menschen in unserem Land -, und dafür werden wir
weiter arbeiten.
Herzlichen Dank.
({43})
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich möchte als Erstes aus
aktuellem Anlass auf Ihre Aussagen zum Rechtsterrorismus in unserem Land eingehen. Sie haben hier richtigerweise die Gemeinsamkeit der Demokraten angesprochen. Das freut mich. Es ist uns gestern gelungen, hier
eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden.
Allerdings, Frau Merkel, muss sich diese Haltung in
Ihrer Partei noch herumsprechen.
({0})
Vor einigen Wochen ist in Sachsen aber mit Zustimmung
Ihrer Fraktion und mit Zustimmung der NPD die Immunität des Fraktionsvorsitzenden der Linken aufgehoben
worden, weil er sich gegen die braune Brut in Deutschland zur Wehr gesetzt hat, auch mit seiner Anwesenheit
bei Demonstrationen. Das ist alles andere als die von Ihnen angesprochene Gemeinsamkeit der Demokraten.
({1})
Was wir jetzt brauchen, Frau Merkel und liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, der CSU und der FDP,
ist, dass wir die Menschen in unserem Land deutlich
stärken, die sich auch außerhalb der Parlamente gegen
Neofaschismus wehren - oft begibt man sich in Gefahr,
wenn man das tut -, und dass wir ein Signal geben, dass
das gesamte Parlament, alle Parteien, alle Fraktionen,
alle Abgeordneten in Deutschland, die Demokraten sind,
diese Menschen in unserem Land unterstützen.
({2})
Solange wir da unterscheiden und solange wir da eine
Politik machen, wie sie Ihre Regierung betreibt, indem
Sie die Menschen, die Unterstützung bräuchten, unter
Generalverdacht stellen, wenn es um die Frage geht, ob
sie Geld und Unterstützung des Staates bekommen,
wenn sie sich bei Projekten oder Ähnlichem engagieren,
so lange ist es mit der Solidarität und mit der Zusammenarbeit aller Demokraten noch nicht weit her. Deshalb sage ich: Ändern Sie an dieser Stelle Ihre Politik!
Sorgen Sie dafür, dass wir den Geist der Entschließung,
die wir gestern hier verabschiedet haben, tatsächlich umsetzen und dass wir alle gemeinsam in diese Richtung
gehen! Nur dann hat das Sinn; sonst lassen wir die Menschen alleine, die sich gegen Neofaschismus wehren.
({3})
Einen zweiten Punkt muss ich ansprechen, weil ich
Ihnen das so nicht durchgehen lassen kann, Frau Merkel:
die Steuersenkungen. Ja, wir sind mit Ihnen der Auffassung - auch wenn Sie das nicht sonderlich zu interessieren scheint -, dass es notwendig ist, Steuergerechtigkeit
in unserem Lande wiederherzustellen. Ein Punkt dabei
ist, dass wir mit Blick auf die Steuerprogression durch
den sogenannten Mittelstandsbauch im Steuertarif eine
vernünftige Regelung finden müssen. Wir sind auch der
Auffassung, dass es notwendig ist, den Spitzensteuersatz
neu zu regeln. Aber wir unterscheiden uns hier deutlich
von Ihnen, weil wir meinen, dass man, wenn man solche
Vorschläge in der jetzigen Haushaltslage der Bundesrepublik Deutschland einbringt, auch erklären muss, wo
man das Geld dafür hernehmen will. Diese Erklärung
bleiben Sie schuldig. Sie machen Geschenke, ohne sie
gegenzufinanzieren. Wenn wir solche Vorschläge machen würden, wäre was los in diesem Haus. Aber Sie
glauben, Sie könnten sich das leisten. Das ist nicht akzeptabel.
({4})
Frau Merkel, Sie haben wenig darüber gesprochen,
wie es den Menschen in unserem Lande wirklich geht.
Wie geht es zum Beispiel den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in diesem Land? Sie haben gesagt, künftig würden die Reallöhne steigen. Zum zweiten Mal in
der Geschichte der Republik mussten trotz eines Aufschwungs, den Sie - insbesondere die Kolleginnen und
Kollegen von der FDP - so gerne loben, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit 2008 einen Reallohnverlust von 1,5 Prozent hinnehmen. Sie haben nach diesem Aufschwung weniger in der Tasche als vorher. Das
ist Ausdruck des Zustands unseres Landes. Wir haben
insbesondere Einkommensverluste im Niedriglohnsektor
zu verzeichnen. Jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte in unserem Lande arbeitet für weniger als 1 800 Euro brutto.
Jeder dritte Arbeitnehmer verdient so wenig, dass er im
Alter mit einer Rente unterhalb der Grundsicherung
rechnen muss. Seit 2005 hat Deutschland rund 60 Milliarden Euro ausgegeben, um die Einkommen wegen der
Dumpinglöhne wenigstens auf Sozialhilfeniveau aufzustocken, weil es keinen allgemein verbindlichen Mindestlohn gibt. Frau Merkel, mit dem, was Sie auf Ihrem
Parteitag abgezogen haben, als Sie so getan haben, als
würden Sie einen Mindestlohn einführen, führen Sie die
Leute hinter die Fichte. In Wirklichkeit verweigern Sie
die Einführung eines allgemein verbindlichen Mindestlohns in Deutschland - vor und nach Ihrem Parteitag.
Das ist die Wahrheit, und das werden wir den Menschen
auch sagen.
({5})
Michael Sommer, der Vorsitzende des DGB, hat recht,
wenn er sagt, Arbeit in diesem Land sei inzwischen so
billig wie Dreck geworden, und diese Regierung trägt
die Verantwortung dafür.
Kommen wir zu den Rentnerinnen und Rentnern. Sie
tun so, als würde sich die Lage der Rentnerinnen und
Rentner verbessern, weil sie im nächsten Jahr eine saftige Rentenerhöhung bekommen. Die Realität ist: Die
Rentenerhöhung 2012 wird nur knapp die erwartete Inflation ausgleichen. Das heißt, die Lage der Rentnerinnen und Rentner wird sich nicht verbessern. Die Bestandsrenten sind seit Ende 2008 real um 1 Prozent
gesunken, seit der Jahrtausendwende nach Auskunft der
Bundesregierung um 7 Prozent. Das heißt, die Lage der
Rentnerinnen und Rentner in unserem Land verschlechtert sich ebenso wie die Lage der abhängig Beschäftigten.
Jetzt können wir uns noch darüber unterhalten, ob
vielleicht die Arbeitslosen besonders von dem Aufschwung profitieren; denn Sie brüsten sich ja damit, dass
wir zusätzliche Beschäftigung in unserem Land haben.
Ja, die haben wir, und darüber freuen wir uns auch. Wir
freuen uns aber nicht darüber, welcher Art diese zusätzliche Beschäftigung ist. Jede dritte offene Stelle, die bei
den Arbeitsagenturen gemeldet ist, ist inzwischen nur
noch ein Leiharbeitsjob. In Deutschland haben wir einen
Aufschwung bei der prekären Beschäftigung zu verzeichnen: Minijobs, Leiharbeit, befristete Jobs, Teilzeitarbeit. Das ist die Realität der Menschen in unserem
Land. Jeder zweite Arbeitnehmer unter 24 Jahren hat nur
noch einen befristeten Arbeitsvertrag. Über solche Zustände am Arbeitsmarkt kann man sich offensichtlich
nur freuen, wenn man ein Parteibuch der CDU oder der
FDP hat. Die Menschen freuen sich darüber nicht; sie
wollen vernünftige Arbeitsplätze und gute Arbeit. Dies
verhindern Sie mit Ihrer Deregulierungspolitik am Arbeitsmarkt.
({6})
Außerdem möchte ich mit Blick auf das Leistungsniveau
darauf hinweisen, dass natürlich auch die Erhöhung des
Arbeitslosengeldes II die Inflation der letzten Jahre nicht
ausgleicht und damit auch die Arbeitslosengeld-II-Bezieher weniger haben als vorher.
Wo, bitte schön, ist dann Ihr Aufschwung, Frau Merkel? Wo, bitte schön, geht es allen Menschen besser?
Das versprechen Sie doch so gerne.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Lohnquote eingehen, also den Anteil der Löhne und Gehälter
am Volkseinkommen. Die Lohnquote hat sich von 2000
bis 2010 von 72 auf 66 Prozent verringert. Das bedeutet:
Hätten wir noch die alte Verteilungsrelation, hätten im
Jahr 2010 die Arbeitnehmer in der Summe 112 Milliarden Euro mehr gehabt. Sie haben mit Ihrer Politik des
Lohndumpings dazu beigetragen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer massive Einbußen bei ihrem
Lohneinkommen hinnehmen mussten.
Frau Merkel, Sie haben einen großen Teil Ihrer Rede
der Finanzkrise gewidmet. Das möchte ich auch machen.
Diese Haushaltsdebatte steht unter dem Eindruck der
schwersten Finanzkrise, die Europa seit dem Ende des
Krieges erlebt hat. Was offensichtlich zu Ihnen noch
nicht durchgedrungen ist - das sagen Ihnen auch alle anderen -, ist die Tatsache, dass wir offensichtlich am
Rande einer neuen schweren Rezession stehen.
Wer sich anschaut, wie diese Regierung in der Krise
agiert, der muss unweigerlich den Eindruck bekommen,
dass die Regierung weder vernünftige Analysen noch
eine vernünftige Strategie hat. Frau Bundeskanzlerin, es
stimmt ja möglicherweise, dass Sie immer dasselbe sagen. Aber das bezieht sich immer nur auf einen bestimmten Zeitraum. Denn jedes halbe Jahr erzählen Sie
hier im Bundestag das Gegenteil von dem, was Sie ein
halbes Jahr zuvor gesagt haben.
({7})
Das gilt insbesondere bei der Bewältigung der Finanzkrise.
In der letzten Legislaturperiode haben Sie noch jede
Regulierung der Finanzmärkte abgelehnt. Inzwischen
fordern Sie selbst eine Regulierung der Finanzmärkte.
Anfang 2010 haben Sie noch jede Hilfe für Griechenland
abgelehnt. Inzwischen haben wir ein Vielfaches unseres
Steueraufkommens dafür verpfändet.
Heute sperren Sie sich als einzige Regierung gegen
Euro-Bonds und eine Direktfinanzierung der Euro-Staaten durch die EZB. Ich prophezeie Ihnen, Frau Merkel:
Diese Position werden Sie kein halbes Jahr mehr durchhalten. Wenn Sie sie jedoch durchhielten, würden Sie
den Bestand der gemeinsamen europäischen Währung
gefährden.
Hätten Sie die Forderungen der Linken schon früher
aufgegriffen, dann wären wir nicht in der jetzigen Situation.
({8})
Jetzt wäre bei Ihnen endlich einmal etwas Einsicht nötig.
Sie müssen erkennen, dass die Maßnahmen, die Ihre Regierung den anderen Staaten, insbesondere Griechenland, aufoktroyiert, gescheitert sind, und damit auch Ihre
Politik.
Sie wollten mit Ihrer Politik - auch mit Ihrer Auflagenpolitik - die Schulden Griechenlands verringern. Das
hat im Ergebnis dazu geführt, dass die Schulden Griechenlands - neuester Stand von gestern - einen Rekordstand von 360 Milliarden Euro erreicht haben; das sind
165,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Frau Merkel,
die Politik, die Sie Europa verordnen, ist gescheitert. Der
Schuldenstand steigt, und das wissen Sie selbst ganz genau.
({9})
Im Kern ist diese Krise eine Krise der entfesselten Finanzmärkte. Wo liegen die Ursachen für diese Problematik? Um sich das klarzumachen, muss man einen Blick
auf das werfen, was zwischen 2000 und 2010 in
Deutschland passiert ist. Die Reallöhne sind um 4,5 Prozent nach OECD-Erkenntnissen gesunken. Deutschland
war damit das einzige Industrieland mit sinkenden Löhnen.
Gleichzeitig hat Deutschland im selben Zeitraum
1,5 Billionen Euro an Auslandsüberschüssen aufgebaut.
Mit anderen Worten: Die deutsche Wirtschaft hat für
1,5 Billionen Euro mehr exportiert als importiert. Fazit:
Ja, die Deutschen sind Exportweltmeister. Darüber können wir uns freuen.
Leider aber sind wir Exportweltmeister, weil wir auch
Weltmeister im Lohndumping sind. Das ist eine der Ursachen für die Verwerfungen in Europa. Der Zusammenhang ist sehr einfach: Die deutsche Wirtschaft hat sich
mit sinkenden Löhnen Wettbewerbsvorteile auf Kosten
der europäischen Nachbarn verschafft.
An dieser Stelle möchte ich Herrn Trittin zitieren.
({10})
- Bei seiner Rede haben Sie damals auch genölt. - Er
hat recht. Er hat nämlich gesagt: Die Defizite der einen
sind die Überschüsse der anderen.
Wer wissen will, was das im Einzelnen bedeutet, der
sollte einmal nach Griechenland fahren. Ich habe das in
der letzten Woche gemacht. Dort konnte ich erleben,
dass man im griechischen Supermarkt inzwischen
Milch, Joghurt und Wurst aus Deutschland einkaufen
kann. Wir haben die Situation, dass Deutschland seine
Lebensmittelexporte nach Griechenland seit 2000 fast
verdoppelt hat. Es ist unglaublich.
Ob Sie es hören wollen oder nicht, meine Damen und
Herren: Diese Krise hat ihren Ausgangspunkt auch in
Deutschland. Sie wird auch das Gesicht dieses Landes
verändern. Das deutsche Entwicklungsmodell - Wachstum auf Kosten der eigenen Arbeitnehmer und der benachbarten Volkswirtschaften - ist an sein Ende gekommen. Vor diesem Ende stehen wir jetzt.
({11})
Das haben alle in Europa begriffen, aber Ihre Regierung nicht. Nichts spricht mehr Bände als das, was die
Vertreter dieser Regierung selbst zu diesem Thema zum
Besten geben. Ich zitiere hier stellvertretend den Wirtschaftsminister, Herrn Rösler. Er sagte in der letzten Woche der Süddeutschen Zeitung - ich habe es fast nicht geglaubt -:
Ich bin bei Wirtschaftsministertreffen immer der
einzige, der Exportüberschüsse gut findet.
({12})
Da kann ich nur sagen: sehr schlau. Er merkt gar nicht,
dass wir mit den Exportüberschüssen, die wir in Deutschland produzieren, die Probleme der anderen verursachen.
Man denkt bei solchen Aussagen unwillkürlich an den
Geisterfahrer auf der Autobahn, der im Radio hört: Ihnen
kommt ein Fahrzeug entgegen. Der Geisterfahrer sagt:
Was heißt denn hier „ein Fahrzeug“? Hunderte! - Genau
so ist die Situation in der Bundesregierung.
({13})
Die zweite Ursache für die Probleme, die wir an den
Finanzmärkten zu konstatieren haben, liegt im Verhältnis der Staaten und ihrer Finanzierung. Wie ist der Zusammenhang? 2008 und 2009 mussten alle Staaten mit
viel Geld das Bankensystem retten. Allein in Deutschland stieg der Schuldenstand um 265 Milliarden Euro,
wohlgemerkt ohne Rettungsschirm. Die Staaten retteten
die Banken mit Geld, aber sie hatten das Geld nicht. Die
Staaten borgten sich das Geld bei den Banken, die sie
vorher gerettet haben. Jetzt sind wir in der Situation,
dass sich die Banken das Geld zu 1,25 Prozent Zinsen
bei der Europäischen Zentralbank leihen und es zu Wucherzinsen - in Portugal aktuell 20 Prozent für kurzfristige Laufzeiten - an die Staaten zurückleihen. Wie bescheuert sind wir eigentlich, dass wir uns das antun?
({14})
Was für ein absurdes System! Wir lassen uns mit Wucherzinsen über den Tisch ziehen.
Die Strategie bei der Krisenbekämpfung scheitert jeden Tag aufs Neue. Sie wollen erzwingen, dass die Griechen, die Portugiesen, die Spanier, die Franzosen - ja, irgendwann auch die Deutschen - die Wucherzinsen der
Banken zahlen, und zwar nicht die Millionäre oder die
Unternehmen oder die Gutverdiener, sondern die einfachen Leute: die Arbeitnehmer mit ihren Löhnen, die
Rentner mit ihren Renten, die Arbeitslosen mit dem Arbeitslosengeld, die Kranken mit Einschnitten im Gesundheitssystem, die Kinder mit dem vernachlässigten
öffentlichen Bildungssystem.
Die Folgen dieser Politik sind sehr dramatisch. Wer in
diesen Tagen Athen besucht, der erlebt eine Stadt im Fieber: Die Rentner müssen mit gekürzten Renten die durch
Steuererhöhungen drastisch gestiegenen Preise für Güter
des täglichen Bedarfs bezahlen. Die nominalen Renten
im öffentlichen Sektor sanken bis jetzt um 10 Prozent.
Die Arbeitslosen werden in Angst und Schrecken versetzt, weil sie nach einem Jahr Arbeitslosigkeit sogar
ihre Krankenversicherung verlieren. Kleine Selbstständige werden in den Ruin getrieben. Man sieht leere Läden und keine Leute mehr in den Lokalen. Hunderttausenden droht die Abschaltung des Stroms, weil sie die
neue Sondersteuer nicht zahlen können. Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich auf 43,5 Prozent erhöht. 200 000
kleine Gewerbebetriebe sind pleite. Frau Merkel, wenn
Sie sich einmal mit der wirklichen Lage in Griechenland
vertraut machen würden, dann würden Sie nicht die
Frage stellen, ob die griechischen Senioren zu früh in
Rente gehen, sondern würden fragen, ob die griechischen Eltern in diesem Winter noch ihre Kinder ernähren
können; das ist die Frage, die sich den Griechinnen und
Griechen stellt.
({15})
Sie haben von einem Vertrauensverlust in Europa gesprochen. Ja, Frau Merkel, das stimmt: Die Bürgerinnen
und Bürger vertrauen Europa nicht mehr, weil sie Europa als Bedrohung empfinden: als Bedrohung für die
Einkommen, die Renten und die Sozialstandards. Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie diese Politik sein. Wenn
wir Europa und den Euro wieder auf die Füße stellen
wollen, dann müssen wir über Konjunkturmaßnahmen
reden, die dazu führen, dass die Menschen in Europa Arbeit kriegen, und nicht darüber, wie wir den Sozialstaat
zerschlagen.
({16})
Letztendlich merken wir, dass es um zwei Dinge geht.
Zum einen geht es um die Frage der Zerschlagung der
Sozialsysteme. Diese Politik wird aber gegen den Willen
der Bevölkerung durchgesetzt. Frau Merkel, ich frage
mich schon, welches Demokratieverständnis Sie haben,
wenn Sie und andere Regierungschefs in Europa offensichtlich aufs Heftigste protestieren, wenn in Griechenland die Frage einer Volksabstimmung ins Spiel gebracht
wird, bei der die Menschen selbst darüber entscheiden
sollen, ob sie sich die Sozialleistungen kürzen. Wäre es
nicht sinnvoll, zu sagen: Demokratie heißt auch, dass die
Macht vom Volk ausgeht? Das bedeutet auch, dass das
Volk selbst entscheiden darf, in welche Zukunft es gehen
will.
({17})
Genau das wird verhindert.
Welches Demokratiemodell steht uns in Europa bevor, wenn in Griechenland und Italien - das geschieht inzwischen auf Druck der Europäischen Union - Regierungschefs regieren, die nie kandidiert haben? Sie haben
sich nie einer Wahl der Bürgerinnen und Bürger gestellt.
Welches Demokratiemodell steht uns bevor, wenn man
in diesen Ländern inzwischen offensichtlich die Regierungsgeschäfte den Bankern überlässt und selbst nicht
mehr fragt, ob der eine oder andere auch die politische
Qualifikation für das Amt hat, das er ausüben soll? Das,
was wir hier erleben, ist eine Kapitulation der Demokratie vor den Banken, und Sie befürworten diese, Frau
Merkel.
({18})
Mit dieser Politik sind wir dabei, das Demokratieund Sozialstaatsmodell in Europa zu zerstören. Ihre Haltung dazu, Frau Merkel, ist deutlich geworden. Sie haben Anfang September gesagt, man müsse vor allen Dingen dem Wunsch der Märkte nachkommen, den
Europarettungsschirm marktkonform auszugestalten.
Wer bestimmt eigentlich die Richtlinien der Politik?
Manchmal habe ich den Eindruck, dass Sie bei diesen
Fragen Ihre Redezeit vielleicht direkt Herrn Ackermann
übertragen sollten. Dann wüssten wir wenigstens, wo genau wir dran sind.
({19})
Ihr Leitbild und das Ihrer Regierung ist eine Demokratie, die sich im Zweifelsfall dem Willen der Märkte
unterordnet. Ihre Doktrin heißt nichts anderes, als die Interessen der Banker vor die Interessen der Bürger zu
stellen. Sie haben mit Ihrer Politik der Erpressung das
europäische Projekt entleert und die EU zum Inkassobüro der privaten Banken gemacht. Diese Politik wird
sich rächen.
Wir schlagen drei Punkte vor, um die Dinge wieder in
die richtige Richtung zu lenken. Erstens. Wir wollen
eine Entkopplung der Staatsfinanzierung von den Finanzmärkten. Den Unsinn, den ich vorhin dargestellt
habe, wollen wir beenden. Dazu schlagen wir vor, dass
wir eine Bank für öffentliche Anleihen gründen, die sich
direkt bei der EZB verschuldet und dann das Geld, das
sie von der EZB bekommen hat, zu tragbaren Zinsen unter vernünftigen Auflagen an andere Staaten weiterverleiht. Eine vernünftige Auflage wäre für Griechenland
eben nicht das Senken des Sozialniveaus, sondern für
Griechenland wäre es vernünftig, den Rüstungshaushalt
herunterzufahren und die großen Vermögen zu besteuern. Das wäre ein anderer Weg, den die Griechen gehen
könnten.
({20})
Zweitens. Wir schlagen vor, das Bankensystem künftig öffentlich-rechtlich zu organisieren. Es gibt gegenwärtig nur die Alternative: Entweder übernimmt der
Staat die Banken, oder die Banken übernehmen den
Staat. So weit sind wir. Die Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland gehört nicht dem „Modell Deutsche
Bank“, sondern sie gehört eher dem „Modell Sparkasse“.
Drittens. Wir schlagen einen neuen europäischen Stabilitätspakt vor. Ein Staat kann seine Wettbewerbsfähigkeit steigern, ein gemeinsames Europa muss aber nach
anderen Regeln funktionieren. Wir müssen letztendlich
dafür sorgen, dass es in ganz Europa - so wie es das Stabilitätsgesetz in Deutschland vorschreibt - ausgeglichene Handelsbilanzen gibt.
Sie haben eine gemeinsame Steuerpolitik und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik angesprochen. Dem müsste
eine gemeinsame Lohnpolitik folgen. Es kommt vor allen Dingen darauf an, dass wir uns in Deutschland auf
gemeinsame Mindeststandards verständigen. Wir brauchen Mindestlöhne, Mindeststeuern und Mindeststandards für die soziale Absicherung. Weiter brauchen wir
eine Vereinbarung, dass Europa nicht ein Europa der
Wirtschaft und der Banken, sondern ein Europa der Bürger wird.
({21})
Wenn wir das nicht schaffen, dann wird dieses Europa
- und zuerst der Euro - auseinanderbröseln.
Ich möchte zum Schluss einen Vorschlag machen, der
sehr einfach umzusetzen wäre. Wir wissen, dass die griechischen Millionäre ihr Geld ins Ausland - offensichtlich auch in die Bundesrepublik Deutschland - tragen.
Ich schlage vor, dass wir alle Konten von Griechen, auf
denen sich über 1 Million Euro befinden, erst einmal
einfrieren und mit der griechischen Regierung klären, ob
dieses Geld durch Steuerhinterziehung angehäuft werden konnte. Wenn dem so ist, dann führen wir das Geld
der griechischen Staatskasse zu. Das reduziert das griechische Defizit.
({22})
Ein Politikwechsel ist dringend notwendig, sowohl in
Deutschland als auch in Europa. Er ist vor allen Dingen
deshalb notwendig, weil Sie mit Ihrer Politik den Sozialstaat in Europa zerstören und die Demokratie abbauen.
Das führt nicht zu Wohlstand, sondern zu einer Entwicklung nach rechts in ganz Europa. Das wollen wir verhindern.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
({23})
Für die FDP-Fraktion erhält nun Rainer Brüderle das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Rednerkarussell bei der SPD ist schon putzig. Die Kollegen
Steinmeier, Gabriel und Steinbrück wechseln sich bei
den Kerndebatten ab und halten hier ihre Bewerbungsreden.
({0})
Vorpreschen tut keiner. Wenn Schröder, Scharping und
Lafontaine früher das Trio Infernale waren, dann sind
heute Steinmeier, Gabriel und Steinbrück das Trio Immobile. Sie machen so etwas wie ein Kanzlerkandidatenmikado.
({1})
Wer sich von ihnen als Erster bewegt, der hat verloren.
({2})
Herr Gabriel, zwischen Soll und Ist und Soll und Haben besteht ein Unterschied.
({3})
Im Haushalt 2011 betrug die Ermächtigung zur Kreditaufnahme 48,4 Milliarden Euro. Das sind 22 Milliarden
Euro mehr; denn für 2012 sind rund 26 Milliarden Euro
neue Schulden vorgesehen. Das Ist wird niedriger sein.
Sie haben in Ihren Reihen immer ein Problem: zwischen
Soll und Haben,
({4})
zwischen Soll und Ist und zwischen Mein und Dein. Das
ist Ihr historisches Problem.
({5})
Herr Gabriel, Sie sagen, die Regierung muss sparen,
und verweisen auf Griechenland. Das ist Ihr Job, dafür
gibt es auch die Elefantenrunde, aber glaubwürdig ist es
nicht. Die SPD-Fraktion hat in diesem Haushalt zusätzliche Ausgaben in Höhe von 5 Milliarden Euro vorgeschlagen. Das ist Ihre Realität. Einsparvorschläge? Fehlanzeige! Sie machen nichts!
({6})
Es gibt Steuererhöhungsvorschläge im halben Dutzend und mehr. Von Entschuldung sprechen, aber eigentlich die Schleusen öffnen wollen - so geht das nicht. Wir
sind hier nicht bei „Wünsch Dir was“, hier ist „So isses“!
({7})
Statt der Regierung eine Nase zu drehen, sollten Sie
sich lieber an die eigene Nase fassen. Als Finanzminister
wollte Herr Steinbrück für das Jahr 2012 fast 60 Milliarden Euro Schulden machen. Wir kommen mit weniger
als der Hälfte aus.
({8})
Zur Einhaltung der Schuldenbremse liegen wir rund
15 Milliarden unter der maximalen Nettokreditaufnahme. Die christlich-liberale Koalition hält Deutschland auf einem Wachstumspfad, und die Konsolidierung
wird durchgeführt.
({9})
Bei der Wirtschaftsentwicklung verbreitet die Opposition graue Novemberstimmung, aber Sie überzeichnen,
Sie malen schwarz.
({10})
Mit der Realität in Deutschland hat das wenig zu tun.
Gesamteuropa mag am Rande einer Rezession stehen,
Deutschland nicht. Die deutsche Wirtschaftskraft stabilisiert Europa. Wir wachsen in diesem Jahr noch einmal
- das ist außergewöhnlich - um 3 Prozent. Das ist eine
bemerkenswerte Größe. Nächstes Jahr kommt es eher zu
einer Normalisierung und zu einer Abschwächung, dann
haben wir nur noch 1 Prozent Wachstum. Der Arbeitsmarkt ist mehr als robust. Wir bekommen seit Monaten
Zahlen, die Lichtjahre von den Ergebnissen von GrünRot entfernt sind.
({11})
Der Arbeitsmarkt ist robust. Es gab noch nie 41 Millionen Beschäftigte in Deutschland. Das hat diese Regierung erreicht. Deutschland ist die Bezugsgröße, der sichere Hafen für die europäische Entwicklung.
Unsere stabilitätspolitischen Vorstellungen sind richtig. Das belegt die Entwicklung in Deutschland. Das ist
ein Kraftakt. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich der
Regierung Merkel/Rösler dafür, dass wir unsere Partner
hinsichtlich dieser Entwicklung bei der Stange halten.
Andere in Europa wollen die Schuldenkrise mit der
Notenpresse lösen. Sie besitzen neuerdings Kreativität:
Zuerst wollten sie eine Banklizenz für die EFSF. Das hat
Deutschland zu Recht verhindert. Dann ging es um den
Griff nach dem Gold der Deutschen Bundesbank. Das
haben wir auch zu Recht verhindert. Andere wollen die
EZB nach dem Vorbild der Fed umgestalten. Auch das
werden wir verhindern. Stabilitätsorientierte Politik für
Deutschland sollte nationaler Konsens sein; das sollte
auch auf Ihrer Agenda stehen.
({12})
Herr Steinmeier hat diese Linie im Plenum vertreten.
Er hat uns sogar kritisiert. Er hat gesagt, mit der EFSF
würde es zu langsam gehen. Das würde die Notenbank
unter Druck bringen. Jetzt kommt Steinmeiers früherer
Chef, Herr Schröder, aus seiner Ecke hervor und fordert,
die Notenpresse anzuwerfen, Geld zu drucken. Das ist
immerhin konsequent. Schröder hat den Stabilitätspakt
ruiniert und die Griechen in die Euro-Zone gelassen.
Jetzt den Euro komplett fertigzumachen, zeugt von einer
gewissen Logik, von einer gewissen Konsequenz; es ist
aber falsch.
({13})
Was Steinmeier sagt, juckt Steinbrück nicht. Ich zitiere Steinbrück:
Allerdings zeigen die Fed der USA und die Bank of
England, dass in Krisenzeiten genau dies
- gemeint ist die Staatsfinanzierung mit der Notenpresse die Rolle von Notenbanken ist.
Zitat Ende. Das erklärt Herr Steinbrück wörtlich in seinen Anmerkungen zur Verschuldungs- und Bankenkrise.
({14})
In deutsche Sprache übersetzt heißt das: Steinbrück will
wie Frankreich und andere die große Geldkanone ansetzen, das Geld drucken und nicht die Statik in Europa in
Ordnung bringen. Das ist der falsche Weg.
({15})
Deswegen ist die Lage bei Ihnen völlig konfus.
({16})
Das widerspricht der deutschen Stabilitätstradition.
Wir alle haben den Menschen in Deutschland versprochen, der Euro werde genauso stabil sein, wie die
D-Mark es war. Deshalb müssen wir für diese Stabilitätskultur kämpfen und die Ängste der Menschen in
Deutschland ernst nehmen. Im Gencode der Deutschen
ist die Angst vor der Hyperinflation eingeprägt, während
die Amerikaner Angst vor der Deflation haben. Das erklärt die unterschiedlichen Verhaltensweisen diesseits
und jenseits des Atlantiks. Ich glaube, Steinbrück sollte
lieber weiter Schach spielen, aber dieses Mal die Figuren
richtig aufstellen. Das würde ihn vielleicht weiterbringen.
({17})
Herr Gabriel fordert jetzt wieder Euro-Bonds. Das ist
Politik nach Schlagzeile. Ihr haushaltspolitischer Sprecher, Carsten Schneider, hat heute Morgen im Morgenmagazin genau das als nicht machbar und falsch erkannt.
Vielleicht hören Sie das einmal nach. Er gilt als Fachmann. Vielleicht hilft Ihnen das weiter. Als Ihre Basis
damals rebellierte, haben Sie die Pläne für die EuroBonds wieder in die Schublade gelegt. Als das Verfassungsgericht klare Grenzen gezogen hat, waren Sie sehr
leise. Die SPD-Fraktion hat in ihrem Entschließungsantrag einen großen Bogen um Euro-Bonds gemacht.
Euro-Bonds sind der falsche Weg. Sie setzen den Zinsmechanismus außer Kraft. Das ist Einheitszins! Das ist
Zinssozialismus! Sozialismus ist immer falsch, auch bei
den Zinsen!
({18})
Herr Steinbrück hat bislang einen Schuldenschnitt für
Griechenland gefordert. Jetzt sagt er, man hätte für die
Anleihen Griechenlands von Anfang an Garantien aussprechen sollen. Ständig neue Äußerungen.
({19})
- Ich kann das alles belegen. - Hätte, könnte, sollte - die
SPD im Konjunktiv; mit klarer Politik hat das nichts zu
tun.
({20})
Bilden Sie sich doch einmal eine Meinung. Sagen Sie
sie, auch wenn sie falsch ist; aber haben Sie wenigstens
eine Meinung!
({21})
Als es bezüglich Griechenland hier zum Schwur kam,
Herr Gabriel, haben Sie die Biege gemacht. Ich habe
Ihre Rede von Mai 2010 dabei: nirgends klare Positionen. Eine Enthaltung zu organisieren, ist kein Konzept,
das ist ein politisches Armutszeugnis. Auch das hat mit
kraftvoller Politik nichts zu tun. Ich empfehle ein bisschen Zurückhaltung. Beim Euro-Thema haben Sie wirklich keine klare Linie.
Das Zeitalter der Staatsverschuldung führt zu Pumpkapitalismus an den Finanzmärkten. Wir haben dort
Schneeballeffekte. Das müssen wir verändern, korrigieren; denn das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu
tun. Das steht auf der Agenda einer bürgerlichen Regierung: wieder zu Maß und Mitte zurückkehren, die Relation zwischen Risiko und Haftung wiederherstellen und
wieder nach Adam Riese rechnen. Das ist unsere Politik,
sie ist nachhaltig. Wir flüchten nicht in Schulden. Das ist
bürgerliche Gemeinschaftsleistung. Deshalb werden wir
diesen erfolgreichen Kurs kraftvoll gemeinsam fortsetzen.
({22})
Wir brauchen eine Risikobremse am Kapitalmarkt, andere Eigenkapitalunterlegungen, Transparenz bei Schattenbanken. Hier ist vieles aus dem Ruder gelaufen. Herr
Gabriel, Rot-Grün hat mit Hegdefondsderivaten den Drachen der Finanzmärkte gemästet.
({23})
Wenn nun Sigmar als Siegfried auftreten will, dann ist
das eine Komikrolle. Erst den Drachen zu züchten und
sich dann als Gegner aufspielen zu wollen - das ist unredlich, unglaubwürdig. Das sind Theaternummern, aber
das ist keine reale Politik.
({24})
Mich hat dieser Tage anderes unruhig gemacht: Der
russische Präsident will eine eurasische Union. Der amerikanische Präsident wendet sich verstärkt dem Pazifik
zu.
({25})
Das sollte uns aufhorchen lassen. Aus der Hinwendung
zu Asien darf keine Abwendung von Europa werden.
Europa muss sich neu aufstellen. Wir müssen Strukturen
und Handlungsfähigkeit schaffen. Das gilt übrigens
nicht nur für den Euro. Es führt uns vor Augen: Europa
hat vieles anzupacken. Wir brauchen auch eine stärkere
Integration der Außen- und Sicherheitspolitik und eine
gemeinsame Sicherheitsarchitektur, wenn Europa in der
Welt noch eine Rolle spielen will. Die Koalition hat zwei
wichtige strategische Entscheidungen getroffen: Wir ebnen den Weg zu einer Freiwilligenarmee und beginnen
mit dem Abzug unserer Truppen aus Afghanistan.
({26})
Der internationale Einsatz erfordert ein Maß an Flexibilität und Professionalität, das man nur mit einer Freiwilligenarmee leisten kann. Deshalb war der Schritt konsequent. Dank an den Verteidigungsminister de Maizière,
der ein vernünftiges Konzept, das auch umsetzbar ist,
auf den Weg gebracht hat.
({27})
Wir werden ihn dabei unterstützen.
In Afghanistan ist der Scheitelpunkt des deutschen militärischen Engagements überschritten. Das neue ISAFMandat wird eine Reduktion des Truppeneinsatzes vornehmen. Die Bonner Afghanistan-Konferenz im Dezember wird eine langfristige politische und wirtschaftliche
Partnerschaft der Staatengemeinschaft mit Afghanistan
auf den Weg bringen. Außenminister Guido Westerwelle
hat dabei unsere volle Unterstützung.
({28})
Wenn wir die erreichten Fortschritte dauerhaft sichern,
können wir bis 2014 die Sicherheitsverantwortung weitestgehend oder vollständig in afghanische Hände legen.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein verlässlicher Partner. Deutschland hat Exporterfolge, wird
von der Welt bewundert, manchmal aber auch kritisiert.
Die Opposition fordert immer, wir müssen von unseren hohen Exportüberschüssen herunterkommen. Ich
gehe davon aus, Sie wollen Deutschland nicht schlechter
machen, obwohl ich manchmal daran Zweifel habe. Im
Kern geht es, wenn Deutschland besser werden soll, um
eine höhere Binnennachfrage. Schauen wir doch einmal,
was die Opposition für eine höhere Binnennachfrage im
Angebot hat. Sie wollen die Steuern erhöhen. Das erhöht
keine Binnennachfrage. Die Linkspartei macht gerade
ein Familienunternehmen Oskar/Sahra & Co. GmbH,
neues menschliches Antlitz des Sozialismus.
({29})
- Sie sollten bei dem Thema ruhig sein. Dazu haben Sie
wirklich nichts beizutragen.
Bei der SPD sind es 32 Milliarden Euro mehr Steuern,
bei den Grünen ebenfalls. Sie unterscheiden sich in ihren
Steuervorstellungen nur hinter dem Komma, obwohl
man bei der Reaktion auf die Reden eine gewisse Eiszeit
feststellt. Es gab bei der Rede von Gabriel nur wenig,
fast keinen Beifall von den Grünen.
Darüber hinaus wollen Sie Euro-Bonds mit höheren
Zinsen für Deutschland. Das schwächt die Binnennachfrage. Auch das ist kein Beitrag hierfür.
Sie wollen höhere Einnahmen im Bereich der Sozialversicherung. Auch das schwächt die Binnennachfrage.
Wir machen es anders: Wir entlasten die Menschen.
In der vergangenen Woche haben wir einen ersten
Schritt im Bereich der Rentenbeiträge gemacht. Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden um 2,5 Milliarden Euro
entlastet. Gleichzeitig steigen die Renten. Das ist gut für
die Binnennachfrage. Im Gegensatz zu Zeiten der Vorgängerregierung steigen bei uns die Nettolöhne. Im
Jahre 2013 werden weitere Schritte zur Entlastung, beispielsweise bei den Rentenbeiträgen, folgen.
Nun geht es darum, etwas für die kleinen und mittleren Einkommen zu tun. Ich nenne die Stichwörter „Existenzminimum“ und „kalte Progression“. Die kalte Progression ist eine verdeckte Steuererhöhung. Weil die
Nominalwerte steigen, kassiert der Staat mehr ab. Das ist
eine Steuererhöhung. Das kann doch nicht im Interesse
gerade der Vertreter der Bezieher kleiner Einkommen
bei uns im Lande sein. Der Staat darf sich doch nicht
über die Inflation bereichern.
Ich möchte Herrn Steinmeier ganz persönlich ansprechen. Herr Steinmeier - Sie sind anwesend, nur weiter
hinten im Saal -, vor zehn Jahren haben wir gemeinsam
eine Steuerreform auf den Weg gebracht. Ich habe das
damals über Rheinland-Pfalz mit möglich gemacht. Das
fanden nicht alle in der FDP schön, aber ich habe es gemacht, weil ich überzeugt war, dass es richtig für unser
Land war. Ich erwarte von der SPD und von Ihnen ganz
persönlich: Verhindern Sie bei der Entlastung, Abmilderung der kalten Progression und dem Existenzminimum,
eine Blockade Ihres Parteivorsitzenden. Das würde Ihre
Kernwählerschaft elementar treffen. Sie müssen hier die
Interessen der Menschen über parteitaktische Spielchen
stellen, so wie ich es gemacht habe. Ich spreche Sie persönlich an.
({30})
Die Binnennachfrage wird durch die Tarifpolitik gestärkt. Ich habe als Wirtschaftsminister gesagt, dass ich
für faire Lohnerhöhungen bin. Ich wiederhole dies. Die
Arbeitnehmer haben sich ihren Anteil am Aufschwung
hart erarbeitet und werden diesen auch bekommen. Die
Tarifrunden werden widerspiegeln, dass wir die Binnennachfrage stärken. Der Staat investiert auch noch zusätzlich. Wir haben eine Mobilitätsmilliarde in diesem Haushalt auf den Weg gebracht, weil es richtig ist, Straßen,
Brücken und weitere Infrastruktur auszubauen. Wir tun
das ganz offensiv. Mit den Grünen gelingt es ja nicht
einmal, 3,5 Kilometer Flüsterbeton in Berlin auf den
Weg zu bringen.
({31})
Teilen der SPD ist das peinlich. Sie merken, die Grünen
meinen es ernst mit der Deindustrialisierung. Alles, was
Krach macht, riecht und dampft, wollen die Grünen
plattmachen, es sei denn, es ist eine Biogasanlage; diese
bleibt natürlich bestehen.
({32})
Herr Trittin will Finanzminister werden. Er hat sich
geäußert, die Staatsquote sei eine bloße Recheneinheit.
({33})
Da kann man nur sagen, dass da zwei Welten aufeinandertreffen: Trittin und die Volkswirtschaft. Die passen
überhaupt nicht zusammen.
({34})
Herr Trittin, Wirtschaft ist immer rechnen. Aber hier
geht es um etwas anderes. Sie wollen eine höhere Staatsquote. Es ist ein Unterschied, ob wir eine Staatsquote
von 60, 50, 40 oder 35 Prozent haben. Das kann man
dort, wo Sie regieren, sehen. In Stuttgart gibt es ein weiteres Ministerium mit 180 neuen Stellen, in Mainz zwei
weitere Ministerien. Der grüne Ministerpräsident
Kretschmann fliegt als einziger mit dem Hubschrauber
zur Ministerpräsidentenkonferenz nach Lübeck, die
Dienstkarosse fährt 800 Kilometer hinterher. So sieht es
konkret aus. Sie haben als Opposition die Froschperspektive und als Regierung die Vogelperspektive. Vogel und
Frosch, das passt aber nicht zusammen.
({35})
Sie nennen Bill Clinton als Vorbild für die Haushaltssanierung. Das ist sehr interessant; denn Clinton hat den
Haushalt mit Wachstum saniert. Sie aber sind gegen
Wachstum. Ich kann mich erinnern, als die Grünen in die
Parlamente einzogen, hatten manche die Aufkleber
„computerfreie Zone“. Ich sage Ihnen: Wer Fortschrittsfeindlichkeit sät, wird Piraten ernten. Das trifft Sie voll
ins Mark. Fortschrittsfeindlichkeit führt nicht zu weiteren Wachstumschancen, aber diese brauchen wir, um in
Deutschland voranzukommen. Wir sind stolz auf unsere
erfolgreiche Wirtschaft, auf den Mittelstand und die Industrie, im Maschinenbau und in der chemischen Industrie, im Fahrzeugbau und in anderen Bereichen.
Wir mobilisieren die Potenziale im Land mit Investitionen in Bildung und Forschung. Hier werden die Ausgaben auf fast 13 Milliarden Euro angehoben. Wir ermöglichen Fachkräftezuzug, indem die Schwellen abgesenkt
werden - dies war nicht so einfach, aber wir haben es gemeinsam endlich geschafft -, damit wir zukünftige Talente gewinnen können.
Wir packen die Pflegereform an. Wir helfen Pflegebedürftigen und vor allen Dingen den Angehörigen. Diejenigen, die betreuen und pflegen - ich kenne im privaten
Bereich solche Fälle -, sind für mich wahre Heldinnen
und Helden des Alltags.
({36})
Ihnen zu helfen, ist notwendig und richtig. Eine Größenordnung von 1 Milliarde Euro ist wahrlich keine Lappalie. Unser Generalsekretär Christian Lindner hat angesprochen, dass dem Renten-Riester, weil wir die
ergänzende Kapitaldeckung einführen, ein Bruder hinzugefügt wird, nämlich der Pflege-Bahr. Das ist der richtige Einstieg; denn wir wollen Generationengerechtigkeit betreiben.
Deutschland ist unverändert die Lokomotive der europäischen Entwicklung. Die anderen orientieren sich an
uns und schauen, wie wir es machen, damit sie erfolgreicher werden. Das muss so bleiben.
Dieser Haushalt ist ein Dreiklang aus Investieren, Stabilisieren und Entlasten, unter Beachtung der Schuldenbremse. Wir verstetigen das Wachstum. Deshalb ist es
auch richtig, jetzt nicht zu stark auf die Bremse zu treten,
sondern die Fahrt zu halten. Das ist eine intelligente,
wachstumsfreundliche Konsolidierungspolitik. Das, was
die Regierung hier macht, ist maßgeschneidert und genau richtig.
Die Rot-Grünen mäkeln und nörgeln; das ist kein Beitrag. Wir arbeiten. Dabei bleibt es. Das ist der Unterschied. Wir sind erfolgreich.
({37})
Sie werden weiter meckern. Nur, das hilft uns nicht weiter.
Vielen Dank.
({38})
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Renate
Künast. Bitte schön, Kollegin Renate Künast.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser Rede könnte man fragen: Was denn nun, Frau Merkel?
({0})
Sie haben alles so schön beschrieben, alles so schön erklärt.
({1})
- Ja. Ich habe gesehen, dass Sie fröhlich applaudiert haben; es war wahrscheinlich große Erleichterung da. Frau Merkel hat wieder einmal schön erklärt, wie die
Details sind. Aber was ich nicht gehört habe, ist die Antwort auf die Frage, wo die Reise mit Deutschland hingehen soll, wo die Reise in der Europäischen Union hingehen soll. Von welcher Zukunft sind Sie eigentlich
gezogen, Frau Merkel? An dieser Stelle war Ihre Rede
eine echte Fehlanzeige.
({2})
Wir haben jetzt zwei Jahre lang gewartet, dass diese
Koalition endlich beginnt, vernünftige Politik zu machen. Aber ich denke, das kommt nicht mehr. Was jetzt
nur noch geschieht, ist das Auslaufen der Regierungszeit. Wir brauchen aber eine Politik, die sich wirklich
den zentralen Fragen der Gesellschaft und der heutigen
Zeit widmet, die auf den demografischen Wandel einRenate Künast
geht und darauf Antworten gibt. Was Sie machen, ist ein
bisschen Pflegereform, sodass man sich aussuchen darf,
ob man isst, gewaschen wird oder menschliche Zuwendung bekommt. Das ist doch keine Alternative. Man
muss zum Beispiel den Mut haben, eine echte Pflegereform zu machen, und das kann nur heißen, eine Bürgerversicherung zu schaffen. Aber zu solchen grundsätzlichen Dingen haben Sie überhaupt keinen Mut.
({3})
Ein anderer Punkt: die Situation der Jugendlichen.
Meine Damen und Herren, die befinden sich immer noch
in Warteschleifen. Die befinden sich in Kommunen, die
ihrer Bildungsaufgabe nicht nachkommen können. Die
befinden sich in Kommunen, in denen schon lange keine
Jugendarbeit mehr stattfindet und deshalb Rechtsextreme immer mehr Platz und Raum haben und auf die
Schulhöfe gehen. Da reicht es aber nicht, Frau Merkel,
hier nur noch einmal das Bekenntnis der Demokraten,
das Bekenntnis des gestrigen Vormittags, anzusprechen.
Ich will hier und heute hören, wie Sie die Kommunen
mit mehr Geld ausstatten und für mehr Bildung und
mehr Jugendarbeit quer durchs Land sorgen wollen.
Dazu haben Sie gar nichts gesagt, kein Wort.
({4})
Wie geht sozialer Zusammenhalt? Wie geht eine
Wirtschaftspolitik angesichts des Klimawandels? Wie
wollen Sie der Schuldenkriese beikommen und mehr
Gerechtigkeit schaffen? Wie soll es eigentlich mit dem
Euro weitergehen? Grundlegend ist doch eines klar: Wir
brauchen eine andere Art des Wirtschaftens in Deutschland; sie muss sich grundlegend ändern. Wir müssen
weg von dem Motto „Wachstum, Wachstum, Wachstum“
und der Vorstellung, dass wir das, was herauskommt,
nutzen können, wie es dieses Jahr der Fall ist. Selbst
konservative Ökonomen und die Europäische Kommission sagen: Wir müssen anders wirtschaften. Wir müssen
uns nach Finanzkrise und gigantischen Schuldenbergen
jetzt anstrengen, dass wir endlich zu gesellschaftlicher
Wohlfahrt, zu mehr Gemeinwohl kommen. - Aber was
machen Sie? Sie reden nur über Wachstum,
({5})
haben hier und heute aber nicht einmal angesprochen,
dass wir lernen müssen, das Wachstum vom Naturverbrauch, vom Rohstoffverbrauch abzukoppeln, um nur
ein Beispiel zu nennen. Wir brauchen ein anderes
Wachstum, aber das andere haben Sie in Ihrer Rede an
keiner einzigen Stelle angesprochen.
({6})
Dieses andere Wirtschaften funktioniert übrigens nur
europäisch, nur in diesem Zusammenhalt, nur wenn die
Europäische Union stärker dabei wird, die Grundlagen
zu verändern, Ressourcen zu schonen, das Klima zu
schützen und den ökologischen und sozialen Umbau
wirklich systematisch zu betreiben. Wir brauchen eine
große soziale und ökologische Transformation in
Deutschland und in Europa mit dem Euro, einer gemeinsamen Währung, als Kern.
Sie, Frau Merkel, haben ja gerade heute - an anderer
Stelle noch schärfer - gesagt: „Wenn der Euro scheitert,
dann scheitert Europa“. Uns allen ist wohl klar, dass ein
Scheitern Europas nicht hinnehmbar ist und dass wir uns
das schon gar nicht leisten können. Was bitte schön ist
dann aber Ihr Kompass? Sie reden immer von einem
Kompass. Was sind eigentlich die Maßnahmen, die Sie
ergreifen wollen?
Auf dem Parteitag in Leipzig - das wurde ja schon
veralbert - haben Sie in jedem dritten Satz gesagt: „ein
Kompass“. Bei diesem Kompass hier habe ich das Gefühl, Merkel macht es wie folgt: Sie geht erst einmal
ohne Kompass los. Wenn sie vor einer Wand steht und
sie fest im Auge hat, dann schaut sie auf den Kompass,
und dann geht es den ganzen langen Weg zurück. Dann,
Frau Merkel, ist aber immer schon extrem viel Zeit verloren. So war Ihre Rede heute auch.
({7})
Immer viel Zeit verloren:
Denken Sie einmal an die Finanztransaktionsteuer. Da
haben Sie alle miteinander auf die unglückselige Frau
Homburger gewartet, die gesagt hat: So etwas gibt es gar
nicht. Sie haben sich auch an keiner Stelle scharf dafür
eingesetzt, dass Finanztransaktionen wie jede andere
wirtschaftliche Tätigkeit eben auch besteuert werden.
Jetzt soll sie doch kommen, und Sie kämpfen dafür. Ein
Satz lautete einmal: Keinen Cent für Griechenland geben
wir. - Dann wurden es Milliarden. Ein anderer Satz war
einmal: Ein Rettungsschirm wird nicht gebraucht. Dann kamen Irland und Portugal. Eine EU-Wirtschaftsregierung war immer böse, weil man hier nichts abgeben
will. Jetzt soll sie doch kommen. Heute sagen Sie faktisch: Niemals Euro-Bonds! - Ich bin mir sicher, sie werden kommen - oder wir haben es wirklich versemmelt.
({8})
Alle Ihre Verzögerungen, Frau Merkel, haben die Krise
verschlimmert und uns real Geld gekostet.
Zur Hebelung: Wir haben uns in einer der letzten Plenarsitzungen ja intensivst mit dem Thema „Hebelung
des EFSF“ auseinandergesetzt. Viele von uns erinnern
sich noch daran, wie man versuchte, zu verstehen oder
anderen draußen zu erklären, was das eigentlich ist. Jetzt
stellen wir was fest? Die Hebelung funktioniert nicht.
Sie ist bei Chinesen, Russen und anderen eiskalt abgeblitzt, weil ihnen die niedrigen Absicherungen gar nicht
reichen und weil sie nicht wissen, ob sie der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union und der Euro-Zone
überhaupt vertrauen können.
Frau Merkel, es kann doch nicht sein, dass Sie sich
heute hier hinstellen und zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission zu verschiedenen Varianten der
Euro-Bonds, der heute kommt, nur sagen, dass sie fürch16930
ten, dass es irgendwie kommunikativ eine Fehlentwicklung gibt. So geht es nicht, Frau Merkel.
({9})
Wir müssen an dieser Stelle doch eines sagen: Die Vorschläge der Europäischen Kommission sind rational zu
analysieren. Einer dieser drei Vorschläge wurde sogar
vom Sachverständigenrat der Bundesregierung faktisch
mitentwickelt. Wir müssen an dieser Stelle doch analysieren, was das Beste für uns wäre.
Frau Merkel, ich rate Ihnen: Entwickeln Sie doch
dort, wo Sie Sorgen haben, Zwischenschritte. Wenn es
noch etwas dauern wird, bis die Euro-Bonds kommen,
dann ist es Ihre Aufgabe, sich hier hinzustellen und zu
sagen: Mittelfristig kommen sie, aber wir fordern hier
Regeln für die Wirtschaftsregierung und Sanktionsmechanismen. Sie müssen dann auch sagen, was Sie aktuell
tun wollen, um sich mit der Bankenlizenz für die EFSF
auseinanderzusetzen.
An dieser Stelle haben Sie aber nur bedenkenschwer
agiert. Schon wieder haben wir die Sorge, dass mit Ihrer
Verhaltensweise Zeit verplempert und es teurer wird für
Deutschland.
({10})
Zur EZB: Hier belaufen sich die Lasten, die wir durch
die Ankäufe von Staatsanleihen eventuell zu tragen haben werden, mittlerweile auf 54 Milliarden Euro. Insofern kann und darf man nicht einfach nur hinsehen.
({11})
Was mich eigentlich mindestens genauso geärgert hat,
ist diese Mischung, dass Sie am Vormittag beim EuroKrisengipfel eine Variante verkünden - wir haben sie unterstützt -, die mit vielen Risiken für den Bundeshaushalt verbunden ist, aber andererseits die Menschen, die
sich um die Bildung ihrer Kinder sorgen, quer durchs
Land, vornean in den Kommunen, mit der Frage zurücklassen: Wo soll das alles enden? Ihre Antwort, Frau Merkel, die Antwort von Schwarz-Gelb auf die Frage, wo
das enden soll und ob dieser Weg halbwegs sicher ist, ist
die Ankündigung einer Steuersenkung. Absurder geht es
nicht, Frau Merkel, und inakzeptabler geht es auch nicht!
({12})
Ich denke, Sie merken doch gar nicht, was die Menschen in Deutschland empfinden. Sie haben Angst um
die Stabilität ihrer Währung. Sie haben Angst, dass es
bald kein funktionierendes Gemeinwesen in Deutschland mehr gibt. Gemeinwesen fängt in den Kommunen
an: bei der Kinderbetreuung, den Kindergärten, den
Schulen, der ganztägigen Betreuung, wo Kinder auch
der bildungsfernen Schichten oder Kinder von Migranten Chancengerechtigkeit erleben, die Möglichkeit
haben, sich in diesem Land zu entwickeln. Sie aber verkünden an dem Tag der größtmöglichen potenziellen
Verschuldung eine Steuersenkung.
Die Wirtschaft in Deutschland wartet auf die Basisinfrastruktur. Herr Brüderle glaubt immer noch, wenn
man nur neue Maßstäbe in der Asphaltierung Deutschlands setzen würde, sei die nötige Infrastruktur für Deutschland geschaffen. Das ist natürlich albern, Herr Brüderle.
Das wissen Sie selbst.
({13})
Nein, es geht um etwas ganz anderes. Zur Verbesserung
der Infrastruktur in diesem Land wäre eine grundsätzliche und flächendeckende Breitbandversorgung nötig.
({14})
Die Infrastruktur in unserem Land wäre angesichts
der großen Containertransporte einmal unter dem Aspekt
zu sehen: Wie finanzieren wir den Bau der Schiene, um
Güter ökologisch zu transportieren? Auch die Wirtschaft
erklärt - aber vielleicht haben Sie diesen Kontakt vor
lauter Sorgen um Ihre 2 Prozent auch schon aufgegeben,
Herr Brüderle -: Zur Basisinfrastruktur gehören der Erhalt und die Sanierung vorhandener Straßen und Brücken, anstatt neu zu asphaltieren. Darin müssen wir Geld
investieren, nicht in richtungslose Steuersenkungen.
({15})
Was gehört noch zu einem funktionierenden Gemeinwesen? Dazu gehört auch ein ordentlicher Lohn; das ist
hier schon angesprochen worden. Zur Grundvoraussetzung in unserem Land gehört - das könnte Ihnen ein
Kompass zeigen, aber Sie machen eine Politik ohne
Kompass -, dass Leute, die den ganzen Tag über arbeiten, von ihrer Hände Lohn leben können, ohne aufs Amt
gehen zu müssen. Aber Sie handeln nach dem Motto:
Tun wir etwas für unser soziales Image. Dann gibt vielleicht auch endlich der Arbeitnehmerflügel Ruhe. Und
wir haben ein Wahlkampfthema weniger. - In Wahrheit
geht es Ihnen doch gar nicht um den Mindestlohn. Das,
was Sie abgeliefert haben, ist kein Mindestlohn und ist
nicht einmal eine verlässliche Lohnuntergrenze. Von diesem Lohn kann kein Mensch leben.
({16})
Schauen wir uns das einmal genau an. Sie vereinbaren
eine Lohnuntergrenze und lassen immer noch zu, dass
unterschreitende Tarife gezahlt werden. Wie soll man
denn von 4 oder 5 Euro leben? Sie haben eine Zeit lang
so getan, als würde sich der Mindestlohn an dem Lohn
für Zeitarbeit orientieren, aber nicht einmal das. Sie sind,
vornean Frau von der Leyen, als Tigerin gestartet und als
Bettvorlegerin gelandet - mehr nicht.
({17})
Sie sagen, Sie wollten etwas für Facharbeiter tun.
Aber überlegen Sie einmal - Sie haben das Thema MiRenate Künast
grantinnen und Migranten kurz angetippt -: Wie wollen
Sie eigentlich mit solchen Löhne Migrantinnen und Migranten mit guten Bildungsabschlüssen hier halten? Diese
sind doch die Ersten, die gehen. Sie öffnen die Gesellschaft nicht für sie, damit sie sich hier weiterentwickeln
können, und Sie sorgen auch nicht für eine entsprechende Lohnentwicklung.
Derzeit haben wir die Situation, dass aus den Kindern
der Einwanderer Auswandererkinder werden, weil sie in
Brüssel oder in Istanbul willkommen sind und bessere
Löhne bekommen. Zu diesem Thema haben Sie gar
nichts gesagt, Frau Merkel. Sie müssten als Allererstes
sagen - das wäre auch kostengünstig zu haben -: Wir
schaffen die doppelte Staatsbürgerschaft und quälen die
jungen Leute nicht mit einem Optionsmodell, bei dem
sie sich entscheiden müssen, welche der beiden Staatsbürgerschaften sie wollen.
({18})
Dann würden Sie aufgrund des großen Fachkräftemangels, den wir erleben, auch nicht das machen, was
Sie gerade so nett angekündigt haben, Frau Merkel,
nämlich mehr Fachkräfte ins Land zu holen, indem man
die Gehaltsschwelle von 66 000 auf 48 000 Euro reduziert. Der weltweite Run auf Fachkräfte ist so groß, dass
Ihr Vorschlag von 48 000 Euro geradezu putzig ist. Für
48 000 Euro kriegt man keinen Vertrag mit einem ganz
normalen Ingenieur. Der Inder geht irgendwohin, aber
nicht nach Deutschland.
({19})
- Weil Sie danach fragen, Frau Merkel: Die Fachkräfte
kommen hierhin mit Jobverträgen über 40 000 oder auch
43 000 Euro. Auf 48 000 Euro kommen sie gar nicht.
Das schaffen sie allenfalls in anderen Ländern. Deshalb
kommen diese Fachkräfte nicht. Das ist auch der Grund
dafür, dass andere Migrantinnen und Migranten, Menschen mit guter Ausbildung, abwandern.
Zu alledem haben wir noch das Thema Rechtsextremismus. Menschen, die anders aussehen, müssen sich in
dieser Gesellschaft Sorgen machen, ob sie, wenn sie zum
Beispiel an einer Universität oder in einem Unternehmen
tätig sind, hier sicher mit ihrer Familie leben können.
Das ist noch ein Grund zu sagen: Wir klären die rechtsextremen Taten nicht nur auf, sondern wir sorgen auch
dafür, dass die Projekte gegen Rechtsextremismus in den
Kommunen mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werden, damit sie tatsächlich in der Breite arbeiten können
und Sicherheit produzieren.
({20})
Sie, Frau Merkel, haben gesagt, es müsse mit einem
neuen Kompass losgehen, und Sie wollen für das neue,
menschliche Deutschland sorgen. Sie sind mit Ihren
Konzepten völlig aus der Zeit gefallen. Nehmen wir allein das, was Sie mit dem ewigen Hin und Her und Ihrem Vorwärts und Rückwärts in der Atompolitik gemacht haben. Sie haben einmal gesagt: Wer irgendwo
aussteigt, muss auch wissen, wo er einsteigt. - Sie wissen heute noch nicht, wo Sie einsteigen.
Sie kommen beim Ausbau der erneuerbaren Energien
nicht weiter. Das ist ein Dauerzankapfel. Sie wollen allenfalls die Förderung neuer Kohlekraftwerke, dann aus
Geldern des Emissionshandels. Das ist der einzige
Punkt, in dem bei Ihnen noch traute Einigkeit herrscht.
Sie haben keinen Vorschlag gemacht, wie die Energiewende strukturiert und finanziert wird.
Sie haben Durban angesprochen, Frau Merkel. Ja, die
Klimakonferenz in Durban steht unter ganz besonderer
Beobachtung. Ihr Chefberater, Herr Schellnhuber, hat
von einem Endspiel für den Klimaschutz gesprochen.
Was aber bieten Sie? Sie haben sich mit ihm als Klimaberater geschmückt. Aber daraus sind nicht mehr Forderungen hervorgegangen. Es ist nicht mehr dabei herausgekommen. Sonst hätten Sie jetzt dafür Sorge getragen,
dass die Europäische Union, ohne Bedingungen zu stellen, in Durban zusagt, Europa wird seine CO2-Emissionen um 30 Prozent reduzieren. Aber nicht einmal mit
dieser Morgengabe gehen Sie dorthin.
({21})
Die Minderungsziele sind nirgendwo wirklich angegangen worden. Wie wäre es mit dem Abbau ökologisch
schädlicher Subventionen? Wie wäre es mit der Reduzierung und Änderung des Dienstwagenprivilegs? Stattdessen gibt es kostenlose CO2-Zertifikate für Energieversorger. So werden wir nicht weiterkommen, meine
Damen und Herren.
Sie haben keine Vorschläge zu einer wirtschaftlichen
Entwicklung Deutschlands. Ich habe es gerade angesprochen. Beim Thema wirtschaftliche und ökologische
Zukunft Deutschlands weiß man gar nicht, welche Zukunft Sie sehen. Es gilt immer nur: „Beton hilft viel“.
Sie machen noch die Witze aus vorigen Jahrzehnten, machen aber keine Vorschläge.
Mein letzter Punkt. Die Blockade in dieser Gesellschaft lösen Sie nicht auf. Frau Merkel, Sie haben Ihre
Rede mit dem Satz beendet, diese Gesellschaft soll
menschlicher werden. Aber Menschlichkeit fängt beim
Begriff „Gerechtigkeit“ an, und da haben Sie versagt. Zu
mehr Gerechtigkeit gehört, dass unsere Haushalte nicht
weiter verschuldet werden, wie Sie es tun. Zu mehr Gerechtigkeit gehört, dass man das Geld nicht für zwei sich
widersprechende Zwecke ausgibt. Zum einen geben Sie
das Geld für den Bau von Kitas aus - aber nicht genug -,
zum anderen geben Sie Geld für das Betreuungsgeld aus,
damit die Eltern ihre Kinder nicht in die Kitas schicken.
Das ist haushalterisch bekloppt, um es einmal direkt zu
sagen.
({22})
Es ist nicht menschlicher und nicht gerechter, Frau Merkel, wenn Sie gerade die Kinder, die es am nötigsten hätten, davon fernhalten, eines Tages gute Fachkräfte zu
werden, die Deutschland so braucht. Sie sind einfach
doppelzüngig an der Stelle.
({23})
Sie reden vielleicht immer das Gleiche - darin liegt auch
der Mangel, weil Sie sich nicht weiterentwickeln -, aber
Sie reden auch immer das Falsche, bis hin zum Thema
Frauen. Das kann ich Ihnen nicht ersparen.
Sie denken an Ihre Redezeit?
Ja. - Das ist ein Armutszeugnis nach 60 Jahren
Grundgesetz, Frau Merkel. Beim Thema „Frauen als
Fachkräfte der Gegenwart“ zeigt sich nur eines, nämlich
dass zwei Ministerinnen draußen eine Show abziehen.
Aber nachher passiert zur Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten von Frauen faktisch nichts. Vom Betreuungsgeld bis Quote ein absoluter Ausfall.
({0})
Jetzt, meine Damen und Herren, wäre es Zeit dafür,
Deutschlands Wirtschaft für das 21. Jahrhundert fit zu
machen, Familien und Frauen richtig zu fördern, ihnen
Entwicklungsmöglichkeiten zu geben, Kinder in den
Mittelpunkt zu stellen, die Energiewende zu nutzen und
eine wettbewerbsfähige Wirtschaft zu organisieren. Aber
ich stelle fest: Schwarz-Gelb hat zwei Jahre lang dem
Land geschadet. Die Menschen warten auf eine neue Regierung.
({1})
Woran wir uns schon gar nicht orientieren werden, ist
der Merkel’sche Kompass. Merkels Kompass führt nicht
weiter. Damit sind Sie, egal ob auf hoher See oder im
Wald, immer orientierungslos. Deutschland aber hat
mehr verdient.
({2})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Volker Kauder. Bitte
schön, Kollege Volker Kauder.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Frau Künast, einer Ihrer letzten Sätze fordert mich geradezu heraus, weil er ein Beweis dafür ist, wie falsch Sie
liegen und wie wenig Sie überhaupt von der Befindlichkeit der Menschen wissen. Sie haben gesagt: Deutschland wartet auf eine neue Regierung. - Sie haben auch
geglaubt, Berlin warte auf eine neue Regierung und Sie
seien dabei. Sie sind draußen. So wie dieser Satz nicht
gestimmt hat, stimmt auch jener nicht.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legen
heute einen Bundeshaushalt vor, der entgegen dem, was
Sie, Herr Gabriel, heute sehr lautstark gesagt haben,
({1})
etwas Außergewöhnliches bietet, nämlich die größte Absenkung der Nettoneuverschuldung in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Sie haben immer neue Schulden gemacht. Wir senken
die Nettokreditaufnahme. Das ist der Unterschied.
({3})
Wir stehen in Europa vor einer großen Herausforderung. Ja, ich würde sogar sagen: Wir erleben in Europa
eine Zeitenwende. Das, was in dieser Zeitenwende notwendig ist, um Orientierung zu behalten und das Richtige zu tun, hat die Bundeskanzlerin in wenigen klaren
Strichen gezeichnet. Sie, Herr Gabriel, haben dagegen
kleinkariert Parteipolitik gemacht. Sie haben auf die großen Fragen überhaupt keine Antwort gegeben. Deswegen ist es auch richtig, dass Sie, Herr Gabriel, mit Ihrer
SPD auf der Oppositionsbank sitzen.
