Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/10/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zur 139. Sitzung des Bundestages in dieser Legislaturperiode. Der Kollege Max Lehmer hat am 6. November seinen 65. Geburtstag gefeiert. Ich möchte ihm im Namen des ganzen Hauses dazu auch auf diesem Wege herzlich gratulieren und alles Gute für die nächsten 65 Jahre wünschen. ({0}) Die Kollegen Heidrun Dittrich und Andrej Hunko haben ihre Schriftführerämter niedergelegt. Als neue Schriftführer schlägt die Fraktion Die Linke die Kollegen Ralph Lenkert und Sabine Stüber vor. Sind Sie damit einverstanden? ({1}) - Eine Vorstellung wäre denkbar, ist aber eigentlich nicht üblich. Ich nehme auch an, dass dazu allgemeines Einvernehmen besteht. - Das ist der Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Nein zum Betreuungsgeld - Familien- und Bildungspolitik zukunftsfähig gestalten ({2}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand umsetzen - Drucksache 17/7610 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/7632 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas - Drucksache 17/7612 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Präsident Dr. Norbert Lammert Monitoring für versenkte Atommüllfässer im Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen weitere Strahlenexposition einleiten - Drucksache 17/7633 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der älter werdenden Gesellschaft gerecht werden - Barrieren in Wohnungen und im Wohnumfeld abbauen - Drucksachen 17/7188, 17/7630 Berichterstattung: Abgeordneter Volkmar Vogel ({9}) ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Haltung der Regierungskoalition zur Einführung eines Mindestlohns ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter Kabinenluft schützen - Drucksache 17/7611 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10}) Ausschuss für Tourismus ({11}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Federführung strittig ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen - Drucksachen 17/3686, 17/5989 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Daniela Kolbe ({14}) Hartfrid Wolff ({15}) Ulla Jelpke ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausPeter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Dr. Hermann Otto Solms, Björn Sänger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ratingagenturen besser regulieren - Drucksache 17/7638 ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Neuer Anlauf zur Finanzmarktregulierung erforderlich - Drucksache 17/7641 ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Einsetzung einer Kommission des Deutschen Bundestages zur Regulierung der Großbanken - Drucksachen 17/7359, 17/7665 Berichterstattung: Abgeordnete Björn Sänger Dr. Gerhard Schick ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott, Viola von Cramon-Taubadel, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN China als wichtiger Partner im Klimaschutz - Drucksache 17/7481 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 12 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergewährung der Sonderzahlung - Drucksache 17/7631 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({18}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Euratom-Vertrag ändern - Atomausstieg europaweit voranbringen - Atomprivileg beenden - Drucksache 17/7670 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({20}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Federführung strittig ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schuldenfinanzierte Steuersenkungspläne der Bundesregierung - Folgen für künftige Generationen und für die soziale Gerechtigkeit Dabei soll, wie immer, von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 11 und 13 werden abgesetzt. Anstelle von Tagesordnungspunkt 11 soll nun der Tagesordnungspunkt 32 beraten werden. Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor. Für den Tagesordnungspunkt 32 soll morgen der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Wiedergewährung von Sonderzahlungen debattiert werden. Schließlich wird der Tagesordnungspunkt 33 abgesetzt und stattdessen der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Euratom-Vertrages aufgerufen. Darf ich auch zu diesen zwischen den Fraktionen abgestimmten Veränderungen Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall. Dann ist das hiermit so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({21}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Weniger Bürokratie und Belastungen für den Mittelstand - Den Erfolgskurs fortsetzen - Drucksache 17/7636 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({22}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({23}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand umsetzen - Drucksache 17/7610 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({24}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Auch dazu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann ist das so beschlossen. Wir beginnen mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Burgbacher, dem ich hiermit das Wort erteile. ({25})

Ernst Burgbacher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003063

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Le Mittelstand Allemand“ - das ist in Frankreich zu einem Fachbegriff geworden, den die Franzosen voll Respekt verwenden. In vielen Ländern werden wir um unsere mittelständische Struktur beneidet. Wir alle sind uns wahrscheinlich einig, dass der Mittelstand einen ganz wesentlichen Verdienst daran hatte, dass wir so gut aus der Krise herausgekommen sind. Mittelstand heißt: viele Familienunternehmer, die die Krise auch genutzt haben, um sich neu aufzustellen, die ihre Beschäftigten gehalten haben. Deshalb ist es angebracht, all diesen Unternehmerinnen und Unternehmern den Dank dieses Hauses für ihre Leistung zu sagen. ({0}) 60 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sind im Mittelstand. Über 99 Prozent der deutschen Unternehmen sind kleine und mittlere Unternehmen. Über 83 Prozent der Auszubildenden werden vom Mittelstand ausgebildet. Auch das ist etwas, um das uns eigentlich die ganze Welt beneidet. Das heißt, wir müssen den Mittelstand in Deutschland stärken; wir müssen alles dafür tun, dass er gestärkt wird, weil er das stabile Element in unserer Volkswirtschaft ist. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn man zu Mittelständlern kommt und sie fragt, was sie von der Politik erwarten, dann heißt es häufig: Lasst uns arbeiten, gebt uns nicht ständig neue Regelungen, gängelt uns nicht! - Ge16454 nau das ist das Markenzeichen der christlich-liberalen Regierung: Wir geben dem Mittelstand Freiraum. Wir entlasten den Mittelstand von Bürokratie. Wir lassen die Unternehmer arbeiten - das ist das, was sie wollen - und überziehen sie nicht ständig mit neuen staatlichen Vorschriften. Im Gegenteil: Wir bauen Vorschriften ab; wir bauen Bürokratie ab. Das ist das Markenzeichen der Mittelstandspolitik dieser christlich-liberalen Regierung. ({2}) Es ist notwendig, dass wir den ordnungspolitischen Rahmen immer wieder überarbeiten, dass wir ihn an aktuelle Gegebenheiten anpassen. Wir können gute Erfolge vorweisen. Noch vor fünf Jahren hatte die deutsche Wirtschaft Bürokratielasten im Umfang von 50 Milliarden Euro zu tragen. Wir haben diese Lasten um 10,5 Milliarden Euro zurückgeführt. Ein Teil davon wurde in der Großen Koalition erreicht. Das waren allerdings die Früchte, die niedrig hingen, die man nur zu pflücken brauchte. Wir haben jetzt eine weitere Reduzierung um 4,5 Milliarden Euro erreicht. Ich glaube, das ist nach zwei Jahren eine stolze Bilanz, die sich wirklich sehen lassen kann. ({3}) Ich will einige ganz konkrete Beispiele nennen; ich beginne mit ELENA. ELENA war ein Vorhaben, das gut gemeint war, eigentlich ein Vorhaben, um Bürokratie abzubauen. Es hat sich aber gezeigt, dass es gerade für kleine und mittlere Unternehmen eher schwierig war, die Vorgaben zu erfüllen, dass es bei ihnen eines gewaltigen Aufwandes mit gewaltigen Kosten bedurfte, um diese Vorgaben zu erfüllen. Deshalb bin ich froh, dass der Deutsche Bundestag am 29. September beschlossen hat, ELENA auslaufen zu lassen, und zwar schon in diesem Jahr. Das ist ein gutes Zeichen für viele kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland, ({4}) auch wenn wir natürlich darüber reden müssen, was wir mit den Daten machen und wie wir Dinge, die bereits geschehen sind, für die Zukunft nützen können. Ein zweites Beispiel: das Thema Vergaberecht. Bei öffentlichen Ausschreibungen müssen Unternehmen die Eignung nachweisen. Was wir getan haben: Es gibt jetzt ein deutlich vereinfachtes Verfahren für diesen Eignungsnachweis, was es gerade kleinen und mittleren Unternehmen leichter und auch kostengünstiger macht, an öffentlichen Ausschreibungen teilzunehmen. Ein drittes Beispiel. Wenn wir draußen im Land sind, bekommen wir alle etwas davon mit: die Klagen über EU-Vorgaben. Nun will ich deutlich sagen: Manchmal ist die Kritik ein Stück weit überzogen; die EU muss für vieles herhalten. Aber richtig ist, dass viele Bürokratielasten durch EU-Vorgaben entstehen. Deshalb haben wir den Koalitionsvertrag umgesetzt: Wir haben im Bundeswirtschaftsministerium ein Frühwarnsystem für europäische Regelungen eingerichtet. Dieses Frühwarnsystem wird ermöglichen, dass wir europäische Vorgaben nicht erst dann behandeln, wenn es zu spät ist, sondern dass wir jetzt schon im Anfangsstadium sehen, was aus Europa kommt, also rechtzeitig reagieren und handeln können. Auch das ist eine gute Nachricht für den Mittelstand. ({5}) Schließlich, meine Damen und Herren, komme ich auf einen besonders wichtigen Punkt zu sprechen: Corporate Social Responsibility. Das unterstützen wir alle. Aber es kann nicht sein, dass die EU kleinen Unternehmen Vorgaben für ausführliche Berichtspflichten macht. Dann wird aus dem gut gemeinten Projekt plötzlich wieder neue Bürokratie. Deshalb sage ich auch für diese Bundesregierung: Wir werden das stoppen. Wir wollen Corporate Social Responsibility, aber rein nach dem Freiwilligkeitsprinzip und nicht durch neue bürokratische Vorschriften. ({6}) Vieles hat diese Bundesregierung in den zwei Jahren getan. Der Mittelstand hat eine deutliche Entlastung erfahren. Der Antrag weist weitere Punkte zu der Frage auf, was jetzt noch zu tun ist. Wir sind bei vielen Punkten in der Vorbereitung. Wir werden das umsetzen. Wir werden zeigen: Mittelstandspolitik ist ein Kernstück dieser christlich-liberalen Regierung. Mittelstandspolitik heißt, Unternehmerinnen und Unternehmern endlich wieder die Luft zum Atmen zu geben und ihnen das zu ermöglichen, was sie am liebsten tun, nämlich etwas zu unternehmen. Dafür hat die Politik die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Genau das machen wir. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion. ({0})

Andrea Wicklein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003659, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, in der Sache sind wir uns einig: Natürlich müssen wir alles dafür tun, den Mittelstand von unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir sind uns auch einig, was die Bedeutung des Mittelstands betrifft - gar keine Frage. Aber was ist eigentlich in den letzten zwei Jahren mit dem Regierungsprogramm Bürokratieabbau passiert? Sie haben nicht, wie vor fünf Jahren festgelegt, das 25-Prozent-Nettoabbauziel bei den Informations- und Statistikpflichten erreicht. Auf europäischer Ebene, die in der Tat zu 50 Prozent für die bürokratischen Belastungen der deutschen Gesetzgebung verantwortlich ist, ist seit zwei Jahren so gut wie gar kein Fortschritt erzielt worden. Für den neuen Ansatz, den Erfüllungsaufwand in ausgewählten Bereichen zu verringern, wie durch das NKRGesetz im März 2011 festgelegt, haben Sie gerade einmal ein Handbuch vorgelegt. Ansonsten geht nach wie vor die Umsetzung dieses wichtigen politischen Ziels leider nur sehr schleppend voran. Insgesamt stagniert also die Umsetzung des Regierungsprogramms. Ich schaue mich um und frage mich: Was ist eigentlich mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Bürokratieabbau? Fragen Sie einmal in unserem Land, wer Eckart von Klaeden in dieser Funktion kennt! ({0}) - Jetzt sehe ich ihn. Er sitzt auf der Regierungsbank ganz versteckt. ({1}) - Herr Hinsken, fragen Sie im Land, ob jemand den Bürokratiebeauftragten der Bundesregierung kennt! ({2}) Dann merken Sie: Fehlanzeige! Niemand kennt ihn. Keiner weiß, dass es einen Bürokratieabbaubeauftragten der Bundesregierung gibt. ({3}) Dabei war die Große Koalition vor fünf Jahren sehr eindrucksvoll gestartet. In sehr kurzer Zeit gelang es, den Normenkontrollrat zu etablieren, das Standardkostenmodell einzuführen, die drei Mittelstandsentlastungsgesetze zu verabschieden und so innerhalb relativ kurzer Zeit die Belastung der Wirtschaft durch unnötige Bürokratie um 20 Prozent abzubauen. Erreicht werden sollten aber bis Ende 2011 25 Prozent. ({4}) Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren sind verbindliche Abbauziele. Ich frage daher die Bundesregierung - dazu haben Sie, Herr Staatssekretär, nicht viel gesagt -: Wie wollen Sie innerhalb der kurzen Zeit, also innerhalb der uns verbleibenden drei Sitzungswochen, noch die fehlenden Entlastungsmaßnahmen im Umfang von 2 Milliarden Euro im Bundestag beschließen? ({5}) Das funktioniert also nicht. Folglich können wir schon heute kritisieren, dass Sie das versprochene Abbauziel nicht erreichen werden. ({6}) In der Tat erwartet der deutsche Mittelstand von der Bundesregierung eine sehr schnelle Umsetzung des Abbauziels. Wir erwarten natürlich, dass Sie nächstes Jahr eine neue Zielmarke für Bürokratieabbau setzen. Oder wollen Sie etwa 2012 den Bürokratieabbau ad acta legen? Auch bei der Umsetzung des NKR-Gesetzes muss gehandelt werden. Die Bundesregierung muss die Kosten, die durch die Rechtsanwendung entstehen, schnell bewerten und den Bürokratieabbau zu einem eigenständigen Politikziel entwickeln. Dazu brauchen wir ein festes quantitatives Abbauziel. Wir stellen fest: Auf EU-Ebene ist die Kommission nach wie vor nicht bereit, den Bürokratieabbau von einem unabhängigen Gremium bewerten zu lassen. Das ist sehr bedauerlich; denn so wie in Deutschland Bürokratiekosten nach einheitlichen Maßstäben erfasst und in einem komplexen Prozess bewertet werden, müsste das ebenfalls auf EU-Ebene passieren. Wir brauchen einen europäischen Normenkontrollrat, der Regelungsvorhaben der EU schon in der Frühphase auf mögliche Bürokratiekosten hin kontrolliert. ({7}) Wie eben aufgezeigt, gibt es seit zwei Jahren einen Stillstand beim Bürokratieabbau, und das ist fatal, gerade im Hinblick auf die wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wir müssen alles unternehmen, um unnötige Kosten zu senken, damit sich die Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, sicherlich ist Ihnen das auch aufgefallen. Deshalb haben Sie jetzt kurz vor Toresschluss einen Antrag formuliert. In ihm fordern Sie Ihre eigene Regierungsmannschaft endlich zum Handeln auf. Festzustellen ist aber: Dieser Antrag kommt zu spät, erst Ende 2011. Ich frage Sie: Warum nicht früher? Warum nur ein Antrag? Warum haben Sie nicht gleich ein viertes und ein fünftes Mittelstandsentlastungsgesetz vorgelegt? ({8}) - Bei insgesamt 24 Forderungen, Herr Hinsken, hätten Sie doch genügend Material für einen solchen Entwurf parat gehabt. Sie machen es vielleicht irgendwann. Aber warum haben Sie es bis jetzt nicht getan? Sie hatten lange genug Zeit. Zwei Jahre sind vertan worden. ({9}) In der Tat gibt es viel zu tun. Ein Blick in den aktuellen Jahresbericht des Normenkontrollrats reicht. Darin sind ernstzunehmende Empfehlungen enthalten. Deshalb fordern wir: Erstens. Beenden Sie schnellstens den Stillstand beim Bürokratieabbau! Bauen Sie das bisher erfolgreiche Regierungsprogramm besonders für kleine und mittlere Unternehmen weiter aus, und erweitern Sie es für die Bürgerinnen und Bürger! Zweitens. Überprüfen Sie endlich die Bürokratiekosten von EU-Richtlinien, und entwickeln Sie gemeinsam mit anderen EU-Ländern Strategien zum Bürokratieabbau und zu weiteren Vereinfachungen! Wirken Sie mit Nachdruck auf die Europäische Kommission ein, und bestehen Sie auf einer plausiblen Abschätzung der Bürokratiekosten aller Gesetzesvorschläge! Drittens. Bringen Sie neuen Schwung in das E-Government! Achten Sie darauf, dass es zu einem Abbau unnötiger Bürokratie genutzt wird! In der Vergangenheit führte die mangelhafte Abstimmung zwischen den Ministerien teilweise zu mehr statt zu weniger Bürokratie. Auch die Koordinierung mit den Bundesländern muss an dieser Stelle verbessert werden. ({10}) Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, wenn Sie unsere beiden Anträge nebeneinander legen, dann können Sie feststellen, dass es bei den Forderungen viel Übereinstimmung gibt. Es ist schön, dass Sie dem von uns eingeschlagenen Weg folgen wollen. Auch beim Tempo und bei der konsequenten Umsetzung sollten Sie sich wieder mehr an uns orientieren. Das hat in der Großen Koalition ganz gut funktioniert. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, legen Sie endlich ein schlüssiges, in die Zukunft gerichtetes Konzept vor! Beschließen Sie verbindliche Ziele für die Zeit ab 2012! Setzen Sie Beschlüsse um! Ich bin gespannt, ob diese Bundesregierung dazu überhaupt noch in der Lage ist. ({11}) Unser Mittelstand kann sich keine weiteren Verzögerungen beim Bürokratieabbau leisten. Machen Sie endlich Nägel mit Köpfen, ({12}) und investieren Sie in den Bürokratieabbau! Der Mittelstand und die Bürgerinnen und Bürger werden es Ihnen danken. Ganz herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kai Wegner ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, dies ist ein guter Tag, ein guter Morgen für kleine und mittelständische Unternehmen in unserem Land. Wir beraten zur besten Zeit hier im Deutschen Bundestag, zur Kernzeit, das Thema Bürokratieabbau. ({0}) Das zeigt, liebe Frau Wicklein, welchen Stellenwert wir diesem Thema in dieser Koalition geben. ({1}) Liebe Frau Wicklein, hätten Sie dem Staatssekretär Burgbacher gerade zugehört, dann hätten Sie die Rede so, wie Sie sie gerade gehalten haben, glaube ich, nicht halten können. Bürokratie kostet Zeit und Geld. Beides sind entscheidende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit in unserem Land. Die christlich-liberale Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, die Belastungen durch Bürokratie so weit wie möglich abzubauen, insbesondere für den deutschen Mittelstand. ({2}) Wenn wir über Bürokratieabbau in Deutschland sprechen, verwenden wir immer gerne Bilder. Ich vergleiche ihn stets mit einem Marathonlauf: Am Start ist man voller Energie, und man bewältigt den größten Teil der Strecke problemlos, bis es anfängt, wehzutun. Dann darf man nicht aufgeben. Man muss alle vorhandenen Kraftreserven nutzen, um die Ziellinie zu erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen großen Teil unserer Strecke geschafft. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen. Wir müssen allerdings aufpassen - diesbezüglich haben Sie recht, Frau Wicklein -, dass wir uns durch neue Regulierungen den Weg nicht zusätzlich erschweren. ({3}) Noch vor fünf Jahren mussten die Unternehmen in Deutschland rund 50 Milliarden Euro im Jahr für Bürokratiekosten aufwenden. Inzwischen sparen sie jährlich deutlich über 10 Milliarden Euro ein. Wir werden diesen Weg weitergehen und über die Informationspflichten hinaus auch den sogenannten Erfüllungsaufwand reduzieren. Die Zahlen beweisen es: Wir sind auf dem richtigen Weg. ({4}) Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei der Bundesregierung und beim Bundeswirtschaftsminister bedanken. Insbesondere möchte ich mich bei unserem Staatsminister Eckart von Klaeden für seine beharrliche und erfolgreiche Arbeit bedanken. ({5}) Liebe Frau Wicklein, wenn Sie von dieser erfolgreichen Arbeit nichts mitbekommen haben, dann ist das nicht das Problem der Koalition, sondern Ihr Problem. Wir sind fest davon überzeugt, dass Herr von Klaeden eine gute Arbeit leistet, die er fortsetzen wird. Einen Dank möchte ich auch den Mitgliedern des Nationalen Normenkontrollrates aussprechen. Der Normenkontrollrat ist mit seinen Stellungnahmen und AnreKai Wegner gungen stets ein guter und wichtiger Begleiter bei unseren Bemühungen, Bürokratiekosten zu reduzieren. Herrn Dr. Ludewig möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danken, natürlich auch seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern. ({6}) Gerade in turbulenten Zeiten von Wirtschafts- und Finanzkrisen sind wir verpflichtet, die Bedingungen für unternehmerisches Handeln in Deutschland weiter zu verbessern. Nur so kann die deutsche Wirtschaft in Europa die Konjunkturlokomotive bleiben. Unternehmerinnen und Unternehmer sollen sich auf ihr eigentliches Kerngeschäft konzentrieren können. Sie sollen innovativ sein und im wahrsten Sinne des Wortes etwas unternehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie in der Lage sind, mehr in ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu investieren anstatt in häufig überflüssige Bürokratie. Nur ein ausgewogenes Verhältnis von individueller Freiheit und staatlichen Rahmenvorgaben gibt zusätzliche Impulse für kleine und mittlere Unternehmen, für das Handwerk und den Handel und schafft somit Wachstum und Beschäftigung. ({7}) Der Bürokratieabbau hat den Charme, dass er im Gegensatz zu manch anderen Maßnahmen nichts kosten muss - ein wahres Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Deshalb ist uns dieses Thema so wichtig. ({8}) Dazu soll unser Antrag einen Beitrag leisten. Wir haben in diesem Antrag einen umfangreichen Katalog an Maßnahmen vorgeschlagen, der weniger Bürokratie und weniger Belastung für den Mittelstand bringen soll. Mit den ersten beiden Forderungen halten wir die Bundesregierung an, ihr Programm „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ fortzuschreiben und zu intensivieren. ({9}) Wir erwarten auch Maßnahmen, damit das Thema Bürokratieabbau nach dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels seine Dynamik behält. Unsere Maßnahmen müssen in der Tat zu spürbaren Entlastungen für die Wirtschaft, für die Verwaltung, für die Bürgerinnen und Bürger führen. Niemandem ist geholfen, wenn wir stets vorrechnen, wie stark die Belastungen bereits gesunken sind, ohne dass die, die davon profitieren sollen, diese Entlastungen spüren. ({10}) Daher fordern wir zum Beispiel, die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen für Unternehmen und private Haushalte im Handels-, Steuer- und Sozialrecht zu vereinheitlichen und endlich zu verkürzen. ({11}) Zugleich sollen die steuerlichen Betriebsprüfungen zeitlich näher zum Veranlagungsjahr stattfinden, damit das mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen harmoniert. Diese Maßnahmen werden die Mittelständler, die Handwerker, aber auch private Personen spüren und erfahren. Sie können dann getrost den einen oder anderen Aktenordner und Papierstapel wegwerfen oder vernichten. Das schafft Platz im Lager und im Regal, und das entlastet die Unternehmen spürbar. Deswegen wollen wir da ran. ({12}) Unter den vielen weiteren wichtigen Forderungen im Antrag zur Vereinfachung und zum Bürokratieabbau möchte ich eine Forderung besonders erwähnen. Unternehmerinnen und Unternehmer aus Berlin haben mir mehrfach berichtet, wie zeitraubend es ist, immer und immer wieder die gleichen Daten und Informationen über das eigene Unternehmen an verschiedene Verwaltungen und unterschiedlichste öffentliche Einrichtungen melden zu müssen. Daraus entstand die Idee, in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt ein Konzept zu erarbeiten, welches die öffentlichen Verwaltungen verpflichtet, bereits gemeldete Daten zu nutzen, bevor Unternehmer erneut aufgefordert werden, öffentlich zugängliche Angaben gegenüber der Verwaltung zu wiederholen. Mit einem solchen Konzept werden wir erreichen, dass Unternehmen zukünftig nur noch einmal ihre Daten melden müssen und die Verwaltungen diese Daten im Bedarfsfall im Austausch nutzen. Auch damit wäre ein großer Schritt in Richtung spürbarer Entlastung - zeitlich und finanziell - erreicht. Ich möchte natürlich auch kurz auf den Antrag der SPD-Fraktion eingehen. Sie bescheinigen uns, dass wir beim Bürokratieabbau erfolgreich sind, dass wir unsere Ziele bisher erreicht haben und dass das sehr eindrucksvoll ist. ({13}) Es freut mich natürlich sehr, dass Sie das in Ihrem Antrag so formulieren, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Was allerdings Ihre Forderungen im Einzelnen betrifft, bin ich schon enttäuscht. ({14}) Ich muss wieder einmal feststellen, dass Sie dem Regierungshandeln hinterherlaufen. Sie fordern beispielsweise, in Zukunft beim Bürokratieabbau auch Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger stärker ins Auge zu fassen. Das passiert doch bereits, zum Beispiel durch die Projekte „Einfacher zum Studierenden-BAföG“, „Einfacher zum Wohngeld“ oder „Einfacher zum Elterngeld“. ({15}) Ein weiteres Beispiel: Sie fordern, die Methodik zur Berechnung des Erfüllungsaufwandes in das Bürokratieabbauprogramm aufzunehmen. Dies ist mit Inkrafttreten des Leitfadens zur Ermittlung und Darstellung des Erfüllungsaufwands in Regelungsvorhaben der Bundesregierung bereits geschehen. Sie sehen: Wir sind auf dem richtigen Weg. ({16}) Wir bauen Bürokratie ab. Ich komme zum Schluss meiner Rede zum Bild des Marathonlaufs zurück. Wir sind gut gestartet, haben einen Großteil der Strecke bewältigt, sind aber noch nicht am Ziel. Deshalb bleibt der Abbau von überflüssiger Bürokratie auch in den nächsten Jahren eine Daueraufgabe. Wir werden insbesondere kleine und mittlere Unternehmen von Belastungen durch Bürokratie, von Einschränkungen der Handlungsfähigkeit und von unnötigen Kosten befreien. ({17}) Unser Ziel bleibt es, den Mittelstand zu entfesseln, um damit Wachstum und Beschäftigung in unserem Land zu schaffen. ({18}) Ich freue mich auf die weitere Debatte und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kleine und mittelständische Unternehmen stellen 79 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse und 82 Prozent der Ausbildungsplätze. 99,7 Prozent aller Unternehmen in Deutschland sind kleine und mittlere; sie generieren aber nur 39 Prozent des Umsatzes. Ein Grund dafür ist, dass SchwarzGelb zwar sonntags vom Mittelstand redet, aber werktags an der Leine der Exportkonzerne trottet. Wir brauchen nicht nur pauschal entbürokratisierende Maßnahmen - keinesfalls brauchen wir eine unbürokratische Milliardenhilfe für Banken! Was wir brauchen ist: unbürokratischen Einsatz für mehr Binnennachfrage. ({0}) Das ist das entscheidende Kraftpotenzial, das die kleinen und mittleren Unternehmen brauchen. Herr Wegner, auch wenn Sie sich hier gerühmt haben: Ein weiterer Nachteil bleibt der bürokratiebedingte Aufwand der KMU. Auf Kleinunternehmen mit bis zu neun Beschäftigten entfallen pro Beschäftigten und Jahr 64 Stunden und 4 361 Euro an rein bürokratiebedingtem Aufwand. ({1}) Das entspricht einer Steigerung um 25 Prozent seit 1994. Bürokratismus kommt aber nicht nur von staatlichen Behörden wie einem Fiskus, der auch bei unverschuldeter Insolvenz immer noch viel zu stur exekutiert, nicht nur von der EU mit ihrer idiotischen Dienstleistungsrichtlinie, sondern diese bürokratische bzw. bürokratistische Bevormundung liegt auch an der Macht der Konzerne, vor allem der Banken und Versicherungskonzerne, gegenüber kleinen Unternehmen. Das fehlt im SPD-Antrag genauso wie im Koalitionsantrag. ({2}) Schauen Sie sich einmal die verschlüsselten Versicherungsbedingungen und die unterschiedlichen, fast gegensätzlichen Einkaufs- und Verkaufsbedingungen von Konzernen an. Hier geht es nicht nur um unnötig komplizierte formale Regelungen. Hier geht es um die Ausübung nackter wirtschaftlicher Macht. Hier geht es darum, dass ein Teil der Wertschöpfung kleiner Unternehmen mittels rechtlicher Vormacht von großen Unternehmen angeeignet wird. Dagegen will die Linke eine demokratische Bürokratiekontrolle. Ich wiederhole: eine demokratische Bürokratiekontrolle. ({3}) Wir wollen die Überwachung und Einschränkung von allgemeinen Geschäftsbedingungen, nicht nur zum Schutz der Verbraucher, sondern auch zum Schutz der 3,6 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft sind. Nehmen wir das Supply Chain Management in der Automobilbranche. Das ist eine reine Abwälzung der wesentlichen Produktionsschritte durch den auftraggebenden Großkonzern auf den mittelständischen Zulieferer, der den Druck seinerseits dann an noch kleinere Zulieferer weitergibt. Dadurch entsteht ein Preisdruck, der an Existenzen nagt. Die Erpressung durch Konzerne, die darin zum Ausdruck kommt, dass Zulieferer Innovationen in großem Umfang vorfinanzieren müssen, was ihre eigene Finanzierungskraft übersteigt, gehört überwunden. ({4}) Wenn dann der Auftraggeber die Zahlungen verzögert, geht wieder ein Zulieferer pleite. Welche Bürokratie verlangen BMW und Daimler, bevor sie einen Reparaturbetrieb vor Ort lizenzieren! Die Produkte, die die Konzerntore verlassen, ob Pkw oder Monitore, sind häufig kurzlebig; ihre Lebensdauer übersteigt oft nur knapp die Garantiezeit. Die Linke will darum eine Reparaturoffensive unbürokratischer Art. Konzerne müssen gezwungen werden - das ist dann notwendige Bürokratie -, wieder reparaturfreundlich zu produzieren, damit jeder Handwerker unbürokratisch reparieren kann, ({5}) weniger Module weggeworfen werden, mehr Stoffe gespart und mehr Arbeitsplätze, auch in infrastrukturschwachen Regionen, geschaffen werden. Eine Reparaturoffensive ist für unser Handwerk das Gebot der Stunde. ({6}) Das heißt: mehr Freiheit für Kleinunternehmen und weniger Freiheit für Konzerne und Banken. Das ist die Lösung, die die Linke übrigens auch in ihrem Parteiprogramm festgeschrieben hat. Die Linke ist so mittelstandsfreundlich wie keine andere Partei und setzt sich für kleine und mittlere Unternehmen ein. ({7}) Es wäre jetzt naheliegend, auf die Banken und ihr Kerngeschäft zu verweisen. Wer einmal einen Kreditantrag bei einer großen privaten Bank ausgefüllt hat, weiß, was Bürokratismus ist. Das ist entwürdigend und hat nichts mit den Sonntagsreden zu tun, die Sie gelegentlich für KMU halten. ({8}) Sparkassen und öffentliche Banken sind halt bessere Partner für das Handwerk und den Mittelstand - auf jeden Fall bessere Partner als die Ackermänner und die Deutsche Bank. ({9}) Die Linke verschließt nicht die Augen vor dem Bürokratismus. Hier ist sie die einzige Partei gegen bürokratisierende Konzerne und Großbanken. Sie schiebt das alles nicht nur auf die öffentliche Hand, auf den Staat. Es ist ja teilweise wohlfeil, wie Sie den Staat hier immer auf die Anklagebank setzen, als ob der Staat der einzige Produzent von Bürokratismus ist, während Sie die Konzerne und Großbanken dabei außen vor lassen. Die Linke will eine antimonopolistische Deregulierung. Das ist die Regulierung, die wir brauchen. ({10}) Eiserne Regeln für die Ackermänner und die Finanzmärkte, weniger Druck auf die kleinen und mittleren Unternehmen, das ist das Gebot der Stunde. Das hat durchaus mit Antikapitalismus zu tun, aber auch mit starken kleinen privaten Unternehmern, die wir wollen - übrigens auch im Sozialismus. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Dehm, zur Reparaturklausel. ({0}) Ich glaube, Sie müssen noch einmal darüber nachdenken, ({1}) wie es funktionieren soll, dass die Arbeitsplätze im Handwerk dann auch erhalten bleiben. ({2}) - Das haben wir schon verstanden. Ich würde ganz gerne einmal etwas aufgreifen, was in dem Antrag der CDU/CSU so schön geschrieben steht. Ich zitiere das gerade noch einmal: Gerade die mittelständische Wirtschaft als unverzichtbarer Wachstums- und Beschäftigungsfaktor und Stabilitätsgarant in der globalisierten Welt sieht sich überproportionalen bürokratischen Lasten ausgesetzt. ({3}) Deren Sinnhaftigkeit und Zeitgemäßheit stehen vielfach zu Recht in Frage. Statt in die eigene Wettbewerbsfähigkeit müssen die Unternehmen Zeit und Geld in häufig überflüssige Bürokratie „investieren“. Sehr verehrte Damen und Herren von der Union, das ist völlig richtig. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen Sie in den letzten Jahren daraus gezogen haben. ({4}) Mit einem bestimmten zeitlichen Abstand legen Sie immer wieder einen schönen Antrag vor. Letztens haben Sie einen Antrag eingebracht, in dem Sie sich auch mit der Bürokratie und dem Mittelstand beschäftigt haben. Dieser Antrag enthielt, wenn ich mich recht erinnere, 15 Punkte. Nur 4 davon sind umgesetzt bzw. beibehalten worden. Alles andere, was in dem Antrag stand, haben Sie weder gesetzgeberisch noch über Verordnungen auf den Weg gebracht. Das heißt, Anspruch und Wirklichkeit gehen bei dieser Koalition völlig auseinander. ({5}) Wir sind der Meinung, dass es nicht reicht, im Halbjahresrhythmus eine unnötige Bauchpinselei zu betreiben, wenn man eine gewissenhafte und seriöse Politik für den Mittelstand machen will, sondern der Mittelstand hat zu Recht den Anspruch, dass Sie als Regierung etwas dafür tun, dass wirklich Bürokratie abgebaut wird. ({6}) Hier nutzt es auch nichts, wenn man sagt: Wir haben den Mittelstand um 10 Milliarden Euro entlastet. - Auf dem Papier ja, aber in der Realität nein. ({7}) Lieber Ernst Hinsken, wir sagen immer wieder: Das muss ankommen. Es ist zum großen Teil aber nicht angekommen, weil von diesem Entlastungsprogramm im Umfang von 10 Milliarden Euro ein ganz großer Teil noch nicht einmal umgesetzt worden ist; das ist die Wahrheit. Man kann deshalb nicht sagen: Das haben wir super gemacht. - Angepeilt wurde eine Reduzierung der Bürokratiekosten um 25 Prozent, ein großer Teil - die Kollegin der SPD hat das auch angesprochen - ist aber überhaupt nicht vollzogen. Wir fragen uns, wie Sie das bis zum Jahresende schaffen wollen. Sie haben keinen einzigen Antrag in dieses Parlament eingebracht, aus dem ersichtlich würde, dass ein Teil dieser Vorgaben, die Sie sich selbst gesetzt haben, noch in dieser Jahresfrist angegangen wird. ({8}) Die Verbände - damit meine ich nicht nur die großen Verbände, sondern ich rede auch von denen, die vor Ort im Handwerksbereich oder im gewerblichen Bereich aktiv sind - sagen ganz klar, dass die versprochenen Leistungen dieser Regierung nicht bei ihnen angekommen sind. Man kann sich die einzelnen Beispiele anschauen. Thema ELENA. Aussagekräftig wird die Zahl von 10 Milliarden Euro an eingesparten Bürokratiekosten erst dann, wenn man einmal das gegenrechnet, Herr Burgbacher, was Sie aufgrund des ständigen Hickhacks beim ELENA-Verfahren an Belastungen für die Unternehmen verursacht haben. Laut den Spitzenverbänden sind für die Wirtschaft etwa 300 Millionen Euro an Belastungen entstanden, weil Sie dieses Hickhack verursacht haben. Ergebnis: Das Verfahren wurde zwar nicht umgesetzt, aber die Belastung ist bei der Wirtschaft hängen geblieben. Solche Belastungen muss man berücksichtigen, wenn man über Bürokratieabbau spricht. Das wäre eine ehrliche Aussage, aber das tun Sie leider nicht. ({9}) Sie haben durch Doppelbelastungen Kosten verursacht. Auch das müssen Sie benennen. Der Normenkontrollrat - er ist auch aus unserer Sicht ein hervorragendes Gremium - sollte mit ein bisschen mehr Power in dem Sinne ausgestattet werden, dass er mehr Befugnisse bekommt. Der Normenkontrollrat hat gesagt: Diese Regierung hat noch keine konsistente IT-Strategie vorgelegt. Sie können nicht erwarten, dass ein Normenkontrollrat eine IT-Strategie zum Thema Entbürokratisierung entwickelt, sondern es ist die Pflicht und die Aufgabe dieser Koalition, das zu tun, damit der Normenkontrollrat prüfen kann, ob Sie das vernünftig umgesetzt haben. ({10}) Bedauerlich ist auch, dass das Thema Forschungsförderung für den Mittelstand im Zusammenhang mit dem Bürokratieabbau überhaupt nicht mehr auftaucht. ({11}) Dieses Thema hat sehr viel mit Bürokratieabbau zu tun. Wir wissen, dass die steuerliche Forschungsförderung - das zeigen uns die Beispiele aus anderen europäischen Ländern - für die Unternehmen mit Abstand die unbürokratischste Förderung in den Bereichen „Innovation“ und „Förderung von neuen Technologien“ ist. Sie haben uns von Anfang an versprochen - das steht auch im Koalitionsvertrag -, dass diese Forschungsförderung kommen wird. Aber bis heute ist sie nicht umgesetzt. Auch dieses Thema gehört in einen solchen Antrag. Aber darum haben Sie sich wieder herumgemogelt. Sie reden ja nicht einmal mehr darüber. Hier sehen wir ein Manko; denn diese Art von Förderung würde eine wirkliche Entlastung bedeuten. ({12}) Stichwort Bilanzierung. Es wurde auf der europäischen Ebene lange darüber diskutiert, dass eine Befreiung von kleinen GmbHs und kleinen Personengesellschaften von der Pflicht zur Bilanzierung, ähnlich wie das bei Einzelkaufleuten hinsichtlich der Grenzwerte möglich ist, sehr viel helfen würde. Aber nein! Ich vermute einmal, dass sich der Steuerberaterverband an dieser Stelle wieder durchgesetzt hat. Die Unternehmen, auch die ganz kleinen GmbHs mit wenig Umsatz, sind also verpflichtet, eine Bilanz vorzulegen, wofür sie im Durchschnitt 2 500 Euro zahlen. Dieses Geld würde in den kleineren Unternehmen, in GmbHs mit geringen Umsätzen, für Wichtigeres als für eine unnötige Bilanzierung gebraucht. Wir wünschen uns, dass Sie hier endlich Farbe bekennen. Die EU-Kommission hat geschätzt, dass es hier um 6,3 Milliarden Euro geht. Das betrifft 5,3 Millionen Unternehmen auf der europäischen Ebene. Hier könnten Sie tätig werden, wenn Sie wollten; denn es ist möglich, dass Deutschland hier vorangeht. Wir müssen feststellen, dass hierzu auf der europäischen Ebene zwar Vorschläge gemacht worden sind, Sie aber dafür gesorgt haben, dass es in Europa zu einer ganz eigenartigen Kompromisslösung gekommen ist, die uns bei diesem Problem nicht weiterbringt. ({13}) Auch die Einführung einer Europäischen Privatgesellschaft ist ein wichtiges Thema für den exportierenden deutschen Mittelstand. Auch hierzu fehlt es in Ihrem Antrag an Vorschlägen, ganz abgesehen vom Thema Bürgerbeteiligung bei Planungs- und Genehmigungsverfahren, ganz abgesehen von der Frage der Entbürokratisierung bei Visumverfahren, ganz abgesehen davon, wie aus Ihrer Sicht ein wirklicher Bürokratieabbau vonstattengehen soll. Dafür braucht es eine Strategie. Auf diese Strategie wartet der Mittelstand zu Recht. Auf diese Strategie wartet auch die Opposition, weil wir uns gerne damit auseinandersetzen würden, was Sie im nächsten Jahr tun. Aber dazu braucht es nicht nur wohlfeile Worte, sondern eine Vorlage, aus der man das erkennt. Danke schön. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Claudia Bögel erhält jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 90 Prozent der Weltbevölkerung - davon bin ich fest überzeugt - würden gerne mit dem deutschen Elend tauschen: Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie seit 20 Jahren nicht. Die Wirtschaft ist robust, der Umsatz stetig. Die Binnennachfrage steigt, den Menschen geht es gut. Wir alle wissen: Das liegt an den mittelständischen Unternehmen, die mit Fleiß, Erfindergeist und sozialverantwortlichem Handeln wesentlich zu unserem Erfolg beitragen. ({0}) Das liegt aber auch an der Politik, die in den vergangenen Jahren die richtigen Impulse gesetzt hat. ({1}) Die kleinen und mittleren Unternehmen haben mit Risikound Leistungsbereitschaft Wachstum, Wohlstand und Innovation in Deutschland gesichert. Der Erfolgskurs des Mittelstandes muss gefestigt werden. ({2}) Wir halten keine Sonntagsreden; ({3}) wir handeln. Wir müssen die Unternehmen weiterhin deutlich von Bürokratie entlasten. Stichworte dazu sind zum Beispiel Steuervereinfachung, Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, Frühwarnsysteme für EU-Regulierung und anwenderfreundliche elektronische Behördendienste. Die vordringlichste Aufgabe dabei ist, die Rahmenbedingungen für unsere mittelständische Wirtschaft kontinuierlich zu verbessern und den Fokus auf die Entfaltung von Wettbewerb zu legen, weg von bürokratischen Hindernissen, weg von ökologischer Diktatur ({4}) und weg von sozialistischer Zwangsregulierung hin zum Dialog mit der Politik, zum Handeln und Mitarbeiten zugunsten weniger Bürokratie. ({5}) Wie besang es schon Reinhard Mey vor vielen Jahren so schön: Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars, zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt, zum Behuf der Vorlage beim zuständigen Erteilungsamt. ({6}) Gottlob, davon sind wir nun um einige Längen entfernt. Wir sind aber noch lange nicht am Ziel. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Bögel, der Kollege Dehm würde gerne der Sache mit dem Antragsformular nachgehen.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Na ja, dann eben nicht.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ein Weg dorthin ist die freiwillige Betriebsprüfung mit nur einem Abschlussbericht - das spart Zeit und Geld oder der Abbau von Hindernissen für die elektronische Kommunikation mit der Verwaltung. Das gesetzlich vorgesehene Ungetüm mit dem Namen „Schriftformerfordernis“ ist sicherlich kein Erfordernis, sondern eher ein Hindernis. Die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen für Unternehmen und private Haushalte können wir vereinfachen, indem wir das Handels-, Steuer- und Sozialrecht vereinheitlichen und verkürzen. Die Entlastung durch Bürokratieabbau in Wirtschaft, Verwaltung und bei den Bürgerinnen und Bürgern beläuft sich schon jetzt nachweislich auf 10 Milliarden Euro jährlich, nicht zuletzt durch die Stärkung des Normenkontrollrates und durch bessere Rechtsetzung. Das Ziel lautet: Reduktion der Bürokratiekosten für die Wirtschaft um 25 Prozent. Jedes Verfassungsorgan kann seit Beschluss der Koalition seine Initiativen dem Nationalen Normenkontrollrat zuleiten. Diese Initiative wird dazu führen, dass es demnächst zum guten Ton gehört, sich bei der Einbringung von Gesetzesinitiativen erst der Expertise des NKR zu bedienen. Dies sind nur einige Beispiele, bei denen Bürokratie abgebaut und Geld gespart werden kann. Das ist Geld, das der Mittelstand besser zu investieren weiß. Zahlreiche Maßnahmen des Programms „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ wurden bereits umgesetzt. Der Mittelstand braucht von der Politik ein klares Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, weg von sozialistischen Zwangsregulierungen. Der Mittelstand braucht von der Politik klare Vorgaben und nicht noch mehr Papierbögen und Durchschläge. Der Mittelstand braucht von der Politik ein klares Bekenntnis zu einem gesunden Verhältnis von staatlichen Rahmenvorgaben und individueller Freiheit. Gesellschaftliche Verantwortung ist, auch wirtschaftlich gesehen, ein Erfolgsfaktor für den Mittelstand und wird durchaus gezielt eingesetzt, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Dies muss in jedem Fall auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren. Diese Koalition wird auch weiterhin neue Freiräume schaffen und Chancen für Investition und Beschäftigung eröffnen. Ein Zentralkomitee, das dem Mittelstand die Vorgaben diktiert, das wollen wir nicht. ({0}) Der Mittelstand ist unser Garant für Leistung, Innovation und Fortschritt. Wir werden unseren Erfolgskurs somit fortsetzen und die Unternehmen durch weiteren Bürokratieabbau in ihrer Leistungskraft stärken, für noch mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze, für noch mehr Innovationen und für noch mehr Fortschritt und Wachstum. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Dehm das Wort.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich hätte Ihnen lieber eine Zwischenfrage gestellt; aber Sie wollten das ja nicht zulassen. Sie haben am Anfang Ihrer Rede sinngemäß gesagt: Viele Mittelständler anderer Kontinente würden gerne in dem Elend bei uns leben. Dann sprachen Sie von der Überwindung der ökologischen Diktatur. Beides veranlasst mich dazu, Sie, erstens, zu bitten, über die Gefahr der Inflationierung des Wortes Diktatur nachzudenken, ({0}) und, zweitens, dem Hohen Hause zu erklären, was Sie mit „ökologischer Diktatur“ meinten und damit, dass es sehr viele Menschen auf anderen Kontinenten gebe, die gerne in diesem - in Anführungszeichen - „Elend“ bei uns leben würden. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte, zur Erwiderung.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Dehm, ich habe nicht davon gesprochen, dass der europäische Mittelstand oder wer auch immer hier in unserem Elend leben möchte. Ich habe nur gesagt: Ich bin der festen Überzeugung, dass 90 Prozent der Angehörigen der Staaten in unserer Welt mit unserem deutschen Elend - das habe ich ironisch gemeint; ich sage das, damit es Ihnen verständlich wird - zufrieden wären. Es wundert mich immer wieder, wenn die Opposition hier behauptet, in welchem Elend wir hier angeblich leben; denn das kann ich absolut nicht feststellen. ({0}) - Ökologische Diktatur, das ist ein Aufzwingen anderer Lebensweisen auf jeden Menschen in dieser Republik, und das möchte ich nicht. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita SchwarzelührSutter für die SPD-Fraktion. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Stichwort Ökodiktatur: Sie haben wohl noch nie etwas von Meseberger Beschlüssen, Klimawandel und ökologischer Wende - was hat Ihre Regierung erst in diesem Frühjahr beschlossen? - gehört. Mir gefällt jedoch das Schlagwort von der antimonopolistischen Deregulierung. Ich verweise auch auf das von Herrn Burgbacher angesprochene Laisser-faire. Nach Max Weber ist eine moderne Bürokratie ein effizientes Mittel, um das Zusammenleben einer Vielzahl von Menschen zu organisieren. Transparenz schützt vor Willkür. Sie verhindert Korruption und Günstlingswirtschaft. Beamte halten sich natürlich an fixierte Regeln. So weit die Theorie. Bürokratie als funktionierende Verwaltung ist in einem Staatswesen somit sinnvoll und notwendig. ({0}) Bürokratismus dagegen belastet Bürgerinnen und Bürger und vor allem Unternehmen. Jedem von uns, der an die Steuererklärung denkt, treibt es die Schweißtropfen auf die Stirn. Für Unternehmen ist Bürokratie nicht nur Aufwand, sondern bedeutet auch erhebliche Kosten. Darüber hinaus bringen übermäßige Regelungen und Vorschriften für deutsche Unternehmen Nachteile im internationalen Wettbewerb. Der Mittelstand, besonders das Handwerk, kämpft mit der überbordenden Bürokratie. Die Betriebe wollen sich auf ihre produzierende Tätigkeit konzentrieren und sich nicht mit unproduktiven Lasten herumschlagen. Die knappen Personalressourcen müssen da eingesetzt werden, wo sie produktiv sind, nicht für unproduktive Bürokratie. Manchmal braucht man sogar Fachkräfte, um die Bürokratie zu bewältigen. Neben Personalkosten entstehen auch Sachkosten, die nicht unerheblich sind. Zehntausende von Nachweis-, Dokumentations- oder Berichtspflichten müssen Unternehmen erfüllen. Bürokratismus bedroht die Rentabilität und Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen und besonders von Handwerksbetrieben. Auch wenn man bedenkt, dass der Aufwand für unnötige und überflüssige Bürokratie von 2006 bis jetzt um ungefähr 10 Milliarden Euro abgebaut werden konnte, sollten Sie das nicht schönreden. Es fehlen immer noch einige Milliarden Euro, bis das 25-Prozent-Ziel dieser Regierung erreicht ist. Die anfänglich beim Bürokratieabbau spürbare Dynamik hat zuletzt erkennbar nachgelassen. Typisch für diese Koalition: Sie ist kraft- und saftlos. Ich will als ein Beispiel die E-Bilanz nennen. Man geht in der Zwischenzeit davon aus, dass eine Mehrbelastung von insgesamt 3,15 Milliarden Euro auf den Mittelstand zukommt. Gut gemeint ist nicht gut gemacht. ({1}) Eine Onlineumfrage des Baden-Württembergischen Handwerkstages von Anfang dieses Jahres hat im Übrigen ein interessantes Ergebnis hervorgebracht. Nur 27 Prozent der Handwerker, die sich an der Umfrage beteiligt haben, haben das Gefühl, dass sie tatsächlich entlastet werden. Ich möchte auf ein aktuelles und besonders ärgerliches Exempel von grenzüberschreitendem Bürokratismus eingehen. Herr Burgbacher, ich schaue einmal in Ihre Richtung. Sie kennen es; die Schweiz liegt nicht weit von Ihrem Wahlkreis entfernt. In der Schweiz müssen deutsche Handwerker eine Kaution von 5 000 bis 10 000 Franken hinterlegen. ({2}) - Das hat die Schweiz entschieden, und die Bundesregierung wollte das - Herr Brüderle hat das versichert bilateral klären. Sie hat aber leider nichts zustande gebracht. ({3}) Viel versprochen, wenig realisiert. ({4}) Hier geht es den Handwerkern tatsächlich an den Kragen. Sie müssen nämlich zum einen eine Kaution hinterlegen - jetzt gibt es auch eine Bürgschaft; die muss man natürlich bezahlen - und zum anderen bei einer Lohndifferenz von zum Beispiel nur 35 Franken, die vielleicht anfällt, eine Strafe von 1 500 Franken bezahlen. Für kleine und mittlere Handwerksunternehmen ist das eine Katastrophe. ({5}) Sie feiern heute Ihre vermeintlichen Erfolge, gleichzeitig wird an anderen Stellen ein Bürokratiemonster aufgebaut. Da hilft der Satz: „Wir lassen die Unternehmen atmen“ wenig. Nein, die Unternehmen brauchen Unterstützung und müssen wirklich entlastet werden. ({6}) Wir wollen keine Markteintrittsbarrieren, und wir brauchen auch auf europäischer Ebene eine Entlastung. Ein bloßes Bekenntnis, sich auch bei europäischen Rechtsetzungsverfahren für ein geringes Maß an Bürokratie einzusetzen, ist zu wenig. Unternehmen wollen sich auf eine einfache und qualitativ hochwertige Rechtsetzung verlassen können. Deshalb brauchen wir einen europäischen Normenkontrollrat. Die Grundprinzipien einer guten Gesetzgebung sind Transparenz, Verantwortlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Konsistenz und Zielerreichung. Mit der Zielerreichung hapert es bei Ihnen. Würde sich nämlich die Bundesregierung an diese Prinzipien halten, würden nicht immer neue Bürokratien entstehen. Die schwarz-gelbe Regierung muss nun endlich mit dem Ernst machen, was sie hier ankündigt, um in den verbliebenen zwei Jahren tatsächlich noch zu dem Ziel zu kommen, das sie uns versprochen hat. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. Präsident Dr. Norbert Lammert ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der berühmte deutsche Raketentechniker Wernher von Braun wurde einmal auf die Auswüchse der Bürokratie auf seiner Arbeitsstelle in der NASA angesprochen, und er sagte den folgenden Spruch: Wir können die Schwerkraft mit unserer Technologie überwinden, aber der Papierkram erdrückt uns. Das ist das Gefühl, das auch sehr viele Unternehmer und Bürger mit dem Thema Bürokratie verbinden. Bürokratie ist ein sehr emotional diskutiertes Thema, und in den letzten Jahren - hierbei schaue ich in die Reihen der Grünen; Frau Scheel hat sich vorhin so ereifert - und insbesondere zu rot-grünen Zeiten eierte man beim Thema Bürokratieabbau hin und her und brachte nichts zustande. Die Grundlagen, die wir mit dem Nationalen Normenkontrollrat gelegt haben, hatte man damals noch nicht. Man konnte die Bürokratiekosten gar nicht richtig beziffern. Deswegen muss man doch festhalten - und das wird seitens der Opposition durchaus gewürdigt -, dass wir beim Abbau der Bürokratie in Deutschland seit 2006 einen riesigen Sprung gemacht haben. Den Bürokratieabbau an sich kann man durch Gesetz befehlen, aber letztendlich muss ein Bewusstseinswandel eintreten. Jeder muss sich immer wieder klarmachen, dass zusätzliche Bürokratie die Wirtschaft und die Bürger belastet. Deswegen muss jeder, der über Gesetzestexte oder Verordnungen nachdenkt, auch das Thema Bürokratieabbau im Hinterkopf haben. Ein solcher Bewusstseinswechsel ist jedoch nicht innerhalb eines Jahres erreichbar, sondern ein mittel- und langfristiger Prozess. Blicken wir doch einmal kurz zurück. Als wir 2006 in der Großen Koalition mit dem Bürokratieabbau Ernst machten, waren andere Länder schon weiter. ({0}) Zum Beispiel hatten die Holländer schon viele Erfahrungen mit dem Bürokratieabbau gesammelt, und auch in Schweden und Großbritannien war man schon viel weiter. Aber jetzt, nach der Arbeit der letzten fünf Jahre, ist Deutschland eindeutiger Spitzenreiter, und zwar erstens hinsichtlich der theoretischen Grundlagen des Bürokratieabbaus und zweitens hinsichtlich dessen, was wir bisher wirklich geschafft haben. Das bescheinigt uns auch der Nationale Normenkontrollrat in seinem fünften Jahresbericht, den er im September vorgelegt hat. Insofern können Sie dies nicht einfach ignorieren. 10 Milliarden Euro an Bürokratiekosten sind der deutschen Wirtschaft nachweisbar erspart worden. Es sind zwar immer noch 40 Milliarden Euro, die auf der Wirtschaft lasten, aber 10 Milliarden Euro Einsparungen sind ein erstes Pfand, das wir in der Hand haben, um auf diesem Wege weiterzugehen. Die Europäische Union hat noch lange nicht den Stand erreicht, den wir in Deutschland erreichen konnten. Wir haben mehrere Mittelstandsentlastungsgesetze gemacht und damit die deutsche Wirtschaft entlastet. ({1}) Wenn man sich den Bericht anschaut, findet man sehr interessante Zahlen: Trotz eines Abbaus von 10 Milliarden Euro an Bürokosten, sind 1 500 neue Informationspflichten über Gesetze eingeführt worden. Jetzt muss man natürlich den Saldo berechnen; das ist ganz klar. Der Nationale Normenkontrollrat beziffert die Entlastung auf 8,5 Milliarden Euro und die Mehrbelastung auf 1 Milliarde Euro. Somit kommt er zu ungefähr 7,5 Milliarden Euro an direkter Entlastung. Man hat in den letzten fünf Jahren auch ziemliche Ausschläge im Gesetzgebungsprozess erlebt. Wir haben zum einen das Steuervereinfachungsgesetz 2011, das aus Sicht des Nationalen Normenkontrollrats zu 4,05 Milliarden Euro Entlastung geführt hat. Zum anderen hat beispielsweise das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro gebracht. Im Gegenzug - und das ist hoch kritisch - hat das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie eine einzige Branche mit Bürokratiekosten in Höhe von einer halben Milliarde Euro belastet. Man muss also immer genau hingucken, wenn man über das Thema spricht: Was steht auf der positiven Seite? Was steht auf der negativen Seite? Auf der wirklich positiven Seite der letzten fünf Jahre steht die Aussage des Nationalen Normenkontrollrats, dass sich die Qualität der ausgearbeiteten Gesetzentwürfe deutlich verbessert hat. Meine Damen und Herren, es ist doch schon ein Wert an sich, wenn sich die Rechtsetzung auch mithilfe der Arbeit des Nationalen Normenkontrollrats verbessert hat. Natürlich gibt es noch Baustellen; das ist doch ganz klar. Schließlich befinden wir uns mitten im Prozess. Erstens. Ein Beispiel ist die Spürbarkeit des Abbaus. Das ist ständig Thema, und wenn wir mit unseren ausländischen Freunden reden, sagen uns diese, dass es bei ihnen nicht anders ist. Es ist nun einmal so: Wenn eine Informationspflicht wegfällt, merkt das Unternehmen dies nicht unbedingt. Denn das Unternehmen wartet nicht darauf, dass das Statistikamt oder sonst irgendjemand einen Fragebogen schickt, den es auszufüllen hat, um seiner Informationspflicht nachzukommen. Aber die Spürbarkeit des Abbaus - das stellt der Nationale Normenkontrollrat ganz klar fest - muss noch verbessert werden. Einige diesbezügliche Vorhaben stehen ja auch in unserem Antrag. Wenn wir diese Vorhaben umsetzen, dann wird auch die Spürbarkeit deutlich stärker werden. Zweitens. Die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger ist eine weitere Baustelle, die im Rahmen des Bürokratieabbaus jetzt auch in Angriff genommen werden muss. Wir müssen hier für weitere Beschleunigung sorgen. Das ist gar keine Frage. Aber die letzten 20 Prozent, wenn man schon 80 Prozent der Themen abgeräumt hat - das wissen auch Sie genau -, zu verwirklichen, stellt einen wirklich großen Schritt dar. Drittens. Wir müssen erfassen, wie der Stand der Erfüllung der Vorhaben ist. Fassen wir einmal alles zusammen. Aus dem Bericht des Nationalen Normenkontrollrates geht ganz klar hervor: Das System funktioniert. Die Rechtsetzung ist besser geworden. Der Bürokratieabbau ist im Fluss. Wir haben mit dem Normenkontrollrat ein hochmodernes Instrument geschaffen, um das uns manche andere Parlamente und Regierungen beneiden. Wir wollen deswegen auf diesem Wege weitergehen. Ich bitte Sie ganz einfach, unseren vorliegenden Antrag zu unterstützen. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Johanna Voß für die Fraktion Die Linke. ({0})

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Koalition, einen schönen Titel haben Sie gewählt: „Weniger … Belastungen für den Mittelstand“. Wunderbar! ({0}) Dafür sind wir auch; doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Der Mittelstand und insbesondere Handwerkerinnen und Handwerker wollen, dass ihre Probleme ernst genommen und sie tatsächlich entlastet werden. Leider weigern Sie sich, die Probleme überhaupt zu sehen. Das ergibt sich ganz klar aus den Antworten auf die Kleine Anfrage, die Kolleginnen und Kollegen von mir und ich zu den Handwerkskammern gestellt haben. Der Beweis: In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage schreiben Sie: Die Bundesregierung sieht bei den Handwerkskammern keine Missstände. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Die Selbstverwaltung der Kammern ist ein hohes Gut. Das heißt aber nicht, dass man keine Kritik üben darf. Ohne Kritik keine Verbesserungen. Verbesserungsbedarf gibt es zweifellos. Ein Beispiel sind die Regelungen zu den Handwerkskammerbeiträgen: Hier herrscht ein richtiger Paragrafendschungel. Da steht: Nur Personen, die eine gewerbliche Tätigkeit nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 der Handwerksordnung ausüben und unter § 90 Abs. 3 fallen, müssen gemäß § 113 Abs. 2 Satz 4 bis 5 200 Euro Jahresgewinn keinen Beitrag zahlen, wenn laut § 90 Abs. 4 - folgen Sie mir noch? - die Tätigkeit erstmals nach dem 31. Dezember 2003 angemeldet wurde. - Alles verstanden? ({1}) - Das ist es ja. - Ich mache es einmal einfach: De facto sieht die Handwerksordnung nämlich keine Beitragsbefreiung vor, egal ob Betriebe kaum Gewinne oder gar Verluste machen. Ganz paradox ist, dass häufig ein Betrieb, der keinen Gewinn macht, denselben Beitrag bezahlen muss wie ein Betrieb, der 20 000 Euro Jahresgewinn ausweist; denn der Grundbeitrag ist in vielen Handwerkskammern einheitlich, während die Freigrenzen für Zusatzbeiträge meist zwischen 10 000 und 20 000 Euro liegen. Das ist ungerecht. Das geht an der Wirklichkeit vorbei. ({2}) Wir brauchen gerechtere Beitragsordnungen, kleine und Kleinstbetriebe müssen entlastet werden. Der Beitrag muss an die Leistungsfähigkeit angepasst werden. Das wäre das Minimum, was hier zu leisten wäre. Ich komme zu einem zweiten Punkt: die Wahlordnung. Sie antworten auf unsere Anfrage: Als Regelfall geht die … Wahlordnung aber von der Zulassung von mehreren Wahlvorschlägen und der Durchführung einer Briefwahl aus. So weit, so gut. Seit 1953 - da trat die Handwerksordnung erstmals in Kraft - wird nun alle fünf Jahre in jeder der 53 Handwerkskammern die Vollversammlung gewählt. Wissen Sie, wie oft tatsächlich mehrere Wahlvorschläge zugelassen wurden, das heißt, wie oft wirklich eine Briefwahl stattgefunden hat? Ich kann es Ihnen sagen: im Ganzen dreimal. ({3}) Auch Sie könnten merken, dass die Handwerksordnung in diesem Punkt den Praxistest nicht bestanden hat. Da muss etwas geändert werden. ({4}) Wir wollen selbstverständlich Handwerkskammern, die gut funktionieren, Kammern, die die Handwerkerinnen und Handwerker entlasten und nicht belasten. Dazu braucht man Wahlen, bei denen jede und jeder eine Chance hat, zu kandidieren. Bisher ist es nicht so. Bisher müssen komplette Listen eingereicht werden, die noch dazu einen bestimmten Proporz für die Gewerke und den genauen Proporz für die Regionen einhalten müssen. Das ist so aufwendig, dass nur die bestvernetzten Betriebe die Listenaufstellung überhaupt drucken können. Die anderen bleiben außen vor. Sorgen Sie dafür, dass sich hier etwas bessert! Wie ernst die Lage für viele Handwerkerinnen und Handwerker ist, zeigen zahlreiche Briefe, die meine Fraktion bekommen hat. Zum Beispiel heißt es in einem Newsletter von friseur-intern im September dieses Jahres: Im Gegensatz zu CDU/CSU und FDP, die sich stets als Sprachrohr für das Handwerk sehen, greift die Linksfraktion den Unmut vieler Handwerksbetriebe auf. ({5}) Ich empfehle Ihnen: Öffnen Sie die Augen für diese Probleme! Sie sind es doch, die in jeder Sonntagsrede das Hohelied auf das Handwerk singen. Geben Sie Butter bei die Fische! Tun Sie etwas! Nicht die Bürokratie insgesamt soll abgebaut werden, sondern der Bürokratismus. Wir brauchen eine Handwerksordnung. Wir brauchen eine Regelung für den Beitrag, aber bitte eine vernünftige und verständliche. Ich danke Ihnen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Lena Strothmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Lena Strothmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Voß, ich will meine Redezeit nicht dafür verwenden, Ihnen zu antworten. Aber als Handwerkerin will ich Ihnen gerne einmal in einer stillen Stunde erklären, wie wir Handwerker die Vorzüge der Selbstverwaltung des Handwerks sehen. ({0}) Ein Handwerksbetrieb hat im Durchschnitt acht Mitarbeiter: den Meister, die Gesellen und die Auszubildenden. In der Regel übernimmt die Ehefrau die Buchführung, und eine Personal- und Rechtsabteilung gibt es in unseren Betrieben nicht. Statistische Erhebungen, Meldepflichten und die vielen zusätzlichen Dinge werden also von Mitarbeitern mit erledigt, die ansonsten Kostenvoranschläge bearbeiten oder Löhne berechnen. Jede zusätzliche Informations- und Dokumentationspflicht wird als echte Belastung empfunden. Nur um diese unnötigen Pflichten geht es bei dieser Bürokratiedebatte. Viele Regelungen sind im Sinne der sozialen Marktwirtschaft sogar notwendig. Nur geordnete Strukturen ermöglichen erfolgreiches unternehmerisches Denken und sozialen Zusammenhalt. Aber unnötige Bürokratie kostet Zeit und Geld. Viele Rechtsgebiete sind durch ständige Veränderungen und politische Kompromisse unüberschaubar geworden. Unternehmer können Steuerrecht, Tarifrecht und Hygieneverordnungen ohne externen Rat oft überhaupt nicht mehr überblicken. Wir alle sind für Bürokratieabbau. Jeder beklagt sich. Aber leider übersteigt oft - das ist meine Wahrnehmung die Angst vor Veränderung das Interesse an Erneuerung in unserem Land. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn leider ist die öffentliche Wahrnehmung, was die Abschaffung von Bürokratie angeht, sehr gering. Es gibt viele Pflichten, die für die Unternehmen keinen Mehrwert haben. Insgesamt übernehmen die deutschen Unternehmen 651 Tätigkeiten, für deren Kosten sie allein aufkommen. Die Rahmenbedingungen für erfolgreiches Unternehmertum orientieren sich aber an Auftragslage, Fachkräften, Investitionen usw. Die Wirtschaftslage in unserem Land ist im Augenblick gut, auch im Handwerk. Aber möglicherweise kommen schwierige Zeiten auf uns zu. Deshalb ist die Entlastung unserer Betriebe so wichtig, vor allem bei den Dingen, die den Staat nichts kosten. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten hier aktiv auf zwei Ebenen: zum einen Abbau von Bürokratie bei bestehenden Gesetzen und zum anderen die Vermeidung von Bürokratie bei neuen Gesetzen. Hier kommt dem Nationalen Normenkontrollrat eine wichtige Aufgabe zu. Seine Einsetzung und die Behandlung des Themas auf höchster Ebene, nämlich direkt im Kanzleramt, gehören meiner Meinung nach zu den Meilensteinen der politischen Entscheidungen in den letzten Jahren. ({2}) Über das Abbauziel von 25 Prozent haben wir vor fünf, sechs Jahren lange diskutiert. Uns war klar, dass diese Marke sehr anspruchsvoll ist. In den vergangenen Jahren haben wir viele Gesetze überprüft. Es gibt viele Erfolgsnachrichten - einige sind hier schon genannt worden -, auch für das Handwerk. Ich will Ihnen Beispiele nennen. Im MEG III haben wir damals die Grundlage für die Handwerkszählung geändert. Mindestens 460 000 der 1 Million Handwerksbetriebe haben davon profitiert. Das heißt, wir greifen nicht mehr auf direkte Erhebungen in den Betrieben zurück, sondern nutzen bereits vorliegende Verwaltungsdaten. Die erste Handwerkszählung fand im Sommer statt, und sie ist gut verlaufen. Ein zweites Beispiel. Auch die Entfristung bei der Istbesteuerung ist ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Wir haben dauerhaft und deutschlandweit die Umsatzgrenze für die Istbesteuerung auf 500 000 Euro festgelegt. Das schafft Rechtssicherheit für die Unternehmen und Finanzverwaltungen. Die Forderungen in unserem Antrag umfassen auch die Aufbewahrungsfristen. Aufbewahrt werden müssen Handelsbücher, Inventarlisten, Jahresabschlüsse, Lageberichte, Zollanmeldungen usw. Das alles müssen Originale sein; sie müssen feuer- und wasserfest gelagert werden, und das bis zu zehn Jahren. Die zusätzliche Lagerfläche ist mit Kosten verbunden. Die jährliche Anpassung ist aufwendig. Im Grundsatz muss alles jederzeit den Behörden zur Verfügung stehen. Hier sehen wir großen Handlungsbedarf. Auch die Befreiung der Kleinstunternehmer von der Bilanzierung ist unser Anliegen und einer der Kernvorschläge auf EU-Ebene. Die EU will mit einem eigenen Bürokratieabbauprogramm die Verwaltungskosten bis 2012 deutlich verringern. Auch hier ist das Ziel 25 ProLena Strothmann zent; das entspricht 150 Milliarden Euro. Denn gerade die Bedeutung der kleinen und mittleren Betriebe ist in Europa angekommen. Think small first: Auch hier geht der KMU-Test auf europäischer Ebene in die richtige Richtung. Das betonen wir in unserem Antrag. Brüssel wird immer noch als Quelle überbordender Bürokratie wahrgenommen. Hier müssen wir sichtbarer vorankommen, um die Akzeptanz der EU in diesem Bereich zu verbessern. Aber auch die Wirtschaft selbst ist gefragt. Im Bereich der Normung funktioniert das bereits sehr gut. Normen ermöglichen den Betrieben, sich schnell und umfassend über Abläufe zu informieren. Der Austausch von Waren und Dienstleistungen erfordert europaweit einheitliche Vorschriften. Hier werden unzählige Einzelbestimmungen vermieden. Die Weiterentwicklung im Bereich der Normung ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir haben viel zu tun, um Wirtschaft, Handwerk und Mittelstand von Bürokratie zu entlasten. Dazu braucht es viel Überzeugungskraft und Mut zu Entscheidungen. Ich lade Sie ein, daran mitzuwirken. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich einen Dank aussprechen, einen Dank an Staatsminister von Klaeden, aber auch an Sie, Herr Brüderle, weil Sie als Bundeswirtschaftsminister dem Bürokratieabbau einen neuen Schub gegeben haben. Sie beide zusammen haben die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir schon heute positive Ergebnisse vorzeigen können. ({0}) Etwas anderes fällt Ihnen gar nicht ein. Sehen Sie, so arm sind Sie an Geist. Meine Damen und Herren, wenn Sie Mittelständler fragen, was ihnen am meisten helfen würde, dann antworten 11 Prozent: Förderprogramme, 18 Prozent: Steuersenkungen, 20 Prozent: einfachere Kreditvergabe und 41 Prozent: Abbau von Bürokratie. - Das sagt doch alles. Die Bürokratie ist die Geißel des Mittelstandes, die vom Staat auferlegt worden ist. Diese gilt es zurückzunehmen und so dem Problem Rechnung zu tragen. ({1}) Auf dem Sektor Bürokratie sind wir das, was wir bei der Fußballweltmeisterschaft nicht geworden sind, nämlich Weltmeister. ({2}) Das kann nicht von der Hand gewiesen werden. In der Bundesrepublik Deutschland gab es im Jahre 2005 6 588 Gesetze und Verordnungen. Hier haben wir angesetzt. Heute gibt es „nur“ noch 5 991 Gesetze. Das ist immerhin ein Abbau von fast 600 Gesetzen. ({3}) Damit sind wir auf einem guten und vernünftigen Weg, der sich durchaus sehen lassen kann. Das kann sich vor allem deshalb sehen lassen, weil wir so dem Mittelstand weiterhelfen können, für den die Bürokratie eine besondere Belastung ist. Ein Kleinunternehmen braucht für die Bewältigung der Bürokratie pro Jahr durchschnittlich 60 Stunden pro Mitarbeiter, ein Großunternehmen hingegen nur 5,5 Stunden. Das muss man sich vor Augen halten. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, ich darf daran erinnern, dass von Ihnen 1999 mit der Initiative zum Abbau von Bürokratie viel heiße Luft erzeugt wurde. Es kam aber wenig Konkretes dabei heraus. Sie sollten sich ein Beispiel daran nehmen, was wir in den letzten beiden Jahren an Großartigem geleistet haben. ({4}) Wir geben dem Mittelstand endlich die Luft zum Atmen, die er braucht. Wir setzen den Rotstift an und streichen die Vorschriften, Regelungen, Ausführungsbestimmungen, Verordnungen, Gesetze und was es sonst noch gibt, rigoros zusammen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen erwarten das dringend. Wir wollen die Wachstumsfesseln durch Bürokratieabbau lösen. Die unionsgeführte Bundesregierung hat den Bürokratieabbau beschleunigt und sich das Ziel gesetzt, bis Ende 2011 25 Prozent der Kosten für die Informationspflichten abzubauen. Ein Blick zurück zeigt: Vor fünf Jahren mussten deutsche Unternehmen jährlich rund 50 Milliarden Euro für amtliche Statistiken, Antragsformulare, Rechnungslegung etc. aufbringen. Inzwischen sind diese Kosten für die Unternehmen bereits um 10,5 Milliarden Euro gesunken und sind damit 21 Prozent niedriger als im Jahr 2006. Das kann sich sehen lassen. Wir sind auf dem richtigen Weg. Diesen Weg müssen wir weiter gehen, und das werden wir auch tun. ({5}) Zum ersten Mal ist es gelungen, die Belastungen der Wirtschaft durch die Bürokratie nachzuweisen und zu senken. Auch dieser Erfolg kann sich sehen lassen. Die größte Entlastung ergibt sich aus der Vereinfachung der elektronischen Rechnungsstellung. Die Herabsetzung der Anforderungen an elektronisch übermittelte Rechnungen und die Anerkennung von Rechnungen per E-Mail durch das Finanzamt führen in der Wirtschaft bereits zu Entlastungen in Höhe von 4,1 Milliarden Euro im Jahr. Durch die Änderung der Vergabeordnung sparen die Unternehmen künftig über 265 Millionen Euro jährlich. Herr Fraktionsvorsitzender Kauder, darauf sind wir stolz. Das haben wir auf den Weg gebracht. ({6}) Die bisher geforderten Nachweise zur Eignung der Bieter - also Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit - können künftig in etwa 80 Prozent der betreffenden Ausschreibungen durch entsprechende Eigenerklärungen der Bieter ersetzt werden. Weitere Entlastungen für Unternehmen sind im Steuervereinfachungsgesetz 2011 - im Umfang von 4,1 Milliarden Euro - sowie im Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz - im Umfang von 2,5 Milliarden Euro - enthalten. Meine Damen und Herren, wir müssen das auch sagen und es nicht nur zur Kenntnis nehmen. Denn es ist Fakt und es lässt sich Gott sei Dank hier vermelden, dass wir das durch vernünftige Politik, insbesondere was den Bürokratieabbau beim Mittelstand anbelangt, erreicht haben. Ich darf bei dieser Gelegenheit auch darauf verweisen, dass sich die EU auf dem richtigen Weg befindet. Die Kommission mit Altministerpräsident Stoiber an der Spitze - er war im Wirtschaftsausschuss und in verschiedenen anderen Ausschüssen - leistet hier hervorragende Arbeit. So wurden bis Juli 2011 auf EU-Ebene mehrere Maßnahmen verabschiedet. Dort wurden die Bürokratiekosten um 22 Prozent gesenkt; bis 2012 ist ein Abbau um insgesamt 25 Prozent avisiert. Damit werden Unternehmen um circa 27 Milliarden Euro entlastet. Was die Kommission ansonsten Positives bewirkt hat, steht in meinem Redemanuskript; aber ich kann das nicht vortragen, weil es den zeitlichen Rahmen sprengen würde. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bürokratieabbau - das sollten wir alle uns voll zu Herzen nehmen ist ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Bürokratieabbau stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland, macht ihn zukunftsfähig und muss mit Nachdruck fortgesetzt werden. Die Vermeidung und der Abbau überflüssiger Bürokratie sind insbesondere im Mittelstand von ähnlich fundamentaler Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg wie Innovation, Fachkräfte, Unternehmensnachfolgen und -gründungen, Marktchancen im Ausland, Finanzierung, Rohstoffe sowie Energie- und Materialeffizienz. Dem wollen wir Rechnung tragen. Lassen Sie mich zum Abschluss dem Nationalen Normenkontrollrat ein großes Kompliment aussprechen: Unter Leitung von Dr. Ludewig wurde hier Hervorragendes geleistet. Machen wir uns nichts vor: Wir werden in dem Fall schon ein bisschen kontrolliert, denn jedes Gesetz, das wir beschließen, muss zunächst die Zustimmung des Nationalen Normenkontrollrates erfahren; sonst kann es nicht in Kraft treten. Das sind vernünftige Ansätze; das ist der richtige Weg. Wir gehen diesen Weg. Wir reden nicht nur, sondern handeln, weil die Bürokratie für den Mittelstand so belastend ist.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden dem auch in Zukunft Rechnung tragen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/7636 und 17/7610 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts - Drucksache 17/773 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 17/7675 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({1}) Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({2}) Memet Kilic - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts - Drucksache 17/3411 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3}) - Drucksache 17/7675 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({4}) Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({5}) Memet Kilic b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan Präsident Dr. Norbert Lammert Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausgrenzung beenden - Einbürgerungen umfassend erleichtern - Drucksachen 17/2351, 17/7675 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({7}) Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({8}) Memet Kilic Der Innenausschuss hat den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts auf der Drucksache 17/3411 in seine Beschlussempfehlung einbezogen. Über diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Darf ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall. Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Das heißt, wir werden die namentliche Abstimmung vermutlich irgendwann kurz vor 12 Uhr erwarten können. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Ole Schröder das Wort. ({9})

Dr. Ole Schröder (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003628