({4})
Wir zeigen mit diesem Bundeshaushalt, dass wir das,
was wir in Europa teilweise fordern, damit es besser
wird, nämlich die Neuverschuldung zurückzufahren und
sich an die Schuldenbremse zu halten, im eigenen Land
machen. Sie, Herr Gabriel, haben die Schuldenbremse
heute besonders erwähnt. Ich kann mich noch entsinnen,
wie schwer es war, die SPD in ihrer Breite davon zu
überzeugen, dass die Schuldenbremse richtig ist. Ihre
Generalsekretärin Nahles hat gesagt: Schuldenbremse
heißt, dass man keine Politik mehr machen kann. So
wird in Ihren Reihen gedacht. Die Schuldenbremse war
das einzig Richtige, um die Haushalte in Europa auf einen richtigen Weg zu führen.
({5})
Mit dem, was wir jetzt machen, gibt Europa eine Antwort für die Zukunft. Bisher war Europa eine Antwort
auf die Geschichte, nämlich: Nie wieder Krieg, Frieden
in Europa. Jetzt wird Europa eine Antwort für die Zukunft. Diese Zukunft heißt: Perspektiven in einem harten
Wettbewerb für unser Land und für die jungen Menschen.
Frau Künast, ich kann mich über Sie nur wundern - ich
wundere mich auch darüber, dass die SPD da Beifall geklatscht hat -: Sie haben hier in einem pauschalen
Schnitt erklärt, Wachstum müsse anders aussehen. Ich
will Ihnen einmal etwas sagen - ich habe mir das bei den
Grünen genau angeschaut -: Sie haben gesagt, bestimmte Wirtschaftsbereiche müssten schrumpfen und
geschrumpft werden. In diesem Zusammenhang haben
Sie die Automobilindustrie genannt. 1 Million Menschen
arbeiten in der Automobilindustrie. Wer die Automobilindustrie schrumpfen will, macht den Wirtschaftsstandort Deutschland kaputt.
({6})
Sie haben gesagt, die energieintensive Wirtschaft
müsse schrumpfen. 1 Million Menschen arbeiten in diesem Bereich und auch in Teilen großer Zukunftsbereiche; ich denke nur an die Karbonherstellung. Wer also
sagt, die energieintensive Wirtschaft in Deutschland
müsse schrumpfen, der hat gerade keine Perspektive für
Wachstum, für die Beschäftigung von jungen Menschen
und für Innovationen in unserem Land.
({7})
Weiterhin haben Sie gesagt, die Landwirtschaft müsse
schrumpfen. Mehr als 1 Million Menschen arbeiten in
der Landwirtschaft. Wie kann man einen solchen Unsinn
sagen, die Landwirtschaft müsse schrumpfen? Wir wollen doch Produkte ortsnah produzieren und verkaufen
und nicht immer aus der ganzen Welt importieren müssen. Wer wie Sie die Landwirtschaft schrumpfen will,
der muss Produkte aus der ganzen Welt einführen. Das,
was Sie da erzählen, ist Unsinn.
({8})
Die SPD hat da auch noch Beifall geklatscht; das ist erstaunlich.
Ich habe jetzt drei Bereiche genannt, in denen insgesamt 3 Millionen Menschen beschäftigt sind. Ich kann
Ihnen nur sagen: Die Konzepte, die Sie zusammen mit
der SPD haben, haben in Ihrer Regierungszeit genau
dazu geführt, dass zwar geschrumpft wurde, aber dass
die Arbeitslosigkeit auf 5 Millionen gestiegen ist. Das ist
Ihre Politik.
({9})
Wir haben dann dafür gesorgt, dass die Arbeitslosigkeit
auf einen der niedrigsten Werte überhaupt gesunken ist.
({10})
Die beste Zahl, über die wir uns wirklich freuen - wir
sind nicht stolz, sondern wir freuen uns darüber -, ist,
dass die Jugendarbeitslosigkeit halbiert wurde und in
vielen Ländern unter 2 Prozent liegt. Herr Gabriel, Sie
haben hier vollmundig gesagt, wie schwierig es sei, dass
die Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern bei über
40 Prozent liege. Das sehen auch wir so. Aber das, was
Sie diesen Ländern als Konzept verordnen, führt nicht zu
einem besseren Ergebnis. Schauen Sie sich einmal das
an, was wir gemacht haben. Das reduziert die Jugendarbeitslosigkeit. Diesen Weg werden wir energisch weiterbeschreiten und weitergehen.
({11})
Neben der Haushaltskonsolidierung - Wolfgang
Schäuble hat gestern ausdrücklich darauf hingewiesen machen wir natürlich auch entscheidende Schritte, um
unser Land in der Infrastruktur fitzumachen. Natürlich
sind die modernen Straßen unserer Zeit die Entwicklungsachsen, die wir brauchen, um Daten zu übertragen.
Wir brauchen das schnelle Internet, damit die ländlichen
Räume nicht abgehängt werden. Aber solange die Produkte, die wir herstellen, nicht aus dem Drucker kommen, müssen wir sie transportieren. Deswegen brauchen
wir auch Investitionen in den Schienen-, Straßen- und
Wasserwegebau.
({12})
Dazu höre ich Unglaubliches aus dem Land, in dem
die Grünen den Ministerpräsidenten und den Verkehrsminister stellen, nämlich aus Baden-Württemberg. Das
Bundesverkehrsministerium sagt mir, dass die badenwürttembergische Landesregierung beschlossen hat,
keine einzige Investitionsmaßnahme vorzusehen. Dazu
kann ich nur sagen: Eine gewisse Zeit kann man das
durchhalten. Aber Sie führen das Land Baden-Württemberg damit absolut in den Schatten.
({13})
Ich kann nur hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger in
Baden-Württemberg am kommenden Sonntag erkennen,
was notwendig ist: Investitionen und Innovationen.
Beim Bürgerentscheid am kommenden Sonntag muss
derjenige - so irrsinnig sich das anhört -, der Ja sagen
will, mit Nein stimmen. So führen Sie die Leute an der
Nase herum. So geht es unter dem ersten grünen Ministerpräsidenten in diesem Land zu!
({14})
Es ist klar, dass wir es in Europa mit einer Staatsschuldenkrise zu tun haben - Gott sei Dank handelt es
sich nicht um eine Euro-Krise ({15})
und dass wir diese Staatsschuldenkrise nur bewältigen
können, wenn nicht ständig neue Schulden gemacht werden.
({16})
Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.
Ich bin vollkommen anderer Meinung als Sie, Herr
Gabriel, der Sie von Anfang an dafür waren, einen
Schuldenschnitt herbeizuführen. Es gibt sicherlich viele
Experten, die Ihre Meinung teilen. Aber wir sind uns sicher in dem Punkt einig, dass wir mehr Gemeinsamkeit
in Europa, in der Euro-Zone brauchen, um den Euro zu
stabilisieren. Glauben Sie, Herr Gabriel, dass wir auch
nur einen einzigen entscheidenden Schritt vorangekommen wären, wenn wir von Anfang an nach dem Motto
verfahren wären: „Es gibt Hilfen und Unterstützung,
aber Veränderung muss nicht sein“? Die Kanzlerin hat
sich zur Solidarität bekannt, aber auch die notwendigen
Modernisierungen und Reformen durchgesetzt. Nur so
kommt Europa voran. Sie hätten genau das Gegenteil
von dem provoziert, was notwendig und was richtig ist.
({17})
Frau Bundeskanzlerin, der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ist richtig. Wir brauchen in Europa Veränderungen. Wir brauchen insbesondere Vertragsänderungen,
um Haushaltsdisziplin durchzusetzen, und gemeinsame
Regeln, um Europa voranzubringen. Ich begrüße das
Ziel außerordentlich, gemeinsam mit Frankreich einen
ersten wichtigen Schritt bei der Unternehmensbesteuerung zu tun. Das zeigt, in welche Richtung es gehen
muss. Wir alle müssen bereit sein, Veränderungen hinzunehmen und Opfer zu bringen. Ich sage Ihnen: Eine solche Bereitschaft wird es aber nicht geben, wenn das gemacht wird, was Herr Gabriel will und was sein Finanzund Haushaltsexperte für falsch hält. Wir dürfen nicht
einfach Euro-Bonds einführen. Eine Vergemeinschaftung von Schulden hat noch nie eine Verbesserung im
System gebracht. Deswegen sind wir radikal dagegen.
({18})
Wir müssen jetzt die Veränderungen angehen. Ich bin sicher, dass wir aus der konkreten Situation und aus der
Erkenntnis heraus, dass sich hier einiges tun muss, unser
Ziel erreichen können.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben darauf hingewiesen,
dass der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit - das
war ein schönes Signal - die Bundesregierung bei den
Verhandlungen auf europäischer Ebene unterstützt hat,
sodass wichtige Ziele erreicht werden konnten. Ich
nenne beispielsweise die Beteiligung des privaten Sektors mit den Risiken, die Sie beschrieben haben. Notwendig ist die Botschaft, dass nicht alles allein am Steuerzahler hängen bleibt, sondern dass auch der private
Sektor beteiligt werden muss. Deswegen begrüße ich
alle Initiativen und den mit dem Ziel, dass wir zu einer
Finanztransaktionsteuer kommen, weiter aufgebauten
Druck. Ich bin mir sicher - auch wenn einige jetzt noch
dagegenhalten -: Die Erkenntnis wird sich durchsetzen,
dass wir nur so Zustimmung für die notwendigen Maßnahmen und Erneuerungen erreichen können.
Dieser Weg in Europa ist der einzige, der uns dorthin
bringt, dass wir wettbewerbsfähig werden, dass wir Zukunftschancen haben und dass dieses Europa die richtige
Antwort auf die Herausforderungen in der Zukunft ist.
Wir wollen dieses Europa, wir wollen ein starkes Europa. Aber wir wollen ein Europa, in dem jedem klar ist,
dass jeder seine Verantwortung für die Stabilität der
Währung zu tragen hat. Dieser Weg wird schwer; aber
ich bin sicher: Er wird erfolgreich gegangen werden
können.
Bei allem Blick auf Europa und auf unsere Aufgaben
ist es auch notwendig, dass wir nicht vergessen, was sich
um uns herum in der Welt tut; denn wir werden von vielen Entwicklungen in der Welt beeinflusst. So sehen wir
mit großer Sorge - ich bin dankbar, dass es heute angesprochen worden ist -, was sich beispielsweise in Nordafrika entwickelt. Ja, es ist richtig, dass Tunesien auf einem guten Weg ist. Aber was wir aus Ägypten hören,
muss uns große Sorgen machen.
Es waren gerade jetzt wieder Vertreter der in Deutschland lebenden Kopten in Ägypten. Sie kamen vor zwei
Tagen zurück und haben mir berichtet. Da kann man nur
sagen: Es ist eine dramatische Situation. Es gibt noch
einmal den Kampf gegen das Militär und gegen eine Regierung, die die Interessen des Volkes offenbar nicht
ernst nimmt. Diesen Kampf unterstützen wir. Aber wir
erwarten bei einem Wandel von einer Diktatur zu einer
modernen Gesellschaft natürlich auch, dass in diesem
Land alle ihre Religion frei leben können. Deswegen rufen wir den Ägyptern zu: Seht in erster Linie darauf,
dass ihr Ägypter seid, und nicht darauf, dass ihr einer
Religionsgemeinschaft angehört! Nur so werdet ihr zu
einem modernen Land werden. Wenn wir euch helfen
und unterstützen - was wir machen wollen -, erwarten
wir, dass die Menschenrechte eingehalten werden, und
dazu gehört die Religionsfreiheit ganz existenziell.
({19})
Deutschland ist auf einem guten Weg. Wir werden all
unsere Kraft nicht nur für unser Land einsetzen, sondern
auch für eine gute Entwicklung in Europa. Ich spüre bei
vielen Gesprächen - wir hatten in der letzten Woche
Kolleginnen und Kollegen aus allen europäischen Ländern zu einer Tagung bei uns - den Wunsch und die Bereitschaft, diesen Weg, auch wenn er nicht einfach wird,
gemeinsam zu gehen. Wir alle wissen: Dieses Europa
war eine großartige Antwort auf die Geschichte, und dieses Europa ist eine notwendige und großartige Antwort,
wenn es um unser aller Zukunftschancen geht. Deswegen ist es im deutschen Interesse, für einen starken Euro
und für ein starkes Europa zu streiten. Da haben Sie uns,
Frau Bundeskanzlerin, an Ihrer Seite.
({20})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Joachim Poß.
Bitte schön, Kollege Joachim Poß.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Bundeskanzlerin, Ihre heutige Rede war ein
Beleg dafür, wie Sie in staatstragendem Ton den Problemen, die sich in unserem Lande stellen, ausweichen oder
sie nur bedingt wahrnehmen wollen.
Zum Rechtsextremismus haben Sie Richtiges gesagt.
Aber Ihre Feststellung, dass es nicht richtig sei, wenn im
Plenum gesagt werde, dass beim Rechtsextremismus zu
viele auf einem Auge blind waren, kann so nicht stehen
bleiben, Frau Bundeskanzlerin.
({0})
Denn das war so; das ist die zutreffende Beschreibung
der Situation. Wenn wir alle in diesem Hause gemeinsam
- was ja nicht selbstverständlich ist - in dieser Frage einen Neuanfang wollen, dann müssen wir auf eine falsche
Geschichtsanalyse, wie sie von Ihnen gekommen ist,
verzichten.
({1})
Das Wesen Ihres Vorgehens, Frau Merkel, ist, dass
Taktik und nicht politischer Gestaltungswille Ihr Reden
und Handeln bestimmt. Sie haben gesagt, Sie sprächen
immer gleich, egal wo Sie sind. Aber jeder, auch in den
Reihen von CDU/CSU und FDP, weiß es besser. Das hat
doch das Elend in Ihrer Koalition verstärkt: dass Sie
nicht überall gleich reden.
Sie sind, Frau Merkel, Ihrer Führungsverantwortung
für Deutschland in den letzten anderthalb Jahren insgesamt nicht gerecht geworden.
({2})
Mit einem anderen Verhalten hätten Sie die finanziellen
Risiken für unser Land begrenzen können. Sie haben
darauf verzichtet, weil Sie nur einen Maßstab für Ihr Reden und Handeln haben: die parteitaktische Situation
von CDU, CSU und FDP. Das reicht nicht für die Führungsverantwortung, die man in dieser Position hat.
({3})
Die Belobigungen von Herrn Brüderle oder Herrn
Kauder in allen Ehren, aber sie reichen nicht aus, um von
dieser Realität abzulenken, die ich hier zusammenfassend geschildert habe.
In Ihrer Haushaltspolitik wird nach dem Motto „Nach
mir die Sintflut“ agiert: Lasten werden durch ihre geplanten Steuersenkungen und das Betreuungsgeld in die
Zukunft verschoben. Diese Lasten werden Ihren politischen Erben hinterlassen; die müssen sich dann damit
auseinandersetzen - abgesehen davon, dass auch unsere
Kinder und Enkel mit den Folgen zu kämpfen haben
werden.
({4})
Eine solche Politik, die wegen Orientierungslosigkeit die
Realitäten verweigert und zur Ablenkung die Opposition
diffamiert, kann nicht zukunftsweisend sein.
({5})
Von Ihrem 80-Milliarden-Euro-Supersparpaket sind
- Sigmar Gabriel hat darauf hingewiesen - vor allem
Streichungen von 40 Milliarden Euro bei Arbeitslosen
und sozial Schwachen übrig geblieben. Frau Merkel, ich
erinnere mich noch daran, wie Sie im Fernsehen das
Sparpaket verteidigt haben. Sie haben gesagt: Wir sorgen für den sozialen Ausgleich, indem wir zum Beispiel
Unternehmen belasten. Was ist davon übrig geblieben?
Nichts. Stattdessen wächst das soziale Ungleichgewicht
in unserer Gesellschaft immer weiter. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({6})
Angesichts dessen sage ich zu den Vorwürfen zu unserem sozialdemokratischen Finanzkonzept, die auch heute
wieder vorgebracht worden sind: Unser Finanzkonzept
ist das einzige Konzept, das den Schuldenabbau mit der
Finanzierung von Zukunftsinvestitionen und einer Entlastung der Kommunen, die dringend notwendig ist, verbindet. Niemand sonst hat ein solches Konzept auf den
Weg gebracht. Um es einmal ganz klar zu sagen: Wir haben im Hinblick auf den Haushalt 2012 die richtigen Anträge gestellt. Das ist schließlich belegt. Sie können mit
diesem Konzept jedenfalls nicht konkurrieren.
Wenn wir zur Finanzierung dieses gerechten und soliden Konzepts eine stärkere Belastung von Spitzenverdienern und Vermögenden verlangen, dann ist das nur
recht und billig, um den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu wahren.
({7})
Aber darum geht es Ihnen nicht, Frau Merkel. Das
war auch beim Thema Mindestlohn zu spüren. Das hatte
nichts mit Überzeugung zu tun. Nachdem die Wirtschaftsverbände, die Sie für Ihre angestrebte Wiederwahl brauchen, anfingen, Druck auszuüben, haben Sie
einen Schwenk hin zu dieser schlechten Lösung auf ihrem Parteitag vollzogen. Das steckt doch dahinter.
Daher kann man sagen - das schlägt sich überall in
den Ergebnissen Ihrer Politik nieder -: Sie haben einen
ausgeprägten Machtwillen; aber es fehlt Ihnen der Gestaltungswille, jedenfalls der Wille, in unserer Gesellschaft die Dinge zum Besseren zu gestalten.
({8})
Das kann man noch differenzieren und ausbuchstabieren: Was tun Sie denn gegen Kinderarmut oder die heraufziehende Altersarmut? Was soll denn die Pflegelösung, die Sie jetzt vorschlagen? Die Sachverständigen
und Betroffenen lehnen Ihre Beschlüsse zur Pflege nahezu unisono als Stückwerk ab. Hier ist viel mehr nötig
als das, als Sie vorlegen. Eine Reform ist das jedenfalls
nicht.
Was tun Sie, um strukturschwachen Kommunen zu
helfen? Ihre Gemeindefinanzkommission ist letztlich gescheitert, weil Ihnen nicht viel mehr einfallen wollte als
die Aushöhlung der Gewerbesteuer. Ihr Ziel war auch
hier nur, die Lasten von den Unternehmen auf die Bürgerinnen und Bürger abzuwälzen. Das ist mit uns nicht zu
machen. Das haben wir nicht mitgemacht, das haben andere nicht mitgemacht, und das haben auch die kommunalen Spitzenverbände nicht mitgemacht. Sie dürfen in
diesem Lande keine Politik gegen die Kommunen betreiben, so wie Sie es versucht haben.
({9})
Die Übernahme der Grundsicherung im Alter durch
den Bund war kein Ergebnis der Gemeindefinanzkommission, sondern Teil des Kompromisses zu Hartz IV.
Auf Druck der Sozialdemokraten und der kommunalen
Spitzenverbände mussten Sie das zugestehen. So lautet
die historische Wahrheit, und nicht so, wie Sie sie zum
Teil darstellen.
({10})
Die Reihe Ihrer großen Ankündigungen und Projekte,
die zu nichts geführt haben, lässt sich ohne Probleme
fortführen. Frau Merkel, wie viele Bildungsgipfel sind
eigentlich in den zwei Jahren Schwarz-Gelb an Ihnen gescheitert? Die SPD-Bundestagsfraktion beantragt in die16936
ser Woche für 2012 weitere 300 Millionen Euro für den
Ausbau von Krippenplätzen und 400 Millionen Euro für
den Ausbau von Ganztagsschulen.
({11})
Das ist gut für die Zukunft unserer Kinder. Es wäre eine
gute und zukunftsgerichtete Politik, wenn Sie diesen Anträgen zustimmen würden.
Aber Sie blockieren sich selbst durch das fragwürdige
und teure Betreuungsgeld; das ist hier schon mehrfach
dargestellt worden. Die Milliarden, die Sie in das Betreuungsgeld stecken wollen, fehlen beim Ausbau der
Betreuungsinfrastruktur.
({12})
Man kann einen Euro eben nicht zweimal ausgeben.
Außerdem: Erst das Elterngeld, das wir in der Großen
Koalition gemeinsam vereinbart haben, um die Eltern im
Beruf zu halten, dann das Betreuungsgeld, um die
Frauen vom Beruf fernzuhalten. Wie gaga ist das eigentlich, was Sie da vorschlagen?
({13})
Wo, Frau Merkel, ist Ihre Initiative zur Behebung der
großen Infrastrukturdefizite? Eines der erfolgreichsten
Programme, „Soziale Stadt“, wird von Ihnen weiterhin
sträflich vernachlässigt. Wenn Sie es mit Ihrem Gerede
von einer Politik für mehr Wachstum und einer besseren
Infrastruktur wirklich ernst meinen, dann setzen Sie hier
an und stocken Sie die Programmmittel entsprechend
auf. Wir dürfen unsere Städte sozial und kulturell nicht
verkommen lassen.
({14})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Hermann Otto Solms.
Bitte schön, Kollege Solms.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich bei der Frau Bundeskanzlerin für ihre brillante Rede heute bedanken.
({0})
Das war eine wirklich glasklare Positionsbeziehung, die
für die interne Auseinandersetzung genauso wie für die
europäische Auseinandersetzung wichtig ist, in der sich
die Bundesregierung und wir alle gegenwärtig befinden.
In der Generalaussprache kommt es darauf an, zu
kennzeichnen: Was sind eigentlich die zentralen Ergebnisse der Politik unserer Koalition? Das herausragende
Ergebnis ist die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.
({1})
Sie ist sozialpolitisch und überhaupt der Kern der politischen Bemühungen. Die positive Entwicklung ist das
Kennzeichen einer sehr erfolgreichen Wirtschaftspolitik.
Sie führt auch zu einer erfolgreichen Finanzpolitik. Es ist
schon herausragend, dass wir heute eine so niedrige Arbeitslosigkeit haben, dass wir die Arbeitslosigkeit nahezu
halbiert haben - nur noch 2,7 Millionen Arbeitslose -,
dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf über 28 Millionen und die Zahl der Erwerbstätigen auf 41,4 Millionen gestiegen ist.
Das ist sozialpolitisch deshalb entscheidend, weil wir
damit Menschen in die Lage versetzen, ihren Lebensunterhalt mit ihrer eigenen Arbeit zu verdienen und ihre
Familie zu ernähren, und sie nicht auf staatliche Transfers und Hilfen von außen angewiesen sind. Das ist die
sozialste Politik, die man überhaupt machen kann.
({2})
Ich weiß nicht, ob den Kollegen von der Opposition
dabei etwas auffällt: Die Regierungen, die in den letzten
20 Jahren die sozialsten Ergebnisse überhaupt erzielt haben, waren unter Beteiligung der FDP, der immer unsoziales Verhalten vorgeworfen wird.
({3})
Wir wissen, worauf es ankommt, nämlich auf eine intelligente Mischung aus staatlicher Regulierung, Freiheit
an den Märkten und Wettbewerb zur Leistungsanspornung. Deswegen wurde dieses fantastische Ergebnis erzielt. Darauf sind wir Liberale ganz besonders stolz.
({4})
Denn es zeigt sich, dass diese Politik viel erfolgreicher
ist als die Erhöhung der Mittel für soziale Kassen oder
die Schaffung neuer sozialer Bürokratien, die sich nur
darum kümmern, Geld auszugeben, aber nicht auf die
Ergebnisse achten.
Die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist also das Herausragende. Sie, die Sozialdemokraten und die Grünen,
hätten eigentlich ebenfalls Grund, stolz darauf zu sein,
weil Sie einen Beitrag dazu geleistet haben: Sie haben
die Arbeitsmarktreformen durchgeführt. Aber Sie von
der SPD haben den Vater der Arbeitsmarktreformen,
Wolfgang Clement, aus der Partei geekelt. Nun wollen
Sie diese Reformen rückabwickeln. Deswegen ist es
klar, dass Sie sich nicht dazu bekennen können, stolz
darauf zu sein.
({5})
Wir fahren jetzt die Ernte ein: Die Beiträge zur Rentenversicherung können gesenkt werden.
({6})
Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bleiben auf einem niedrigen Niveau; es bestand die Gefahr, dass sie
wieder angehoben werden müssen. Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung müssen nicht angehoben
werden, obwohl das von Ihnen immer wieder vorausgesagt worden war. Hier entlasten wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso wie die Unternehmen.
Das ist das Ergebnis einer guten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik.
Natürlich fahren wir die Ernte auch im Haushalt ein;
denn 2,5 Millionen mehr Beschäftigte sind 2,5 Millionen
mehr Steuerzahler und Beitragszahler und 2,5 Millionen
Menschen weniger, die von den Transfers leben müssen.
Dadurch ergibt sich eine Verbesserung des Finanzsaldos
des Staates und der Sozialkassen: Er steigt um rund
50 Milliarden Euro. Das finden wir jetzt im Haushalt
vor, sodass wir am Ende des Jahres weniger als 25 Milliarden Euro Neuverschuldung haben.
({7})
Es kommen im Übrigen immer Klagen von den Gemeinden und Ländern. Sie sind an dem Ergebnis aber
voll beteiligt. Sie haben natürlich auch erhebliche zusätzliche Einnahmen, aber sie schaffen es nicht, ihre
Ausgaben so zu gestalten, dass sie ihre Verschuldung
entsprechend abbauen können. Sie steigern ihre Ausgaben nämlich in dem gleichen Maße, wie ihre Einnahmen
wachsen. In manchen Ländern steigen diese sogar
schneller als die Einnahmen. Ich nenne Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg als Beispiele. Das ist ein
Ausdruck von Verantwortungslosigkeit. Von daher kann
der Wähler durchaus anhand der Ergebnisse der Politik
erkennen, wer wo Verantwortung trägt.
Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf die EuroBonds. Ich kann die Haltung, welche die Bundeskanzlerin hier eingenommen hat, voll und ganz unterstützen.
({8})
Wir müssen wissen - das sage ich auch an die Adresse
der Oppositionsparteien -, dass die deutsche Regierung
bei ihren Verhandlungen unter ganz erheblichem internationalem Druck steht: sei es vonseiten der Kommission,
sei es vonseiten der Schuldnerländer in Europa oder sei
es vonseiten der Angelsachsen, die es gewohnt sind, die
Druckerpresse anzuschmeißen, um die Probleme durch
Inflation zu lösen. Das alles wollen wir nicht. Das dürften auch Sie nicht wollen. Wenn das der Fall ist, sollten
Sie die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung und auch
uns hier im Parlament - weil wir das alles mit beschließen - dabei unterstützen, damit wir als geschlossene
Kraft auftreten können; denn die Stabilisierung in Europa kann nur gelingen, wenn Deutschland als Vorbild
genommen wird.
({9})
Wir haben eine vorbildliche Haushaltsentwicklung, müssen uns aber in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch
mehr anstrengen, wenn die Konjunktur etwas nachlässt.
({10})
Ich möchte die Oppositionsfraktionen auffordern, die
Regierung im internationalen Bereich zu unterstützen.
Es handelt sich um eine schwere Aufgabe. Die Krise ist
durch die Verschuldung der Staaten entstanden. Sie kann
nur gelöst werden, indem diese Verschuldungspolitik beendet und die Verschuldung abgebaut wird.
({11})
Die Verschuldung ist nicht durch die Märkte entstanden,
sondern durch die Staaten. Wenn man die Ursachen bekämpfen will, muss man die Staatsverschuldung in allen
Ländern zurückführen - auch wenn das nur unter Druck
gelingt.
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Frau Bundeskanzlerin, ich bin in einem Punkt - das sage ich auch
Herrn Kauder - sachpolitisch einfach anderer Meinung.
Die Finanztransaktionsteuer kann die Zwecke, die Sie
mit ihr verbinden, nicht erfüllen.
({12})
Das ist das Problem. Deshalb hat sich der Nobelpreisträger Tobin kurz vor seinem Tod von dieser Idee verabschiedet. Er hat gesagt: Das kann nicht funktionieren.
Das kann nicht gelingen. Vergesst es! - Sie könnte nur
funktionieren, wenn sie weltweit eingeführt werden
würde. Wenn es Ausweichstandorte gibt, werden die genutzt.
Das eigentliche Problem besteht erstens darin: Die Finanztransaktionsteuer wird nicht von den Akteuren auf
den Finanzmärkten bezahlt, sondern von den Kunden,
den Anlegern und Sparern, die ihre Altersvorsorge aufbauen. Sie wird also auch von den Riester-Rentnern bezahlt. Die Banken bezahlen das nicht, die leiten das
durch. Es handelt sich um eine Umsatzsteuer.
({13})
Zweitens können Sie nicht sicherstellen, dass die
Transaktionen dort stattfinden, wo der deutsche Fiskus
seine Hand im Spiel hat. Das geht nämlich ganz automatisch. Gehen Sie zur Deutschen Börse nach Frankfurt
und lassen Sie sich das erklären. Es steht schon in den
Programmen, dass die Umsätze dort stattfinden, wo die
Kosten für die Umsätze am niedrigsten sind. Das haben
die in Brüssel nun auch erkannt und sind auf die schlaue
Idee gekommen, man müsse das an den Wohnort des
Auftraggebers binden. Ich möchte Sie einmal fragen:
Wie wollen Sie denn Zürich, London, Singapur, Panama
- wer immer da infrage kommt - dazu zwingen, die Auftraggeber bekannt zu geben, damit die besteuert werden
können?
({14})
Das ist völlig ausgeschlossen. Es kann nicht funktionieren und wird kein Steueraufkommen bringen, weil die
Umsätze dann in Sekundenschnelle von europäischen
hin zu anderen Standorten weglaufen. Das ist heute im
elektronischen Zeitalter überhaupt kein Problem mehr;
es geschieht ganz automatisch.
Wenn Sie die Banken und Bankakteure besteuern
wollen, müssen Sie an die Bilanzsumme oder den Ge16938
winn herangehen, dürfen aber keine Umsatzsteuer machen, welche die Bankkunden, aber nicht die Banken
trifft.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Gerda Hasselfeldt.
Bitte schön, Frau Kollegin Gerda Hasselfeldt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung in unserem
Land, auf die Beschäftigtenzahlen und auch auf die Entwicklung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben
macht deutlich: Deutschland ist der Wachstumsmotor,
der Jobmotor in Europa. Deutschland ist im europäischen Vergleich, was die Staatsfinanzen betrifft, ein Hort
der Stabilität und der Solidität. Deutschland ist Vorbild
für viele andere Länder in Europa.
({0})
Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für viele andere westliche Industriestaaten. Wir haben dies den
Menschen in unserem Land zu verdanken: den Unternehmern, den Arbeitnehmern und denen, die in den Tarifverhandlungen verantwortungsvoll entschieden haben. Sie werden von einer Regierung regiert, die ihnen
Freiheit und auch die Früchte ihrer Arbeit lässt.
({1})
Und das, meine Damen und Herren, ist gut so.
({2})
Gut, dass gerade in dieser Zeit eine bürgerlich-christlichliberale Regierung in der Verantwortung ist.
({3})
Es sind Tatsachen: Bei der wirtschaftlichen Entwicklung und der Haushaltskonsolidierung ist Deutschland
Vorreiter. Im Jahr 2010 und im Jahr 2011 - auch das ist
Tatsache - haben wir haushaltstechnisch jeweils besser
abgeschnitten, als es vorgesehen war. Das ist nicht
selbstverständlich, sondern auch das ist Ausfluss von
Regierungshandeln und Handeln der Menschen in unserem Land.
({4})
Tatsache ist auch, dass die Defizitgrenze, die im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt vereinbart wurde,
trotz der Krise, die vor einigen Jahren zu bewältigen
war, wieder eingehalten wird. Tatsache ist auch, dass wir
voraussichtlich schon vor 2016 die mit der Schuldenbremse vereinbarten Grenzwerte einhalten werden. Das
ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Diese muss
man mit dem vergleichen, was Sie uns nach Ihrer Regierungszeit hinterlassen haben.
({5})
Wir hatten nicht nur andere Daten bei der Verschuldung; von Solidität und Stabilität der öffentlichen Finanzen war gar nicht die Rede. Von einer guten wirtschaftlichen Entwicklung, geschweige denn einer guten
Beschäftigtenentwicklung, war auch nicht die Rede.
({6})
Die 5 Millionen Arbeitslosen, die Sie uns hinterlassen
haben, sind heute mehrfach angesprochen worden.
Das Allerschlimmste, was Sie uns hinterlassen haben,
ist das, was Sie damals auf europäischer Ebene vereinbart haben:
({7})
Weil Sie selbst nämlich unsolide gewirtschaftet und die
Kriterien nicht beachtet haben, haben Sie diese dann
auch noch auf europäischer Ebene aufgeweicht und so
eine Einladung an alle anderen europäischen Staaten
ausgesprochen, sich ebenso zu verhalten. Genau mit diesem Phänomen haben wir uns heute zu beschäftigen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lehren aus der
Staatsschuldenkrise sind eindeutig. Wer sich am Prinzip
stabiler Staatsfinanzen versündigt, der versündigt sich
nicht nur gegenüber den künftigen Generationen, sondern den bestrafen auch die Märkte. Das ist eindeutig.
Sie können das übrigens erkennen, wenn Sie die Entwicklung unserer Bundesanleihen auf den Finanzmärkten beobachten. Da sehen Sie, wie wir dafür belohnt
werden. Das sind unabhängige Schiedsrichter, die über
die Solidität der öffentlichen Haushalte richten und ihre
Aktionen danach ausrichten.
({9})
Die Rendite der deutschen Bundesanleihen ist so
niedrig wie selten zuvor, die Kurse für die Bundesrepublik waren selten so günstig. Das ist Ausdruck von Solidität. Weil die Märkte so reagieren, gibt es bei der Bekämpfung der Staatsschuldenkrise keine Alternative zu
einer vernünftigen, sparsamen Konsolidierungspolitik
und einer guten Wettbewerbspolitik.
({10})
Die Krise wird nicht dadurch gelöst, dass die Notenbanken unbegrenzt öffentliche Anleihen aufkaufen, auch
wenn der frühere Bundeskanzler Schröder das jetzt wieder gefordert hat. Sie wird auch nicht dadurch gelöst,
dass Euro-Bonds aufgelegt werden, dass die Schulden
vergemeinschaftet werden. Ich bin der Bundeskanzlerin
und dem Bundesfinanzminister ausdrücklich dankbar,
dass sie sich so klar und eindeutig gegen eine Vergemeinschaftung der europäischen Schulden ausgesprochen und sich deutlich und klar von den Vorschlägen wie
Euro-Bonds distanziert haben und dies auch auf europäischer Ebene bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck bringen.
({11})
Meine Damen und Herren, nachhaltige Finanzpolitik
bedeutet nicht nur Sparen und Konsolidieren. Nachhaltige Finanzpolitik bedeutet auch Zukunftssicherung.
Nachhaltige Finanzpolitik bedeutet auch Verstetigung
und Erhöhung der Investitionen. Nachhaltige Finanzpolitik bedeutet auch, die soziale Balance zu wahren und
Spielraum zu schaffen durch eine gerechte Steuerpolitik.
Auch dies kommt in diesem Haushalt zum Ausdruck:
durch die Erhöhung der Ansätze für Bildung und Forschung, durch die Erhöhung der Ansätze für die Infrastruktur, insbesondere für die Verkehrsinfrastruktur. All
das ist notwendig, um die Basis für eine gute Zukunft zu
schaffen. All dies haben wir in den vergangenen Jahren
mit Erfolg gemacht.
Nun zur Steuerpolitik. Die vorgesehene Erhöhung des
Existenzminimums, die vorgesehene Erhöhung des
Grundfreibetrags - das ist hier schon mehrfach angesprochen worden -, ist verfassungsrechtlich geboten.
Das ist notwendig.
({12})
Wenn Sie sich an unserer Verfassung orientieren, dann
können Sie sich dagegen nicht verwehren.
({13})
- Ich bin noch nicht fertig. - Das ist der eine Teil dieses
Konzepts. Der zweite Teil betrifft das Problem der sogenannten kalten Progression.
({14})
- Herr Poß, wir haben im Finanzausschuss lange genug
miteinander gearbeitet.
({15})
Sie wissen so gut wie ich, dass durch die kalte Progression nichts anderes bewirkt wird als eine heimliche staatliche Ausbeutung der Lohn- und Einkommensteuerzahler. Nichts anderes ist die kalte Progression.
({16})
Das ist eine heimliche staatliche Ausbeutung der Lohnund Einkommensteuerzahler. Die kalte Progression führt
nämlich dazu - das ist Folge des Zusammenwirkens von
Progression und Inflation -, dass bei denen, die arbeiten,
die Geld verdienen, von einer Lohnerhöhung mehr als
notwendig, mehr als gerecht wäre, vom Staat abkassiert
wird.
({17})
Genau das soll korrigiert werden. Das ist ein Akt der sozialen Gerechtigkeit. Das ist ein Akt der Steuergerechtigkeit - nichts anderes.
({18})
Jetzt will ich noch ein Wort zu dem heute schon häufig angesprochenen Betreuungsgeld sagen. Frau Künast,
Sie haben gesagt, dass die Kinder in den Mittelpunkt gestellt werden sollen. Da stimme ich Ihnen völlig zu. Das
gilt für die Bildungspolitik, für die Familienpolitik und
alle anderen Bereiche der Gesellschaftspolitik. Die Kinder sind das Allerwichtigste, was wir in unserem Land
haben. Das gilt nicht nur für die eigenen Kinder, sondern
für alle Kinder in unserer Gesellschaft, egal aus welchen
sozialen Schichten sie kommen, aus welchen Regionen
sie kommen oder in welchem Alter sie sind. Sie sind das
Wichtigste. Keine Diskussion darf uns zu viel sein, wenn
es darum geht, wie wir die Zukunft unserer Kinder gut
gestalten können, wie wir sie so gestalten können, dass
sie künftig Verantwortung für dieses Land übernehmen
können.
({19})
In unserer Gesellschaft, in unseren Familien hat sich
vieles verändert, nicht zuletzt durch die veränderte Rolle
der Frau. Darauf geben wir Antworten. In den vergangenen Jahren haben wir eine Fülle von verschiedenen Antworten gegeben. Ich meine nicht nur das Elterngeld, sondern auch den großen Beitrag, den der Bund beim
Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen leistet, obwohl er nicht zuständig ist. Auch das muss einmal erwähnt werden.
({20})
Wir unterstützen vonseiten des Bundes die Länder
und Kommunen bei der Aufgabe, den Rechtsanspruch
auf einen Kinderbetreuungsplatz für die Zwei- und Dreijährigen ab 2013 zu realisieren. Genau dort setzt das Betreuungsgeld an. Wir wissen, dass etwa die Hälfte der
Eltern ihre Kinder in der vertrauten Umgebung aufwachsen lassen wollen. Das ist völlig nachvollziehbar. Die einen entscheiden sich relativ früh für eine Betreuung in
einer Kinderbetreuungseinrichtung, und zwar schon ab
dem zweiten, dritten Lebensjahr des Kindes und nicht
erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres. Andere
wollen dies zu Hause selbst erledigen. Wiederum andere
ziehen es vor, die Großeltern, Geschwister, Nachbarn,
Tagesmütter oder andere damit zu beauftragen und sich
von ihnen wenigstens teilweise unterstützen zu lassen.
Meine Damen und Herren, es entspricht unserem
Grundsatz der Wahlfreiheit,
({21})
dass die Eltern frei entscheiden können, wie sie es machen wollen.
({22})
Ich bin bis zu dieser Argumentation einen weiten Weg
gegangen; ich will das gerne zugeben. Ich habe mich
von den Argumenten überzeugen lassen, von nichts anderem. Und ich habe mich überzeugen lassen von den
Wünschen der Eltern, die deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie selbst entscheiden möchten. Wenn der Staat
durchschnittlich 1 000 Euro für einen Kinderbetreuungsplatz ausgibt, dann ist es nur gerecht, wenn man sagt,
dass diejenigen, die das nicht in Anspruch nehmen, einen Teil davon, nämlich 150 Euro, für die privat organisierte Betreuung bekommen sollen. Das ist ein Akt der
Gerechtigkeit.
({23})
Man kann ja so oder so argumentieren. Diese Leistung jedoch als Herdprämie zu bezeichnen,
({24})
stellt nicht nur eine Diffamierung und Beleidigung all
derjenigen dar, die diese Leistung in Anspruch nehmen
wollen oder werden, sondern es grenzt wirklich an Ehrenrührigkeit.
({25})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dieser Haushalt ist deutlich geprägt von Solidität und Stabilität der öffentlichen Finanzen. Er gibt die
richtigen Wachstumsimpulse und bewahrt die soziale
Balance. Wir sind mit der eingeschlagenen Richtung in
den vergangenen Jahren gut gefahren. Und deswegen
werden wir diesen Weg fortsetzen.
({26})
Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Rüdiger Kruse. Bitte schön, Kollege Kruse.
({0})
Natürlich, mache ich. - Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Zu diesem Haushalt gibt es
Berichterstatter, und diese Berichterstatter haben ein
Thema, und auf das will ich gerne eingehen.
Wir haben in der heutigen Generaldebatte viel über
das Gemeinwesen gehört. Ein Gemeinwesen ist so etwas
wie ein Organismus. Ein Organismus hat Blutbahnen,
Nervenstränge und Muskelgewebe, hat also, um es ins
Technische zu übersetzen, eine Infrastruktur.
Wir haben im Bereich der Infrastruktur Akzente gesetzt, und zwar doppelte. Bei Infrastruktur denkt man zunächst an Lkw und Schiffchen. Johannes Kahrs und ich
denken, weil wir von der Küste kommen, mehr an
Schiffe; andere Leute, die mit der Eisenbahn gespielt haben, denken an diese. In diesen Tagen denken wir vielleicht sehr häufig an Eisenbahnen und an Bahnhöfe. Mit
der Infrastruktur, mit diesem zentralen Herz- und Nervensystem des Organismus, in deren Instandhaltung und
Erweiterung wir jedes Jahr 10 Milliarden Euro investieren, befähigen wir das Wirtschaftssystem unseres Landes, die Arbeitnehmer und die Unternehmer, die Gelder
zu erwirtschaften, die wir hier umverteilen dürfen. Ohne
eine funktionierende Infrastruktur hätten wir keine funktionierende Wirtschaft und könnten nicht jährlich
160 Milliarden Euro für soziale Zwecke im weitesten
Sinne ausgeben.
Wenn wir trotz der Notwendigkeit, Ausgaben zu reduzieren, 10 Prozent mehr für Infrastruktur ausgeben,
dann kann man mit Recht davon ausgehen, dass das eine
Rendite haben wird. Das wird nicht nur eine wirtschaftspolitische, sondern auch eine sozialpolitische Rendite
haben. Denn unser Grundsatz ist, dass sozial ist, was Arbeit schafft.
({0})
Es wurde schon gesagt, was für einen großen Vorteil es
darstellt, wenn die Menschen Arbeit haben.
Natürlich macht Arbeit Spaß und erfüllt, aber es gibt
auch einen großen anderen Bereich. Ein Land muss
nämlich auch eine kulturelle Infrastruktur bereitstellen.
Kultur ist natürlich Ländersache - das betone ich -, und
die Länder haben sich das überlegt. Dieser Bereich ist ja
nicht sozusagen übrig geblieben, sondern die Länder haben in der Föderalismusdiskussion gesagt: Das ist uns
wichtig, weil wir uns damit identifizieren können und so
unser Bild prägen und unsere Unterschiedlichkeit leben
können. Daran sollten sich die Länder erinnern.
Aber auch der Bund hat eine Aufgabe in der Kultur.
Ich bin sehr zufrieden und stolz, dass es bei den drei letzten Etats, 2010, 2011 und 2012, die ich mitberaten habe,
in diesem Bereich trotz der allgemeinen Entwicklung
immer einen stetigen Aufwuchs gegeben hat. Wir erhöhen die Mittel für Kultur um etwa 5 Prozent; das ist ein
gutes Ergebnis.
({1})
Wir tun dies im Rahmen von Maßnahmen, über die wir
uns nicht in zwei, drei oder vier Jahren ärgern müssen.
Es wäre natürlich nett, wenn wir allen Intendanten im
Lande die Gehälter erhöhen würden - das ist ein schöner
Gedanke; der eine oder andere hätte es verdient -, aber
es würde uns strukturell belasten.
Wir machen deshalb sehr viel im Bereich Denkmalschutz. Es gibt ein Denkmalschutz-Sonderprogramm.
Dieses hat einen mehrfachen Nutzen. Die 30 Millionen
Euro, die wir dort investieren, können Sie im Prinzip
beim Programm „Soziale Stadt“ mitverbuchen, weil
Denkmäler in Kommunen die Selbstidentifizierung ermöglichen. Das ist der eine Grund. Der zweite Grund ist:
Wir geben keine Mittel, wenn es nicht ein Nutzungskonzept für ein Denkmal gibt. In aller Regel geht es um soziale oder kulturelle Zwecke. Das heißt, mit diesem Programm, das natürlich gleichzeitig Wirtschaftsförderung
ist, fördern wir auch das Programm „Soziale Stadt“, und
zwar mit 30 Millionen Euro; dieser finanzielle Umfang
ist in der heutigen Zeit ausgezeichnet.
Wir liefern eine Möglichkeit der kulturellen Entfaltung. Das ist wichtig. Bürgerliche Politik ist so zu beschreiben, dass sie Identitäten und Individualität fördert.
Alles, was extrem links oder extrem rechts von bürgerlicher Politik liegt, löst diese zugunsten einer gefährlichen Schimäre, eines kollektiven Gesamtbildes auf.
({2})
Das heißt - das ist das Interessante -, dass in der Kulturszene das Persönlich-Politische häufiger in das eine oder
andere Extrem gehen mag, aber die Möglichkeiten und
Arbeitsbedingungen sind innerhalb eines bürgerlich demokratischen Systems am größten, weil hier die Freiheiten betont und nicht infrage gestellt werden, weil Kunst
und Kultur nicht für einen Verkündungsauftrag missbraucht werden. Das ist, glaube ich, wichtig in der Debatte um das Leitbild sozialer Gesellschaften.
In einer Welt, in der wir hinsichtlich der Bevölkerungszahlen und der Wirtschaftskraft nicht mehr die Bedeutendsten sein werden, ist es natürlich wichtig, dass
wir ein Ort sind, der anregt und der aufgrund seiner bewahrten und in die Zukunft geführten kulturellen Kompetenz attraktiv ist, sodass viele Menschen an diesen Ort
kommen, um mit uns gemeinsam Zukunft zu gestalten.
Danke.
({3})
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Petra Merkel. Bitte schön, Frau Kollegin Petra Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Staatsminister Neumann, ich bin sehr froh, dass Sie wieder
hier sind. Ich freue mich, dass Sie genesen sind und dass
wir gemeinsam über den Kulturbereich diskutieren können.
Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat in den
Haushaltsberatungen eine Reihe von Änderungsanträgen
eingebracht, um ein Bildungspaket umzusetzen, den nationalen Pakt für Bildung und Entschuldung. Dieser Pakt
sieht jährlich Ausgaben in Höhe von 2 Milliarden Euro
vor; bis 2016 sind Mehrausgaben im Bildungsbereich in
Höhe von 10 Milliarden Euro vorgesehen. Meine Kolleginnen und Kollegen werden, wenn es um die einzelnen
Etats geht, auf diesen Bildungspakt zurückkommen und
auch über den Entschuldungspakt reden. Insofern fasse
ich mich hier kurz.
Bildung heißt selbstverständlich auch kulturelle Bildung. Auch für den Etat des Beauftragten für Kultur und
Medien haben wir Mittel eingeplant. Unser Konzept
sieht für die Bereiche Medienkompetenz, Integration
und Fortbildung zusätzliche Mittel in Höhe von 5 Millionen Euro vor, 2 Millionen Euro davon sollten für Jugendprojekte und für Projekte zur medialen Bildung von
Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden, und
0,5 Millionen Euro hatten wir für die Medienkompetenzforschung vorgesehen. Es ist bedauerlich, dass die Koalitionsfraktionen diesen Anträgen nicht zugestimmt haben.
Wir jedoch haben einigen Anträgen der Koalitionsfraktionen zugestimmt. Drei Beispiele dazu: 30 Millionen
Euro für ein Denkmalschutz-Sonderprogramm - dazu
werde ich gleich noch kommen -, 2,5 Millionen Euro für
die Weiterförderung der Völklinger Hütte und zusätzliche Mittel für das Haus der Kulturen der Welt, nämlich
3,3 Millionen Euro für ein mehrjähriges Projekt.
({0})
Ich möchte ein weiteres Thema ansprechen, mit dem
ich seit Jahren immer wieder in Berührung komme und
von dem ich meine, dass es eine größere Bedeutung hat,
als wir ihm beimessen: die Bewahrung von Kulturgut.
Viele Stücke sind in einem so schlechten Zustand, dass
man um ihren Erhalt bangen muss, viele sind kontaminiert, sodass sie gar nicht ausgestellt werden können,
und viele Exponate, die in Museen lagern, lösen sich
leise und langsam auf. Kunstwerke und Schätze aus Papier, Textilien oder Holz sind von Zerfall und Zersetzung
bedroht. Skulpturen und Gemälde sind der Zerstörung
durch Klima- und Umweltgifte ausgesetzt.
Die Bewahrung von Kulturgut geschieht auf mehreren Ebenen: durch Untersuchungsmethoden, die Exponate nicht zerstören, durch Messungen, bei denen Schadstoffe entdeckt werden, und durch dauerhafte Sicherung
von Exponaten. Sie können sich vorstellen, dass dringend Forschungsmittel nötig sind, um in diesen Bereichen tätig zu werden, weil jedes Material eine andere
Behandlung braucht.
In Deutschland haben wir kompetente Einrichtungen,
die sich mit diesem Thema befassen, zum Beispiel die
Forschungsallianz Kulturerbe, eine Kooperation zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Fraunhofer-Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft, die
BAM, die Bundesanstalt für Materialforschung und prüfung, das Netzwerk zur interdisziplinären Kulturguterhaltung in Deutschland, N.i.Ke., und die Deutsche
Bundesstiftung Umwelt. Die Arbeiten dieser Institutionen sollten Sie, Herr Staatsminister Neumann, mit dem
Kulturetat unterstützen und verstärken.
Ich komme zu den denkmalgeschützten Gebäuden.
Den Regierungsfraktionen ist es erneut gelungen, ein
Sonderprogramm aufzulegen; das begrüße ich sehr.
Petra Merkel ({1})
({2})
Die beiden letzten Programme waren sehr erfolgreich
und haben in Deutschland sichtbare Spuren hinterlassen.
({3})
30 Millionen Euro stehen nun 2012 für die Sanierung
denkmalgeschützter Bauten zur Verfügung. Sehr gut an
diesem Programm ist übrigens, dass sich sowohl Kommunen als auch Länder und Private beteiligen und so aus
den 30 Millionen Euro fast 60 Millionen Euro werden
können. Das ist gut investiertes Geld; denn es kommt sowohl den Regionen als auch dem vor Ort tätigen Handwerk zugute.
({4})
Bei der energetischen Sanierung denkmalgeschützter
Bauten hakt es allerdings. Wie viel hätte man gewonnen,
wenn man Energieeffizienz auch schon bei der Sanierung berücksichtigen würde? Hier mein Appell an den
Beauftragten für Kultur und Medien: Tun Sie etwas,
auch mit Mitteln aus diesem Sonderprogramm! Nutzen
Sie die Energiewende, und unterstützen Sie energieeffizientes Sanieren!
({5})
Unterstützen Sie die Forschung in diesem Bereich, und
unterstützen Sie Kooperationen auch im Denkmalschutz! Das sind keine Mittel, die ausschließlich für Orchideen, die in irgendeinem Zusammenhang mit denkmalgeschützten Gebäuden stehen, bereitgestellt werden,
sondern es geht um Verfahren, die man, wenn sie entwickelt worden sind, auch bei ganz normalen Objekten anwenden kann. Übrigens: Sie schaffen auch Arbeitsplätze.
({6})
Es passiert bereits etwas auf diesem Gebiet. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt zum Beispiel veranstaltet
im Dezember dieses Jahres eine Tagung zum Thema
Denkmal und Energie. Auf das Ergebnis bin ich gespannt.
({7})
Und: Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz
hat in einem Positionspapier im April dieses Jahres
Handlungsfelder zur energetischen Sanierung aufgezeigt, die ich sehr gut finde. Auch hier könnte man mit
dem Kulturetat Impulse setzen.
({8})
Noch sind wir in Deutschland bei der Entwicklung
von Verfahren zur Sanierung von Kulturgut spitze. Damit das so bleibt, brauchen wir aber weiter Forschungsmittel, um die Entwicklung neuer Techniken und Technologien voranzutreiben. Diese Chancen müssen wir
nutzen.
Kultur hört ja nicht an Grenzen auf - auch nicht an
der deutschen Grenze -, und die deutsche Kulturpolitik
ebenfalls nicht. Deswegen weise ich kurz auf eine Never-ending Story hin: Tarabya, die Künstlerakademie,
konnte im Oktober in Istanbul eröffnet werden. Bis allerdings die ersten Künstlerinnen und Künstler dort einziehen, wird es noch ein wenig dauern. Nach einigen Widerständen und nach dem Einsatz der Kolleginnen und
Kollegen aus dem Unterausschuss „Auswärtige Kulturund Bildungspolitik“ ist es gelungen, dieses Projekt in
die Spur zu bringen.
({9})
Ich möchte Herrn Staatsminister Neumann für die
gute Zusammenarbeit danken. In diesen Dank schließe
ich selbstverständlich sein Haus und das Haushaltsreferat ganz besonders mit ein. Ich danke auch meinen Kolleginnen und Kollegen sowie meiner Mitberichterstatterin und meinen Mitberichterstattern.
Zum Schluss will ich noch ein anderes Thema ansprechen. Ich danke Professor Parzinger und Michael Naumann an dieser Stelle ganz besonders. Beide haben in
hervorragender Art und Weise gegen die von Vivien
Stein in ihrem Buch Heinz Berggruen: Leben & Legende
vorgebrachten Diffamierungen Stellung bezogen und
den Vorwürfen widersprochen. Beide haben mir aus der
Seele gesprochen.
({10})
Ich bin noch immer froh, dass sich Heinz Berggruen
entschlossen hatte, nach Deutschland zurückzukehren,
und dass er nach Berlin zurückgekommen ist. Ich bin
auch sehr froh darüber, dass der Erweiterungsbau des
Museums Berggruen aus Bundesmitteln finanziert wird
und im Sommer nächsten Jahres eröffnet werden kann.
({11})
Ich bedanke mich bei der Familie Berggruen für ihr großes Engagement in Berlin und bei Ihnen für Ihr Zuhören.
Danke sehr.
({12})
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
unser Kollege Wolfgang Börnsen. Bitte schön, Kollege
Wolfgang Börnsen.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Petra Merkel, ich möchte Ihnen für die konstruktive,
wenn auch kritische, und sehr anerkennende Rede herzlich danken. Das ist nicht selbstverständlich.
({0})
Was bleibt, ist die Kultur. Ob der Kölner Dom, die
Volkslieder unseres Landes, der Faust von Goethe, dieser Reichstag hier oder Beethovens Ode an die Freude:
Was bleibt, ist die Kultur. Die Kultur ist das Fundament
unserer Gesellschaft. Sie gibt Menschen Orientierung
und Identität, sie schafft Lebensmut und Lebensfreude.
Deshalb ist es angemessen, die Kultur hier im Rahmen
des Kanzleretats zu diskutieren. Hier gehört sie hin.
({1})
Deutschland, unser Land, ist ein kraftvolles, ein kreatives, ein vitales Kulturland.
({2})
Es sind die Künstlerinnen und Künstler, die Kulturschaffenden, die schöpferischen Mitbürger, die diesen Reichtum unseres Landes ausmachen. Sie tragen zur Lebendigkeit, aber auch Einheit unserer Gesellschaft bei, zu
Integration, Zufriedenheit und Lebensperspektive. Ihnen
haben wir ganz besonders für ihren Einsatz hier zu danken.
({3})
Doch auch die Arrangeure der Kultur - die Dirigenten, die Galeristen, die Regisseure, die Bibliothekare,
aber auch die Kassiererin in einer Volkstanzgruppe - gehören dazu; denn ohne sie wäre Kultur für alle von allen
nicht zu realisieren. Auch ihnen gilt deshalb unser Dank.
({4})
Der Preis, den wir für diese Leistung zu zahlen haben,
ist relativ klein. Er entspricht 1,9 Prozent des Volumens
aller Haushalte - mehr nicht. 9 Milliarden Euro geben
Bund, Länder und Gemeinden in Deutschland für die
Kultur aus. Die Gemeinden und die Länder tragen daran
den Hauptanteil.
Wenn man nur einmal die Musikkultur als Beispiel
nimmt, dann kann man erkennen, wie wichtig, notwendig und ertragreich dieser Einsatz ist: Über 50 000 Chöre
beleben unsere Gesellschaft, es gibt die gleiche Anzahl
informeller Musikvereinigungen, also insgesamt über
100 000 Gruppen. Es gibt 750 erstklassige Orchester und
Musiktheater und 50 000 Rock-, Jazz- und Popbands.
Wir haben die reichhaltigste Musikszene in Europa.
Nicht zu vergessen: 40 Millionen Kulturtouristen kommen jährlich nach Deutschland, um diesen Reichtum zu
genießen. Das bringt insgesamt 85 Milliarden Euro an
Einnahmen für unser Land.
Sie hier im Parlament tragen durch Ihre Entscheidung
zur Kulturattraktivität unseres Landes bei. Dabei ist die
Höhe des Kulturetats die Gretchenfrage. Mit der Entscheidung von heute und von dieser Woche erfährt der
Haushalt von Staatsminister Bernd Neumann seine
siebte Steigerung im siebten Jahr. Unser Bremer Kollege
kann eine noch nie dagewesene Erfolgsgeschichte verbuchen. Danke!
({5})
Dahinter stecken trotz eines lahmen Beines unermüdlicher Einsatz, viel Geschick und kluge Diplomatie. Herzlichen Dank und weiterhin gute Genesung!
({6})
Auch die Beibehaltung des verminderten Mehrwertsteuersatzes gehört dazu. Sie sichert die Existenz für
viele Kulturschaffende. Die Buchpreisbindung gehört
ebenso dazu. Alle diese Fundamente müssen wir sichern
und dürfen sie nicht abbauen. Was sich hier so locker
vom Pult verkünden lässt, ist immer im Wettbewerb mit
anderen Politikbereichen durchzusetzen. Gleich ob Sicherheit oder Soziales, Finanzkonsolidierung, Forschung
oder Bildung: Sie alle sind von grundlegender Bedeutung.
Ich bedanke mich bei meinen Kollegen im Haushaltsausschuss: Jürgen Koppelin, Petra Merkel, Rüdiger
Kruse und Herbert Frankenhauser.
({7})
Sie alle haben eine Lanze für die Kultur gebrochen, weil
sie davon überzeugt sind, dass sie das Fundament unserer Gesellschaft bleiben soll. Das gilt auch für die Kollegen der Opposition im Haushaltsausschuss.
({8})
Der Zugewinn, den wir für die Kultur haben, ist ein
Zugewinn für unsere Gesellschaft, aber der Preis dafür
- damit komme ich zum Schluss - ist die Neuverschuldung. Das ist mehr als ein Schönheitsfehler. Auch wenn
unser Anteil nur minimal ist, wäre es doch gerechtfertigt,
dass wir in unseren Überlegungen maßvoll sind. Wir als
Kulturpolitiker haben nicht nur eine Fach-, sondern auch
eine Gesamtverantwortung.
Ich bedanke mich.
({9})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Dr. Lukrezia Jochimsen. Bitte schön,
Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
setze jetzt die Ode an die Kultur des Kollegen Börnsen
auf etwas andere Art und Weise fort.
Es ist eben die Kultur, die unser Wertefundament
bildet. Es sind die Künste, die … ganz wesentlich
die Basis unseres Gemeinwesens bilden.
Wer hat das wohl gesagt? - Richtig, Staatsminister Neumann, hier an dieser Stelle in seiner Rede zum Kulturhaushalt in erster Lesung. Wie wahr ist diese Bewertung.
Wie doppelt wahr klingt sie uns jetzt in einer Zeit, da wir
mit blankem Entsetzen das mörderische und unerkannte
Treiben von Rechtsterroristen in unserem Land zur
Kenntnis nehmen müssen.
Das Gebot der Stunde heißt doch: Wie machen wir
die Kultur tatsächlich zu unserem Wertefundament? Wie
fördern und stärken wir die Künstlerinnen und Künstler
in unserem Land, dass die Künste tatsächlich die Basis
unseres Gemeinwesens bilden können?
({0})
Das erreichen wir nicht mit einem pompösen Schlossbau in Berlin samt einem Freiheits- und Einheitsdenkmal
auf dem Platz davor.
({1})
Das erreichen wir erst recht nicht mit fortgesetzter Finanzierung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, in der der Zentralrat der Juden seine Mitarbeit ruhen lässt und Vertreter von Roma und Sinti gar nicht erst
vorgesehen sind. Das erreichen wir auch nicht mit einem
satten Zuschuss von 2,2 Millionen Euro pro Jahr für die
Bayreuther Festspiele.
({2})
Was wir brauchen, ist zweierlei:
Erstens. Kulturelle Bildung unserer Kinder, und zwar
Bildung gegen Rassismus und Gewalt von früh an,
wohlgemerkt: für alle unsere Kinder.
({3})
Diese kulturelle Bildung muss in unserem Land und damit in der Kulturpolitik einen neuen Stellenwert erhalten.
Ich weiß, dass im Etat des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zusätzliches Geld für
weitere Modellprojekte zur Verfügung steht. Aber Modellprojekte reichen nicht aus. Es muss eine echte Bildungskampagne für Kinder und Jugendliche auf den
Weg gebracht werden. Ich habe das schon vor drei Jahren an dieser Stelle eingefordert. Heute gilt diese Forderung brennender denn je. Kinder und Jugendliche dürfen
den braunen Verführern nicht länger zur Beute werden.
({4})
Die jahrelang unerkannte Nazi-Mordserie in unserem
Land ist doch auch eine geistige und kulturelle Krise. Es
ist nicht nur eine Krise der Behörden, der Verfassungsämter und der Polizei, nein, es ist auch eine geistige und
kulturelle Krise.
({5})
Zweitens. Ohne Künstlerinnen und Künstler gibt es
keine Künste. Deshalb müssen endlich Schritte unternommen werden, die soziale Lage der Kulturschaffenden entscheidend und wirksam zu verbessern. Um die
Misere wissen alle Verantwortlichen nun lange genug.
({6})
Es geht um Initiativen, Gesetze und Umdenken statt nur
um Einzelförderung oder Preise. Darüber müssen sich
der Staatsminister, die Kulturpolitiker aller Fraktionen
und der Kulturausschuss in einer Zeit wie dieser klar
werden und sich aufs Handeln verständigen.
Zum Schluss in diesem Zusammenhang ein Beispiel:
In Weimar gibt es seit Jahren ein renommiertes Kunstfest. Eröffnet wird es stets mit dem großen Orchesterkonzert „Gedächtnis Buchenwald“, kostenlos und zugänglich für alle, und einer Gedenkveranstaltung für die
Opfer des KZ. An keinem anderen Ort in Deutschland
gehen Kunst und Erinnern so direkt ineinander über.
Für dieses Kunstfest, vom Land Thüringen, der Stadt
Weimar und bisher zeitlich begrenzt von der Bundeskulturstiftung gefördert, wurde für 2012, von der SPD und
auch von uns unterstützt, ein Antrag auf Mitfinanzierung
durch den Bund in Höhe von 500 000 Euro gestellt. Die
Koalition lehnte ab. Staatsminister Neumann sagte gegenüber der Thüringischen Landeszeitung, er fördere nur
nachhaltige Projekte; ob das Kunstfest über 2013 hinaus
existiere, sei nicht sichergestellt. Aber es geht doch um
das Jahr 2012. Welch eine Logik und welch ein Schaden
für ein Projekt, das wir in diesen Zeiten dringender brauchen denn je! Bitte lassen Sie uns umdenken.
({7})
Nächster Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion
der FDP unser Kollege Reiner Deutschmann. Bitte
schön, Kollege Deutschmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag haben Union
und FDP vor zwei Jahren Folgendes geschrieben - ich
zitiere -:
Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eine
unverzichtbare Investition in die Zukunft unserer
Gesellschaft.
Dazu bekennen wir uns auch ausdrücklich in Zeiten der
Euro-Krise. Der Kulturhaushalt wächst, und das schon
seit Jahren. Für 2012 stehen 5,1 Prozent mehr Mittel zur
Verfügung.
Ich möchte Kulturstaatsminister Bernd Neumann sowie allen Beteiligten, insbesondere aber auch dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages für die in
Zeiten des Sparens nicht selbstverständliche Erhöhung
des Kulturetats danken. Der Deutsche Bundestag setzt
damit ein starkes Zeichen, dass der Förderung von Kunst
und Kultur in Deutschland ein besonderer Stellenwert
zukommt. Ich würde mir wünschen, dass eine solche
Prioritätensetzung in absehbarer Zeit auch in allen Ländern und Kommunen zum Normalfall wird.
({0})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, in diesen
Zeiten kann man sicherlich nicht alle Ziele umsetzen, die
man sich zu Beginn der Haushaltsberatungen gesetzt hat.
Die Rückführung der Staatsschulden im Rahmen der
Schuldenbremse hat absoluten Vorrang. Dennoch ist es
uns gelungen, einige wichtige Projekte in den Haushalt
2012 neu aufzunehmen oder zu verlängern.
Herausragend ist gewiss die bereits genannte Verlängerung des Denkmalschutzprogramms. Zur Substanzerhaltung und Restaurierung stehen nun zusätzliche 30 Millionen Euro zur Verfügung. Damit wird dem Verfall wichtiger
Kulturgüter von nationalem Rang weiter Einhalt geboten.
Ich denke, wir zollen damit auch dem kürzlich verstorbenen und von uns allen verehrten Professor Dr. Kiesow
und der von ihm lange Jahre geleiteten Deutschen Stiftung Denkmalschutz unseren besonderen Respekt und
zeigen unsere Anerkennung;
({1})
denn gerade dort, wo der Staat mit gutem Beispiel vorangeht, engagiert sich auch die Zivilgesellschaft.
Eine weitere Erhöhung betrifft den Haushalt des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Der BStU kann so
beispielsweise in einen zukunftsorientierten Internetauftritt investieren. Durch diese Neugestaltung wird mehr
Informationsmaterial für Kinder und Jugendliche bereitgestellt, und es gibt spezielle Seiten für die Lehrerfortbildung. Zudem wird der BStU - dem Gedenkstättenkonzept
entsprechend - zusammen mit der Antistalinistischen
Aktion ein Dokumentations- und Bildungszentrum im
Haus 1, Normannenstraße, aufbauen, eine Dauerausstellung, die die Funktion des Ministeriums für Staatssicherheit im System der SED-Diktatur darstellen wird.
Entscheidend wird auch in der Normannenstraße, wie
im Netz, der Dialog mit der jungen Generation sein. Hier
möchte ich Roland Jahn zitieren, der in seiner Antrittsrede im März sagte:
Je besser wir begreifen, wie die Diktatur in der
DDR im Alltag funktioniert hat, desto besser können wir, hier und heute, Demokratie gestalten.
({2})
Nicht zuletzt ist es uns auch gelungen, etwas für den
Schutz einer besonderen Welterbestätte in Deutschland
zu tun. Für dringend notwendige Investitionen in das
Weltkulturerbe Völklinger Hütte im Saarland wird ein
Zuschuss von 2,5 Millionen Euro gewährt. Damit wird
etwas getan für den Erhalt eines Wahrzeichens der Ingenieurbaukunst, das bereits 1994 von der UNESCO in die
Liste der Welterbestätten aufgenommen wurde.
Ohne ins Detail zu gehen, möchte ich dem Haushaltsausschuss auch besonders dafür danken, dass er der Stiftung TANZ-Transition und dem Gleimhaus in Halberstadt Gelder zur Verfügung gestellt hat. Die Stiftung
TANZ-Transition hilft Tänzerinnen und Tänzern nach
dem Ende ihrer körperlich sehr fordernden Tanzkarriere,
ein neues Erwerbsfeld zu finden. Das Gleimhaus in Halberstadt steht als Stätte der Aufklärung und ist im Blaubuch der Bundesregierung verzeichnet. Anlässlich des
150-jährigen Jubiläums im Jahr 2012 wird dort eine
große Sonderausstellung unter dem Titel „Tempel der
Freundschaft, Schule der Humanität, Museum der Aufklärung“ stattfinden.