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man muss es deutlich sagen: Das, was SPD, Grüne und Linke hier in ihren Gesetzentwürfen und im Antrag vorschlagen, ist ein Paradigmenwechsel im Staatsangehörigkeitsrecht. ({0}) Bisher ist es so, dass die Einbürgerung den Abschluss eines gelungenen Integrationsprozesses darstellt. Sie meinen offensichtlich, dass sich jemand allein dadurch integriert, dass Sie ihm die Staatsbürgerschaft geben. ({1}) Ihr Ziel ist eine erhebliche Absenkung der Einbürgerungsvoraussetzungen. So schlägt die SPD zum Beispiel vor, die erforderlichen Aufenthaltszeiten auf nur noch sieben Jahre zu verkürzen. Die Grünen wollen sogar nur sechs Jahre. Auf diese Frist sollen dann auch noch Zeiten angerechnet werden, in denen jemand lediglich geduldet wurde, also keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel in Deutschland hatte. Ebenso wollen Sie Zeiten im Asylverfahren berücksichtigen, selbst wenn das Asylverfahren am Ende erfolglos bleibt. Die Grünen - das ist der eindeutigste Beweis dafür, dass es Ihnen gar nicht mehr um Integration geht - wollen darüber hinaus den Einbürgerungstest abschaffen. Auch den Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit geben Sie auf. Sie wollen die doppelte Staatsbürgerschaft sowohl beim Erwerb nach dem Geburtsortsprinzip als auch bei der Einbürgerung auf Dauer hinnehmen. Wir haben hierzu eine dezidiert andere Meinung. Für uns ist die Einbürgerung Ausdruck gelungener Integration. Sie steht nicht am Anfang, sondern sie setzt bereits eine Reihe von Integrationsleistungen voraus. ({2}) Hierzu gehören angemessene Aufenthaltszeiten, ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und ein Verständnis für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung. Eine ganz wesentliche Voraussetzung für uns ist, dass der Einbürgerungsbewerber und derjenige, der seine Staatsangehörigkeit dadurch erwirbt, dass er in Deutschland geboren wurde, ({3}) seine frühere Staatsangehörigkeit aufgibt und sich ohne Vorbehalte zu seinem neuen Staat bekennt, meine Damen und Herren. Gerade in diesem letzten Punkt hatte es 1999 bei der Einführung des Geburtsortsprinzips noch einen Kompromiss gegeben, der nun von Ihnen aufgekündigt wird. Damals waren Sie bereit, mit der Entscheidung für die Optionspflicht noch an der Vermeidung von Mehrstaatigkeit festzuhalten. ({4}) Nun sind die ersten Kinder aus der Übergangsregelung in das optionspflichtige Alter gekommen. Sie von Rot und Grün wollen nun vom zweiten Teil des Kompromisses, nämlich dass sich jeder für eine Staatsangehörigkeit entscheiden muss, nichts mehr wissen. ({5}) Sie wollen die Regelung bereits abschaffen, obwohl noch kein einziges Kind aus der Ius-soli-Regelung das Ende der Optionsfrist erreicht hat. ({6}) Woher nehmen Sie eigentlich die Erkenntnis, dass das damals von Ihnen beschlossene Optionsverfahren gescheitert ist? ({7}) Die Koalition hat in ihrer Koalitionsvereinbarung das Thema ernst genommen. Wir haben uns darauf verstän16470 digt, die Erfahrung mit den ersten Optionsjahrgängen auf möglichen Verbesserungsbedarf hin zu überprüfen. Zugleich werden wir das Einbürgerungsrecht insgesamt auf unverhältnismäßige Hemmnisse überprüfen. ({8}) Die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - das wissen Sie - führt derzeit eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung zur Optionsregelung und zum Einbürgerungsverhalten insgesamt durch. ({9}) Die Evaluierungsergebnisse werden in der ersten Hälfte des nächsten Jahres vorliegen. Ich meine, dass wir diese abwarten sollten. Denn eine sachliche Diskussion ist nur möglich, wenn wir die Fakten kennen. ({10}) An dieser Stelle ist es mir wichtig, noch einmal die Bedeutung der Vermeidung von Mehrstaatigkeit hervorzuheben. Sie ist letztlich der Ausdruck der Funktion von Staatsangehörigkeit überhaupt, nämlich einen einheitlichen Staat zu bilden. Doppelte Staatsangehörigkeit kann zu Loyalitätskonflikten führen. ({11}) Die Gefahr besteht immer dann, wenn der jeweils andere Staat versucht, die Betroffenen für seine politischen Ziele zu instrumentalisieren. Ein anschauliches Beispiel hierfür hatten wir beim Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan 2008 in der Kölnarena sowie jüngst bei seinen Äußerungen anlässlich seines Besuchs in Deutschland. Hierbei gilt es, sich klar zu entscheiden und klar abzugrenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({12}) Mehrstaatigkeit kann zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen. Im Familien- und Erbrecht und im Bereich der konsularischen Betreuung ({13}) bestehen dann konkurrierende Regelungen, die sich überlagern, und Ansprüche, die nicht klar sind. Mit der Aufgabe der früheren Staatsangehörigkeit verlangen wir nichts Unzumutbares. Sie bedeutet in keiner Weise den Abbruch der sozialen und kulturellen Bindung zum früheren Heimatland. Die Staatsangehörigkeit soll demjenigen, der dauerhaft in einem Land lebt, die Teilnahme an der Willensbildung und die Mitwirkung an der Ausübung der Staatsgewalt ermöglichen. Liegt der Lebensmittelpunkt in einem neuen Land, so verlieren die staatsbürgerlichen Rechte im alten Heimatland natürlich an Gewicht. Bundespräsident Wulff hat in seiner Rede anlässlich der Einbürgerungsfeier im Schloss Bellevue im September 2011 festgestellt, dass die Einbürgerung für die Einwanderer nicht die Abkehr von ihrer Familiengeschichte und Herkunft bedeutet. Vielmehr legen sie ein Bekenntnis zu ihrer Zukunft in Deutschland ab. Es stellt sich die Frage, ob die Fixierung der Opposition auf den Aspekt der doppelten Staatsangehörigkeit weniger der Sache als vielmehr der politischen Zuspitzung dient. Der Komplexität der einbürgerungsrechtlichen Problematik wird sie in keinem Fall gerecht; denn sie vernachlässigt weitere wichtige Aspekte, die sich auf das Einbürgerungsverhalten auswirken. Betrachtet man die Zahlen, die belegen, wie sich die Einbürgerung in den letzten Jahren entwickelt hat, dann stellt man von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedliche Entwicklungen fest. Während in Hamburg die Zahl der Einbürgerungen um über 40 Prozent gestiegen ist, ist sie in Berlin unter Rot-Rot um über 12 Prozent gesunken. ({14}) Bereits 2009 war die Zahl in Berlin entgegen dem Bundestrend um 8,1 Prozent zurückgegangen. An Maßnahmen der Bundesregierung kann das wirklich nicht gelegen haben. Selbstverständlich liegt es an Maßnahmen, die in dem jeweiligen Bundesland getroffen wurden. Es liegt daran, dass Hamburg erhebliche Anstrengungen unternommen hat: In den Einbürgerungsbehörden ist Personal eingestellt worden, man hat Werbung für die Einbürgerung gemacht, in einigen Bereichen wurden Informationsoffensiven gestartet. Das zeigt: Einbürgerung wird nicht allein durch die gesetzlichen Regelungen, sondern ganz wesentlich durch die konkrete Umsetzung und Handhabung in den jeweiligen Verwaltungen beeinflusst. Informationen und Werbung für die deutsche Staatsangehörigkeit bringen insofern mehr für die Einbürgerung als wohlfeile politische Forderungen. Im Interesse der bei uns lebenden Ausländer sollten Sie für die Einbürgerung in Deutschland werben. Rühren Sie nicht immer nur die große Trommel der doppelten Staatsangehörigkeit. Lassen Sie uns die Ergebnisse der Evaluierung abwarten. ({15}) Dann können wir auf gesicherter Grundlage darüber sprechen, wo es Hemmnisse gibt und was der Grund dafür ist, dass sich viele eben nicht einbürgern lassen wollen. Interessanterweise ist es so, dass sich gerade aus der Gruppe, für die wir eine doppelte Staatsangehörigkeit zulassen, nämlich für diejenigen, die aus EU-Mitgliedstaaten kommen, besonders wenig Menschen einbürgern lassen. Da stellt sich die Frage, woran das liegt. ({16}) Es hängt damit zusammen, dass der Rechtsrahmen mehr oder weniger der gleiche ist, unabhängig davon, ob sie sich in Deutschland lediglich aufhalten oder ob sie deutsche Staatsbürger sind. Das sollten wir berücksichtigen. Wir glauben, dass es richtig ist, weiterhin daran festzuhalten, dass die Staatsangehörigkeit nur eine einzige sein kann. Das hat mit Loyalität zu tun. Das ist Ausdruck von gelungener Integration. Ich frage mich, warum Sie daran nicht festhalten wollen. Ist es nicht vielleicht Ausdruck dessen, dass es Ihnen nicht um Integration geht, da Sie es zulassen wollen, dass hier Menschen leben, die sich überhaupt nicht um Integration bemühen? Das sollten Sie eindeutig zum Ausdruck bringen und nicht über den Umweg des Staatsangehörigkeitsrechts. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Özoğuz für die SPD-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, man könnte Ihnen mit einem Satz antworten: Wir halten die Optionspflicht schlicht für falsch und unzeitgemäß, und wir wollen das ändern. Ich werde das jetzt aber natürlich noch ein bisschen ausführen. ({0}) Wir Sozialdemokraten haben es gemeinsam mit den Grünen 1999 geschafft, das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 weitgehend den Realitäten unseres Landes anzupassen. Über einen unzureichend gelösten Punkt sprechen wir heute. Man sollte auch erwähnen: Es ist uns 2005 gemeinsam mit der Union gelungen - die Zustimmung der Grünen war gegeben -, endlich ein Zuwanderungsrecht zu verabschieden, in dem unter anderem die Integrations- und Sprachkurse eine ganz wesentliche Rolle spielen. Die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs war nicht leicht. Manch einer wird sich vielleicht an das Schauspiel im Bundesrat erinnern. Es ist trotzdem gelungen. Das Interessante ist: Es gibt kaum eine Partei, die sich dafür bei allen Gelegenheiten so sehr selbst feiert, wie die damals so zögerliche Union. Meine Damen und Herren von der Union, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geben Ihnen mit unserem Gesetzentwurf heute erneut die Gelegenheit, als letzte Fraktion hier im Hause die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich in den nächsten Jahren für die Abschaffung des Optionsmodells und für das Bekenntnis zu einer modernen und gleichzeitig solidarischen Gesellschaft mit uns allen gemeinsam feiern zu lassen. ({1}) Es ist damals gelungen, Sie davon zu überzeugen, dass es absurd ist, Kinder der zweiten, dritten oder vierten Generation immer weiter als Ausländer in Deutschland zu betrachten, obwohl sie hier geboren und sozialisiert wurden. Es ist auch gelungen, dafür zu sorgen, dass Kindern mit einem ausländischen Elternteil, die in Deutschland geboren werden, unter bestimmten Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit per Geburt verliehen wird. Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, wann für Sie der Integrationsprozess beginnt. Nach Ihren Maßstäben muss er bereits im Mutterbauch beginnen. ({2}) Leider war damals nur die Optionspflicht, also der Zwang, sich zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, als Kompromiss möglich. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir dieses Optionsmodell, also den Zwang zur Aufgabe einer Staatsbürgerschaft, abschaffen. Wir wollen ein konsequentes Bekenntnis zur doppelten Staatsbürgerschaft hier geborener Kinder ausländischer Eltern. Auch bei Einbürgerung soll die doppelte Staatsangehörigkeit möglich sein. In diesem Zusammenhang - Sie haben es zu Recht erwähnt - fordern wir in unserem Gesetzentwurf auch eine moderate Absenkung der Voraufenthaltszeiten. Es gibt ja Hoffnung auf Einsicht, auch bei Ihnen. In der vergangenen Sitzungswoche haben wir hier eine sehr sachliche und angenehme Debatte über das Thema „50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“ geführt. Sie selbst haben von der teils mangelnden Attraktivität Deutschlands für hier geborene, gut ausgebildete Menschen gesprochen. Sie haben auch davon gesprochen, dass viele von ihnen unser Land verlassen, dass wir sehenden Auges auf einen Fachkräftemangel zusteuern und dass wir das alles billigend in Kauf nehmen. Ihre Pressemitteilung, Herr Wolff - das muss an dieser Stelle erwähnt werden -, in der steht, wir würden das Abstammungsrecht abschaffen wollen, muss Ihrer Verzweiflung geschuldet sein, dass Sie gar nicht wissen, wie Sie sich dazu verhalten wollen. ({3}) Ich kann das nicht nachvollziehen. Niemand möchte das Abstammungsrecht abschaffen. Ein Kind deutscher Eltern, ob es an der Elfenbeinküste oder sonst wo geboren wird, wird weiterhin Deutscher sein. ({4}) Das müssten Sie uns wirklich einmal genauer erläutern. ({5}) Wir wollen ein integrationspolitisches Signal setzen. Die Betroffenen werden als Deutsche mit Rechten und Pflichten, einschließlich des Wahlrechts, in die Gesellschaft aufgenommen, aber eben ohne dass ihnen abverlangt wird, dass sie die für sie so wichtige und symbolträchtige alte Staatsbürgerschaft aufgeben, was meist sehr belastend ist. Weil der Optionszwang einfach nicht in unsere Zeit und zu den realen Lebensumständen der Menschen passt, haben von SPD und Grünen geführte Länder im Bundesrat am 23. September dieses Jahres einen Gesetzesantrag zur Aufhebung des Optionszwangs eingebracht. Interessant ist, dass Innenminister Schünemann von der CDU im Bundesrat zu Protokoll gab, dass der Optionsregelung vorgeworfen werde, sie sei ein bürokratisches „Verwaltungsmonstrum“, und er dem zustimme. Recht hat er. Das Optionsmodell wirft tatsächlich integrationspolitische und verwaltungspraktische Probleme auf. Integrationspolitisch entbehrt es jeglicher Logik; das habe ich schon ausgeführt. Ich verstehe nicht, warum wir junge Menschen, die in Deutschland geboren, aufgewachsen und hier zur Schule gegangen sind, die hier verwurzelt sind und bis zur Volljährigkeit mit zwei Staatsangehörigkeiten gelebt haben, nun plötzlich zwingen wollen, sich für eine zu entscheiden. Verwaltungspraktisch ist es noch interessanter. Es besteht schon heute Handlungsbedarf, nicht erst in einigen Jahren. Es gibt schon heute die seit 2008 optionspflichtigen Jugendlichen nach § 40 b Staatsangehörigkeitsgesetz. Bisher haben gut 15 000 Jugendliche - in diesem Jahr sind es rund 4 160 - Post von der Behörde bekommen. Im 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration heißt es zu diesem Bürokratiemonstrum Optionsmodell treffend: Der Aufwand für die Durchführung eines Optionsverfahrens bei den Staatsangehörigkeitsbehörden ist nach den bisherigen Erfahrungen in der Praxis mindestens so groß wie der Aufwand für ein vollständiges Einbürgerungsverfahren. … Schon bei der heutigen Situation mit Fallzahlen von etwa 3.000 bis 4.000 Optionskindern pro Jahr bundesweit wurde von größeren ({6}) Schwierigkeiten bei der Umsetzung berichtet. Verbunden wurden diese oft mit den Befürchtungen für die Zeit ab 2018, wenn jährlich rund 40.000 Jugendliche bundesweit optionspflichtig werden. Nun schreibt Professor Thränhardt von der Universität Münster in seinem Gutachten für das Land Nordrhein-Westfalen: Geschieht nichts, so würde die Optionsregelung die Einbürgerungsbehörden lahmlegen, falls nicht in großem Ausmaß neues Personal eingestellt würde. Mit diesem Aufwand werden die Länder bzw. die Kommunen belastet. - Das wollen Sie zulassen. Das ist ein bürokratischer Wahnsinn, auf den unser Land zusteuert, und Sie wissen das. ({7}) Sie haben doch gerade in der vorangegangenen Debatte über Bürokratieabbau gesprochen. Herr Hinsken hat eben noch hier am Pult gestanden und gesagt: Bürokratieabbau stärkt den Standort Deutschland. - Ja, dann machen Sie das auch, und verabschieden Sie sich endlich von dieser Optionspflicht. ({8}) Die zentralen Argumente gegen die Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeiten sind längst überholt, so wie etwa - dieses Argument haben wir eben wieder gehört der Verweis auf Loyalitätskonflikte. Staatssekretär Ole Schröder war sich noch in der Debatte am 28. Oktober letzten Jahres nicht zu schade, zu argumentieren, dass das im Zusammenhang mit der Wehrpflicht ein Problem sein könnte. ({9}) Dass Sie so etwas gesagt haben, während gleichzeitig nebenan im Verteidigungsministerium darüber nachgedacht wurde, wie die Wehrpflicht abgeschafft werden kann, das ist nun wirklich bezeichnend für die Rückständigkeit dieser Bundesregierung in Sachen Staatsbürgerrecht. ({10}) Eines muss ich Herrn Kollegen Hartfrid Wolff noch mitgeben. Er hat damals an die Grünen die Aussage gerichtet, sie würden „die deutsche Staatsangehörigkeit auf dem Multikultibasar verramschen“. ({11}) Ich gebe Ihnen eine kleine Denkhilfe aus Ihrem eigenen Parteiprogramm: Die Integration kann jedoch auch durch doppelte Staatsbürgerschaft gefördert werden, wie die vielen Fälle von gut integrierten Mitbürgern mit Doppelstaatsbürgerschaft zeigen. ({12}) Also, wenn eine Partei ihre Programmatik komplett auf dem Koalitionsbasar verramscht hat, dann, würde ich sagen, ist es die FDP. ({13}) Ein letzter Punkt. Die Realität hat Sie im Grunde längst eingeholt. Die vielen Abweichungen vom Prinzip „Eine Person - ein Pass“, die es heute schon gibt, führen dazu, dass laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2010 bei 53 Prozent der Einbürgerungen Mehrstaatigkeit hingenommen wurde. Staatssekretär Schröder sprach von einer Minderheit; da sollten Sie sich noch einmal schlaumachen. Viel deutlicher kann eine statistische Entwicklung nicht ausfallen. Ich hoffe, dass Sie den warmen Worten, die Sie in der letzten Debatte von diesem Pult aus gesagt haben, Taten folgen lassen. Es geht an der Lebensrealität der jungen Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz Menschen bei uns in Deutschland vollkommen vorbei, sie vor eine derart absurde Wahl zu stellen. Stimmen Sie mit uns heute für unseren Gesetzentwurf, und lassen Sie sich dann in den nächsten Jahren mit dafür feiern. Danke. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die SPD fordert wieder einmal die Abschaffung des Optionsmodells, das sie selbst vor zehn Jahren eingeführt hat. Es ist schon spannend, zu hören, wie Sie die Bürokratie geißeln, Frau Kollegin. ({0}) Hätten Sie das mal früher gedacht! ({1}) Das ist bei der SPD aber nichts Neues. Erst schaffen Sie Bürokratie, und an anderer Stelle geißeln Sie sie. Das ist keine stringente Linie der SPD. ({2}) Vor zehn Tagen wurden wir von der SPD überrascht. Es hieß, es gebe neue Forderungen für die Hinnahme von Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der SPD vom Februar 2010. Es entsteht der Eindruck: Dieser Opposition fällt nichts wirklich Neues ein. Ich muss ganz ehrlich sagen: Eine so schwache Opposition haben wir als Regierung nicht verdient. ({3}) Da nützt es auch nichts, dass der Fraktionsvorsitzende nachher kurz vor dem SPD-Parteitag selbst das Wort ergreift. Sie sollten sich einmal neue Gedanken machen und nicht immer wieder Ihre alten Ideen aufwärmen. ({4}) Dass sich die SPD von den Ergebnissen ihrer eigenen Regierungszeit distanziert, haben wir schon ein paar Mal erlebt. ({5}) Inzwischen erleben wir aber immer häufiger, dass die deutsche Sozialdemokratie sogar ihren Kompass verliert. ({6}) Sachlich bleibt ohnehin klar: Die Abschaffung des Optionsmodells zu fordern, ist aus meiner Sicht völlig absurd; hier hat der Staatssekretär recht. Die Initiative ist bei weitem nicht die erste. Alle Oppositionsparteien haben das schon gefordert, auch im Bundesrat. Auch da gibt es also nicht Neues. Angesichts der Konkurrenz im linken Lager - von Piraten, Grünen und Linken - wirkt dieser Versuch der SPD, ein Thema zu besetzen, eher hilflos, wie eine Art Überbietungswettbewerb. Wir Liberale haben das Optionsmodell seinerzeit vorgeschlagen, um den Weg zu einer Öffnung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts in Richtung auf das Jus Soli zu ermöglichen. Es macht nach wie vor keinen Sinn, ein Gesetz zu ändern, für dessen Wirkung es praktisch noch keine verwertbaren Daten gibt. ({7}) Es ist einfach sinnvoll, erst einmal Erfahrungsberichte abzuwarten - bleiben Sie ein bisschen seriös, Kollegin -, ({8}) um beurteilen zu können, wie sich diese Regelung tatsächlich auswirkt, ({9}) und danach die rechtlichen Anpassungsmöglichkeiten zu prüfen. So ist es auch im Koalitionsvertrag vorgesehen. Alles andere ist wohlfeiler sozialdemokratischer Aktionismus, der kein Problem löst, sondern - im Gegenteil eher neue Probleme schaffen könnte. Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen ist es nach Auffassung von Rot-Rot-Grün unzumutbar, sich bei Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Linke Parteien tun sich mit der Wahlfreiheit, der Kompetenz des Individuums, sich entscheiden zu dürfen, ja generell etwas schwerer. Anders als Kinder deutscher Eltern sollen die Betreffenden durch Mehrfachstaatsangehörigkeit privilegiert werden. Ausdrücklich besagt der SPD-Gesetzentwurf, ({10}) es solle fürderhin ein konsequentes Bekenntnis zur doppelten oder mehrfachen Staatsbürgerschaft geben. Vielleicht hofft die SPD auf Unterstützung durch den Wahlkämpfer Erdogan, der die Erhaltung des Türkentums in Deutschland beschwört. ({11}) Meine Damen und Herren, die SPD frohlockte einst über die Abschaffung des Abstammungsprinzips bei der Staatsangehörigkeit. ({12}) Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz Hartfrid Wolff ({13}) - Hören Sie mir zu; denn Sie haben mich vorhin gefragt. - Sie wollten das Abstammungsprinzip abschaffen. ({14}) Aber für Migranten wollen Sie es jetzt beibehalten. ({15}) Wer die doppelte Staatsangehörigkeit fordert, stoppt die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. ({16}) Galt Linken, Grünen und SPD das Abstammungsrecht bei deutschen Aussiedlern noch als reaktionäres Rechtsprinzip, ({17}) ist es für die doppelte Staatsangehörigkeit, etwa für Araber, plötzlich wieder erwünscht. ({18}) Es ist in der Tat absurd, in dem Land, in man geboren ist und dauerhaft leben will, Ausländer zu sein. Allerdings: Niemand in diesem Haus will Menschen, die sich eindeutig für Deutschland entscheiden, die die deutsche Sprache beherrschen und sich auf unsere Grundwerte verpflichten, daran hindern, deutsche Staatsangehörige zu werden. ({19}) Nicht die Optionsmöglichkeit, sondern die desintegrative Haltung von bestimmten Verbänden, die eine Art von Herkunftsnationalismus beschwören, geht an der Lebenswirklichkeit der betreffenden Menschen vorbei. Dass sich die Oppositionsparteien vor diesen reaktionären Karren spannen lassen, ist aus meiner Sicht ein Armutszeugnis. ({20}) Fortschrittlich wäre es dagegen, das Jus Soli weiterzuentwickeln. Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur gelingen, wenn man sich mit den gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche Gesellschaft integriert. ({21}) Mit einer doppelten Staatsangehörigkeit wird die Integration erschwert, wenn Migranten mit Doppelstaatsangehörigkeit dem Irrtum verfallen, man könne gleichzeitig zwei Staaten angehören. Durch Migrantenschicksale zeigt sich oft, dass genau dies eben nicht möglich ist. Wer weder ganz hier noch ganz dort bleiben will, ist nirgendwo als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert ganz unabhängig vom formalrechtlichen Status. ({22}) - Herr Kollege, unabhängig davon. Rot-Rot-Grün tut so, als ob Migration allein eine geografische Standortveränderung wäre, und damit basta. Das ist gefährlicher Unfug. Jeder, der sich mit Migranten auseinandergesetzt hat, weiß, dass Zuwanderung nicht einfach durch eine Änderung des Territoriums, sondern durch den Umzug in ein Land mit anderen Menschen, anderer Tradition, Sprache und Kultur erfolgt. Wer das verschweigt oder kleinreden will und das Ganze allein geografisch sieht, der zerstört die Zukunftschancen gerade der Migranten hier in Deutschland. ({23}) Mit einer Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, wird die Akzeptanz von Migranten keinesfalls gestärkt. ({24}) Wer die Zukunft einer deutschen Nation erstrebt, in der nicht Hautfarbe oder Abstammung, sondern allein der Wille und die freiwillige Verpflichtung, dazuzugehören, entscheidend für die Zugehörigkeit sind, der muss verhindern, dass Abstammungsfragen in Deutschland wieder salonfähig werden, wie das durch das Instrument der mehrfachen Staatsangehörigkeit geschieht. ({25}) Die Koalition aus Union und FDP hat beeindruckende Weichenstellungen in der Abkehr von rot-rot-grüner Multikultiideologie vorgenommen. ({26}) Die FDP wird die freie Entscheidung der Individuen und die Integrationsleistungen jedes Einzelnen weiterhin höher schätzen als die Beschwörung von Herkunft und ethnischen Milieus. ({27}) So gestalten wir den überfälligen Neuanfang in der Integrationspolitik auf dem Weg zu einer Kultur des Willkommens auf der Basis von Gleichberechtigung, gegenseitiger staatsbürgerlicher Loyalität und fairem Miteinander. Vielen Dank. ({28})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke will Ausgrenzung beenden und Einbürgerungen umfassend erleichtern. ({0}) Wir sagen den Menschen, die hier leben und bleiben wollen: Willkommen, ihr gehört zu uns. Immer weniger Menschen werden in Deutschland eingebürgert. Warum ist das so, und warum ist die Situation zum Beispiel in Schweden, Portugal oder Polen ganz anders? In europäischen Ländern mit einer hohen Einbürgerungsquote ist es folgendermaßen: Einbürgerungen sind auch dann möglich, wenn die Menschen weniger als fünf Jahre in diesem Land leben, ein eigenständiges Einkommen muss nicht nachgewiesen werden, in diesen Ländern ist Mehrstaatigkeit generell erlaubt, und auf Einbürgerungstests wird verzichtet. Das ist eine sehr vernünftige Regelung. ({1}) Herr Kollege Schröder, Sie haben gesagt: Wir wissen noch gar nichts. - Das stimmt nicht. Das Gesetz ist nun zwölf Jahre alt, die Analysen liegen auf dem Tisch. Im Jahr 1999 haben SPD, Grüne und FDP ein Gesetz beschlossen, das sich in einem ganz wesentlichen Punkt zum Einbürgerungsverhinderungsgesetz entwickelt hat. Das muss heute dringend korrigiert werden. ({2}) Ich finde, wir müssen uns jetzt für die Menschen entscheiden, die seit Jahren in unserem Land leben. SPD und Grüne haben sich mit ihren Gesetzentwürfen ebenso wie die Linke mit ihrem Antrag eindeutig für die Einbürgerung von Menschen entschieden, die gern in unserem Land leben und den Wunsch haben, an der Gestaltung der Gesellschaft demokratisch mitzuwirken. Ich bin der festen Überzeugung: Das kann für uns alle nur gut sein! ({3}) Wenn CDU/CSU und FDP die Vorlagen ablehnen, dann schaffen sie in unserem Land neue Mauern zwischen den Menschen, ({4}) verhindern die demokratische Teilhabe von Millionen von Menschen und befördern Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land. Das ist verantwortungslos. ({5}) Der europäische Vergleich zeigt doch, dass es anders geht. Die Bundesregierung muss einfach nur über den eigenen Tellerrand schauen. Wir können von unseren europäischen Partnern wirklich viel lernen. Aber im Augenblick vermittelt die Bundesregierung den Eindruck, dass alle anderen EU-Länder „deutscher“ werden müssen. Wer wirklich ein gemeinsames Europa will, der wählt damit einen sehr schlechten Ansatz, einen Ansatz, der scheitern muss. ({6}) Ich sage Ihnen: Wir können von Schweden, von Portugal und von Polen lernen. Wir haben versucht, mit unserem Antrag die europäischen Erfahrungen aufzunehmen, und gehen damit weiter als SPD und Grüne. Beide Fraktionen haben unseren Anträgen leider nicht zugestimmt. Das finden wir schade. Aber trotzdem werden wir den Gesetzentwürfen von SPD und Grünen zustimmen. Ich hoffe, wir fördern damit die Bereitschaft dieser beiden Fraktionen, in der Frage der Einbürgerung noch europäischer zu denken. Ich glaube, das ist nötig. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich möchte mich jetzt besonders an Sie wenden und etwas von Kollegen aus Ihrer Partei anführen. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Der Umstand, dass … eine ganze Generation junger Türken gezwungen ist, sich zu entscheiden zwischen dem Land ihrer Eltern und dem Land ihrer Lebenswirklichkeit, muss endlich beendet werden. An anderer Stelle heißt es: Entscheidend ist, wo Menschen ihren Lebensmittelpunkt haben. Pässe sollten zweitrangig sein. Dieses Zitat stammt aus einem Papier der FDP-Fraktion im Niedersächsischen Landtag. Offensichtlich sind Ihre Kollegen in Niedersachsen schon weiter als Sie hier in Berlin. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Orientieren Sie sich in dieser Frage an Ihren Kollegen aus Niedersachsen! ({8}) Die Bundesregierung spricht gerne über Integration, baut aber immer höhere Mauern gegen die Integration auf. Ich sage Ihnen: Wir brauchen in Deutschland bei der Einbürgerung endlich europäische Normalität und nicht deutsche Sonderwege. Wenn wir Menschen in unserem Land willkommen heißen, dann ist das für uns alle besser. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Reden von Herrn Staatssekretär Schröder und von Herrn Wolff hört, dann kann das schon zu Irritationen führen. Bei Herrn Schröder denke ich: Immer wenn von der Regierungsbank Daten des Statistischen Bundesamtes vorzulesen sind, wird Herr Schröder geschickt. Das kommt mir so vor, als wäre heute der nationale Vorlesetag. Das ist er aber gar nicht, Herr Schröder. ({0}) Bei Herrn Wolff denke ich: Jetzt gibt es gleich einen Vortrag über die Mendel’sche Abstammungslehre. Aber auch das ist nicht das Thema. ({1}) Ein Thema ist hier und heute, dass wir 50 Jahre nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen überlegen müssen: Wo sind wir angekommen? ({2}) Es reicht an dieser Stelle nicht, zu feiern und sich Filme anzuschauen, in denen gezeigt wird, woher die damaligen sogenannten Gastarbeiter kommen. Vielmehr geht es auch darum, zu reflektieren: Was ist in den 50 Jahren passiert? Max Frisch hat gesagt: Es wurden Arbeitskräfte eingeladen, aber es sind Menschen gekommen. Wie gehen wir denn mit diesen Menschen um? Ihre Kriterien sind für die Frage des Umgangs miteinander definitiv unbrauchbar. ({3}) Schauen Sie sich einmal Folgendes an: Heute leben fast 8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die mehr als 8 Jahre hier sind. Der Punkt ist: Sie erfüllen die wichtigsten Einbürgerungsvoraussetzungen. In anderen europäischen Ländern - das zeigt der Vergleich - wären sie alle schon eingebürgert. Was ist bei uns passiert? Bei uns werden die Kinder der Einwanderer zu Auswanderern. Wir sind ein Auswandererland, weil gut gebildete Migranten, zum Beispiel junge Türkinnen und Türken, in Brüssel oder Istanbul ihre berufliche Karriere besser weiterverfolgen können. Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können es nicht. Es geht nicht um die Gnade der Einbürgerung, sondern es geht, wie in der Europapolitik und in der Außenpolitik, auch knallhart um deutsche Interessen, und die werden nicht von der schwarz-gelben Koalition vertreten. ({4}) Es ist doch fatal: Wir erleben einen Fachkräftemangel, und Ihnen fällt dazu nichts anderes ein, als die Verdienstgrenze beim Zuzug von Fachkräften auf 48 000 Euro zu reduzieren. Dabei kriegen Leute mit Hochschulabschluss keinen Job, mit dem sie 48 000 Euro verdienen. Also kommen sie auch nicht. In der Frage der Auswanderung von jungen Menschen, die schon lange hier leben, bieten Sie ihnen nichts als einen Optionszwang, statt zu sagen: Ja, wir wollen, dass sie hier bleiben. - Es ist unter dem Niveau dieses Hauses, dass der gelernte Rechtsanwalt Herr Schröder uns im Rahmen seines persönlichen Vorlesetages erzählt, es gebe Interessenkonflikte. Herr Schröder, mit zwei juristischen Staatsexamen ({5}) können Sie hier nicht sagen, es gäbe später konsularische Konflikte bei der Erbschaft. Unter uns Anwältinnen und Anwälten: So etwas lässt sich doch lösen, nicht wahr? ({6}) Sie können mir auch nicht erzählen, dass es bei der Verteidigung des Landes Komplikationen gäbe. Wie soll es denn bei jemandem, der zum Beispiel die deutsche und die türkische Staatsangehörigkeit hat, Komplikationen bei der Verteidigung des Landes oder bei Auslandseinsätzen geben, wenn es um zwei NATO-Länder geht? Dann müssten Sie an der Stelle sagen, dass auch McAllister einen Interessenskonflikt hat. Aber er kann britisch und deutsch und Ministerpräsident sein. ({7}) Genau das wollen wir für die jungen türkischen Menschen, die hier aufgewachsen sind: dass auch sie einmal Ministerpräsidentin oder Ministerpräsident werden können. Es geht nicht darum, dass diese Personen einen Interessenkonflikt hätten. Vielmehr entspricht es deutschen Interessen, bestehende Konflikte endlich aufzulösen: mit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Was wir wollen, ist eine Art zweite deutsche Einheit. Dabei geht es nicht um zwei Teile, sondern um alle Schichten und Teile dieser Gesellschaft. Lassen Sie uns, wie Prantl schreibt, eine zweite deutsche Einheit versuchen. Das heißt im Übrigen: Wir haben gemeinsame Interessen, und dann muss man logischerweise zur doppelten Staatsbürgerschaft kommen. Dann können wir alle Probleme in einem anderen Sprachduktus miteinander lösen. Wir bitten um Ihre Zustimmung. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist nichts Neues, dass die Opposition in regelmäßigen Abständen mit GesetzentwürStephan Mayer ({0}) fen und Anträgen um die Ecke kommt, die die Änderung unseres Staatsangehörigkeitsrechts zum Gegenstand haben. ({1}) Aber ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, meine werten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass der eigentliche Grund der heutigen Debatte ein anderer ist. Der SPD-Parteitag naht. Sehr geehrte Frau Kollegin Özoğuz, ich gönne es Ihnen wirklich, dass Sie designierte stellvertretende Parteivorsitzende sind. ({2}) Der eigentliche Grund der heutigen Debatte war unter anderem, Ihnen die Plattform zu bieten, eine Bewerbungsrede für Ihre Kandidatur zur stellvertretenden Parteivorsitzenden zu halten. ({3}) Ich sage Ihnen aber ganz offen, meine verehrten Kollegen von der SPD: Unser deutsches Staatsangehörigkeitsrecht ist zu kostbar, als es nur als Profilierungsplattform dafür zu nutzen, dass Sie, Frau Özoğuz, stellvertretende Parteivorsitzende werden. ({4}) Meine werte Kollegin Künast, ich kann mich auch nicht des Eindrucks erwehren, dass Sie insbesondere deshalb heute in dieser Debatte sprechen, weil Sie nach Ihrem schwachen Abschneiden bei der Berliner Landtagswahl in enormen innerparteilichen Schwierigkeiten stecken. Sie sind eben nicht Regierende Bürgermeisterin von Berlin geworden. Jetzt gibt es deutlichen Druck in der eigenen Partei. ({5}) Ich glaube, dass auch dies ein Grund ist, warum Sie heute so aufgekratzt und emotional argumentiert haben. ({6}) Gleiches gilt für die Kollegin Lötzsch, die, wie man den Medien entnehmen kann, auch unter enormem Rechtfertigungsdruck in der eigenen Partei steht. Hier gilt aber das Gleiche: Unser deutsches Staatsangehörigkeitsrecht ist zu kostbar, als es für eine bloße und sehr durchsichtige parteipolitische Profilierung zu nutzen. ({7}) Frau Özoğuz, Sie haben behauptet, das jetzige Optionsmodell sei ein bürokratischer Wahnsinn. Frau Özoğuz, Sie haben es mitbeschlossen: Rot-Grün hat es beschlossen. ({8}) Also sollten Sie jetzt keine Rede halten, in der Sie dieses Modell als schwach und als bürokratischen Wahnsinn diffamieren. Sie selbst haben die Verantwortung dafür zu tragen. Deutschland ist gut mit dem Grundprinzip in seinem Staatsangehörigkeitsrecht gefahren, dass man Mehrstaatlichkeit vermeidet. Einbürgerung kann nur am Ende eines erfolgreich abgeschlossenen Integrationsprozesses stehen und kann und darf nie am Anfang des Integrationsprozesses stehen. ({9}) Durch die Staatsangehörigkeit wird ein Loyalitätsband zwischen dem Staat auf der einen Seite und dem Staatsangehörigen auf der anderen Seite geknüpft. Dieses Loyalitätsband kann und darf nie eine Einbahnstraße sein; dieses Loyalitätsband eröffnet Rechte und Pflichten für beide Seiten. ({10}) Deswegen muss es weiterhin ein fester Grundsatz des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sein, dass eine doppelte Staatsangehörigkeit nach Möglichkeit abzulehnen und zu vermeiden ist, weil sie erhebliche rechtliche Schwierigkeiten aufwirft: Auf der einen Seite eröffnet sie gewisse Privilegierungstatbestände für die Doppelstaatler, zum Beispiel was das Wahlrecht anbelangt. Es besteht die akute Gefahr der Rosinenpickerei: Man greift sich je nachdem, was einem gerade in den Sinn kommt, das günstigere Recht, zum Beispiel das Wahlrecht, heraus. Auf der anderen Seite gibt es offenkundig rechtliche Nachteile. Die Juristerei spricht von sogenannten hinkenden Rechtsverhältnissen, zum Beispiel im Eheund Familienrecht und auch im Namensrecht. ({11}) Es ist sehr wohl der Fall, dass man sich von der doppelten Staatsangehörigkeit fälschlicherweise etwas verspricht, was in der Praxis nicht zu halten ist. Frau Künast, es gibt ganz konkrete Fälle. Ich selbst war in der letzten Legislaturperiode Mitglied des BNDUntersuchungsausschusses. Wir hatten unter anderem den Fall Mohammed Haydar Zammar zu behandeln. Er ist Doppelstaatler - er ist Deutscher und Syrer -, war in syrischer Haft in einem berüchtigten Gefängnis in Damaskus. Ganz ehrlich: Die deutsche Staatsangehörigkeit hat ihm persönlich überhaupt nichts gebracht. Konsularischer Schutz wurde ihm nämlich von der syrischen Seite strengstens verwehrt, Stephan Mayer ({12}) ({13}) weil die Syrer die deutsche Staatsangehörigkeit nicht anerkannt haben. Also hat er keine Möglichkeit gehabt, auf konsularischen Schutz zurückzugreifen. Ganz im Gegenteil, er wurde von den Syrern nur als Syrer angesehen. ({14}) Man macht sich manche Vorstellungen und knüpft Erwartungen an die doppelte Staatsangehörigkeit, die sich dann in der Praxis als falsch herausstellen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir sind gut damit gefahren, dass wir das Staatsangehörigkeitsrecht 2007 novelliert haben, dass wir darin deutliche Verbesserungen aufgenommen haben, zum Beispiel was den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse und die Sicherung des Lebensunterhalts für Personen unter 23 Jahren anbelangt. ({15}) Insbesondere die Einführung des Einbürgerungstests war ein Meilenstein in der Veränderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts. ({16}) Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Kanada, in den USA oder auch in den Niederlanden ist es der Fall, dass derjenige, der Staatsbürger in dem betreffenden Land werden will, mit einem Einbürgerungstest natürlich auch dokumentieren muss, dass er sich - in dem Fall - zu Deutschland, zur deutschen Sprache, zur deutschen Kultur und auch zur deutschen Verfassung bekennt. Ich glaube, das ist nicht zu viel verlangt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pronold?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Mayer, Sie erinnern sich ja sicher, dass die CSU im Europaparlament durch Otto von Habsburg vertreten war. Er hatte meines Wissens drei Staatsbürgerschaften. Wie konnte er diese Konflikte trotzdem zum Wohle Bayerns aushalten? ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Pronold, der hochmögende ehemalige Europaabgeordnete Otto von Habsburg hat diese Konflikte nicht nur zum Wohle Bayerns ausgehalten, sondern zum Wohle Deutschlands. ({0}) Man sollte an dieser Stelle noch einmal sehr respektvoll erwähnen, welche großen Leistungen sich Otto von Habsburg um Deutschland, um die Wiedervereinigung, um die Integration Europas und auch um die Vereinigung Europas erworben hat. ({1}) Natürlich gibt es Mehrstaatler in Deutschland; das ist gar keine Frage. ({2}) Ich bitte schon, zu berücksichtigen, dass Otto von Habsburg die deutsche Staatsangehörigkeit genauso wie die österreichische hatte; aber daraus erwachsen keine unmittelbaren Konfliktfelder. ({3}) Das zu übersehen, ist der große Trugschluss, dem Sie unterliegen. Die doppelte Staatsangehörigkeit in den Fällen, in denen sie in Deutschland meistens vorhanden ist, bezieht sich auf zwei oder drei europäische Länder, und es entstehen aufgrund der Ähnlichkeit der Rechtsordnungen dieser Länder keine Konfliktfelder. Ich sage Ihnen ganz offen: Natürlich bestehen größere Konfliktfelder, wenn eine Person neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit hat. Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Weil Sie Otto von Habsburg angesprochen haben, möchte ich sehr lobend und sehr respektvoll erwähnen, dass in Deutschland immerhin 1 Million Bürger lebt, die türkischer Abstammung sind und mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Ich ziehe den Hut vor diesen Menschen. ({4}) - Bitte, Herr Pronold, das gehört noch zur Beantwortung der Frage, die Otto von Habsburg betrifft. ({5}) Otto von Habsburg war ein großer Befürworter der Verständigung zwischen Deutschland und der Türkei. Gerade die 1 Million Türkischstämmigen, die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit haben, haben sich ganz bewusst für die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden und ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben. Ich glaube, gerade dieser Personenkreis zeigt, wie modern und erfolgreich das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ist. ({6}) Gleichwohl bietet unser Staatsangehörigkeitsrecht ausreichende Möglichkeiten, Härtefällen zu begegnen. § 12 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bietet die MögStephan Mayer ({7}) lichkeit, wenn besondere Härten entstehen und die Aufgabe der eigenen Staatsangehörigkeit eine besondere Schwierigkeit in vermögensrechtlicher oder anderweitiger Hinsicht darstellt, die deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich zu der ursprünglichen auszureichen. Das wiederum zeigt, dass wir ein modernes und flexibles Staatsangehörigkeitsrecht haben, das durchaus allen unterschiedlichen Bedürfnissen in ausreichender Weise gerecht wird. ({8}) Es laufen derzeit zwei Studien, die von der Forschungsgruppe am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durchgeführt werden und in denen die ersten Ergebnisse des Optionsmodells evaluiert werden. Die Ergebnisse werden aller Voraussicht nach im ersten Halbjahr des kommenden Jahres vorliegen. Ich bitte Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Lassen Sie uns erst einmal diese Ergebnisse abwarten. Die ersten Personen, die die Optionsmöglichkeit wahrnehmen können, gibt es seit dem Jahr 2008; es ist schon erwähnt worden. Jedes Jahr kommen zwischen 3 000 und 5 000 neue Personen hinzu. Die ersten Personen, die optieren müssen, haben dafür immerhin bis Ende 2013 Zeit. ({9}) Es ist momentan viel zu früh, zu sagen, ob sich das Optionsmodell bewährt hat oder nicht, ob rechtliche Schwierigkeiten auftauchen oder nicht. Wir sollten uns wirklich die Zeit nehmen, die Ergebnisse der Evaluierung abzuwarten, und zu gegebener Zeit auch in diesem Hause darüber debattieren, wie wir darauf reagieren. Ich glaube, dass wir gerade bei dieser gesellschaftspolitisch relevanten Debatte deutlich machen müssen, dass die Ausreichung der deutschen Staatsangehörigkeit mehr ist, als nur einen Personalausweis, ein Legitimationspapier zu überreichen. Es geht bei der deutschen Staatsangehörigkeit wie bei der Staatsangehörigkeit generell auch sehr stark darum, ein Bekenntnis zu einem Staat abzugeben. Deswegen ist es mir auch so wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir die Debatte über eine mögliche Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht auf dem Altar von Parteipolitik opfern sollten. Es sollte schon Konsens hier in diesem Haus sein, dass die Verfassungstreue und das Bekenntnis zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein Grundpfeiler des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sind. Ich glaube, dass man nicht umhinkann, festzuhalten, dass durchaus die Gefahr besteht, dass Loyalitätskonflikte bei Personen entstehen, die mehrere Staatsangehörigkeiten haben. ({10}) Vor dem Hintergrund bitte ich Sie herzlich, hier nicht falsche Ängste zu schüren. Ich halte es für wirklich unerträglich, dass Sie, Frau Kollegin Lötzsch, uns, der christlich-liberalen Koalition, vorwerfen, der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland Vorschub zu leisten. ({11}) Ich glaube, dass dieser Vorwurf wirklich ungebührlich ist und der Seriosität und Ernsthaftigkeit der Debatte in keiner Weise gerecht wird. ({12}) Das ist eine Debatte, die heute zur Unzeit geführt wird. Wir haben noch genügend Zeit, wenn die Ergebnisse der Evaluierung des Optionsmodells vorliegen, uns darüber auszutauschen. ({13}) In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass sowohl der Herr Minister als auch die Frau Staatsministerin heute keine Zeit haben, nehmen wir zur Kenntnis. Ich muss Ihnen sagen: Es wundert mich nicht. Denn die Woche der Festakte ist schließlich vorbei. ({0}) - Ich weiß gar nicht, was Sie immer mit Parteitagen haben. Ich meine, der CDU-Parteitag ist viel näher als unserer. ({1}) Insofern müssten wir schlechte Gedanken haben, was Ihre Tagesordnungspunkte angeht. Herr Wolff, da Sie schon dazwischenrufen, lassen Sie mich noch eines sagen: Ich hätte nicht gedacht, dass Sie in der Lage sind, das Diskussionsniveau Ihrer Partei doch so nachhaltig zu unterschreiten. Das war wirklich auffällig. ({2}) Zu Ihrem Hinweis, dass es Konkurrenz innerhalb der Opposition gebe, muss ich Ihnen eines sagen: Das schreckt mich nicht wirklich, solange ich weiß, dass Sie mit solchen Reden dafür sorgen, dass die FDP - jedenfalls in Zukunft - außer Konkurrenz läuft. ({3}) Ansonsten hätte ich mir gewünscht, dass wir diese Debatte mit mehr Ernsthaftigkeit führen. ({4}) Deshalb sage ich zu Anfang: Über die doppelte Staatsangehörigkeit darf man streiten und muss man streiten vielleicht auch heute. Man sollte jedoch vielleicht damit beginnen, dass es ein paar Gemeinsamkeiten in diesem Hohen Hause gibt. Ich habe das jedenfalls gespürt, als wir in der letzten Woche unterwegs waren und die vielen Veranstaltungen zu 50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen besucht haben. Viele auch Ihrer Redner haben darauf hingewiesen, wie sehr diejenigen, die von weit hergekommen sind, dieses Land bereichert haben. Die, die hergekommen sind, haben hier - weit weg von zu Hause - gearbeitet, ohne die Sprache dieses Landes zu verstehen, haben da angepackt, wo die Arbeit am schwersten war, haben die Kohle aus der Erde geholt, haben als Stahlkocher Hitze und Dreck widerstanden, haben auf dem Bau geschuftet und Autos zusammengeschraubt. Sie waren diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass die wirtschaftliche Aufholjagd in diesem Lande tatsächlich stattfinden konnte. Es muss uns auch in einer solchen Debatte klar sein: Das war mit den Feierveranstaltungen der letzten Woche nicht abgeschlossen. Auch in einer solchen Debatte muss uns klar sein, dass das deutsche Wirtschaftswunder, dieses Wachstum von beispielloser Stabilität und die Steigerung des Wohlstandes, die hier in Deutschland für breite Schichten der Bevölkerung - und das nur zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges möglich waren, eben auch getragen waren von der Arbeit von Zehntausenden, von Hunderttausenden von Migranten. Deshalb sage ich: Unser Erfolg ist auch deren Erfolg, und es war in der letzten Woche Zeit, dafür endlich herzlichen Dank zu sagen. ({5}) Ich lasse jetzt die Reden beiseite, die hier gehalten worden sind. Denn wir müssen uns die Frage stellen - das sage ich mit großem Ernst -: Was haben die Veranstaltungen in der letzten Woche mit dem Streit heute zu tun? ({6}) Ich glaube, folgende Frage bleibt: Haben wir damals eigentlich gewusst, was Arbeitsmigration in der Größenordnung, wie wir sie erlebt haben, wirklich bedeutete? Haben wir gewusst, was sie in der Gesellschaft, aus der die Arbeitsmigranten kamen, und was sie in der Gesellschaft, in die viele Neue kamen, um hier zu arbeiten, verändert hat? Wir in Deutschland haben doch viel zu lange geglaubt: Das alles ist ein Provisorium. Das alles ist eine Übergangslösung. Auch der Sprachgebrauch war verräterisch: Der Gastarbeiter war eben Gast. Er blieb fremd und war nicht vollberechtigter Teil der Gesellschaft. Das, was für uns galt, galt aber auch für diejenigen, die gekommen sind. Ich habe in der letzten Woche in öffentlichen Reden gesagt: Auch die türkischen Arbeitsemigranten, die kamen, lebten in demselben Provisorium. Für sie stand der Rückkehrwunsch immer fest. Nur der Zeitpunkt hat sich verschoben - erst um Monate, dann um Jahre. Es kam die erste Generation der Kinder, die in Deutschland geboren war. Dann kam die zweite, und jetzt ist es die dritte. Das hat natürlich dazu geführt, dass das Band der Verbundenheit zu unserem Lande immer enger wurde, und deshalb würde ich, Herr Mayer, hier nicht laufend von Loyalitätskonflikten sprechen. Ich freue mich darüber, dass die Verbundenheit zu unserem Lande größer geworden ist. Es bestehen Konflikte, die wir nicht durch die Verweigerung der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts bessern oder heilen können. Vielmehr tragen die Menschen diesen Konflikt in ihrer Person in sich. Diesen Konflikt kann man nicht aufgrund einer einzigen Gesetzesänderung lösen. Man kann ihn aber auch nicht durch die Verweigerung von Recht lösen, und deshalb müssen wir anders und ernsthaft darüber sprechen. ({7}) Vielleicht können Sie den Weg mitgehen und gemeinsam mit uns überlegen, ob wir die politischen Aufgaben bewältigt haben, die sich aus der Arbeitsmigration in den 60er- und 70er-Jahren ergeben. Vielleicht kommen wir dann auch zu einem gemeinsamen Ergebnis und können feststellen: Wir haben sie wahrscheinlich nicht oder nicht ausreichend bewältigt. Darüber würden wir uns im Zweifel noch einig sein. Mit Blick auf all das, was ich in der letzten Woche von den Rednern der CDU, der CSU und der FDP gehört habe, ({8}) lässt sich jedenfalls festhalten, dass eigentlich fast alle gesagt haben: Wir sind in der Integration nicht so weit gekommen, wie es nötig gewesen wäre und wie viele von uns es eigentlich wollten. Deshalb muss ich nicht in erster Linie das Hohe Haus davon überzeugen, wie wichtig es ist, dass wir jetzt endlich das nachholen, was wir in der Vergangenheit schuldig geblieben sind. Das sind wir eben nicht nur denjenigen schuldig, die zugewandert sind, und den hier geborenen Kindern und Kindeskindern der Zugewanderten, sondern wir sind es auch uns selbst schuldig. ({9}) Wer es nämlich zulässt - das fällt in unsere Verantwortlichkeit als Politiker -, dass in diesem Lande zu viele Menschen zu wenige Chancen und nicht gleiche Rechte haben, wer das in Kauf nimmt, der setzt den inneren Zusammenhalt dieser Gesellschaft aufs Spiel. Hier geht es aber um unsere Zukunft. Die dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. ({10}) Wenn wir über Staatsangehörigkeit als ein Element von Integration reden, reden wir also nicht nur über Zugewanderte und deren Kinder, sondern auch über die Zukunft dieses Landes. Deshalb sage ich Ihnen: Wer Integration wirklich ernst nimmt, der muss auch bereit sein, über Staatsangehörigkeit zu reden. Angesichts der Reden, die wir hier vonseiten der Koalitionsfraktionen gehört haben, und mit Blick auf das, was die Regierung tut und insbesondere nicht tut, befürchte ich: Wir tun das genaue Gegenteil, ({11}) indem wir jungen Menschen eine Entscheidung abzwingen, die sie ganz offenbar nicht in der Lage sind zu treffen. ({12}) Jetzt sage ich Ihnen eines: Ja, wir haben diese Optionsregelung mitgetragen. Jetzt, nach zehn, elf Jahren, stelle ich mich auch hierher und sage mit Blick auf das, was hinter uns liegt: Sie können doch nicht, wo uns sonst überall abverlangt wird, gelegentlich einmal zu kontrollieren, ob wir mit unserer Gesetzgebung erfolgreich gewesen sind, beim Staatsangehörigkeitsrecht sagen: Da dürft ihr euch, bitte, nicht korrigieren. ({13}) Nein, umgekehrt verhält es sich! Ich sage mit Blick auf die zehn, elf Jahre, die jetzt hinter uns liegen: Wir haben damals gemeinsam einen Versuch gemacht. Wir haben ein Angebot unterbreitet. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass dieses Angebot ausgeschlagen wird; diese Optionsregelung funktioniert nicht. Deshalb können wir sie nicht einfach weiter mit uns herumschleppen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolff?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Steinmeier, Sie haben gerade gesagt, dass Sie Ihre Position ändern. Aber es ist doch Tatsache, dass die Regelungen, die von Ihnen selbst eingeführt wurden, erst seit Anfang dieses Jahres gelten. ({0}) Sie sind aber schnell dabei, Ihre Position zu ändern. Wie stehen Sie denn dazu?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Wolff, Sie sind offenbar nicht so ganz in der Sache drin. Das habe ich an dem Vortrag, den Sie eben gehalten haben, auch schon gesehen. ({0}) Jeder, der sich mit Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts wirklich befasst, kann in jedem Jahr mindestens fünf große Konferenzen und Tagungen besuchen, bei denen regelmäßig alles erreichbare statistische Material vorgelegt wird. In diesem Rahmen könnten Sie zur Kenntnis nehmen, ob die Bereitschaft jüngerer Zuwanderungsgenerationen besteht, von dieser Option Gebrauch zu machen, ja oder nein. Wenn Sie das nicht tun und hier lieber so tun, als ob wir über ein Phantom reden würden, zu dem noch kein belastbares Material vorliege, liegt das wahrlich nicht in der Verantwortung der SPD-Fraktion. ({1}) Frau Merkel hat beim Festakt zum Jahrestag des Anwerbeabkommens gegenüber der türkischstämmigen Mitbevölkerung gesagt: Sie sind ein Teil von Deutschland. Sie gehören dazu. Das ist richtig; aber das ist natürlich zunächst einmal leicht gesagt. Was heißt das eigentlich genau? Das entscheidende Element von Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen ist doch ganz ohne Zweifel die politische Teilhabe, das heißt die Teilhabe als Staatsbürgerin und Staatsbürger dieses Landes. Deshalb sage ich: Wenn das, was Frau Merkel hier richtigerweise gesagt hat, mehr sein soll als ein Lippenbekenntnis, dann kommen wir nicht umhin, allen dauerhaft hier lebenden Menschen die faire Chance zu geben, Bürgerin oder Bürger dieses Landes zu werden - mit allen Rechten und Pflichten; das gehört dazu. Aber wir müssen es machen. ({2}) Natürlich haben Sie recht, Herr Mayer, wenn Sie darauf hinweisen, dass viele bei uns lebende Menschen aus Einwandererfamilien eingebürgert sind. Ja, das gibt es. Natürlich ist es auch richtig, dass allen Eingewanderten diese Option prinzipiell offensteht. Die Frage ist jedoch, zu welchem Preis. Darum geht es doch, wenn wir uns fragen, warum das Angebot der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlagen wird. Wir verlangen die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit. Offenbar ist es mit der Identität aber nicht ganz so einfach, wie wir uns das vor zwölf Jahren bei unseren politischen Entscheidungen vorgestellt haben. Schwarz oder weiß, Inländer oder Ausländer, das ist für diese Generation eben nicht mehr die Frage; denn sie fühlt beides. Die Begründung mit dem Loyalitätskonflikt ist der falsche Ansatz. Wir müssen uns der Realität stellen. Es sind Menschen, die diesen Identitätskonflikt in sich spüren. Aber das ist kein Grund, ihnen die Staatsangehörigkeit zu verweigern. Das ist die Verweigerung von Politik. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich muss zum Ende kommen. Deshalb verweise ich auf unseren Gesetzentwurf, den wir hier unterbreitet haben. Wir bitten Sie - jenseits der Reden, die dazu in der Vergangenheit und auch heute im Parlament gehalten worden sind -, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Lassen Sie mich abschließend den Herrn Bundespräsidenten zitieren, der kürzlich in einer Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit gesagt hat: Der Satz „Wir sind ein Volk“ sollte heute mehr denn je auch als Einladung an alle, die hier leben, verstanden werden, ob eingewandert oder nicht. - Lassen Sie uns Ernst machen damit! Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Serkan Tören für die FDP-Fraktion. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Steinmeier, ich habe mich offenbar im Gegensatz zu Ihnen mit Ihrem Gesetzentwurf beschäftigt. Sie haben im Zusammenhang mit der doppelten Staatsangehörigkeit gesagt, man müsse in diesem Rahmen nicht über Loyalitätskonflikte sprechen. Ich zitiere aus Ihrem Gesetzentwurf: Zum anderen finden sich viele der betroffenen Jugendlichen in einem Loyalitätskonflikt wieder. Insofern sollten Sie sich vielleicht mit Ihrem Gesetzentwurf beschäftigen, bevor Sie hier in Ihrer Rede nur allgemeinpolitische Ausführungen zur Integration machen, ohne auf die Sache zu kommen. ({0}) Zudem habe ich mich sehr über den Zeitpunkt gewundert. Sie haben das vor 50 Jahren geschlossene Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei angeführt. Die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit soll in Ihren Augen eine Art Belohnung sein. Wenn Ihnen wirklich etwas an einer Belohnung liegt - oder lassen Sie mich besser sagen: an einer Anerkennung und Wertschätzung -, dann hätten Sie heute beispielsweise über das Anerkennungsgesetz sprechen können, das die christlich-liberale Koalition beschlossen hat. Denn künftig hat die türkische Krankenpflegerin endlich ein Recht auf Prüfung ihrer Qualifikationen. Künftig darf sich die jordanische Ärztin endlich auch als solche in Deutschland niederlassen. Das, was wir als christlich-liberale Koalition damit leisten, ({1}) ist viel mehr an Integration als das, was Sie in Ihrer Regierungszeit vorgelegt haben oder jetzt vorschlagen. Heute geht es um gleiche Chancen. Es muss um die Möglichkeit gehen, sein Leben in Deutschland selbst in die Hand zu nehmen. Das ist Respekt und Wertschätzung. Die doppelte Staatsangehörigkeit hier als Belohnung anzuführen, ({2}) ist doch völlig absurd und zeigt einmal mehr: Sie sind im Oktober 1961 stehengeblieben, mit einem patriarchalischen und gönnerhaften Blick auf Migranten. ({3}) Unser Ziel ist es, aus Migranten Bürger dieses Landes zu machen, Bürger, die sich verantwortlich fühlen, partizipieren und Deutschland mitgestalten. Genau das wollen auch die meisten Migranten. Wir tun doch niemandem einen Gefallen, wenn wir die doppelte Staatsangehörigkeit großzügig und karitativ als Bonus verteilen, am besten noch ohne irgendwelche Voraussetzungen. ({4}) Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht: Das Staatsangehörigkeitsrecht ist gut, wie es ist, und wir müssen uns keine Gedanken um dessen Modernisierung machen. Ganz im Gegenteil! Das sage ich hier ganz klar. Aber wir müssen erst einmal die Evaluation des Optionsmodells abwarten. ({5}) Ich sage Ihnen auch, weshalb. Entgegen Ihren Ausführungen höre ich nämlich sehr Unterschiedliches von den Einbürgerungsbehörden. Viele vermelden erfreulicherweise eine sehr klare Tendenz bei den jungen Migranten für die deutsche Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig variieren die Rückmeldungsquoten sehr stark. Einige Behörden haben hohe Rückmeldungsquoten, andere kaum welche. Einer der Gründe hierfür liegt in der sehr unterschiedlichen Leistungsfähigkeit und dem Dienstleistungscharakter der einzelnen Behörden. Aber das ist ein anderes Thema. Wer also bereits jetzt für ganz Deutschland ein klares Fazit zieht und die Optionspflicht als gescheitert abtut, arbeitet nicht seriös. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns die Evaluation abwarten! Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Thema Einbürgerung ist in Deutschland kein Selbstläufer. Hier haben Einwanderer mit einer Niederlassungserlaubnis bereits sehr weitgehende Rechte. Politische Partizipation in Form von Wahlen hat derzeit leider keine Hochkonjunktur. Wirkliche Anreize insbesondere für gut integrierte Einwanderer fehlen. Zudem haben einige Debatten in vergangener Zeit nicht zur viel zitierten Willkommenskultur bzw. Anerkennungskultur beigetragen. Deshalb gilt: Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeit werben, ich meine nicht: für eine Urkunde, sondern für unser wunderbares Land und unsere Gesellschaft als solche. ({6}) Machen wir uns nichts vor: Ein Einbürgerungstest oder ein Stück Papier macht noch keinen loyalen, partizipierenden Bürger aus. Das gilt für alle Deutschen - ob mit Zuwanderungsgeschichte oder ohne. Wir werden diese Debatte verstärkt und engagiert führen, die Evaluation des Optionsmodells abwarten und Ihre Ablenkungsmanöver nicht mitmachen. Zum Schluss eine kurze Bemerkung zu meiner Person. Ich war bis vor einigen Jahren Doppelstaatler, habe mich dann aber entschieden, die türkische Staatsbürgerschaft abzugeben. Der Grund dafür war, dass Deutschland meine Heimat geworden ist, dass ich zu dieser Gesellschaft gehöre und ein Teil davon bin. ({7}) Eine praktische Erwägung war, dass ich keinen Militärdienst ableisten musste. Diese Frage wird auf viele zukommen. Ich bin mit meiner Entscheidung sehr glücklich. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu begrüßen, dass der 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens Anlass bietet, im Deutschen Bundestag über das Thema Einbürgerungserleichterungen und über das Staatsangehörigkeitsrecht insgesamt zu debattieren. Aber ich muss auch sagen, Herr Steinmeier: Ihr Dankeschön an die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die vor 50 Jahren nach Deutschland gekommen sind und ihre Familien nachgeholt haben - so war es beispielsweise auch in meiner Familie der Fall -, lässt zu wünschen übrig. Auf Ihr Dankeschön in Form von Hartz IV, Leiharbeit, ({0}) Zerstörung der gesetzlichen Rente und einer Praxisgebühr hätten diese Millionen von Menschen verzichten können. ({1}) Schauen Sie sich einmal die Zahlen an, die zeigen, wie es den Menschen geht, die von Altersarmut, von einer doppelt so hohen Arbeitslosigkeit und von einer überproportional hohen Beschäftigungsquote im Niedriglohnbereich betroffen sind. Wenn Sie diesen Menschen auch angesichts der Tatsache, dass Sie ihnen in der Vergangenheit etwas schuldig geblieben sind, wirklich Danke sagen wollen, dann sollten Sie erst einmal die Fehler beseitigen, die Sie während der elf Jahre Ihrer Regierungszeit gemacht haben. Dann werden die Menschen Ihr Dankeschön ernst nehmen. ({2}) Auch bei den Einbürgerungszahlen kann die Linke das Eigenlob - ich sage nur, dass Eigenlob stinkt - von SPD und Grünen nicht nachvollziehen. Die Einbürgerungszahlen des letzten Jahres, also 2010, sind mit rund 100 000 immer noch niedriger als vor zehn Jahren, als das antiquierte deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1913 galt. ({3}) Warum ist das so? Sie von der SPD haben während Ihrer Regierungszeit, ob es in der rot-grünen Koalition oder in der Großen Koalition war, durchweg für Verschlechterungen gesorgt. Ich nenne beispielsweise die Erhöhung der Anforderungen an Sprachkenntnisse von A1 auf B1. ({4}) Warum ist das für die Linke ein Problem, und warum verlangt die Linke umfassende Erleichterungen bei der Einbürgerung? Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem Demokratiedefizit in Deutschland, das darin liegt, dass Millionen von Menschen die politische Mitbestimmung durch Wahlen versagt bleibt, obwohl sie im Durchschnitt seit fast 20 Jahren in Deutschland leben. Wir von der Linken wollen nicht, dass immer mehr Menschen über einen längeren Zeitraum in Deutschland leben, ohne die gleichen Rechte zu haben, ohne ihren Beruf frei wählen zu können oder nach 20 Jahren festem Aufenthalt nicht vor Ausweisung sicher zu sein. Deshalb brauchen wir keine Sprechblasen über Willkommenskultur, sondern endlich gleiche Rechte. ({5}) Wenn Sie von der Regierungskoalition immer mit Ihrem anachronistischen Popanz von vermeintlichen Loyalitätskonflikten bei Menschen mit mehr als einem Pass kommen, dann muss ich sagen: In der Praxis ist die Mehrstaatigkeit doch längst Realität. Die Mehrzahl der Einbürgerungen in Deutschland geschieht unter Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit. Mehr als 57 Prozent aller Eingebürgerten sind Doppelstaatler, das sind mehr als 4,5 Millionen Menschen. Es wird überhaupt nicht darüber diskutiert, ob diese Menschen Loyalitätskonflikte haben. Ebenso wenig wird darüber diskutiert, dass in elf EU-Staaten die Situation ähnlich ist. Wenn es nicht Ausdruck eines wirklichen Ausgrenzungswillens wäre, wäre das Ganze zum Lachen, Herr Kollege Mayer. ({6}) Wer heute noch dem Prinzip der Einstaatigkeit anhängt, folgt eher dem Prinzip der Einfältigkeit. Das ist bei Ihnen aber nichts Neues. ({7}) Ich bin dankbar für die neue Ehrlichkeit in der CDU/ CSU-Fraktion. Im Innenausschuss gab es gestern eine bemerkenswerte Klarstellung des Kollegen Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. Er bekannte unmissverständlich, dass Mehrfachstaatsangehörigkeiten bei EU-Angehörigen ja kein Problem seien. Zum Problem würden sie aber, wenn es um türkische Staatsangehörigkeiten gehe. Ich kann nur sagen: Wir haben verstanden. Sie halten Menschen, die entweder aus der Türkei eingewandert oder die hier geboren und aufgewachsen sind und zufällig die türkische Staatsangehörigkeit haben, für eine besondere Bedrohung und potenzielle Gefahr. Wenn das nicht rassistisch und fremdenfeindlich ist, was ist es dann? ({8}) Zum Schluss möchte ich vorwegnehmen - meine Kollegin Frau Lötzsch hat es schon gesagt -: Die Linke wird den Gesetzentwürfen von der SPD und den Grünen zustimmen, und das, obwohl sie unglaubwürdig sind. Das gilt insbesondere für den Antrag der SPD. Sie waren elf Jahre lang pausenlos in der Regierung und haben die Einbürgerungszahlen, die in den letzten Jahren katastrophal niedrig sind, mit zu verantworten. Aber nicht nur das. Sie haben vor noch nicht allzu langer Zeit hier im Bundestag unsere Verbesserungsvorschläge zum Staatsangehörigkeitsgesetz und zu anderen Themen wie dem kommunalen Wahlrecht für Drittstaater genauso abgelehnt, wie Sie es gestern im Innenausschuss getan haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. - Glaubwürdig sind Sie aber erst dann, wenn Sie unseren Verbesserungsvorschlägen zustimmen und solcherlei Anträge nicht nur vorlegen, wenn Sie in der Opposition sind,

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- sondern auch als Regierungspartei. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, Sie haben uns Eigenlob vorgeworfen. Ich sage Ihnen: Wir haben Lob verdient, obwohl wir 1999 ein Gesetz auf den Weg gebracht haben, das die besagte Optionsregelung enthält, von der wir schon damals wussten, dass sie ein Fehler war. Ich habe dieser Regelung damals zugestimmt, und zwar deshalb, weil nach der Hessen-Wahl im Jahr 1999 mehr einfach nicht drin war. ({0}) Ich stand vor der Frage: Soll ich diesem Gesetz nicht zustimmen und damit Hunderttausenden in Deutschland geborenen Kindern von Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft verweigern, oder soll ich diesem Gesetz in Kenntnis dessen zustimmen, dass es Hunderttausenden zugutekommen wird, die damit automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben? Bereits damals habe ich gesagt: Diese Regelung ist im Grunde falsch; wir müssen sie aufheben, wenn es zum Schwur kommt, also etwa zehn Jahre später. Ich halte es nach wie vor für richtig, dass wir damals diese Entscheidung getroffen haben. Zwingend notwendig ist aber, dass diese Regelung jetzt korrigiert wird. Lob haben wir verdient, weil wir damit Zehntausenden von jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermöglicht haben, durch ihre Geburt in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, und wir damit das Dogma gebrochen haben, dass die Staatsbürgerschaft nur über die Blutsverwandtschaft vermittelt werden kann. Die Entscheidung damals war richtig und gut; sie war notwendig. Heute ist es richtig, es endgültig so zu regeln, dass es für diese Leute keinerlei Zumutungen gibt. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich Kollegen Stephan Mayer.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben meine Äußerungen in der gestrigen Sitzung des Innenausschusses erwähnt. Ich möchte Sie darauf hinweisen und darf Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich türkische Staatsangehörige nicht als „Problem“, schon gar nicht als „Bedrohung“ bezeichnet habe. Ich habe auf folgenden Umstand hingeSevim DaðdelenSevim Dağdelen Stephan Mayer ({0}) wiesen - ich tue das auch hier in aller Deutlichkeit -: Die doppelte Staatsangehörigkeit von EU-Staatsangehörigen innerhalb der Europäischen Union ist deshalb kein Problem, weil es schon aufgrund des EU-Rechts heute so ist, dass EU-Staatsangehörige in Deutschland auch dann, wenn keine doppelte Staatsangehörigkeit besteht, fast alle Rechte haben, die auch Deutschen zustehen. Deshalb ist die Ausreichung der doppelten Staatsangehörigkeit auch ohne das Gegenseitigkeitsprinzip kein Problem. Ich habe aber mitnichten behauptet, dass türkische Staatsangehörige eine „Bedrohung“ für unsere Gesellschaft darstellen. Ich muss mich deshalb wirklich in aller Entschiedenheit auch insoweit gegen Ihre Äußerungen wenden, dass Sie mir „rassistische“ Erwägungen unterstellt haben. Das muss ich in aller Deutlichkeit von mir weisen. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen: Ich bin dankbar und froh, wenn sich türkische Staatsangehörige in Deutschland so verwurzelt fühlen, dass sie sich um die deutsche Staatsangehörigkeit bemühen und darum bewerben. Mittlerweile gibt es immerhin schon über 1 Million türkischstämmige Bürger in Deutschland. Ich möchte betonen: Ich bin froh um jeden türkischen Staatsangehörigen, der sich in Deutschland integriert hat und am Ende des erfolgreichen Integrationsprozesses die deutsche Staatsangehörigkeit annimmt. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Dağdelen, bitte schön.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zunächst wende ich mich an den Kollegen Ströbele. Herr Ströbele, es kann sein, dass Sie wieder einmal einen Abwägungsprozess hatten, wie es bei der Grünen-Fraktion in den letzten Jahren - auch bei den Themen Krieg und Frieden - oftmals der Fall war, ({0}) und Sie sich vielleicht gezwungen sahen, zwischen einem größeren und einem kleineren Übel zu entscheiden. ({1}) Das Problem ist doch Folgendes: Die Migrantinnenorganisation, in deren Geschäftsführung ich damals war und noch heute bin, hat diese Entscheidung damals, wie viele andere Organisationen auch, als einen faulen Kompromiss bezeichnet; aber Sie wenden nur Lob und keinerlei Selbstkritik an. Sie haben mit Ihrem Gesetz dafür gesorgt, dass Zehntausende Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben. ({2}) Sie haben mit dafür gesorgt, dass sich junge Menschen für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. Die Zahlen sprechen doch eine klare Sprache: In Zeiten des alten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes hatten wir über 140 000 Einbürgerungen im Jahr; mit Ihrem Gesetz haben Sie für einen stetigen Rückgang gesorgt. Wir haben jetzt nur noch rund 100 000 Einbürgerungen im Jahr. Sie müssen doch auch diese Realitäten anerkennen. Sie dürfen sich nicht nur loben, sondern müssen auch einmal Selbstkritik anwenden und sagen: Wir haben auch Fehler gemacht. ({3}) Diese Fehler muss man aber irgendwann auch einmal korrigieren. Wenn Sie diesen Weg gehen würden, wären Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, um einiges glaubwürdiger. Zu Herrn Mayer muss ich sagen: Herr Mayer, jetzt können Sie natürlich behaupten, Sie hätten es so nicht gesagt. Aber Sie haben es eigentlich mit Ihren Aussagen gestern im Innenausschuss so deutlich gemacht. Sie haben gesagt, dass bei den EU-Mitgliedstaatsangehörigen die doppelte Staatsangehörigkeit sowieso erlaubt ist und Sie da kein Problem sehen, es aber ein Problem wäre, wenn man jetzt so vielen türkischen Staatsangehörigen auf einmal die deutsche Staatsangehörigkeit unter Hinnahme einer mehrfachen Staatsangehörigkeit geben würde. Insoweit lässt das natürlich die Vermutung zu, dass Sie bei denen eine Bedrohung sehen - Ihr Popanz von vermeintlichen Loyalitätskonflikten -, aber bei denen, die aus den EU-Mitgliedstaaten kommen, nicht. Die Zahlen aus Ihrem Bundesland Bayern machen es eigentlich deutlich. Ich habe mir vom Statistischen Bundesamt die Einbürgerungsquoten türkischer Staatsangehöriger, differenziert nach Bundesländern, geben lassen: Während sie im Jahr 2010 im Bundesdurchschnitt bei 1,6 lag, betrug sie in Bayern gerade einmal 1,0. Was aber noch viel krasser ist: Während im Bundesdurchschnitt 27,7 Prozent der türkischen Staatsangehörigen ihre alte Staatsangehörigkeit nach der Einbürgerung behalten konnten, waren es in Bayern lächerliche 3,7 Prozent, also 78 Personen. Das heißt, Bayern hat eine rigide Praxis bei der Frage, was es heißt, wenn Menschen ihre alte Staatsangehörigkeit behalten wollen - besonders bei türkischen Staatsangehörigen. Ihre Ausführungen gestern im Innenausschuss bestätigen wieder einmal mehr, dass Sie ein Problem bei den Türkinnen und Türken sehen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin meinem Kollegen Hans-Christian Ströbele dankbar, dass er einiges richtiggestellt hat. Liebe Frau Dağdelen, Sie haben gesagt, dass Sie unseren Gesetzentwürfen zustimmen werden, obwohl diese unglaubwürdig seien. Das wundert mich bei Ihrer Partei nicht. Eine Partei, die einfache Utopien zum Parteiprogramm erklärt, kann auch Unglaubwürdigem zustimmen; das ist kein Widerspruch für Sie, Frau Dağdelen. ({0}) Mich wundert aber, dass die Regierungsfraktionen die Frage gestellt haben, warum wir unsere Gesetzentwürfe zur Erleichterung der Einbürgerung ausgerechnet jetzt ins Plenum einbringen. Warum nicht? Das größte Einbürgerungspotenzial liegt bei den türkeistämmigen Einwanderern. Wir haben gerade vor einer Woche das 50-jährige Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland gewürdigt. Auch die Regierungsparteien haben sich für die Verdienste dieser Menschen, insbesondere derjenigen der ersten Generation, bedankt. Meine Oma pflegte immer zu sagen: Was nützt mir eine trockene Danksagung? Wenn wir uns bedanken, muss wenigstens ein bisschen Saft dabei sein. - Meine Oma hatte recht, meine Damen und Herren. ({1}) Herr Kauder, zur Aktualität Ihrer Inhalte beim Staatsangehörigkeitsrecht: Diese sind etwas älter als meine Oma. ({2}) Deshalb sollten Sie überdenken, ob Sie Ihre Inhalte nicht ändern wollen. Gerade Einwanderer der ersten Generation besitzen bekanntermaßen lückenhafte Sprachkenntnisse, und ihre Rente reicht trotz jahrzehntelanger Arbeit oftmals nicht ganz aus. Ausgerechnet diese Menschen faktisch von der Einbürgerung auszuschließen, ist keine Danksagung, sondern eher eine Verhöhnung dieser Generation. ({3}) Daher wollen wir mit unserem Gesetzentwurf die Einbürgerung insbesondere für Rentnerinnen und Rentner sowie für ältere Menschen erleichtern, indem wir uns mit Kenntnissen der gesprochenen Sprache begnügen und die Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter für unschädlich erklären. Wenn wir die Großmütter und Großväter aufgrund fehlender deutscher Sprachkenntnisse oder fehlender finanzieller Kraft von der Einbürgerung ausschließen, bürgern wir auch die Enkelkinder emotional aus. Das ist nicht gut für unser Land. ({4}) Wir müssen den Enkelkindern die Möglichkeit geben, dass auch sie sagen können, ihre Großeltern seien ebenfalls deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewesen. Das ist gut für unser Land, liebe Freundinnen und Freunde. Das müssen wir tun. ({5}) Die FDP hat gefragt, warum wir jetzt die Abschaffung des Optionszwangs fordern, obwohl für die jungen Menschen die gesetzlichen Regelungen gerade erst relevant werden. 50 000 junge Menschen mit Ausbürgerung zu konfrontieren und dann erst über den Sinn dieser Regelung zu entscheiden, ist keine fürsorgliche liberale Position, liebe FDP. ({6}) Wir wollen nicht, dass sich viele junge Menschen zwischen den beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden müssen, mit denen sie groß geworden sind. Herr Stephan Mayer von der CSU und Herr Schröder haben im Innenausschuss angebliche Loyalitätskonflikte von Doppelstaatlern als Gegenargument vorgeschoben und meinten, dass ein Mensch nicht Diener zweier Herren sein könne. Dies zeugt von einem veralteten Staatsverständnis. Individuen sind keine Untertanen der Staaten, sondern stehen als freie Bürger in einem Rechtsverhältnis zu dem Souverän - mit allen Rechten und Pflichten. ({7}) Unionsbürger können Doppelstaatler sein. Sie müssen also erklären, warum Menschen Diener von 27 Staaten sein können, aber nicht von zwei. Diese Erklärung sind Sie uns schuldig. ({8}) Ich habe gestern im Innenausschuss vorsichtig davor gewarnt, diese Argumentation auch angesichts der zahlreichen binationalen Ehen nicht zu verwenden. Mit dieser Argumentation diskreditieren sie die binationalen Ehen und unterstellen den daraus hervorgegangenen Kindern, dass sie gegenüber Deutschland illoyal wären. Das ist hirnrissig und ideologisch gesehen verheerend separatistisch. ({9}) Mehrstaatigkeit ist weder eine Ausnahme noch ein Tabu, sie ist vielmehr eine Lebenswirklichkeit im Einwanderungsland Deutschland. Lassen Sie uns die Einwanderinnen und Einwanderer nicht ausschließen, sondern sie als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewinnen. Vielen herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile ich Kollegen Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU das Wort. ({0})