Zum Schluss möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass
im Etat des Bundeswirtschaftsministers wieder 3,5 Millionen Euro für die vielfältigen Aktivitäten der Initiative
Kultur- und Kreativwirtschaft eingestellt sind. Hervorzuheben ist hier die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen dem BMWi und dem BKM.
Abschließend und nach vorne blickend, hoffe ich,
dass es uns auch im nächsten Jahr gelingen wird, einen
so ausgewogenen und in die Zukunft weisenden Kulturhaushalt aufzustellen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Letzte Rednerin unserer Debatte ist unsere Kollegin
Frau Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. - Ich wäre sehr dankbar, wenn wir der Rednerin
noch die gebotene Aufmerksamkeit schenken würden.
Danke, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen und
Herren! Freie Kunst und freie Presse sind die Säulen einer Demokratie. Gerade in Zeiten wie diesen ist es deshalb unsere Aufgabe, diese Pfeiler zu stabilisieren. Wir
können und sollten nicht das Schreiben für den Journalisten übernehmen oder der Bildhauerin den Meißel führen. Das Grundgesetz schützt Kunst und Presse vor
staatlichem Einfluss - und das ist auch gut so.
({0})
Aber wir haben die Möglichkeit, Leitplanken zu setzen. Ein Beispiel: Das Presse-Grosso ist in Gefahr. Dabei ist dieses Vertriebssystem ein wichtiger Garant für
die Pressevielfalt in Deutschland. Ob klein oder groß:
Jeder Verlag hat mit seinen Zeitungen den gleichen Zu16946
gang zum Verkaufsregal. Doch jetzt will ein großer Verlag aussteigen. Ich frage Sie, was die Bundesregierung
plant, um das seit 60 Jahren bewährte System zu erhalten. Hier müsste eine neue Leitplanke gesetzt werden.
({1})
Die Presse ist in der Krise, Auflagen sinken, Lokalredaktionen werden geschlossen und Personal wird abgebaut. Eine gute Berichterstattung wird immer schwieriger. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es noch genau
drei Regionalzeitungen. Dort, wo demokratische Medien
fehlen, verteilt die NPD Gratisblätter an alle Haushalte.
Deshalb brauchen wir starke Medien vor Ort, die informieren, die aufklären und die den Rechten die Maske abreißen.
({2})
Wie reagiert die Bundesregierung? Sie legt einen Gesetzentwurf zur Pressefusionskontrolle auf den Tisch.
Aber ob das den kleinen Verlagen wirklich helfen wird,
bezweifle ich. Sie können damit nur leichter von den
Großen geschluckt werden. Nun kann man sagen: Das
ist völlig normal in den Märkten. - Aber weil der
Medienmarkt so sensibel ist, braucht er besondere Regulierungen. Um aber den Verlust an Vielfalt in der Presselandschaft zu verhindern, sind erleichterte Übernahmebedingungen der völlig falsche Weg.
Es stellt sich die Frage, wie Zeitungen - oder besser:
wie Journalismus - zukünftig überhaupt finanziert werden können, gerade angesichts der immer größeren Nutzung des Internets. Die Bundesregierung hat darauf seit
Beginn ihrer Amtszeit nur eine Antwort: das Leistungsschutzrecht. Diese Antwort predigt die Kanzlerin bei allen Verlegertreffen wie das neue Evangelium der Presse.
Ein Leistungsschutzrecht würde Verlage aber nicht retten und käme vor allem wieder nur den Großen zugute,
ganz abgesehen von den rechtlichen Unklarheiten und
der Frage, wie viel von den geplanten Einnahmen eigentlich bei den Journalisten selbst ankäme.
Offenbar hat sich ein Teil der Koalition unserer Meinung angeschlossen, dass dieses Gesetz nichts bringt.
Daher mein Rat: Lassen Sie diesen Gesetzentwurf in der
Schublade und kümmern Sie sich um die relevanten Fragen!
({3})
Aber auch diese wollen Sie leider nicht angehen.
In der Internet-Enquete sollte ein Gutachten über
neue Geschäftsmodelle in Auftrag gegeben werden. Wir
hatten uns darauf geeinigt, und Gutachter wurden angefragt. Aber kurz vor der endgültigen Beauftragung wird
das Ganze abgeblasen. Dazu kann ich nur sagen: Es geht
Ihnen gar nicht um die Sache. Sie wollen nicht in die Zukunft denken. Sie verharren in der Vergangenheit.
Auch von Ihnen, Herr Staatsminister Neumann, habe
ich auf diese brennenden Fragen bisher keine Antworten
erhalten. Dabei ist gerade Ihr Ressort ein wichtiges Ressort für unsere Demokratie. Aber dem werden Sie leider
nicht gerecht. Weder befördern Sie die Debatte um Medienvielfalt noch unterstützen Sie den Kulturbereich in
seinem Beitrag für Demokratie.
Sie könnten in Ihrem Haushalt zum Beispiel ein Forschungsprojekt des Archivs für Jugendkulturen fördern.
Dort werden pädagogische Konzepte entwickelt, die im
künstlerischen Diskurs Diskriminierung, Gewalt und
Rassismus entgegenwirken sollen. Unseren Antrag dazu
haben Sie aber abgelehnt. Dass die Bundesregierung ein
Jugendkulturprojekt gegen Rechtsextremismus nicht fördern will, ist insbesondere vor dem aktuellen Hintergrund das absolut falsche Signal.
({4})
Luc Jochimsen hat darauf hingewiesen: Demokratiebildung ist auch eine kulturpolitische Aufgabe.
Ähnlich wie bei den Zeitungen stoßen auch an Orten,
wo das kulturelle Leben tot ist, Rechtsextreme in diese
Lücken und verbreiten in Konzerten ihre Hasslieder.
Deshalb brauchen wir gerade dort soziokulturelle Zentren, die das Wegbrechen der Kultur verhindern.
({5})
Durch eine Aufstockung des Fonds „Soziokultur“ und
durch eine Stärkung der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren könnten Sie sich deutlich positionieren.
Doch auch das tun Sie nicht.
Die Bundesregierung ist mit der Maßgabe angetreten,
die tragenden Säulen der Demokratie für die Zukunft zu
festigen. Aber nach der Hälfte der Legislaturperiode
bleibt leider nur das Fazit: Sie können nicht einmal den
Beton dafür anmischen.
Vielen Dank.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmel-
dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen damit zur namentlichen Abstimmung
über den Einzelplan 04, Bundeskanzlerin und Bundes-
kanzleramt, in der Ausschussfassung. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze besetzt? - Das ist
der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
1) Ergebnis Seite 16948 D
Vizepräsident Eduard Oswald
Darf ich Sie bitten, die Plätze wieder einzunehmen? Wir fahren fort.
Ich rufe den Punkt II.11 auf:
Einzelplan 05
Auswärtiges Amt
- Drucksachen 17/7105, 17/7123 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sven-Christian Kindler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Klaus Brandner. Bitte schön, Kollege Klaus
Brandner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Bevor ich zum Einzelplan des Auswärtigen Amtes
komme, möchte ich es nicht versäumen, Dr. Morhard,
dem Leiter des für den Haushalt zuständigen Referats,
und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die offene, präzise und konstruktive Zusammenarbeit zu danken. Das beziehe ich aber auch auf den Minister und sein
Umfeld. Ich denke, dass es in der kurzen Zeit zwischen
dem Berichterstattergespräch und der Ausschusssitzung
- dazwischen lag nur eine Woche - sehr viel Arbeit zu
erledigen gab. Das ist mit großer Präzision und Sorgfalt
geschehen. Dafür herzlichen Dank!
({0})
Bevor ich auf die Eckpunkte des Haushalts 2012 eingehe, möchte ich zwei Entwicklungen ansprechen, die
die Beratungen und die Zukunft des Auswärtigen Amts
tangieren.
Die erste Entwicklung ist die UNESCO-Irritation.
Viele rätseln bis heute, warum es zu der unglücklichen
Irritation durch die angekündigte Sperrung sämtlicher
UNESCO-Beiträge kam. Wir Sozialdemokraten waren
am Morgen der Bereinigungssitzung sehr überrascht, die
Anträge der Koalition auf Sperrvermerke über alle
UNESCO-Positionen über eine Höhe von immerhin
10,8 Millionen Euro zu hören. Erfreulicherweise hat die
Koalition, namentlich die Kollegen Frankenhauser und
Koppelin, diese Anträge sehr schnell zurückgezogen. Ich
finde, dieser Vorstoß war ein kapitaler Fehler.
({1})
Es ist gut, dass die Anträge zurückgezogen worden sind.
Kollege Stinner wurde in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung mit der Aussage zitiert, dass dies ein falsches
Signal war, das nach außen gesendet worden ist. Damit
hat der Kollege Stinner, wie ich meine, uneingeschränkt
recht.
({2})
Ich sprach von zwei Entwicklungen. Ein Zweites hat
Irritationen ausgelöst, nämlich die Kooperationsvereinbarung des BMZ mit dem AA. Das war eine weitere
Überraschung, die unmittelbar nach der Bereinigungssitzung auf den Tisch kam. Wir hatten den Haushalt AA
2012 abgeschlossen - „geschlossen“, wie es formal
heißt -, und dann erreichte uns eine Mail mit weitreichenden und finalisierenden Kooperationsregelungen
zwischen BMZ und AA. Darüber wurde in der gesamten
Beratungszeit nicht ein Wort verloren. Ich will dazu zwei
Dinge feststellen, erstens eine politische Bewertung und
zweitens eine formale Bewertung vornehmen.
Die politische Bewertung. Im gestrigen Berichterstattergespräch haben wir Fragen zur Umsetzung der Kooperationsvereinbarung besprochen und vorberaten. Ich
darf an dieser Stelle dem Minister danken, dass er an einem Punkt gleich eingelenkt hat. Er hat klargestellt, dass
die Förderkriterien und Modalitäten für die politischen
Stiftungen, sofern sie für ihre Tätigkeit in Osteuropa
künftig über das AA finanziert werden sollten, an die
Förderkriterien des BMZ angepasst werden, dass diese
also übernommen werden. Damit hat er zumindest einen
Beitrag zur Beruhigung in der Stiftungsszene geleistet.
Dafür darf ich Ihnen an dieser Stelle danken, Herr Minister.
Ich will ein Weiteres sagen. Völlig unverständlich erscheint mir zum Beispiel die Regelung in Punkt 11 der
Vereinbarung, und da werde ich unruhig. Ich zitiere:
AA unterstützt den Wunsch des BMZ, innerhalb
der Bundesregierung die ODA-Koordinierung als
Kernkompetenz zu übernehmen, und geht davon
aus, dass BMZ sich bei der ODA-Koordinierung regelmäßig mit AA abstimmt.
Wenn ich an die politischen Freundschaften innerhalb
Ihrer Partei momentan und die Vergangenheit des Ministers denke, dann tut mir der Minister wirklich leid. Wenn
man Kernkompetenzen an ein anderes Ministerium überträgt, das in der Sache außenpolitisch wichtige Weichenstellungen vornimmt, dann habe ich große Sorgen dahin
gehend, welche Abstimmungsschrammen und welche
Auseinandersetzungen zwischen den Häusern, insbesondere zulasten des AA, entstehen können.
({3})
Mir reicht es nicht aus - das will ich an dieser Stelle sagen -, festzustellen, dass Kernkompetenzen abgegeben
werden; denn Sie sagen ja selbst in der Vereinbarung: Es
ist davon auszugehen, dass eine Abstimmung erfolgt. Es ist davon auszugehen! Die Abstimmung muss gar
nicht zwingend erfolgen.
Wer den Aufwuchs des Etats des Auswärtigen Amts
sieht - er besteht in diesem Jahr fast ausschließlich aus
ODA-Mitteln; von dem Aufwuchs von 203 Millionen
Euro sind 190 Millionen Euro ODA-Mittel -, der erkennt, dass diese Mittel für das AA elementar sind, und
hat große Sorge, dass auf diese Art und Weise die Politik
des AA nicht mehr so unabhängig sein kann, wie wir sie
uns wünschen.
({4})
Ich will zu den Eckpunkten des Haushalts 2012 kommen. Lassen Sie mich dazu einen Bogen schlagen und
auf den Etat generell eingehen. Der Etat steigt um etwa
6,5 Prozent. Dadurch entstehen neue Handlungsspielräume für das AA, die genutzt werden müssen. Wir begrüßen das uneingeschränkt. Insofern ist es schön, dass
der Etat in diesem Jahr so deutlich wächst. Damit werden essenzielle Außenpolitikfelder wie zum Beispiel die
Sicherung von Frieden und Stabilität wieder gestärkt. So
wurden zum Beispiel die Mittel für den Titel für Krisenprävention und friedenserhaltende Maßnahmen von
90 Millionen Euro auf 120 Millionen Euro angehoben.
Das entspricht einer langjährigen Forderung der Sozialdemokraten. Wir begrüßen dies ausdrücklich.
Aber ich will an dieser Stelle gleich sagen, dass bei
allen neuen Handlungsspielräumen in diesem Bereich
durch die Kooperationsvereinbarung zwischen BMZ und
AA im Titel des BMZ 15 Millionen Euro wieder abgezogen werden sollen, ohne zu wissen, welche Maßnahmen
betroffen sind, die dann nicht mehr oder nur noch eingeschränkt durchgeführt werden können. Es fehlt letztlich
an einem schlüssigen Konzept. Ein solches ist dringend
anzumahnen. Ich bin dankbar, dass auch die Koalitionskollegen auf Initiative des Kollegen Frankenhauser einen entsprechenden Änderungsantrag in der nächsten
Haushaltsausschusssitzung einbringen werden, um
schnellstens das Programm für diese Vereinbarung zu erhalten, damit wir entsprechend politisch agieren können.
Ich möchte nun auf die Transformationspartnerschaft
mit Nordafrika und dem Nahen Osten zu sprechen kommen. Ausdrücklich begrüße ich, auch als Vorsitzender
der Deutsch-Ägyptischen Parlamentariergruppe, dass für
2012 und 2013 zusätzlich 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Aber auch das sind wiederum
ODA-Mittel. Wenn die Kernkompetenzen für diese Aufgaben beim BMZ liegen und nicht mehr beim AA, dann
muss man sich fragen, wie diese Aktivitäten, die wichtige Projekte und Maßnahmen zur Förderung der jungen
Demokratie auf den Weg bringen, zukünftig erfolgen
können.
({5})
Ich gehe jedenfalls davon aus, meine Damen und Herren, dass hier dringend für Klarheit gesorgt werden
muss; denn der Demokratisierungs- und Transformationsprozess braucht einen langen Atem. Er braucht im
Übrigen auch längere Finanzierungszeiträume als, wie
zurzeit angepeilt, zwei Jahre. Wir Sozialdemokraten stehen dafür, dass Deutschland über mehrere Jahre hinweg
als verlässlicher Partner diesen Prozess unterstützt und
auch in Zukunft weiter unterstützen wird und will.
({6})
Ich möchte noch den Bereich der auswärtigen Kulturund Bildungspolitik ansprechen. Auch hier kann erfreulicherweise eine Rücknahme der im Regierungsentwurf
angekündigten Kürzungen bei den Schulen im Ausland
festgestellt werden. Ich freue mich sehr, dass Sie endlich
Einsicht gezeigt und etwas gegen die mittlerweile chronische Unterfinanzierung der Schulen im Ausland getan
haben. Aber ich will an dieser Stelle auch sagen: Das
darf nicht davon ablenken, dass die Finanzierung dieses
Bereichs im Kern einer Täuschung unterliegt. Denn die
schwarz-gelbe Koalition hat in ihrem politischen Programm vorgesehen, dass in dieser Legislaturperiode
12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung ausgegeben werden sollen. Der Anteil daran für auswärtige Bildung und Forschung im Haushalt des AA ist aber nicht
extra ausgewiesen, sondern verschwindet im Gesamtetat
und dient damit als Verfügungsmasse. Wir bestehen darauf, dass die Mittel sichtbar gemacht werden und an der
richtigen Stelle ankommen.
({7})
Die SPD hat - das möchte ich an dieser Stelle ansprechen - einen Pakt für Bildung und Entschuldung aufgestellt. Dieser setzt verlässliche Schwerpunkte. Er stärkt
die deutschen Auslandsschulen, aber auch die Mittlerorganisationen. Durch diesen Pakt würden im nächsten
Jahr 80 Millionen Euro zusätzlich fließen und bei den
vielen renommierten Bildungsinstitutionen im Ausland
ankommen. Wir hoffen darauf, dass wir bald wieder die
politische Mehrheit haben, um solche Vorhaben in die
Tat umsetzen zu können. Denn Verlässlichkeit ist ein
wichtiges Zeichen unserer Außenpolitik. Dazu gehört
auch die auswärtige Kulturpolitik, für die wir uneingeschränkt stehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum
Einzelplan 04 - Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin
und des Bundeskanzleramtes - bekannt: abgegebene
Stimmen 580, mit Ja haben 319 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 261. Es gab keine Enthaltung.
Der Einzelplan 04 ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 319
nein: 261
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({12})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({17})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({18})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({20})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({21})
Peter Weiß ({22})
Sabine Weiss ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Vizepräsidentin Petra Pau
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({24})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({25})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({28})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({29})
Hans-Joachim Otto
({30})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({31})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({32})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({33})
Gerd Bollmann
Willi Brase
({34})
Marco Bülow
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({35})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({36})
Hubertus Heil ({37})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({38})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({39})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({40})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({41})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({42})
Axel Schäfer ({43})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({44})
Werner Schieder ({45})
Ulla Schmidt ({46})
Silvia Schmidt ({47})
Carsten Schneider ({48})
Swen Schulz ({49})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({50})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Vizepräsidentin Petra Pau
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({53})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Markus Kurth
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({54})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({55})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
In der Debatte zum Einzelplan 05 - Auswärtiges Amt hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion das Wort.
({56})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch außenpolitisch stellt die Euro-Schuldenkrise sicherlich die größte Herausforderung dar, der wir uns gegenwärtig gegenübersehen. Wenn ein kanadischer Kollege zu mir sagt, er habe sich den Wecker gestellt, um
mitzubekommen, wie der Deutsche Bundestag zur EFSF
abstimmt, wenn uns chinesische Finanzpolitiker sagen,
dass Deutschland der Anker ist, an dem das Weltfinanzsystem hängt, dann erkennen wir die außenpolitische Dimension dieser Debatte.
Deshalb ist es ganz wichtig, dass ich für meine Fraktion eingangs feststelle: Selbstverständlich liegt die Zukunft Deutschlands nur in Europa.
({0})
Selbstverständlich kann deutsche Außenpolitik nur europäisch eingebettet denkbar sein. Selbstverständlich werden wir unsere Verantwortung für die Stabilität der europäischen Währung entsprechend wahrnehmen. Etwas
anderes ist für die liberale Partei nicht denkbar.
({1})
Das sind wir vor unserer Geschichte schuldig, vor allem
aber vor den Anforderungen der Zukunft, die nur europäisch denkbar ist.
Das zweite wichtige Thema ist sicherlich der Umbruch in der arabischen Welt. Hier möchte ich gleich eingangs mit einem Missverständnis - um es höflich auszudrücken - aufräumen, nämlich dem Missverständnis im
Rahmen der Anschuldigung, deutsche Außenpolitik sei
hier isoliert. Genau das Gegenteil ist der Fall.
({2})
Von Marokko über Tunesien bis nach Libyen und Ägypten wird Deutschland als wichtiger Partner zur Problemlösung angesehen und herangezogen. Das können Sie
überall in diesen Ländern erkennen.
({3})
- Aber selbstverständlich. Fahren Sie doch nach Kairo,
fahren Sie nach Tunis, dann werden Sie sehen, dass man
dort auf Deutschland schaut. - Nicht ohne Grund ist in
Libyen gefordert worden, dass Deutschland vom ersten
Tage an ein wichtiges Mitglied der Libyen-Kontaktgruppe bleibt. Daher geht der Anwurf der Opposition,
wir seien hier isoliert, völlig ins Leere.
({4})
Ein weiteres Markenzeichen deutscher Außenpolitik
ist die zunehmende Zahl von bilateralen Kooperationen
mit China, Russland, Palästina oder Israel. Eine solch intensive Kooperation hat es vorher nie gegeben. Das ist
eine neue Qualität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
Die deutsche Außenpolitik ist in den letzten zwei Jahren, bezogen auf das deutsch-polnische Verhältnis, einen
großen Schritt weitergekommen. Ein Signal dafür ist das
gemeinsame Vorgehen von Herrn Westerwelle und
Herrn Sikorski gegenüber Russland. Ich möchte deutlich
sagen, dass die Bemühungen unserer Staatsministerin
Pieper zur Verbesserung des deutsch-polnischen Verhältnisses nur in den höchsten Tönen zu würdigen sind.
({5})
Auf diesem Gebiet haben wir viel erreicht. Wir können
sagen, dass das deutsch-polnische Verhältnis so gut ist
wie noch niemals zuvor. Das stellen wir mit Freude fest.
In Bezug auf Afghanistan haben diese Bundesregierung und insbesondere dieser Außenminister ein neues
Kapitel aufgeschlagen. Die Londoner Konferenz im Ja16952
nuar 2010 hat erstmals - zu spät, aber immerhin - ermöglicht, dass wir in der NATO ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Strategie für das
Afghanistan-Problem entwickelt haben.
Der Bundesaußenminister hat zu Beginn dieses Jahres
zwei Ankündigungen gemacht: zum einen, dass der
Übergang der Verantwortung zur Mitte dieses Jahres beginnen sollte, und zum anderen, dass zum Ende des Jahres 2011 mit einer verantwortbaren Reduzierung der
deutschen Soldaten in Afghanistan begonnen wird.
Beide Versprechen werden eingehalten. Bei dem Mandat, das wir im Dezember erstmals beraten werden, ist
die Obergrenze, wie Ihnen mitgeteilt worden ist, deutlich
reduziert worden.
Die Afghanistan-Konferenz in Bonn ist ein weiteres
Zeichen dafür, welche Rolle Deutschland international
bei der Problemlösung spielt. Wir können stolz darauf
sein, dass die ganze Welt nach Deutschland bzw. nach
Bonn kommt, um an diesem schwierigen Problem weiterzuarbeiten.
({6})
Damit befinden wir uns an einem wesentlichen Kernpunkt deutscher Außenpolitik, nämlich dem Einsatz der
Bundeswehr. Wir sind dafür. Wir wissen, dass es wichtig, notwendig und verantwortungsvoll ist, deutsche Soldaten einzusetzen. Das tun wir in Afghanistan, im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, vor Libanon und am
Horn von Afrika. Aber wir alle wissen, dass endgültige
Lösungen natürlich nur auf politischem Wege erreichbar
sind. Es ist ein Kernpunkt deutscher Außenpolitik, dass
wir diesen Ansatz weiterentwickelt haben. Nicht umsonst haben wir in dieser Legislaturperiode erstmals
einen Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ eingerichtet. Das entspricht der Denkrichtung der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Natürlich haben wir bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen
Union noch ein dickes Brett zu bohren; das stimmt ohne
jeden Zweifel. Es ist aber auch ohne jeden Zweifel richtig - damit komme ich zu dem zurück, was ich eingangs
gesagt habe -: Ohne Europa wird Deutschland in Zukunft nicht bestehen können. Wir müssen uns entscheiden, ob wir und unsere nachfolgenden Generationen in
Zukunft als Einzelstaat Objekt weltpolitischer Entscheidungen sein wollen oder ob wir im Rahmen europäischer
Solidarität, eines europäischen Verbundes, weiter Subjekt dieser Entscheidungen sind,
({7})
das heißt, ob wir weiter an den weltpolitischen Entscheidungen teilnehmen wollen. Wir wollen Letzteres. Das
will auch die Bundesregierung. Dabei unterstützen wir
sie.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Michael Leutert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, von meiner Seite recht herzlichen Dank
an Sie und an die Berichterstatter für die Informationen
und die fairen Verhandlungen. Ich möchte am Anfang
ein Lob aussprechen: Es gibt jedes Jahr zu jedem Ministerium eine Bemerkung des Bundesrechnungshofes. Ihr
Ministerium sticht durchaus positiv hervor: Wenn es
Probleme gibt, werden sie schnell beseitigt.
Ich muss Ihnen allerdings sagen: Das war es dann
auch schon mit Lob. Denn wenn man sich die Zahlen
einmal anschaut, muss man feststellen: In Ihrem Bereich
herrschen einigermaßen chaotische Zustände. Ich
möchte das gerne darstellen. Es gibt bei Ihnen ein Auf
und Ab: Im letzten Jahr sind die Mittel des AA um
90 Millionen Euro gekürzt worden, 2012 gehen die Mittel wieder um 203 Millionen Euro nach oben, in der mittelfristigen Finanzplanung sehen wir, dass es wieder um
208 Millionen Euro nach unten gehen soll. Das zeigt
sich natürlich auch bei den einzelnen Haushaltstiteln, die
uns sehr wichtig sind, zum Beispiel bei den Mitteln für
humanitäre Hilfe und Krisenprävention: Letztes Jahr
sind die Mittel um 96 Millionen Euro gekürzt worden,
jetzt steigen sie um 82 Millionen Euro an. Bezüglich der
mittelfristigen Finanzplanung haben wir eine Vermutung; ich komme gleich darauf zurück.
Ich möchte zunächst einmal auf eine neue Entwicklung eingehen. Am 17. Oktober hatten wir unser Berichterstattergespräch. Am 8. November hatten wir die Bereinigungssitzung. Zwei Tage später, am 10. November,
bekamen wir ein Papier auf den Tisch: eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem BMZ und dem Auswärtigen Amt. Nun weiß ich nicht, was Ihr Ziel ist; vielleicht sind es die ersten Schritte zur Auflösung des
BMZ, die Sie einmal angekündigt hatten. Fest steht: Sie
haben in diesem Papier auch angekündigt, dass von den
Mitteln für die zivile Krisenprävention wiederum
15 Millionen Euro weggenommen werden sollen. Da
tauchen bei mir natürlich einige Fragen auf. Die erste
Frage ist: Warum führen wir dann überhaupt noch Berichterstattergespräche? Die zweite Frage ist: Welche
Projekte sollen denn überhaupt zum BMZ überführt werden? Wir hatten seinerzeit eigentlich einen Aufwuchs
der Mittel im Haushalt für diesen Bereich geplant. Da
stellt sich für mich die dritte Frage: War das eigentlich
eine Irreführung von uns Haushältern? Die Kürzung der
Mittel für die Projekte, die zum BMZ überführt werden
sollen, war nämlich schon eingeplant.
Es sieht aber nicht nur im Haushalt so aus, sondern
auch bei einigen Programmen. Ich möchte hier beispielhaft das Aussteigerprogramm für die Taliban nennen.
Vor knapp zwei Jahren, letztes Jahr im Januar, wurde
hier groß angekündigt: Es gibt einen Kurswechsel; wir
haben sozusagen ein Wundermittel für Afghanistan gefunden; 50 Millionen Euro sollen für das sogenannte Taliban-Aussteigerprogramm bereitgestellt werden. - Jetzt,
nach zwei Jahren, ist es so: Wir haben nicht wirklich genaue Erkenntnisse darüber, welche Ergebnisse vorliegen.
Wir können so viel sagen: Es gibt ungefähr 30 000 Aufständische. Von denen sind angeblich 2 000 integrationswillig. Das Ergebnis ist jetzt, dass in den knapp zwei
Jahren 170 ehemalige Aufständische in Lohn und Brot
gebracht worden sind, im Übrigen im Bereich der Minenräumung. Selbst der ehemalige Innenminister von
Afghanistan hat kürzlich der Welt erklärt, er sehe den
Friedensprozess als gescheitert an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke schlägt
vor, etwas mehr Ordnung in diesen Bereich hineinzubringen. Ich möchte Ihnen vorschlagen: Schließen Sie
doch bitte demnächst eine Kooperationsvereinbarung
mit dem Verteidigungsministerium ab. Dabei geht es um
Folgendes: Wir schlagen vor - dazu liegen auch Anträge
der Linken vor -, dass der Haushalt des Auswärtigen
Ausschusses ein klar ziviler Haushalt ist. Alles Militärische hat aus diesem Haushalt zu verschwinden.
({0})
Damit meinen wir die über 47 Millionen Euro, die für
den NATO-Zivilhaushalt oder die Erweiterung des
NATO-Hauptquartiers vorgesehen sind. Außerdem
schlage ich vor, noch einmal in Betracht zu ziehen - darüber haben wir schon vor zwei Jahren gesprochen -, die
Rückerstattungen der UN in Bezug auf Militärauslandseinsätze, die im Verteidigungsetat landen, an das Auswärtige Amt zurückzubuchen; denn die Beiträge an die
UN werden ebenfalls aus dem Etat des Auswärtigen
Amts gezahlt.
Wir schlagen außerdem vor, dass Sie die Kürzungen
beim Titel „Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungszusammenarbeit“ zurücknehmen. Das ist eine Sache, die uns extrem wichtig ist.
Seit Ihrem Amtsantritt wurde dieser Titel von 64 Millionen Euro auf 40 Millionen Euro heruntergefahren. Wenn
wir die derzeitige Situation betrachten, können wir Folgendes feststellen: In Libyen tauchen G-36-Gewehre aus
deutscher Produktion auf, die eigentlich für Ägypten bestimmt waren. Der Spiegel meldete am 13. November:
Maschinenpistolen von Heckler & Koch aus deutscher
Produktion wurden in Indien an Polizeieinheiten ausgegeben, die in Menschenrechtsverletzungen verstrickt
sind. - Es werden Leopard-Panzer deutscher Produktion
nach Saudi-Arabien geliefert. Mittlerweile ist es so, dass
die ehemalige Kanzlermaschine im Iran herumfliegt,
wahrscheinlich mit Ahmadinedschad.
Wenn ich diese Entwicklung betrachte, dann muss ich
sagen: Wir brauchen diese Gelder in Zukunft für Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung.
({1})
Wenn Sie diesen Vorschlägen der Linken folgen
könnten, dann könnten wir eventuell diesem Haushalt
zustimmen. Ich vermute allerdings, Sie werden auf Ihren
Pfaden weiterwandeln. Deshalb kann ich Ihnen nur sagen: Wir müssen den Haushalt ablehnen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr waren alle Augen auf die Geschichte und den Wandel in Europa gerichtet. Wir feierten das Jubiläum des Einigungsvertrages, den Zweiplus-Vier-Vertrag und letztendlich unsere deutsche Einheit. Der Europäische Auswärtige Dienst war gerade
frisch geschaffen und das neue Strategische Konzept der
NATO verabschiedet worden. Deutschland war mit sehr
großer Unterstützung in den Weltsicherheitsrat gewählt
worden. Es hatte zu einer sehr erfolgreichen Konfliktdiplomatie und dank unseres Bundesaußenministers zu
einer Entspannung der Lage zwischen Serbien und dem
Kosovo beigetragen.
Unmittelbar zu der Zeit, als wir über den Haushalt
diskutiert haben, ereignete sich südlich Europas etwas,
womit wir alle nicht gerechnet hatten. Im Dezember
2010, beginnend mit der Selbstverbrennung eines jungen
Mannes, entstand im Nahen und Mittleren Osten Unruhe. Daraus erwuchs der arabische Frühling, mit dem
wir so nicht gerechnet hatten. Das stellt die Außenpolitik
Deutschlands vor eine besonders große Herausforderung.
Schon früh haben gerade die Koalitionsfraktionen
und auch die Bundesregierung - an der Spitze unser Außenminister - deutliche Initiativen ergriffen. Sie sind in
Tunesien, in Ägypten und, wie wir aktuell sehen, in Syrien tätig geworden, wo wir an führender Stelle versuchen, dem Unrecht entgegenzutreten und deutlich zu
machen, wo unsere wertebezogene Außenpolitik in diesem Zusammenhang steht. Das ist nicht einfach; denn
die Erwartungshaltung, die wir gerade in Bezug auf den
arabischen Frühling hatten, ist an vielen Stellen schon
jetzt - das kann man zumindest als Zwischenbilanz hier
so sagen - enttäuscht worden. Es gab viele naive Haltungen. Manche Fehleinschätzung gibt es nach wie vor.
Wir freuen uns über Demokratisierungsprozesse, machen uns aber gleichzeitig über Radikalisierungstendenzen große Sorgen. Trotzdem darf man nicht alles über einen Kamm scheren. Die Menschen in Tunesien
beispielsweise haben bewusst eine Entscheidung für alNahda getroffen. Deshalb lohnt es sich auch, genau hinzuschauen, mit welchen handelnden Personen man es
dort zu tun hat. Da gibt es Moderate, da gibt es zum Teil
Extremisten. Deshalb ist gerade der persönliche Einsatz
all derjenigen, die sich in der Region besonders engagieren, notwendig. Es ist wichtig, sich dort einzubringen,
um die jungen und sich herausbildenden Demokratien
aufzubauen und dafür zu sorgen, dass das, was wir an
demokratischen Werten vertreten, dort Einzug hält. Das
funktioniert nur, wenn man behilflich ist, eine funktionierende Parteiendemokratie und damit eine parlamentarische Demokratie aufzubauen. Diesen Beitrag leistet
das Auswärtige Amt in hervorragender Art und Weise.
({0})
Wenn wir in die Region insgesamt blicken, stellen wir
fest: Wir machen uns an vielen Stellen große Sorgen.
Die Schwierigkeiten unseres tagtäglichen Handelns liegen darin, dass es eben nicht Schwarz und Weiß gibt.
Saudi-Arabien ist vorhin schon angesprochen worden.
Ich glaube, keiner von uns hat ein gutes Gefühl dabei,
wenn man sich in diesen Regionen bewegt, weil keiner
sagen kann: Man weiß immer alles zu 100 Prozent, und
man hat immer mit all dem recht, was man sagt.
Trotzdem sind außenpolitische Entscheidungen häufig nicht nur emotionale Entscheidungen, sondern in erster Linie natürlich auch interessengeleitete Entscheidungen. Gerade dann, wenn man nicht von einer SchwarzWeiß-Einteilung sprechen kann, muss man gewisse
Grauzonen benennen und auch in Kauf nehmen. So befindet sich diese Bundesregierung mit unserer parlamentarischen Unterstützung auf dem Weg zahlreicher Vorgängerregierungen, die sich im Übrigen auch mit den
Realitäten arrangieren mussten; denn gerade im Nahen
Osten ist tatsächlich nicht alles so, wie wir es uns wünschen würden.
Im Hinblick auf den Irak wünschen wir uns, dass nach
dem Abzug der Amerikaner, der unmittelbar bevorsteht,
mehr Frieden und mehr Freiheit Einzug halten. Das gilt
allerdings nur für einen Teil des Irak. Es gibt eine kleine,
engagierte Region, nämlich Nordirak bzw. Kurdistan,
die dafür sorgt, dass das, was wir voranbringen wollen,
beispielsweise die Religionsfreiheit, eine Chance bekommt. Das gilt für den größeren Teil des Irak leider
nicht.
Unser Engagement, das sich vor allem auf die Länder
des arabischen Frühlings konzentriert, gilt der gesamten
Region. Wir hoffen natürlich, dass der Irak kein zweiter
Libanon wird. Wir müssen mit den Möglichkeiten, die
wir haben, umgehen. Das Auswärtige Amt und die Entwicklungshilfe machen dies. Die sehr erfolgreiche Reise
von Bundesminister Niebel zu Beginn dieses Jahres
zeigt, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und in die Region zu gehen. Mit einem wirtschaftlichen Austausch können wir teilweise mehr bewirken
als mit Worten, die wir hier zu diesem Thema finden.
({1})
Eine der maßgeblichen Leitlinien unserer Nahostpolitik - deshalb freue ich mich auch, dass sich die Bundesregierung in den vergangenen Wochen so engagiert eingesetzt hat - ist und bleibt, den Nahost-Friedensprozess
voranzubringen. Da die Erwartungshaltung insbesondere
in Israel wesentlich höher geworden ist, als das noch vor
einigen Jahren der Fall war - damals haben israelische
Politiker vor allem auf Amerika gesetzt -, wird uns allen
eine besondere Verantwortung zuteil. Dieser müssen wir
gerecht werden. Deswegen wiederhole ich hier, was unsere Bundeskanzlerin 2008 in ihrer historischen Rede in
der Knesset gesagt hat: Für uns steht unumstößlich fest,
dass die Sicherheit Israels ein Teil der deutschen Staatsräson ist. - Danach richtet sich ein Großteil unserer Außenpolitik in dieser Region und darüber hinaus.
({2})
Das bedeutet, dass es für uns zu keinem Zeitpunkt akzeptabel ist, dass sich das Mächtegewicht weiter verschiebt.
({3})
Es ist auch nicht akzeptabel, dass es ein Land wie der
Iran unter dem Deckmantel eines zivilen Programms
wagt - wie wir heute durch die Berichte der Internationalen Atomenergie-Organisation wissen -, eine hegemoniale Stellung einzunehmen, und zwar mit der strategischen Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen. Wir
sagen ganz klar Nein zu einer atomaren Aufrüstung dieser Region. Es sollten alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Dazu gehören auch weiter gehende Sanktionen, um den Iran von diesem Weg
abzubringen.
({4})
Hier ist Deutschland besonders gefragt, und zwar
nicht in erster Linie als Vermittler, sondern als ein Land,
das vorangeht und deutlich macht - trotz zahlreicher guter Erfahrungen im bilateralen Handel mit dem Iran; er
hat über Jahre stattgefunden -, dass hier politisch schon
längst eine rote Linie überschritten worden ist. Deshalb
begrüße ich es ausdrücklich, dass der amerikanische Präsident, der französische Präsident und der britische Premierminister härtere Sanktionen auf den Weg bringen
wollen, um deutlich zu machen, dass der Iran uns schon
viel zu lange an der Nase herumführt. Ich glaube, die
Bundesregierung ist auf dem richtigen Weg, wenn sie
diese Bemühungen unserer Verbündeten unterstützt.
({5})
Wir blicken voller Sorge in einige Regionen. Bleiben
wir einen kurzen Moment bei den Veränderungen im Nahen Osten und den Umwandlungsprozessen in der arabischen Welt. Wir wollen, dass die universellen Menschenrechte wie Freiheit für alle Menschen gelten. Die
Frauenrechte kommen teilweise zu kurz. Diesbezüglich
waren die Hoffnungen weitaus größer. Die Realisierung
dieser Rechte in dieser Region bleibt hinter den Hoffnungen zurück. Ferner möchte ich ansprechen, dass gerade die Fraktion der Christdemokraten und der Christsozialen voller Solidarität und voller Mitgefühl an der
Seite der verfolgten Christen in dieser Region steht. Mit
großer Sorge blicken wir - vor allem unser Fraktionsvorsitzender engagiert sich in dieser Frage sehr stark - auf
die Situation der Christen in der Region, sei es im Irak,
sei es in Ägypten. Wir beobachten die Situation der
christlichen Minderheit dort mit großer Sorge. Zu Demokratie und Freiheit gehört für uns eben auch Religionsfreiheit. Das will ich hier deutlich zum Ausdruck
bringen.
({6})
Unsere Außenpolitik ist in erster Linie wertegebunden. Natürlich steht sie immer in einem Spannungsverhältnis zu einer interessengeleiteten Außenpolitik, gerade
im Falle einer wichtigen Exportnation, die Deutschland
nun einmal ist.
({7})
- Zu den Panzern sage ich gerne noch etwas. Wir haben
hier ja schon mehrmals darüber diskutiert. Sie persönlich
tragen für frühere Entscheidungen zwar nicht die Verantwortung, aber ich weise Sie trotzdem noch einmal darauf
hin, dass sich auch andere Regierungen in einem schwierigen Spannungsverhältnis befanden und schwierige Abwägungsentscheidungen zu treffen hatten. Ich denke,
dass die strategischen Argumente, die wir hier mehrmals
angeführt haben, am Ende überwiegen. Natürlich bewegt
man sich in einer Grauzone, wenngleich klar ist, dass das
Verfahren genauso transparent, genauso demokratisch
und genauso abgewogen durchgeführt wurde wie bei allen anderen schwierigen Waffenexporten der Vergangenheit. Der Unterschied ist nur, dass wir weniger Waffen
exportieren, als die Herren und die Damen von der Grünen-Fraktion es früher getan haben.
Zum Abschluss möchte ich an ein vergessenes Thema
erinnern, an Weißrussland. Wir engagieren uns - das ist
ganz klar - auch für die in weißrussischen Gefängnissen
verbliebenen Gefangenen, die vom letzten Diktator in
Europa unterdrückt werden.
({8})
Diesbezüglich sollten wir als Deutscher Bundestag weitaus mehr tun und uns viel stärker engagieren.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Das Wort hat der Kollege Kindler für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den letzten Jahren hat diese schwarz-gelbe Koalition im
Bereich des Haushalts des Auswärtigen Amtes gerade
bei der Menschlichkeit gekürzt,
({0})
nämlich in der Titelgruppe 07, bei Krisenprävention,
Friedenserhaltung und humanitärer Hilfe. Wenn ich jetzt
in den Haushaltsentwurf schaue, stelle ich fest, dass unser Druck und unsere Anträge Wirkung gezeigt haben:
Sie nehmen einen Teil dieser brutalen Kürzungen wieder
zurück. Das ist auch gut.
Was ich aber nicht verstehe, ist Folgendes: Herr Minister Westerwelle, Sie sagen immer, dass Abrüstung einer Ihrer Schwerpunkte sein soll, weil Sie sie besonders
wichtig finden. Warum haben Sie dann nicht die Kürzung im Bereich der Abrüstung korrigiert? Warum fristet
die Abrüstung immer noch ein Nischendasein im Haushalt? Warum wird in diesem Haushalt kein Schwerpunkt
beim Thema Abrüstung gesetzt?
({1})
Aber auch bei den Ansätzen in den Bereichen zivile
Krisenprävention und humanitäre Hilfe bleiben Sie hinter den Notwendigkeiten zurück. Das ist eine zaghafte
Fehlerkorrektur. Was wir brauchen, ist ein langfristiges
Konzept zur Absicherung von humanitärer Hilfe und
Krisenprävention. Wir haben dafür einen Finanzierungsvorschlag unterbreitet: Wir wollen die Ticketabgabe im
Flugverkehr erhöhen und damit eine langfristige Finanzierung erreichen. Die Koalition hat das abgelehnt.
Weiterhin brauchen wir eine nachhaltige Finanzierung. Gerade im Bereich der Krisenprävention wirkte
sich dieses Hin und Her, dieses Auf und Ab, diese Kürzung fatal aus. Dadurch wurde massiv Vertrauen zerstört, in der Szene, aber auch international.
({2})
Wenn wir den Blick nach Nordafrika und den Nahen
Osten werfen, so wissen wir, dass Außenpolitik nachhaltig sein muss. Die Menschen aus verschiedenen arabischen Ländern sind für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit auf die Straße gegangen. Diese verdienen unseren
Respekt, unsere Solidarität, aber auch unsere finanzielle
Unterstützung. Denn wir wissen, dass das Ende einer
Diktatur oder Gewaltherrschaft nicht bedeutet, dass es
sofort Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gibt. Deswegen ist es wichtig, dass Transformationsgelder in diesem
Haushalt bereitgestellt werden. Das große Problem ist
nur - daran zeigt sich die mangelnde Nachhaltigkeit Ihrer Politik -: Es ist nicht richtig finanziert. Die ODAMittel sind nicht in die Finanzplanung eingestellt. Weil
demokratischer Aufbau Zeit braucht, müssen Sie sich
dafür einsetzen, Herr Westerwelle, dass die Gelder langfristig und nachhaltig finanziert werden.
({3})
Überhaupt nicht nachhaltig und verlässlich für die
Demokratisierung der arabischen Welt ist, wenn Sie als
Regierung Diktaturen, in denen Menschenrechte und
Demokratie mit Füßen getreten werden, und Gewaltherrscher unterstützen. Einerseits Reden für mehr Demokratie halten, andererseits 200 Kampfpanzer nach SaudiArabien liefern wollen, das ist keine Grauzone, Herr
Mißfelder, sondern eine schizophrene und zynische Außenpolitik.
({4})
Ins Bild passt auch, dass Ihre Haushälter, Herr Westerwelle, alle Gelder für die UNESCO in der Bereinigungssitzung sperren wollten. Die Arbeit der UNESCO in vielen Krisenregionen der Welt hätte Schaden genommen.
Aber dies hätte auch dem Multilateralismus insgesamt
schweren Schaden zugefügt. Deswegen war es sehr gut,
dass auf massiven Druck von uns diese Sperrung verhindert wurde.
({5})
Diese peinliche Geschichte zeigt wieder einmal erschreckenderweise, wie inkompetent und unzuverlässig die
schwarz-gelbe Außenpolitik ist.
Zur Kompetenz der Außenpolitik. Mit dem Staatsminister Hoyer verlässt jetzt ein erfahrener Außenpolitiker
diese Regierung. Man muss sich fragen: Welches Gewicht
hat die deutsche Außenpolitik bald in der Welt? Dazu muss
man sich einmal vergegenwärtigen, wer die neue Spitze
des Auswärtigen Amtes ist: Herr Westerwelle, Frau Pieper, Frau Homburger. Daran kann man klar sehen, welche
Rolle Deutschland zukünftig außenpolitisch in der Welt
spielen wird.
Wir haben gerade in der Debatte zum Bundeskanzleramt gehört, welche Relevanz die Energiewende für unsere Gesellschaft hat. Das ist eine ganz wichtige Frage.
Nach dem nuklearen Super-GAU in Fukushima sind
hunderttausend Menschen hier auf die Straße gegangen,
haben den Atomausstieg erzwungen und dafür gesorgt,
dass alte Schrottreaktoren abgeschaltet wurden und die
Laufzeitverlängerung zurückgenommen wurde. Doch
was macht diese Regierung international? Diese Regierung will international weiter neue Atomkraftwerke
bauen.
Der interministerielle Ausschuss, in dem Sie Mitglied
sind, Herr Westerwelle, hat erst im September die Grundsatzzusage für die Hermesbürgschaft für das AKW Angra 3
verlängert, obwohl wir längst wissen, dass es für Angra 3
kein Sicherheitskonzept, kein Evakuierungskonzept gibt,
es in einem erdbeben- und erdrutschgefährdeten Gebiet
errichtet werden soll, es keine unabhängige Atomaufsicht
in Brasilien gibt und inzwischen die Menschen in Brasilien in Umfragen nach Fukushima gegen den Bau von
Angra 3 sind. Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Westerwelle: Sorgen Sie im interministeriellen Ausschuss dafür,
dass die Hermesbürgschaft nicht gegeben wird. Ihre Außenpolitik ist schon schizophren und unzuverlässig genug. Machen Sie das nicht noch schlimmer, sondern sorgen Sie dafür, dass dieser Hochrisikomeiler Angra 3
endgültig beerdigt wird.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Djir-Sarai
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn wir eine Debatte über den Haushalt des
Auswärtigen Amts führen, so ist klar, dass diese Debatte
mehr sein muss als das einfache Vortragen des reinen
Zahlenwerkes. Daher ist es wichtig, dass wir bei einer
solchen Debatte auch die wichtigsten außenpolitischen
Ereignisse des Jahres betrachten und daraus Schlussfolgerungen für die deutsche Außenpolitik ziehen.
Das für mich nach wie vor unglaublichste außenpolitische Ereignis des Jahres bis zu diesem Zeitpunkt ist der
Aufstand in der arabischen Welt. Dieses Ereignis und die
damit verbundene politische Entwicklung wird nicht nur
Nordafrika, nicht nur die arabischen Länder, sondern die
gesamte Welt nachhaltig beeinflussen.
Der Aufstand in der arabischen Welt ist daher eine
Herausforderung für die deutsche und die europäische
Außenpolitik. Auf diese Herausforderung muss eine
kluge europäische Außenpolitik vorbereitet sein. Ich bin
dankbar, dass die deutsche Außenpolitik auf diese Herausforderung vorbereitet ist. Ich bin auch dankbar, dass
die deutsche Entwicklungspolitik auf diese Herausforderung bestens vorbereitet ist.
({0})
Ich bin dankbar und sehr zufrieden, dass für 2012 zusätzlich Mittel für Maßnahmen der Demokratieförderung
in diesen Regionen bereitgestellt wurden. Es werden neue
Mittel in Höhe von 50 Millionen Euro für die Transformationsländer zur Verfügung gestellt. Dabei werden
wichtige Projekte, angefangen bei guter Regierungsführung, Institutionenberatung und Korruptionsbekämpfung
bis hin zu Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung, unterstützt. Das ist sehr gut und auch notwendig.
Genauso notwendig ist es nach wie vor, sich intensiv
und aufmerksam mit Afghanistan zu beschäftigen. Auch
zehn Jahre nach Einsatzbeginn ist die zukünftige Entwicklung dieses Landes trotz der vielfältigen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft schwer vorherzusehen. Afghanistan ist und bleibt ein schwieriges Thema.
Besonders der Abzug der deutschen Truppen, der bald
ansteht, wird das Land vor eine große Herausforderung
stellen. Auch hier bin ich sehr dankbar, dass das finanzielle Engagement für Afghanistan in 2012 auf dem bisherigen hohen Niveau fortgesetzt wird. Wir wollen und
können nicht ewig in Afghanistan bleiben. Wir wollen
und können Afghanistan aber weiterhin zur Seite stehen.
({1})
Vor diesem Hintergrund sind der gewählte Ansatz und
die damit verbundenen Projekte der Bundesregierung
völlig richtig. Wir sind nicht nur Gastgeber einer KonfeDr. Bijan Djir-Sarai
renz, sondern wir haben eine Führungsrolle bei der Gestaltung der Zukunft Afghanistans. Deutschland wird
den politischen Prozess der Aussöhnung und Reintegration nicht nur begleiten, sondern auch unterstützen.
Unterstützenswert finde ich es aber auch - ich komme
zu einem anderen Bereich -, dass bei den Mitteln für
auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht gespart
wird. Im Haushalt 2012 werden wir den größten Posten
für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik in der Geschichte des Auswärtigen Amtes haben.
({2})
Das ist - Kollege Brandner, das haben Sie gerade bestätigt - eine wesentliche Säule der deutschen Außenpolitik. Das Auswärtige Amt hält an der Maxime fest: keine
Mittelkürzungen bei Bildung und Forschung. Dabei
konnten die Ansätze für Stipendien, Wissenschaftsbeziehungen und die deutsche Sprache auf dem hohen Niveau
der Vorjahre gehalten werden. Das ist, wie ich finde, ein
richtiger Ansatz.
({3})
Lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung zum
Haushalt machen. Das Auswärtige Amt trägt, wie auch
die anderen Ressorts, zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes bei. Das Auswärtige Amt nimmt seine originären Aufgaben erfolgreich wahr und trägt gleichzeitig
solidarisch zur Erreichung der Kriterien der Schuldenbremse bei. Das ist gut und muss bei solchen Debatten
ebenfalls lobend erwähnt werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! In einer Haushaltsdebatte
geht es in erster Linie um Zahlen - scheinbar. In Wirklichkeit geht es um politische Zielsetzungen, es geht um
politische Strategien - in diesem Fall um außenpolitische Strategien -, und es geht um Schwerpunktsetzungen. Deshalb freue ich mich, Herr Bundesminister, dass
Sie jetzt doch in dieser Debatte reden werden, obwohl
dies ursprünglich offensichtlich nicht geplant war. Als
Parlament erwarten wir, dass Sie Ihre politischen Zielsetzungen und Strategien darlegen. Das ist das gute
Recht des Parlaments.
({0})
Wenn ich auf die Zahlen schaue, kann ich sagen, dass
sie auf den ersten Blick erfreulich sind. Das Budget des
Auswärtigen Amtes wächst um 6 Prozent. Gerade im
Bereich der zivilen Krisenprävention und der auswärtigen Kulturpolitik gibt es Aufwüchse; das haben meine
Kollegen bereits gesagt. Man könnte meinen, alles sei
gut. Ich würde mich freuen, wenn es so wäre. Das ist
aber leider nicht der Fall. Das zeigt ein Blick auf die mittelfristige Finanzplanung. Die Steigerungen sind von nur
sehr kurzer Dauer. Bereits für das Jahr 2013, also das
übernächste Jahr, sind Kürzungen um 5 Prozent geplant.
Ich will auch an die Tatsache erinnern, dass es in diesem Jahr, im Jahr 2011, besonders große und, offen gesagt, auch sehr fatale Kürzungen gerade im Bereich der
zivilen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung gab.
Dort fehlten im Vergleich zum Jahre 2010 mehr als
80 Millionen Euro.
Wenn ich das zusammenfasse, dann muss ich leider
sagen, dass die Zahlen des Haushalts zeigen, dass es
nicht mehr als ein kurzes Aufflackern ist, wenn Sie nicht
langfristig und dauerhaft die Mittel für die zivile Krisenprävention und humanitäre Aufgaben aufstocken. Erst
dann, meine sehr geehrten Herren und Damen, wird es
wirklich zu einer überzeugenden Strategie.
({1})
Ein kurzfristiges Auf und Ab hilft leider niemandem.
Deshalb sage ich ausdrücklich: Notwendig ist eine langfristige Aufstockung dieser Haushaltstitel.
Was die jetzige Regierungskoalition betrieben hat, ist
eine Schadensbegrenzung. Die Nichtregierungsorganisationen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
und, wie ich denke, nicht zuletzt auch die Opposition
sind gegen die Haushaltskürzungen in diesem Jahr
Sturm gelaufen. Die Proteste sind scheinbar auch bei der
Bundesregierung angekommen. Das ist gut. Aber: Bitte
nicht nur für ein Jahr, sondern auf Dauer!
({2})
Ich finde, Sie müssten hier Mut haben und gerade in den
Bereichen der zivilen Krisenprävention und der humanitären Hilfe die Akzente richtig setzen und die Haushaltsmittel auf Dauer, auch in der mittelfristigen Finanzplanung, aufstocken.
Ich will als weiteren Punkt ausdrücklich den arabischen Frühling nennen, weil der arabische Frühling, die
Umbrüche in Nordafrika und die Rufe nach Demokratie
und Menschenrechten im Nahen Osten für uns alle - über
alle Fraktionen hinweg - ein ganz wichtiges und auch ein
ermutigendes Signal darstellen.
Ich will aber auch sagen, dass die Nachrichten, die
uns aus Syrien oder aktuell aus Kairo erreichen, deutlich
machen, dass der Wunsch nach Demokratie und politischer Selbstbestimmung in diesen Ländern auf massiven
Widerstand stößt. Menschen werden verfolgt und getötet.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Demokratiebewegung, diejenigen, die wirklich für mehr Selbstbestimmung
und Demokratie eintreten, eine starke Unterstützung aus
der Bundesrepublik Deutschland erhalten
({3})
und dass sie diese Unterstützung - wiederum - nicht nur
kurzfristig erhalten.
Ein solcher Transformationsprozess ist nicht in zwei
Jahren abgeschlossen; er dauert länger. Deshalb muss
auch hier die Hilfe langfristig geleistet werden, und sie
muss schwerpunktmäßig gegeben werden; denn sonst
hat Außenpolitik keinen Erfolg. Eine außenpolitische
Strategie hat nur dann Erfolg, wenn sie langfristig verfolgt wird, wenn auch die langen Linien stimmen und
wenn die Schwerpunkte richtig gesetzt sind.
({4})
Nur dann können wir - und das müssen wir auch - unsere Beiträge leisten: zum wirtschaftlichen Aufbau, zum
Aufbau demokratischer Strukturen, zum Aufbau von
Justiz, Polizei und Verwaltung in diesen Ländern, um
nur einige Beispiele zu nennen. Dazu braucht es zweifelsohne eine finanzielle Grundlage, aber eben auch den
politischen Gestaltungswillen und eine politische Konzeption.
Das, meine sehr geehrten Herren und Damen, gilt im
Übrigen auch für Afghanistan. Es reicht eben nicht, nur
finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Notwendig
ist auch das politische Konzept. Da stelle ich schon die
Frage - auch an Sie, Herr Bundesminister -: Wo ist das
politische Konzept für die Afghanistan-Konferenz, die
schon in zwei Wochen in Bonn stattfinden wird?
({5})
Wir haben im Auswärtigen Ausschuss noch nicht ein
einziges Wort dazu gehört. Wir haben auch im Bundestag dazu noch keine Aussagen gehört. Wenn man zwei
Wochen vorher nicht weiß, wohin man will, dann habe
ich große Sorge, ob diese Konferenz zu dem Erfolg führen wird, den wir alle wollen. Wir alle wollen einen Erfolg dieser Konferenz, weil wir wissen, dass dies für die
Entwicklung in Afghanistan von immenser Bedeutung
ist.
Aber dazu gehört auch, dass der Bundesaußenminister und die Regierung wissen, was sie erreichen wollen,
und durch Verhandlungen den Weg dazu bereiten, sodass
sie dann auch praktisch prüfen können: Haben wir eigentlich das erreicht, was wir uns vorgenommen haben?
Bisher müssen wir hier ein großes Fragezeichen setzen;
denn wir zumindest wissen davon nichts. Es kann ja
sein, dass Sie das mit Ihren Mitarbeitern erörtert haben.
Aber ich denke, zum politischen Prozess gehört auch,
dass man Verbündete und Mitstreiterinnen und Mitstreiter hat. Nur dann kann man einen politischen Erfolg erzielen.
({6})
Sie, Herr Westerwelle, haben immer - ich finde: zu
Recht - darauf hingewiesen, dass man mit militärischen
Mitteln keine Konflikte lösen kann, sondern dass man dafür Politik und zivile Mittel braucht. Wir, die SPD-Fraktion, haben schon vor etwa einem Jahr Vorschläge für die
Weiterentwicklung einer an zivilen Mitteln orientierten
Außenpolitik gemacht und dargestellt, wie hier unseres
Erachtens Fortschritte erzielt werden können. Es ist
schade, dass es bisher keine Stellungnahme und auch
keine Positionierung der Regierungsfraktionen dazu gibt.
Ich appelliere an die Kolleginnen und Kollegen, dass dies
geleistet wird, weil wir sonst nicht vorankommen. Ich
glaube, es ist gut, wenn man gerade bei diesen Fragen
miteinander um die richtigen Wege, um die richtigen Instrumente und auch um die richtigen Lösungen streitet.
Kollegin Bulmahn, Sie können gerne weiterreden,
aber das geschieht dann auf Kosten Ihrer Fraktionskollegen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich will dann wie folgt
schließen: Es muss darum gehen, die außenpolitische
Strategie und die Konzeption nicht nur für die Afghanistan-Politik, sondern insgesamt für die nächsten zwei
Jahre darzulegen, anstatt zum Beispiel über fachliche
Kompetenzen und ein Hin- und Hergeschiebe zwischen
den beiden Häusern BMZ und Auswärtiges Amt zu streiten. Ich habe die Hoffnung, dass das in dieser Debatte
vielleicht noch gelingen wird.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Bulmahn, Sie irren. Die Bundesregierung macht eine kontinuierlich menschenrechtskonforme Politik - auch hinsichtlich der Krisenprävention.
({0})
Diese Bundesregierung hat noch keinen Präsidenten zum
lupenreinen Demokraten erklärt, der ein solcher niemals
gewesen ist. Das muss ich auch einmal deutlich hinzufügen.
({1})
Außenpolitik ist auch Menschenrechtspolitik. Das ist
heute in allen Redebeiträgen zu erkennen gewesen. Die
Herausforderungen, denen sich Deutschland im Bereich
der Menschenrechte gegenübersieht, sind in den letzten
Jahren nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: In vielen
Bereichen prallen religiöse, ethnische oder ideologische
Vorstellungen nach wie vor sehr aggressiv aufeinander,
und es gibt im Bereich der Menschenrechte leider auch,
wie am Beispiel von Russland zu erkennen ist, dramatiErika Steinbach
sche Rückentwicklungen - dort, wo man es nicht vermuten sollte und wo man sich anderes erhofft hätte.
Die Einhaltung von Menschenrechten ist ethisches
Fundament für die demokratische, für die kulturelle und
sogar auch für die wirtschaftliche Entwicklung eines jeden Landes. Dafür engagieren wir uns hier im Deutschen
Bundestag, und dafür engagiert sich die deutsche Außenpolitik dieser Regierung kontinuierlich - von Anbeginn an.
Wir leben in sehr turbulenten Zeiten. Der gesamte
Nahe Osten ist im Umbruch. Die Hoffnungen der Menschen, die dort leben, sind gewachsen. Durch die tunesische Revolution wurde der arabische Stein ins Rollen
gebracht. Volksbewegungen in Ägypten, Libyen und
Bahrain folgten und gaben den Anstoß für den politischen Wandel in diesen Ländern, allerdings - auch das
ist heute in den Beiträgen schon deutlich geworden - mit
noch offenem Ausgang.
Bei aller Euphorie ist auch Skepsis durchaus angebracht:
So hat der Übergangsrat in Libyen nach dem Tode
Gaddafis angekündigt, die zukünftige Verfassung an der
Scharia ausrichten zu wollen. Was das bedeutet, weiß jeder, der sich damit beschäftigt.
In Tunesien wurde im vergangenen Monat gewählt,
und die islamistische Ennahdha-Partei ist jetzt mit großem Vorsprung stärkste Kraft im Parlament geworden.
Die Ennahdha-Partei spricht von Freiheit und Demokratie. Wir hoffen sehr, dass dies auch umgesetzt wird.
Gleichzeitig fordert sie aber die Einhaltung einer strengen religiösen Linie, und es gibt vor diesem Hintergrund
Übergriffe von Salafisten auf Kinos und Fernsehstationen, die Filme von Regisseurinnen ins Programm aufgenommen haben. Die Möglichkeiten der Frauen sind also
deutlich eingeschränkt. Welche Rechte werden die
Frauen und die anderen Menschen, die nach ihren Überzeugungen in diesem Land leben wollen, dort denn zukünftig haben? All das ist völlig offen.
In Ägypten werden in der kommenden Woche die ersten freien Parlamentswahlen seit sehr, sehr langer Zeit beginnen. Das ist hocherfreulich, aber auch in Ägypten - das
können wir nun Abend für Abend, Tag für Tag beobachten - wollen islamistische Kräfte, die sich derzeit im Hintergrund halten, die Wahlen gewinnen, und sie machen
mobil. Überschattet werden die Vorbereitungen der Wahlen zudem durch Unruhen und Repressionen durch das
Militär, durch den Geheimdienst und durch die Polizei.
Anfang November titelte Zeit Online wörtlich: „Für
Kopten gibt es keinen Arabischen Frühling“. Weiter
schrieb sie:
Die Christen sind die Verlierer der Revolution: Sie
werden verfolgt und getötet.
Es gab am 9. Oktober ein Massaker in Kairo. Im Anschluss an diese grausame Tat wurde - das ist gut - das
neue Antidiskriminierungsgesetz auf den Weg gebracht,
mit dem Benachteiligungen aufgrund religiöser Zugehörigkeiten unter Strafe gestellt werden. Das ist ein wichtiges Zeichen, wie ich meine. Viele Ägypter hoffen nun
auf Freiheit und Menschenrechte nach den Wahlen. Ich
glaube, wir alle hier im Hause hoffen mit ihnen, dass
sich diese Sehnsüchte in Ägypten am Ende erfüllen werden.
Mit großer Sorge sehen wir die Entwicklung in Syrien.
Aber die Menschen haben trotz des brutalen Vorgehens
des Assad-Regimes die Angst vor den syrischen Geheimdiensten überwunden und gehen Tag für Tag auf die
Straße und versuchen, sich ihre Freiheit zu erkämpfen.
Das ist für ein Volk, das über Jahre hinweg nur ein Leben
im Ausnahmezustand kannte, das sich jetzt wehrt, das inzwischen 3 500 Tote und mehr als 10 000 Verhaftete, Gefolterte und Gequälte zu beklagen hat, sehr bewundernswert. Auch dieser Freiheitsbewegung wünschen wir viel
Erfolg und danach einen verantwortungsvollen Umgang
mit ihrer Freiheit.
({2})
Aber die Instabilität der gesamten Region wird auch
von der transnational organisierten Kriminalität genutzt.
Überall, wo es die Möglichkeiten dazu gibt, kann man
das beobachten. Erst in den vergangenen Tagen erreichten uns Meldungen von Organentnahmen an Flüchtlingen auf der Sinaihalbinsel in einem ganz erschreckenden
Ausmaß. Medienberichten zufolge sind Tausende davon
betroffen. In diesem Zusammenhang kann man nicht nur
von korrupten Ärzten oder Medizinern sprechen. Dahinter steckt organisierte Kriminalität.
Der Einsatz für Menschenrechte ist über den arabischen Raum hinaus weltweit nach wie vor dringend geboten. Es ist Kern unserer werteorientierten Außenpolitik, dass wir uns für Menschenrechte einsetzen.
Wir befinden uns in den Haushaltsberatungen. Geld
ist wohl wichtig; es wird mit diesem Haushaltsplan ausreichend Geld zur Verfügung gestellt. Aber noch wichtiger ist, dass wir diese Themen immer wieder aufgreifen.
Die Bundesregierung, der Außenminister, die Bundeskanzlerin sprechen überall dort, wo sie das Wort ergreifen, immer wieder Menschenrechte mit der entsprechenden Sensibilität an; wir hier im Hause - davon nehme
ich niemanden aus - versuchen in Gesprächen mit Menschen aus anderen Ländern immer wieder, zu erklären,
was Menschenrechte bedeuten. Wir können nicht davon
ausgehen, dass alle ihren Wert sofort erkennen, etwa diejenigen, die nicht so wie wir in Freiheit leben durften.
Daran können wir alle gemeinsam mitarbeiten - über
den Haushaltsplan hinaus.
Danke schön.
({3})
Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle, hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich nicht nur für
die konstruktive Debatte, wie sie bislang stattgefunden
hat, sehr herzlich zu bedanken, sondern ausdrücklich
auch allen Berichterstattern meinen Dank auszusprechen. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern und dem Haushaltsausschuss sachorientiert gewesen ist und dass die aufgeworfenen Fragen, die
wir gestern, Herr Kollege Brandner, mit den Berichterstattern erörtert haben, beantwortet werden können.
Über die zeitliche Abfolge habe ich Ihnen gestern das
Notwendige gesagt.
In der Sache will ich die Frage beantworten, die Sie
als Vertreter der Haushälter der größten Oppositionsfraktion hier im Hohen Hause angesprochen haben: Warum
legen wir die Strukturen der humanitären Hilfe zusammen? Warum ist das unsere politische Absicht? Warum
arbeiten wir daran? Das hat einen ganz einfachen Grund:
Es soll die Effizienz unserer Arbeit erhöhen. Es ist nicht
logisch und auch nicht sinnvoll, dass beispielsweise bei
einer humanitären Katastrophe das Kochgeschirr über
das Auswärtige Amt angeliefert wird und die Nahrung,
die darin gekocht wird, über ein anderes Ministerium bezogen wird. Wenn solche Strukturen zusammengelegt
werden, bündelt das unsere Kräfte und erhöht die Effizienz.
({0})
Dieser Gedanke steckt dahinter; es sind keine geheimen
Absichten. Deswegen sage ich das hier noch einmal.
Frau Kollegin Bulmahn, Sie haben die Frage gestellt,
warum ich nur kurz bzw. am Schluss der Debatte spreche. Ich will es Ihnen sagen: Bei uns ist es übliches Parlamentsverständnis, dass die Minister nur auf Wunsch in
der zweiten und dritten Beratung sprechen und dass das
Parlament Priorität hat.
({1})
Bei Ihnen ist das offensichtlich anders. Sie wünschen
sich etwas anderes. Wir haben - übrigens gerade in der
Zeit der Opposition - immer großen Wert darauf gelegt,
dass die zweite und dritte Beratung die Stunde des Parlaments ist. Aber wenn Sie es möchten, werde ich selbstverständlich das Wort ergreifen. Weil wir den Haushalt
in der ersten Beratung mit einer ausführlichen Einbringungsrede von mir vorgestellt haben, rege ich aber an,
dass Sie, wenn Sie ein Defizit sehen, interfraktionell eine
strategische Debatte zur Außenpolitik vereinbaren, die
dann auch etwas mehr Redezeit für alle Beteiligten mit
sich bringt. In Anbetracht der Umbrüche in der Welt
glaube ich: Hohe Zeit wäre es.
({2})
Aber das ist Ihre Entscheidung als Abgeordnete des
Deutschen Bundestages.
Ich möchte zwei sachliche Anmerkungen machen, die
mir besonders wichtig sind. Das betrifft zunächst einmal
den arabischen Frühling. Wir sprechen von einem arabischen Frühling; das ist aber in Wahrheit eine unscharfe
Begrifflichkeit. Der arabische Frühling, wenn wir ihn so
nennen wollen, hat übrigens auch nicht in Tunesien begonnen, sondern mit der Farbe Grün im Iran. Wir sollten
niemals vergessen, dass es im Iran nicht nur ein Nuklearprogramm gibt, das wir zu besprechen haben, sondern
auch viele freiheitsliebende Menschen, die unterdrückt
wurden und werden. Wir wollen sie nicht vergessen, nur
weil die Scheinwerfer zurzeit nicht dorthin gerichtet
sind.
({3})
Das ist das Selbstverständnis: zu differenzieren statt nur
zu dem etwas zu sagen und zu tun, was gerade in den
Abendnachrichten besonders wichtig ist. Das bewegt
mich genauso wie Sie.
Ein Beispiel: Mit etwas Glück und Konsequenz
könnte es sein, dass der Friedensplan des Golfkooperationsrates endlich auch durch Präsident Salih für Jemen
angenommen wird. Es wäre allerhöchste Zeit, dass das
tatsächlich geschieht. Zurzeit schaut man nicht dorthin,
aber die Menschen im Jemen haben immer noch berechtigte Wünsche und Sehnsüchte. Man hat auch nicht im
Blick, was evolutionär vorangeht: die Reformen, die in
den drei Monarchien Marokko, Jordanien und Oman
eingeleitet worden sind. Man schaut nicht dorthin, weil
es keine entsprechenden Bilder gibt. Trotzdem unterstützt die Bundesregierung den Transformationsprozess
in den evolutionären Ländern genauso wie in den revolutionären Ländern. Das ist meiner Meinung nach der richtige Ansatz.
({4})
Wenn Sie sich selbst prüfen, dann müssten Sie sich auch
dahinter versammeln und sagen: Das ist die richtige Politik.
In Tunesien gibt es doch positive Signale, nämlich
dass diese Wahlen friedlich stattgefunden haben. Dort
wird Geschichte geschrieben. Nach Jahrzehnten der
Herrschaft von Ben Ali ist das, was dort stattgefunden
hat, Geschichte. Das Ende der Geschichte ist noch nicht
klar. Aber es ist ein Anfang gemacht. Deswegen müssen
wir das konstruktiv unterstützen, aber auch immer und
immer wieder hinschauen.
Für Ägypten gilt, was ich in Ägypten gesagt habe, auf
dem Tahrir-Platz und an anderen Orten: Die Revolution
in Ägypten hängt an einem seidenen Faden. Wir müssen
unsere ganze Kraft einsetzen, damit aus einem Transformationsprozess ein wirklicher Wandel wird. Die Menschen in diesen Ländern haben nicht nur gegen alte Diktatoren und autokratische Regime, sondern auch für
etwas demonstriert: für Lebenschancen, Demokratie,
Freiheit und Pluralität. Dabei müssen sie zu jeder Stunde
unsere Unterstützung haben, egal welcher Partei wir angehören. Das ist die Gemeinsamkeit der Demokraten.
Das ist die werteorientierte Außenpolitik, Frau Kollegin
Steinbach, die Sie zu Recht angesprochen und eingefordert haben.
({5})
Zu Afghanistan habe ich bereits Regierungserklärungen abgegeben. Wir verfolgen den mit Ihnen besprochenen Weg. Darauf haben Sie sich öffentlich positiv eingelassen. Warum soll hier Schärfe hineingebracht werden?
Ich will eine Schlussbemerkung zu einem aus meiner
Sicht zentralen Thema machen. Viele Fragen sind wichtig, auch zum Thema Nahost, aber dazu fehlt mir die
Zeit. Ich will abschließend nur noch eine Bemerkung
machen. Wir haben heute Morgen eine lebendige und
wichtige Diskussion über das Krisenmanagement in Europa geführt. Ich möchte als Außenminister nur einen Gedanken hinzufügen: Ich glaube, es reicht nicht, wenn wir
die Menschen in Europa und auch in Deutschland mitnehmen wollen, dass wir uns ausschließlich über das
Krisenmanagement austauschen, sondern es ist ebenso
notwendig, dass wir alle gemeinsam eine europäische
Geschichte schreiben und erkennen, dass es hier in
Wahrheit nicht nur um die europäische Frage geht, sondern auch um die deutsche Frage. Es geht darum, ob
Deutschland unbeirrt Teil der europäischen und internationalen Gemeinschaft sein will, und ich glaube, wir
sollten uns nicht nur mit der Lösung der Krise auseinandersetzen und kontrovers darüber streiten, sondern wir
sollten alle gemeinsam auch die Meinung vertreten: Wir
sind eingebettet in Europa, und diesbezüglich darf niemand Zweifel säen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister Westerwelle, es reicht einfach
nicht aus, dass Sie sich hier hinstellen und positiv über
den arabischen Frühling sprechen; denn Sie haben auf
der anderen Seite bis kurz vor Schluss an der Seite von
Diktatoren wie Mubarak gestanden.
({0})
Es ist auch nicht akzeptabel, dass Sie, wie jetzt aktuell,
beharrlich zu den über 30 Toten auf dem Tahrir-Platz geschwiegen haben. Ihr Schweigen war eine Schande, Herr
Minister. Überhaupt hat die Regierung lange gebraucht,
um über die Massaker auf dem Tahrir-Platz zu sprechen.
Es war auch nur die Rede von Nachrichten, und es erging ein Appell an beide Seiten, keine Gewalt mehr anzuwenden. Ich empfinde das als beschämend.
({1})
Der vorgelegte Haushalt, Herr Minister, ist gerade in
Bezug auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr einfach
nur unseriös. Insbesondere nennen Sie nicht die wirklichen Kosten des NATO-Kriegs in Afghanistan. Seit zehn
Jahren führt die Bundeswehr nunmehr Krieg am Hindukusch. Es ist nicht nur für die zahlreichen Opfer der
deutschen Kriegspolitik fatal, was dort in unserem Namen geschieht. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft kostete der deutsche Anteil an diesem schmutzigen Krieg bisher bis zu 33 Milliarden Euro. Jährlich
schlage der deutsche Kriegseinsatz mit bis zu 3 Milliarden Euro zu Buche. Das ist auch vor dem Hintergrund
der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise einfach unerträglich. Was könnte mit diesem Geld alles getan werden?
({2})
Wenn man diese Kriegskosten beispielsweise auf
meinen Wahlkreis Bochum umrechnet, wird die ganze
Dimension klar. Die Kriegskosten treffen nämlich auch
unsere Kommunen. Umgerechnet bezahlt die Stadt Bochum über 13 Millionen Euro jährlich für den Afghanistan-Krieg. Das ist doppelt so viel, wie die Stadt Bochum
bisher jährlich für die Gesundheitsvorsorge ausgibt.
Während in den Städten und Gemeinden Theater, Bibliotheken, Schwimmbäder, ganze Schulen bis hin zu Krankenhäusern geschlossen werden, steht diese Bundesregierung dafür, dass dies noch viele Jahre so weitergehen
soll. Wir als Linke sagen: Hier ist eine Umkehr nötig. Jeder Euro und jeder Cent für diesen verbrecherischen
Krieg ist einer zu viel.
({3})
Ihre Rede vom Abzugsdatum 2014 ist, wie sich jetzt
erneut herausstellt, eine Legende, eine glatte Lüge. Im
Vorfeld der Petersberg-II-Konferenz nächste Woche in
Bonn wird über ein Stationierungsabkommen verhandelt, das eine Präsenz von NATO-Truppen über das Jahr
2024 hinaus vorsieht. Diskutiert wird über bis zu 50 000
ausländische Soldaten, die dauerhaft am Hindukusch
bleiben sollen. Allein um die Bevölkerung hier in
Deutschland zu täuschen, erzählen Sie das Märchen vom
Abzug.
({4})
Sie reden vom Abzug und vom Frieden, aber Sie führen
Krieg. Hören Sie endlich auf, den Menschen Sand in die
Augen zu streuen!
({5})
Krise und Krieg sind lediglich zwei Seiten ein und
derselben Medaille. Der NATO-Krieg in Afghanistan
muss beendet werden. Die Bundeswehr muss umgehend
abgezogen werden. Diesen Krieg können wir uns im
Wortsinne nicht mehr leisten. Deshalb unterstützt die
Linke die Proteste gegen die Petersberg-Konferenz, auf
der wieder in alter kolonialistischer Manier fernab von
Afghanistan über die Zukunft und auch über die Menschen Afghanistans mit korrupten Regierungen und
Kriegsverbrechern wie Karzai entschieden werden soll.
Während Sie diese Kriegsverbrecher hofieren, wird sich
die Linke an der Seite der hiesigen Bevölkerung an den
Protesten gegen diesen Krieg beteiligen.
({6})
Wie sehr diese Bundesregierung weiterhin auf die Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik setzt, lässt sich an Details des Haushaltsentwurfs
deutlich erkennen. So lässt sich die Bundesregierung
ihre zivilen Ausbildungspartnerschaften für Jugendliche
in Drittstaaten gerade einmal 1,3 Millionen Euro kosten.
24 Millionen Euro hingegen stellt sie für die Ausbildung
und Ausrüstung afrikanischer Soldaten und Polizisten im
Rahmen der G-8-Initiative bereit.
Ähnlich sieht es bei den deutschen Beiträgen zu den
Vereinten Nationen aus. Von den knapp über 600 Millionen Euro, die an die UN fließen, gehen über 400 Millionen Euro direkt an deren Militärmissionen. Davon kosten allein die UN-Missionen in der Demokratischen
Republik Kongo, im Südsudan und auch in Somalia die
Hälfte, wo Sie wieder einmal völlig illegitime, korrupte
Regierungen absichern. Wir brauchen aber eine Stärkung der Vereinten Nationen mit ihren zivilen Strukturen
und keine Militarisierung der UNO. Die Linke will deshalb die Stärkung des Völkerrechts und nicht seine Aushöhlung.
({7})
Diese Aushöhlung sieht man auch bei Ihrer aktuellen
Sanktionspolitik gegen den Iran. Nicht nur, dass Ihre
Sanktionen die Bevölkerung im Iran schwer treffen werden. Das erinnert auch fatal an die Politik gegenüber
dem Irak vor dem Angriff der Koalition der Willigen
2003. Viele fühlen sich an die Kriegsvorbereitungen von
damals erinnert. Wieder einmal werden die Berichte von
Geheimdiensten für bare Münze genommen, wie es Herr
Mißfelder hier dargestellt hat, obwohl man doch spätestens seit dem Irakkrieg sehr vorsichtig mit derlei Informationen umgehen sollte. Die Bundesregierung muss
sich hier klar positionieren. Es ist zweifelhaft, wenn Sie
sich auf der einen Seite gegen einen Krieg gegen den
Iran erklären, aber auf der anderen Seite eine konfliktverschärfende Sanktionspolitik mittragen, die einen
möglichen Krieg mit dem Iran näher rücken lässt. Wir
brauchen hier eine politische Lösung. Ein neuer Krieg
im Nahen und Mittleren Osten wäre wirklich verheerend. Sie haben hier die Möglichkeit, zu erklären, dass
Krieg für Sie nicht weiter, wie in der Vergangenheit, ein
Mittel der Politik ist.
({8})
Ich komme zum Schluss. Ziel der Linken ist es, dass
deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wieder Friedenspolitik wird. Doch statt Frieden exportieren Sie immer
weiter Krieg und auch deutsche Rüstungsgüter in alle
Welt. Ich finde, eine andere und friedliche Außenpolitik
ist möglich. Das sind wir den Menschen in Afghanistan,
in Saudi-Arabien, im Jemen, in Ägypten und auch anderswo schuldig. Aber vor allem sind Sie das der großen
Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland schuldig.
Verwenden wir die vielen Milliarden Euro Kriegskosten endlich für soziale und ökonomische, für zivile und
vernünftige Projekte, hier und anderswo. Die Sicherheitspolitik muss im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung sein und nicht im Interesse der Rüstungsindustrie
und der Eliten.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Manuel Sarrazin das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Minister, Sie haben eben Europa und die Geschichte, die wir erzählen müssen, angesprochen. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wir
uns angewöhnt haben, die wichtigen Debatten über die
Zukunft der Europäischen Union mit dem Finanzminister oder mit Beamten im Kanzleramt zu führen und nicht
mit Ihnen. Ich muss Ihnen auch ganz ehrlich sagen, dass
ich das nicht gut finde.
({0})
- Herr Stinner, tun Sie mir bitte den Gefallen und lassen
Sie mich diesen Punkt zu Ende bringen. - Ich habe niemals einen Europaminister erlebt, der in einer solchen
Krise monatelang so wortlos zur Zukunft Europas gewesen ist.
({1})
Ich habe in der Geschichte Europas bisher keine liberale
Partei erlebt - außer vielleicht Fidesz, die einmal eine liberale Partei gewesen ist -, die es in dieser entscheidenden Frage nicht geschafft hat, zusammenzuhalten und
die Minderheit in ihrer Partei auch einmal zur Räson zu
bringen.
({2})
Ich nehme es Ihnen nicht ab, wenn Sie mir jetzt zurufen,
das liege an mir.
({3})
Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Der Minister ist in
der letzten Sitzungswoche in den Ausschuss gekommen
und hat gesagt, dass er in den Ratsformationen seit Monaten für Vertragsänderungen werbe.
({4})
Aber wir sind zum ersten Mal im Oktober in einem
Drahtbericht darüber unterrichtet worden. Er hat uns offen ins Gesicht gesagt, er sei an unseren Anregungen interessiert. Das Strategiepapier des AA lag aber schon
längst vor.
({5})
Deshalb möchte ich Ihnen ganz deutlich sagen: Dieser
Außenminister wird der Rolle als Europaminister, als zuständiger Minister für Europapolitik nicht gerecht.
({6})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Ich kann Ihnen noch etwas sagen, was Sie bei diesem
Strategiepapier falsch machen. Sie haben mit Herrn Rösler in der Welt geschrieben - das bezog sich auf Vertragsänderungen; ich zitiere -:
Nichts ist für uns wichtiger, als die Bürgerinnen
und Bürger auf diesem Weg anzuhören, zu beteiligen und zu überzeugen.
Ihnen fällt das schon bei uns schwer. Sie haben tage-,
wochenlang in Brüssel Ihr Strategiepapier und Ihre Vorstellungen vorgetragen, ohne es uns zuzuleiten. Irgendwann habe ich eine entsprechende Anforderung gestellt,
nachdem in den Zeitungen darüber berichtet wurde. Daraufhin wurde uns dieses Papier zugeleitet. Aber das hat
nichts mit dem zu tun, was Sie angekündigt haben, nämlich die Bürger auf dem Weg anzuhören, zu beteiligen
und zu überzeugen. Das ist Hinterzimmerpolitik, die wir
sonst eher aus dem Kanzleramt gewohnt sind.
({7})
Herr Minister, das, wofür Sie sich einsetzen, ist ein
Grundfehler, den wir nicht wiederholen sollten. Wir
brauchen Vertragsänderungen - ich hoffe, dass die Kollegen im Europäischen Parlament dieses Thema noch
einmal auf die Tagesordnung setzen werden -, die in einem echten europäischen Konvent und vor allen Dingen
unter Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner zustande kommen und die zu mehr europäischer
Demokratie unter Berücksichtigung sozialer Fragen führen. Solche Änderungen dürfen nicht einfach nur von irgendwelchen Beamten in Brüssel, im Kanzleramt oder
vielleicht noch im Élysée ausverhandelt werden.
({8})
Die Europäische Union ist - das haben wir immer betont - mehr als eine Wirtschaftsunion; darüber sind wir
uns einig. Umso wichtiger ist es jetzt, den Menschen zu
erklären, dass wir - um die Wirtschafts- und Solidarunion, um die Union des Rechts und der Freiheit zu bewahren - mehr Wirtschaftsunion brauchen werden. Die
Wahrheit ist - da haben Sie recht, Herr Stinner -: Kleinstaaterei wird nicht der Weg aus der Krise sein. Wenn jeder Nationalstaat in Europa seinen eigenen Weg geht,
wird uns die Krise einholen und überholen. Das kann
nicht der Weg in die Zukunft sein. Wir müssen unser
Glück, als Deutsche in Europa eingebunden zu sein,
deutlicher zum Ausdruck bringen. Wir brauchen daher
keinen schwachen Europaminister, der sich monatelang
zu den angesprochenen Themen im Wesentlichen ausschweigt.
({9})
Wenn wir angesichts der Schlagzeilen sehen, dass wir
vielleicht am Vorabend der entscheidenden Zuspitzung
der Krise stehen, und da es vielleicht schon in den nächsten Tagen und Wochen darauf ankommen wird, ob wir in
dieser Situation zusammenhalten oder nicht, muss ich
sagen: Hören Sie auf, plump rote Linien zu benennen!
Sagen Sie zuallererst, dass Deutschland alles tun wird,
um den Euro zu retten und die Europäische Union zusammenzuhalten. Dann können Sie Maßgaben formulieren. Hören Sie auf, wie Herr Westerwelle und Herr Brüderle rote Linien zu ziehen, die den Zweifel daran
nähren, dass wir dabei sein werden, wenn es darum geht,
dieses Europa zusammenzuhalten.
({10})
Die Unsicherheit, die Ihre Regierung verbreitet, ist fatal.
Ihr Krisenmanagement hat Europa nicht auf das vorbereitet, was in den nächsten Tagen und Wochen kommen
wird. Sie haben die europäischen Institutionen, die handeln könnten, geschwächt. Sie haben die Parlamente
nicht ausreichend beachtet und beteiligt. Wir werden den
notwendigen Weg ohne starke Unterstützung des Außenministers gehen. Ich wünsche mir, Herr Westerwelle, dass
auf Ihrem Stuhl ein echter Europäer sitzt. Es ist Pech für
uns, dass Sie bislang nicht haben liefern können. Ich wünsche mir, dass Sie eine europäische Stimme in der Bundesregierung sind. Allein mir fehlt der Glaube. Ich hoffe,
dass Sie die Zeit, die Ihnen noch bleibt, nutzen, um es besser zu machen.
({11})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Link das
Wort.
Herr Kollege Sarrazin, unsere Zusammenarbeit ist im
Ausschuss und auch sonst sehr konstruktiv. Das ändert
sich periodisch immer wieder, wenn hier im Plenum Reden gehalten werden.
Ich bin sehr erstaunt darüber, in welcher Form Sie
dargelegt haben, was diese Koalition in der gesamten
Zeit der Euro-Krise gemacht hat. Unsere Prämisse ist,
die Euro-Zone zusammenzuhalten und die Währungsunion dort fortzuentwickeln, wo wir dringend Änderungen brauchen. Exakt das tun wir mit Anträgen und tut
der Bundesaußenminister durch entsprechendes Werben
seit der Zuspitzung der Krise. Er hat insbesondere dafür
geworben, die Lehre aus dem zu ziehen, was wirklich
falsch gelaufen ist. Rot-Grün hat - daran möchte ich erinnern - 2002, 2003 und 2004 den Stabilitäts- und
Wachstumspakt entkernt. Daraus müssen wir dringend
Lehren ziehen. Der Bundesaußenminister wirbt deshalb
gemeinsam mit der Bundesregierung für entsprechende
Vertragsänderungen.
({0})
Wir gehen das konsequent an.
Wir erwarten bei diesem Punkt, dass immer dann,
wenn es ernst wird, wenn nämlich Sanktionen tatsächlich
verhängt werden sollen, von der Grünen-Fraktion mehr
kommt als nur ein Kuschelkurs, ein Weiter-so, ein Ganzschnell-die-Schleusen-Öffnen. Wir sollten nicht nur ein
Wunschkonzert machen, sondern deutlich sagen, dass wir
wirklich bereit sind, die Lehren aus dieser Krise zu ziehen. Da würde ich mir von den Grünen mehr Beiträge
Michael Link ({1})
wünschen. Morgen zum Beispiel hätten sie die Gelegenheit dazu. Morgen diskutieren wir den EU-Haushalt. Ich
warte bis zum jetzigen Moment auf einen Antrag der Grünen-Fraktion dazu.
({2})
Sie haben das Wort.
Verehrter Kollege Link, wir arbeiten im Ausschuss
wirklich sehr gut zusammen, und das kann man auch sagen. Ich glaube aber, dass wir uns dessen bewusst sein
müssen, in welcher Lage wir sind. Ich glaube, dass in der
Lage, in der wir sind, gewisse Fragen des Klein-Klein
- 2004, 2005 - ({0})
- Frau Homburger, Entschuldigung! Wenn Sie jetzt hier
so reinblöken, möchte ich Sie einmal darauf hinweisen:
({1})
Wir haben im Juli hier den Antrag gestellt, automatische
Sanktionen einzuführen. Den haben Sie abgelehnt. Sie
haben es in Brüssel gekippt.
({2})
Ich wollte nur gerade darauf hinweisen, dass es aus
meiner Sicht zwei große Schwierigkeiten gibt:
Erstens brauchen wir Vertragsänderungen; darüber reden wir schon lange. Wir brauchen weiter gehende Vertragsänderungen als die, die diese Bundesregierung, wie
ich glaube, vorschlagen wird. Wir brauchen vor allem
die Verbindung der künftigen Wirtschaftsunion oder
Wirtschaftsregierung, wie auch immer wir es nennen,
mit der Frage der Demokratie. Wir werden die Menschen auf diesem Weg nicht mitnehmen können, wenn
wir nicht dazu stehen, das demokratisch zu machen, das
zu legitimieren und die europäische Demokratie damit
zu verbessern. Ich glaube, dass ich mir mit vielen Liberalen im Europäischen Parlament und in Europa in dieser
Frage einig bin. Aber ich sehe nicht, dass dieser Außenminister dieses Thema auf die Tagesordnung bringt; er
lässt es sich von den Finanzministerien diktieren.
({3})
Zweitens. Sie sehen doch, dass wir ohne eine Governance nicht aus dieser Krise kommen werden. Aber diese
Bundesregierung hat die europäischen Institutionen, die
die Governance liefern können, auf den Marschbefehl der
Kanzlerin in der Rede von Brügge hin kleingehalten. Da
hätte ich mir gewünscht, dass der Außenminister dagegenhält und ein Plädoyer dafür abgibt, dass wir ohne das
Europäische Parlament, ohne die Europäische Kommission nicht aus dieser Krise herauskommen werden.
Wir werden in den nächsten Tagen - vielleicht auch
erst in den nächsten Wochen - erleben, dass viel größere
Herausforderungen und Anforderungen auf uns zukommen werden, als wir bisher glauben. Diese Herausforderungen werden alle in diesem Haus, auch uns, vor große
Fragen stellen. Ich möchte einfach, dass die Unsicherheit, die über die Position dieser Regierung und vor allem der FDP bisher besteht - ich weiß: nicht alle von Ihnen können etwas dafür -, nicht neu genährt wird über
rote Linien, die Sie ziehen und an die wir stoßen werden.
Das ist meine Sorge, weil ich genau weiß: Das, was auf
uns zukommt, werden wir nicht mit einfachen Mehrheiten, Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb, lösen können; da
wird mehr gefordert sein. Darum bitte ich Sie, keine roten Linien zu ziehen, zumindest nicht als Erstes, sondern
zunächst die Aussage zu machen: Wir werden alles tun,
was nötig ist, um Europa zusammenzuhalten und den
Euro zu retten.
({4})
Bevor es in der Debatte weitergeht: Ich nehme an,
dass alle Fraktionen wie auch diejenigen, die uns zuhören, die Belebung der Debatte begrüßen. Wir sollten
trotzdem, wenn wir bestimmte Reaktionen von Kolleginnen und Kollegen bewerten, bei unserer Wortwahl an
die parlamentarische Ausdrucksweise denken.
({0})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Michael Stübgen das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will am
Anfang ganz kurz auf Ihren Beitrag eingehen, Herr Sarrazin. Sie haben sich gerade nachdrücklich darüber beschwert, dass der Bundesaußenminister sich - angeblich
- nicht um Europapolitik kümmert. Das ist Ihr Vorwurf;
Sie sehen das so. Das wundert mich allerdings, da es
keine zwei Wochen her ist, dass Sie sich sowohl bei uns
im Europaausschuss als auch öffentlich heftig darüber
beschwert haben, dass der Außenminister europapolitisch tätig geworden ist. Er hat Grundlinien für eine Vertragsänderung entworfen, von der Sie gesagt haben, dass
sie gut und richtig wäre. Sie haben allerdings gesagt, er
dürfe das nicht, bevor er mit Ihnen geredet hat. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen, das eine
oder das andere. Beides zu kritisieren, ist aber ein bisschen merkwürdig.
({0})
Wir sind überhaupt nicht der Meinung - es stimmt
auch nicht -, dass das Auswärtige Amt und der Bundesaußenminister europapolitisch nicht aktiv sind. Natürlich
gibt es immer Fragen, die aktuell im Ecofin und in der
Euro-Gruppe geklärt werden müssen. Das hat etwas mit
der Substanz der Probleme zu tun. Aber wir wissen sehr
genau und beraten auch im EU-Ausschuss regelmäßig
darüber, wie wichtig die Arbeit des Auswärtigen Amts
ist. Das sieht man auch an der mittelfristigen Finanzplanung. Bei dem mehrjährigen Finanzrahmen der EU für
die Jahre 2014 bis 2020 geht es um einen Billionenhaushalt, wie Sie alle wissen. Über diese Arbeit des Auswärtigen Amts steht in der Tat nicht jeden Tag etwas in der
Zeitung; dennoch ist sie von fundamentaler Bedeutung.
({1})
Damit bin ich bei meinem ersten Thema. Ich glaube,
es ist sehr wichtig, dass wir im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung verstärkt ein Augenmerk auf den
Haushaltsvollzug seitens der Europäischen Kommission
richten. Wir als Koalitionsfraktionen werden morgen einen Antrag, der sich substanziell und detailliert mit den
Vorschlägen für den nächsten Finanzrahmen der Europäischen Union beschäftigt, einbringen. Ich will nur ein
Detail herausgreifen, das uns als Haushaltsgesetzgeber
nicht beim Haushalt 2012, aber im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung sehr direkt treffen könnte.
Es geht um den Sachverhalt, dass die Europäische
Kommission vor ungefähr einem halben Jahr festgestellt
hat, dass sich im Bereich der sogenannten RAL - reste à
liquider -, also nicht ausgeführter Verpflichtungsermächtigungen, eine „Bugwelle“ aufbaut, die ein Ausmaß erreicht, das seinesgleichen bisher nicht kennt. Was sind
sogenannte nicht ausgeführte oder nicht vollendete Verpflichtungsermächtigungen? Die Europäische Union gibt
- anders als die nationalen Haushaltsgesetzgeber - für bestimmte Projekte in den Mitgliedsländern Teilfinanzierungen oder Vollfinanzierungen als Verpflichtungsermächtigungen. Die Projekte dauern manchmal mehrere
Jahre; manche Projekte verschieben sich auch. Dadurch
entstehen nicht vollendete Verpflichtungsermächtigungen. Insoweit ist das normaler europäischer Haushaltsvollzug. Bisher war es so, dass sich beim Übergang von
einer Finanzplanung zur nächsten Verpflichtungsermächtigungen in Höhe eines zweistelligen Milliardenbetrages
angesammelt hatten. Auch dies war normaler Haushaltsvollzug; sie konnten im laufenden Haushalt berücksichtigt werden.
Die Europäische Kommission hat allerdings festgestellt, dass diese Entwicklung dazu führen könnte, dass
wir bis zum Jahr 2014, also bis zum Beginn der neuen
mittelfristigen Finanzplanung, nicht ausgeführte Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von bis zu 250 Milliarden Euro haben; das wäre knapp ein Viertel des gesamten Haushalts von 2014 bis 2020. Wenn dies eintritt,
wird Folgendes passieren: Wir, die Geberländer, die Nettozahlerländer, haben dann nicht nur den Beitrag für das
neu anlaufende Finanzprogramm zu zahlen, was völlig
normal wäre - das wird ausgehandelt und einstimmig
beschlossen -, sondern zusätzlich, ohne dass wir uns
vorher darauf einstellen können, diese 250 Milliarden
Euro, sodass die ersten Jahre, die Jahre 2014 bis 2016,
unkalkulierbar werden. Dies würde bedeuten, dass für
uns als Haushaltsgesetzgeber nicht nur unsere Beiträge
an die Europäische Union für die mittelfristige Finanzplanung, sondern auch die Haushalte für das jeweils
nächste Jahr unkalkulierbar würden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das komplexe Ursachengeflecht für diese Entwicklung ist wohl
überwiegend objektiv zu erklären. Ich erhebe hier also
nicht den Vorwurf, dass die Europäische Kommission dafür verantwortlich ist - vielleicht zum Teil; es gibt aber
objektive Gründe, die im Wesentlichen aus der Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre herrühren.
Nicht akzeptabel ist allerdings die Tatsache, dass wir seit
dem Zeitpunkt vor mehr als sechs Monaten, als die erste
Mitteilung der Europäischen Kommission über ausstehende Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von
250 Milliarden Euro ergangen ist, keine konkrete Analyse
- zumindest wurde sie uns nicht vorgelegt - darüber bekommen haben, welche es sind und mit welchen Laufzeiten, geschweige denn irgendwelche Vorschläge gemacht
wurden, wie wir dieses Problem bis 2014 beheben oder
zumindest stark reduzieren können.
Ich halte dies allerdings für ein eklatantes Versäumnis
der Kommission. Sie ist für die Haushaltsdurchführung
verantwortlich und hat daher die Verpflichtung, solchen
Entwicklungen entgegenzuwirken. Sie kann nicht sagen:
Darüber sollen sich die Mitgliedsländer einmal Gedanken machen. Das halte ich für uns als deutschen Gesetzgeber nicht für hinnehmbar. Ich erwarte daher von der
Europäischen Kommission, dass sie erstens umgehend
die Analyse des konkreten Problems fortsetzt und uns
das Ergebnis vorlegt und uns zweitens sehr bald konkrete Vorschläge dazu macht, wie wir diesem Problem
begegnen können.
({2})
Anstatt dass sich die Europäische Kommission mit
diesen und anderen dringenden Problemen beschäftigt,
meint der Präsident der Kommission, Herr Barroso, uns
mit allerlei Variationen von Euro-Bonds beglücken zu
müssen. Ich bin überrascht, dass das bei dieser Debatte
noch keine Rolle gespielt hat. Wir haben gelernt, dass es
inzwischen einen neuen Begriff hierfür gibt: Stabilitätsanleihen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
Kürze der Zeit will ich hierzu nur ein paar Anmerkungen
machen. Seit gut anderthalb Jahren haben wir es mit
Menschen zu tun, die sich berufen fühlen, immer wieder
neue Vorschläge und Rettungspläne zu machen, ohne
einmal darauf einzugehen, was bei der vorliegenden Beschlusslage überhaupt umgesetzt werden muss. Da gibt
es so einiges: Wir müssen die Guidelines im Zusammenhang mit EFSF II umsetzen. Das ist sowieso längst überfällig und muss noch in diesem Jahr geschehen. Ich gehe
davon aus, dass das passiert. Außerdem müssen wir das
Griechenland-II-Paket mit der Gläubigerbeteiligung spätestens Anfang nächsten Jahres vorstellen. Wir brauchen
insofern keine Vorschläge zu Euro-Bonds oder diversen
Variationen.
Ich will aber noch auf einen weiteren Punkt eingehen.
Auf die deutschen Haushalte - und zwar auf die von
Bund, Ländern und Gemeinden - würden bei der Einführung von Euro-Bonds, egal in welcher Form, immense Kosten zukommen. Das Hauptproblem ist aber
Folgendes: Wenn wir bei der Einführung von EuroBonds einen ganz massiven Aufwuchs der Gewährleis16966
tungen der Euro-Länder - gerade derjenigen, die noch
Triple-A sind - hätten, würden dabei mit Sicherheit einige Euro-Länder - vielleicht nicht sofort Deutschland in das Downgrading beim Rating geraten. Das würde mit
erhöhten Zinsgebühren einhergehen und würde die Verschuldenssituation noch verschlechtern. Damit würden
wir die Situation noch weiter verschlimmern.
({3})
Selbst wenn man das alles für hinnehmbar hält, bleibt
ein weiteres Problem der Euro-Bonds, das sich in den
letzten Jahren und insbesondere in den letzten Wochen
ganz besonders an Griechenland gezeigt hat: Man
konnte beobachten, dass die Entwicklung in den letzen
anderthalb Jahren sehr schleppend vorangegangen ist.
Sie ist aber nur deshalb überhaupt vorangegangen, weil
das Land nach den Vorgaben des bisherigen Hilfsprogramms alle drei Monate nachweisen muss, dass es die
Konditionalitäten einhält und seine eigenen Reformbemühungen mit allen Anstrengungen umsetzt.
Sobald in Griechenland bisher der Eindruck entstanden ist, jetzt habe man erst einmal für drei Monate Luft,
sind die Reformanstrengungen liegengeblieben. Wir haben jetzt mit einer neuen Regierung die Chance auf Veränderung. Ich hoffe, dass diese Regierung es endlich
schafft, das enorme Ungleichgewicht der griechischen
Reformpolitik abzuschaffen - bislang wurde nämlich nur
bei Renten, Arbeitslosengeld, Sozialversicherung etc.
eingespart, aber die großen Einkommensbezieher und
Vermögensbesitzer zahlen nach wie vor fast keine Steuern. Das Ganze ist aber nur durch den direkten Druck der
ständigen Kontrolle erfüllbar. Euro-Bonds würden diese
Kontrolle unmöglich machen.
({4})
Deswegen wären sie der falsche Weg. Wir können nur
auf dem Weg weitergehen, den wir bisher gegangen
sind.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Axel Schäfer hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei der heutigen Debatte geht es, insbesondere was Europa anbelangt, um eine Frage, über die wir 2010, 2009,
2008, 2007 und davor nie diskutieren mussten.
Es geht nicht mehr um die Frage: Wie werden wir die
Vertiefung und Erweiterung der EU gestalten? Jetzt geht
es um die Frage: Wie werden wir die EU erhalten? Das
ist eine Debatte, die wir in 60 Jahren noch nicht führen
mussten. Deshalb muss unsere Debatte in diesem Hause
dem auch angemessen sein. Weil das so ist, möchte ich
die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP nur
an zwei Punkten kritisieren:
Der erste Punkt betrifft das, was Kollege Stübgen
zum Thema Griechenland gesagt hat. In Griechenland
besteht das Problem zurzeit darin, dass die Vereinbarungen, die unter den Parteien und mit der Troika in Europa
getroffen worden sind, von einer Kraft nicht getragen,
nicht unterzeichnet werden und deshalb nicht umgesetzt
werden können, nämlich von der christdemokratischen
Opposition, also von Ihren Parteifreunden. Das ist das
aktuelle Problem in Griechenland. Deshalb bitte ich Sie:
Reden Sie mit Herrn Samaras. Sie kritisieren auch Herrn
Barroso. Auch er ist einer Ihrer Parteifreunde. Sie können doch hier nicht sagen, es gebe bei diesen Themen
eine Kakofonie, obwohl es doch letztlich immer um Ihre
Leute geht.
({0})
Der zweite Punkt. Kollege Stinner, die Rede, die Sie
gehalten haben, betraf weniger den Bundestag als die
Mitglieder Ihrer eigenen Partei. Ich kann nur hoffen,
dass die europäischen Überzeugungen, die Sie hier vorgetragen haben, von den Mitgliedern Ihrer Partei tatsächlich getragen und bei der Abstimmung entsprechend
zur Geltung gebracht werden. Denn es ist wichtig, dass
wir die FDP an dieser Stelle an Bord behalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir über Demokratie reden: Es geht nicht, dass ein Ministerpräsident in
Europa, der die mutigsten Sparmaßnahmen, die es bisher
überhaupt gab, und die schwierigsten Einschnitte, die
man sich vorstellen kann, vorgenommen hat - dagegen
waren Hartz IV und alles andere in unserem Lande nur
ein leises Säuseln -, auch von der Bundesregierung beschämt und beschädigt wird. Papandreou hat gesagt: Ich
trete vor die Bürgerinnen und Bürger und mache mein
eigenes Schicksal von der Volksabstimmung abhängig. Sie tun so, als wäre es etwas Unrechtes, den Bürgerinnen
und Bürgern in einem Volksentscheid die Entscheidung
über elementare Fragen zu überlassen.
({1})
Ich will auf etwas hinweisen, was in Europa, abgesehen vom luxemburgischen Parlament, wahrscheinlich nur
für den Bundestag gilt: Wir haben in diesem Hause seit
40 Jahren bei allen wichtigen, grundlegenden Entscheidungen zur EU bzw. davor zur EG eine Übereinstimmung
zwischen den Christdemokraten, den Sozialdemokraten,
der FDP und - seit 1983 - den Grünen. Dieses kostbare
Gut, dass wir, egal in welcher Konstellation oder Koalition wir waren, dieses Europa gemeinsam entwickelt und
vorangebracht haben, müssen wir in der jetzigen Situation erhalten; darum wird es gehen.
Ich bin überzeugt: Wir werden 2012 vor ganz andere
Fragen gestellt als vor die, über die wir heute diskutieren. Wir werden nämlich vor die Frage gestellt werden:
Ist es tatsächlich vorstellbar, dass die Euro-Zone zusammenbricht, oder können wir das verhindern? Schauen
Sie sich bitte die Analysen der SWP und anderer seriöser
Wissenschaftler an: Sie stellen Projektionen auf, die uns
wirklich Sorge machen sollten. Die Politik muss an der
Stelle agieren und darf nicht nur reagieren.
Axel Schäfer ({2})
Was Aktion anbelangt, ist Folgendes das Wichtigste
- und es ist gut, dass sich Sozialdemokratinnen, Sozialdemokraten und Grüne da einig sind -: Wir dürfen nicht
mehr Dinge ausschließen, von denen wir wissen, dass
wir sie gebrauchen könnten. Wir müssen auf den Erfahrungen der letzten 15 Monate aufbauen, in denen immer
wieder Sachen ausgeschlossen wurden, die dann am
nächsten Tag realisiert worden sind. So werden wir in
der Europapolitik nicht weitermachen können.
({3})
Deshalb müssen wir auch aussprechen, worum es
hierbei geht. Es darf nicht ausgeschlossen werden, so
wie es heute der Präsident der Europäischen Kommission - wie gesagt: ein Christdemokrat - vorgeschlagen
hat: Euro-Bonds, oder wie auch immer man gemeinschaftliche Anleihen nennt. Am Schluss darf natürlich
auch nichts ausgeschlossen werden, was die Aktivitäten
im Bereich des Geldes bei der Europäischen Zentralbank
anbelangt, und zwar nicht, weil die SPD jetzt sagen
würde „Prima, möglichst schnell Euro-Bonds!“ oder die
Grünen vielleicht sagen würden „Prima, die EZB muss
jetzt geldpolitisch tätig werden!“
({4})
Die Frage der Notenbank wird dann eine Rolle spielen,
wenn es darum geht, ob Europa erhalten werden kann
oder zerstört wird. Das müssen wir uns bewusst machen.
({5})
In der Situation, in keiner anderen, werden wir sein. Wir
sind im Jahre 2012 - zum Glück gibt es da so wenige
Wahlen - nicht mehr in der Situation, über ökonomische
Dogmen zu reden; wir werden über politische Handlungsfähigkeit reden. Wir müssen weniger, als es heute
geschehen ist, über Preise reden; wir müssen mehr über
Werte reden. Wir müssen nicht wie die Kanzlerin über
Demoskopie reden, sondern über Demokratie.
({6})
Um diese europäische Demokratie wird es im Jahre 2012
gehen. Ich kann, liebe Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU und der FDP, nur an Sie appellieren: Denken
Sie an den Weg, den wir von Mai 2010 bis jetzt, zum
November 2011, gegangen sind. Sie mussten alle Vorschläge, die wir gemacht haben, entweder übernehmen
oder stillschweigend annehmen. Verschließen Sie sich
nicht den Notwendigkeiten des Jahres 2012. Es geht um
unser gemeinsames Europa, um das, was uns in dieser
Gesellschaft zusammenhält. In dieser Hinsicht werden
nicht nur Grüne und Sozialdemokraten, sondern auch
Christdemokraten und Liberale in Deutschland wie in
ganz Europa ihre Verantwortung anders wahrnehmen
müssen, als sie das bisher getan haben.
({7})
Wir sind noch in der Opposition, haben aber diese Verantwortung wahrgenommen und werden sie auch in Zukunft wahrnehmen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Frankenhauser für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Letzten beißen die Hunde. Ich versuche aber
trotzdem, als Haushälter in die Niederungen des Haushaltes einzusteigen, nachdem hier fast eineinhalb Stunden lang prächtige „tours d’horizons“ gefahren worden
sind.
Herr Kollege Schäfer, Sie sehen, wie schnell sich die
Zeiten ändern. Herr Samaras hat schriftlich zugesagt,
dass er die Auflagen mittragen wird.
({0})
Es stellt sich die Frage, ob er Phoenix sieht oder ob es
unsere Außenpolitik war. Ich stelle das anheim.
Gestatten Sie mir, dass ich noch ein paar Minuten
lang etwas zum Haushalt sage. Wenn ich richtig informiert bin, soll es sich um eine Haushaltsdebatte handeln.
Wie es ohne Geld in der Außenpolitik aussehen würde,
werde ich am Schluss meiner Ausführungen zum Besten
geben.
Zunächst möchte ich mich beim Auswärtigen Amt
sehr herzlich bedanken. Das betrifft an erster Stelle den
Minister, aber auch Herrn Dr. Morhard. Er ist für die
Haushälter immer ein idealer Ansprechpartner. Die Zusammenarbeit hat hervorragend funktioniert. Genauso
herzlich möchte ich mich für die exzellente Zusammenarbeit unter den Kolleginnen und Kollegen bedanken.
An der Stelle möchte ich dem Auswärtigen Amt auch für
die vorzügliche Betreuung danken, die viele unserer
Kolleginnen und Kollegen bei den Botschaften im Ausland erfahren. Selbst Kolleginnen und Kollegen aus dem
Europäischen Parlament nehmen die Einrichtungen der
deutschen Botschaften viel lieber in Anspruch als die des
merkwürdigen Europäischen Auswärtigen Dienstes.
({1})
Ich kann erfreulicherweise mitteilen, dass der Haushalt des Auswärtigen Amtes im Verlaufe des Bereinigungsverfahrens auf nunmehr 3,324 Milliarden Euro erhöht werden konnte. Übrigens sei den Kolleginnen und
Kollegen der Opposition ins Stammbuch geschrieben,
dass dies der höchste Haushalt ist, den das Auswärtige
Amt jemals hatte. Lieber Herr Kollege Kindler, es ist
nicht so, dass wir Ihretwegen einen Schrecken bekommen und gezittert haben, vielmehr haben wir das aus ei16968
genem Antrieb gemacht. Wir setzen gerne eine vernünftige, den Notwendigkeiten angepasste Haushaltspolitik
durch.
Wie weit wir mit Ihnen kommen würden, lässt sich an
folgenden Zahlen ablesen: Die Linken haben Zusatzausgaben in Höhe von 155,9 Millionen Euro ohne Deckung
gefordert. Bündnis 90/Die Grünen waren etwas bescheidener: Bei ihnen waren es 139,7 Millionen Euro ohne
Deckung.
({2})
- Das waren letztes Jahr irgendwelche Abgaben auf
Flugtickets. Das ist auch in die Hose gegangen, Herr
Kollege Kindler. - Bei der SPD sind es immer noch
80 Millionen Euro.
({3})
- Nein, nicht mit Deckung, Herr Kollege. Wir machen
noch einmal ein Privatissimum in Addition und Subtraktion.
({4})
Dann wird sich herausstellen, dass es 80 Millionen Euro
ohne Deckung sind.
Wir betreiben keine Außenpolitik nach Kassenlage,
sondern wir machen sie mit der notwendigen finanziellen Ausstattung. Zum Beispiel haben wir - was, glaube
ich, eine ganz wichtige Maßnahme war - den Schulfonds um 15 Millionen Euro erhöht.
({5})
Ich möchte mich noch einmal an die voll besetzte
Bundesratsbank wenden.
({6})
Die Länder erklären uns ständig, wie dringend notwendig die Auslandsschulen sind, aber aus der Finanzierung
haben sie sich mittlerweile völlig zurückgezogen. Es
wäre doch eine schöne Geschichte, wenn sich die Herrschaften vielleicht im Bundesrat treffen würden,
({7})
um darüber nachzudenken, uns zu unterstützen. Um einer Mär vorzubeugen: Wir haben den größten Ansatz für
auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Immer wieder
wird das Gegenteil behauptet.
({8})
Die Konsolidierung des Bundeshaushaltes ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie kann nicht nur von
wenigen gemacht werden, und sie kann auch nicht vor
Kulturträgern haltmachen. Als besonders inakzeptabel
empfinde ich es, wenn sich sogenannte Zuwendungsempfänger an dem, was wir an Zuwendungen aufbringen
- und zwar sehr reichlich - öffentlich Kritik üben.
Wir haben in einem ersten Schritt versucht, die notwendige Personalausstattung für das Auswärtige Amt
bereitzustellen; denn es kann nicht sein, dass wir aus politischen Erwägungen sehr viele Auslandsvertretungen
neu eröffnen, diese aber keine adäquate Personalausstattung haben.
Zum versöhnlichen Abschluss - ich bin der letzte
Redner zu diesem Einzelplan - möchte ich Ihnen ein Gedicht von Alice von Gaudy aus der Zeit Friedrichs des
Großen vortragen, in dem es darum geht, wie es ohne adäquate Mittelausstattung aussehen könnte. Ich zitiere
- mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin -:
… Auch unterbreite ich ehrfürchtigst Eure Majestät,
dass es mit solchener Sparsamkeit nicht weiter
geht.
Die Gelder zur Repräsentation gehorsamst zu melden - sind allzu knapp.
Erhalt ich keine Subvention,
ich schaffe - gehorsamst - die Pferde ab,
ingleichen die Equipage.
Soll man am Londoner Hofe sehn
Preußens Gesandten zu Fuße gehen,
wegen sumissest zu pauvrer Gage?
Der König
- ich könnte auch sagen: Haushaltsausschuss ({9})
liest es und lächelt fein.
Dann taucht er den spitzen Gänsekiel ein,
und schreibt an den Rand des Gesandtenberichts:
Subvention - jetzt und künftig - nichts.
Er möge sans ĝene zu Fuße spazieren …
In diesem Sinne kann man nur feststellen: Das Auswärtige Amt ist bei dieser Koalition bestens aufgehoben.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 05
- Auswärtiges Amt - in der Ausschussfassung. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Einzelplan 05 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt II.12 auf:
Einzelplan 14
Bundesministerium der Verteidigung
- Drucksachen 17/7113, 17/7123 Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb
Bernhard Brinkmann ({0})
Dr. Gesine Lötzsch
Vizepräsidentin Petra Pau
Zum Einzelplan 14 liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die
wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen
werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Bernhard Brinkmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie
mir, dass ich mich zu Beginn meiner Ausführungen bei
den Kolleginnen und Kollegen Berichterstattern sowie
beim Ministerium für die in den vergangenen Wochen
uns zur Verfügung gestellten Unterlagen sehr herzlich
bedanke. Alle Fragen sind bestens beantwortet und alle
Wünsche erfüllt worden. Die Unterlagen, die uns zur
Verfügung gestellt worden sind, haben uns die Beratung
über den Einzelplan 14 einfacher gemacht. Es war wie
immer eine angenehme und zielorientierte Zusammenarbeit.
Der Einzelplan 14 für das Haushaltsjahr 2012 bildet
zum ersten Mal die neuen Strukturen, die Neuausrichtung unserer Bundeswehr ab. Hierfür sind entgegen der
Planung Ihres Vorgängers, Herr Minister de Maizière,
31,9 Milliarden Euro vorgesehen. Ich stelle erneut fest:
Die vollmundigen und nicht haltbaren Sparvorgaben des
Herrn zu Guttenberg sind damit endgültig Makulatur,
und das ist auch gut so.
({0})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen
seit jeher für eine moderne und leistungsfähige Bundeswehr ein, die fest in unserer Gesellschaft verankert ist.
Wir stehen dafür, dass unsere Streitkräfte - neue Strukturen hin oder her - eine Parlamentsarmee sind und bleiben.
Heute Morgen, im Zusammenhang mit dem Einzelplan des Bundeskanzleramts, sind Sie, Herr Minister de
Maizière, für das, was Sie auf den Weg gebracht haben,
gelobt worden. Das teile ich uneingeschränkt. Eine Aussage der Bundeskanzlerin aber wird uns in den nächsten
Wochen, Monaten, vielleicht auch erst in Jahren einholen. Die vollmundigen Sparversprechen des Herrn zu
Guttenberg sind kaschiert worden. Die Frau Bundeskanzlerin hat erklärt: Durch diese Reform wird es mittelfristig zu Einsparungen kommen. - Ich stelle hier einmal
fest: Belastbare Zahlen liegen bis heute nicht vor. Ich
gehe davon aus, dass sie uns in den nächsten Jahren auch
nicht geliefert werden können. Wer den Einzelplan und
seine Strukturen kennt, wer weiß, wie sich das auf der
Ausgabenseite letztendlich auswirkt, der muss zur
Kenntnis nehmen, dass hier nur ein sehr geringes Einsparpotenzial vorhanden ist.
Die umfassende Neuausrichtung der Bundeswehr, das
Ende der Wehrpflicht, der damit verbundene Umbau der
Streitkräfte hin zu einer Freiwilligenarmee sowie die
Standortschließungen werfen weiterhin zahlreiche Fragen auf und stellen uns vor die eine oder andere Herausforderung. Es steht außer Frage, dass all diese Neuerungen nicht ohne eine entsprechende Anschubfinanzierung
zu realisieren sind und dafür noch etwas länger Vorsorge
getroffen werden muss. Meine Fraktion ist fest davon
überzeugt, dass eine erfolgreiche Reform nur gelingen
kann, wenn die Menschen, die in der Bundeswehr Dienst
tun, aktiv eingebunden, also mitgenommen werden. Die
Zuversicht und Motivation derer, die von den Veränderungen unmittelbar betroffen sind, gilt es unbedingt zu
erhalten. In 2012 und in den folgenden Jahren wird sich
zeigen, ob diese Zahlen nur der Anfang sind, wenn es
darum geht, den bevorstehenden Prozess erfolgreich voranzubringen.
Unsere Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen
Angestellten sind das zentrale Kapital der Bundeswehr.
Höchst professionell und pflichtbewusst leisten sie ihren
Dienst im In- und Ausland. Man kann nicht oft genug
betonen, dass ihre Aufgaben mit einem hohen Risiko
verbunden sind. Dieses Risiko bedeutet in manchen Fällen auch den Einsatz von Gesundheit und Leben, nicht
zu vergessen die persönlichen Entbehrungen für die im
Einsatz Befindlichen selbst und in einem hohen Maße
auch für deren Familien. Ich möchte die Gelegenheit
nutzen, hierfür einmal meinen persönlichen Dank, meine
Anerkennung und meinen Respekt zum Ausdruck zu
bringen. Ich würde mich freuen, wenn sich dem alle
Fraktionen anschließen.
({1})
Es ist mir ein Anliegen, zu betonen - ich denke, dass
auch dies große Zustimmung findet -, dass wir hinter
unseren Soldatinnen und Soldaten sowie hinter den zivilen Mitarbeitern und Helfern stehen. In diesem Kontext
dürfen auch die Reservisten nicht vergessen werden, die
einen ganz hervorragenden Job machen, die eine ganz
hervorragende Arbeit leisten.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer bei der Bundeswehr arbeitet, der hat ein Recht darauf, fair behandelt zu
werden. Dies gilt namentlich auch für die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die angesichts einer vorgesehenen Stellenreduzierung auf 55 000 Dienstposten einen
Anspruch auf ein angemessenes Maß an Sozialverträglichkeit haben. Davon abgesehen, dass diese Stellenkürzungen aus Sicht der SPD-Fraktion unverhältnismäßig
hoch sind und deutlich moderater ausfallen müssen, ist es
uns ein unbedingtes Anliegen, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben darf. Meine Fraktion wird
sich daher bei den bevorstehenden Beratungen und Entscheidungen vehement dafür einsetzen, dass bei diesem
Vorhaben nicht die Zahlen, sondern die Menschen im
Vordergrund stehen. Natürlich kostet eine solche Maßnahme Geld - das steht außer Frage. Es bleibt abzuwarten, ob der angedachte Ansatz der Versetzung von Bundeswehrmitarbeiterinnen und -mitarbeitern in andere
Bernhard Brinkmann ({3})
Ministerien in diesem Zusammenhang eine geeignete
Maßnahme sein wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch nichts
weiter als eine Hilfsbrücke, wenn die Personalreduzierungen dadurch finanziert bzw. realisiert werden sollen,
dass man 1 Milliarde Euro in den Einzelplan 60 umbucht.
Ein solches Konstrukt, das mit Haushaltswahrheit und
-klarheit nichts zu tun hat, wird von der SPD klar abgelehnt. Meine Fraktion ist der festen Überzeugung, dass es
nach dem genannten Grundsatz wesentlich sinnvoller und
transparenter gewesen wäre, wenn man hierfür eine separate Haushaltsstelle mit der Bezeichnung „Neuausrichtung der Bundeswehr“ im Einzelplan 14 eingestellt hätte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Minister hat
Ende Oktober sein Konzept für Schließungen von Bundeswehrstandorten vorgestellt. Die hierin festgelegten
Schließungen und Reduzierungen von Standorten betreffen Tausende von Soldatinnen und Soldaten sowie zivile
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Wechsel des
Dienstorts wird mit unterschiedlicher Härte auch bei deren Familien ankommen. Es steht aus Sicht der SPD außer
Frage, dass dies nur dann angemessen abgefangen werden
kann, wenn hierfür ausreichende finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Auch hierfür ist im Haushalt bisher keine
entsprechende Hinterlegung erfolgt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus den bisherigen
Reformen ist uns bekannt, dass auch die Veräußerung
der nicht mehr benötigten Liegenschaften einen ungeheuren Kraftakt bedeutet. Die hiervon betroffenen Städte
und Gemeinden können die frei werdenden Flächen
nicht alleine vermarkten. Hierfür ist die für den Februar
2012 geplante Informationsveranstaltung der BImA ein
erster wichtiger Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend noch einige positive Ergebnisse für den Verteidigungshaushalt 2012 ansprechen. Wir haben gemeinsam
erreicht, dass 25 Millionen Euro für Kleinwaffenmunition
und 30 Millionen Euro unter der Überschrift „Infanterist
der Zukunft“ in den Haushalt eingestellt worden sind. Das
sind Dinge, die wir gemeinsam in den Beratungen und
auch in der Bereinigungssitzung auf den Weg gebracht
haben. Ich finde, dass alle diese gemeinsamen Entscheidungen einmal hervorgehoben werden sollten. Denn bei
allen gegensätzlichen Ansätzen von Koalition und Opposition wollen wir doch alle nur eines, nämlich die richtigen Impulse für unsere Bundeswehr, unseren Haushalt
und unser Land setzen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Minister,
die letzten Wochen - eigentlich das ganze Jahr, das hinter uns liegt - waren für alle, die sich für die Bundeswehr interessieren, unstreitig eine ziemlich spannende
Zeit. Das hat natürlich Auswirkungen auf das, was auf
uns zukommt. Wir haben das Thema „Strukturreform
der Bundeswehr“ in all seinen Facetten bearbeitet. Das
Ministerium hat hier eine vorbildliche Arbeit geleistet.
Was die Begleitung unserer Arbeit als Berichterstatter
im Haushaltsausschuss anbelangt, kann ich mich dem
Dank, den der Kollege Brinkmann gegenüber dem Haus
ausgesprochen hat, ausdrücklich anschließen. Das war
wie immer exzellent. Unsere Fragen wurden schnell, zuverlässig und zutreffend beantwortet. In dieser Zusammenarbeit fehlt es an nichts. Das spiegelt die Auffassung, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, gut
wider. Das funktioniert hervorragend. Danke dafür.
({0})
Ich will auch dafür danken, Herr Minister de Maizière,
dass Sie sich die nötige Zeit genommen haben, um die
anstehenden Standortfragen mit der gebotenen Zügigkeit, aber eben auch der notwendigen Gründlichkeit vorzunehmen. Wir alle sind schon lange genug im Haushaltsausschuss, um zu wissen, dass wir nicht nach
Milchmädchenrechnung sagen können: 31 geschlossen,
90 reduziert, das ergibt einen Einsparbetrag x. Kollege
Brinkmann hat dankenswerterweise signalisiert, dass er
diesem Trugschluss nicht aufsitzt, sondern weiß, dass
ein Umbau erst einmal Geld kostet.
Nun gibt es, wie immer, wenn Standortentscheidungen
anstehen, natürlich fröhliche und weniger fröhliche Gesichter. In meinem eigenen Wahlkreis befindet sich kein
Bundeswehrstandort mehr, dort ist nur noch ein Depot,
das abgewickelt wird. Aber wir haben natürlich gespannt
auf die Nachbarschaft, auf Diez, geschaut und uns gefreut, dass das Schloss Oranienstein weiterhin Sanitätsstandort bleiben wird. Wir müssen aber genauso zur
Kenntnis nehmen, dass die Freiherr-vom-Stein-Kaserne
keine Zukunft mehr haben wird. Das ist nun einmal so.
Daher ist es wichtig, dass die Entscheidungen nach
rationalen und ordentlichen Maßstäben getroffen werden. Das ist, glaube ich, hier geschehen. Klare Kriterien
wurden angelegt: die Eignung der Liegenschaft für die
Auftragserfüllung, die Anbindung an geeignete Ausbildungs- und Übungsmöglichkeiten, die Verkehrsanbindung des Standortes, die räumlichen Zusammenhänge im
Rahmen des Aufgaben- und Übungsverbundes, die Liegenschaftsbetriebskosten, also Bauunterhaltung, Bewirtschaftung und Bewachung, Erfordernis und Kosten von
Infrastrukturmaßnahmen, bisherige mittelfristig und langfristig erforderliche Infrastrukturinvestitionen und Verfügbarkeit und Vielfalt von Bildungseinrichtungen, öffentlichen Betreuungs-, Freizeit- und Fürsorgeeinrichtungen.
Ich glaube, das ist ein umfassender Strauß an Indikatoren, die man angelegt hat, um zu den richtigen Entscheidungen zu kommen. Jeder von uns, der in seiner
Nähe einen betroffenen Standort hat, bekommt natürlich
Post vom Bürgermeister, der Konversion fordert, aber
auch von Soldaten und anderen Personen, deren persönliche Lebensplanung durch die Standortschließungen
oder Entscheidungen intensiv betroffen wird. Daher ist
es gut, dass man darauf verweisen kann, dass hier nach
einem sehr rationalen und nüchternen Maßstabsystem
vorgegangen wurde.
Lassen Sie mich noch etwas zu unserer Detailarbeit
im Haushaltsausschuss sagen. Wir haben noch ein paar
kleinere Änderungen vorgenommen. Eine Auswirkung
der Abschaffung der Wehrpflicht ist natürlich, dass es
den Zivildienst als automatischen Zusatznutzen der Wehrpflicht nicht mehr gibt. Aber mit dem Bundesfreiwilligendienst ist für die Träger von ehrenamtlicher gemeinnütziger Arbeit im Sozial- und Umweltbereich sowie in
anderen Bereichen die Möglichkeit geschaffen worden,
Ersatz zu bekommen.
Wir haben durch einen Haushaltsvermerk dafür Sorge
getragen, dass überschüssiges Material, das in der Bundeswehr abgängig ist, übernommen werden kann, und
zwar nicht nur durch das THW, sondern auch durch andere anerkannte Katastrophenschutzorganisationen. Ich
denke, dass wir damit nicht nur den freiwilligen Wehrdienst, sondern auch andere Organisationen, die dem
Motto „Wir.Dienen.Deutschland.“ verpflichtet sind, unterstützen.
Durch die Entscheidungen, die getroffen worden sind,
verfolgen wir das Ziel, eine Armee zu haben, die mit bis
zu 185 000 Soldaten dem zukünftigen Einsatzspektrum
gerecht werden kann und wird. Es geht in der Zukunft
nicht mehr um die Verteidigung der Landesgrenzen, sondern zukünftige Einsätze erfolgen vor allem an der Seite
unserer Partner innerhalb der EU und innerhalb der
NATO. Dabei steht die Sicherung der Seewege zum
Schutz unserer Handelsschifffahrt genauso auf der Tagesordnung wie Einsätze gegen den international operierenden Terrorismus, die von hoher Intensität und mit hohen
Risiken verbunden sind.
Wir brauchen natürlich eine schlagkräftige Truppe,
die schnell und flexibel einsatzbereit und verlegefähig ist
und deren Ausbildung in Deutschland sich darauf konzentriert, sie bestmöglich auf ihr Einsatzspektrum vorzubereiten. Wir haben, damit dieser Umbau gut gelingen
kann, versucht, auch im Personalbereich - dazu wird
Jürgen Koppelin noch etwas sagen - Vorsorge zu treffen.
Wir wollten unter anderem verhindern, dass im Bereich
der Portepeeträger Beförderungsstaus eintreten. Daneben haben wir auch besonders an die zivilen Beschäftigten im mittleren Dienst gedacht.
Bei internationalen Einsätzen und bei der Zusammenarbeit mit unseren Partnern kommt es natürlich auch darauf an, dass wir kooperationsfähig sind. Deshalb haben
wir gesagt - das geht über das, was das Haus dazu vorgeschlagen hat, hinaus -: Wir brauchen einen Einstieg in
das Vorhaben „Infanterist der Zukunft - Erweitertes System“ und wollen hierfür eine Anschubfinanzierung; Kollege Brinkmann hat diesen Aspekt dankenswerterweise
angesprochen und auch mit unterstützt. Es ist nämlich
Ausdruck einer Parlamentsarmee, dass wir die wesentlichen Entscheidungen hier im Parlament und in der Regel
zusammen treffen. Für das Projekt „Infanterist der Zukunft“ haben wir daher mit einer Anschubfinanzierung
von 30 Millionen Euro Vorsorge getroffen.
Das Thema Munition ist ebenfalls angesprochen worden. Die entsprechenden Mittel, die für Munition für
kleine Waffen gedacht sind, werden um 25 Millionen
Euro erhöht. Wir haben die Berichte von Soldaten, die
aus einem Einsatz zurückgekehrt sind, und die Anregungen, die uns über den Wehrbeauftragten, auf dem Dienstweg gleichermaßen, erreicht haben, aufgenommen. Wir
sagen: Wenn wir unsere Armee in einen Einsatz schicken, dann muss sie ordentlich ausgerüstet und ordentlich ausgebildet sein. - Wir als Parlament fühlen uns in
der Pflicht, dafür Sorge zu tragen, auch wenn das bei
dem einen oder anderen Item vielleicht noch nicht der
Fall sein sollte.
Wir müssen uns darüber hinaus natürlich auch über
andere Themen Gedanken machen. Wir wissen, dass Gespräche über langfristige Programme der Beschaffung
und über die Spielräume, die wir in diesem Bereich
brauchen, laufen. Sie alle kennen das von der Europäischen Verteidigungsagentur angestoßene Konzept „Pooling & Sharing“. Hier geht es um die Frage: Welche Eigenschaften und Fähigkeiten fassen wir auf einer
geeigneten Aggregatstufe zusammen und sagen: „Das
erledigen verschiedene Länder gemeinsam“, und bei
welchen Fähigkeiten spezialisieren sich die Armeen der
einzelnen Nationen? Dieser Ansatz muss im Umfeld einer schwierigen Budgetsituation in allen Partnerländern
sicherlich verstärkt verfolgt werden. Wir sind da zu allen
Diskussionen bereit.
Wir wissen auch: Wenn wir im Hinblick auf Ausrüstung und Verträge Entgegenkommen erzielen und mit der
Industrie Möglichkeiten erörtern wollen, die Größe des
einen oder anderen Beschaffungsauftrags zu variieren,
dann sollten wir ihr auch auf anderen Märkten helfen.
({1})
Dabei sind natürlich die strikten Kriterien, die wir dafür
entwickelt haben, einzuhalten.
({2})
Es gibt genügend Nachfrage nach ordentlicher deutscher Präzisionstechnologie und Wertarbeit. Das Parlament und die Regierung können hier also helfen. Das
sollte für uns alle eine wichtige Aufgabe sein, nicht zuletzt angesichts von 80 000 Arbeitsplätzen in diesem Bereich und des Rufs, den Deutschland auf diesem Feld
hat, weil es auch hier über exzellente Spitzentechnologien verfügt.
({3})
Sie sehen: Es bleibt viel zu tun. Aber der Zug fährt in
die richtige Richtung. Ich bedanke mich nochmals ausdrücklich für das gute Miteinander, auch innerhalb der
Berichterstattergruppe. Mein Dank gilt aber auch dem
Ministerium.
Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Einzelplan 14 natürlich zustimmen.
Danke sehr.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
müssen wir feststellen, dass die Bundesregierung offensichtlich beschlossen hat, das Verteidigungsministerium
von den Sparbemühungen des Bundes auszunehmen. Sie
hatten uns versprochen, dass auch beim Militär gespart
werden muss; das war eine zentrale Begründung für die
Bundeswehrreform. Aber jetzt stellen wir fest: Der Etat
des Verteidigungsministeriums ist nicht verkleinert worden. Aber nicht nur das: Wenn wir die NATO-Kriterien
dafür, was Verteidigungsausgaben sind, anlegen, dann
müssen noch weitere 3,7 Milliarden Euro aus anderen
Haushaltstöpfen dazugezählt werden. Das sind 1 Milliarde Euro mehr als noch im laufenden Jahr. Auf diese
Weise versteckt, wächst das Verteidigungsbudget 2012
im Vergleich zu 2011 um 1,2 Milliarden Euro auf 35,4 Milliarden Euro an. Seien Sie so ehrlich, das den Steuerzahlern zu sagen!
({0})
Aber auch diese Rechnung ist noch lange nicht vollständig. Ich möchte das einmal anhand der Kosten für
den Krieg in Afghanistan deutlich machen: Die reinen
einsatzbedingten Kosten für ISAF im Verteidigungsetat
belaufen sich auf rund 800 Millionen Euro. In Wirklichkeit ist es aber mehr als das Vierfache.
Die erste Mogelpackung. Die Regierung rechnet sogar innerhalb des Verteidigungsetats die Kosten für den
Einsatz runter. Beispielsweise wird der Grundsold für
die eingesetzten Soldaten nicht dem Einsatz zugeschrieben. Dabei könnte die Zahl der Soldaten drastisch reduziert werden, wenn die Regierung endlich damit aufhören würde, Soldaten ins Ausland zu schicken.
({1})
Dasselbe gilt auch für die Transportflugzeuge, Schützenpanzer, Tornados, AWACS und andere Sachen. Sie wollen in Zukunft ja zwei dieser Einsätze durchführen können. Das können wir uns sparen.
({2})
Die zweite Mogelpackung. Die Kosten für den Einsatz werden in andere Ressorts ausgelagert, seien es die
Kosten für die Nachversorgung der Verwundeten und
Hinterbliebenen, die Kosten für die Entschädigung der
zivilen afghanischen Opfer - wenn sie denn überhaupt
bezahlt wird und nicht, wie im Fall des Kunduz-Massakers, nicht bezahlt wird - und auch die Kosten für den
Polizeieinsatz, der eng mit dem Militäreinsatz verwoben
ist.
Die dritte Mogelpackung. Die gesellschaftlichen Folgekosten, zum Beispiel durch die Schäden, die die beteiligten Soldatinnen und Soldaten an Körper und Seele erlitten haben, werden im Haushalt überhaupt nicht berücksichtigt.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
kommt nach Einrechnung all dieser Kosten zu folgendem Ergebnis - ich zitiere -:
… kostet jedes weitere Jahr, in dem Deutschland
am Einsatz in Afghanistan teilnimmt, zusätzliche
2,5 bis 3 Milliarden Euro.
Und das alles für einen Krieg, der den Menschen in Afghanistan Tod und Leid bringt, das alles zur Stabilisierung einer Regierung, die korrupt, unbeliebt und vollständig abhängig von der internationalen Schutztruppe
ist.
Schauen wir uns den Präsidenten Karzai an, mit dem
der Außenminister im Dezember gemeinsam eine Konferenz in Bonn veranstalten wird. Citha Maaß von der
Stiftung Wissenschaft und Politik sagte kürzlich:
Die Drogenindustrie durchdringt Politik und Wirtschaft in Afghanistan wie ein Krebsgeschwür.
Der Halbbruder des Präsidenten galt bis zu seiner Ermordung im August als der Pate von Kandahar. Ein anderer Bruder Karzais ist in die dubiosen Geschäfte der
Kabul Bank verstrickt, durch die er und seine Geschäftsfreunde sich auf Kosten der Geberländer um Hunderte
Millionen Dollar bereichert haben. Derweil ist laut der
Hilfsorganisation Oxfam jedes dritte Kind in Afghanistan unterernährt. Dieser Winter könnte sich zu einer Katastrophe entwickeln.
Wie dramatisch die Lage der Bevölkerung ist, zeigt
auch das Beispiel der Millionenstadt Kabul. Es gibt dort
kein Abwassersystem, und laut der Kreditanstalt für
Wiederaufbau wäre es dort nötig, Investitionen in Höhe
von 1,5 Milliarden Dollar zu tätigen. Dafür ist aber kein
Geld da. Es gäbe viel zu tun, aber die Bundesregierung
bevorzugt es, beim Aufbau und bei der Entwicklung zu
kleckern. Geklotzt wird nur beim Militär, und das machen wir nicht mit.
({3})
So ist es auch kein Wunder, dass laut einer im Oktober veröffentlichten Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung 56 Prozent der afghanischen Bevölkerung die
NATO-Truppen als Besatzungsmacht empfinden. Auch
in Deutschland hat die Mehrheit das falsche Spiel der
Bundesregierung mit Afghanistan durchschaut. Weil Töten und Sterben für einen sinnlosen Krieg nicht attraktiv
sind, gibt die Bundesregierung dann auch noch 200 Millionen Euro für ein Attraktivitätsprogramm der Bundeswehr aus, um die Rekrutierungsziele der Bundeswehr erreichen zu können.
Wir sagen: Beenden Sie die Auslandseinsätze der
Bundeswehr, allen voran die Beteiligung am Krieg in
Afghanistan!
({4})
Nutzen Sie die freiwerdenden Mittel für friedliche und
soziale Maßnahmen, die den Menschen in Afghanistan
und in Deutschland zugutekommen!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe von den Linken natürlich keinen anderen Redebeitrag erwartet, aber ich möchte mich beim Kollegen
Brinkmann und auch beim Kollegen Willsch für ihre
Beiträge recht herzlich bedanken, zeigen sie doch, dass
wir wirklich Gemeinsamkeiten haben.
Kollege Brinkmann hat darauf aufmerksam gemacht:
Die Bundeswehr ist unsere Parlamentsarmee. Die Berichterstattergespräche - darin schließe ich die Kollegin
Lötzsch als Berichterstatterin ausdrücklich mit ein; Ihr
Beitrag, Frau Buchholz, hat das leider nicht wiedergegeben - waren davon getragen, dass wir uns für die Bundeswehr und für die Angehörigen der Bundeswehr verantwortlich fühlen. Ich finde, die Angehörigen der
Bundeswehr müssen das Gefühl und die Sicherheit haben, dass wir ihre Sorgen und Nöte kennen und dass wir
gemeinsam versuchen, diese Probleme zu lösen, auch
wenn das manchmal nicht von heute auf morgen geht.
({0})
Die Angehörigen der Bundeswehr haben Anspruch
darauf, angesichts eines solchen Haushalts zu wissen:
Wie sieht zukünftig ihr Dienst aus? Davon waren auch
unsere Beratungen geprägt. Es gab - das will ich ausdrücklich sagen; das finde ich sehr angenehm - sehr
viele Übereinstimmungen. Zum Beispiel waren wir uns
alle darüber einig - dabei schließe ich den Kollegen
Lindner mit ein -, dass die Bundeswehrsoldaten im Ausland das beste Material bekommen müssen, das vorhanden ist, und dass wir uns darum bemühen. Dafür möchte
ich mich bei allen recht herzlich bedanken, bei Ihnen,
Frau Buchholz, natürlich nicht.
({1})
Das Thema Afghanistan, Herr Bundesminister, durchzieht die Debatte am heutigen Tag. Deswegen lassen Sie
mich direkt einen Punkt ansprechen, der mir bei den
Haushaltsberatungen aufgefallen ist und dem ich weiter
nachgehen werde. Da wir über Ihren Etat sprechen, will
ich ganz klar sagen, dass mir das große Sorgen macht.
2010 hatten wir 100 Fälle, in denen hohe Geldbußen gegen Soldaten im Auslandseinsatz verhängt wurden. Immerhin kam es hier zu Einnahmen von insgesamt
112 000 Euro. Das sind im Durchschnitt 1 000 Euro pro
Soldat als Geldstrafe. In diesem Jahr geht das genauso
weiter. Ich wäre sehr dankbar, wenn man diesen Dingen
nachgeht. Nach meiner Auffassung scheint da irgendetwas nicht in Ordnung zu sein. Nicht nur ich, sondern
sicherlich auch die Berichterstatter hätten gerne eine umfassende Aufklärung darüber, warum es dort so hohe
Geldstrafen gibt.
Natürlich, wenn man hier im Deutschen Bundestag
über Auslandseinsätze beschließt, dann muss nach zehn
Jahren Afghanistan darüber nachgedacht werden: Wann
kann der Abzug erfolgen? Ich bin sehr froh, auch als jemand, der diesem Einsatz in Afghanistan immer sehr
kritisch gegenübergestanden hat, dass nun Schritt für
Schritt - in der Debatte zum Haushaltsplan des Auswärtigen Amts ist darauf schon hingewiesen worden - der
Rückzug eingeleitet wird. Ich möchte an dieser Stelle
auch sagen: Wenn die Bundeswehr aus Afghanistan zurückgekehrt ist, sollten und dürfen wir Afghanistan auch
nach 2014 nicht vergessen. Das wird auch weiterhin unsere Aufgabe bleiben.
Wenn wir von Gemeinsamkeiten sprechen, hätte wenigstens dies der Linken eine kleine Bemerkung wert
sein sollen: Ich bin sehr froh, dass es uns mit diesem
Haushalt endlich gelungen ist, dass die Radargeschädigten der Bundeswehr und, das sage ich in Richtung der
Linken, auch die Radargeschädigten der NVA einen
Ausgleich bekommen.
({2})
Ich möchte mich bei Staatssekretär Schmidt ausdrücklich dafür bedanken - das war eine gute gemeinsame Arbeit -, dass wir jetzt endlich zu einer Lösung gekommen
sind. Ich sage allerdings auch: Wenn man weiß, dass
manche Fälle 40 Jahre alt sind, dann schämt man sich
ein bisschen, auch hier für uns, für den Bundestag. Wir
hätten schneller reagieren müssen.
({3})
Mit diesem Verteidigungsetat sind etwa 500 Stellenanhebungen im militärischen Bereich und etwa 300 Stellenanhebungen im zivilen Bereich verbunden. Dabei
geht es vor allem darum, die langen Wartezeiten für die
Feldwebellaufbahn endlich zu verkürzen. Solche Wartezeiten darf es nicht mehr geben. Damit folgen wir auch
dem Vorschlag des Ministeriums. Im Haushaltsentwurf
waren zusätzlich Verbesserungen bei 6 000 Planstellen
vorgesehen. Das ist ein guter Vorschlag gewesen.
Zu den Grünen muss ich sagen: Die von euch gestellten Anträge kann ich nicht verstehen. Das, was ihr fordert, hätten wir nie machen können. So soll die Zahl der
Soldatinnen und Soldaten auf 160 000 gesenkt werden.
Ich will die anderen Forderungen gar nicht mehr vorlesen. Ich dachte, dass diese Zeiten bei den Grünen vorbei
seien. Aber mit euren vielen Kürzungsvorschlägen fallt
ihr in eurer Entwicklung wieder ein paar Jahre zurück.
Ihr solltet noch einmal schauen, ob das wirklich so notwendig war.
Wir haben eine Verbesserung der Versorgung der im
Ausland verletzten Soldaten beschlossen. Damit ist die
soziale und finanzielle Versorgung unserer Bundeswehrangehörigen erheblich verbessert worden. Das trifft übrigens auch auf traumatisierte Soldaten zu. Ihnen gilt nach
wie vor unsere Fürsorge.
Die Bundeswehr wird verkleinert; darüber ist schon
gesprochen worden. Das haben wir hier im Bundestag
beschlossen. Es ist selbstverständlich, dass wir dann
auch finanzielle Mittel bereitstellen müssen, um den Abbau sozialverträglich zu gestalten. Den Betroffenen,
Kollege Brinkmann, ist es übrigens egal, ob diese Mittel
aus dem Einzelplan 60 oder dem Einzelplan 14 kommen.
Durch die Verkleinerung der Bundeswehr - das
musste jedem klar sein - müssen auch Standorte geschlossen werden. Für die betroffenen Orte ist das oft
bitter. Das weiß ich. Die Entscheidungen sind schmerzhaft, aber notwendig. Es ist schließlich nicht das erste
Mal, dass wir Standorte schließen.
Wenn jetzt der Ruf kommt, diesen Orten finanziell zu
helfen, dann finde ich diese Forderung durchaus berechtigt. Ich darf allerdings die Sozialdemokraten und andere
daran erinnern, dass es in früheren Fällen - in meinem
Wahlkreis gab es drei große Standorte - null finanzielle
Hilfe gab. Meine Leute an den drei Standorten haben nie
etwas gesehen. Damals haben Sozialdemokraten Standorte geschlossen.
Ich habe allerdings gelernt - das will ich Ihnen nicht
vorenthalten, Herr Minister -: Eigentlich ist nur einer
schuld daran, dass die Standorte geschlossen werden.
Das sind nicht Sie. Wir haben einen Kollegen, der auch
Landesvorsitzender der SPD in Bayern ist, nämlich Herr
Pronold. Ich dachte, er wäre heute anwesend, um sich zu
engagieren. Er ist der Auffassung, dass die Standortschließung durch Herrn Seehofer erfolgt ist.
({4})
Ich habe die Presseerklärung mitgebracht. Darin heißt
es, Herr Seehofer habe damals dem Koalitionsvertrag
zugestimmt, in dem die Bundeswehrreform beschlossen
wurde. Hätte er nicht zugestimmt, dann würden auch
Standorte in Bayern nicht geschlossen werden. Es
kommt aber noch stärker: Damit habe Herr Seehofer die
Wehrpflichtarmee geopfert. Nun kommt noch etwas.
Das hätte ich nie von den Sozialdemokraten gedacht.
Kollege Pronold schreibt weiter:
Es war ein kapitaler Fehler von Seehofer und der
CSU, das Verteidigungsministerium nach dem
Rücktritt von Guttenberg aufzugeben.
Ich hätte nie gedacht, dass sich Sozialdemokraten dafür
einsetzen, dass das Verteidigungsministerium auch weiterhin christlich-sozial geführt wird. Aber man lernt
dazu und hört das gern.
({5})
Es ist schon gesagt worden: Alle Rüstungs- und Beschaffungsmaßnahmen werden überprüft. Bundesminister de Maizière hat zu Recht am 14. Oktober die Berichterstatter informiert und gesagt, wohin die Reise gehen
soll. Es wird erhebliche Reduzierungen geben. MEADS
war immer ein Steckenpferd von uns. Insoweit ist der
Antrag der Grünen auch in diesem Punkt überflüssig. Ihr
braucht nur nachzulesen, was der Rechnungshof geschrieben und der Minister uns mitgeteilt hat. Dann seht
ihr genau, wohin die Reise gehen soll.
Das Problem sind allerdings - das ist keine leichte
Aufgabe für den Verteidigungsminister -, die Gespräche
mit der Industrie. Damit komme ich zum Schluss, Herr
Präsident. Denn es geht überwiegend um Beschlüsse und
lange Verträge, die ihr seinerzeit unter Rot-Grün eingetütet habt und die wir jetzt versuchen müssen zu korrigieren. Ich bin aber sehr optimistisch, dass wir einen
sehr starken Verteidigungsminister haben, der mit der Industrie sprechen wird. Denn wir brauchen nicht die Sachen, die ihr irgendwann bestellt habt, sondern wir brauchen modernes Gerät.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({6})
Jetzt hat der Kollege Dr. Tobias Lindner von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon
mehrfach erwähnt worden: Wir beraten heute den ersten
Verteidigungshaushalt im Lichte, vor allem aber in
Kenntnis der Details der Bundeswehrreform. Es gibt
mehrere Gründe dafür, unsere Streitkräfte zu reformieren. Ein Grund sind die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen.
Ihr Vorgänger, Herr Minister - das ist der mit der
neuen Frisur -, hat bereits im Mai 2010 festgestellt, dass
der - ich zitiere - „mittelfristig höchste strategische Parameter …, unter dem die Zukunft der Bundeswehr gestaltet werden muss“, die Schuldenbremse sei. Das Sparziel, mit dem Sie die aus unserer Sicht durchaus
vernünftige Abschaffung der Wehrpflicht begründen,
wurde im Jahr 2010 mit 8,3 Milliarden Euro angegeben.
Auch Sie, Herr de Maizière, haben dieses Ziel mitgetragen, wenn auch in anderer Funktion. Aber auch Sie
saßen damals mit am Kabinettstisch. Ein Blick in den
Entwurf zum Einzelplan 14 zeigt, dass von diesem Sparziel nicht einmal die Hälfte übriggeblieben ist.
Begonnen hat das Ende des Sparens mit der Streckung des Sparziels. Anfang dieses Jahres wurde beschlossen, dass wir erst im Jahr 2015 den vollen Sparbeitrag erbringen sollen. Als Nächstes - auch das wurde
erwähnt - wurden mehr als 1 Milliarde Euro in den Einzelplan 60 eingestellt, sodass es möglich ist, Personalausgaben für Zivilbedienstete dorthin auszulagern. Mit
anderen Worten: Das ist nichts anderes als 1 Milliarde
Euro zusätzlich im Verteidigungsbereich. Mit den
Grundsätzen von Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit hat dieser Verschiebebahnhof nichts gemein.
({0})
Dass Sie Ihr eigenes Sparziel offenbar selbst nicht
sehr ernst nehmen und für glaubwürdig halten, wird erst
recht deutlich, wenn man versucht, sich auf Ihre mittelfristige Finanzplanung, also auf den 44. und 45. Finanzplan der Bundeswehr, einen Reim zu machen. Im 44. Finanzplan finden sich noch die erwähnten Einsparungen
von 8,3 Milliarden Euro. Schaut man in den 45. Finanzplan, so findet man Einsparungen von nur noch 2,3 Milliarden Euro. Allein 2014 wollen Sie 3 Milliarden Euro
mehr ausgeben. Mit Haushaltskonsolidierung hat das
nichts zu tun.
({1})
Wenn man nachfragt - so wie ich dies getan habe -,
warum das Ganze so ist, dann bekommt man von dieser
Regierung allen Ernstes die Antwort, dass das geringere
Sparziel alleine den Mietzahlungen, die die Bundeswehr
von diesem Jahr an zu leisten hat, geschuldet ist. Das ist
der Punkt, an dem spätestens Schönreden beginnt. Es
war letztes Jahr bekannt, dass die Bundeswehr ihre Liegenschaften übertragen muss, Mietzahlungen zu leisten
hat und eine Kompensation erhält. Es war bekannt, dass
diese Zahlungen anfallen werden, und es war im letzten
Jahr noch möglich, Einsparungen auszuweisen. In diesem Jahr ist plötzlich nichts mehr möglich. Das ist in
etwa so, als wenn man Anfang Dezember plötzlich
merkt, dass am 24. Weihnachten ist und das Geld nicht
reicht. Ähnlich überraschend kommen nämlich diese
Mietzahlungen.
({2})
Nein, Herr Minister, mit Ihrer Sparankündigung sind Sie
bei der Reform als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet.
({3})
Es gibt aber neben dem Sparbeitrag auch andere Notwendigkeiten, warum wir eine Reform unserer Streitkräfte brauchen. Wir müssen die Bundeswehr an die sicherheitspolitischen Realitäten anpassen. Es ist richtig,
Herr de Maizière: Sie krempeln den Laden mit Ihrer
Bundeswehrreform kräftig um. Aber dennoch greifen
Sie viel zu kurz. Sie verharren in alten Denkmustern und
haben die Chance vertan, unsere Streitkräfte auf ihre
wahrscheinlichsten Kernaufgaben zu konzentrieren. Mit
Ihrem Anspruch „Breite vor Tiefe“ zwingen Sie die
Bundeswehr, an überflüssigen und kostspieligen Fähigkeiten, wie beispielsweise der nuklearen Teilhabe, festzuhalten. Das muss ein Ende haben.
({4})
In der Konsequenz ist die Bundeswehr mit 185 000
Soldatinnen und Soldaten viel zu groß und zu teuer. Wir
Grüne fordern eine fokussierte Bundeswehr mit 160 000
Soldatinnen und Soldaten.
({5})
- Warum? Das sind Forderungen des Generalinspekteurs, dessen eigene Berechnungen, die wir übernehmen
und anpassen.
({6})
Ich komme zum Schluss. Ihr Vorgänger Karl-Theodor
zu Guttenberg veröffentlicht in diesen Tagen ein neues
Buch. Sein Titel, also nicht der Titel von Herrn zu Guttenberg, sondern der des Buches, passt wie ein Fazit zu
Ihrer Reform. Er lautet: Vorerst gescheitert.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Thomas de
Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Jahr 2011, das jetzt schon fast zu Ende geht, war in der
Tat ein Jahr vieler sehr, sehr wichtiger Entscheidungen
für die Bundeswehr. Es begann mit der Aussetzung der
Wehrpflicht. Das Zweite war die Vorlage der Verteidigungspolitischen Richtlinien im Mai. Es folgte im Zusammenhang damit die Festlegung des Gesamtumfangs
der Streitkräfte - es war schon die Rede davon - bis zu
185 000: 170 000 plus 5 000 plus x. Der nächste Schritt
war die Beschlussfassung über den Haushalt auf Regierungsebene mit dem 45. Finanzplan, der hier sehr unterschiedlich bewertet wird. Ich finde das Ergebnis gut.
Darauf komme ich gleich noch einmal zurück.
Es folgte dann die Entscheidung über die Grobplanungen im Einzelnen: Wie groß soll das Heer sein, wie
groß die Luftwaffe oder wie groß die Marine? In der Tat,
Herr Lindner, haben wir uns für den Grundsatz „Breite
vor Tiefe“ entschieden. Wir sind zum Beispiel dem Vorschlag des von mir im Übrigen wirklich sehr geschätzten
Vorsitzenden der sogenannten Weise-Kommission,
Herrn Weise, nicht gefolgt und haben nicht gesagt: Wisst
ihr was? Wir können im Rahmen von „Pooling &
Sharing“ auf die Marine verzichten; denn Großbritannien hat eine Marine.
({0})
- Na ja, so ähnlich schon. Das würde nicht nur bei Herrn
Bartels, Herrn Koppelin, Herrn Gädechens usw. auf Probleme stoßen, sondern das wäre auch falsch. Der Grundsatz
„Breite vor Tiefe“ ist, wenn die Breite eine vernünftige
Form hat, richtig. In dieser Auffassung unterscheiden
wir uns.
Es folgten die Entscheidung zur Verkleinerung und
Umstrukturierung des Ministeriums, das Reservistenkonzept, die Liste mit Angaben zu den Großgeräten, die
Aufsetzung eines neuen Beschaffungs- und Rüstungs16976
prozesses - dazu sage ich gleich noch ein paar Worte und schließlich die Stationierungsentscheidung am
26. Oktober. Diese war - Herr Willsch und einige andere
haben es bereits gesagt - eine Folge der vorhergehenden
Entscheidung. Die Stationierungsentscheidung ist nicht
die Neuausrichtung, sondern eine logische Folge von alldem. Ich verstehe die Sorgen und Nöte der Betroffenen
vor Ort, ob es die Angehörigen, der Bäcker um die Ecke
oder der Bürgermeister sind. Darüber wird zu sprechen
sein. Die Entscheidung selbst war notwendig. Ich bedanke mich für die - jedenfalls im Großen und Ganzen damit verbundene Akzeptanz.
({1})
Ausgangspunkt unserer Überlegung war das Ziel,
über Streitkräfte zu verfügen, die dem Stellenwert und
der Verantwortung unseres Landes entsprechen und bei
denen Auftrag und Mittel zusammenpassen. Die Neuausrichtung ist - wir haben darüber diskutiert - sicherheitspolitisch begründet. Sie ist mit Blick auf unsere
kleiner werdenden Jahrgänge demografisch abgesichert,
und sie ist solide finanziert. Wir brauchen die Neuausrichtung, um die Herausforderungen und Gefährdungen
unserer Sicherheit zu meistern.
Die Finanzausstattung mit 31,9 Milliarden Euro ist
nicht üppig. Aber sie ist angemessen, und sie ist - soweit
das angesichts der Zeit, in der wir leben, überhaupt möglich ist - mittelfristig gesichert. Folgendes ist uns gelungen - ich will nur ein paar Beispiele nennen; einige sind
schon genannt worden -:
Wir werden ein zusätzliches Reformbegleit- und
Attraktivitätsprogramm in Höhe von 200 Millionen Euro
aufstellen. Es wird in den nächsten Jahren etwas aufwachsen.
Wir haben die Ausgaben für die internationalen Einsätze um 250 Millionen Euro erhöht. Frau Buchholz, das
wollten wir tun, weil wir finden, dass der Schutz der Soldaten, die in unserem Auftrag tätig sind, oberste Priorität
hat.
({2})
Wir haben die Ausgaben für die Materialerhaltung gegenüber der bisherigen Planung um 212 Millionen Euro
verstärkt; denn da gab es immer einen Engpass. Das war
auch immer eine Art Sparbüchse: Wenn es nicht gereicht
hat, dann wurde beim Benzin gespart. Das wollen wir
ändern.
Darüber hinaus nehmen wir - Herr Koppelin hat darauf hingewiesen; dafür bin ich besonders dankbar 6 000 Planstellenverbesserungen für die Mannschaftsdienstgrade und rund 500 Stellenhebungen für Soldaten
und zivile Mitarbeiter im unteren Bereich vor. Gestern
hat Herr Schneider im Zusammenhang mit der ersten Lesung des Etats des Finanzministeriums Stellenhebungen
kritisiert.
({3})
Einige haben ihn mit Zwischenrufen darauf hingewiesen, dass das zumindest für diesen Bereich nicht gelten
kann. Wenn man für die Kleinverdiener etwas macht,
dann verdient das Lob und nicht Tadel.
({4})
Ich werde den Dank an meine Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im Ministerium weitergeben. Gerne erwidere
ich den Dank, und zwar nicht nur an die Berichterstatter
aller Fraktionen, sondern auch an deren Mitarbeiter und
an den Haushaltsausschuss im Ganzen.
Ein solcher Stil und ein solches Klima in diesen Debatten, nämlich dass nicht mit Leidenschaft um die großen Themen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
gerungen wird, sondern dass es hier eine große Einigkeit
gibt, ist, zumindest wenn man sich einmal die Geschichte der westdeutschen Bundesrepublik anschaut,
nicht selbstverständlich. Die PDS-Linken schließen sich
da aus. Um es einmal so zu sagen: Ich wäre aber auch
besorgt, wenn es anders wäre.
({5})
Bei allen anderen freue ich mich darüber. Vielleicht
denken die Grünen einmal darüber nach, ob Sie bei aller
Kritik im Einzelnen, die man natürlich haben kann und
die auch wir haben - die SPD kritisiert die Reduzierung
auf nur noch 55 000 zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; die Grünen plädieren sogar für eine noch kleinere
Armee mit 160 000 Soldaten; sie haben allerdings nie
gesagt, ob etwa auch die freiwillig Wehrdienstleistenden
und andere dazugerechnet werden sollen -, nicht doch
wieder zu einem Konsens zurückkommen wollen. Wenn
ich die momentanen Differenzen ausblende, muss ich
feststellen: Dass Union, FDP und SPD in Bundeswehrfragen einen Konsens hatten, hat dieser Republik in den
letzten 60 Jahren ziemlich gutgetan. Ich möchte, dass
das so bleibt.
({6})
Ein Wort zur Rüstungsindustrie. Herr Koppelin hat
bereits darauf hingewiesen, dass wir schwierige Gespräche geführt haben. Man muss wissen, dass die Entwicklung in anderen Staaten ähnlich verläuft. Aber ich muss
wiederholen - das sagen alle meine Kollegen; der französische Verteidigungsminister kommt nachher in den
Verteidigungsausschuss -: Unsere Beschaffungsprozesse
sind absolut unzureichend. Das liegt an der Bestellerseite, aber auch an der Unternehmensseite. Die Qualität
stimmt oft nicht. Preisabsprachen werden nicht eingehalten, und es wird nicht pünktlich geliefert. So können wir
nicht weitermachen. Wir werden sehr harte Gespräche
führen, mit dem Ziel, das zu ändern, aber nicht um einzusparen, sondern um überhaupt wieder Spielraum für
neue Beschaffungen zu bekommen.
Ein Wort zum Reformbegleitprogramm. Wir reden
viel über Strukturen. Aber es geht hier in erster Linie um
Menschen, um die Soldatinnen und Soldaten sowie um
die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Für sie alle
wollen wir etwas tun, und zwar sowohl für diejenigen,
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière
die bleiben - sie sollen eine Erhöhung der Vergütung für
besondere zeitliche Belastungen erhalten -, als auch für
diejenigen, die die Bundeswehr verlassen müssen. Das
kann man angesichts des Personalabbaus bei den zivilen
Beschäftigten in den vergangenen 20, 30 Jahren vielleicht großzügig nennen. Aber ich halte es für angemessen. Derjenige, von dem viel verlangt wird, kann auch
ein besonderes Maß an Fürsorge erwarten. Das wollen
wir hiermit bieten. Ich hoffe, dass wir über den entsprechenden Gesetzentwurf, sobald er vorliegt, zügig beraten
werden.
So viel zu den Entscheidungen in diesem Jahr. Das
war, ehrlich gesagt, noch der leichtere Teil der Übung;
denn jetzt geht es um die Umsetzung. Sie wird schwierig
und ist nicht in einem Jahr zu machen. Dafür brauchen
wir Jahre. Wir müssen das alles kontinuierlich umsetzen,
Mentalitäten verändern, den Spaß an Verantwortung fördern und so arbeiten, dass Führen mit Auftrag auf allen
Ebenen Realität und nicht nur Anspruch ist; das dauert.
Die Mühen der Ebenen sind oft größer als die Mühen
des Aufstiegs.
Wir müssen das alles bei laufenden Einsätzen tun.
Wir werden im Dezember in erster Lesung über den
ISAF-Einsatz in Afghanistan beraten; Herr Koppelin
und andere haben davon in der außenpolitischen Debatte
schon gesprochen. Ich würde mich freuen, wenn auch
hier große Einigkeit über Ziel und Umsetzung bestünde.
({7})
- Darüber freue ich mich.
({8})
Wir werden später die Anträge auf Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an Atalanta und an Active Endeavour diskutieren. Der französische Verteidigungsminister kommt nachher in den Verteidigungsausschuss. Wie gesagt, wir müssen alles bei
laufenden Einsätzen machen. Es handelt sich quasi um
eine Operation am offenen Herzen. Wir wollen bündnisfähig bleiben und unseren Verpflichtungen nachkommen
und gleichzeitig Umstrukturierungen vornehmen. Das
verlangt viel Kraft, viel Aufmerksamkeit, viel Fürsorge
und viel Unterstützung. Ich spüre diese Unterstützung
für die Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier und außerhalb des
Hauses. Dafür bedanke ich mich. Ich bitte darum, dabeizubleiben, auch wenn es bei der Umsetzung das eine
oder andere Problem gibt. Ich freue mich über die Zustimmung zum Einzelplan 14, die wir hoffentlich gleich
erleben werden.
Vielen Dank.
({9})
Für die SPD spricht nun der Kollege Rainer Arnold.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich mit dem Positiven beginnen: Es ist in
der Tat so, Herr Minister, dass seit dem Ministerwechsel
im Frühjahr dieses Jahres der Grundkonsens in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zumindest zwischen
der Mehrheit der Fraktionen hier im Hause wieder deutlicher ist und einfacher herzustellen ist. Wir haben das,
glaube ich, in den letzten Wochen bewiesen, als es darum ging, die Einsatzversorgung für die Soldaten, die
Entschädigungsregelungen für die Radargeschädigten
und - ich hoffe, dass das gelingt - die Kommunikation
der Soldaten im Auslandseinsatz mit der Heimat zu verbessern. Ich bin sehr dankbar, dass diese Verantwortung
bei einer Reihe von wichtigen Entscheidungen sichtbar
wurde, die die Haushälter getroffen haben.
({0})
Ich möchte unserem Haushälter Bernhard Brinkmann
ein besonderes Dankeschön aussprechen, der nicht nur
einen Blick für Zahlen, sondern auch einen Blick für das,
was die Soldaten brauchen, hat. Herzlichen Dank, Kollege Brinkmann!
Herr Minister, manche Journalisten schreiben, nachdem Sie am heutigen Tag 266 Tage im Amt sind: Ja, der
Minister administriert sicherlich konsequenter als sein
Vorgänger, der eher Überschriften produziert hat. - Das
ist gut; ich will das gar nicht bekritteln. Aber ich glaube,
es ist zunehmend berechtigt, zu fragen, ob jenseits der
Administration auch die notwendigen politischen Impulse von Ihnen gesetzt werden. Es ist an der Zeit, dass
sie gesetzt werden. Ich nenne nur zwei Beispiele.
Wir kommen nicht voran bei der Debatte in unserer
Gesellschaft, auch nicht parlamentarisch, über die Frage:
Welche Rolle und welche Verantwortung hat das größte
Wirtschaftsland nicht nur in der Finanz-, sondern auch in
der sicherheitspolitischen Welt?
({1})
Hier gibt es noch viel zu klären. Hätten wir das geschafft, wäre es einfacher, über Einsätze zu reden und zu
entscheiden. Ich glaube, Sie sind schon in einer besonderen Verantwortung, solche Debatten voranzubringen.
Die Sozialdemokraten hätten Sie bei dieser Diskussion
als Partner.
Dasselbe gilt für die Frage: Welche Chancen bietet
die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
auf europäischer Ebene in einer Situation, in der alle
Länder sparen müssen? Wir haben wiederholt darüber
gesprochen. Sie sagen, Sie machten lieber konkrete
kleine Schritte, als großen Reden zu halten. Ich will auch
gar nicht sagen, dass diese kleinen Schritte falsch sind.
Das ist die eine Seite. Aber nachdem Frankreich und
Großbritannien, zwei Länder, die in ihrer Vorgehensweise strategisch übereinstimmen, eine aus ihrer Sicht
gute Vereinbarung getroffen haben und in Europa vorangehen, brauchen wir natürlich eine Antwort Deutschlands. Es ist schön, dass der französische Verteidigungsminister heute hier ist; das reicht aber nicht aus. Wir
brauchen auch auf europäischer Ebene jenseits der kleinen Schritte eine strategische Debatte.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Eines ist ganz besonders wichtig: Bei den militärischen Fähigkeiten der Europäer, auch in der Vernetzung,
ist man weiter und fortschrittlicher als bei den politischen Prozessen in Europa. Deshalb wäre es Aufgabe
des Außenministers, der Bundeskanzlerin und des Verteidigungsministers, Impulse für diese politischen Prozesse zu geben.
({2})
Lassen Sie mich bei dieser Haushaltsberatung ein
paar Sätze zu den Finanzen sagen. Herr Minister, die Sozialdemokraten hatten recht: Ein Einsparvolumen von
8,3 Milliarden Euro ist nicht zu erbringen. Das ist deutlich geworden. Es wäre schön und ein Zeichen von
Größe, wenn auch Sie sagen könnten: Ja, auch ich habe
mich in Neuhardenberg blenden lassen; ich habe geglaubt, dass man 8,3 Milliarden Euro einsparen kann.
- Sie sagen aber in Wirklichkeit: Wir können 8,3 Milliarden Euro einsparen; aber ich brauche mehr Geld. Das passt nicht zusammen. Das steigert auch nicht das
Vertrauen in die finanziellen Vorgaben für die Streitkräfte in den nächsten Jahren.
Sie praktizieren „linke Tasche - rechte Tasche“, indem Sie Kosten, die eigentlich im Verteidigungsressort
anfallen, zum Beispiel für die Berechnung der Gehälter,
in andere Ministerien verlagern. Sie sind mehr als ein
Verteidigungsminister: Bundesminister der Verteidigung. Für den Gesamthaushalt ist es kein Gewinn, wenn
Sie so vorgehen. Was Sie da machen, ist vielleicht taktisch klug; es ist aber, fürchte ich, ein Fehler. Es ist deshalb ein Fehler, weil der größte Personalkörper sein eigenes Personal nicht mehr bei der Hand hat und damit
Kompetenzen sowie das Verständnis für den Soldatenberuf geringer werden. Das ist ein strategischer Fehler.
Ich sehe schon vor mir, wie irgendwann einmal ein
Finanzminister sagt: Moment, ihr Verteidigungspolitiker, wir erbringen für euch mit der Gehaltsabrechnung
und allem, was daran hängt, Leistungen, und die stellen
wir dem Verteidigungsressort in Zukunft selbstverständlich sichtbar, der Haushaltsklarheit wegen, in Rechnung. Herr Minister, wenn Sie in solchen Fragen schon nicht
auf die Opposition hören wollen, sehen Sie wenigstens
von dem Schritt ab, die Verantwortung für das Personal
auszulagern. Lassen Sie das. Hören Sie auf die Personalvertretung. Nehmen Sie auch die gesetzlichen Bedenken
in diesem Bereich ernst.
({3})
Nun haben Sie viel über die Reform geredet. Ich will
ausdrücklich sagen: Vieles von dem, was hier angestoßen wurde, findet unsere Unterstützung. Ich kann hier
nicht mit Klein-Klein jeden einzelnen Punkt herausgreifen. Aber eines, Herr Minister, ist nicht richtig, nämlich
wenn Sie sagen: Die Reform ist sicherheitspolitisch begründet, gut finanziert und demografiefest. - Die Reform ist sicherheitspolitisch nicht begründet. Die Welt
hat sich, was die Sicherheitspolitik angeht, in den letzten
zwei, drei Jahren nicht wirklich verändert. Das Geld ist
knapper. Das ist gar kein Vorwurf; es wäre auch knapp,
wenn die Sozialdemokraten regieren würden. Aber wir
sollten es ehrlicherweise auch sagen.
Die Reform ist auch nicht solide nachhaltig finanziert.
Wir werden am Ende weniger Soldaten, weniger Ausstattung und weniger Fähigkeiten haben, und die Schere zwischen den Ansprüchen, die wir Politiker an die Streitkräfte und ihre Fähigkeiten haben, und den finanziellen
Möglichkeiten der Bundeswehr wird nicht geschlossen.
Das Problem wird auf niedrigerem Niveau in die Zukunft
transferiert. Darüber sind wir sehr unglücklich.
Wir sind auch nicht froh über Ihre These „Breite vor
Tiefe“, die Sie hier geäußert haben. So kann man in vielen Bereichen vorgehen, aber nicht in allen. Manchmal
ist diese These ganz bequem, weil man keine Prioritäten
setzen muss. In Wirklichkeit führt „Breite vor Tiefe“
aber dazu, dass die Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte
in vielen Bereichen beschädigt wird und dass eher wieder einige hohle Strukturen entstehen werden. Wir hätten
uns sehr gewünscht, dass man mit Blick auf mangelnde
Fähigkeiten in den Vereinten Nationen und in der Europäischen Union wenigstens die Fähigkeiten, die wirklich
knapp sind und mit denen Deutschland Gewicht, Einfluss und Interessen einbringen könnte, nicht eindampft.
Das gilt für Hubschrauber, für Feldjäger, auch für maritime Fähigkeiten und für manches andere mehr. Ich
glaube, hier macht man einen großen strategischen Fehler.
Lassen Sie mich zum Schluss ganz kurz einige bedeutsame Punkte ansprechen. Sie sagen, Sie wollen die Menschen mitnehmen. Das ist wichtig. Auch wir wollen alles
tun, damit die Soldaten Vertrauen in die Bundeswehr und
in deren konzeptionelle Gestaltung finden. Aber wir müssen aufpassen. Eine Armee im Einsatz mit hohen Belastungen, die von Soldaten im Alter von 23 Jahren getragen
werden, verdient unsere Anerkennung und unseren Respekt. Deshalb ist es gut, wenn die Opposition zusammen
mit der Regierung das Mandat für Afghanistan erteilt.
Wir können aber nicht erwarten, dass das zwangsläufig spurlos an den Menschen und damit an den Streitkräften vorübergeht. Deshalb muss man bei der Personalgewinnung und der Präsentation der Bundeswehr
nach außen sehr sorgfältig vorgehen. Ich will gar nicht
über die Vorfälle in der letzten Woche reden. Wir müssen
darauf achten, dass nach außen ein korrektes Bild des
Soldatenberufes präsentiert wird, das der Vielfalt und
der Kompliziertheit dieses Berufes - der Soldat muss
nicht nur kämpfen können, sondern in Zukunft auch vieles andere beherrschen - gerecht wird. Denn nur wenn
wir Menschen finden, die verstehen, was die Bundeswehr und ihre Aufträge in der Demokratie bedeuten,
werden wir auch in Zukunft noch die Bundeswehr haben, die wir alle miteinander wollen. Unsere dringende
Bitte ist, das noch einmal sorgfältig zu reflektieren. Wir
sollten darüber auch im Verteidigungsausschuss eine
gründliche Debatte führen.
Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Joachim Spatz von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Bundeswehrreform, die wir zurzeit
durchführen, hat eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie in diesen bewegten Zeiten erhält, weil sie
nämlich auf neuen verteidigungspolitischen Herausforderungen basiert. Es ist, Kollege Arnold, überhaupt kein
Widerspruch, wenn Sie sagen, dass die sicherheitspolitischen Herausforderungen heute dieselben sind wie vor
einigen Jahren. Dann hätten Sie die Bundeswehrreform
ja auch damals schon durchführen können, Herr Kollege
Arnold.
({0})
Sie haben Truppenreduzierungen vorgenommen, wir
machen eine Strukturreform. Deswegen unterscheidet
sich diese Reform von Reformen in früheren Jahren. Am
Ende werden nicht nur Reduzierungen herauskommen,
sondern auch klare Schwerpunktverlagerungen. Es gibt
eine klare Schwerpunktbildung beim Heer, weil dort,
wie wir alle wissen, die Einsatzformen der Zukunft liegen.
Meine Damen und Herren, obwohl auch diesmal wieder Standorte betroffen waren, ist die Diskussion nach
meiner Wahrnehmung sehr sachlich, kriterienorientiert
und dadurch ohne große Widerstände verlaufen. Deshalb
ganz herzlichen Dank an das Ministerium und alle Fraktionen, die diesen Prozess unterstützt haben! Es ist eine
- jedenfalls im Moment - gelungene Reform. Wir hoffen, dass die Umsetzung genauso konsequent stattfindet.
Wir haben, was die Einsatzversorgung angeht, in diesem Jahr mit sehr breitem Konsens etwas für die Soldatinnen und Soldaten, aber auch für die zivilen Bediensteten der Bundeswehr im Ausland getan. Es ist zugesagt,
die letzten noch offenen Fragen im Rahmen des Reformbegleitgesetzes zu klären. Das werden wir aufmerksam
verfolgen und gegebenenfalls konsequent einfordern.
Ich denke, eines ist klar: Das Parlament steht mit breitem Konsens hinter den Soldatinnen und Soldaten sowie
hinter den Zivilen, die wir ins Ausland entsenden. Dies
gilt nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch, wenn es
konkret um Verwundungen an Leib und Seele geht oder
darum, Folgen für Familien einzudämmen. Dazu dem
Hohen Hause ganz herzlichen Dank!
({1})
Die Einsätze im Ausland, geprägt durch den Afghanistan-Einsatz, sind immer besonderer Aufmerksamkeit
wert. Es ist mir in diesem Zusammenhang wichtig, noch
einmal zu betonen, dass wir in Afghanistan den Zenit
unseres militärischen Einsatzes überschritten haben. Es
muss klar sein - das wird auch durch die Mandate, die
die entsprechenden Reduzierungen vorsehen, deutlich -,
dass die Übergabe in Verantwortung konsequent vorgenommen werden muss und dass sich unsere Partner in
Afghanistan darauf einstellen werden.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zum Thema
Industrie; das ist vorhin bereits angesprochen worden.
Ich gebe eines sehr deutlich zu bedenken: Die Zusage
der Amerikaner, die Hubschrauber in unserem RC North
präsent zu halten, gilt nur bis zum September 2012. Es
ist wichtig, dass wir den Partnern auf industrieller Seite
klarmachen: Wenn sie diese Dinge mit uns auch in Zukunft auf Augenhöhe diskutieren wollen, ist es notwendig, dass wir auch nach dem September 2012 in unserem
RC North entsprechend handlungsfähig bleiben.
({2})
Das muss eine klare Botschaft an diese Adresse sein.
Zum Schluss noch ein Wort zur internationalen Ausrichtung. Herr Kollege Arnold, Sie haben mit Recht die
europäische Perspektive angesprochen. Nur ist es Ihnen
wahrscheinlich entgangen, dass die Außenminister des
Weimarer Dreiecks, also Frankreichs, Polens und
Deutschlands, unter Federführung unseres Außenministers einen Brief an Frau Ashton geschrieben haben, um
die europäische Zusammenarbeit einzufordern, und dass
Italien und Spanien diesem Schreiben mittlerweile beigetreten sind. Auch wenn das Ganze in diesem Fall nicht
vom Verteidigungsminister, sondern vom Außenminister
ausgegangen ist, halte ich das für genau die Zielrichtung,
die wir verfolgen müssen. Ihnen ist das, wie gesagt, leider
entgangen. Trotzdem ist es die Realität. Wir müssen an
dieser Stelle konsequent fortfahren.
Eines ist aber klar: Wir haben es damit zu tun, dass
aus völlig verschiedenen Denkschulen und Erlebnistraditionen stammende Armeen und politische Führungen
unter einen Hut gebracht werden müssen. Das wird einige Zeit dauern. Die Notwendigkeit für ein solches Vorgehen ist allerdings gewachsen. Wer die Äußerungen des
US-Präsidenten in Canberra ernst nimmt, in denen es um
die Schwerpunktverlagerung der amerikanischen Aufmerksamkeit in den pazifischen Raum geht, und das in
den Zusammenhang stellt mit den Äußerungen des früheren Verteidigungsministers Gates, wird erkennen, dass
das den Europäern mehr Eigenverantwortung in ihrem
engeren Umfeld abverlangt.
Aufgrund der Haushaltslage wird das nur mit Kooperationen gehen können. Das heißt, wir sind an dieser
Stelle zum Erfolg verurteilt, weil es die allumfassende
Hilfestellung aus Amerika wahrscheinlich auch aus finanziellen Gründen nicht mehr geben wird. Experten
schätzen, dass die Amerikaner 54 Milliarden Dollar in
ihrem Verteidigungshaushalt einsparen werden müssen.
Dieses Geld wird fehlen, besonders in den Bereichen,
auf denen früher die Schwerpunkte der Amerikaner lagen, und die heute für sie nicht mehr ganz so wichtig
sind. Ich sage es noch einmal: Wir sind dazu verurteilt,
an dieser Stelle Erfolg zu haben.
Es ist aber besser, die Regierung hier nicht mit dem
Schwarzen Peter zu versehen, sondern bei unseren europäischen Partnern und in unseren Parteien dafür zu werben, dass es in diesem Bereich eine stärkere Kooperation
gibt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Paul
Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach Abschluss der Haushaltsberatungen bleibt nur eine Feststellung: Die Nöte der öffentlichen Haushalte werden immer
größer, die Sparvorgaben für das Bundesministerium der
Verteidigung immer kleiner. Das ist schon bemerkenswert. Denn am Anfang der Bundeswehrreform, mit der
wir es zu tun haben, stand keine Festlegung im Koalitionsvertrag, kein großer Wurf, sondern ein großes Loch:
das durch Bankenrettungen und Finanzmarktkrise entstandene Riesenloch im Bundeshaushalt, weswegen ein
Konsolidierungsbeitrag aus dem Rüstungshaushalt geleistet werden sollte; immerhin 10 Prozent der Steuergelder fließen dorthin. Davon ist nun wirklich nicht mehr
viel, wenn überhaupt noch etwas, übrig geblieben; das
ist schon gesagt worden. Wir hören jetzt wieder die alten
Töne - „Bei der Sicherheit darf nicht gespart werden“ -,
als ob wir uns wieder in der Bedrohungssituation des
Kalten Krieges befänden. Absonderlich!
({0})
Die Zahlen sind hier genannt worden: Aus dem ursprünglichen Sparziel - 8,3 Milliarden Euro - wurde
schnell ein kleineres Sparziel: 4,3 Milliarden Euro. Der
Verteidigungsminister darf sich beim Finanzminister sehr
großzügig bedienen: Er erhält im nächsten Jahr 2 Milliarden Euro zusätzlich für den Umbau der Bundeswehr. Ja,
der Strukturwandel muss sozialverträglich gestaltet werden; das kostet Geld. Insofern ist es sogar zu loben, dass
das Weihnachtsgeld für Beamte, Richter und Soldaten,
das gekürzt werden sollte - damit wären Sie wortbrüchig
geworden -, doch gezahlt wird; es wird aus diesen Mitteln finanziert. Aber Sie sparen nicht an den Stellen ein,
an denen energisch gespart werden muss.
({1})
Die Rede ist von den irrsinnigen Beschaffungsvorhaben aus den 90er-Jahren: Eurofighter, Tiger und A400M.
Jetzt haben Sie festgestellt: Das ist selbst für Sie zu viel.
Sie wollen also die Stückzahlen reduzieren. Was macht
man? Man schickt die Minister dieser Regierung im Interesse der Rüstungsindustrie auf Werbereise; sie sollen
für Absatz sorgen. So sieht die Abrüstungsagenda dieser
Bundesregierung aus.
({2})
Die Rede ist auch vom Einstieg in neue Rüstungsprojekte: EuroHawk, Fregatte 125, Schützenpanzer. Die
Rede ist von der strikten Ausrichtung der gesamten Bundeswehr auf die Auslandseinsätze. Das hat seinen Preis.
Etwas mehr als 1 Milliarde Euro sind ausgewiesen; den
wahren Preis hat meine Kollegin Buchholz hier genannt.
Das ist etwas, was wir uns nicht mehr leisten können und
sollten.
Herr Koppelin, an dieser Stelle eine Anmerkung zu
Ihnen - nicht nur zu Ihnen -: Ja, dieses Parlament trägt
Verantwortung für die Bundeswehr und für die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland. Wir sind ein Teil dieses Parlaments. Deshalb sind auch wir betroffen, wenn
Soldaten tot nach Hause gebracht werden oder sie mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung zurückkommen. Wir fragen uns nach dem Sinn und Zweck dieser
Einsätze: Was erreicht man damit? Was richtet man damit an? Aus genau diesem Grund sagen wir: Holen Sie
die jungen Leute aus Afghanistan zurück! So sieht unsere Vorstellung von Verantwortung aus.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist richtig: Die Streitkräfte bedürfen einer grundsätzlichen Reform; aber sie
muss in die richtige Richtung gehen. Wir sind nicht mehr
militärisch bedroht - das sagen Sie selber -, und wir brauchen die dafür eingesetzten Mittel an anderer Stelle: für
die Bewältigung globaler Probleme. Genau deshalb sagen
wir - das liegt in einem Entschließungsantrag vor -: Halbieren wir die Mittel für die Bundeswehr, richten wir die
Streitkräfte defensiv aus, beenden wir die Auslandseinsätze, und rüsten wir jährlich um 5 Prozent ab! Das wäre
sicherheitspolitisch und volkswirtschaftlich vernünftig;
das sollte hier beschlossen werden.
({4})
Es ist schön und gut, dass Sie, Herr Minister de Maizière, hier ein Reformbegleitgesetz angekündigt haben,
bei dem es um die Sicherung der Interessen der Beschäftigten geht. Was Sie aber nicht vorlegen wollen, ist ein
ordentliches Konversionsgesetz; da ist Fehlanzeige. Die
Reduzierung der Zahl der Soldaten, der Zivilbeschäftigten und der Standorte muss aber mit einer zielgerichteten
Konversionspolitik verbunden werden. Strukturbrüche
dieser Art sind nur zu bewältigen, wenn sie langfristig
geplant sind, aktiv gestaltet sind, ausreichend finanziert
sind und zwischen Bund und Ländern intensiv abgestimmt werden. Nicht zu vergessen ist, dass die Bürgerinnen und Bürger gründlich einbezogen werden müssen.
Ein solcher Strukturwandel ist kein normaler gesellschaftlicher Prozess, sondern ein extrem wünschenswerter Prozess. Jede Photovoltaik- oder Windkraftanlage,
die einen Schießplatz ersetzt, ist ein gesellschaftlicher
Fortschritt.
({5})
Jeder Technologiepark anstelle eines Munitionsdepots
bedeutet Innovation statt Stillstand. Jede Wohnanlage
anstelle eines Hangars für Kampfhubschrauber bedeutet
mehr Lebensqualität für die Menschen.
({6})
Das gilt es jetzt zu begreifen, auch in den betroffenen
Kommunen und Regionen. Die zivile Nachnutzung der
Liegenschaften eröffnet neue Möglichkeiten für Wirtschaft, Umwelt und Beschäftigung.
Jetzt folgt das große Aber: Diese Chancen können
von den Kommunen nur genutzt werden, wenn ihnen geholfen wird, wenn sie finanziell unterstützt werden. Herr
de Maizière, da reicht es eben nicht, zu sagen: In meiPaul Schäfer ({7})
nem Topf ist nichts; darum soll sich doch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben kümmern. - Nein, so
funktioniert das nicht. Wir brauchen einen gut ausgestatteten Konversionsfonds des Bundes; wir brauchen die
Bereitstellung verbilligter Kredite für die Gemeinden;
wir brauchen eine veränderte Geschäftsgrundlage für die
BImA, die primär am Verwertungsinteresse der Gemeinden ausgerichtet ist und nicht an der Gewinnmaximierung für den Bund;
({8})
und wir brauchen die Wiederbelebung von Strukturen,
die alle Ebenen umfassen, um diesen Konversionsprozess wirklich zu steuern.
Darum geht es in unserem zweiten Entschließungsantrag - um nicht mehr und nicht weniger. Wir wollen die
Bundesregierung zwingen, an dieser Stelle endlich ihre
Pflicht zu tun. Sie sollten unserem Antrag zustimmen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, dass ich die nächsten Sätze im Namen aller im
Hohen Hause sprechen darf. Wir haben heute die Meldung erhalten, dass zwei Soldaten in Baglan bei einem
Sprengstoffanschlag verletzt worden sind. Ich denke,
dass wir alle ihnen beste, schnellstmögliche und vor allem vollständige Genesung wünschen. Vor allem ihren
Familien wünschen wir gerade in diesen schwierigen
Stunden viel Kraft.
({0})
Lieber Herr Koppelin, vor etwa drei Jahrzehnten ist
einmal ein Hubschrauber bestellt worden, der für den
Einsatz gegen die Panzerarmee aus dem Osten gedacht
war.
({1})
Das war der Tiger. Ich weiß, dass Sie sich damals schon
gewünscht haben, dass die Grünen endlich wieder mitregieren mögen. Aber selbst heute fliegt das Ding noch
nicht. Der Tiger - das hat der Kollege Spatz gerade dezent angemerkt - war für ganz andere Aufgaben vorgesehen zu der Zeit, als er bestellt wurde, als die, die heute
zu bewältigen sind. Der Tiger ist in der Beschaffung
deutlich teurer geworden. Vor allem ist er, wie gesagt,
noch nicht da. Seine Beschaffung ist teuer, spät und chaotisch. Das ist ein Beispiel für viele Beschaffungsprojekte. Man kann noch einige andere nennen.
Ich weiß, Sie würden da MEADS sagen.
({2})
- Verehrter Kollege von der FDP, ich würde mir heute
echt Zwischenrufe dazu ersparen, wie es ist, der kleine
Koalitionspartner zu sein und sich nicht in allem durchsetzen zu können.
Als Grüner würde ich auf den MH-90, den NH-90
und den A400M verweisen. All das ist am Ende immer
wieder teuer, spät und chaotisch gewesen. Genauso trifft
das auch auf die jetzige Bundeswehrreform zu.
Die Bundeswehrreform trug am Anfang die Überschrift „Größte Reform aller Zeiten“. Das war eine Idee.
Damals gab es einen Minister, der dafür bekannt war,
dass er Ideen hatte. Danach kamen Sie, Herr Minister.
Sie haben diese Ideen - das muss man zugeben - geordnet. Sie haben einige Dinge zusammengeführt, die vorher nicht zusammengepasst haben. Das ist erst einmal alles andere als falsch.
Die Geburtsfehler der Reform sind aber immer noch
vorhanden. Wenn man eine große Organisation reformieren will, steht die Aufgabenkritik am Anfang und
nicht die Festsetzung einer Gesamtgröße, wie es damals
geschehen ist. Das haben Sie ja jetzt revidiert.
Hinzu kommt, dass alles extrem teuer ist. Es geht dabei nicht nur um die öffentliche Hand in toto, sondern
auch um die Frage: Tut man der Bundeswehr heute einen
Gefallen, wenn man die Einsparungen, die demnächst
sowieso fällig werden, nicht jetzt vornimmt, indem man
neue und effizientere Strukturen schafft? Das ist in vielen Teilen leider bisher nicht geschehen. Deshalb gibt es
in vielen Fragen noch nichts Konkretes.
Wer mit den Soldatinnen und Soldaten redet, entdeckt
eine riesengroße Verunsicherung, weil wir nicht die
größte Reform aller Zeiten, sondern die langwierigste aller Zeiten hatten. Es gab Ankündigungen, danach wartete man auf Entscheidungen. Man wusste nicht, was
hinten herauskommt. Natürlich ist man verunsichert,
wenn die Bundeskanzlerin persönlich verspricht, dass
das Weihnachtsgeld im nächsten Jahr kommen wird,
aber doch nichts passiert. Auch das hilft nicht unbedingt
dabei, Vertrauen zu gewinnen und sicherzustellen, dass
eine große Reform sozialverträglich abläuft.
Es ist eigentlich schon ein kleiner Skandal und alles
andere als vertrauensbildend, wenn Sie, Herr Minister,
zulassen, dass Kommandeure aus der Presse oder durch
Anrufe vom Bürgermeister erfahren, dass ihr Standort
betroffen ist und geschlossen werden soll. Das ist nicht
wirklich verantwortungsvoll. Das bringt keine Ruhe in
die Bundeswehr.
({3})
Wir bleiben dabei, dass wir in vielen Bereichen immer noch vor einem riesengroßen Fragezeichen stehen.
Die Bundeswehrreform ist weiterhin - und nicht nur in
der Umsetzung - ein Gerüst. Wo bleibt denn eigentlich
die ressortübergreifende Zusammenarbeit bei dieser
Bundeswehrreform? Ich kann sie nicht erkennen. Wo ist
denn eigentlich eine Veränderung der Beschaffungsstruktur zu erkennen? Sie wollen bestehende Verträge
auflösen und neue abschließen. Wie aber in Zukunft
neue Beschaffungen durchgeführt werden sollen, da die
veränderten Strukturen so nicht mehr funktionieren, ist
mir bisher überhaupt nicht klar. Die Kommission, die Sie
selbst zitiert haben, hat damals festgestellt, dass das
BWB so nicht mehr weiterexistieren sollte. Was sich nun
aber ändert, außer dass zwei nicht ganz effiziente Strukturen zusammengelegt werden, verstehe ich ohnehin
nicht.
Mannschaftsdienstgrade beschäftigt die zentrale
Frage: Wie können Laufbahnen flexibler und damit attraktiver gestaltet werden? Es ist mir nicht wirklich klar,
wie die Attraktivität der Bundeswehr so konzeptioniert
werden kann, dass die Breite der Gesellschaft auch nach
der Aussetzung der Wehrpflicht von ihr widergespiegelt
werden kann.
Die Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerrinnenrechte
sind ein Thema, das im 21. Jahrhundert wohl auch bei
der Bundeswehr auf die Tagesordnung gesetzt werden
sollte. Die Perspektive der inneren Führung, über die wir
Grüne sehr häufig diskutieren, wirft Fragen auf: Wohin
wollen Sie mit der Bundeswehr? In welche Richtung soll
das Konzept der inneren Führung weiterentwickelt werden? Das alles ist nicht klar.
Es ist alles so unglaublich vage, dass ich überhaupt
nicht zu sagen vermag, ob diese Reform wirklich von
hinten bis vorne Sinn macht. Wir werden Sie weiterhin
kritisch begleiten. Wir hoffen, dass wir am Ende eine Armee haben werden, die nicht größer ist, als sie sein muss,
eine Armee, die im Dienste der Vereinten Nationen ihrem
aus dem Grundgesetz abgeleiteten Auftrag nachgehen kann.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst-Reinhard Beck
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der uns vorliegende Verteidigungshaushalt mit seinen rund 31,8 Milliarden Euro musste unterschiedlichsten Vorgaben Rechnung tragen. Ich erinnere noch einmal
kurz daran: Da ist zum einen die Bundeswehrreform, da
sind zum anderen die nicht unerheblichen Kosten für die
laufenden Einsätze, und da ist nicht zuletzt die Notwendigkeit von Einsparmaßnahmen im Bereich Haushaltskonsolidierung. Das sind die drei Ausgangspunkte. Wesentliche Bestandteile der Konsolidierungsmaßnahmen
sind die Aussetzung der Wehrpflicht, die Schaffung effizienterer Strukturen bei der Bundeswehr, die Reduzierung von Standorten und der sozial verträgliche Abbau
von Personal.
Trotz schwieriger Ausgangslage ist es gelungen, einen
Finanzrahmen festzulegen, mit dem weiterhin eine angemessene und verantwortungsvolle Sicherheitspolitik für
unser Land möglich ist. Dem Bundesminister für Verteidigung ist es gelungen, die Neuausrichtung nicht nur sicherheitspolitisch zu begründen, sondern auch ausreichend solide zu finanzieren. Herr Kollege Arnold, in
diesem Punkt sind wir unterschiedlicher Auffassung.
Mit dem Standortkonzept ist ein wichtiger Zwischenschritt für die Reform erreicht. Im Namen meiner Fraktion danke ich allen, die an der Neukonzeption der Bundeswehr aktiv mitgewirkt haben. Zeit zum Ausruhen
gibt es aber nicht. Mit der Umsetzung steht uns allen
noch ein hartes Stück Arbeit bevor, das vor allem das
Personal bis an die Leistungsgrenzen fordern wird. Herr
Minister, Sie haben vorhin von den Mühen der Ebenen
gesprochen, die jetzt vor uns liegen.
Eben dieses Personal als wichtigste Ressource der
Bundeswehr bedarf unserer besonderen Aufmerksamkeit
und Fürsorge. Die Menschen in der Bundeswehr müssen
nun sehr schnell erfahren, wohin die Reise geht: Ändert
sich mein Aufgabenfeld? Wo ist mein Standort? Wo
kann meine Familie leben? Wo gehen meine Kinder in
die Schule? Habe ich in der Bundeswehr noch eine Perspektive, oder lohnt es sich für mich, die Streitkräfte zu
verlassen? Das Gleiche gilt übrigens auch für die betroffenen Kommunen. Auch sie brauchen entsprechende
Perspektiven und Planungssicherheit.
Denjenigen, die die Bundeswehr verlassen wollen,
müssen rasch Perspektiven aufgezeigt werden. Dem Reformbegleitgesetz - das ist schon mehrfach angesprochen worden - wird dabei eine Schlüsselfunktion zukommen. Es darf nicht alles im Klein-Klein zerredet
werden, wenn wir die Bundeswehr attraktiv erhalten
wollen. Deshalb sind zeitlich begrenzte, gesetzliche
Übergangsregelungen zum Abbau des militärischen und
des zivilen Personalkörpers notwendig.
Sollten die Zuwendungen des Bundes auf einem vergleichsweise moderaten Niveau bleiben - ich befürchte,
dass dies der Fall sein wird -, müssen die Betroffenen
selbst die Möglichkeit haben, in ihrem weiteren Arbeitsleben die entstandenen Versorgungslücken zu schließen
oder darüber hinaus mehr zu verdienen. In diesem Zusammenhang darf die Hinzuverdienstgrenze nicht zum
Tabu erklärt werden.
({0})
Geradezu sträflich wäre es aber, jene zu vernachlässigen, die bei der Bundeswehr bleiben, auf deren Dienst
und Leistung wir tagtäglich angewiesen sind und auf die
wir uns verlassen können müssen. Ihnen hat unsere Aufmerksamkeit ebenso zu gelten - und nicht nur während
des Übergangs zur neuen Struktur.
Die Bundeswehr steht auf dem Arbeitsmarkt im Wettbewerb mit großen und mittelständischen Unternehmen.
Dies ist eine andauernde Herausforderung. Die Bundeswehr muss sich, so meine ich, in diesem Wettbewerb
nicht verstecken. Aber sie kann in einigen Bereichen
besser werden. Die Forderungen nach mehr Fürsorge,
zum Beispiel hinsichtlich einer besseren Vereinbarkeit
von Familie und Dienst - Stichwort „Kinderbetreuung“ -,
müssen jetzt konsequent angegangen und erfüllt werden.
Ich nenne exemplarisch die Wahlmöglichkeit zwischen
Ernst-Reinhard Beck ({1})
Umzugskostenvergütung und Trennungsgeld sowie die
Bereitstellung geeigneter Pendlerunterkünfte. Aber auch
die Anhebung der Sätze für mehrgeleisteten Dienst ist
ein wichtiges Signal für unsere Soldatinnen und Soldaten.
In diesem Zusammenhang - das ist vorhin kurz angesprochen worden - möchte ich auch die Wiedereinführung der Sonderzuwendung, im Volksmund „Weihnachtsgeld“ genannt, besonders positiv hervorheben.
Hier hat die Koalition ein wichtiges Versprechen eingelöst und dadurch, wie ich meine, an Glaubwürdigkeit zurückgewonnen.
({2})
Es gilt aber auch, die Ausrüstung der Bundeswehr auf
die aktuellen und die wahrscheinlichen künftigen Einsätze abzustimmen. Es gibt noch immer Defizite bei der
vorhandenen Ausrüstung, die rasch behoben werden
müssen.
Handlungsbedarf besteht aber auch bei der in Beschaffung befindlichen Ausrüstung. Es ist vorhin schon
mehrfach gesagt worden: Sie wurde zum Teil noch in der
Zeit des Kalten Krieges beschafft, und zwar in zu großer
Stückzahl für die nun kleinere Bundeswehr. Diese Großprojekte schnüren uns die Luft ab, sodass wir jene Ausrüstung, die wir für zukünftige Aufgaben brauchen, nicht
beschaffen können. Hier müssen Freiräume geschaffen
werden. Der Minister steht mit den Unternehmen im Gespräch, was wir ausdrücklich unterstützen. Letztlich geht
es nicht nur um Finanzmittel und Rüstungsgüter, sondern auch um industrielle Kernkompetenzen in unserem
Land. Beide Seiten müssen im Interesse der Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz eine Lösung finden.
Das richtige Gerät zur rechten Zeit im Einsatz zur
Verfügung zu haben, das muss die Richtschnur unseres
Handelns sein.
({3})
Voraussetzung dafür ist, dass das Beschaffungswesen
der Bundeswehr zukünftig schneller und kostengünstiger
Ausrüstung zur Verfügung stellt. Dies ist eine besondere
Herausforderung für das Gelingen der gesamten Reform.
Die ersten Ansätze stimmen mich hier durchaus optimistisch.
In den Haushaltsberatungen konnten wir beim Titel
für Handwaffenmunition eine Verbesserung erzielen;
Kollege Willsch hat vorhin ausdrücklich darauf hingewiesen. Der Verbrauch im Einsatz und die einsatznahe
Schießausbildung haben zu einem signifikanten Mehrbedarf geführt. Ich hebe dies hervor, weil in diesem Bereich den Bitten aus den Truppen im Einsatz und in der
Ausbildung unmittelbar Rechnung getragen werden
konnte.
({4})
Auch hinsichtlich der Beschaffung eines leichten
Mehrzweckhubschraubers zur Verbringung von Spezialkräften bei Nacht und unter Bedrohung sind wir auf einem guten Weg.
Nachdem die Neuausrichtung der Bundeswehr in den
wichtigsten Schritten planerisch vollzogen ist, müssen
wir unser Augenmerk in Zukunft auch auf die europäische Dimension unserer Sicherheitspolitik lenken. Ich
nenne hier exemplarisch einige Themen: AGS, Luftbetankung, Air Policing, ein mögliches Joint Support Ship.
Hier gibt es Möglichkeiten, knappe Ressourcen gemeinsam zu organisieren. Diesem Ziel dient auch das Konzept „Pooling & Sharing“, das nun zumindest in Konturen Gestalt annehmen muss.
Seit einer Woche liegt auch die „Konzeption der Reserve“ vor. Reservisten sind wichtige Multiplikatoren für
die Bundeswehr. Sie üben verantwortungsvolle Tätigkeiten in Bundeswehr und Zivilleben aus. Ihre zivilen Qualifikationen sind nun noch besser nutzbar zu machen für
die Bedürfnisse der Streitkräfte. Wenn das gelingt, können unsere Reservisten Botschafter für die Bundeswehr
sein und zum positiven Bild der Streitkräfte in der Gesellschaft beitragen.
Wir haben, wenn ich das kurz anmerken darf, eine
neue Spitze des Reservistenverbandes. Ich darf an dieser
Stelle dem Kollegen Kiesewetter als neuem Präsidenten
({5})
und seinen Stellvertretern Erdel und Groschek herzlich
gratulieren. Mit diesem Glückwunsch verbinde ich den
Dank an alle Reservistinnen und Reservisten.
({6})
Die Verbundenheit der Gesellschaft mit den Soldatinnen und Soldaten ist wichtig für das gegenseitige Verständnis. Gerade vor dem Hintergrund der Einsatzrealität
ist dies unverzichtbar. Mit dem Beruf des Soldaten ist
Risiko für Leib und Leben verbunden. Dies ist wahr.
Herr Kollege Nouripour, Sie haben darauf hingewiesen,
dass wir heute wieder zwei verwundete Soldaten zu beklagen haben, denen wir von hier aus unsere besten Genesungswünsche übermitteln. Das ist schrecklich, kann
aber trotz bester Ausrüstung und bester Ausbildung nie
völlig verhindert werden. Umso wichtiger ist der Umgang mit dieser Situation.
Bestmögliche Versorgung und Absicherung, auch von
Hinterbliebenen und Angehörigen, verlangen Fingerspitzengefühl und Großzügigkeit. Viele Veteranen kommen
gezeichnet aus dem Einsatz zurück. Die sanitätsdienstliche Versorgung von Verwundungen, körperlich wie seelisch, steht daher ganz oben auf unserer Agenda. Das
Parlament hat mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz darauf reagiert und entscheidende Verbesserungen erzielt. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Ich
danke noch einmal allen, die daran Anteil hatten.
Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen meine Gedanken zu unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Auch dieses Jahr werden Tausende von
ihnen die Weihnachtstage fernab der Heimat und getrennt von ihren Familien feiern müssen. Sie tun dies in
dem Bewusstsein, unserer Sicherheit zu dienen. Sie die16984
Ernst-Reinhard Beck ({7})
nen Deutschland. Sie verdienen unseren Dank und unsere volle Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einer differenzierten Debatte ist es wichtig, über Gemeinsamkeiten und über Unterschiede zu reden. In den
Fragen der äußeren Sicherheit unseres Landes suchen
wir Sozialdemokraten so viel Konsens wie möglich, aber
wir müssen auch vor Fehlentwicklungen aus unserer
Sicht warnen und Alternativen vorschlagen.
Es hat keinen Sinn, mit jedem Regierungswechsel die
Bundeswehr ganz neu zu erfinden. Die Bundeswehr, die
Soldatinnen und Soldaten sowie die Zivilbeschäftigten
brauchen Kontinuität. Deshalb war es schlecht, dass Ihr
Vorgänger, Herr Minister, Hals über Kopf eine Bundeswehrreform angekündigt hat, ohne dass die vorherige
schon abgeschlossen war und ohne zu wissen, wohin er
überhaupt will. Das hat Vertrauen kaputtgemacht. Darunter leidet die Reform jetzt noch.
Sie hätten eine europäische Perspektive entwickeln
müssen: Was sollen deutsche Streitkräfte in Europa können? Was können die Partner machen? Wo sind unsere
Schwerpunkte? Das ist unterblieben, und das ist teuer.
Deshalb haben wir künftig immer noch eine Universalarmee, die fast alles können soll, nur eben mit immer
weniger Personal. Wir begrüßen, dass Sie unter diesen
Umständen die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung jedenfalls nicht aufgegeben haben. Ihr Vorgänger hat das prüfen lassen.
Wir wollen keine Bundeswehr, die eine reine Expeditionsarmee wäre. Es ist deshalb richtig, dass das Heer
weiter in Divisionen und Brigaden gegliedert ist. Auch
den Rückgriff auf gekaderte Verbände halten wir für
richtig.
Ob allerdings Deutschland und Europa auf lange
Sicht die Stärkung der deutschen Infanterie brauchen,
wage ich zu bezweifeln. Das ist Ausfluss Ihrer ganz aktuellen Afghanistan-Politik. Hier wird der gegenwärtig
schwierigste Einsatz zum Modell für die Zukunft der
Bundeswehr. Damit wäre ich vorsichtig. Wenn Ihre neue
Infanteriestärke eines Tages hergestellt sein wird, ist hoffentlich der Einsatz kämpfender Truppen in Afghanistan
Geschichte.
({0})
Genau über diese Zukunft des Landes in eigener Verantwortung berät in wenigen Tagen die internationale
Afghanistan-Konferenz in Bonn. Wir wünschen uns,
dass der Übergang gelingt.
Wir begrüßen, dass die Führungsstrukturen der Teilstreitkräfte schlanker werden. Aus je drei Stäben wird jeweils einer - das war überfällig.
Verglichen mit anderen Teilstreitkräften schrumpft
unsere schon kleine Marine am wenigsten, die Luftwaffe
am stärksten. Dafür gibt es gute Gründe. Aber es hätte
auch gute Gründe für eine stabile oder sogar leicht aufwachsende Marine gegeben. Nach den Einsätzen auf
dem Balkan und in Afghanistan wird sie immer noch ein
wesentlicher Träger der Auslandseinsätze unserer Bundeswehr sein. Ihre Bedeutung nimmt eher zu. Hier hätten
Sie einen Schwerpunkt setzen können.
({1})
- Die Marinefraktion versteht, was gemeint ist.
Über den freiwilligen Wehrdienst haben wir schon einige Male diskutiert. Ich bleibe dabei: Mit diesem Dienst
ist es Ihnen nicht ernst. Im Haushalt 2012 sind - das erkennt man, wenn man genau hinschaut - keine 15 000,
sondern nur 12 500 Dienstposten für freiwillig Wehrdienstleistende reserviert. Sie fangen schon an, den Dienst
wegzusparen. Das ist keine große Strategie der Freiwilligkeit, das ist kleinmütig.
Wo wir Ihnen vor allem energisch widersprechen
müssen, Herr Minister, ist Ihr Umgang mit den Zivilbeschäftigten. Hier haben Sie eine Strategie, und diese
heißt Outsourcing:
Outsourcing in andere Ressorts der Bundesregierung,
Stichworte: Gebührniswesen und Travel Management.
Die Mitarbeiter bekommen neue Türschilder. Frage: Was
spart das? Es ist dann zwar nicht mehr der Einzelplan 14,
aber immer noch der gleiche Bundeshaushalt, aus dem
diese Bundeswehrangehörigen bezahlt werden müssen.
Outsourcing ans Militär, Stichwort: gemischte Verwaltungsämter. Wieder stellt sich die Frage: Spart das etwas, oder sollen hier nur verfassungsrechtliche Schranken eingerissen werden?
Outsourcing an die Wirtschaft. Das ist Outsourcing
im klassischen Sinn. Wenn Sie einen von zwei Marinearsenalbetrieben schließen, wer macht dann die Arbeit?
Die Marine wird ja bekanntermaßen und richtigerweise
nicht halbiert. Also kürzen Sie auf lange Sicht bei den
Personalkosten und schichten um zu Sachposten. Was
spart das? Es wird teurer.
Ich warne vor Reformen um der Reform willen, Veränderungen um der Veränderung willen, Umzügen um
des Umziehens willen. Wenn Sie nicht erklären können
oder wollen, welchen Vorteil eine Veränderung hat, dann
unterlassen Sie diese Veränderung.
Lassen Sie als Bundesregierung die Kommunen mit
den Folgen von Arbeitsplatz- und Kaufkraftverlust in
den betroffenen Regionen nicht allein. Sie haben angekündigt, hier etwas zu tun. Wir warten auf Vorschläge.
Verkehrsminister Ramsauers Idee, aus Liegenschaftsverkäufen ganz schnell Geld dafür zu mobilisieren, kommt
mir irgendwie bekannt vor. Die Erfahrungen damals waren ernüchternd. Verhandeln Sie lieber mit Ihren KolleDr. Hans-Peter Bartels
gen Schäuble und Ramsauer darüber, dass existierende
Programme wie „Die soziale Stadt“ stärker und nicht
schwächer ausgestattet werden! Machen Sie die vorhandenen Bundesprogramme nutzbar für die Konversionskommunen! Sorgen Sie für eine schnelle, preisgünstige
Abgabe der Liegenschaften, am besten zunächst an die
Kommunen selbst!
Suchen Sie das Gespräch mit den Beschäftigten und
den Gemeinden! Lassen Sie uns bei der Umsetzung der
Reform so viel Konsens wie möglich wahren! Sie haben
gesagt, das Motto sei: Der Sack ist zu. Ich glaube, dass
wir auch nach der heutigen Debatte sage können: Das
Fass ist auf. - Und das ist keine Drohung.
Vielen Dank.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Einzelplan hat nun das
Wort der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der heute hier zur Debatte stehende Verteidigungshaushalt ist ein wichtiger Meilenstein bei der laufenden Reform der Bundeswehr. An ihm wird deutlich, dass wir als
christlich-liberale Koalition es ernst meinen, wenn wir
sagen, dass wir eine Bundeswehr aufstellen wollen, die
strukturell besser auf ihre Aufgaben ausgerichtet ist, die
für die Soldaten attraktiver ist, die besser ausgerüstet
und die nachhaltig finanziert ist.
Der Verteidigungshaushalt 2012 umfasst 31,87 Milliarden Euro. Im Vergleich: Im Jahr 2011 waren es
31,55 Milliarden Euro. Der Aspekt „nachhaltige Finanzierung“ wird erst recht deutlich, wenn man die mittelfristige Finanzplanung betrachtet: 2013: 31,35 Milliarden Euro, 2014: 30,95 Milliarden Euro, und 2015:
30,43 Milliarden Euro. Die Bundeswehr wird deutlich
kleiner werden, aber die Finanzierung bleibt in etwa auf
dem jetzigen Niveau. Dass uns das gelungen ist, ohne an
anderer Stelle gegen die Einsparauflagen der Schuldenbremse zu verstoßen, zeigt die Bedeutung, die wir als
Koalition einer gut ausgerüsteten und attraktiven Bundeswehr zumessen. Genau in diesem Sinne, lieber Herr
Kollege Willsch, wurden ja in den parlamentarischen
Beratungen weitere Verbesserungen für die Soldaten erzielt: bei den Planstellen, aber auch - Sie haben das
Thema Munition angesprochen - bei der Ausrüstung.
Dafür auch von meiner Seite herzlichen Dank!
Man kann, wenn man nicht in der Verantwortung
steht, natürlich immer fordern, dass man an der einen
oder anderen Stelle noch mehr hätte einsparen oder mehr
hätte ausgeben müssen; in der heutigen Debatte hört man
ja beides. Aber ich finde, mit diesem Haushalt ist es uns
gelungen, eine vernünftige Balance zu finden, auch und
vor allem im Sinne der Bundeswehr. Das ist insbesondere ein Verdienst des Verteidigungsministers Thomas
de Maizière, der die Reform, die sein Vorgänger, KarlTheodor zu Guttenberg, eingeleitet hat, in hervorragender Weise fortgeführt hat.
({0})
Meine Damen und Herren, der Haushalt 2012 und die
mittelfristige Finanzplanung sind aber nur ein Meilenstein in diesem Reformprozess. Wir sind noch lange
nicht am Ziel. Viele strukturelle Probleme sind noch
nicht gelöst. Ich denke hier - das ist heute bereits mehrfach angesprochen worden - zum Beispiel an den langwierigen Zulassungs- und Beschaffungsprozess, der
dazu führt, dass Material entweder viel zu spät oder in
einer Konfiguration und Stückzahl kommt, die sich
längst überholt hat. Der Prozess bindet über viele Jahre
hinweg Geld, das dann an anderer Stelle wieder fehlt,
um die Bundeswehr mit dem zu versorgen und das zu
beschaffen, was die Truppe heute viel dringender
bräuchte. Hier bleibt noch viel zu tun.
Was bereits entschieden ist, ist das zukünftige Stationierungskonzept der Bundeswehr. Auch hier möchte ich
dem Minister und all denjenigen, die das Konzept im
Hintergrund vorbereitet haben, meinen höchsten Respekt
aussprechen. Das Ergebnis und die Art und Weise, wie
es vorbereitet worden ist, waren erstklassig. Ich sage das
als jemand, der in seiner Heimat selbst von Standortschließungen betroffen ist, der auch vor Ort danach gefragt wird und sie rechtfertigen muss. Ich weiß - ich
kann da mit allen Kollegen mitfühlen -: Das ist nicht
einfach. Aber verantwortungsvolle Politik darf nicht
nach dem Motto vorgehen: Wasch mir den Pelz, aber
mach mich bitte nicht nass.
({1})
Eine Verkleinerung der Bundeswehr bedeutet automatisch auch weniger Standorte. Wenn ich das Ergebnis
insgesamt betrachte, stelle ich fest: Das Ziel, dass die
Bundeswehr auch in Zukunft in der Fläche präsent
bleibt, wurde weitestgehend erreicht.
({2})
Trotzdem gibt es Bereiche, die besonders hart getroffen
wurden. Es geht jetzt darum, gemeinsam mit den betroffenen Kommunen und Regionen möglichst passgenaue
Lösungen zu erarbeiten, damit sie den Weggang der
Bundeswehr vor Ort möglichst angemessen kompensieren können.
In dem ganzen schwierigen Prozess, gerade bei der
Vorbereitung der Stationierungsentscheidungen, gab es
für mich persönlich immer wieder auch positive Momente. Diese positiven, erfreulichen Momente waren immer dann, wenn ich miterleben durfte, wie sich ganze Regionen - an der Spitze oft die Bürgermeister, aber auch
viele Vereine und Menschen aus der Zivilgesellschaft mit ihren Soldaten vor Ort solidarisiert und für deren Verbleib in der Region gekämpft haben. Dabei wurde nicht
nur deren Bedeutung für die regionale Wirtschaftskraft
betont. Herausgehoben wurden immer wieder auch die
Leistungen, die die jeweilige Einheit, insbesondere im
Einsatz, für unser Land erbringt. Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass es uns gelingt, die sichtbare Solidarität
mit der Bundeswehr, die wir an vielen Orten erlebt haben,
auch in der Zukunft in dieser Form aufrechtzuerhalten.
({3})
Neben den ganzen strukturellen Herausforderungen
- eine ganze Reihe von ihnen wurde heute angesprochen - ist es ja die große Aufgabe der Zukunft, genügend qualifizierten Nachwuchs für die Bundeswehr zu
gewinnen. Das entscheidet sich auch, aber eben nicht nur
an den materiellen Rahmenbedingungen. Das entscheidet sich nämlich auch daran, ob die Gesellschaft sichtbar
hinter dem Dienst und dem Einsatz der Soldaten steht.
Dazu können wir auch vonseiten des Parlaments einiges beitragen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 14
- Bundesministerium der Verteidigung - in der Aus-
schussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 14 ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte X a bis e sowie g
und h auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({0}), Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Umbenennung von Bundeswehrkasernen und
Straßennamen auf den Bundeswehrliegenschaften
- Drucksache 17/7485 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Montenegro zur Europäischen Union
und zur Empfehlung der EU-Kommission vom
12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/7768 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zur Empfehlung der
EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Montenegro
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/7809 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Volker Beck ({4}), Marieluise Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zur Empfehlung der
EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Montenegro
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/7769 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Bei der Vergabe von Exportkreditgarantien
auch menschenrechtliche Aspekte prüfen
- Drucksache 17/7810 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Federführung strittig
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wissenschaftszeitvertragsgesetz wissenschaftsadäquat verändern
- Drucksache 17/7773 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise
Beck ({10}), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof
Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans
- Drucksache 17/7774 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkt X e. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7810 zur Vergabe von Exportkreditgarantien an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die
Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD - Federführung beim Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe - abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit gleichem Stimmenverhältnis
angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen:
Tagesordnungspunkt X a bis d sowie g und h. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt XI a bis k auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt XI a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
17. Juni 2010 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerrat der Republik Albanien über die Seeschifffahrt
- Drucksache 17/7237 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({12})
- Drucksache 17/7683 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7683, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7237 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt XI b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Statistik der Überschuldung privater
Personen ({13})
- Drucksache 17/7418 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({14})
- Drucksache 17/7698 Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Christel Humme
Florian Bernschneider
Heidrun Dittrich
Katja Dörner
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7698, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7418 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt XI c bis k,
also zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt XI c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 337 zu Petitionen
- Drucksache 17/7656 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 337 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt XI d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 338 zu Petitionen
- Drucksache 17/7657 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 338 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt XI e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 339 zu Petitionen
- Drucksache 17/7658 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 339 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt XI f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 340 zu Petitionen
- Drucksache 17/7659 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 340 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt XI g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 341 zu Petitionen
- Drucksache 17/7660 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 341 ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt XI h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 342 zu Petitionen
- Drucksache 17/7661 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt XI i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 343 zu Petitionen
- Drucksache 17/7662 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 343 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt XI j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 344 zu Petitionen
- Drucksache 17/7663 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 344 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen von SPD und Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt XI k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 345 zu Petitionen
- Drucksache 17/7664 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 345 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt II.13. auf:
Einzelplan 23
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
- Drucksachen 17/7119, 17/7123 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Klein
Lothar Binding ({24})
Dr. Dietmar Bartsch
Priska Hinz ({25})
Hierzu liegen ein gemeinsamer Änderungsantrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
sowie zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor.
Außerdem liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir am Freitag
nach der Schlussabstimmung abstimmen werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Lothar Binding von der SPD-Fraktion
das Wort.
({26})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Presse
des BMZ gestern entnommen, dass wir uns in einer
schwierigen Haushaltslage befinden. Die Zinsen sind
jetzt einmalig niedrig. Auch die Arbeitslosigkeit ist niedrig - dank Olaf Scholz. Was wäre, wenn es die Kurzarbeiterregelung nicht gegeben hätte? Das Wachstum ist
komfortabel - dank Steinmeier und Steinbrück. Wo wären wir heute ohne die Konjunkturprogramme? Die
Steuereinnahmen sind unerwartet hoch. Es wird gegen
den Geist der Schuldenbremse gehandelt. Jedenfalls ist
das die Schlussfolgerung, wenn man sich darauf verständigen kann, dass 26 Milliarden Euro Schulden mehr als
22 Milliarden Euro Schulden sind.
Trotz dieser schwierigen Haushaltslage, von der Sie
selbst sprechen, haben Sie 6 Milliarden Euro für Steuersenkungen übrig, die keiner braucht und keiner will.
({0})
Das hat heute Morgen unser Vorsitzender sehr schön
ausgeführt. Aber Sie haben keine Milliarde für ihren Bereich zusätzlich übrig, um bezüglich der ODA-Quote
wenigstens strukturell etwas zu tun, damit den Ärmsten
geholfen werden kann.
({1})
Ich frage mich: Was wollen Sie eigentlich machen, wenn
die Haushaltslage wirklich schwierig wird?
Zunächst einmal möchte ich mich bei dem Ministerium, also bei Dirk Niebel, dem Staatssekretär Beerfeltz
und auch bei Herrn Schmidt für die wirklich gute Kooperation im Rahmen der Haushaltsberatungen bedanken.
Auch bei Priska Hinz als Hauptberichterstatterin und bei
meinen Kollegen Dietmar Bartsch, Volkmar Klein und
Jürgen Koppelin möchte ich mich bedanken und last, but
not least auch beim Fachausschuss, der von den Haushältern natürlich immer viel mehr verlangt, als wir unter
haushalterischen Gesichtspunkten gewähren können.
Das ist ein natürliches Spannungsverhältnis. Ich finde,
dass Sascha Raabe und Bärbel Kofler das immer sehr
fair machen, auch wenn wir zum Schluss einen schwierigen Kompromiss schließen müssen.
Ich bedanke mich bei allen für die gute Information,
den harmonischen Verlauf, die offene Atmosphäre und
das faire Miteinander. Wir haben viele Wochen gelernt,
gestritten und Ideen ausgetauscht. Wir haben noch bis
2 Uhr nachts in der Bereinigungssitzung um Zahlen gefochten und über Strukturen debattiert.
Wenige Stunden - Stunden! - später erfährt das Parlament
({2})
- die meisten von uns übrigens aus der Presse -, dass der
mit 129 Millionen Euro ausgestattete Titel „Entwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe“ im BMZHaushalt ganz plötzlich aufgelöst werden soll. In den
Wochen davor war davon keine Rede: geheime Verschlusssache. Wir erfahren es direkt nach der Haushaltsbeschlussfassung im Haushaltsausschuss und wundern
uns.
95 Millionen Euro sollen an das Auswärtige Amt gehen. Westerwelle soll - wer mag dabei an Wahlkampf
denken? - als Katastrophenhelfer im Ausland für schöne
Bilder sorgen. 34 Millionen Euro werden im BMZ umgruppiert. Sechs Stellen gehen an das Auswärtige Amt.
Die Zuständigkeit für politische Stiftungen in Osteuropa
soll auch an das Auswärtige Amt gehen. Was das für die
Arbeit der Stiftungen bedeutet, wage ich mir nicht vorzustellen. Vielleicht fragen Sie die Stiftungen danach.
Im Auswärtigen Amt sollen 46 neue Stellen in den
Botschaften geschaffen werden, vom BMZ besetzt. Es
sollen auch 12 Stellen in Leitungspositionen geschaffen
werden. Vor der nächsten Wahl sollen so viele wie möglich abgesichert werden, war in der Presse zu lesen. Ja,
wer wohl? Wenn zwei Minister mit dem Parlament so
umgehen und diese beiden zufällig in einer Partei sind,
dann könnte man dahinter mehr vermuten.
({3})
Auf dieser Basis lohnt es sich eigentlich nicht, über
einen Haushalt zu reden, der schon wenige Stunden,
nachdem wir ihn beschlossen haben, obsolet ist. Was
aber lese ich in der Zeitung? Da heißt es: „der größte
Etat in der Geschichte des Ministeriums, der größte historische Personalzuwachs“ und „ein neues Zeitalter der
Kooperation“ zwischen Auswärtigem Amt und BMZ.
Ich bin mir da nicht ganz so sicher.
Ich habe auch gelesen - das hätte von Heidemarie
Wieczorek-Zeul sein können -:
Dennoch dürfen wir unsere Partner nicht mit immer
neuen Konzepten überfordern. … Konzepte wie
„Hilfe zur Selbsthilfe“ … gibt es schon lange.
Weiter heißt es:
Entwicklungspolitik begründet sich auch aus einer
moralischen Verpflichtung, aus Solidarität und
Nächstenliebe heraus.
Das hat übrigens Herr Bundespräsident Wulff anlässlich
der 50-Jahr-Feier des BMZ gesagt. Ich glaube, wir geben
ihm recht.
Dirk Niebel spricht unter dem Stichwort „Eigeninteressen“ von Ökonomisierung, aber auch von symbolischer Militarisierung.
({4})
- Ich habe „symbolisch“ gesagt.
Lothar Binding ({5})
Es gibt eine Anzeige mit dem Titel „wirtschaft. entwickelt. global“. Wer sich an das alte Logo der FDP erinnert, weiß noch, dass es dort auch solche Punkte gab:
F.D.P. In der Anzeige heißt es: „Wir wollen erreichen,
dass Entwicklungspolitik und deutsche Wirtschaft Hand
in Hand arbeiten.“ Ich glaube, da ist was dran: Eine
Hand wäscht die andere. Auf dieser Basis wird zurzeit
Entwicklungspolitik gemacht.
({6})
Dabei ist es aber so, dass - ich zitiere - „Entwicklungspolitik sich im Kern immer auf einen überparteilichen Konsens“ stützt.
({7})
Auch das hat nicht Heidemarie Wieczorek-Zeul gesagt,
sondern unser Bundespräsident. Niebel allerdings, habe
ich in demselben Artikel gelesen, arbeitet daran, SPDSpuren im Ministerium zu tilgen. Das bedeutet eine ganz
andere Arbeitsrichtung in der Entwicklungspolitik. Ihm
geht es darum, Spuren anderer zu tilgen.
Aber woran arbeitet er noch? Ich meine, wir müssen
dafür ein bisschen Verständnis haben: Er kümmert sich
um die FDP.
({8})
Es werden zum Beispiel Mitarbeiter befristet eingestellt;
diese Stellen werden aber nach kurzer Zeit entfristet.
Das heißt dann im Ministerium „Auswahlverfahren
light“. Dieser Zusatz ist auch nötig; denn wenn das Parteibuch vor Qualifikation geht, dann braucht man ein
Light-Verfahren.
Es gibt allerdings auch andere Verfahren. Statt bestehende Referate zu stärken, werden neue geschaffen. Bisher gab es ein Referat für den Bereich private Wirtschaft; jetzt sind es zwei. Bisher gab es zwei Referate für
Zivilgesellschaft. Jetzt sind es drei. Früher gab es ein Referat für Personal. Heute sind es zwei. Was ist die Idee?
Sie verdoppeln sozusagen ein Referat und können damit
personalpolitisch schön jonglieren, insbesondere wenn
Sie aus anderen Ministerien und der GIZ 300 Stellen bekommen und sie in einer gewissen Weise zu einer freien
Verfügungsmasse in Ihrem Ministerium machen.
Es kommt noch etwas Besonderes hinzu: Durch die
vielen neuen Strukturen gibt es einen erhöhten Abstimmungsbedarf. Was folgt daraus? Man braucht neue Abteilungskoordinatoren. Das ist völlig klar. Ich weiß auch,
wie sie besetzt werden sollen ({9})
jedenfalls liegt die Vermutung nahe -; denn es werden
Referatsleiter verschoben.
Wem das zu abstrakt ist, dem rufe ich ein paar Namen
in Erinnerung: Pätz, Vorstandsmitglied in der GIZ, mit
einer Rückfallstelle auf B-Ebene im Ministerium. Einen
peinlichen Vorgang gab es um van Bebber - hier muss
man sich einmal im Ministerium umhören -, Kreisvorsitzender der FDP in Ahrweiler. Dreimal dürfen Sie raten, wer Exekutivdirektor der Weltbank geworden ist:
ein ehemaliger Mitarbeiter von Genscher, rein zufällig.
Dann kommt Christian Lüth, Friedrich-Naumann-Stiftung, zum BMZ, nachdem er Deutschland in Honduras
auf das Peinlichste blamiert hat. Da merkt man schon, in
welche Richtung es geht.
Ich meine, wir brauchen Verstärkung in ganz anderen
Bereichen: in den Regionen, in den Sektoren. Wir brauchen Antworten auf die Frage, wie die GIZ wirklich gesteuert werden soll. Wir müssen die Armutsbekämpfung
verstärken. Wir brauchen wenigstens einen Pfad zum
Aufbau der ODA-Quote. Im Haushalt ist dazu nichts zu
finden. Das sind die wesentlichen Themen, um die wir
uns kümmern müssen. Ich bin froh, dass meine Kollegen
dazu noch das Wort ergreifen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christiane RatjenDamerau für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Binding, im Gegensatz zu Ihnen möchte
ich heute zu der Frage Stellung nehmen, wie wir jene
Menschen auf dieser Welt unterstützen können, die nicht
das Glück haben, in einem der reichsten Länder dieser
Welt geboren zu sein.
({0})
Entwicklungszusammenarbeit gibt es noch nicht sehr
lange. Es gibt sie seit 50 Jahren. Die Vorstellung, dass
wir eine Mitverantwortung für das Schicksal aller Menschen dieser Welt tragen, ist ein neuzeitliches Konzept.
In der Entwicklungspolitik gibt es noch viele ungelöste
Aufgaben, und somit bleibt sehr viel Raum für kontroverse und auch innovative Diskussionen. Für mich heißt
Entwicklungspolitik, anderen Chancen zu eröffnen, aber
gleichzeitig die eigenen Chancen zu nutzen.
({1})
Der diesjährige Haushalt des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibt
den Anspruch wieder, dass Globalisierung eine Chance
für alle Menschen auf dieser Welt ist. Der Haushalt des
Bundesministeriums wächst in diesem Jahr um knapp
2 Prozent auf 6 332 900 000 Euro an. Das sind 114 Millionen Euro mehr als im vergangenen Jahr. 114 Millionen Euro mehr investiert die Bundesregierung in die Zukunft unserer Welt.
({2})
Trotz enger haushalterischer Spielräume haben wir
damit den dritten Rekordhaushalt in Folge in diesem
Jahr. Dass es die gesamte Bundesregierung ernst meint
mit der Entwicklungspolitik, zeigt sich an diesem Haushalt. Der Anteil des BMZ am Bundeshaushalt steigt auf
2,1 Prozent an. Das Ziel der ODA-Quote, 0,7 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes in die Entwicklungshilfe zu
investieren, haben wir zwar noch nicht erreicht, aber ich
möchte an dieser Stelle für uns alle betonen, dass wir an
dieser Vereinbarung der Weltgemeinschaft festhalten.
({3})
Die christlich-liberale Koalition hat 2009 - damals
lag die ODA-Quote bei 0,35 Prozent - die Regierungsverantwortung übernommen. 2010 lag sie bereits bei
0,39 Prozent, und das bei einem um 3,6 Prozent höheren
Bruttoinlandsprodukt in Deutschland.
Ein wichtiger Aspekt einer zeitgemäßen Entwicklungspolitik ist allerdings: Mit Geld alleine ist keine
sinnvolle und langfristige Entwicklungspolitik möglich.
Die Qualität und die Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit sind hier entscheidend. Wir Entwicklungspolitiker und Entwicklungspolitikerinnen der Koalition sind der festen Überzeugung, dass eine nachhaltige
Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in
den Entwicklungsländern nicht durch eine dauerhafte
Alimentation erzielt werden kann.
({4})
Für 2012 kann der Haushalt des BMZ als ein Wirksamkeitshaushalt beschrieben werden, weil sich in ihm
die Zusammenführung der vormaligen Durchführungsorganisationen, der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, der InWEnt und des Deutschen Entwicklungsdienstes, zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit wiederfindet. Dies ist die größte Strukturreform in der Entwicklungspolitik seit der Gründung des
BMZ und damit seit genau 50 Jahren.
({5})
Zudem setzt das Bundesministerium auf die Evaluierung der eigenen Arbeit. Dafür wird im Jahr 2012 ein eigenes Institut gegründet. Für mich als Liberale ist es
selbstverständlich, dass die Arbeit des Ministeriums auf
den Prüfstand eines unabhängigen Evaluierungsinstitutes gestellt wird.
Wirksam ist der Haushalt auch deshalb, weil er den
Aufbau der Zivilgesellschaften durch private Träger wie
die Kirchen und Stiftungen in den Entwicklungsländern
mehr als je zuvor stärkt und fördert. Denn um das Ziel
einer nachhaltigen Bekämpfung der Armut und Strukturdefizite in den betroffenen Ländern zu erreichen, benötigen wir die Anstrengung und das Wissen gerade dieser
Institutionen. Ihre Arbeit beginnt meistens dort, wo
staatliches Handeln nicht möglich ist.
Den Schwerpunkt der Entwicklungspolitik legen wir
weiterhin auf Afrika. Die Armut in den betroffenen Staaten
in Afrika lässt sich nur über Generationen hinweg und
insbesondere durch Investitionen in die Bildung der
Menschen verringern. Daher verdoppeln wir die Anzahl
der Bildungsmaßnahmen im Süden des Kontinents bis
2013 gegenüber dem Jahr 2009.
({6})
Dies ist nachhaltig und sorgt für die Chancen, die dann
Wohlstand schaffen. Wir geben zusätzliche Mittel zur
Vergabe von Krediten und investieren in Ausbildung und
gute Regierungsführung.
Gleichzeitig sorgen wir mit dem Haushalt und der Arbeit des Bundesministeriums dafür - da möchte ich
gerne Bundesminister Niebel zitieren -, dass die Entwicklungszusammenarbeit stärker in der Gesellschaft
verankert wird. Entsprechend organisiert sich das BMZ
neu und geht andere Wege.
({7})
So schafft es aus einer Vielzahl von unübersichtlichen
Angeboten eine einzige Servicestelle mit Ansprechpartnern zu allen Fragen des bürgerschaftlichen Engagements und der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit.
Vieles kann jedoch ohne neue Mittel geleistet werden,
und zwar allein durch eine bessere Koordinierung und
einen effizienteren Einsatz der Mittel. Aber für bestimmte Maßnahmen brauchen wir mehr Geld. Deswegen bin ich mit dem Haushalt des Bundesministeriums
sehr zufrieden und danke an dieser Stelle allen Beteiligten, die an diesem Haushalt mitgewirkt haben.
({8})
Dieser Haushalt steht für die neue Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit und lässt uns gleichzeitig einen Schritt hin zur Einlösung unseres Versprechens an
die Welt - die Erfüllung der ODA-Quote - gehen.
Es gibt noch viel zu tun. Wir, die Politiker der westlichen, wohlhabenden Welt, müssen gemeinsam an einem
Strang ziehen.
({9})
- Vielleicht hören Sie einmal zu!
({10})
Wir müssen so lange an einem Strang ziehen, Frau
Koczy, solange Menschen nicht genug zu essen haben
und solange täglich Menschen an den Folgen von Armut
und Unterernährung sterben. Lassen Sie uns daher gemeinsam die Menschen unterstützen, die eben nicht das
Glück hatten, in dem reichsten Land der Welt geboren zu
werden.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Aus aktuellem Anlass möchte ich von hier
aus zuerst eine Solidaritätsadresse an die Menschen in
Kairo schicken, die im Moment auf dem Tahrir-Platz sitzen und versuchen, die Demokratie dort zu verteidigen,
({0})
und die im Grunde genommen eine zweite Revolution
gegen die Militärregierung beginnen. Herr Niebel, es
wäre schon gut gewesen, von Ihnen aktuell etwas dazu
zu hören. Es reicht nicht, dass Sie und Herr Westerwelle
sich dort feiern lassen. Jetzt braucht die Bevölkerung die
Solidarität von uns allen.
({1})
Zum Haushalt. Ich lese, dass Sie dieses Jahr einen Rekordhaushalt verabschieden. Das steht auf Ihrer Webseite.
({2})
Das ist sehr interessant. Ich kann mir das nur so erklären,
dass es für Sie, Herr Niebel, ein Rekord ist, trotz der großen Unterstützung, die Sie hier aus dem Parlament erfahren haben, trotz der vielen Unterschriften aus der Bevölkerung und trotz der vielen Appelle der Hilfsorganisationen einen solch mickrigen Aufwuchs für das
nächste Jahr zu organisieren, das ist wirklich ein Rekord,
Herr Niebel.
({3})
Die Halbzeitbilanz Ihrer Amtszeit ist katastrophal. Sie
machen viel Show, organisieren viele Events und sprechen von einer ganz neuen Ausrichtung der Entwicklungspolitik. Wenn man sich das aber genau anschaut,
dann stellt man fest, dass nicht viel dahinter ist. Sie wollen zum Beispiel über eine neue Servicestelle mehr Bürgerbeteiligung organisieren und die Zivilgesellschaft in
die Entwicklungspolitik stärker einbinden. Das ist schön
und gut. Aber zu den vielen Menschen, die bereits aktiv
sind, wenn es um Entwicklungsfragen geht, und auf die
Straße gehen, um das Erreichen des 0,7-Prozent-Ziels,
die Einführung einer Finanztransaktionsteuer und eine
strengere Regulierung der Finanzmärkte zu fordern und
die Bankenmacht zu brechen, gibt es von Ihnen keine
Reaktion, Herr Niebel. Diese Menschen werden systematisch ignoriert. Da brauchen Sie nicht von Bürgerbeteiligung zu sprechen. Das ist ein Witz.
({4})
Sie machen Politik wie bisher, verkaufen sie aber neu.
Sie sprechen von Eigenverantwortung und Wirtschaftspartnerschaften, meinen aber im Grunde die Förderung
deutscher Wirtschafts- und Rohstoffinteressen. Ich habe
gelesen - das ist interessant -, dass die neue Rohstoffallianz, gegründet vom Bundesverband der Deutschen
Industrie, jetzt auch vom Entwicklungsministerium begrüßt und unterstützt wird.
({5})
Das ist also Ihre neue Entwicklungsausrichtung. Sie machen Politik für die deutsche Großindustrie.
({6})
Sie sprechen von Liberalisierung, neuen Märkten und
neuen Chancen. Aber im Grunde handelt es sich um
nichts anderes als um den Griff in die neoliberale Mottenkiste.
({7})
Denn genau diese Politik hat bislang Entwicklung in den
Ländern des Südens verhindert.
({8})
Viele Arbeitsplätze und kleinbäuerliche Existenzen wurden dadurch vernichtet. Sie kommen mit den ewig alten
Rezepten des letzten Jahrhunderts und haben bis heute
nicht bemerkt, dass der Kapitalismus nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist.
({9})
Wir brauchen eine solidarische Weltwirtschaftsordnung,
wenn wir nicht nur den reichen Eliten, die ab und zu der
FDP Parteispenden zukommen lassen, sondern allen auf
dieser Welt eine menschenwürdige Existenz ermöglichen wollen.
Sie sehen sich als großer Reformer und haben intelligenterweise die Not- und Übergangshilfe in das Auswärtige Amt zur humanitären Hilfe verlagert. Das ist die
entwicklungspolitische Fehlleistung des Jahres. Es wäre
wichtig gewesen, die Not- und Übergangshilfe zusammen mit der humanitären Hilfe im Entwicklungsministerium anzusiedeln, weil die Übergänge sehr schwierig
sind und wir das entwicklungspolitisch gut organisieren
müssen. Statt die Not- und Übergangshilfe im Auswärtigen Amt quasi zu versenken, wäre es vor allem wichtig
gewesen, die Mittel dafür massiv zu erhöhen,
({10})
und zwar wegen der vielen Katastrophen, die wir haben,
sei es in Pakistan, in Haiti oder in Ostafrika. Da sieht
man nichts von Ihnen. Sie haben nur neue Posten für die
FDP im Außenministerium organisiert.
Am unrühmlichsten ist sicherlich Ihre Halbzeitbilanz,
wenn es um Afghanistan geht. Sie haben leider die schon
unter Rot-Grün begonnene zivil-militärische Zusammenarbeit massiv vorangetrieben und die Hilfsorganisationen, die staatliche Unterstützung bekommen, gezwungen, mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten. Diese
Militarisierung schreitet voran, zum Beispiel bei den
Kooperationsverträgen zwischen der GIZ und der Bundeswehr. Dabei geht es nicht nur um Afghanistan, sondern auch um zukünftige Militärinterventionen. Wir hingegen haben uns immer gegen eine Militarisierung der
Entwicklungszusammenarbeit ausgesprochen.
({11})
Die soziale Situation in Afghanistan ist nach wie vor
schwierig, nicht nur aufgrund von Korruption, sondern
auch aufgrund des dort herrschenden Krieges; denn unter den Bedingungen eines Krieges ist keine Entwicklung in einem Land möglich.
({12})
Nun findet nächste Woche in Bonn die große Afghanistan-Konferenz statt. Überall ist vom Abzug der Truppen die Rede. Dazu kann ich nur sagen: Das ist schlicht
eine Lüge. Es wird keinen kompletten Abzug der Truppen geben, allenfalls einen Teilabzug. Die Kanzlerin hat
heute Morgen davon gesprochen, dass wir über 2014 hinaus in Afghanistan präsent sein werden. Genau deswegen gehen immer mehr Menschen, insbesondere Friedensgruppen, in Afghanistan auf die Straße. Sie fordern:
Wir wollen keine Dauerbesatzung in Afghanistan. Wir
wollen über unser Land selbst bestimmen.
Diese Gruppen werden von uns unterstützt. Auch sie
kommen nächste Woche nach Bonn.
({13})
Sie werden einen Gegenpunkt setzen. Sie werden in
Bonn auf der Demonstration am 3. Dezember und auf
der Gegenkonferenz am 4. Dezember sprechen.
({14})
Sie stehen für die Forderung nach einem wirklichen Abzug der Truppen, sie stehen für die Forderung nach einem 100-prozentigen Abzug der Bundeswehr aus
Afghanistan; denn nur so gibt es wirkliche Entwicklungschancen für die Bevölkerung dort.
Danke.
({15})
Der nächste Redner ist der Kollege Volkmar Klein für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Klar, das ist hier eine Haushaltsberatung.
({0})
Trotzdem muss ich sagen: Man hat jetzt fast den Eindruck - das war auch in den letzten Wochen so -, als sei
Geld das Wertvollste, was Deutschland zu bieten hat; je
mehr davon, umso besser. Dabei legt doch schon der
Name des Ministeriums, über das wir hier reden, eigentlich anderes nahe. Es geht um wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ich denke, wichtiger noch
sind Austausch, Zusammenarbeit, Weitergeben von Erfahrung und Teilhaben-Lassen an Erfahrungen.
({1})
Das gilt im Übrigen aber auch wechselseitig. Das
wird jeder von uns so bestätigen können. Ich persönlich
habe langjährige Verbindungen nach Ghana. Wenn ich
von dort zurückkomme, dann fühle ich mich immer wieder auch selbst bereichert. Insofern ist das natürlich ein
ganz krasser Widerspruch zu dem, was wir gerade von
meiner Vorrednerin gehört haben.
Ich denke, das Wertvollste, was wir in Deutschland
weiterzugeben haben, ist unsere positive Erfahrung mit
der sozialen Marktwirtschaft.
({2})
Es wäre grandios, wenn es gelingt, in allen Teilen der
Welt eine sich selbst tragende Entwicklung anzustoßen:
sich selbst tragend, ökonomisch, ökologisch und sozial.
({3})
Das ist genau das, was wir unter Nachhaltigkeit verstehen.
({4})
Das heißt nicht, dass es darum geht, anderen irgendwie eine Kopie unserer Lösungen zu oktroyieren, aber
das heißt, dass wir die Erfahrung weitergeben müssen,
dass klare Regeln gebraucht werden sowie Verlässlichkeit, Spielräume für die Menschen, Ausgleich zwischen
den Menschen. Das heißt auch, dass wir eine klare Erwartung formulieren müssen. Egal welche Lösungen in
einem Land gefunden werden - wir erwarten von den
dortigen Eliten zumindest, dass sie selber Vertrauen in
ihre Lösungen haben. Das ist, glaube ich, ein großes Problem, über das wir viel zu wenig reden.
Natürlich geht das nicht ohne Geld; insofern waren
die Zwischenrufe ja richtig. Es gibt das schöne russische
Sprichwort: Durch Umrühren allein wird der Tee nicht
süßer, da muss Zucker hinein. - Das ist, finde ich, ein
tolles Sprichwort. Deutschland liefert ziemlich viel Zucker in alle Welt. Fast 6,4 Milliarden Euro umfasst der
Einzelplan 23, der Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das ist
sehr viel Geld. Fakt ist, dass wir alle uns dafür gegenüber unseren Wählern verantworten müssen.
({5})
Wir müssen begründen, weshalb es richtig ist, so viel
Geld zur Unterstützung anderer auszugeben. Ich finde,
man kann das auch sehr gut begründen. Es ist richtig,
weil unsere Verantwortung für den Nächsten nicht an unseren Grenzen endet. Wir müssen einen Teil unserer Erfahrungen, auch unseres Reichtums abgeben und mit
dem Nächsten jenseits unserer Grenzen teilen.
({6})
- Ich bedanke mich für den breiten Applaus. Ein solcher
wird sicherlich bei meinem nächsten Punkt erneut aufbranden.
Die Steigerung um 2,6 Prozent im Einzelplan 23
({7})
- da ist ja der Beifall - ist angesichts der Steigerung des
Gesamthaushalts natürlich exorbitant groß. Wir haben
nämlich ein insgesamt stagnierendes Budget, das um nur
0,1 Prozent steigt. Die Vorrednerin könnte sich vielleicht
vom Kollegen Binding, der von Mathematik viel Ahnung hat, genau erklären lassen, dass damit der Einzelplan 23 praktisch die 26-fache Steigerung im Vergleich
zum Gesamthaushalt erfährt.
({8})
- Gleich noch einmal von Lothar Binding erklären lassen.
Die Budgetsteigerung, meine Damen und Herren, ermöglicht uns eine Ausweitung unseres Handelns. Bei
vielen einzelnen Positionen im Einzelplan 23 gibt es
Aufwüchse. Ich will einmal zwei Punkte herausgreifen.
Wir haben schon oft über die Situation in Ostafrika
geredet. Insgesamt sind wir auf der Basis unserer Haushalte in der Lage, Ostafrika mit 205 Millionen Euro zu
unterstützen, inklusive - auch das muss erwähnt werden,
gerade von denen, die die Bedeutung der internationalen
Organisationen immer hochhalten - des deutschen Anteils am Europäischen Entwicklungsfonds und bei der
Weltbank. Das ist ein stolzes Ergebnis - auch angesichts
der enormen Not, die dort herrscht.
Als zweites Beispiel möchte ich erwähnen, dass es
uns möglich sein wird, unter dem Stichwort „Yasuní“,
das inzwischen quasi zu einem Synonym für Regenwaldschutz geworden ist, eine ganze Menge zu tun.
({9})
Der Schutz des Regenwaldes im Amazonasgebiet ist
durchaus auch für uns wichtig, weil die klimatischen
Auswirkungen weltweit eine Rolle spielen. Auf der Basis unserer Haushalte - dafür haben sich viele, insbesondere unser Kollege Christian Ruck, aber auch Kollegen
aus anderen Fraktionen intensiv eingesetzt - wird es jetzt
möglich sein, einiges in den Regenwaldschutz in
Ecuador zu investieren.
({10})
Es gibt einige berechtigte Zweifel daran, ob eine einfache Einzahlung in den ecuadorianischen Fonds langfristig ausreicht, gerade unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten. Deswegen ist der jetzt von den beiden
zuständigen Ministerien gefundene Kompromiss, Mittel
aus dem Einzelplan 23 und darüber hinaus aus dem Energie- und Klimafonds zur Verfügung zu stellen, ein gutes Ergebnis; dadurch können wir hier einiges bewegen.
Aber nicht nur die Budgetsteigerung ermöglicht uns
eine Ausweitung des Handelns, sondern auch die Effizienzsteigerung. Im Haushalt 2012 ist die Fusion von
DED, InWEnt und GTZ zur GIZ abgebildet. Das ist ein
klarer Erfolg, auch des zuständigen Ministers.
({11})
Lange, auch schon in der früheren Regierung, hat die
CDU/CSU gefordert, das in Angriff zu nehmen. Die damalige Ministerin hat es aber nicht geschafft. Jetzt wird
auf der Basis dieser Fusion unsere Arbeit mit Sicherheit
effektiver. Insofern möchte ich an dieser Stelle dem zuständigen Minister Dirk Niebel ganz herzlich gratulieren.
({12})
Vielleicht sollte ich eher uns allen hier gratulieren, dass
wir einen solchen Minister haben.
({13})
Ein agiler und erfolgreicher Minister agiert manchmal
unter Umständen etwas voreilig. Das haben wir gerade
bei der Vereinbarung mit dem Auswärtigen Amt erlebt;
darüber werden wir auch im Haushaltsausschuss noch
beraten. Kollege Binding hat eben schon etwas dazu gesagt. Wenn er das nicht in so viel Oppositionsgetöse verpackt hätte, wäre sogar etwas Richtiges daran gewesen.
Wir werden sehen, ob die Frau Kollegin Hinz das gleich
sachlich darstellt.
({14})
- Wir werden es sehen.
Insgesamt muss jenseits dieser Reformen mehr als
bisher darauf geachtet werden, wie erfolgreich wir arbeiten. Wir müssen nämlich unser Geld - auch das sind wir
dem Steuerzahler schuldig - wirklich effizient einsetzen.
Deshalb ist es wichtig, das eben schon genannte Evaluierungsinstitut zu gründen, weil wir, so glaube ich, noch
viel zu wenig über die tatsächliche Wirksamkeit unserer
Maßnahmen wissen.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist es - auch das
ist eben schon angeklungen -, sich nicht nur an die staatlichen Strukturen der Partnerländer zu wenden. Denn die
Analysen besagen für viele Länder, dass dort die Regierungen selbst Teil des Problems sind. Eine besonders
eindrucksvolle Analyse hat uns die sambische Wissenschaftlerin Dambisa Moyo vor zwei Jahren geliefert.
({15})
Deshalb ist es so wichtig, dass wir auch andere Bereiche
deutlich stärker unterstützen, die nicht an die staatlichen
Strukturen anknüpfen. Die Mittel für die Bereiche der
Kirchen, der Wirtschaft und der Bürgergesellschaft werden mit 8,5 Prozent wesentlich stärker ausgeweitet als
der durchschnittliche Haushalt.
Zum Abschluss noch zwei Punkte:
Erstens. Der Dank an die Beteiligten hier im Hause ist
schon ausreichend artikuliert worden. Ich möchte mich
an dieser Stelle aber auch bei all denjenigen bedanken,
die in aller Welt - teilweise unter harten Bedingungen Hilfe vor Ort leisten. Das ist im Interesse der Menschen
dort ganz toll, und es ist zugleich eine gute Visitenkarte
für Deutschland. Dafür ganz herzlichen Dank.
({16})
Zweitens. Das wird Sie jetzt nicht wirklich überraschen: Die CDU/CSU wird diesem Einzelplan zustimmen.
Herzlichen Dank.
({17})
Priska Hinz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Klein, Ihr letzter Satz war wirklich völlig überraschend. Meine Damen und Herren von der Koalition, es reicht
nicht aus, sich nur mit Worten an dem 0,7-Prozent-Ziel
festzuhalten, sondern man muss das Ziel dann auch erreichen wollen. Man muss es tatkräftig ansteuern.
({0})
Es reicht nicht aus, die internationalen Versprechungen vor sich her zu tragen, eine Koalitionsvereinbarung
zu unterschreiben und dann in dem Haushalt, den die
Regierung vorlegt, nur noch ein wenig hin und her zu
schieben, aber nicht wirklich den Willen kundzutun, das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen oder sogar noch etwas
draufzusetzen. Das haben Sie versäumt, und Sie müssen
ertragen, dass wir Ihnen das immer wieder vorhalten
werden.
({1})
Positiv ist, dass die KfW-Mittel jetzt unter den Gewährleistungsrahmen des Bundes fallen werden. Damit
kann die ODA-Quote gesteigert werden. Das haben wir
Grünen ja schon im letzten Jahr gefordert. Insofern sind
Sie uns gefolgt. Das ist wunderbar. Es reicht aber leider
nicht aus; denn die Barmittel müssen ebenfalls gesteigert
werden.
Wenn man sich die Finanzplanung anschaut, dann erkennt man, dass im Jahr 2013 etwa 10 Prozent des Etats
wegfallen sollen. Das heißt, wir wären dann unter dem
Status von 2010. Wie wollen Sie denn da das 0,7-Prozent-Ziel erreichen?
({2})
Diese Erklärung hätte ich gerne von Ihnen.
({3})
Herr Minister, wir von der Opposition haben Ihnen
sogar zugestanden, dass Sie im Zuge der Fusion der Vorfeldorganisationen mehr Personal brauchen. Wir sind der
Meinung, es hätte nicht ganz so viel sein müssen; wir haben Ihnen aber zugestanden, dass Sie für die Steuerung
mehr Personal bekommen; denn eine politische Steuerung muss schon sein.
Nur frage ich mich dann - und ich frage es auch die
Koalitionäre -: Was soll denn das Personal bitte steuern,
wenn es nicht auch mehr Barmittel gibt? Was sollen die
denn bitte schön machen?
({4})
Die Projekte und Programme müssen finanziell ausgestattet sein, damit man überhaupt steuern kann. Um es
mit einem ganz lapidaren Satz zusammenzufassen, den
wir schon in den 80er-Jahren benutzt haben: Ohne Moos
nix los. Ohne Geld werden Sie nicht weiterkommen. Da
können Sie zwar die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit anmahnen, man kann aber nur dann effizient
und effektiv helfen, wenn man dafür auch genügend
Geld hat.
({5})
Ich komme zum Globalen Fonds. Wir sind uns ziemlich einig darüber, dass er dringend notwendig ist, um
Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose und Aids vorzubeugen. Die Kanzlerin hat in internationalen Regierungsverhandlungen wieder die Bereitstellung der Mittel
zugesagt. Und was macht der Entwicklungsminister? Er
bekommt von der Organisation selbst einen Bericht über
mögliche Korruptionsfälle und sperrt dann erst einmal
die Mittel. Da haben wir noch gesagt: Das ist okay; da
muss man nachschauen. - Inzwischen will er auch die
letzte Tranche freigeben. Sehr gut! Aber was ist mit den
Mitteln für das nächste Jahr? Dann gibt es für diese Gelder keinen eigenen Titel mehr. Die Gelder werden in den
Titel „Bilaterale Finanzielle Zusammenarbeit“ eingestellt. Da gehören sie nicht hin;
({6})
denn die Mittel sollen nicht nach Gutsherrenart verteilt,
sondern je nach Notwendigkeit freigegeben werden. Da
wäre es sinnvoll gewesen, dass der Haushaltsausschuss
eine Sperre einrichtet.
Priska Hinz ({7})
({8})
Dann hätten wir nach den Berichten sagen können: Das
Parlament will, dass die Mittel jetzt freigegeben werden.
- Aber es entspricht nicht unserer Auffassung von demokratischer Kontrolle der Regierung durch das Parlament,
dass Sie die Mittel nach Gutsherrenart sperren oder freigeben können. Das kann ich Ihnen an dieser Stelle nicht
ersparen.
Wir haben den Minister bei der Fusion der Vorfeldorganisationen unterstützt. Wir haben ihn bei der Einrichtung eines Evaluierungsinstituts und einer Serviceagentur
unterstützt, wobei wir bei der inhaltlichen Ausgestaltung
der Serviceagentur durchaus Probleme sehen, weil die Zivilgesellschaft nicht ausreichend eingebunden wurde.
Herr Minister, es geht aber nicht - damit haben Sie alle
Vertreter des Hauses, die mit diesen Themen befasst sind,
verärgert -, dass Sie kurz nach der Bereinigungssitzung
gemeinsam mit dem Außenminister eine Vereinbarung
auf den Weg bringen, wonach Mittel und Stellen vom
BMZ ins Außenministerium und wieder zurück verschoben werden.
({9})
Wenn es so kommt, wie Sie es vorhaben, ist Ihr Rekordhaushalt im Übrigen kein Rekordhaushalt mehr, weil
dann die Aufwüchse beim Auswärtigen Amt landen.
Man kann es ja so wollen, wie Sie es vorhaben; aber
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - es wäre
das Mindeste gewesen, die Parlamentarier, die monatelang über diesen Haushalt beraten haben, die jeden Titel
durchgegangen sind und mit Ihnen besprochen haben,
die deutlich gemacht haben, wo vielleicht nur 10 000
Euro draufkommen und wo 10 000 Euro runterkommen
sollen, ausreichend zu informieren, und zwar bevor Sie
solch eine Vereinbarung treffen. Wir erwarten von Ihnen,
dass Sie den Haushaltsausschuss in dieser Sache weiterhin auf dem Laufenden halten und die Zustimmung dazu
einholen.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Bundesminister Dirk Niebel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind in dieser Regierung angetreten, um die
Wirksamkeit und Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen. Dieser dritte Rekordhaushalt in Folge
({0})
gibt uns die Möglichkeit, unsere erfolgreiche Arbeit fortzusetzen.
({1})
Ich möchte mich bei den Berichterstatterinnen und
Berichterstattern ausdrücklich für die - obwohl es in der
Debatte im Deutschen Bundestag manchmal etwas anders klingt - hervorragende Zusammenarbeit bedanken.
Wir haben einen sehr ergiebigen Diskussionsprozess geführt. Ich möchte mich auch bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern meines Hauses, des Bundesrechnungshofes und der anderen beteiligten Organisationen bedanken, die dazu beigetragen haben, dass wir diesen guten
Haushalt hier heute beschließen können.
Die Kolleginnen und Kollegen haben die Stellen angesprochen. Doch mein guter Freund Sigmar Gabriel hat
heute Morgen in der Generaldebatte versucht, zu skandalisieren, und gesagt, ich würde das Haus mit 166 Stellen
aufblähen.
({2})
Um der Wahrheit Genüge zu tun, muss man darauf hinweisen: Es sind 182 Stellen; im nächsten Jahr kommen
noch einmal 30 hinzu. Das hat gute Gründe - Sie alle haben es beschlossen -: Es geht um die Wiedererlangung
der politischen Steuerungsfähigkeit gegenüber den Durchführungsorganisationen. In diesem Prozess haben wir den
Bundeshaushalt - jetzt hören Sie bitte besonders gut zu trotz der Einrichtung der Servicestelle, der Gründung des
Evaluierungsinstituts und der Schaffung der politischen
Steuerungsfähigkeit des Hauses um 300 Stellen netto entlastet. Das ist der größte Bürokratieabbau im Rahmen der
größten Strukturreform, die diese Legislaturperiode gesehen hat. Ich ahne, dass es in den nächsten zwei Jahren
keine wesentlich größere geben wird.
({3})
Die Kollegin Hinz hat gerade beklagt, dass Stellen
verschoben würden und sie davon überrascht gewesen
sei.
({4})
Wir können gerne über die Frage des Zeitpunktes streiten - das haben wir gestern sehr intensiv getan -, nicht
aber über die Inhalte. Sie wissen, dass ein Bestandteil
der Fusion darin besteht, die politische Steuerungsfähigkeit zu erlangen. Deswegen gibt es auch in Bezug auf die
Außenstruktur der deutschen Entwicklungszusammenarbeit die Notwendigkeit einer Veränderung. Das ist übrigens auch im Kabinettsbeschluss zur Fusion so vorgesehen.
Die 46 Stellen an Botschaften für sogenannte WZ-Referenten - das sind die Mitarbeiter meines Hauses, die
dort für die Umsetzung der Entwicklungspolitik sorgen sind genauso gestaltet, wie es schon heute der Fall ist.
Unsere Mitarbeiter werden an die Botschaften abgeordnet. Unsere Stellen werden dann vom Auswärtigen Amt
bewirtschaftet. Ich wundere mich schon sehr, dass man
die Inhalte der wegweisendsten Verwaltungsvereinbarung zwischen den beiden Häusern kritisiert. Damit wird
endlich das hergestellt, was dieses Parlament - übrigens
über alle Fraktionsgrenzen hinweg - immer wieder gefordert hat.
({5})
Es wurde mehr Kohärenz bzw. die Einhaltung dessen gefordert, was die OECD schon lange von uns verlangt hat:
Klarheit bei humanitärer Hilfe und entwicklungsorientierter Nothilfe.
Lieber Kollege Lothar Binding, zu behaupten, wir
hätten diese Klarheit bei humanitärer Hilfe, bei der
Übergangs- und Nothilfe geschaffen, damit der Außenminister schöne Bilder von Katastrophen liefern kann,
ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten.
({6})
Ich kenne überhaupt keine einzige Katastrophe, die ein
einziges schönes Bild liefert.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns nicht über Geld reden, sondern über Verantwortung.
Lassen Sie uns über die Verantwortung reden, die wir in
der Welt wahrnehmen. Wir haben auf die Demokratiebewegungen in Nordafrika unmittelbar reagiert: mit drei
Fonds, die ich aufgelegt habe. Ich möchte mich hier ganz
besonders bei den Kirchen und vor allem den politischen
Stiftungen bedanken, die uns dabei unterstützt haben,
Demokratieprozesse begleiten zu können, damit die Welt
auch hier ein Stückchen besser wird.
Lassen Sie uns über die Entwicklung ländlicher
Räume reden, die in den vergangenen 10, 15 Jahren
schmählich vernachlässigt worden sind. Wir haben bei
der Katastrophe am Horn von Afrika sofort reagiert und
mit über 160 Millionen Euro kurz- und mittelfristig geholfen. Wir machen mehr, weil wir dafür sorgen wollen,
dass die nächste Dürre, die kommen wird, nicht gleich
wieder zu einer Katastrophe führt. Deswegen entwickeln
wir ländliche Räume. Das stellte sich in der Vergangenheit vielleicht weniger charmant dar, weil die Ergebnisse
längere Zeit brauchen und man sie nicht gleich mediengerecht vermarkten kann. Wir wollen dazu beitragen, die
Menschen nicht nur zu versorgen, sondern für sie vorzusorgen.
({8})
Wir übernehmen auch Verantwortung für den Reichtum dieser Erde. Zum Beispiel schützen wir die Biodiversität, indem wir der Regierung in Tansania helfen, andere Routen für die Straßen zu finden, die gebraucht
werden, damit die Serengeti nicht zerschnitten wird.
Hierzu kann man sagen: Dank deutscher Entwicklungszusammenarbeit muss die Serengeti nicht sterben.
Weiterhin haben wir den KAZA-Nationalpark erfunden. KAZA bedeutet Kavango-Zambesi-Nationalpark.
Das ist der größte Nationalpark der Welt. Er ist ungefähr
so groß wie Italien und erstreckt sich über fünf Staatsgrenzen hinweg. Bei diesen Staaten handelt es sich um
Namibia, Angola, Sambia, Simbabwe und Botswana.
Diese fünf Staaten versuchen, Biodiversität und wirtschaftliche Entwicklung, den Schutz von indigenen Völkern sowie der Natur unter einen Hut zu bringen. Das
sind fünf Staaten, die in der Vergangenheit oftmals sehr
viele unterschiedliche politische Interessen hatten. Jetzt
haben sie eine Vereinbarung über eine Art Schengen-Abkommen unterschrieben. Danach wird es ein einheitliches Visum für diesen Nationalpark geben. Das hätte es
ohne deutsche Entwicklungszusammenarbeit nicht gegeben.
({9})
Wir verbinden Werte mit Interessen. Manch ein linker
Ideologe mag es nicht glauben: Werte und Interessen
können sich hervorragend ergänzen. In diesem Sinne
werden wir auch in den nächsten Jahren die Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland reformieren, damit
die Menschen als Partner angesehen werden und gute
Ergebnisse für die Zukunft erzielt werden.
Ich danke ganz herzlich für die freundliche Aufmerksamkeit.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Bärbel Kofler
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Es ist immer spannend, nach dem Herrn Minister zu reden. Er hat wieder mit bescheidenen Worten sein eigenes
Arbeiten in den Mittelpunkt gestellt.
Ich hätte mir angesichts des vorliegenden Haushalts
eine bescheidenere Rede von Ihnen gewünscht, und
zwar aus zwei Gründen. Der eine ist ein haushalterischer
Grund. Es ist leider kein Rekordhaushalt. Dieser Haushalt wächst sehr bescheiden auf.
({0})
Sie haben ihn in den vergangenen Jahren und Monaten
immer schöngerechnet, indem Sie die mittelfristige Finanzplanung herangezogen und gesagt haben: Von der
ausgehend ist das ein ganz toller Rekordhaushalt. Das ist
so, als würde man von seiner Firma eine Gehaltskürzung
angedroht bekommen, die, nachdem andere für einen gekämpft haben, wieder zurückgenommen wird, und als
würde man dann behaupten, man hätte ein Rekordgehalt.
Genau das machen Sie in Bezug auf diesen Haushalt, das
ist aber falsch.
({1})
Ich hätte mir auch gewünscht, dass Sie den Drive, den
Ihnen das Parlament in Form einer fraktionsübergreifenden Initiative für die Haushaltsverhandlungen mitgegeben hat - Kollegin Hänsel hat es erwähnt -, genutzt hätten, die Mittel zur Armutsbekämpfung, die dringend
erforderlich sind, bei Ihren Kollegen einzuwerben.
({2})
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie hier und heute erklären, wie der Aufwuchspfad aussehen soll; Kollegin
Priska Hinz hat es angesprochen. Frau Kollegin RatjenDamerau, es ist schön, wenn Sie im Koalitionsvertrag
und auch heute in Ihrer Rede am 0,7-Prozent-Ziel festhalten, aber ich hätte schon gerne gewusst, wann Sie es
mit welchen Haushaltsmitteln erreichen wollen. Auch
dazu muss der Minister Stellung nehmen.
({3})
Zum zweiten Grund, warum ich glaube, dass Bescheidenheit angemessener gewesen wäre. Sie vermitteln den
Eindruck, als hätten wir alle Probleme auf dieser Welt
bereits gelöst. Seit Ende Oktober sind wir 7 Milliarden
Menschen auf der Erde. Laut World Food Programme
leidet immer noch jeder siebte Mensch auf der Welt
Hunger. Knapp 800 Millionen Menschen haben keinen
Zugang zu Bildung. Hunderte von Millionen Menschen
haben keinen Zugang zu Gesundheits- und sozialen Sicherungssystemen. Künftig werden Millionen und Abermillionen Menschen von den Folgen des Klimawandels
betroffen sein: von Überschwemmungen, Dürre, Vertreibung aus den angestammten Wohngebieten, aus den Gebieten, wo sie ihre Nahrungsmittel anbauen und sich dadurch selbst ernähren können. Auf diese Probleme haben
Sie in den Haushaltstiteln und im Rahmen der Mittel, die
diesem Haushalt zur Verfügung stehen, keine Antwort
gegeben.
Ich möchte an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen:
Sowohl das Umweltministerium als auch das BMZ loben sich selbst sehr gerne, wenn es darum geht, welche
Summen man für den Klimaschutz eingestellt hat. Ich
möchte daran erinnern, dass man beim Energie- und Klimafonds für die nächsten Jahre eine Haushaltssperre in
Höhe von 900 Millionen Euro in Bezug auf die Verpflichtungsermächtigungen vorgesehen hat. Das ist kein
wegweisender Pfad. Ich hätte, ehrlich gesagt, gerne gehört, wie Sie das den Kolleginnen und Kollegen aus den
anderen Ländern in Durban erklären möchten.
({4})
Sie haben das Thema Wirksamkeit angesprochen. Ich
hätte gerne etwas zur bevorstehenden Konferenz in
Busan gehört, bei der es um die Wirksamkeit in der Entwicklungszusammenarbeit gehen soll. Es wird immer so
getan, als sei das ein Thema, das Sie persönlich erfunden
haben und das es vorher noch nie gegeben hat. Ich sage
nur: Rom 2003, Paris 2005, Accra 2008. Um was geht es
dabei? Es geht um die Stärkung der Eigenverantwortung
der Partnerländer, um eine bessere Geberabstimmung,
eine gegenseitige Rechenschaftspflicht und um die tatsächliche Umsetzung des Beschlossenen. Ich wiederhole: Dazu gehören auch Geberzusagen.
({5})
Hier ist keine immer flachere Debatte gefordert, nach
dem Motto: Weniger ist mehr, wir gestalten das nur ein
bisschen effektiver. Nun haben wir auch noch die TZ zusammengelegt. Damit haben wir der Wirksamkeit Genüge getan.
Eigentlich hätte ich an dieser Stelle von Ihnen als Minister gerne gehört, wie Sie sich im Lichte von Geberharmonisierung und internationaler Zusammenarbeit in die
Debatte in Busan einbringen, wenn es um die Fragen
geht: Wie finanzieren wir zum Beispiel den internationalen Strukturaufbau - Stichworte: soziale Sicherung, Steuerbehörden, Verwaltungen - in den verschiedenen Ländern? Wie stellen wir uns eine weltweite Bekämpfung
von Steuerhinterziehung vor, die die Finanzstruktur besonders der Länder des Südens ganz entscheidend positiv
beeinflussen würde? Wo stehen wir bei dem Thema „Bekämpfung der Nahrungsmittelspekulation“? Was sagen
Sie zu dem Thema „Finanzierung durch eine weltweite
Finanztransaktionsteuer“? Wie werden Sie sich in diese
ganzen Diskussionen einbringen? Zu all diesen Themen
hört man von Ihnen leider nichts. Dabei haben diese Themen sehr viel mit der Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu tun.
({6})
Es gibt ein gutes Beispiel - die Kollegin Hinz hat das
bereits angesprochen -, an dem deutlich wird, dass Sie in
den letzten zwei Jahren Entwicklungspolitik nach Gutsherrenart betrieben haben: der Global Fund. Der Kollege
Sascha Raabe wird das Thema Yasuní noch einmal ansprechen. Ich finde, das ist das zweite Beispiel, das zeigt,
dass Sie versuchen, Ihre Befindlichkeiten in Politik umzusetzen. Zwei renommierte Institute, das Center for
Global Development und Global Economy and Development, haben im Vorfeld der Konferenz zum Thema
Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit in Busan
festgestellt, dass der Global Fund insbesondere auf den
Gebieten Effizienz, Transparenz und Lernen aus dem eigenen Handeln ganz hervorragende Noten verdient. In
dieser Hinsicht ist der Global Fund im Übrigen besser
bewertet worden als Deutschland; das sollte uns zu denken geben. Außerdem haben die Fachpolitiker Ihrer eigenen Fraktion im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Ausdruck gebracht,
dass sie Ihren Regierungsentwurf an nur einer Stelle korrigieren würden, nämlich an der Stelle, an der es um den
Global Fund geht. Sie haben gesagt: Dieser Titel mit einem Volumen von 200 Millionen Euro muss erhalten
bleiben. Das entspricht im Übrigen auch den Zusagen
der Kanzlerin auf internationaler Ebene. Angesichts all
dessen bin ich wirklich mehr als verblüfft und irritiert,
dass Sie es mithilfe Ihrer Haushälter geschafft haben,
den Titel zum Global Fund aus dem Haushalt herauszunehmen. Sie nutzen einfach einen kleinen Buchhaltertrick - jetzt kommt es -: Sollten Sie feststellen, dass die
Korruptionsvorwürfe doch nicht stichhaltig sind, dann
könnte man der Finanziellen Zusammenarbeit wieder
200 Millionen Euro wegnehmen und zu diesem Titel
schieben. Das ist weder für den Bereich der Finanziellen
Zusammenarbeit zumutbar noch für die Vertreterinnen
und Vertreter des Global Fund, die hervorragende Arbeit
leisten und zur Aufklärung von Korruptionsfällen beigetragen haben und nicht Korruptionsvorwürfe verdienen.
({7})
Frau Kollegin, Sie kommen zum Ende?
Ich komme zum Ende. - Ich glaube, dass Sie mit diesem Haushalt viele Chancen, die Ihnen vom Parlament
gegeben worden sind, verpasst haben, dass Sie Ihrer internationalen Verantwortung nicht gerecht werden. Sie
versäumen es leider auch, Beiträge zu der Debatte auf
internationaler Ebene zu liefern. Man kann nur hoffen,
dass in den nächsten Jahren andere Weichenstellungen
vorgenommen werden.
Danke.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat Dagmar Wöhrl das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Dr. Kofler, ich weiß nicht, was ein Minister
in sechs Minuten alles beantworten soll. Ich finde es
phänomenal, was Sie hier erwarten.
({0})
Man muss wirklich sagen: Alle Punkte, die Sie angesprochen haben, haben wir im Ausschuss behandelt.
({1})
Die Bundesregierung hat zu jedem dieser Punkte Rede
und Antwort gestanden.
({2})
Ich will jetzt keine Argumente dafür anführen, wie
der Haushalt im Einzelnen aufwächst. Er wächst, und
das ist in der heutigen Situation das Wichtige.
({3})
Wir leben in nicht einfachen Zeiten; das wissen wir. Wir
haben mit einer Schuldenkrise in anderen Ländern zu
kämpfen. Wir wollen den nachfolgenden Generationen
einen ausgeglichenen Haushalt hinterlassen. Wir sind
auf einem guten Weg dorthin, und das ist das Wichtige.
Ferner haben wir einen Haushalt, der wächst, und das
haben andere nicht, und dafür sind wir sehr dankbar.
({4})
Sicher, auch wir hätten gerne mehr Geld. Es wäre gelogen, wenn wir das Gegenteil behaupten würden. Wir
müssen uns fragen, wo wir neue Spielräume finden können. Vielleicht können wir zukünftig den Garantierahmen erweitern oder andere Dinge tun. Die Vorstellung
„mehr Geld ist gleich mehr Entwicklung“ ist eindimensional. Die Summe des ausgegebenen Geldes sagt nichts
über die Wirksamkeit und den Wert einer Hilfe aus. Das
Wichtigste für uns ist, das Geld richtig einzusetzen. Wir
wissen, dass falsch eingesetztes Geld Eigeninitiative lähmen kann. Das ist das Schlimmste, was wir damit erreichen können.
Vor allem wollen wir eines nicht: Wir wollen nicht etwas mit einer Hand geben, was mit der anderen Hand
wieder genommen wird. Ich spreche hier - da sind wir
uns im Hause sicherlich einig - faire Wettbewerbsbedingungen an. Das ist der Schlüssel für die Bekämpfung von
Armut in der Welt. Hier haben wir noch sehr viel zu tun.
Wir wissen, dass die Entwicklungsländer alleine aufgrund
unfairer Handelsbedingungen mehr als 700 Milliarden
Dollar im Jahr verlieren. Das ist das Sechsfache von dem,
was international für die gesamte Entwicklungshilfe ausgegeben wird. Hier müssen wir zukünftig ansetzen. Wir
müssen faire Handelsbedingungen schaffen und wettbewerbsverzerrende Maßnahmen beseitigen.
({5})
Das heißt, nicht nur behandeln, sondern auch handeln.
Dazu gehört auch mehr Wirksamkeit. Der Terminus ist
richtig. Dazu gehören auch mehr Kohärenz und mehr
Transparenz. Mit der Vorfeldreform sind wir den richtigen Weg gegangen. Auch mit dem Evaluierungsinstitut
ist der Minister den richtigen Weg gegangen.
Die Problemlagen in der Welt ändern sich permanent.
Wir haben jetzt das Jubiläum „50 Jahre Ministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ gefeiert. Diejenigen, die damals in dem Ministerium zuständig waren, konnten sich gar nicht vorstellen, mit
welchen Problemen in der Welt wir in diesem Jahrzehnt
zu kämpfen haben. Deswegen ist es wichtig, dass man
eine Entwicklungsarchitektur hat. Diese darf nicht so
aussehen wie in der Vergangenheit, sondern man muss
sie immer wieder reformieren, man muss sie modernisieren, man muss sie immer wieder an die Gegebenheiten
anpassen. Und das wird von dieser Regierung gemacht.
Wir sind keine Kolonialherren - so fühlen wir uns
auch nicht -, die jemandem vorschreiben, was das Beste
für ihn ist. Aber wir wollen eines sein: Chancengeber in
dieser Welt. Und für uns stellt sich dann die schwierige
Frage: Wie ist man am besten Chancengeber? Es ist
wirklich naiv zu glauben, mit einer staatlichen Entwicklungspolitik oder mit staatlichen Institutionen würde
man das ganze Elend und die ganze Armut in dieser Welt
beseitigen. Das sind immense Aufgaben. Frau Dr. Kofler
hat die Zahlen genannt: Es sind 7 Milliarden Menschen
auf der Welt. 2050 werden es 9 Milliarden Menschen
sein. Ein Mensch braucht täglich durchschnittlich 2 400
Kilokalorien. Dies würde bedeuten, dass 50 Prozent
mehr Nahrungsmittel auf der Welt benötigt werden. Wie
will man das zukünftig erreichen? Mit diesen Dingen
müssen wir umgehen. Jetzt schon hungern 925 Millionen Menschen auf der Welt. Wie erreicht man zukünftig
Ernährungssicherung? Wir nehmen uns deswegen zu
Recht erstmals des Themas Landwirtschaft richtig an.
Dafür bin ich dem Herrn Minister sehr dankbar.
({6})
Dieses Thema ist nicht nur von uns vernachlässigt
worden, sondern auch international, auch von den Entwicklungsländern selbst. Hier müssen wir die Entwicklungsländer viel mehr in die Pflicht nehmen.
Auf das Thema „Land Grabbing“ will ich nicht näher
eingehen. Auch hier sind es die Länder selbst, die bei
diesem Monopoly mitspielen. Deswegen ist es wichtig,
auch hier international zu einem verbindlichen Rahmen
zu kommen. Damit sind weitreichende sozio-ökonomische Risiken verbunden: Seit 2001 sind weltweit bis zu
227 Millionen Hektar erworben worden, 80 Prozent davon werden überhaupt nicht bebaut. Es warten Banken,
Fonds auf der ganzen Welt, dass die Lebensmittelpreise
steigen, um diese Grundstücke zu verwerten. Hier also
haben wir sozio-ökonomische Risiken von Vertreibung,
von Umsiedlung und vielem mehr.
Es geht darum, wie wir es schaffen, dass die Kleinbauern mehr Einkommen haben. Aber es geht auch darum, wie man die stark schwankenden Nahrungsmittelpreise stabilisiert. Wir wissen, dass gerade in den
ärmeren Ländern 70 Prozent des Einkommens für Nahrung ausgegeben werden. In Deutschland sind es 10 Prozent. Wenn nun die Nahrungsmittelpreise steigen, dann
wird in anderen Bereichen gespart. Dann gibt es kein
Gesundheitswesen, keine Schulen usw. mehr. Derzeit erleben wir - da sind wir uns sicherlich im ganzen Hause
einig - eine Metamorphose des Lebensmittelmarktes zu
einem Finanzmarkt. Und das ist ein Unding. Inzwischen
gibt es ein internationales Zocken mit Grundnahrungsmitteln, wie man es sich vorher nicht vorstellen konnte.
({7})
Viele Fonds und Banken haben in diesem Rohstoffmonopoly ein immens großes Spielfeld entdeckt. Ich
glaube, wir müssen dieses Thema angehen. Wir müssen
dafür eintreten, dass nicht an den Börsen, zum Beispiel
in Chicago, New York und London, entschieden werden
darf, was die Menschen in Zukunft zu essen haben oder
nicht.
({8})
Allein in Chicago ist im Mai dieses Jahres virtuell mit
über 350 Millionen Tonnen Weizen gehandelt worden.
Das ist die Hälfte der ganzen Weizenproduktion der
Welt. Da muss man sich schon Gedanken machen und
fragen: Moment, wie kann ich diesen exzessiven Spekulationen Grenzen setzen? Darf man mit wichtigen Nahrungsmitteln wie Mais, Weizen und Soja, die gerade in
den ärmeren Ländern gebraucht werden, spekulieren?
Kann ich Positionslimits festlegen? Deswegen bin ich
dankbar, dass man sich jetzt Gedanken darüber macht,
eine internationale Datenbank zu den Nahrungsmittelmärkten auf der Welt aufzubauen, sodass man endlich
Informationen über Angebot und Nachfrage hat. Bis
jetzt hat man diese nicht. Bis jetzt kann man nicht überblicken, wo auf der Welt Nahrungsmittel noch zur Verfügung sind, die an einem anderen Ort auf der Welt gebraucht werden.
Wir wissen: Almosen verändern keine Strukturen.
Wir wollen die produktiven Fähigkeiten der Menschen
stärken. Ich glaube, wir sind uns einig: Die deutsche Entwicklungspolitik ist werteorientiert. Darf sie aber nicht
auch interessenorientiert sein? Diese Diskussion ist mir
fremd. Wir haben perspektivisch immer einen Dreiklang: Bildung, Demokratie und Wirtschaft. Wir wissen
ganz genau, dass wirtschaftliche Interessen keinen Vorrang haben, sondern den entwicklungspolitischen Interessen dienen.
({9})
Das muss im Mittelpunkt stehen. Liebe Kollegen und
Kolleginnen von der Opposition, die Wirtschaft - das
muss klar sein - ist ein unverzichtbarer Partner für eine
erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit.
({10})
Wir sind in diesem Bereich stark; daher können wir
den Schwächeren helfen. Wir investieren in Ausbildung, in Arbeitsplätze, in technisches Know-how, in
Umweltstandards und Sozialstandards. Das können wir
den Ärmeren bieten und sie so unterstützen. Damit bin
ich voll auf der Linie unseres Ministers. Dieses Schubladendenken - für die Armen, für den Hunger ist das
Entwicklungsministerium zuständig und für die Außenwirtschaftsförderung, die Exportförderung das Wirtschaftsministerium - ist so nicht mehr möglich.
Frau Kollegin.
Diese Dinge sind verzahnt, und unsere Politik muss
dem Rechnung tragen, wenn wir die Zukunft gestalten
wollen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich dachte, das war der Auftrittsapplaus. - Das Wort
hat der Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für
mich ist das Unwort des Jahres „Systemrelevanz“. Warum? Alle fünf Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind an
Hunger, gleichzeitig wurden in den letzten Jahren Milliarden und Abermilliarden Euro in den Industrieländern
aufgebracht, um Banken zu retten, wie auch derzeit in
der Euro-Krise. Der Widerspruch ist offensichtlich: Die
einen, die Banken, werden als systemrelevant angesehen, die anderen, die Menschen, nicht. Wäre die
Menschheit eine Bank, hätte man sie längst gerettet. Das
ist die traurige Wahrheit.
({0})
Sie, Herr Niebel, haben flapsig gesagt, das Entwicklungsministerium solle nicht mehr Weltsozialamt sein.
Das ist es niemals gewesen. Dieses Ministerium subventionierte schon immer mit Entwicklungsgeldern deutsche Großunternehmen. Ich habe hier eine Liste des Entwicklungsministeriums. Auf 100 Seiten werden alle
laufenden Projekte mit deutschen Unternehmen im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften in den Entwicklungsländern genannt: Firmen wie Bayer, Shell, Daimler,
Nestlé, BASF und der Bundesverband der Deutschen Industrie, um nur einige wenige zu nennen. Sie alle bekommen Entwicklungshilfegelder. Insgesamt sind es über
1 600 Projekte. Dass das Instrument der öffentlich-privaten Partnerschaften schon bei uns in Deutschland erwiesenermaßen gescheitert ist, müsste sich eigentlich sogar
bis zur FDP herumgesprochen haben.
({1})
Bei diesem Modell profitieren fast immer nur die Unternehmen und nicht die breite Bevölkerung. Die Bereiche, die für nachhaltige Entwicklung wichtig sind, wie
kostenloser Zugang zu Bildung, Gesundheit und Wasser,
machen gerade einmal 15 Prozent der Gelder aus. Dennoch geben Sie im neuen Haushalt schon wieder mehr
für die öffentlich-privaten Partnerschaften aus. Sie treiben damit die Außenwirtschaftsförderung auf die Spitze.
Bei Ihnen gilt: Was gut für deutsche Unternehmen ist, ist
gut für die Entwicklung.
({2})
Dabei muss gelten: Was gut für die Menschen ist, ist gut
für die Entwicklung.
({3})
Geht es um die Ursachen von Armut, behaupten Sie,
Korruption und schlechte Regierungsführung seien hierfür maßgeblich. Sie behaupten also, die Entwicklungsländer seien selber schuld an ihrer Situation. Doch wer
hat die korrupten Regierungen oftmals erst an die Macht
gebracht oder sie korrumpiert? Wer hat den Daumen gehoben oder gesenkt über Regierungen und so über Aufstieg und Fall entschieden? Wer hat den Entwicklungsländern strukturelle Anpassungsmaßnahmen aufgezwungen
und damit Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme
zerstört? Das waren nicht die Völker Afrikas, Asiens
oder Lateinamerikas. Das war der Westen.
({4})
Keinen Funken sind Sie bereit, die Verantwortung der
Industrieländer für die Armut im Süden einzugestehen.
Das ist wirklich ein Armutszeugnis.
Neulich haben Sie, Herr Niebel, betont, Sie wollten
bis 2015 das 40 Jahre alte Versprechen, 0,7 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, einhalten. Sie feiern
die aktuellen 0,39 Prozent als Erfolg. Abgesehen davon,
dass ein guter Teil davon in die Förderung der deutschen
Wirtschaft fließt, ist es lächerlich, das zu feiern. Wenn
Sie das 0,7-Prozent-Ziel wirklich erreichen wollen,
müssten laut Europäischer Kommission ab sofort jedes
Jahr knapp 2 Milliarden Euro zusätzlich in Ihren Haushalt fließen. Legen Sie also einen Stufenplan vor, wie Sie
das Ziel erreichen wollen, statt hier Nebelkerzen zu werfen!
({5})
Die Bevölkerung haben Sie dabei hinter sich. 92 Prozent der Bundesbürger sind laut einer aktuellen Umfrage
für Entwicklungshilfe;
({6})
das ist ein Auftrag an Sie, Herr Niebel. Allerdings: Wer
soll Ihnen überhaupt glauben, dass Sie das 0,7-ProzentZiel erreichen wollen, wenn Sie, wie jüngst geschehen,
die Finanztransaktionsteuer ablehnen?
({7})
Während Ihre Koalition Ja dazu sagt, ist sie Ihnen nicht
kreativ genug. Herr Niebel, das ist kein Malwettbewerb.
Kommen Sie raus aus der Nein-Ecke!
({8})
Die Finanztransaktionsteuer kann die nötigen Mittel einbringen, um den Entwicklungshaushalt deutlich aufzustocken.
({9})
Deutliche Mittelerhöhungen sind auch für Westafrika
nötig. Dort bahnt sich die nächste Hungersnot an. Bei
dem Besuch einer Delegation des Entwicklungsausschusses in Niger schlug der dortige Premierminister
Alarm. Deshalb fordert die Linke heute, 60 Millionen
Euro zur Verfügung zu stellen, um die sich anbahnende
Hungerkatastrophe in Westafrika zu verhindern. Organisationen wie das Welternährungsprogramm und die
Welthungerhilfe können mit dieser vergleichsweise kleinen Summe Menschenleben retten. Lassen wir nicht zu,
dass sich die schrecklichen Bilder aus Ostafrika wiederholen!
({10})
Das Entwicklungsministerium scheint die Warnungen
diesmal ernst zu nehmen. Es hat die Ursachen benannt:
nicht nur zu geringe Niederschläge, sondern auch Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln auf den Weltmärkten.
Die Nahrungsmittelpreise steigen wegen Nahrungsmittelspekulationen; Frau Wöhrl hat es angesprochen. Man
muss endlich gegen diese Zockerei mit Nahrungsmitteln
vorgehen. Hierzu sind viele Worte gefallen. Es müssen
endlich Taten folgen.
({11})
Sogar die USA sind mit einem Transparenzgesetz einen ersten Schritt gegen Nahrungsmittelspekulationen
gegangen. Auch in Deutschland brauchen wir Maßnahmen, bis hin zum kompletten Verbot der Spekulation mit
Nahrungsmitteln. Dies wäre ein erster wichtiger Schritt,
damit kein Mensch mehr an Hunger sterben muss, und
es kostet keinen Cent.
Danke schön.
({12})
Der Kollege Thilo Hoppe hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe festgestellt, dass ich heute ein kleines Jubiläum
habe: Ich spreche zum zehnten Mal in der Schlussdebatte, also in der zweiten Lesung zum Einzelplan 23.
({0})
Wenn man die ersten Lesungen dazuzählt, dann wird das
die 18. oder 19. Rede zum Entwicklungshaushalt sein. Es
ist gar nicht so einfach, hier immer etwas Neues zu sagen.
({1})
Ich kann aber sagen: Es gibt eine Kontinuität. Ich habe
immer kritisiert, dass zu wenig in diesen Haushalt eingestellt wurde - auch in rot-grünen Zeiten.
Ich habe mir diese Reden noch einmal angeschaut,
durchgelesen - eine kann man sich sogar bei YouTube
anschauen - und festgestellt: Es gab meistens einen
Stimmungsumschwung von der ersten zur zweiten Lesung. Die meisten Reden in der ersten Lesung habe ich
nach dem Prinzip Hoffnung gehalten:
({2})
Möge es uns gelingen, im Haushaltsverfahren gemeinsam noch mehr für den Entwicklungshaushalt herauszuschlagen. In der zweiten Lesung kam dann fast immer
- bis auf eine Ausnahme - die Ernüchterung. 2004 gab
es die Ausnahme: Da gab es einen erfolgreichen Aufstand der Entwicklungspolitiker gegen den Finanzminister und gegen die Chefhaushälter. Damals haben wir eine
Plafond-Erhöhung von etwa 100 Millionen Euro erreicht.
({3})
Das war keine Verschiebung innerhalb des Haushalts,
sondern das waren im Vergleich zum Regierungsentwurf
etwa 100 Millionen Euro mehr, allerdings auf einem insgesamt zu geringen Niveau.
({4})
Ich muss zugeben, dass in diesem Jahr die Enttäuschung bei der zweiten Lesung besonders groß ist. Das
hängt natürlich mit der Aufbruchstimmung im März zusammen, als wir den entwicklungspolitischen Konsens
vorgestellt haben und die Presse gewettet hat: Das
kommt über den Kreis der sogenannten Gutmenschen
gar nicht hinaus. - Es gab damals unglaublich viel Unterstützung: nahezu alle NGOs, die Kirchen, Prominente, Andris Piebalgs. Viele haben diesen Aufruf also
unterstützt. Zum Schluss haben ihn 372 Parlamentarier
aller Fraktionen auch unterschrieben.
Wir haben also zwar eine Mehrheit hier im Hause,
aber leider nicht die Mehrheit in den Koalitionsfraktionen. Trotzdem möchte ich mich bei den Kollegen von
Union und FDP bedanken, die sich für diesen Aufruf
eingesetzt haben, denen es aber leider nicht gelungen ist,
in ihren jeweiligen Fraktionen eine Mehrheit dafür zu
bekommen.
({5})
- Ja, das verdient natürlich Dank und Applaus.
Insgesamt ist es aber schon bitter. Wir haben wirklich
gehofft, dass es uns gemeinsam gelingen würde, zu einem ernsthaften Aufwuchs zu kommen. Man kann das
zwar immer wieder als Rekordhaushalt bezeichnen, aber
nichts täuscht darüber hinweg: Wenn wir heute bzw. am
Freitag darüber abstimmen, dann ist die Entscheidung
definitiv gefallen - das wird uns auch durch den Entwicklungsausschuss der OECD bescheinigt -, dass wir
das 0,7-Prozent-Ziel nicht mehr fristgerecht bis 2015 erreichen können; denn die ODA-Lücke wird zu groß.
Man kann in nachfolgenden Jahren dann nämlich nicht
ohne Weiteres auf einmal so viel Geld zur Verfügung
stellen, dass das Ziel doch noch bis 2015 erreicht wird,
selbst dann nicht, wenn man jetzt Lottoscheine ausfüllen
würde und unverschämt viel Glück hätte;
({6})
denn bei den Programmen und Projekten geht es ja auch
darum, dass sie anständig geplant werden müssen und
dass eine Vorlaufzeit notwendig ist. Man kann nicht jede
x-beliebige Summe auf die Schnelle absorbieren.
({7})
Deswegen wäre es wichtig gewesen, dass wir nicht
nur deutlich mehr Barmittel einstellen. Im Konsens haben wir ja nicht nur allgemein 0,7 Prozent gefordert,
sondern eine ganz konkrete Summe, nämlich 1,2 Milliarden Euro mehr für Entwicklungszusammenarbeit und
humanitäre Hilfe. Es geht darum, die ODA-Quote ressortübergreifend gemeinsam zu erreichen. Nur so wäre es
möglich gewesen, das Ziel doch noch zu erreichen.
Wie gesagt: Dies ist jetzt eigentlich die letzte Ausfahrt von der Autobahn, von der abschüssigen Strecke,
die uns zum Wortbruch führt. Das ist, wie gesagt,
schade; das ist bitter. Sagen Sie jetzt bitte nicht, diese
Summe sei unrealistisch gewesen. Wir haben in diesen
Monaten hier in diesem Hause ganz andere Summen bewegt. Das ist einzig und allein eine Frage der Prioritätensetzung. Diese Frage hat die Mehrheit von Union und
FDP - ich spreche ja nicht von allen - leider auf eine Art
und Weise beantwortet, die, wie ich glaube, eine Mehrheit hier im Parlament und auch in der Bevölkerung
nicht in Ordnung findet, enttäuschend findet, als Armutszeugnis empfindet.
({8})
Wir haben einen Haushalt vorgelegt, der durchgerechnet ist, in dem alle Einzelposten abgefragt wurden und
der auch mit den Durchführungsorganisationen durchgesprochen ist. Er wäre realistisch gewesen. Damit hätten
wir den notwendigen Schritt getan, aber leider wird es
keine Zustimmung dafür geben. Das finde ich sehr enttäuschend.
({9})
Der Kollege Jürgen Klimke hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere
der Opposition! Es ist eine alte Tradition und Ihr gutes
Recht, gerade bei den Haushaltsberatungen, also bei der
Abrechnung, nur die Fehlleistungen der Regierung zu
sehen und aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen.
Aber die verbale Aufrüstung und die Polemik führen uns
nicht weiter. Es geht vielmehr darum, die Zukunft der
Entwicklungspolitik strategisch zu gestalten.
Hier würde ich mich über die Anerkennung des Mutes freuen, mit dem wir unsere Entwicklungspolitik versuchen zukunftsfähig zu machen. Wenn Anerkennung
vielleicht zu viel sein sollte, dann wären konstruktive
Gegenvorschläge gut. Aber wenn überhaupt keine Alternativen kommen oder die Alternativen meistens von gestern sind, dann ist das keine konstruktive Diskussion.
({0})
Die Feiern zum 50-jährigen Jubiläum der Entwicklungszusammenarbeit liegen nur wenige Tage zurück.
Aber es ist aus meiner Sicht eine Zeitenwende. Es geht
mir darum, die strategische Ausrichtung unserer Entwicklungszusammenarbeit in diesem Zusammenhang zu
analysieren und deutlich zu machen, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit mehr als andere Bereiche im
Umbruch befindet.
Herr Kollege, Herr Raabe möchte Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen.
Nein, das machen wir hinterher bei einem Kaffee. Hier ist die Handschrift der christlich-liberalen Koalition
deutlich zu spüren, auch wenn wir von der Union sicherlich nicht alle Spuren der Vorgängerregierung tilgen
konnten, was wir, vielleicht anders als der Herr Minister,
auch nicht unbedingt wollten.
Wir versuchen, kräftig umzubauen. Die Stichworte
dieses Umbaus bzw. Aufbaus sind inzwischen schon gefallen, also: Vorfeldreform, Konzentration der Länderliste, die Effektivierung unserer Arbeit, die Kohärenz,
die stärkere Nachhaltigkeit bei den Maßnahmen und vor
allen Dingen auch eine bessere Serviceorientierung. Auf
all diese Punkte könnte man ausführlich eingehen. Ich
möchte jedoch drei weitere Themen kurz ansprechen.
Ein Thema hat die Kollegin Wöhrl - das ist der erste Aspekt, die Einbeziehung der Wirtschaft - bereits angesprochen. Deshalb will ich darauf nur kurz eingehen.
Man kann es aus unserer Sicht nicht oft genug sagen:
Die richtige Nutzung der Finanzkraft der Wirtschaft auf
der einen Seite und die Schaffung von Chancen für deutsche Unternehmen auf der anderen Seite, beispielsweise
für einen Marktzugang, sind nicht ehrenrührig. Wenn
das richtig angegangen wird, kann das beiden Seiten dienen, also auch den Partnerländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Das gilt im Übrigen auch für
die Rohstoffversorgung. Hier sei nur das Konzept der
Rohstoffpartnerschaft genannt.
Gleichzeitig kann die Einbindung der Wirtschaft in
die Entwicklungszusammenarbeit massiv zur Erhöhung
menschenrechtlicher, ökologischer und sozialer Standards in den Entwicklungsländern beitragen, vor allen
Dingen auch im Zusammenhang mit der Unternehmensverantwortung der Wirtschaft vor Ort. Zudem verfügt
unsere Wirtschaft über ein Know-how, das wir entwicklungspolitisch noch viel mehr nutzen sollten und können. Lassen Sie mich zum Beispiel auf das duale System
verweisen, die berufliche Bildung. Hier wie auch bei den
PPP-Programmen gibt es viele Förderinstrumente, die
eine noch sehr viel intensivere Zusammenarbeit ermöglichen, auch zum Vorteil der Entwicklungsländer.
Ein zweites Thema, das ich für die Zukunft der deutschen Entwicklungszusammenarbeit für ebenso wichtig
halte, ist die Evaluierung unserer Arbeit, oder anders formuliert: die starke Fokussierung auf die erzielten Wirkungen. Das erfordert eine ganz andere Herangehensweise und ist auch nicht so einfach wie die Über17004
wachung der Durchführung von Leistungen. Zukünftig
wollen wir nicht die Umsetzung von Maßnahmen evaluieren, sondern wir wollen beurteilen, ob der erhoffte entwicklungspolitische Nutzen eingetreten ist. Das macht
die Entwicklungszusammenarbeit effizienter und nachhaltiger.
Auf nationaler Ebene haben wir die Schaffung eines
unabhängigen Evaluierungsinstituts vor uns. Das ist ein
wichtiger Schritt in eine richtige Richtung. Wir werden
versuchen, sehr intensiv an der konkreten Ausgestaltung
mitzuarbeiten.
Eine dritte Herausforderung, die aus meiner Sicht mit
der Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit in
Verbindung steht, betrifft die Frage der Konditionierung
von Entwicklungsmaßnahmen. Der Begriff „Konditionierung“ bedeutet in unserem entwicklungspolitischen
Kontext die Erteilung von Auflagen an den Empfänger
der Mittel. Eine in diesem Sinne von den Staaten zu erfüllende Bedingung ist vor allem eine gute Regierungsführung, Stichwort „Good Governance“. Es sollte selbstverständlich sein, dass wir in Staaten, in denen diese
Voraussetzungen fehlen und auch keine positive Entwicklung in dieser Hinsicht feststellbar ist, bestimmte
Formen der Entwicklungsarbeit nicht ohne Weiteres
durchführen können und vor allen Dingen wollen.
Diese Erkenntnis haben die Parteien des linken Spektrums aus meiner Sicht noch nicht verinnerlicht.
({0})
Ich möchte das an zwei Beispielen deutlich machen.
Zunächst geht es mir um die Verknüpfung von Menschenrechten und entwicklungspolitischen Maßnahmen.
Niemand stellt in Abrede, dass die Einhaltung von Menschenrechten in der Entwicklungszusammenarbeit schon
länger eine Rolle spielt. Aber erst die christlich-liberale
Regierung hat es fertiggebracht, ein verbindliches, kohärentes Menschenrechtskonzept vorzulegen. Alle Entwicklungsprojekte werden zukünftig einem Menschenrechts-TÜV unterzogen.
Diese entwicklungspolitische Vorgabe des BMZ umfasst unter anderem einen Kriterienkatalog, mit dem die
Regierungsführung und die Menschenrechtssituation in
den Partnerländern bewertet und beurteilt werden.
Grundlage sind die Umsetzung der Menschenrechtskonvention in nationales Recht, die Schaffung entsprechender Institutionen und Verfahren sowie die Ergebnisse der
Umsetzung zentraler Menschenrechte. Die Ergebnisse
der Bewertung sind dann Grundlage für Art und Ausgestaltung unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit.
Hiermit haben wir ein völlig neues Instrument geschaffen, das aus meiner Sicht auch das Zeug zu einer
Vorbildfunktion gegenüber unseren europäischen Partnern hat. Das habe ich im Übrigen in Brüssel sehen können, als wir dort kürzlich mit den Menschenrechtlern,
den Entwicklungspolitikern und den Außenpolitikern
der EU zusammengetroffen sind. Der MenschenrechtsTÜV ist somit eine Entwicklung, die unter der SPD-Führung des BMZ verschlafen wurde, auch weil die Ministerin dies damals nicht wollte.
Dass eine solche Konditionierung wirksam ist, zeigt
das Beispiel Uganda. Als dort die Todesstrafe auf Homosexualität eingeführt werden sollte, haben wir angekündigt, dass wir dann die Entwicklungszusammenarbeit beenden würden. Das Land hat das Vorhaben dann
zurückgezogen.
Wir wollen die Rolle der Konditionierung sogar noch
stärken. Denn die geplante Verdoppelung der Mittel auf
0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens - das wollen
wir erreichen - und die Konzentration auf die Hälfte der
Anzahl der Partnerländer werden rein rechnerisch die
Mittel pro Land vervierfachen. Das bedeutet, dass wir,
wenn mehr Geld fließt, auch verstärkt Konditionen an
die Vergabe des Geldes knüpfen können.
({1})
Im Übrigen gilt alles, was ich eben sagte, auch für die
Korruption. Wir haben das im Zusammenhang mit dem
GFATM ausführlich diskutiert. Ich glaube, dass das Einfrieren der Mittel durch das BMZ zunächst richtig war;
denn wir sind als Parlamentarier den Steuerzahlern verpflichtet. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder deutlich machen, dass wir bei jedem einzelnen Cent, der irgendwohin fließt, darauf achten, dass er
richtig angelegt ist.
({2})
Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass wir Steuergelder
zum Fenster hinauswerfen, nur weil internationale Organisationen ihre Aufgaben nicht richtig gemacht haben.
({3})
Hier haben wir die Notbremse gezogen, und das ist auch
richtig.
Meine Damen und Herren, die genannten Beispiele
zeigen, dass wir in der Entwicklungszusammenarbeit
nicht unbedingt das Rad neu erfinden müssen. Aber wir
können ganz entschieden Akzente setzen, und wir können vor allen Dingen durch neue Herangehensweisen
deutlich machen, dass unsere Arbeit wirksamer und
nachhaltiger ist.
Herr Kollege.
Das haben wir uns, vor allem als Union, für die Zukunft in der Entwicklungszusammenarbeit vorgenommen.
Danke sehr.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Sascha Raabe das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Hoppe, auch ich bin nun
schon eine Weile bei Haushaltsdebatten dabei. In der Tat
war es noch nie so einfach wie in diesem Haushaltsjahr
für einen Entwicklungsminister, mit der Unterstützung
von 372 Kolleginnen und Kollegen einen deutlichen
Schritt hin auf das 0,7-Prozent-Ziel im Jahr 2015 zu machen. Aber dieser Minister - das ist eine Schande - hat
das nicht einmal versucht.
({0})
Dieser Minister hat sich nicht hinter das Parlament gestellt, er hat sich auch nicht hinter die Ärmsten der Armen gestellt, sondern er hat einfach gesagt: Das, was die
Mehrheit des Deutschen Bundestags möchte, interessiert
mich nicht. - Es interessiert ihn nicht, dass er in der
Pflicht steht, 1 Milliarde hungernden Menschen zu helfen, denen man natürlich auch mit Geld helfen muss.
Er hat das einfach ignoriert und auch nicht aufgenommen, was Sie, Herr Kollege Klimke, gesagt haben. Sie
haben behauptet, es gebe keine Alternativen. In diesem
Jahr war die Finanztransaktionsteuer, die wir als Entwicklungspolitiker vor 10, 20 Jahren - damals noch unter dem Namen „Tobin-Tax“ - immer wieder eingefordert haben, so greifbar nahe wie noch nie auf
europäischer Ebene. Anstatt dass der Entwicklungsminister jetzt den parteiübergreifenden Rückhalt des Parlaments aufnimmt und sich dafür einsetzt, den Aufwuchs,
den wir brauchen, mithilfe der Finanztransaktionsteuer
zu finanzieren, also die besten Bedingungen nutzt, ist er
derjenige in der Bundesregierung, der die Finanztransaktionsteuer bis heute ablehnt, weil ihm freie Märkte und
Gewinne für Banken und Spekulanten wichtiger sind als
Hilfe für die Armen. Herr Minister, das ist schäbig.
({1})
Herr Kollege Raabe, möchten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Fischer zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Raabe, auch ich gehöre zu den über
300 Kolleginnen und Kollegen, die diesen Appell unterschrieben haben. Wir haben diesen Appell natürlich unterschrieben, weil das unsere Zielsetzung ist. Aber es ist
für jeden von uns, der unterschrieben hat, vollkommen
klar, dass das nicht ausschließlich eine Aufforderung an
den Minister ist, sondern dass diese Frage in die finanzielle Gesamtsituation dieses Landes eingepasst werden
muss. Wer heute Herrn Steinmeier oder Herrn Gabriel
hat reden hören, hat gehört, wie die finanzielle Lage insgesamt ist und welche finanziellen Möglichkeiten bestehen.
Es gehört zur Redlichkeit, Folgendes - ich habe das
gerade ausgerechnet - zu erwähnen: 3,9 Milliarden Euro
standen im Haushalt 1998. Wenn der Aufwuchs während
Ihrer Regierungszeit so wie der während der Großen Koalition und der darauffolgenden Koalition gewesen wäre,
hätten wir bereits im Jahre 2005 einen Haushaltsansatz
von 7,4 Milliarden Euro gehabt, und wir hätten jetzt mit
dem Zuwachs, den wir in den vergangenen Jahren zu
verzeichnen hatten, 9,4 Milliarden Euro. Damit hätten
wir fast das 0,7-Prozent-Ziel erreicht.
Es kommt immer auf die Basiswerte an. Ich möchte
Sie um Redlichkeit bitten und darum, anzuerkennen,
dass Sie in der Zeit, in der Sie Verantwortung getragen
haben, nichts in Sachen Aufwuchs erreicht haben. Im
Gegensatz dazu steht das, was wir seit 2005 erreicht haben.
({0})
Herr Kollege Fischer, gerne beantworte ich Ihre
Frage. Zum ersten Teil, nämlich wie die Kollegen Steinmeier und Gabriel dazu stehen, sage ich Ihnen: Sowohl
der Kollege Sigmar Gabriel als auch der Kollege FrankWalter Steinmeier haben den entwicklungspolitischen
Konsens unterschrieben. Sie stehen damit in vorderster
Front der Fraktion und der Partei für dieses Konzept,
welches besagt, in den nächsten vier Jahren jeweils
1,2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung zu stellen. Der
Entwicklungsminister, der eigentlich der Erste sein
müsste, der so etwas unterschreibt, hat nicht unterschrieben. Wir als SPD sind uns einig, dass wir diesen Pfad gehen wollen. Wir haben bewusst gesagt, dass wir auch
uns selbst in die Pflicht nehmen, weil wir davon ausgehen, dass wir ab 2013 dem schwarz-gelben Spuk ein
Ende machen und wieder an der Regierung sein werden.
Wir haben gesagt, dass wir auch dann 1,2 Milliarden
Euro mehr zur Verfügung stellen werden.
Ich möchte auch auf Ihre Behauptung antworten, dass
wir in den vergangenen Jahren, als wir Regierungsverantwortung getragen haben, keinen Aufwuchs bei der
ODA-Quote gehabt hätten. Zu dem, was Sie über die
Jahre 2002 bis 2005 gesagt haben - Sie haben nur die
Zahl im Einzelplan 23 genannt -, muss man wissen, dass
wir einen enormen Schuldenerlass hatten. Dieser basierte auf unserer Initiative in Köln beim G-8-Gipfel.
Wir haben Tausenden von Kindern in Afrika ermöglicht,
in die Schule zu gehen, weil wir afrikanischen Ländern
die Schulden erlassen haben. Das war ODA-anrechnungsfähig. Deswegen mussten wir den Ansatz im Einzelplan 23 nicht so stark steigern.
Wir haben dann in der Großen Koalition von 2005 bis
2009 - Herr Fischer, deswegen wundern mich Ihre Äußerungen und die Ihrer Kollegen von der CDU -, als die Europäische Union im Jahr 2005 auf Druck von Heidemarie
Wieczorek-Zeul erstmals völkerrechtlich verpflichtend
den Beschluss gefasst hat, den ODA-Stufenplan verbindlich zu machen, beschlossen, im Jahr 2010 0,51 Prozent
und im Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Damals haben wir Aufwüchse gehabt.
({0})
Ich lese Ihnen das gerne einmal vor: im Jahr 2006
8,2 Prozent,
({1})
im Jahr 2007 unter Entwicklungsministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul und Finanzminister Peer Steinbrück
7,6 Prozent,
({2})
im Jahr 2008 14,3 Prozent
({3})
und im Jahr 2009 13,2 Prozent. Sie haben gerade gesagt,
in diesen Jahren sei nichts passiert.
({4})
- Herr Kollege, seit es den Stufenplan gibt, haben wir in
den letzten beiden Jahren vor Herrn Niebels Amtszeit
Aufwüchse im Bereich von 14,3 Prozent und 13,2 Prozent gehabt. Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht - Frau
Merkel ist noch immer Bundeskanzlerin; da haben Sie
recht -,
({5})
warum diese Kanzlerin das, was sie auf jedem Kirchentag sagt, nämlich dass sie zu diesem Versprechen steht,
mit diesem Minister nicht umsetzt.
Herr Niebel, ich verstehe nicht - Sie sind doch sonst
immer so großspurig, sage ich einmal -, dass Sie es nicht
schaffen, mit der Kanzlerin zu vereinbaren, dass Sie wenigstens die gleichen Aufwüchse bekommen, wie sie
Ihre Vorgängerin bekommen hat. Es ist wirklich sehr
schwach, Herr Minister, wenn Sie sich da mit ein paar
Prozent zufrieden geben. Es wären jetzt 1,8 Prozent gewesen, wenn man die Goldreserven herauslässt, die dazugekommen sind. Das „Projekt 18“, das die FDP einmal vorhatte, hätten Sie lieber auf den Haushalt
übertragen sollen. Da sind Sie bei 1,8 Prozent gelandet,
genauso wie mit Ihrer Partei in Berlin. Da gehören Sie
mit diesem Haushalt auch hin.
Jetzt hätte Frau Pfeiffer noch eine Zwischenfrage.
Möchten Sie auch diese zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Raabe, ich habe gar keine Frage, sondern möchte folgende Feststellung machen: Wir haben
diesen 0,7-Prozent-Aufruf zum Großteil unterschrieben,
und zwar mit dem Vermerk, dass wir etwas vermeiden
wollen, nämlich genau das, was hier passiert und was ich
beobachte: dass wir uns nach wie vor gegenseitig Vorwürfe machen, wer was wann getan hat, nicht getan hat,
hätte tun sollen und was weiß ich was.
Ja, der Kollege Fischer.
Ich behaupte: Das, was heute hier passiert und was
wir die ganze Zeit beobachten, ist rein theoretisch die
Aufkündigung dieser Vereinbarung. Wir haben gesagt,
dass wir genau das vermeiden wollen. Sie haben den
Aufwuchs nicht geschafft, und auch wir werden das nur
bedingt schaffen. Wir hatten in den letzten Jahren einen
Aufwuchs, aber nie so hoch, wie wir es gewollt haben.
Wir alle haben gesagt, dass wir einen Aufwuchs auf
0,7 Prozent wollen. Irgendwann werden wir ihn mit meiner Unterstützung hoffentlich auch bekommen. Die Aufkündigung dieses Konsenses ist meiner Meinung nach
hier und heute passiert, indem wir das getan haben, was
Hauptbestandteil des Konsenses war; denn eigentlich
wollten wir uns gegenseitig keine Vorwürfe machen.
Sie brauchen nicht darauf zu antworten, Herr Kollege.
Ich wollte das nur einmal feststellen.
Doch, ich antworte gerne darauf, Frau Kollegin. Bei
dem Konsens - auch ich habe ihn unterschrieben - ging
es doch nicht darum, dass wir etwas herbeibeten, uns etwas herbeiwünschen oder dass wir „Friede, Freude, Eierkuchen“ sagen nach dem Motto: Wir machen uns
keine Vorwürfe. - Wir haben den Konsens vielmehr gemacht, um in die Zukunft zu gucken und zu sagen: Im
Haushalt 2012 fangen wir an, bis 2015 jeweils 1,2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung zu stellen.
Frau Kollegin, ich muss sagen: Es ist wirklich unkollegial und ein Hammer von Ihnen, dass Sie sagen, der
Konsens sei daran gescheitert, dass wir beklagen und anprangern, dass dieser Minister unseren gemeinsamen
Konsens einfach nicht umsetzt und anstatt 1,2 Milliarden
Euro nur ein paar Millionen Euro in den Haushalt einstellt. Der Konsens ist heute hier in diesem Hause endgültig gescheitert, weil dieser Minister das Geld im
Haushalt 2012 nicht zur Verfügung stellt. Frau Kollegin,
die Grundrechenarten werden wohl auch Sie ein bisschen können. Das darf doch nicht wahr sein! Rechnen
Sie doch einmal nach, welche Lücke zwischen 1,2 Milliarden Euro und den nun vorgesehenen 163 Millionen
Euro klafft! Ich mache es Ihnen einfach, Frau Kollegin:
Über 1 Milliarde Euro fehlt. Damit ist der Konsens aufgekündigt. Das können Sie doch nicht in Abrede stellen.
Es ist sehr schade, dass der Minister den Konsens aufgekündigt hat.
({0})
Der Minister hat auch den Konsens über andere parteiübergreifenden Initiativen des Hauses, für die wir gemeinsam zwei, drei Jahre gekämpft haben, mit diesem
Haushalt aufgekündigt. Ich erinnere daran, dass 2008
eine Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nach Ecuador gereist ist.
Ich habe damals die Ehre gehabt, diese Delegation zu
leiten. Wir sind nach Ecuador gereist, um zu schauen, ob
es möglich ist, ein armes Land wie Ecuador zu unterstützen, wenn es darauf verzichtet - das geht auf einen Vorschlag der dortigen Regierung zurück -, Erdöl in einem
Regenwaldgebiet zu fördern, das aufgrund seiner Biodiversität, also seiner Artenvielfalt, einmalig ist. Der Präsident von Ecuador hat gesagt, wenn die internationale
Gemeinschaft die Hälfte der möglichen Einnahmen aus
der Erdölförderung ersetze, sei er bereit, auf die Erdölförderung zu verzichten, den Lebensraum für die indigene
Bevölkerung bestehen zu lassen und die Artenvielfalt zu
schützen. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben damals gesagt: Ja, wir wollen diesen Vorschlag unterstützen. - Dann wurden viele technische
Fragen geklärt. Es gab viele Gespräche, auch direkt mit
Vertretern der ecuadorianischen Regierung. Schließlich
haben die damalige Ministerin und ihr Staatssekretär
Ecuador mitgeteilt, dass das Land für dieses Projekt mit
ungefähr 50 Millionen US-Dollar pro Jahr rechnen
könne. Das entspricht der Größenordnung, die Deutschland in ähnlichen internationalen Vereinbarungen festgelegt hat. Ich bin sehr froh, dass alle - CDU/CSU, FDP,
Linke, Grüne und SPD - gesagt haben: Ja, das wollen
wir.
Ähnlich wie beim entwicklungspolitischen Konsens
ist es enttäuschend, dass Minister Niebel nun sagt, das
interessiere ihn nicht, da werde ein Präzedenzfall geschaffen. Da könne auch Saudi-Arabien kommen und
fordern, dass seine Einnahmen ersetzt werden, wenn es
auf die Erdölförderung verzichtet.
({1})
Herr Minister, wenn Sie schon nicht die Artenvielfalt in
der Wüste von der Artenvielfalt im Regenwald unterscheiden können, dann sollten Sie wenigstens in der
Lage sein, einen reichen Ölstaat von einem Entwicklungsland zu unterscheiden.
({2})
Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Völlig daneben!
Dass Sie auch noch die Stirn haben, Italien dafür zu kritisieren, dass es Schulden umwandelt, um in den entsprechenden Fonds einzuzahlen, ist erbärmlich. Das ist auf
der gleichen Linie wie damals, als Sie, als wir während
der Bankenkrise den Entwicklungsländern 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt haben, gesagt haben, dafür solle man lieber 2 500 Grundschullehrer einstellen.
Sie spielen die Schuldenkrise in Europa oder soziale
Probleme in Deutschland gegen die Probleme und den
Hunger in der Welt aus. Das ist schäbig, Herr Minister.
Das ist Stammtischniveau. Das haben diese Diskussion
und der Entwicklungsausschuss nicht verdient.
({3})
Mit dem Thema Artenvielfalt scheinen Sie in der Tat
ein gewisses Problem zu haben. Sie schützen nicht nur
nicht die Artenvielfalt des Regenwaldes. Wenn man sich
die Personalstruktur Ihres Hauses anschaut, dann stellt
man fest - Herr Kollege Binding hat das schon angesprochen -, dass Sie nicht die roten oder die grünen, sondern nur die gelben Vögel fördern, um im Bild des Regenwaldes zu bleiben. Angesichts der Personalstruktur,
die Sie geschaffen haben, schreiben die Zeitungen, dass
das nichts anderes als Vetternwirtschaft ist und dass das
Ministerium zu einem Versorgungsamt für FDP-Funktionäre verkommen ist.
Vor diesem Hintergrund werden wir den Haushalt,
den Sie hier vorgelegt haben, Herr Minister, leider ablehnen müssen.
Im Anschluss werden wir auch über unsere Änderungsanträge abstimmen. Wir wollen gemäß dem entwicklungspolitischen Konsens 1,2 Milliarden Euro
mehr für Entwicklungszusammenarbeit, und wir wollen
im Interesse der Artenvielfalt und des Regenwaldes in
Ecuador, dass der Yasuní-Nationalpark geschützt wird.
Ich hoffe, dass möglichst viele Kolleginnen und Kollegen im Parlament dem zustimmen, auch wenn der Minister seine Zustimmung leider verweigert und blockiert,
anstatt die Sache zu befördern.
Danke schön.
({4})
Zu einer Kurzintervention geht das Wort an den Kollegen Thilo Hoppe.
Ich möchte als einer der Mitinitiatoren des entwicklungspolitischen Konsenses gern eines klarstellen: Zum
Geist dieses Konsenses gehört es, dass wir aufhören mit
gegenseitigen Schuldzuweisungen in die Vergangenheit
hinein.
({0})
- Das haben viele heute gemacht, aus mehreren Fraktionen. - Die Wahrheit ist: Von keiner Regierung sind bisher die Aufwüchse in den Haushalt eingestellt worden,
die notwendig gewesen wären, um dem 0,7-Prozent-Ziel
ernsthaft näher zu kommen. Der Streit darüber, welche
Regierung das Wort etwas mehr oder etwas weniger gebrochen hat, führt überhaupt nicht weiter. - Das ist das
eine.
({1})
Das andere ist: Es steht nicht in dem Konsens, dass irgendwann einmal 0,7 Prozent erreicht werden sollen,
wenn die Haushaltslage gut ist, sondern es ist eine Art
Selbstverpflichtung gewesen, sich mit allen Kräften dafür einzusetzen, dass im Haushalt 2012 für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe 1,2 Milliarden Euro mehr eingestellt werden. Darüber, dass dies
nicht erfolgt ist, kann man zu Recht enttäuscht sein.
({2})
Ein Punkt noch: Bei aller berechtigten Kritik - nicht
der Entwicklungsminister allein bestimmt den Etat. Man
kann fragen, ob er hart genug dafür gekämpft hat, ob er
den Konsens unterstützt oder ob er diesen Rückenwind
genutzt hat. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat sich für
mehr Geld für ihr Ressort eingesetzt, hat sich aber oft
nicht durchsetzen können. Man kann also nicht allein
den Entwicklungsminister dafür verantwortlich machen.
Aber er hätte mehr kämpfen können und diesen Rückenwind mehr nutzen können.
({3})
Das Wort hat Johannes Selle für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen und Monaten hat das Thema Sparen in unseren Beratungen zum
Haushalt 2012 eine große Rolle gespielt. Heute Morgen
wurde uns von der Opposition vorgehalten, wir würden
das nicht konsequent genug machen. Konsolidierung
bleibt unsere Verpflichtung. Heute Morgen war auch
vom intelligenten Sparen die Rede. Für mich ist das kein
Schimpfwort, sondern die Anerkenntnis, dass nicht jedes
politische Anliegen die gleiche politische Bedeutung beanspruchen kann.
Die Not anderer Menschen zu sehen und sich zu fragen: „Was können wir tun?“, ist menschlich und von
größter Bedeutung. Der entwicklungspolitische Haushalt
steigt gegenüber dem Vorjahr um 2,63 Prozent und damit wesentlich stärker als der Gesamthaushalt, der fast
konstant bleibt. Dass die Bedeutung der internationalen
wirtschaftlichen Zusammenarbeit für Deutschland gewachsen ist, kann man daran zum Teil ablesen. Ein Parlamentarier weiß, dass für eine solche Entwicklung immer wieder mit guten Argumenten geworben werden
muss, um eben Mehrheiten - hier für fast 164 Millionen
Euro mehr - zu finden.
Liebe Kollegin der Opposition, Sie haben richtig bemerkt, dass nicht alle Wünsche der Entwicklungspolitiker der christlich-liberalen Koalition in Erfüllung gegangen sind.
({0})
Lieber Kollege Hoppe, herzlichen Dank für die nachträgliche moderate Einschätzung der ganzen Geschichte.
An den Kollegen Raabe eine Bemerkung: Herr Fischer hat vollkommen recht. Eine große Differenz aufzuholen, ist sehr viel schwerer, als eine kleinere Differenz
aufzuholen. Wir agieren inzwischen in einem internationalen Umfeld, in dem wir die Balance halten müssen.
Lassen Sie mich dennoch allen Kollegen Dank sagen,
die mit guten Anträgen und mit Argumenten dazu beigetragen haben, dass der Etat mehrheitlich Zustimmung
findet.
Dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen knapp 2,1 Prozent
des Gesamthaushalts zur Verfügung. Über 50 Prozent
des Gesamthaushalts geben wir für soziale Zwecke in
Deutschland aus. Ich sage das, weil ich immer wieder
die Frage beantworten muss, warum wir so viel Geld ins
Ausland geben, obwohl wir im eigenen Land genügend
soziale Probleme haben. Ich denke, wir können diese
Proportionen gut vertreten; denn neben der Menschlichkeit, die wir den Mitmenschen schuldig sind, tragen
diese Mittel zu Frieden, zur Verringerung des Migrationsdrucks und zu wirtschaftlicher Entwicklung bei.
({1})
Wir kennen viele Beispiele, die uns lehren, dass Geld
allein die Probleme nicht lösen kann. Einmal geschaffene Fährverbindungen brechen zusammen, weil es
keine Ersatzinvestitionen gibt, einmal geschaffene Brunnen verfallen, weil Wartung und Pflege nicht stattfinden.
Die Effizienz zu erhöhen und wirklich Nachhaltigkeit zu
erreichen, bleibt Daueraufgabe, umso mehr, da die Probleme durch Wachstum der Bevölkerung und Veränderung des Klimas objektiv wachsen. Durch die Globalisierung kommen weitere Faktoren hinzu; das haben wir
heute schon zur Kenntnis nehmen können.
Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob wir unserer internationalen Verantwortung gerecht werden können. Diese Frage kann schwer plausibel beantwortet
werden, weil nur schwer angegeben werden kann, wie
hoch unsere internationale Verantwortung zu veranschlagen ist. Wie wir gerade gehört haben, können wir trotz
der beachtlichen Steigerung noch nicht unsere Selbstverpflichtung erfüllen. Wir geben die Zielstellung trotzdem
nicht auf.
({2})
Mit begründeter Sicherheit kann man feststellen, dass
wir nicht alle Erwartungen, die an Deutschland gestellt
werden, erfüllen können. In diesem Jahr war ich mit dem
geschätzten Kollegen Kekeritz von den Grünen in der
Zentralafrikanischen Republik, einem Land, das beim
Human Development Index auf Platz 178 von 179 Plätzen rangiert. In fast allen Gesprächen mit Regierungsvertretern und der Zivilgesellschaft wurden wir um ein
umfassendes Engagement gebeten. Unsere Expertise,
unser Ansatz der nachhaltigen Entwicklung, unsere faire
Partnerschaft und unsere wirtschaftliche Stellung in der
Welt genießen hohe Wertschätzung. Ähnliches könnte
ich von der neuen Republik Südsudan, aber auch von der
Republik Sudan berichten, und auf den Wunsch nach
stärkerem Engagement treffen wir nicht nur in Afrika.
Aus meiner Sicht ist es an der Zeit, dem Gedanken eines stärkeren dauerhaften Engagements in einem Land
oder einer Region in der Form näherzutreten, dass ein
Projekt mit Modellcharakter oder eine Patenschaft möglich wird. Das bedeutet neben finanzieller Zusammenarbeit eine vielfach höhere personelle Präsenz. Albert
Schweitzer ist für uns bis heute ein Beispiel dafür, dass
Erfolg vom Vormachen und Mitmachen abhängt. Das
Wohl der Menschen darf uns nicht nur aus der Ferne interessieren, sondern das Interesse daran muss zu mehr
und intensiverer Nähe führen. Dadurch könnten langfristig der Verwaltungsaufbau und damit eine gute Regierungsführung unterstützt werden. Gleichzeitig würden
ganzheitliche Konzepte zur Förderung der Landwirtschaft oder Nutzbarmachung heimischer Ressourcen
zum Wohle des Volkes leichter möglich. Zudem würde
die Zivilgesellschaft in Deutschland und im Partnerland
ebenso motiviert wie die wirtschaftlichen Partner, ohne
die eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung
nicht funktionieren wird. Aber genau das soll das Ziel
wirtschaftlicher Kooperation und Entwicklung sein.
Ich finde deshalb den Ansatz des Bundesministers
richtig, Menschen aus unserem Land, die es zu einem
persönlichen Anliegen gemacht haben, sich in Kirchen
und Nichtregierungsorganisationen der Entwicklung in
Partnerländern zu widmen, besonders zu unterstützen.
Sie tun das sehr verdienstvoll. Dafür wollen wir auch an
dieser Stelle Dank sagen.
({3})
Die Haushaltsansätze belegen diese Anerkennung.
Wenn wir über mehr Effizienz der eingesetzten Gelder sprechen, dann heißt das nicht nur, im Partnerland
darauf zu achten, sondern auch, die eigene Tätigkeit zu
hinterfragen. Das hat Bundesminister Niebel gemacht
und mit der Vorfeldreform auch erfolgreich umgesetzt.
Das sollte bei einer solchen Debatte anerkannt werden,
hilft es doch, Entwicklungspolitik dem Bürger gegenüber besser vertreten und die zur Verfügung gestellten
Mittel effektiver zur Armutsbekämpfung einsetzen zu
können. In diesem Sinne ist auch die Fokussierung auf
50 Partnerländer, die schon zu zahlreichen Diskussionen
geführt hat, zu begrüßen.
Frau Kofler, eine Bemerkung möchte ich noch machen. Sie müssen wissen, dass die 200 Millionen Euro
für den GFATM in dem Haushaltstitel 866 01 untergebracht sind und deshalb auch zur Verfügung stehen.
An die Kollegin Hinz möchte ich den Satz richten,
dass nach § 50 der Bundeshaushaltsordnung die Ministerien unter Zustimmung des Bundesfinanzministeriums
Verschiebungen von Planstellen, Mitteln und Haushaltsstellen vornehmen können.
({4})
Möglicherweise ist der Zeitpunkt unglücklich - das kann
sein -, in der Sache gibt es aber durchaus interessante,
diskussionswürdige Aspekte. Wir werden das weiterhin
kritisch begleiten. Insofern ist auch diese Kritik aus unserer Sicht nicht gerechtfertigt.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig.
Sie waren schon vor geraumer Zeit fertig.
Mit diesem Haushalt senden wir positive Signale, was
unser Engagement in der Welt anbelangt. Sie alle haben
die Chance, einem guten Einzelplan 23 zustimmen zu
können. Diese Chance sollten Sie sich nicht entgehen
lassen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 23 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung - in der Ausschussfassung. Hierzu liegen uns drei Änderungsanträge vor, über die wir zunächst abstimmen.
Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7814. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung
durch SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke.
CDU/CSU und FDP haben dagegen gestimmt.
Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7812. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei dem gleichen Stimmenverhältnis wie
bei dem vorherigen Änderungsantrag.
Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/7813.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem gleichen Ergebnis abgelehnt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 23 - Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - in der Ausschussfassung.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 23 ist somit angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben abgelehnt.
Interfraktionell ist verabredet, den Änderungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/7874 zu Einzelplan 32 - Bundesschuld - heute zu behandeln und jetzt darüber abzustimmen. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt III auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 und der Resolutionen 1814
({0}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({1}) vom
2. Juni 2008, 1838 ({2}) vom 7. Oktober 2008,
1846 ({3}) vom 2. Dezember 2008, 1897
({4}) vom 30. November 2009, 1950 ({5})
vom 23. November 2010 und nachfolgender
Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 10. November 2008,
dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 8. Dezember 2009,
dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 30. Juli 2010 und
dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 7. Dezember 2010
- Drucksache 17/7742 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen ist
es vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Dr. Guido Westerwelle.
({7})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Pirateriebekämpfung vor dem Horn von Afrika durch Atalanta ist
nicht nur breit in diesem Hause getragen, sondern sie ist
auch erfolgreich.
Seitdem Atalanta vor knapp drei Jahren die Arbeit
aufgenommen hat, haben wir über 120 Schiffstransporte
des Welternährungsprogramms schützen können, und
die Schiffe haben ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichen können. Über 700 000 Tonnen Nahrungsmittel
und weitere wichtige Hilfsgüter konnten so nach Somalia gebracht werden. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind insgesamt 4 Millionen Menschen auf diese
Hilfe angewiesen. Damit gehört Somalia zu den größten
humanitären Krisengebieten weltweit.
Die humanitäre Hilfe durch Lieferungen des Welternährungsprogramms und anderer Hilfsorganisationen
erfolgt fast vollständig auf dem Seeweg. Dass diese
Hilfe bei den Menschen auch wirklich ankommt, ist
schon ein enormer Erfolg von Atalanta. Deswegen
möchte ich zuallererst den Frauen und Männern der
Bundeswehr und auch den anderen Bürgern Deutschlands, die bei dieser Aktion ohne Uniform engagiert
sind, herzlich danken. Ich glaube, wenn man die Bilder
gesehen und sich ein wenig mit der Lage vor Ort befasst
hat, dann erkennt man: Das ist wirklich ein humanitärer
Auftrag; es ist ein Gebot der Mitmenschlichkeit, dass
wir die Hilfslieferungen vor Piraterie schützen. Eigentlich müsste jeder in diesem Hohen Hause, wenn er nachdenkt und seinem Herzen folgt, diesem Mandat zustimmen.
({0})
Meine Damen und Herren, Atalanta ist erfolgreich.
Aber ich will hinzufügen: Die Pirateriebekämpfung vor
dem Horn von Afrika ist unzweifelhaft noch nicht am
Ziel. Immer noch befinden sich zehn Schiffe und etwa
240 Personen in der Gewalt von Piraten. Immer noch
sind die Schiffe des Welternährungsprogramms und die
Handelsschifffahrt durch die Piraterie bedroht. Zwar
können aufgrund des robusteren Vorgehens im Rahmen
von Atalanta und der Umsetzung von Selbstschutzmaßnahmen in der zivilen Schifffahrt immer mehr Angriffe
abgewehrt werden; die Zahl der Angriffe durch Piraten
auf die Schifffahrt aber bleibt hoch. Die Gefahr, die von
den Piraten in den somalischen und den angrenzenden
Gewässern ausgeht, ist noch nicht gebannt.
Wir alle wissen um die großen Schwierigkeiten in Somalia; wir alle wissen um die Not der Menschen. Aber
daraus die einfache Schlussfolgerung zu ziehen, dass
man die Piraterie entschuldigen oder erklären könnte,
halte ich für einen schweren Fehler. Wir sollten den Aspekt der organisierten Kriminalität, die hinter dieser Piraterie steckt, nicht ignorieren und erst recht nicht verharmlosen.
({1})
Wir sind darüber einig, dass wir gleichzeitig vor Ort
vieles tun müssen, weil die Lage weiterhin extrem fragil
ist und durch die organisierte Kriminalität weiterhin gefährdet ist. Somalia wird noch lange nicht in der Lage
sein, die Piraterie vor seiner Küste in eigener VerantworBundesminister Dr. Guido Westerwelle
tung wirksam zu bekämpfen. Dies wird unzweifelhaft
zunächst die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft
bleiben müssen.
Für die Bundesregierung bitte ich daher um Ihre Zustimmung zu der Fortsetzung der deutschen Beteiligung
an der EU-geführten Operation Atalanta. Atalanta handelt im Auftrag der Vereinten Nationen und auf Bitten
der somalischen Übergangsregierung. Der Rat der Europäischen Union hatte bereits am 7. Dezember 2010 die
Verlängerung von Atalanta bis zum 12. Dezember 2012
beschlossen. Das heißt, das, was wir tun, ist nicht nur
völkerrechtlich gedeckt, sondern auch europäisch und
international eingebettet.
Die Freiheit der Meere und die Sicherung der Seewege sind von besonderer strategischer Bedeutung. Das
zu ignorieren, wäre ein Fehler. Es würde übrigens auch
das internationale Recht auf den Kopf stellen. Meine Damen und Herren, Europa profitiert wie kein anderer
Kontinent vom freien Fluss globaler Handelsströme:
Durch das Seegebiet vor Somalia, vor allem durch den
Golf von Aden, führt die wichtigste Handelsroute zwischen Europa, der arabischen Halbinsel und Asien.
Diese Route offen zu halten, ist eine wichtige Aufgabe
internationaler Sicherheitspolitik und liegt im unmittelbaren deutschen Interesse. Ich kann nichts Schlechtes
daran erkennen, dass wir die Schiffe der internationalen
Gemeinschaft, auch unsere Schiffe, schützen. Das ist unser Recht. Ich glaube sogar: Es ist auch unsere Pflicht,
unsere Schiffe und Besatzungen zu schützen.
({2})
Meine Damen und Herren, Deutschland gehört bei
Atalanta kontinuierlich zu den führenden Beitragstellern
und stellt gegenwärtig den Kommandeur der Kräfte im
Einsatzgebiet. Wir werden damit unserer Verantwortung
gegenüber unseren Partnern auch in der Europäischen
Union gerecht.
Wir flankieren die Bekämpfung der Piraterie auf See
natürlich durch Bemühungen zur Bekämpfung der Ursachen von Piraterie an Land und durch Unterstützungsleistungen für den Wiederaufbau des somalischen Staates. Wir leisten humanitäre Hilfe, um das unmittelbare
Leid von Millionen Menschen zu lindern.
Wir tragen mit der Beteiligung an der European Training Mission Somalia, in deren Rahmen bislang rund
2 000 Soldaten der somalischen Übergangsregierung ausgebildet worden sind, zur Schaffung eines sicheren Umfeldes bei. Wir unterstützen die Ausbildung afrikanischer
Polizisten, die als Trainer und Berater der somalischen
Polizei eingesetzt werden. Wir beteiligen uns an den Anstrengungen der Europäischen Union, gemeinsam mit
den afrikanischen Partnern regionale Küstenwachen aufzubauen, zu deren Aufgaben auch der Gewässer- und Fischereischutz zählen wird.
Wir unterstützen mit erheblichen Mitteln die Finanzierung der Mission der Afrikanischen Union in Somalia.
Den Verfassungsprozess in Somalia fördern wir durch
eine vom Max-Planck-Institut für Völkerrecht durchgeführte rechtliche Beratung. Wir helfen den Vereinten Nationen, die rechtsstaatlichen Kapazitäten in den Staaten
der Region auszubauen. Atalanta fügt sich ein in eine
Vielzahl von Maßnahmen, die ein gemeinsames Ziel haben, nämlich die fragile Region am Horn von Afrika zu
stabilisieren. Das soll die Voraussetzung für eine bessere
Lebenssituation der Menschen vor Ort und die nachhaltige Entwicklung Somalias schaffen. Sie sehen also, dass
wir sehr wohl auch die zivilen und entwicklungspolitischen Aspekte der Stabilisierung mit Ernst und Energie
anpacken. Derzeit ist aber auch der militärische Schutz
notwendig. Zusammen wird ein Schuh daraus. Das ist,
zusammen genommen, überzeugende Politik.
Ich bitte den Bundestag - wie bisher auch geschehen
- um eine breite Unterstützung dieses Mandates.
Am heutigen Tag wurde leider die Nachricht übermittelt, dass wieder zwei Soldaten in Afghanistan verletzt
worden sind. Von daher sollte man jeden Augenblick
voller Dankbarkeit auf die Menschen schauen, die wir
alle schon persönlich besucht haben und die ganz persönlich ihren Körper und ihre Seele - ihre ganze Persönlichkeit - dafür einsetzen, dass wir bei uns sicher leben
und auch anderen helfen können, die ohne uns ein ganz
schreckliches Schicksal haben würden.
Vielen Dank.
({3})
Rolf Mützenich hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Tat, Atalanta ist in erster Linie eine zivile und humanitäre Maßnahme. Ich glaube, wir sollten
in diesem Hause gemeinsam überlegen - das ist an alle
Fraktionen gerichtet -, wie das Leid der Menschen in
Somalia gemindert und die aktuelle Hilfe dort gesichert
werden kann. Vier Millionen Menschen sind davon betroffen. Die Vereinten Nationen haben um Unterstützung
gebeten. Ich finde schon, dass es zur Respekterweisung
dazugehört, dass alle Fraktionen eine Antwort darauf geben, damit insbesondere in Bezug auf die aktuellen Herausforderungen, denen sich dieses Land gegenübersieht,
diese Hilfe auch gewährleistet werden kann.
Für meine Fraktion komme ich zu der Schlussfolgerung, dass natürlich auch ein Schutz insbesondere für die
Hilfstransporte erfolgen muss, die vonseiten der Vereinten Nationen angefordert werden und die vielen Menschen helfen. Deswegen unterstützen wir das, was der
Bundesaußenminister hinsichtlich dieses Mandates als
Gesamtmission angesprochen hat.
Ich würde gerne, Herr Minister, noch auf weitere
Punkte eingehen. Wir werden in der Zukunft über einige
Punkte sicherlich in ein wenig stärkerem Maße diskutieren müssen. Ich verstehe schon, dass man das vonseiten
der Bundesregierung hier nicht so offen sagen kann - Parlamentarier sollten das aber tun -: Das Problem Somalias
besteht auch darin, dass einzelne Nachbarstaaten in der
Vergangenheit - das gilt aber offensichtlich auch für die
aktuelle Situation - Einfluss genommen haben bzw. weiter nehmen. Sie nehmen letztlich auch mit Gewalt Einfluss. Dabei kommt es auch zu schwierigen Situationen.
Wir müssen, finde ich, insbesondere die Nachbarstaaten dazu aufrufen, nicht mit Gewalt von außen in dieses
Land einzugreifen, sondern am Aufbau Somalias aktiv
mitzuwirken. Das gehört zu der Diskussion, die wir hier
führen, genauso dazu wie das Debattieren über den sozialen und politischen Aufbau in Somalia.
In der Tat ist es richtig - das wird hier immer wieder
angesprochen -, dass Armut und Piraterie zusammengehören. In dem Zusammenhang ist auch die Situation zu
nennen, vor die Somalia in den letzten Jahren und Jahrzehnten gestellt wurde. Gleichzeitig will ich darauf aufmerksam machen, mit welchem Respekt wir den Menschen begegnen sollten, die sich in Somalia ganz bewusst
gegen Piraterie entscheiden und sagen: Das wird unserem
Land, unserer Kultur und Tradition nicht gerecht. Deswegen warne ich vor vereinfachenden Schlussfolgerungen.
Insbesondere nehme ich das auf, was Jack Lang, der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, festgestellt hat. Er
sagte, das Problem der Piraterie bestehe insbesondere darin - Herr Außenminister, Sie haben das angesprochen -,
dass sie von der organisierten Kriminalität bzw. von den
internationalen Netzwerken unterstützt wird, indem diese
das Geld waschen, das die Piraterie erbringt. Es gehört zu
einer ehrlichen Diskussion in der Europäischen Union
dazu, festzustellen, dass wir die Piraterie insbesondere
durch internationale Maßnahmen bekämpfen müssen, um
organisierte Kriminalität weiterhin zurückzudrängen.
Man muss hinzufügen: Sie findet auch in westlichen Handelsstädten statt.
Wir sollten uns immer wieder vergegenwärtigen:
Piraterie ist nicht das Problem Somalias oder am Horn
von Afrika, sie ist auch in anderen Regionen ein Problem. Sie ist auch ein historisches Phänomen, was mit
dem einen oder anderen Land, das heute als Partner bezeichnet wird, durchaus in einem Zusammenhang gestanden hat. Ich würde gerne in dieser Runde aus einer
gültigen Verfassung zitieren, die der eine oder andere
vielleicht kennt. Da heißt es:
Die Volksvertretung hat das Recht … Kaperbriefe
auszustellen und Vorschriften über das Prisen- und
Beuterecht zu Wasser und zu Lande zu erlassen.
Das ist keine Verfassung eines Landes im Südpazifik,
das ist auch nicht die Verfassung der Malediven, sondern
es ist die amerikanische Verfassung. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass dies durchaus noch aktuelles Recht
ist.
({0})
- Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen
davon Gebrauch machen, aber will ich auf das historische Phänomen aufmerksam machen, weil das zu einer
politischen Diskussion dazugehört.
Regierungen und Parlamente haben die Piraterie zurückgedrängt. Gerade in einzelnen Staaten Asiens ist es
gelungen, die Probleme, die dort seit Jahrzehnten existieren, einzudämmen, und zwar durch bessere Regierungsführung, aber auch durch Sicherungsmaßnahmen,
die sie zum Schluss selbst ergriffen haben. Damals wurden sie international unterstützt. Das beste Momentum,
das diese Länder darin unterstützt, die Piraterie zu bekämpfen, ist die regionale Zusammenarbeit. Deswegen
müssen wir nach meinem Dafürhalten noch viel stärker
das regionale Zusammenwirken am Horn von Afrika
stärken. Dazu müssen wir die Regierungen ermutigen.
Ich möchte auf eine innenpolitische Diskussion eingehen - auch das gehört zu diesem Thema -: Auch die
deutschen Reeder tragen Verantwortung. Die haben sie
in der Tat auch wahrgenommen. Es kann aber nicht sein,
dass deutsche Reeder deutsche Schiffe ausflaggen und
damit ihrer sozialen Verantwortung in Deutschland nicht
mehr gerecht werden, aber gleichzeitig vom deutschen
Staat Sicherheitsmaßnahmen verlangen. Das müssen wir
in einer solchen Debatte offen benennen; denn auch die
Reeder tragen Verantwortung.
Ein weiterer Aspekt, den ich in Ihrer Rede gänzlich
vermisst habe, war die Diskussion, die die Bundesregierung im August dieses Jahres hier geführt hat. Es geht
darum, private Sicherheitsdienste, unter Umständen
schwer bewaffnet, auf Schiffen zuzulassen. Dazu haben
Sie heute nichts gesagt. Ich hätte zumindest gerne gewusst, ob diese Angelegenheit im Kabinett vom Tisch
ist, ob das staatliche Gewaltmonopol möglicherweise
durch derartiges Vorgehen weiter ausgehöhlt werden
soll, ob es weiterhin von der Initiative der Bundesregierung getragen ist oder ob es eine neue Entwicklung gibt?
Das sollte in zweiter und dritter Lesung zu diesem Mandat noch einmal angesprochen werden.
Wir vonseiten der SPD-Fraktion sehen beim Vorhaben der Bundesregierung große Probleme. Die Pläne sehen vor, dass private Sicherheitsfirmen zertifiziert und
überwacht werden sollen. Ich frage mich, ob das auch
für andere private Sicherheitsdienste, die es im internationalen Umfeld gibt, gelten soll. Wir werden darüber
eine Debatte führen. Ich kündige hier schon an, dass wir
in der nächsten Woche im Deutschen Bundestag intensiver über die privaten Sicherheitsfirmen debattieren werden. Wir, die SPD-Fraktion, haben dazu einen Antrag
vorgelegt.
Zur letzten Frage, die Sie am Rande angesprochen haben. Rechtliche Fragen spielen in der Tat eine große
Rolle. Im Zusammenhang mit diesem Mandat wurde
auch darüber diskutiert, ob ein spezieller Strafgerichtshof für Piraterie eingerichtet oder zumindest eine weitere
Kammer beim Internationalen Seegerichtshof in Hamburg angesiedelt werden sollte;
({1})
denn wir haben diesbezüglich rechtliche Schwierigkeiten. Das Verwaltungsgericht Köln hat in einem besonderen Fall dargelegt, dass die rechtlichen Umgangsformen
in Kenia - darum ging es in diesem Fall - nicht unseren
Standards entsprechen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung insbesondere vor dem Hintergrund der derDr. Rolf Mützenich
zeitigen Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat
auf, weitere Initiativen zu ergreifen, um hierzu im internationalen Recht Änderungen herbeizuführen. Insbesondere fordere ich sie aber auf, zu diesem Thema im Parlament Stellung zu beziehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Thomas Kossendey ergreift jetzt das Wort für die
Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die EU-Operation Atalanta steht letztendlich für den
Willen und die Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft, Piraterie am Horn von Afrika, aber auch im
Golf von Aden zurückzudrängen. Gleichzeitig macht sie
die Schiffsverkehre in dieser Region sicherer, und das ist
im Interesse der Menschen, die dort leben, weil
90 Prozent der Hilfslieferungen, die die Vereinten Nationen über das Welternährungsprogramm dort hinbringen,
auf dem Seeweg transportiert werden. Der Außenminister hat mit eindrucksvollen Zahlen deutlich gemacht,
dass diese Hilfslieferungen die Menschen vor Ort erreichen. Die Hungersnot, über die in den letzten Wochen
insbesondere aus Somalia und vom Horn von Afrika berichtet wurde, zeigt, dass diese Hilfe notwendiger denn
je ist. Seit 2008 sind alle diese Hilfstransporte angekommen; das ist anders als vorher. Daneben leistet Atalanta
einen ganz wichtigen Beitrag dazu, die Handelsschiffe
auf sichere Seeverbindungslinien zu bringen.
Ich will noch etwas ins Gedächtnis rufen: Die Zahl
der Überfälle durch Piraten liegt in etwa auf dem Niveau
der letzten Jahre, die Zahl der erfolgreichen Entführungen konnte allerdings halbiert werden.
({0})
Dafür gibt es viele Ursachen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Reeder ihr Verhalten geändert haben;
der Kollege Mützenich hat das ja angesprochen. Um Ihnen das mithilfe von Zahlen zu verdeutlichen: Wir haben
am Horn von Afrika ungefähr 25 000 bis 30 000 Schiffspassagen jedes Jahr, davon ungefähr 3 000 unter deutscher Flagge. Natürlich haben Sie recht, Herr Kollege
Mützenich, wenn Sie sagen, dass die Reeder für ihre
Schiffe und die Menschen auf ihren Schiffen eine besondere Verantwortung tragen. Diese fordern wir ein. Alle
zuständigen Stellen unserer Regierung stehen im ständigen Gespräch mit den Reedern. Dabei spielt natürlich
auch die Frage der privaten Sicherheitsdienste eine
Rolle. Dieses Thema geht nicht in erster Linie das Verteidigungsministerium an. Ich kann aber sagen: Der Verkehrsminister und der Innenminister - beide sind dafür
zuständig - klären im Augenblick den rechtlichen Rahmen, in dem diese Dienste erfolgen können. Ich sage
aber auch: Deutsche Soldaten auf Schiffen, die nicht unter deutscher Flagge fahren - dieses Thema haben Sie
auch angesprochen -: Das geht völkerrechtlich nicht.
Dafür brauchen wir Abkommen mit den Flaggenstaaten.
Sie wissen, dass das nicht ganz leicht ist.
Neben den Maßnahmen, die die Reeder ergriffen haben, um ihre Schiffe besser zu sichern - ich sage in
Klammern: Manchmal ist es betrüblich, festzustellen,
dass das längst nicht alle Reeder tun -, haben wir natürlich auch durch die Änderung der Operationspläne bei
Atalanta dazu beigetragen, dass wir jetzt energischer
durchgreifen können. Wir haben mehr Möglichkeiten,
die sogenannten Vessel Protection Detachments an Bord
zu bringen. Wir haben mehr Möglichkeiten, das Pirateriematerial, das wir an Bord nehmen, sofort zu vernichten, auch ohne große Beweisbeschlüsse. Wir haben auch
mehr Möglichkeiten, um uns um Mutterschiffe zu kümmern; das ist ein Thema, das der Kollege Stinner mehrfach angesprochen hat.
({1})
Von den Ländern der Europäischen Union, die sich an
Atalanta beteiligen, stellte die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren neben Spanien den stärksten
Anteil, nicht, weil die anderen nicht wollten, sondern
schlichtweg, weil die anderen Länder im maritimen Bereich zum Teil so stark reduziert haben, dass sie sich gar
nicht beteiligen können. Von den 27 Mitgliedstaaten
beteiligen sich im Wesentlichen Deutschland, Spanien,
Frankreich, die Niederlande und Luxemburg an diesen
Aktivitäten. Wir wollen uns auch in Zukunft beteiligen.
Für 2012 haben wir durchgängig eine Fregatte bereitgestellt. Wir werden einen Einsatzgruppenversorger hinunterschicken und ab April 2012 wieder ein Seeraumüberwachungsflugzeug.
In den letzten Wochen sind häufig Berichte durch die
deutsche Presse gegeistert, nach denen die deutschen
Kräfte zwar Piraten an Bord ihrer Schiffe festsetzen, sie
dann aber mit Nahrungsmitteln auf einem kleinen
Schlauchboot aussetzen und wieder nach Somalia zurückschicken. Lassen Sie mich dazu einiges sagen. Zunächst einmal: Das Primärziel von Atalanta ist ja nicht
die Piratenjagd. Wer das Mandat liest, weiß, dass das
nicht so ist. Das wird zwar häufig in der Öffentlichkeit
so diskutiert, aber es steckt mehr dahinter. Wir haben die
Rules of Engagement geändert. Wir können intensiver
eingreifen. Aber da, wo kein Kläger ist, werden wir auch
keinen Richter finden. Deswegen ist es in einigen Fällen
auch nach dem internationalen Recht nicht unüblich,
diejenigen, die man auf frischer Tat ertappt hat, zurückzubringen. Wir haben noch keinen Gerichtshof, der international diese Straftaten aburteilt.
Ich glaube, niemand in diesem Hause wird einer Art
und Weise das Wort reden, die menschenverachtend
wäre. Die Piraten werden nicht einfach in ein Schlauchboot gesetzt mit den Worten: Kommt irgendwie nach
Hause. - Ich bin sicher, dass es hier sonst Diskussionen
gäbe, die wir alle nicht wollen. Der Internationale Strafgerichtshof, den Sie, Herr Mützenich, angesprochen haben, müsste ja in den Vereinten Nationen seine Ursache
finden. Auch da wissen wir, dass das im Augenblick sehr
schwer ist, weil längst nicht alle Länder der Vereinten
Nationen das für sinnvoll halten.
Sie haben das Urteil vom Verwaltungsgericht Köln
angesprochen. Sie wissen, dass sich das auf einen Fall
bezieht, der sich ereignete, bevor wir mit Kenia ausgemacht haben, dass die Gefangenen, die wir dorthin bringen, in Umständen gefangen gehalten werden, die menschenrechtlich für uns verantwortbar sind. Sie wissen
auch, dass unser Botschafter diese Prozesse und die Umstände, unter denen die Gefangenen dort festgehalten
wurden, sehr intensiv beobachtet hat.
Eines muss aber klar sein: Das, was wir mit der deutschen Marine auf See machen, ist nur ein Bekämpfen
von Symptomen. Wir brauchen jenseits dessen, was der
Verteidigungsminister an Beitrag zu liefern hat, eine
weitaus breitere Palette an Aktionsmöglichkeiten, um
den Sumpf der Piraterie dort auszutrocknen.
({2})
Ich meine, wir sollten das insgesamt anpacken.
All den Soldatinnen und Soldaten, die sich in den
letzten Jahren dort engagiert haben, und zwar unter Bedingungen, die weiß Gott nicht immer so sind, wie man
sich das hier vorstellt, wenn man die Sonne über Dschibuti scheinen sieht, sollten wir herzlich danken und sie
mit einem Mandat ausstatten, das von einer breiten
Mehrheit im Parlament getragen wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Christine Buchholz hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit drei
Jahren ist die Bundeswehr im Rahmen der EU-Militäroperation Atalanta vor der Küste Somalias unterwegs.
({0})
Das Ziel der Mission, so schreibt die Regierung im
Mandatstext, sei die Bekämpfung der Piraterie und die
Sicherung der Versorgung der notleidenden Menschen
Somalias. Das Mandat ermächtigt die Bundeswehr zur
„Durchführung der erforderlichen Maßnahmen, einschließlich des Einsatzes von Gewalt, zur Abschreckung …“.
Wie das in der Praxis aussieht, konnten wir wieder
einmal Ende September sehen: Eine deutsche Fregatte
versenkte zwei Schiffe in somalischen Gewässern und
setzte die Besatzung an Land ab.
({1})
Die Unschuldsvermutung gilt anscheinend nicht in somalischen Gewässern. Der Kommandeur vor Ort richtet
und setzt auch gleich die Strafe um. Das entspricht nicht
unseren Vorstellungen von rechtsstaatlichen Grundsätzen.
({2})
Die Strategie der Regierung hat keinen Erfolg. Hier
muss ich Ihnen widersprechen, Herr Westerwelle, das belegen auch die Zahlen. Auch nach drei Jahren Atalanta
müssen wir in diesem Jahr wieder konstatieren: Die
Überfälle von Piraten sind auf einem neuen Höchststand.
({3})
Die Zahl der geglückten Entführungen stagniert auf hohem Niveau, und die Piraten haben ihr Operationsgebiet
weiter ausgedehnt. Von einer erfolgreichen Bekämpfung
der Piraterie kann keine Rede sein.
({4})
Dabei sind sich alle einig, dass Piraterie zur See nicht
militärisch zu bekämpfen ist. Das ist schon rein technisch unmöglich. Dafür sind der zu überwachende Seeraum und die Zahl der zu schützenden Schiffe viel zu
groß.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stinner zulassen?
Nein, möchte ich nicht. Ich rede jetzt die vier Minuten
durch, und anschließend kann der Kollege Stinner gerne
etwas sagen.
({0})
Wer Piraterie wirklich bekämpfen will, muss die sozialen und politischen Ursachen angehen. Hier ist die
Bundesregierung keinen Schritt weiter als letztes Jahr.
Denn immer noch beharrt sie darauf, eine von außen eingesetzte Regierung in Somalia an der Macht zu halten.
Ihr Ansatz ist, Verhandlungen aus der Position der militärischen Stärke zu führen. Die wichtigsten Rebellengruppen werden von den diplomatischen Gesprächen
ausgeschlossen.
Die Menschen in Somalia brauchen dringend Hilfe,
aber sie brauchen zivile, humanitäre Hilfe.
({1})
Sie brauchen eine Abkehr von der menschenverachtenden neoliberalen Handelspolitik
({2})
und den Spekulationen mit Nahrungsmitteln, die auch
zentrale Ursachen für die Krise und den Hunger in Somalia sind.
({3})
Sie brauchen keine Eskalation des Krieges, wie sie
momentan stattfindet. Der Einmarsch kenianischer und
äthiopischer Truppen in den letzten Wochen wird die
Lage der Menschen in Somalia nur noch weiter verschlimmern. Wegen der Militäroperationen im Grenzgebiet können die vor der Dürre Flüchtenden nicht in die
Flüchtlingslager in Kenia gelangen. Deswegen und weil
wir eine grundsätzliche Umorientierung der Politik in Bezug auf Somalia fordern, sagen wir: Herr Westerwelle,
ändern Sie den eingeschlagenen Kurs!
({4})
Hören Sie auf, an einer korrupten Marionette festzuhalten!
({5})
Beenden Sie die Ausbildung von Bürgerkriegssoldaten
durch die Bundeswehr!
({6})
Denn das schafft kein sicheres Umfeld.
({7})
Setzen Sie auf gleichberechtigte Verhandlungen aller
Bürgerkriegsparteien, und geben Sie das Geld für humanitäre Hilfe statt für den Marineeinsatz aus!
({8})
Zeigen Sie, dass Ihnen die Somalier wirklich wichtig
sind und nicht, wie es in einem aktuellen Papier des
EU-Rates heißt, die „geostrategische Bedeutung der Region“.
Wir lehnen den Einsatz des Militärs zur Sicherung
von Handelsinteressen ab. Wir werden uns auch in diesem Jahr klar gegen die Mission Atalanta stellen.
({9})
Omid Nouripour hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Natürlich ist es das Ziel jeder Militärmission, dass sie sich so
schnell wie möglich überflüssig macht. Dass wir jetzt
bereits das vierte Mal über Atalanta entscheiden, zeigt,
wie groß und schwer die Aufgabe ist, die zu bewältigen
ist, und dass wir vom Ziel immer noch weit entfernt
sind. Die Zahl der Angriffe steigt nicht mehr. Es ist gut,
dass es immer weniger erfolgreiche Angriffe gibt, aber
man kann nicht einfach sagen, dass Atalanta bisher ein
riesengroßer Erfolg ist; denn Atalanta allein kann die
Probleme nicht lösen.
Wir als Grüne haben in den letzten Jahren dem Mandat mehrheitlich zugestimmt, weil wir gesagt haben: Es
ist eine notwendige Symptombekämpfung, nicht mehr
und nicht weniger. In diesem Zusammenhang möchte
ich, Herr Außenminister, eines hier empört zurückweisen. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt:
Denkt einfach nach, dann müsst ihr zustimmen. - In unserer Fraktion gibt es viele, die sich sehr intensiv mit
dem Thema beschäftigt haben und aus diversen Gründen
zu dem Ergebnis gekommen sind, dass sie Atalanta nicht
zustimmen. Das ist also nicht nur eine Frage des Nachdenkens. Da werden Sie Ihren eigenen Aufgaben nicht
gerecht.
Wir werden hier gleich Operation Active Endeavour
behandeln, eine Mission, die am Anfang Sinn gemacht
hat, aber in der Form, wie die Bundesregierung den
Mandatstext verhunzt, nicht wirklich zustimmungsfähig
ist. Man kann hier nicht einfach nur arrogant rufen:
Denk doch einmal nach, dann musst du doch meiner
Meinung sein. - So wird man der Ernsthaftigkeit eines
Militäreinsatzes nicht gerecht.
({0})
Die notwendige Symptombekämpfung wirft angesichts des jetzt vorliegenden Mandatstexts einige Fragen
auf. Antworten darauf kenne ich noch nicht; diese Fragen werden Thema in den Ausschussberatungen sein.
Warum kostet die Mission jetzt das Doppelte? Warum ist
die Mandatsobergrenze weiterhin dreimal so hoch wie
die Zahl der tatsächlich eingesetzten Soldatinnen und
Soldaten? Welche „präventiven Maßnahmen“, wie es im
Mandatstext heißt, sind jetzt erlaubt? Diese waren im
letzten Mandat noch nicht vorgesehen. Was bedeutet die
Aussage aus den Koalitionsreihen, dass man jetzt auch
schwer bewaffnete Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen an Bord der Schiffe zulassen möchte? Wird das jetzt
gemacht? Das wäre für uns ein Punkt, bei dem wir ernsthaft darüber nachdenken müssten, unsere Zustimmung
zum Mandat zu verweigern. Oder ist die Bundesregierung bereit, zu sagen, dass Herr Uhl da wieder einmal
nur vor sich hin redet?
Es geht auch um die Frage, wie mit den Festgesetzten
zu verfahren ist. Herr Staatssekretär, da müssen Sie eine
Lösung bieten. Es gibt derzeit keine. Die Lösung, die
Kollege Mützenich genannt hat, wird hoffentlich eines
Tages umgesetzt. Aber was passiert jetzt? Was machen
Soldatinnen und Soldaten heute mit Festgesetzten? Es
gibt derzeit keine Lösung. Das ist für die Soldatinnen
und Soldaten zutiefst frustrierend. Das ist auch sehr
teuer. Diese Situation muss schnellstmöglich verbessert
werden. Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, wird
der ganze Einsatz ein wenig absurd. Aber die politischen
Lösungen sind natürlich die zentralen.
Wir reden über eine der größten Hungerkatastrophen,
die es in dem Land je gegeben hat. Im Übrigen, Frau Kollegin Buchholz: Sie müssen bitte - um Gottes willen auch einmal ein Wort dazu sagen, wie die Lebensmittel
des World Food Programme ohne einen militärischen
Schutz tatsächlich an das Horn von Afrika kommen sollen. Dazu haben Sie kein Wort gesagt.
({1})
Wir haben natürlich weiterhin das Riesenproblem der
illegalen Fischerei. Wir haben einen regionalen Konflikt,
der deutlich zugenommen hat. Somalia wird auch immer
mehr zum Battleground regionaler Mächte. Dabei ist ein
Riesenproblem, dass die EU nicht unbedingt einheitlich
agiert. Die Franzosen unterstützen gerade die Intervention Kenias, die Briten sind in Uganda involviert, Eritrea
hat eine eigene Agenda, die Äthiopier ebenfalls, auch
mit amerikanischer Unterstützung.
Ich vermisse innerhalb der EU ein wenig die Stimme
der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Thema. Es
wäre gut, wenn Deutschland sich dafür einsetzte, dass die
Europäische Union einheitlicher agiert, damit wir zum
Beispiel das, was die UN seit Jahren beschließt, endlich
konsequent umsetzen, nämlich ein Waffenembargo gegen
Somalia. Dafür brauchen wir die Nachbarstaaten. Die
sind aber zurzeit nicht damit betraut, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Dieses Problem
kann in Brüssel nicht gelöst werden. Aber in Brüssel können Lösungen dafür entwickelt werden, wie man diese
Länder besser unter Druck setzen kann.
({2})
Philipp Mißfelder hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Satz zu Frau Buchholz: Mir ist bei Ihrer
Rede wieder einmal klar geworden, dass bei Ihnen - ich
beziehe das gar nicht auf Ihre Gesamtfraktion, weil es ja
auch bei Ihnen viele gibt, die im Ausschuss vernünftig
mitarbeiten - wirklich der Satz gilt: Ideologie vor Hilfe.
({0})
Das fällt mir an jedem Ihrer Beiträge auf. Ich verstehe
auch gar nicht, wieso sich Ihre Fraktion nicht einen Gefallen tut und auf die Beiträge an dieser Stelle einfach
verzichtet.
Zum Kollegen Nouripour möchte ich nur sagen: Ich
glaube, der letzte Punkt ist ein ganz wichtiger. Ich glaube
auch, dass sich die Bundesregierung dort zu Recht besonders engagiert und dass es in der Afrika-Politik nur
europäisch geht. Einzelmaßnahmen von Deutschland
oder Willenserklärungen unsererseits dürften hier also
nur relativ wenig bringen. Es ist tatsächlich so: Wenn
wir über die Ursachen in der Region selber reden, dann
muss man feststellen: Natürlich muss hier europäisches
Engagement entwickelt werden. Die Vielstimmigkeit
auch früherer Kolonialmächte an dieser Stelle ist gerade
schon angesprochen worden. Dies bedaure ich natürlich
sehr. Aber ich glaube, dass der Hinweis richtig war:
Wenn man das Problem wirklich an der Wurzel packen
will, ist dort natürlich auch weiterhin Engagement notwendig. Wir engagieren uns auch. Denn der Erfolg wird
nur an den Ergebnissen gemessen, und zwar zu Recht.
Deutschland steht als Mitglied der EU und der westlichen Wertegemeinschaft für grundlegende Werte. Dazu
gehört natürlich die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, von Menschenrechten und des Völkerrechts insgesamt. Dazu gehören auch freie Handelswege. Es ist kein
Selbstzweck, nur Exportinteressen oder Importinteressen durchzusetzen. Es ist in der Debatte schon sehr plastisch geschildert worden, meine Damen und Herren, wie
wichtig es ist, das World Food Programms zu unterstützen und auch das Völkerrecht durch die Mission Atalanta weiter durchzusetzen, weil es im Endeffekt natürlich auch darum geht, zu zeigen, dass wir die Region
insgesamt für wichtig halten und nicht nur die Handelswege im Blick haben.
({1})
Trotzdem: Als Exportnation und im Spannungsbogen
einer interessengeleiteten und werteorientierten Außenpolitik spielt auch dieses Thema immer eine Rolle; wir
lassen es auch gar nicht unter den Tisch fallen. Es ist
wichtig, auch den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern
zu sagen, warum die 558 Frauen und Männer - bei ihnen
haben wir uns gerade schon bedankt - mit ihrem Einsatz
einen wirklich wichtigen Beitrag leisten und warum wir
dieses Mandat jetzt erneut verlängern müssen. Ihre Aufgabe ist bei weitem noch nicht erledigt und ihre Mission
noch nicht zu Ende. Sie leisten an dieser Stelle wirklich
Hervorragendes. Ich möchte auch für meine Fraktion
noch einmal unterstreichen: Wir sind den Soldatinnen
und Soldaten, auch und gerade deshalb, weil sie ihren
Dienst unter sehr schwierigen Bedingungen tun, sehr
dankbar für das, was sie dort tun.
({2})
Die Mission Atalanta und die Aufgabe, die damit zu
bewältigen ist, bleiben schwierig. Die Piraten bedrohen
die Versorgung der hungernden Menschen in Somalia.
Wenn die Lieferungen des Welternährungsprogramms
auf dem Seeweg nicht durchkommen, dann geht die
letzte Hoffnung - wirklich die letzte Hoffnung - verloren. Insofern ist dies auch ein wichtiger Aspekt des humanitären Beitrags, der im Zentrum dieser Mission steht.
Die Bedrohung durch die Piraten ist nicht gebannt;
die Zahlen sind vorhin schon vorgetragen worden. Es
gibt tatsächlich immer mehr Zwischenfälle, selbst wenn
die Aufklärungsquote vor allem dank des militärischen
Engagements erhöht werden konnte.
Ich selbst finde auch, dass es richtig war, dass die
Reeder einen Beitrag dazu geleistet haben. Wir haben
immer darauf gedrungen, dass wir die Aufgabe nicht per
se übernehmen wollen. Gerade auch die Problematik der
Beflaggung ist vorhin schon geschildert worden. Ich
finde es richtig, dass der Verband Deutscher Reeder auch
eigene Maßnahmen ergriffen hat.
Zum Einsatz von privaten Diensten an dieser Stelle
möchte ich ganz klar sagen, dass wir solche Lösungen
grundsätzlich natürlich nicht bevorzugen. Ich finde es
auch richtig, dass wir uns hier im Bundestag darüber
weitestgehend einig sind. Ich finde es nicht richtig, wie
dies in anderen Ländern gehandhabt wird, dass beispielsweise in den USA - in der Debatte in der nächsten
Woche wird sich das zeigen - auch aus Kostengründen
mehr und mehr auf private Sicherheitsdienste zurückgegriffen wird.
Wir haben heute Haushaltsberatungen. Wir leisten
uns eine teure Bundeswehr, die gut ausgestattet, aber unter schwierigen Bedingungen auch in Einsätze geschickt
wird. Selbst wenn das die teurere Variante ist: Zur
Durchsetzung unserer Interessen ist das bei weitem die
bessere Variante, als diesen Sektor zu privatisieren und
damit auch einer demokratischen Kontrolle zu entziehen. Ich stimme den Vorbehalten ausdrücklich zu.
({3})
Nichtsdestotrotz werden die Reeder dadurch nicht aus
der Verantwortung entlassen, auch selber einen Beitrag
zu leisten und selbst zu überlegen, wie sie für Sicherheit
sorgen können. Dafür gibt es auch technische Möglichkeiten, die teilweise auch genutzt werden. Das ist ja auch
der richtige Weg, aber ich glaube, dass wir hier nicht alleine die politische Verantwortung für die Sicherung der
Seehandelswege übernehmen sollten, sondern dass tatsächlich auch ein Beitrag der Reeder selbst notwendig
ist. Darum haben wir auch sehr lange und sehr intensiv
mit den Reedern diskutiert.
Meine Damen und Herren, ich bitte auch im Namen
meiner Fraktion, dass wir diesem Mandat in der zweiten
Lesung zustimmen. Ich halte es auf jeden Fall für sinnvoll, diesen Einsatz fortzuführen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bitte im Weiteren um Unterstützung.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7742 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Vorlage finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt IV auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({0}) und 1373
({1}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/7743 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Verabredet ist es, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Nouripour, ich möchte zu Ihrem Beitrag von eben noch einen
Nachsatz machen.
Sie haben mich zitiert und gesagt, Sie seien ein bisschen empört. Ich bitte, mich dann auch umfassend zu zitieren. Ich habe niemandem den Verstand abgesprochen,
sondern ich habe gesagt: Wer ein bisschen nachdenkt
und sein Herz bewegt, der wird vor dem Hintergrund der
Tatsache, dass die 700 000 Tonnen Lebensmittel fast
ausschließlich über den Seeweg zu den Hungernden gelangt sind, zu der Entscheidung kommen müssen - aus
meiner Sicht jedenfalls -, dass man diesem Mandat zustimmt.
Sie werden es mir nachsehen: Als Außenminister
- auch schon vorher - bin ich sehr viel unterwegs. Ich
sammle sehr viele Spendengelder. Gerade bei solchen
humanitären Katastrophen - das ist mit Abstand eine der
größten, die wir weltweit derzeit kennen - möchte ich
denen, die spenden - auch den Bürgerinnen und Bürgern
in Deutschland, die spenden -, sagen können: Wir tun alles dafür, dass Ihre Spendengelder in Form von Nahrungsmitteln auch wirklich bei den Betroffenen ankommen.
({0})
Ich finde, das muss man einfach sehen.
Es bleibt Ihnen aber unbenommen: Nur so habe ich
das gesagt, und ich habe niemandem seine andere Meinung abgesprochen. Ich bitte Sie!
Wir kommen nun zu einem weiteren Mandat, einem
schwierigen Mandat; das will ich hier unumwunden
auch zum Ausdruck bringen. Unter dem Eindruck der
furchtbaren Terroranschläge des 11. Septembers hat der
Deutsche Bundestag im November des Jahres 2001 erstmalig ein Mandat erteilt, damit sich deutsche Streitkräfte
an den Einsätzen zum Schutz gegen den internationalen
Terrorismus beteiligen können.
Seit dem Sommer des Jahres 2010 ist dieses auf die
Operation Active Endeavour begrenzt. Viele von Ihnen
bewegt die Frage - bei uns, bei Ihnen -, ob dieser Einsatz zehn Jahre nach dem 11. September nicht abgeschlossen werden kann. Für diesen Abwägungsprozess
- das möchte ich hier ausdrücklich sagen - habe ich großes Verständnis. Auch ich habe mir diesen Abwägungsprozess nicht leicht gemacht und die völkerrechtliche
Frage mit unseren Experten und der Völkerrechtsbeauftragten nachdrücklich erörtert. Aber ich denke, dass sich
die Bundesregierung bewusst sein muss und bewusst ist,
dass der Einsatz im Hause nicht unumstritten ist.
Die Notwendigkeit einer umfassenden Bekämpfung
des internationalen Terrorismus bleibt aber bestehen. Sie
ist weiterhin eine der zentralen Herausforderungen für
die internationale Staatengemeinschaft. Das hat erst
kürzlich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit
der Resolution 1989 vom 17. Juni 2011 unzweideutig erneut zum Ausdruck gebracht. Das ist eine neue Resolution vom Sommer dieses Jahres.
Ein wichtiger Bestandteil der gemeinsamen Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft bleibt die Bereitstellung entsprechender militärischer Fähigkeiten.
Die NATO-geführte Seeraumüberwachungsoperation
steht für den gemeinsamen Handlungswillen der Staatengemeinschaft gegen die Bedrohung des internationalen Terrorismus. Die deutsche Beteiligung an OAE dient
der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion der NATO
auf die terroristischen Angriffe gegen die Vereinigten
Staaten von Amerika. Das heißt, wir haben bei dem
Mandat nicht nur die Geschichte, sondern selbstverständlich auch die Bündnisaspekte zu berücksichtigen.
Erst vor wenigen Wochen hat Präsident Obama einen
Brief an den NATO-Generalsekretär Rasmussen geschrieben. In diesem Brief bedankt er sich im Namen des
amerikanischen Volkes ausdrücklich für die Solidarität,
die die NATO-Partner durch ihre Teilnahme an OAE bis
heute zeigen. Auch dieser Aspekt muss mit erwogen
werden, wenn man hier zu einer Entscheidung kommen
möchte.
({1})
Deutschland ist ein verlässlicher Partner. Wir zeigen
mit unserer Beteiligung an der Operation Solidarität im
Bündnis. Ich muss Ihnen das so sagen, weil Sie alle wissen, dass wir in diesem Jahr einiges versucht und bewegt
haben. Alle unsere Partner, und zwar ohne Ausnahme,
halten eine Fortsetzung von Active Endeavour für erforderlich. Ich bitte Sie, dies bei Ihrer Abwägungsentscheidung mit zur Kenntnis zu nehmen.
Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern aber überprüft die Bundesregierung, ob und wie die Operation
Active Endeavour mittelfristig in ständige NATO-Operationen integriert werden kann. Ich habe bereits mehrfach meine Sympathie für diese Richtung zum Ausdruck
gebracht, beim letzten Mal auch hier. Ich muss aber hinzufügen: Wir können das nicht alleine tun. Es gibt Fortschritte. Die werden Sie anerkennen. Wir brauchen den
Konsens in der NATO. Um den zu erreichen, müssen wir
auch mit der notwendigen Umsicht vorgehen.
Das neue Strategische Konzept der NATO definiert
kollektive Verteidigung und kooperative Sicherheit als
Kernaufgaben des Bündnisses. Beide Kernaufgaben
werden bei OAE miteinander verbunden. Die Operation
dient der kollektiven Verteidigung gemäß Art. 5 des
NATO-Vertrages; auf diesen völkerrechtlichen Zusammenhang weise ich noch einmal hin. Darüber hinaus verfolgt sie den Ansatz der kooperativen Sicherheit. Mehrere Partnerstaaten der NATO beteiligen sich an OAE, so
etwa Russland, die Ukraine und Marokko. Damit dient
die Operation auch der Vertrauensbildung zwischen den
Partnerstaaten. Auch diesen Gesichtspunkt dürfen wir
nicht ignorieren.
({2})
Die NATO legte bei OAE einen Schwerpunkt auf Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung.
Alle Beteiligten profitieren durch ein verbessertes Lagebild. Auch das darf nicht ignoriert werden. Wer würde
bestreiten, dass ein solches Lagebild gerade im Süden
unseres Bündnisgebietes und gerade zu diesen Zeiten
notwendiger denn je ist? Schließlich gibt es Entwicklungen, die wir noch nicht zu Ende kalkulieren können, gerade im Bereich des südlichen Mittelmeeres.
Das Mittelmeer ist eine der Hauptadern des internationalen Seeverkehrs. Die Unsicherheiten in der Region
südlich des Mittelmeeres nehmen derzeit leider nicht ab,
sondern die Unsicherheiten nehmen zu. Präsenz und
Überwachung vor Ort sind daher weiter erforderlich.
Auch wenn die Anwendung militärischer Gewalt in der
Vergangenheit überwiegend nicht zum Tragen gekommen ist, was eine gute Nachricht ist, so sieht der Operationsplan von OAE entsprechende Befugnisse weiter
vor. Darum ist es richtig, dass der Deutsche Bundestag
über dieses Mandat entscheidet.
Die NATO-geführte Seeraumüberwachungsoperation
ist sinnvoll und notwendig, und zwar aus sicherheitspolitischen wie aus bündnispolitischen Überlegungen. Das
sage ich deshalb, weil ich weiß, dass das im Ausschuss
ein Thema ist, und es war natürlich auch im letzten Jahr
ein wichtiges Thema. Das wissen Sie, und Sie wissen,
dass das bei uns erwogen und genauestens erörtert worden ist. Damit wir die richtige Geschäftsgrundlage unserer Entscheidung haben, möchte ich es noch einmal für
die Bundesregierung gewissermaßen amtlich einführen:
Durch Art. 51 der UN-Charta und die Resolutionen 1368
und 1373 sowie entsprechende Folgeresolutionen, von
denen ich eine bereits genannt habe, ist die Operation
völkerrechtlich eindeutig legitimiert. Das klarzustellen,
sind wir auch den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr schuldig, die an dieser Mission mitwirken und denen wir aufrichtig danken und unsere Anerkennung zum
Ausdruck bringen möchten.
Ich bitte daher den Bundestag, dem Mandat zuzustimmen.
({3})
Ullrich Meßmer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Außenminister, schon Ihre Begründung zeigt, dass das,
was Sie am Schluss zum Thema Sicherheit gesagt haben,
nämlich dass das Mandat völkerrechtlich abgesichert ist,
offensichtlich nicht zutrifft. Ich würde mir das wünschen, was wir vor einem Jahr angeboten haben, nämlich
in der Ausschussberatung darüber zu reden, wie man ein
Mandat formuliert, das nicht zu einer völkerrechtlichen
Diskussion führt, das wir dann vielleicht im Deutschen
Bundestag gemeinsam zustande bekommen.
Auch wir haben ein Interesse daran, dass die neue
NATO-Strategie greift. Das will ich alles gar nicht bestreiten. Aber wir reden über ein Mandat, das, wie ich
finde, eine Geschichte hat, die ursprünglich dadurch entstanden ist, dass auch im Mittelmeerraum eine aktive
Bekämpfung des Terrorismus stattfinden sollte. Wir reden über ein Mandat, das gemeinsam mit einer anderen
Operation, der Operation Enduring Freedom, entstanden
und hier schon mehrfach gemeinsam verlängert worden
ist.
Man hätte an dieser Stelle, wenn man sich Mitte 2010
den wie so oft, auch von uns, vorgetragenen Argumenten, aus dem Mandat auszusteigen, gebeugt hätte oder
sie eingesehen hätte, auch dieses Mandat, über das wir
jetzt reden, neu definieren und andere Begründungszusammenhänge herstellen müssen.
Lassen Sie mich zwei Punkte nennen, die ich zum
Teil als widersprüchlich empfinde. Ich weiß, dass mir
gleich wieder erklärt wird, was in den Resolutionen
steht. Aber ich denke, eine Mission, die ausschließlich
auf Präsenz und Informationsgewinnung ausgelegt ist,
verdient es nicht mehr, dass noch ein Kampfauftrag für
die Soldaten formuliert wird. Fast alles, auch die gesamte Begründung zu diesem Antrag, spricht davon,
dass man Präsenz zeigen, überwachen und helfen will.
Aber nirgendwo, auch in der Begründung nicht, steht ein
direkter Kampfauftrag. Am Ende steht ein Satz, Herr
Staatssekretär, in dem darauf hingewiesen wird, dass
dies möglich werden könnte. Grundlage für den Einsatz
war aber nicht, dass irgendetwas möglich werden
könnte, sondern, wie der Außenminister zu Recht feststellte, der Anschlag im September 2001. Die Grundlage
war, dass ein Bündnisfall gegenüber einem Partnerland
der NATO festgestellt wurde und dass damit alle verpflichtet sind, entsprechend zu helfen. Jetzt, nach zehn
Jahren, stellt sich die Frage, wie weit wir von dem
Thema weg sind oder ob man beliebig oft neue Begründungen finden kann. Ich denke, damit müssen wir langsam Schluss machen. Wir müssen sagen, was wir wollen, statt uns nur auf eine einmal getroffene Begründung
zu berufen.
Ich will dazu auch deutlich sagen - die Frage wird
sich stellen, auch wenn es jetzt nicht unser Thema ist -:
Wir wissen seit 2001, wie man einen Bündnisfall feststellt. Aber wir haben keine Regeln und Wege, wie man
aus dem Bündnisfall herauskommt. Ich hätte mir gewünscht, Herr Westerwelle, dass Sie etwas dazu gesagt
hätten, welche Aktivitäten die Bundesregierung innerhalb der NATO ergriffen hat, um auch diese Fragen zu
klären, damit wir im Parlament darüber informiert sind.
Bei uns überwiegen die Bedenken. Wir halten das
Mandat in der Form, in der es beantragt wird, für überholt. Wir möchten festhalten, dass wir keine aktuelle
Terrorgefahr oder terroristische Aktivitäten im Mittelmeerraum sehen. Wenn wir sagen, dass wir diese Gefahren nicht sehen, so wollen wir uns nicht dem Vorwurf
aussetzen, bündnisuntreu zu werden. Ich glaube, wir zeigen jeden Tag, zum Beispiel mit unseren Entscheidungen zu UNIFIL und zu ISAF, deutlich, dass wir bündnistreu sind. Aber - das sage ich in Richtung der
Regierung - wenn wir im Mittelmeer hätten etwas mehr
Präsenz zeigen und Bündnistreue beweisen wollen, dann
hätten wir das im Zusammenhang mit der Entscheidung
zu Libyen tun können. Dann hätten wir jetzt eine andere
Situation, über die wir sprechen könnten.
Wir stimmen dem Antrag in der derzeitigen Fassung
nicht zu, weil wir ihn nicht für zustimmungsfähig halten.
Wir sind der Meinung, dass es sicherlich richtig und
sinnvoll ist, weiterhin den Terrorismus zu bekämpfen
und eine vernetzte Sicherheit herzustellen. Das sollte
aber nicht auf dieser Rechtsgrundlage geschehen; wir
sollten vielmehr darüber reden, wie ein solches Mandat
aussehen kann. Dafür werden wir sicherlich passende
Gesprächspartner sein.
Es treibt uns schon die Sorge um, dass man nicht
weiß, wann ein Bündnisfall, der vielleicht demnächst
wieder eintritt, eigentlich beendet ist. Wir müssen dringend klären, wann ein Bündnisfall, der einmal eingetreten ist, beendet ist. Wir sind der Meinung, dass es sinnvoll wäre, dann das Gespräch weiterhin zu suchen. Es
wäre auch gut, wenn es uns gelingen würde, gemeinsam
ein tragfähiges, der aktuellen Lage entsprechendes Mandat zu formulieren. Aber ich habe den Eindruck, dass
diese Chance möglicherweise erneut vertan wird, es sei
denn, wir finden in den nächsten Beratungen eine Formulierung. Nachdem ich aber schon im letzten Jahr der
Debatte gefolgt bin, habe ich die Befürchtung, dass wir
auch in einem Jahr wieder an derselben Stelle stehen
werden.
Ich möchte noch einmal deutlich sagen: Die Beobachtung, die Überwachung und das Sammeln von Informationen im Mittelmeerraum sind etwas anderes als das Bekämpfen. Bündnissolidarität steht für uns zweifelsohne
ganz oben an, aber sie hat - das ist unsere Position nichts mit dem Ursprung und der Grundlage dieses Mandats zu tun. Deshalb werden wir voraussichtlich, je nachdem wie die Beratungen ausgehen, diesem Mandat unsere Zustimmung nicht erteilen können.
Herzlichen Dank.
({0})
Thomas Kossendey hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Operation Active Endeavour ist ein deutlich sichtbares Zeichen unserer Bündnissolidarität, insbesondere
- auch das gilt noch nach zehn Jahren - gegenüber den
Vereinigten Staaten. Sie ist die einzige Artikel-5-Operation der NATO, und sie dient der Abschreckung terroristischer Aktivitäten im Mittelmeerraum. Falls erforder17020
lich - deswegen bitten wir Sie um Zustimmung zu
diesem Mandat -, kann das auch bedeuten, dass diese
Aktivitäten terroristischer Art aktiv bekämpft werden
müssen.
Kollege Meßmer hat angedeutet, er sehe im Augenblick keine Gefahr im Mittelmeerraum. Lieber Kollege
Meßmer, wenn Sie sich vor Augen führen, dass sich der
nordafrikanische Raum von Ost bis West im Augenblick
in einem fundamentalen Umbruch befindet und diese
Länder selber im Mittelmeerraum nicht für Sicherheit
sorgen können, dann müsste sich eigentlich bei Ihnen ein
anderes Bild einstellen.
({0})
Für uns und für alle, die bei der Operation Active Endeavour mitmachen, sendet diese Aktion ein ganz wichtiges Signal der Entschlossenheit. Das wird auch durch
die Resolution der Vereinten Nationen sehr deutlich, von
der Außenminister Westerwelle gesprochen hat. Es sollte
für uns ein Anlass zum Nachdenken sein, dass alle
Bündnispartner in der NATO das genauso sehen. Wir
werden unsere Politik deshalb weiterhin an dieser Linie
ausrichten. Wir werden den Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch terroristische Aktivitäten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen Einhalt gebieten, und zwar im Wesentlichen nach wie vor präventiv. Darum geht es ja bei Active
Endeavour.
Diese Operation stützt sich auf das Maritime Kommando der NATO in Neapel. Deutsche Soldaten sind an
diesem Kommando beteiligt. Die Operation Active Endeavour wirkt allein schon durch die maritime Präsenz
im Mittelmeer und durch die Überwachung. Ich glaube,
dass die Lagebilderstellung und die Kontrolle des Seeverkehrs ein ganz wichtiger Beitrag sind, wenn wir Terror präventiv bekämpfen wollen. Natürlich darf dabei,
um abschreckend zu wirken, das exekutive Element
nicht fehlen. Deswegen bleibt es ein integraler Bestandteil unseres Mandats. Aufklärung und Abschreckung
sind das erste Ziel, ohne dass deswegen militärische Aktivitäten auszuschließen sind.
({1})
Wer schon einmal in Neapel zu Gast war, dem steht die
Fortentwicklung dieses Mandats geradezu direkt vor Augen.
Diese Operation wird zu einer netzwerkbasierten Seeraumüberwachung fortentwickelt. Das wollen wir dann
im Rahmen einer ständigen NATO-Mission weiterführen. Ich glaube, darüber gibt es im Bündnis Konsens.
Was wir allerdings brauchen, ist eine sehr präzise Ausarbeitung dieser Seeraumüberwachung. Was noch notwendiger ist: Wir brauchen die technischen Möglichkeiten
dafür. Das wird in diesem und im nächsten Jahr so
schnell nicht zu schaffen sein. Deswegen bitte ich Sie
auch heute wieder, diesem Mandat zuzustimmen.
Für Sie sollte auch ein Anlass zum Nachdenken sein,
dass Russland und die Ukraine an dieser Aufgabe, an der
Operation Active Endeavour, mitwirken. Das ist durchaus ein deutliches Signal dafür, dass wir damit auch für
Länder jenseits der NATO Sicherheit schaffen. Ich nenne
zum Beispiel Marokko als beteiligtes Land.
Wir haben uns im letzten Jahr beteiligt und werden
uns im nächsten Jahr beteiligen mit zwei Fregatten und
einem U-Boot. Nach dem Ende der Operation Unified
Protector beteiligen sich deutsche Soldatinnen und Soldaten auch wieder im Rahmen des Einsatzes der
AWACS-Aufklärungsflugzeuge. Die Integration von Fregatten auf dem Weg zu weiter entfernten Einsatz- und
Übungsgebieten im Rahmen der Operation Active Endeavour hat sich bewährt und ist letztendlich ein sinnvoller Umgang mit unseren knappen Ressourcen. Auch das
sollten wir hier genügend respektieren.
Wir werden also, was das Mandat angeht, den bisherigen vernünftigen, völkerrechtlich eindeutig legitimierten
Ansatz konsequent fortführen. Das künftige Mandat ist
im Wesentlichen unverändert, beinhaltet allerdings auch
Anpassungen an die Lage. Kollege Meßmer, wenn Sie
sich den Punkt „4. Auftrag“ einmal genau anschauen,
werden Sie feststellen, dass wir im ersten und letzten
Absatz durchaus Änderungen vorgenommen haben, die
sinnvoll sind und schon deutlich darauf hinweisen, in
welche Richtung dieses Mandat weiterentwickelt werden soll, damit wir es eines Tages in eine ständige
NATO-Operation überführen können.
Die Beteiligung an der Operation Active Endeavour
unterstreicht unsere Bündnisfähigkeit. Die Operation hat
nichts von ihrer Bedeutung verloren. Wir tun unseren
Soldaten, die auf Schiffen und in Flugzeugen Dienst tun,
einen Gefallen, wenn wir die Diskussion hier sachlich
und sachgerecht führen und am Ende mit möglichst breiter Mehrheit zustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Paul Schäfer hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle
Jahre wieder: Zehn Jahre nach den Terroranschlägen von
New York und Washington sollen für die Antiterrormission Active Endeavour 700 Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr im Mittelmeer eingesetzt werden können. Der Einsatz von Gewalt ist gestattet - wozu, bleibt
mehr als unklar. Ursprünglich sollten Al-Qaida-Terroristen Rückzugsmöglichkeiten versperrt werden und sollten
Terroranschläge auf strategisch wichtige Transportschiffe unterbunden werden. Ernsthafte Belege, dass
man mit dieser Mission tatsächliche Bedrohungen und
Gefahren abgewendet hat oder abwenden könnte, gibt es
keine.
({0})
Paul Schäfer ({1})
An der Antiterrormission Enduring Freedom beteiligt
sich die Bundesrepublik Deutschland aus guten Gründen
nicht mehr. Warum also sollten wir der Beteiligung an
der Operation Active Endeavour zustimmen?
Zu welchen gedanklichen Verrenkungen und Verbiegungen die Bundesregierung greifen muss, um dieses
Mandat zu begründen, zeigt der vorliegende Antrag: Der
Terrorangriff von New York dauere quasi bis heute an,
da es ja immer wieder Anschläge gegeben habe. Entschuldigung, aber wie man mit den Marineeinheiten im
Mittelmeer die Anschläge in London, Madrid oder
Detroit hätte vereiteln können, das bleibt wirklich das
exklusive Geheimnis dieser Bundesregierung.
({2})
Noch einmal: Es gibt keine militärische Bedrohung,
gegen die sich der Marineeinsatz richten könnte. Die
NATO sagt doch selbst, dass es bei Active Endeavour im
Kern um etwas anderes geht: Ihr primäres Interesse gilt
der Etablierung eines umfassenden Systems der Seeraumüberwachung.
({3})
Staatsminister Hoyer hat schon im letzten Jahr von einem innovativen Zentrum und einem Sicherheitsnetzwerk gesprochen. Das klingt harmlos, ist aber alles andere als harmlos. Es geht um eine machtpolitische
Demonstration, um Machtausübung und um eine Anmaßung: Ohne Mandat der UNO, ohne Zustimmung der
Anrainerstaaten will die NATO im gesamten Mittelmeerraum quasi dauerhaft polizeiliche Aufsichts- und
Kontrollfunktionen ausüben. Man verspricht sich davon
Vorteile wie die umfassende Kontrolle des Seehandels.
Man will sich damit auch neue Optionen auf schnelle
militärische Reaktionen auf unliebsame politische Entwicklungen in den Anrainerstaaten erschließen.
Beim Libyen-Einsatz der NATO hat Active Endeavour nur in den Anfangstagen eine kleine Rolle gespielt.
Das kann sich aber beim nächsten Anlass ändern. Im
Antrag der Bundesregierung deutet man zumindest an,
dass aus der passiven Überwachung großer Räume auch
offensive militärische Handlungen werden können. In
Ihrem Antrag ist von der „Unterstützung spezifischer
Operationen der NATO … in Reaktion auf mögliche terroristische Aktivitäten im Mittelmeer“ die Rede. Das ist
ein weites Feld. Damit lässt sich vieles rechtfertigen,
ohne dass dieses Parlament es kontrollieren kann. Und
einem solchen Mandat sollen wir zustimmen? Niemals!
({4})
Es scheint überhaupt gängige Praxis zu werden,
gestützt auf Art. 5 des NATO-Vertrages allgemeine Ermächtigungen für Militäreinsätze aller Art zu erteilen.
Beim jüngsten Besuch des Verteidigungsausschusses in
Brüssel haben wir auch mit dem damaligen Direktor des
Militärausschusses, Herrn Di Paola, gesprochen. - Ja, er
ist der neue Verteidigungsminister Italiens. Auf meine
Frage, wann denn die atlantische Allianz den Bündnisfall aufzuheben gedenke, hat er sich völlig erstaunt gezeigt und gesagt, das sei doch ein symbolischer Akt der
Solidarität gewesen, und natürlich gelte diese Solidarität
über den Tag hinaus. So gesehen stellt sich in der Tat die
Frage nach der Aufhebung des Bündnisfalles ebenso wenig wie nach der Beendigung von Active Endeavour.
Dann kann man diese militärischen Aktionen endlos
weiterlaufen lassen und sie je nach Bedarf umfunktionieren. Genau das passiert hier. Dass damit de facto Kontroll- und Mitentscheidungsrechte des Parlaments ad absurdum geführt werden, ist Ihnen offensichtlich entgangen.
({5})
Die Perspektive wird nicht deutlich, sondern diffus
formuliert. Man wird über die Bedrohung, gegen die sich
der Einsatz richtet, im Unklaren gelassen. Das Ziel des
Marineeinsatzes ist so umfassend und unspezifisch, dass
alles und jedes einbezogen werden kann. Die Risiken,
sich in andere Einsätze zu verstricken, deuten Sie nur an;
Sie benennen sie aber nicht klar. Daher ist die Notwendigkeit einer deutschen Beteiligung an einer solchen Militärmission mitnichten gegeben. Wir können zu diesem
Militäreinsatz nur Nein sagen.
Danke.
({6})
Katja Keul hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Außenminister, Sie legen uns ein Mandat
für einen bewaffneten Einsatz von bis zu 700 Soldaten
vor, um im Mittelmeer einen terroristischen Angriff auf
die Bündnispartner abzuwehren. Als völkerrechtliche
Grundlage für diesen Einsatz verweisen Sie auf das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht gegen
die terroristischen Angriffe auf die USA vom 11. September 2001. Dieser Angriff, so heißt es im Mandat,
dauere bis heute an.
Ich will hier keine juristischen Ausführungen zur Definition und zur Unmittelbarkeit eines Angriffs oder zur
Definition und zum Umfang des Selbstverteidigungsrechts machen. Aber zu behaupten, die terroristischen
Angriffe auf die USA im Jahr 2001 dauerten bis heute an
und man dürfe deshalb überall auf der Welt für unbegrenzte Zeit bewaffnete Einsätze ohne Mandat des Sicherheitsrates auf den Weg bringen, das haben wir Ihnen
schon bei OEF nicht durchgehen lassen, und das machen
wir auch bei Active Endeavour nicht mit.
({0})
Diesem Einsatz fehlt es an einer völkerrechtlichen
Legitimation, was allein schon Grund genug wäre, das
Mandat abzulehnen. Es gibt aber noch mehr gute
Gründe.
Der Einsatz der Bundeswehr im Mittelmeer steht weder in einem zeitlichen noch in einem geografischen
noch in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Anschlag auf das World Trade Center. Der Auftrag lautet:
aktive Bekämpfung möglicher terroristischer Aktivitäten
im Mittelmeer. Was Sie hier seit zehn Jahren für möglich
halten, hat es bislang allerdings nicht gegeben.
Herr Kossendey, wenn Sie an dieser Stelle auf Nordafrika und die Demokratiebewegung verweisen, finde
ich das eigentlich mehr als bedenklich. Brauchen wir einen bewaffneten Einsatz, um die Demokratiebewegung
zu überwachen? Das kann doch wohl nicht sein.
({1})
Durch den Einsatz, so heißt es weiter, werde - angeblich - ein Beitrag zur maritimen Sicherheit geleistet.
Nun wissen wir alle, dass wir in der Tat ein massives
Problem mit der maritimen Sicherheit am Horn von Afrika haben. Deshalb befürwortet meine Fraktion ganz
überwiegend den Atalanta-Einsatz der Marine zur Piratenbekämpfung.
({2})
Von Piraten im Mittelmeer war allerdings bislang noch
nie die Rede, zumal es auch erstaunlich wäre, Piraten
ausgerechnet mit einem U-Boot bekämpfen zu wollen.
({3})
Obwohl seit Beginn des Einsatzes keine Terroristen
im Mittelmeer gefunden wurden, sieht der Operationsplan nach wie vor die Anwendung militärischer Gewalt
zur Erfüllung des Auftrages vor. Wozu soll das gut sein?
Um Lagebilder zu gewinnen oder auszutauschen, braucht
es keinen bewaffneten Einsatz.
({4})
Als letzter Spiegelstrich steht bei den Aufgaben - Zitat -:
Unterstützung spezifischer Operationen der NATO
oder weiterer Partner in Reaktion auf mögliche terroristische Aktivitäten im Mittelmeer.
Was für spezifische Operationen sollen das sein?
Wenn Sie von uns ernsthaft eine Zustimmung erwarten,
dann müssen Sie sich schon etwas genauer ausdrücken.
Ich habe den Mandatstext immer wieder gelesen, auf
der Suche nach dem tieferen Sinn dieses Antiterroreinsatzes, und habe schließlich in der Begründung tatsächlich noch etwas gefunden. Dort heißt es nämlich - Zitat -:
Operation Active Endeavour bietet somit einen Ansatzpunkt zur Implementierung der aktuellen Maritimen Strategie der NATO …
Das ist die einzig schlüssige Begründung, die der Text
enthält. Aber leider ist sie nicht geeignet, einen bewaffneten Einsatz zu legitimieren.
({5})
Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie sich gegenüber den
Bündnispartnern endlich offen dafür einsetzen, diesen
Einsatz ebenso zu beenden, wie Sie auch OEF beendet
haben.
Sie haben übrigens schon wieder vergessen, die Mandatsobergrenze angemessen herabzusetzen. Im letzten
Jahr schwankte die Zahl der Soldatinnen und Soldaten
im Einsatz zwischen 0 und 430. Wieso beantragen Sie
trotz Beendigung von OEF nach wie vor unvermindert
700 Soldatinnen und Soldaten?
Im Mandatstext berufen Sie sich auf die anhaltende
Bedrohung des Weltfriedens. Sie können sicher sein,
dass uns Grünen der Weltfrieden ganz besonders am
Herzen liegt.
({6})
Um den Weltfrieden zu schützen, brauchen Sie aber andere, politische Lösungen. Mit einem zeitlich und geografisch unbegrenzten Antiterrorkrieg wird Ihnen das
nicht gelingen, auch nicht mit U-Booten im Mittelmeer.
Vielen Dank.
({7})
Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem Hinweis auf den Weltfrieden haben Sie viel Zustimmung aus unseren Reihen ausgelöst.
({0})
Es schadet aber auch nicht, sich mit der Sache noch einmal zu beschäftigen; denn das, was Sie zum Thema Terrorismusbekämpfung gesagt haben, trifft nicht ganz zu.
Natürlich, wenn man im Bündnis zu einer gemeinsamen Einschätzung kommt, ist das zeitlich nicht unbegrenzt; darüber brauchen wir hier gar nicht zu diskutieren. Wir nehmen eine Mandatierung vor. Wir erneuern
ein Mandat. Es ist ja nicht so, dass wir das ohne Parlamentsbeteiligung oder am Parlament vorbei tun. Wir diskutieren das Ganze zu einer für parlamentarische Verhältnisse späten Stunde. Die Erneuerung dieses Mandats
geschieht hier absolut transparent. Wir tauschen hier
sachliche Argumente aus. Die Beurteilung im Bündnis
selber ist nun einmal eine andere als die, die Sie gerade
vorgenommen haben, auch indem Sie versucht haben, zu
persiflieren, etwa durch den Hinweis auf die U-Boote.
Wenn man den internationalen Terror als Bedrohung
ernst nimmt, dann muss man tatsächlich bereit sein, sich
auf bestimmte Szenarien einzulassen. Die NATO ist bereit, sich darauf einzulassen und sich mit diesen Fragen
zu beschäftigen. Gerade vor dem Hintergrund der Umbrüche in der arabischen Welt ist überhaupt nicht auszuPhilipp Mißfelder
schließen, dass der Ansporn für Terroristen an manchen
Stellen zunehmen wird. Darauf reagiert die NATO adäquat und maßvoll, wie ich finde. Deshalb steht dieses
Mandat zu Recht vor der Verlängerung.
({1})
Dieses Mandat ist völkerrechtlich legitimiert; daran
gibt es überhaupt keinen Zweifel. Ich möchte auch an
dieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten danken. Die
Obergrenze ist bewusst gewählt: 349 Frauen und Männer sind aktuell für Active Endeavour im Einsatz. Für
den Fall, dass ein Schiff durch das Einsatzgebiet fährt
- der Kollege Hardt hat das hier schon vor zwölf Monaten sehr plastisch geschildert -, gibt es unterschiedliche
rechtliche Bewertungen, welche Reaktion darauf von
diesem Mandat gedeckt ist. Die Mandatsobergrenze ist
also bewusst so hoch gesetzt worden, um nämlich rechtlichen Problemen aus dem Weg zu gehen. Das ist hier
schon im vergangenen Jahr deutlich gemacht worden.
Damals gab es darüber einen Streit zwischen dem Kollegen Hardt und dem Kollegen Nouripour. Dennoch wollte
ich das an dieser Stelle gerne noch einmal aufgreifen und
Ihnen erklären; denn es schadet ja nicht, festzustellen:
Was vor einem Jahr richtig war, ist nach wie vor gültig.
({2})
Es gibt für uns drei Gründe, das Mandat fortzusetzen:
Der erste Grund ist die Sicherheit.
Zweitens ist die Fortsetzung notwendig, um im Mittelmeerraum präsent zu sein, gerade weil wir in der Lageeinschätzung dazu kommen, dass wir nicht davon ausgehen können, dass die Sicherheit auf den Seewegen
automatisch gegeben ist.
Der dritte Grund - das ist ein wichtiges Argument,
und wir haben es auch an anderer Stelle schon häufig bemüht - ist die Bündnissolidarität. Das ist kein Selbstzweck. Aber dort, wo es maßvoll und geboten ist und wo
der Einsatz und die Kosten des Einsatzes in einem überschaubaren Verhältnis stehen, ist es richtig, den Wünschen der NATO-Partner nachzukommen, selbst wenn
Sie persönlich hier zu einem anderen Urteil kommen.
Wir sollten eine solche Frage nicht allein entscheiden. Es
ist eine Frage der Teilhabe am Bündnis. Vor diesem Hintergrund werbe ich dafür, dass wir als Deutscher Bundestag eine solche Mission nicht einseitig für beendet
erklären, wie Ihre Fraktionen es leider getan haben. Vielmehr müssen wir unserer Verantwortung im Bündnis gerecht werden. Bündnissolidarität bedeutet für uns eben
auch, in Abstimmung mit den NATO-Partnern zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen und sie im Deutschen Bundestag gemeinsam zu vertreten.
({3})
Zur Erinnerung möchte ich sagen: Die Terrorgefahr
ist überhaupt nicht gebannt. In den vergangenen zehn
Jahren hat es fast jedes Jahr erhebliche Terrorbedrohungen gegeben, ob durch die Sauerland-Bomber, die Attentate in Madrid, den vereitelten Anschlag am Detroiter
Flughafen oder den sogenannten Times-Square-Bomber.
Das Phänomen des internationalen Terrorismus ist weltweit nicht gebannt. Wenn Sie hier sagen, im Mittelmeer
sei noch nichts passiert, möchte ich darauf hinweisen,
dass die Präsenz der NATO, auch wenn es sich nur um
eine geringe Präsenz handelt, vielleicht ein Grund dafür
ist, dass die Terroristen bei ihrer Einschätzung der Lage
zu dem Ergebnis kommen, dass es sich nicht lohnt, dort
aktiv zu werden oder Terroristenlinien aufzubauen. Die
Terroristen wissen, dass die NATO an dieser Stelle robust durchgreifen könnte.
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Keul zulassen?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, dass Sie um diese Uhrzeit noch Zwischenfragen zulassen. - Herr Kollege Mißfelder, wenn
Anschläge in New York, Madrid oder sonst wo auf der
Welt die bewaffnete Präsenz der NATO im Mittelmeer
erfordern, heißt das dann in der logischen Konsequenz,
dass diese Präsenz überall auf der Welt erforderlich ist?
Wo sind die Grenzen des Einsatzes, wenn ein Anschlag
in New York einen bewaffneten Einsatz im Mittelmeer
rechtfertigt? Wo sehen Sie die Grenzen für eine solche
Reaktion?
Das kann ich Ihnen erklären. Die Einschätzung der
Lage liegt dem zugrunde. Darüber wird innerhalb der
NATO natürlich diskutiert.
Zu Ihrer Erinnerung: Die Anschläge, mit denen wir
am 11. September 2001 konfrontiert worden sind, sind
nicht in einem Vorort von New York konzipiert worden,
sondern sie sind in Hamburg, in Pakistan, in Afghanistan
und an ganz anderen Orten, von denen wir zum Teil gar
nichts wissen, konzipiert worden. Wenn man weiß, dass
irgendwo eine terroristische Bedrohung vorhanden sein
könnte - die Einschätzung der Lage im Mittelmeerraum
ist in der NATO weitestgehend unumstritten -,
({0})
schadet es nicht, Präsenz zu zeigen und auch robust aufzutreten.
Ich möchte die Frage einmal andersherum beantworten. Sie müssen sich eines vor Augen führen: Sollte es
tatsächlich hier in Deutschland oder anderswo in Europa
zu einem Anschlag kommen und dabei jemand nachweislich über den Seeweg nach Europa gekommen sein,
sollten terroristische Gruppierungen beispielsweise Seehandelswege im Mittelmeer einschränken und dort einen
Anschlag vornehmen können, nur weil wir damit nicht
gerechnet haben, dann - das sage ich Ihnen ganz klar bin ich nicht bereit, mich vor dem Hintergrund der heuti17024
gen Debatte hier hinzustellen und zu sagen: Meine Damen und Herren, wir haben es nicht gewusst; dieses Szenario war überhaupt nicht denkbar. In Wirklichkeit
handelt es sich nämlich um ein durchaus denkbares Szenario. Auch wenn es bisher nicht eingetreten ist, ist man
im Bündnis zu der Einschätzung gekommen, dass es eintreten kann. Deswegen werden wir unserer Bündnisverpflichtung an dieser Stelle gerecht werden.
Möchten Sie auch noch die Zwischenfrage von Herrn
Nouripour zulassen?
Nein. Ich möchte jetzt meinen Beitrag beenden und
zum Schluss einfach um die Zustimmung zu diesem
Mandat bitten, wenn wir hier darüber abstimmen werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7743 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 24. November
2011, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.