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Debatte stehen heute Gesetzentwürfe von SPD und Grünen sowie ein Antrag der Linken über eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts. Um es gleich vorweg zu sagen und damit dem Kollegen Mayer recht zu geben: Sie kommen mit Ihren Anträgen wieder einmal zur Unzeit; denn wir haben im Koalitionsvertrag beschlossen, das Optionsmodell bzw. das Staatsangehörigkeitsrecht generell grundlegend zu überprüfen. Das nehmen wir ernst. Wir lassen derzeit umfassende wissenschaftliche Untersuchungen dazu durchführen, deren Ergebnisse im ersten Halbjahr des kommenden Jahres zu erwarten sind. Damit ist klar: Sie wollen heute mit dem Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ den Bundestag wieder einmal zur Bühne für eine Schauveranstaltung machen. Das machen wir nicht mit. ({0}) Den Gesetzentwürfen der SPD und der Grünen ist unter anderem gemeinsam, dass nicht nur das sogenannte Optionsmodell abgeschafft werden soll, sondern auch das Prinzip, mehrfache Staatsangehörigkeit zu vermeiden, aufgegeben werden soll. Auf beide Punkte werde ich gleich eingehen. Zuvor noch einige Worte zu dem noch viel weitergehenden Antrag der Linken: Die Linken wollen Einbürgerungen umfassend erleichtern und haben vor, die Staatsangehörigkeit geradezu mit der Gießkanne zu verteilen. Auf ausreichende Deutschkenntnisse oder Kenntnisse über unseren Staatsaufbau, unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung, unsere Werte oder unsere Geschichte will die Linke verzichten und eine Einbürgerung nicht mehr davon abhängig machen. Wesentliche Grundbedingungen, um ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen zu lassen, fehlen somit. Selbst nicht unerheblich straffälligen Ausländern oder Ausländern, die sich jahrelang unrechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben, soll der deutsche Pass verliehen werden. Das Einzige, was die Linke damit befördert, sind Parallelgesellschaften. ({1}) Insgesamt ist das unseres Erachtens ein integrationspolitischer Blindflug. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat für die Linke ganz offensichtlich weder einen rechtlichen noch einen emotionalen Wert. Ihre Forderungen offenbaren nur eines: Die Linke hat ein gestörtes Verhältnis zur nationalen Identifikation. Eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit Ihrem Antrag können Sie daher von uns nicht erwarten. Ich möchte zunächst Ausführungen zur Optionspflicht machen. 1999 wurde das Staatsangehörigkeitsrecht geändert. Seitdem kann man die deutsche Staatsangehörigkeit nicht nur durch Abstammung oder Einbürgerung, sondern auch durch Geburt erwerben. Die damals eingeführte Optionspflicht beinhaltet, dass sich ein Kind mit Eintritt der Volljährigkeit bis zum 23. Lebensjahr entscheiden muss, ob es die deutsche Staatsangehörigkeit oder aber die ausländische Staatsbürgerschaft eines seiner Elternteile, die es durch Abstammung erworben hat, behalten will. Falls es sich in diesen fünf Jahren zwischen dem vollendeten 18. und 23. Lebensjahr nicht entscheidet, geht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren, und zwar automatisch. Kein Mensch verlangt dabei, persönliche Verbindungen zu anderen Ländern oder familiäre Wurzeln zu kappen. Vielmehr geht es bei der Optionspflicht um die Entscheidung, welchem Land man mit all seinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten zugehörig sein will. Im Zuge des Optionsmodells konnten durch eine Übergangsregelung auch Kinder, die am 1. Januar 2000 das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, auf Antrag eingebürgert werden. 50 000 haben davon Gebrauch gemacht. Die ersten dieser Kinder wurden somit im Jahr 2008 18 Jahre alt und müssen sich deshalb bis spätestens 2013 entscheiden. In den kommenden Jahren bis 2017 erreichen jährlich lediglich zwischen rund 4 000 und 6 500 Jugendliche aus der Übergangsregelung das Optionsalter. Ab dem Jahr 2018 werden es circa 40 000 Jugendliche pro Jahr sein. Im Koalitionsvertrag unserer christlich-liberalen Koalition haben wir festgehalten, dass wir eine nennenswerte Anzahl der ersten Optionsfälle auswerten und die Ergebnisse anschließend sowohl in verfahrenstechnischer als auch in materieller Hinsicht auf möglichen Verbesserungsbedarf hin überprüfen wollen. Dazu brauchen wir über die tatsächlichen Fälle Informationen, die von den Ländern bis zum 31. Januar 2012 erbeten wurden. Außerdem ist uns wichtig, zu erfahren, wie die Betroffenen selbst die Sache sehen und welche Entscheidung sie im Rahmen der Optionspflicht treffen. Genau dies untersucht die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in umfassenden Studien. Die Ergebnisse der Evaluierungen und Studien werden erst in der ersten Hälfte des Jahres 2012 vorliegen. Schon allein deshalb sind die vorliegenden Gesetzentwürfe heute abzulehnen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Özoğuz?

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, in Anbetracht der vorangeschrittenen Zeit komme ich zum Ende meiner Rede. Parallel dazu überprüfen wir generell das Einbürgerungsrecht und das Einbürgerungsverfahren. Sehr erfreulich in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass die Zahl der Einbürgerungen im letzten Jahr um 5,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr angestiegen ist, bei einem leichten Rückgang des Anteils der Einbürgerungen mit fortbestehender Staatsangehörigkeit. Wir werben dafür, dass möglichst viele, die die Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, unsere Staatsbürgerschaft annehmen - Herr Kollege Mayer hat bereits darauf hingewiesen -; denn dadurch wird die Zugehörigkeit zu unserem Land und die wechselseitige Verantwortung seiner Bürger am stärksten ausgedrückt. Wir wollen aber - darauf kommt es auch mir an - gut integrierte Ausländer, die Deutschland als ihre Heimat empfinden und sich einbürgern lassen, weil sie Deutsche werden wollen, und nicht, weil sie unter Beibehaltung ihrer Staatsbürgerschaft lediglich die Vorteile einer deutschen Staatsbürgerschaft zusätzlich in Anspruch nehmen wollen. Das ist ein innerer Prozess, den der Staat fördern muss. Das ist nicht einfach. Das ist mühsam. Wir sind der Auffassung, dass SPD und Grüne es sich mit der generellen Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft viel zu einfach machen. Wir meinen, dass sie integrationspolitisch damit auf dem Holzweg sind. ({0}) SPD und Grüne wollen mit ihren Entwürfen außerdem das völkerrechtlich anerkannte, im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht geltende Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit aufheben. Dies passt im Übrigen genau zu dem, was Ministerpräsident Erdogan bei seinem Besuch in Deutschland vor wenigen Tagen gesagt hat. Er hat sich nämlich für die Ausweitung der doppelten Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Dazu sage ich: Das ist mit uns, mit der Union, nicht zu machen. Auch wenn es in der Praxis zahlreiche Ausnahmen gibt, wollen wir den Grundsatz beibehalten, mehrere Staatsangehörigkeiten zu vermeiden. ({1}) Dafür sprechen, wie bereits angesprochen, mehrere Gründe, rechtliche, den einzelnen Menschen betreffende und politische. Der erste Punkt ist: Mehrere Staatsangehörigkeiten führen natürlich zu staats- und völkerrechtlichen Problemen. ({2}) Auch wenn diese zu einem großen Teil durch internationale Übereinkommen theoretisch lösbar sind, kann es praktisch zu Konflikten kommen, was den diplomatischen Schutz, das Steuerrecht, das Strafrecht, das internationale Privatrecht oder die Ausübung politischer Rechte angeht. Diese Schwierigkeiten sind bei nur einer Staatsangehörigkeit nicht vorhanden. ({3}) Weiterhin sprechen Gründe, die in der Person des jeweils Betroffenen liegen, gegen eine generelle Zulassung der Mehrstaatigkeit. Viele Menschen haben insbesondere aus familiären Gründen persönliche Verbindungen zu unterschiedlichen Ländern. Es geht in keiner Weise darum, diese einzuschränken. Es ist aber unbestreitbar, dass die staatsbürgerliche Zugehörigkeit eines Menschen zu seinem Land, zu seiner Kultur und Werteordnung zu einer besonderen emotionalen Bindung führt. Zur Vermeidung von Konflikten sollte im Grundsatz auf eine solche Bindung zu mehreren Staaten verzichtet werden. ({4}) Schließlich ist es politisch der vollkommen falsche Ansatz, mit der Aushändigung eines Passes die Integration voranbringen zu wollen; auch das wurde schon gesagt. Das beabsichtigen die Antragsteller aber. Damit würde das Pferd von hinten aufgezäumt; denn die Aushändigung eines Passes muss am Ende und darf nicht am Anfang eines Integrationsprozesses stehen. Integration entscheidet sich vielmehr im konkreten Zusammenleben und nicht formal durch eine doppelte Staatsangehörigkeit. Das heißt, Integration kann nicht mit Papieren ausgehändigt werden. Integration ist vielmehr eine Sache des Kopfes und des Herzens. Worauf kommt es für eine gelungene Integration wirklich an? Höchste Priorität muss haben - das vertreten CDU und CSU -, dass die hier lebenden Ausländer die deutsche Sprache lernen und beherrschen. Das ist der Schlüssel für eine gute Bildung und für eine gute Ausbildung. Dies wiederum bildet die Grundlage für berufliche und gesellschaftliche Teilhabe. Gerade weil wir erkannt haben, dass Sprachförderung an erster Stelle steht, haben wir seit dem Jahr 2005 die Integrationskurse, Sprachlehrgänge, Orientierungs- und Alphabetisierungskurse für Migranten intensiviert und dafür viel Geld in die Hand genommen. ({5}) Generell hat die CDU/CSU-geführte Bundesregierung seit 2005 das Thema Integration zur Schlüsselaufgabe erkoren und zahlreiche konkrete Maßnahmen ergriffen. Sie alle kennen diese Maßnahmen, aber ich rufe sie ganz kurz in Erinnerung. Es sind die Programme für Schulverweigerer, die zusätzlichen Ausbildungsplätze für Jugendliche mit Migrationshintergrund, eine verbesserte Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, die Einführung einer Integrationsbeauftragten im Bundeskanzleramt, die Schaffung eines Integrationsplans und die Gründung der Deutschen Islam Konferenz im Jahre 2006 durch Minister Schäuble. Die vorliegenden Gesetzentwürfe von SPD und Grünen sowie der Antrag der Linken sind ein großer Rückschritt bei den umfassenden Bemühungen um eine gelungene Integration. Deshalb lehnen wir sie entschieden ab. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält Kollege Omid Nouripour.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich von dem, was Sie beschrieben haben, persönlich betroffen bin. Ich bin so etwas wie ein Kronjuwel der Integration. ({0}) Ich bin im Deutschen Bundestag im Verteidigungsausschuss, also für die Verteidigung des Vaterlandes zuständig. Mein Kind ist blond. Ich habe zwei Pässe. Ich habe den iranischen Pass, den ich gar nicht abgeben kann, und ich habe den deutschen Pass. Ich habe keinerlei Schwierigkeiten, das mit mir zu vereinbaren. Ich habe keinerlei Schwierigkeiten, zu diesem Land loyal zu sein. Ich sitze im Deutschen Bundestag und vertrete die Menschen in Deutschland. Wenn ich zu Hause bin, gibt es Momente, in denen ich eine andere Identität habe. Ich verstehe schlicht nicht, wie Sie darauf kommen, hier eine Loyalitätsparanoia aufzubauen. ({1}) Sie greifen ein einziges Merkmal von komplexen Persönlichkeiten auf und reduzieren die Menschen genau darauf. Sie werden dem menschlichen Wesen damit nicht gerecht. Sie werden dem Dienst, den auch die Menschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten in diesem Land leisten, nicht gerecht. Sie werden vor allem der Loyalität von Hunderten, von Tausenden von Menschen, die in diesem Land schuften, Steuern zahlen etc. pp. nicht gerecht. Die Menschen haben die gleichen Pflichten, sie sollten daher auch die gleichen Rechte haben. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Wellenreuther, wollen Sie reagieren? - Bitte schön. ({0})

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Nouripour, ich beglückwünsche Sie sowohl zu Ihrer familiären als auch zu Ihrer staatsbürgerlichen Situation. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Staatsange- hörigkeitsrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 17/7675, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/773 abzulehnen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlan- gen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das erfolgt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Die obligate Frage: Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Ich höre keinen Protest. Dann ist das offensichtlich erfolgt. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Wir sind immer noch bei Tagesordnungspunkt 4. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ände- rung des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/7675, den Gesetzentwurf der Fraktion der Grünen auf Drucksache 17/3411 abzuleh- nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- tung. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7675 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2351 mit dem Titel „Ausgrenzung been- den - Einbürgerungen umfassend erleichtern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge- gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- ordnungspunkt 34 a bis n sowie den Zusatzpunkt 3 a bis c auf: 34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften ({0}) und zur Änderung weiterer Gesetze - Drucksache 17/7576 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Februar 2007 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Kuwait über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich - Drucksache 17/7601 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss 1) Ergebnis Seite 16493 D Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Februar 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich - Drucksache 17/7602 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kroatien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten und der schweren Kriminalität - Drucksache 17/7603 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich - Drucksache 17/7604 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich - Drucksache 17/7605 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({6}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. August 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerkabinett der Ukraine über die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und anderer Straftaten von erheblicher Bedeutung - Drucksache 17/7606 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einfuhr und Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten in Deutschland umfassend verbieten - Drucksache 17/7478 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Ekin Deligöz, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bau der dritten Start- und Landebahn am Flughafen München Erdinger Moos aussetzen Keine unumkehrbaren Tatsachen schaffen - Drucksache 17/7479 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen Kontrollen verstärken - Drucksache 17/7482 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm, Thomas Nord, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Europäische Sozialcharta unverzüglich umsetzen - Drucksache 17/7484 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer ({12}), Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Konversion von Bundeswehrstandorten als Entwicklungschance für Kommunen - Drucksache 17/7504 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({13}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Billigkeitsrichtlinie zu den Umstellungskosten aus der Umwidmung von Frequenzen den Realitäten anpassen - Drucksache 17/7655 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Volker Beck ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Qualität der Integrationskurse verbessern - Drucksache 17/7639 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ZP 3a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/7632 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({16}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas - Drucksache 17/7612 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Monitoring für versenkte Atommüllfässer im Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen weitere Strahlenexposition einleiten - Drucksache 17/7633 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/7484 - das betrifft Tagesordnungspunkt 34 k - soll federführend beim Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis k sowie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 35 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Spanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/7318 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({19}) - Drucksache 17/7554 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({20}) Die Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7554, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7318 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt - Drucksache 17/5391 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21}) - Drucksache 17/7674 16492 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Ingo Egloff Jörg van Essen Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7674, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5391 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 35 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes und zur Änderung des Unterlassungsklagengesetzes - Drucksache 17/7235 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({22}) - Drucksache 17/7672 Berichterstattung: Abgeordnete Mechthild Heil Elvira Drobinski-Weiß Dr. Erik Schweickert Caren Lay Nicole Maisch Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7672, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7235 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Eberhard Gienger, Stephan Mayer ({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Günther ({25}), Dr. Lutz Knopek, Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Klima- und Umweltschutz im und durch den Sport stärken - Für eine verantwortungsvolle Sportentwicklung in Deutschland - Drucksachen 17/5779, 17/7608 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Dr. Lutz Knopek Katrin Kunert Viola von Cramon-Taubadel Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7608, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5779 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({26}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 8/11 - Drucksache 17/7668 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Rechtsanwalt Professor Dr. Marcel Kaufmann als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Der Tagesordnungspunkt 35 f bis k betrifft die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 35 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 331 zu Petitionen - Drucksache 17/7492 ({28}) Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 331 ist einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Tagesordnungspunkt 35 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 332 zu Petitionen - Drucksache 17/7493 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 332 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 35 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 333 zu Petitionen - Drucksache 17/7494 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 333 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 35 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 334 zu Petitionen - Drucksache 17/7495 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 334 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 335 zu Petitionen - Drucksache 17/7496 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 335 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen von SPD und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 35 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 336 zu Petitionen - Drucksache 17/7497 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 336 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 4: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({34}) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der älter werdenden Gesellschaft gerecht werden - Barrieren in Wohnungen und im Wohnumfeld abbauen - Drucksachen 17/7188, 17/7630 Berichterstattung: Abgeordneter Volkmar Vogel ({35}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7630, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7188 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Bevor wir zur Aktuellen Stunde kommen, will ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, Drucksachen 17/773 und 17/7675, mitteilen: abgegebene Stimmen 587. Mit Ja haben gestimmt 278, mit Nein haben gestimmt 308, Enthaltungen 1. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 587; davon ja: 278 nein: 308 enthalten: 1 Ja SPD Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({36}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({37}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dagmar Freitag Michael Gerdes Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({38}) Kerstin Griese Michael Groschek Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Michael Hartmann ({39}) Hubertus Heil ({40}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({41}) Frank Hofmann ({42}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({43}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({44}) Dr. Karl Lauterbach Burkhard Lischka Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({45}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({46}) Michael Roth ({47}) ({48}) Axel Schäfer ({49}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({50}) Werner Schieder ({51}) Ulla Schmidt ({52}) Silvia Schmidt ({53}) Carsten Schneider ({54}) Swen Schulz ({55}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Harald Koch Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({56}) Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Harald Weinberg Katrin Werner Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Volker Beck ({57}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({58}) Bärbel Höhn Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({59}) Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({60}) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({61}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Daniela Wagner Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({62}) Manfred Behrens ({63}) Peter Beyer Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer ({64}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({65}) Dirk Fischer ({66}) Axel E. Fischer ({67}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({68}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Christian Hirte Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({69}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({70}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Hartmut Koschyk Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({71}) Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({72}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({73}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Franz Obermeier Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({74}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({75}) Anita Schäfer ({76}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({77}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({78}) Dr. Kristina Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({79}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({80}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Kai Wegner Marcus Weinberg ({81}) Peter Weiß ({82}) Sabine Weiss ({83}) Peter Wichtel Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({84}) Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Patrick Döring Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({85}) Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth ({86}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({87}) Michael Link ({88}) Dr. Erwin Lotter Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({89}) Dr. Martin Neumann ({90}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({91}) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({92}) Enthalten SPD Hans-Ulrich Klose Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Haltung der Regierungskoalition zur Einführung eines Mindestlohns Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke das Wort. ({93})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der eigentliche Skandal ist, dass wir in regelmäßigen Abständen Milliardenbeträge zur Rettung des Euro oder der Banken beschließen und dass es seit zwei Legislaturperioden nicht gelungen ist, Armutslöhne in dieser Republik durch die Einführung von Mindestlöhnen zu verhindern. Das ist ein Skandal an sich! ({0}) 1,2 Millionen Menschen erhalten einen Lohn von unter 5 Euro. 1,2 Millionen! 3,6 Millionen Menschen bekommen einen Stundenlohn von unter 7,50 Euro. 14 Prozent der unter 20-Jährigen erhalten Stundenlöhne von bis zu 5 Euro. Insofern freut es mich natürlich, dass sich inzwischen bei der CDU zumindest eine Debatte entwickelt hat, die sich tatsächlich den realen Problemen der Menschen zuzuwenden scheint. Ich sage aber: zuzuwenden scheint! 91 Prozent der Menschen sprechen sich für eine feste Lohnuntergrenze aus. Nur 8 Prozent lehnen einen generellen Mindestlohn ab. Das hat laut dpa eine aktuelle Stern-Umfrage vom 9. November ergeben. Es wurde also Zeit, dass sich bei Ihnen etwas bewegt. Aber was bewegt sich denn nun wirklich? Ich würde mich freuen, wenn die heutige Debatte darüber Auskunft geben würde, wohin der Weg der CDU beim Thema Mindestlohn eigentlich geht. Es ist schon bemerkenswert, wenn auf der einen Seite Herr Laumann, den ich noch zitieren möchte, deutlich sagt: „Wir müssen Schmutzkonkurrenz beseitigen“, und auf der anderen Seite Hans Michelbach von der CSU die Position vertritt, die Festlegung einer Lohnuntergrenze sei - ich zitiere - „ordnungspolitisch nicht vertretbar, damit können wir nicht leben“. Wohin geht nun eigentlich die Reise in der CDU? Ich habe den Eindruck, Sie machen Politik nach dem Motto „Wenn ich die Menschen nicht überzeugen kann, dann verwirre ich sie“. Das ist offensichtlich Ihre Position. ({1}) Wenn ich ins Detail gehe und mir ansehe, was Sie eigentlich wollen, dann stelle ich fest, dass ein Teil Ihrer Fraktion eine Lohnuntergrenze irgendwo auf dem Niveau der Leiharbeit will, zwischen 7,01 Euro und 7,89 Euro. Das entspricht den unterschiedlichen Löhnen in Ost und West. Ein anderer Teil sagt: „Das wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen nur dort eine Niedriglohngrenze einziehen, wo es keine Tarifverträge gibt.“ Wie wir wissen, verdienen Friseure im Osten oft weniger als 4 Euro; dort liegen die Tariflöhne unter 4 Euro. Wollen Sie dort, wo es Tariflöhne gibt, diese 4 Euro beibehalten? Oder wollen Sie dort auch die Untergrenze einführen? Was wollen Sie eigentlich? Das ist aus Ihrer Position in keiner Weise ersichtlich. ({2}) - Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann bin ich gerne bereit, sie zu beantworten. Ansonsten bitte ich um etwas mehr Disziplin. Das würde Ihnen nicht schaden. ({3}) Lassen Sie uns einmal festhalten, was heute im Brandenburger Landtag beschlossen wurde. Dort wurde beschlossen, und zwar mit Mehrheit der Linken, der SPD und der Grünen: Der Landtag fordert die Einführung eines allgemeinen bundesweiten gesetzlichen Mindestlohns, der für jeden Alleinstehenden bei Vollzeitarbeit existenzsichernd ist. ({4}) Ihre Fraktion hat dagegen gestimmt. ({5}) Weil Sie mich gerade so nett angucken, sage ich es Ihnen ganz persönlich: Was Sie hier betreiben, ist nichts anderes, als Nebelkerzen zu werfen und so zu tun, als wären Sie jetzt auch für den gesetzlichen Mindestlohn. In Wirklichkeit sind Sie sich nicht nur nicht einig, sondern Sie wollen ihn eigentlich nicht. Das ist die Realität. ({6}) Die heutige Debatte könnte dazu beitragen, ein wenig Licht in die Dunkelheit zu bringen, die Sie verbreiten. Ich möchte an dieser Stelle gleich auf ein Argument eingehen. Weil Herr Kolb so nachdenklich dasitzt, möchte ich ihn persönlich ansprechen. Ein Argument gegen einen Mindestlohn, das auch von Ihnen immer in die Welt gesetzt wird: Ein gesetzlicher Mindestlohn würde Arbeitsplätze kosten. Die Regierung selber hat eine Studie in Auftrag gegeben. ({7}) - Weil Sie sie nicht veröffentlichen. Denn Sie wissen, dass das Gegenteil von dem drinsteht, was Sie erwartet haben, Herr Kolb. Das ist die Realität. ({8}) Aus der Studie geht hervor, dass es keinen negativen Zusammenhang zwischen der Einführung einer Lohnuntergrenze und einer negativen Beschäftigungsentwicklung gibt. ({9}) Ich habe Verständnis dafür, dass Sie das immer wieder vertreten, weil Sie nicht wahrhaben wollen, was wahr ist. Aber Sie haben eine Studie in Auftrag gegeben, in der herauskommt, was inzwischen schon alle Welt weiß, nämlich dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns schon aus einem einzigen Grund das Gebot der Stunde wäre: ({10}) dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können müssen und dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat. ({11}) Wer das verweigert - das machen auch Sie von der CDU, von der CSU und von der FDP -, der nimmt den Menschen die Würde. Dagegen werden wir uns weiter zur Wehr setzen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Matthias Zimmer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Ernst, über die Frage, wie wir zum Mindestlohn stehen, werden wir auf dem Parteitag demokratisch entscheiden. ({0}) Dass Sie Probleme mit demokratischer Entscheidungsfindung haben und dadurch verwirrt sind, ist mir völlig klar. ({1}) Herr Ernst, Sie haben die Studie des Bundesarbeitsministeriums zu den Mindestlöhnen und der Arbeitsplatzverträglichkeit von Mindestlöhnen angesprochen. Wenn es wirklich so wäre, dass sie unsere Position unterstützt, dann wären wir doch daran interessiert, dass die Studie herauskommt. ({2}) Sie unterstellen uns irgendwelche dunklen Machenschaften, eine solche Studie nicht zu publizieren. Das ist in hohem Maße albern. Meine Damen und Herren, ich glaube schon, dass in dem Redebeitrag des Kollegen Ernst der Unterschied zwischen einem CDU-Parteitag und einem Parteitag der Linken sehr klar geworden ist. ({3}) Wir werden auf unserem Parteitag sehr ernsthaft darüber diskutieren, ob und inwiefern wir Familien dadurch stützen können, Familiengründungen dadurch unterstützen können, dass wir ordnungspolitische Leitlinien in den Arbeitsmarkt integrieren. ({4}) Sie diskutieren darüber, Drogen freizugeben, was zur Folge hat, dass Familien kaputtgemacht werden und Elend über die Familien gebracht wird. ({5}) Es ist natürlich schön, dass eine so große Aufmerksamkeit für dieses Thema von Anfang an - schon vor dem Parteitag - existiert, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Das unterstreicht unsere Bedeutung als führende und gestaltende Partei in der Bundesrepublik. ({6}) Insofern ist es sinnvoll, Ihnen vorab schon die Gelegenheit zu geben, das eine oder andere zu sagen. Auch der eine oder andere Arbeitgeberverband hat vorab schon etwas dazu gesagt. Darauf will ich ganz kurz eingehen. Ich bin der Meinung, dass ein Arbeitgeberverband im Wesentlichen ein Tarifpartner ist. Wenn wir bei den Arbeitgeberverbänden, etwa bei dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall, feststellen, dass zwischen 2005 und 2010 die Anzahl der Mitgliedschaften ohne Tarifbindung um 84 Prozent gestiegen ist, dann ist das für mich ein beunruhigendes Merkmal. ({7}) Damit wird gerade jene Tarifautonomie unterminiert, die die Tarifpartner doch so deutlich anmahnen. Ich bin der Meinung, dass hier auch die Arbeitgeberverbände in der Pflicht sind; denn ein Arbeitgeberverband ist mehr als ein Country Club mit angeschlossener Rechtsberatung. ({8}) Wir sind unserem Grundprinzip treu geblieben und sagen: Wir sind gegen gesetzliche Mindestlöhne. ({9}) Wir sind in der Tat der Meinung, dass der Gesetzgeber der falsche Partner dafür ist, Mindestlöhne festzulegen. ({10}) Vielmehr wollen wir uns an den Tarifpartnern orientieren. Denn ansonsten passiert genau das, was jetzt passiert ist: Es gibt einen Überbietungswettlauf in der Frage, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein soll. ({11}) Ich kann mich erinnern: Wir fingen einmal an bei 7,50 Euro. Die SPD ist für 8,50 Euro. Die Linken haben mittlerweile die Höhe des Mindestlohnes, die sie fordern, mit dem Wahlergebnis synchronisiert, nämlich 10. ({12}) Ich bin mir sicher, dass es der SPD früher oder später auch noch gelingen wird, den geforderten Mindestlohn auf die Höhe hochzuschrauben, die ihrem Wahlergebnis entspricht. Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht. Wir sind der Meinung, dass die Tarifpartner weiterhin in der Pflicht sind, dass die Tarifpartner weiterhin die entscheidende Aufgabe haben, die Lohnuntergrenzen in Deutschland festzulegen. Wir wollen die Tarifpartner nicht aus der Pflicht entlassen. Das ist der wesentliche Impetus unseres Leitantrages, den wir in Leipzig diskutieren werden. Ich bin mir sicher, dass wir zu guten Ergebnissen, vor allen Dingen zu demokratischen Ergebnissen kommen, Herr Ernst. Wir wissen nicht vorab, wie die Mehrheit der Delegierten entscheidet. Auch das unterscheidet uns von Ihrer Partei, in der Sie das offensichtlich schon vorher genau wissen. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Andrea Nahles für die SPD-Fraktion. ({0})

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche habe ich mich ehrlich gefreut. Nach jahrelangem Ringen hört man: Die CDU kommt der Realität einen Schritt näher. Außerdem hört man: Eine allgemeine, verbindliche Lohnuntergrenze soll auf dem kommenden Parteitag beschlossen werden. - Das ist noch etwas unklar. Es reicht mir zwar noch nicht, aber ich habe mich trotzdem gefreut, weil viele Millionen Menschen draußen, die in miesen Löhnen feststecken, das als Hoffnungssignal verstanden haben. - Das war letzte Woche. Diese Woche muss ich feststellen, dass das Ganze zur Farce mutiert. ({0}) Frau Merkel, der Wackeldackel dieser Bundesregierung, ist nämlich wieder einmal umgefallen, ({1}) und diesmal in die falsche Richtung. Es ist mittlerweile so, dass sie eine offene Brüskierung der Sozialpolitiker und der Arbeitsministerin, die sich prinzipiell positiv dazu verhalten haben, in Kauf nimmt, indem sie im Grunde die Lohnuntergrenze zum Schweizer Käse macht. Wer nämlich behauptet, er wolle eine allgemeine, verbindliche Lohnuntergrenze, der kann nicht gleichzeitig sagen, dass diese regionale und branchenbezogene Abweichungen verträgt. Das ist nicht möglich. Das ist ein Witz. Es wird deswegen mit Ihnen - leider, sage ich keinen Mindestlohn in Deutschland geben. Das ist aber das, was wir brauchen. Wir brauchen auch keine Belehrungen über die Differenzierung im Tarifsystem. Das Bundesarbeitsministerium kann darüber Auskunft geben. Wir haben ein hochflexibles Tarifsystem. 60 000 Tarifverträge, die auf die unterschiedlichsten Bedürfnisse eingehen, haben wir bereits. ({2}) Wir stellen trotzdem fest, dass es eine massive Tarifflucht gibt und Tarifverträge durch sogenannte christliche Gewerkschaften massiv unterlaufen werden. Deswegen sagen wir: Wir brauchen eine Ergänzung, und das kann nur ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro sein. ({3}) Gerne kann auch eine Mindestlohnkommission eingerichtet werden. Die hat sich zum Beispiel in Großbritannien bewährt. Deswegen gibt es in dieser Hinsicht gar keinen Widerspruch. Wenn Sie - das möchte ich Ihnen einmal klar sagen die Tarifautonomie hochhalten, dann sind wir damit selbstverständlich einverstanden. Die Wahrheit ist aber, dass die Tarifflucht das mittlerweile in ganzen Regionen, vor allem in Ostdeutschland, zu einer wirklich leeren Forderung macht. Sie wissen genau: Die Menschen, die für 3 Euro oder 4 Euro pro Stunde arbeiten, brauchen eine klare Aussage darüber, welche Rechte sie haben. Sie brauchen kein Verwirrspiel: 25 verschiedene Lohnuntergrenzen in einem Bundesland, zum Beispiel in der Pfalz 5,60 Euro, in der Eifel, woher ich komme, 7,20 Euro. Das kann doch in direkten Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern überhaupt nicht funktionieren. Das Schönste am Chaos ist die Planung. Wenn Sie das nächste Mal etwas in Sachen Lohnuntergrenze planen und den Menschen zum Beispiel eine Verbesserung versprechen, die Menschen aber nur wieder hinter die Fichte führen, was Sie gerade wieder planen, dann sitzen Sie in der Opposition. Das ist die gute Nachricht. Das verspreche ich Ihnen. Die Menschen in Deutschland haben nämlich einen Mindestlohn verdient. Sie können nicht liefern. Wir werden das erledigen müssen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ernst, dieser Aktuellen Stunde mit dem schönen Titel „Haltung der Regierungskoalition zur Einführung eines Mindestlohns“ hätte es nicht bedurft. ({0}) Ein Blick in das Bundesgesetzblatt und in den Koalitionsvertrag hätte genügt. Im Bundesgesetzblatt hätten Sie gesehen, welche Branchenmindestlöhne diese Koalition eingeführt hat, zum Beispiel in der Pflege oder im Wach- und Sicherheitsgewerbe. ({1}) Bei der Zeitarbeit sind wir auf dem Weg. Mit einem Blick in den Koalitionsvertrag hätten Sie sich folgenden Satz vor Augen führen können: „Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab.“ Das ist die Vereinbarung dieser Koalition, und zu dieser Vereinbarung stehen wir. Nun interessiert Sie anscheinend mehr, was die in der Regierung vertretenen Parteien denken, als das, was die Regierungskoalition denkt. Ich will Ihnen gerne die Position der FDP und insbesondere der FDP-Bundestagsfraktion darlegen. Die FDP will faire Löhne. ({2}) Sie will faire Löhne für Arbeitnehmer, die hart arbeiten. Sie will faire Löhne für Unternehmer, ({3}) die Verantwortung für den Bestand und den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Unternehmen tragen. Aber sie will auch faire Löhne für Arbeitnehmer, die einen Zugang zum Arbeitsmarkt suchen. Deswegen lehnen wir einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn entschieden ab. ({4}) Hier wird immer so getan - auch Sie, Herr Kollege Ernst, haben versucht, dieses Bild zu malen -, als ob es in Deutschland ganz schrecklich sei. Ich lege Wert darauf, festzustellen: Der Normalfall in Deutschland ist, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Tarifverträgen oder auch einzelvertraglich auf Löhne einigen, die auskömmlich und wirtschaftlich vernünftig sind und weder Arbeitsplätze vernichten noch Neueinstellungen verhindern. Das ist die Realität in Deutschland, Herr Ernst, in der weit überwiegenden Zahl der Fälle. ({5}) Die deutsche Tarifautonomie gibt es nun einmal, und es ist gut so, dass es sie gibt. Sie besagt, dass sich die Politik aus der Lohnfindung heraushalten soll. Sie funktioniert und ist das Herzstück unseres Sozialstaats. Sie ist erfolgreich. Das sieht man daran, dass es nun weniger als 2,8 Millionen Arbeitslose gibt, nachdem wir noch vor wenigen Jahren 5 Millionen zu verzeichnen hatten - und das nach einer schweren, einschneidenden Krise -, und dass wir die im europäischen Vergleich drittniedrigste Jugendarbeitslosigkeit haben. Das ist für mich der Beweis dafür, dass die Tarifautonomie in Deutschland funktioniert. ({6}) Ihre Kritik am Arbeitsmarkt hält einer Überprüfung häufig nicht stand. Auch in diesem Aufschwung sind die Tariflöhne real gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt man, legt man die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zugrunde. ({7}) Der Niedriglohnsektor in Deutschland war politisch gewollt, und zwar von SPD und Grünen. ({8}) Er eröffnet vielen Menschen, gerade geringer qualifizierten, in Deutschland eine Einstiegschance. Worauf es aber ankommt - diese Unterscheidung will ich Ihnen hier sehr deutlich machen -, ist Folgendes: Die weit überwiegende Anzahl der Arbeitgeber entlohnt ihre Mitarbeiter im Sinne eines ehrbaren Kaufmanns fair. Es geht aber nicht, dass ein Arbeitgeber einem Mitarbeiter vor dem Hintergrund des staatlichen Transfers einen geringeren Lohn zahlt, obwohl es ihm eigentlich, gemessen an der Produktivität seines Unternehmens, möglich wäre, einen höheren Lohn zu zahlen; das geht nicht. ({9}) - Das sind doch extreme Ausnahmen. Ich möchte Ihnen schildern, wie es im Moment in Deutschland aussieht. Die Tarifbindung liegt bei 80 Prozent, 60 Prozent direkt und 20 Prozent durch Bezug16500 nahme. Dabei handelt es sich durchweg um gute, auskömmliche Löhne für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Unternehmen. ({10}) Da, wo es Probleme gab, haben wir - genauso wie die rot-grüne Koalition und die Große Koalition zuvor - in den letzten Jahren für 4 Millionen Arbeitnehmer Branchenmindestlöhne eingeführt, die das leisten müssen, was Sie hier fordern. ({11}) Da, wo es weiße Flecken gibt - das sind nun wirklich die Ausnahmen -, haben wir ein doppeltes Fangnetz installiert. Es gibt zum einen ein Verbot sittenwidriger Löhne und zum anderen das Mindestarbeitsbedingungengesetz, das zuletzt unter Ihrer Ägide, Herr Kollege Heil, geändert wurde. Haben Sie denn damals Mist produziert? Das Gesetz ermöglicht es, genau in den angesprochenen Fällen einzugreifen. Aber die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen: Einen entsprechenden Bedarf gibt es offensichtlich nicht. Die sozialen Verwerfungen, die Sie als Voraussetzung hier genannt haben, gibt es eben nicht. ({12}) Wir wollen keinen gesetzlichen Mindestlohn. Ich finde es richtig, dass wir darauf achten, dass die Menschen ein ausreichendes Mindesteinkommen haben. Das ist in der Tat der Fall: Es gibt bei 22 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten gerade einmal 11 000 Vollzeit arbeitende, alleinstehende Beschäftigte, die aufstocken müssen. ({13}) Das zeigt, dass die Probleme eine andere Dimension haben, als Sie es uns hier weismachen wollen. Deshalb halten wir am Koalitionsvertrag und an der Linie, die wir bei den Koalitionsverhandlungen vereinbart haben, fest. Mit uns wird es keinen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn geben. Ein Mindestlohn schadet den Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deswegen sollten Sie darüber nachdenken, ob Ihre Position richtig ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kolb, nichts ist mächtiger als die Idee, deren Zeit gekommen ist, ({0}) und es sieht ganz danach aus, als würde die Zeit auf Sie keine Rücksicht mehr nehmen. Die Zeit geht über die FDP hinweg. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus Ernst ({1}) Es gibt einen einzigen Fortschritt: Wir haben bislang hier in diesem Parlament noch keine Mindestlohndiskussion geführt, in der wir nicht ausführlich begründen mussten, warum ein Mindestlohn in Deutschland notwendig ist. Dass nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen wird, dass wir einen Mindestlohn brauchen, dazu haben die Gutachten, die diese Bundesregierung in Auftrag gegeben hat, einen Beitrag geleistet. ({2}) Wir haben es jetzt schwarz auf weiß, Herr Kolb, dass Ihre Behauptung, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten, einfach falsch ist. Das hat lange gedauert, aber wir diskutieren heute nicht mehr über die Frage, ob ein Mindestlohn eingeführt werden soll, sondern über die Frage, wie der Mindestlohn ausgestaltet werden soll. Das ist in der Tat eine ziemlich entscheidende Frage. Was ist denn von dem Merkel-Mindestlohn nach dem mehrmaligen Zurückrudern übrig geblieben? Ich kann dazu nur sagen: Dabei handelt es sich um einen Scheinriesen; denn je näher Sie ihn mit der Lupe untersuchen, desto kleiner wird er. ({3}) Er soll erstens nur für die Branchen gelten, in denen es keine Tariflöhne gibt. Aber was heißt das konkret? Die Friseurin in Sachsen mit einem Verdienst von 3,06 Euro in der Stunde hat keinen Cent mehr in der Tasche. Das Gleiche gilt für die Floristin in Thüringen. Das gilt auch für eine hohe Zahl an Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe, beim Gartenbau und in der Landwirtschaft. Für all diejenigen ändert sich durch den MerkelMindestlohn gar nichts. ({4}) Mit anderen Worten: Beim Merkel-Mindestlohn gehen Sie davon aus, dass Hungerlöhne dann akzeptabel sind, wenn sie den tariflichen Segen haben. Das ist eine Einladung an die Arbeitgeber zu Dumpinglöhnen. Das werden wir nicht mitmachen. ({5}) Zweitens. Der Merkel-Mindestlohn sieht keine einheitliche Lohnuntergrenze vor. Da kann ich mit Herrn Laumann wirklich nur sagen: Auch ich kann mir kein Deutschland vorstellen, in dem es 500 unterschiedliche Lohnuntergrenzen gibt. Dieser Flickenteppich wäre im Übrigen auch eine Zumutung für die Wirtschaft. Das werden wir nicht mitmachen. ({6}) Dann wollen wir einmal schauen, was sich eigentlich bei Ihrer Mindestlohnkommission herauskristallisiert. Eine Mindestlohnkommission in der Art, wie Sie sie sich vorstellen, haben wir schon. Wir haben sie in Form des Hauptausschusses gemäß Mindestarbeitsbedingungengesetz, und zwar seit 2009. Bislang hat dieser Hauptausschuss nicht einen einzigen Mindestlohn durchgesetzt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie Ihrer Mindestlohnkommission keinen anderen Geist einhauchen, dann wird sich nichts, aber auch gar nichts im Bereich Dumpinglöhne ändern. ({7}) Ich befürchte, genau das ist Ihr Ziel. Der Mindestlohn, den Sie diskutieren, ist nichts anderes als weiße Salbe. Deswegen hat, wie ich befürchte, Michael Fuchs, der Vertreter Ihres Wirtschaftsflügels, recht. Er hat nämlich auf die Frage der Leipziger Volkszeitung, was sich durch die von der CDU vorgesehene Lohnuntergrenze ändern würde, gesagt: „Nichts, rein gar nichts.“ Das wollen wir aber nicht. Wir wollen einen echten Mindestlohn, und wir wollen, dass es zu einer echten sozialpolitischen Kehrtwende, zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität kommt. ({8}) Frau Merkel verfolgt wahltaktische und machtstrategische Ziele mit der Mindestlohndiskussion. ({9}) Sie will ein Wahlkampfthema vom Tisch räumen, und sie will sich hübsch machen für andere Koalitionspartner, mit Vorliebe für eine Große Koalition. ({10}) - Das will ich einmal hoffen, Hubertus. Auf euch ist ja nicht so viel Verlass. ({11}) Dass sie mit der FDP keinen Staat mehr machen kann, hat sich ja bis zu ihr herumgesprochen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Merkel-Mindestlohn geht es um nichts anderes als um der Kaiserin neue Kleider. Diese neuen Kleider sollen in diesem Fall sozialpolitischer Natur sein. Aber für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor geht es wahrlich um mehr. Sie stehen vor der Frage: Lohngerechtigkeit oder Weiter-so mit Schwarz-Gelb? Wir wissen, wo wir stehen, meine Damen und Herren! ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte geht über unsere Haltung als Regierungskoalition zum Thema Mindestlohn. ({0}) Wenn Sie, Frau Kollegin Pothmer, jedoch die ganze Zeit von einem Merkel-Mindestlohn reden, kann ich Ihnen nur entgegnen: Sie reden von einer Phantomsituation. Wir führen diese Debatte nämlich erst. ({1}) Eine große Volkspartei führt eine Debatte, und wir wollen das auch in aller Breite diskutieren. In diesem Prozess befinden wir uns. Wir haben noch keinen MerkelMindestlohn festgelegt. ({2}) Es verwundert mich, dass sowohl von der Opposition, insbesondere von den Linken, als auch in der Presse und der Öffentlichkeit so getan wird, als ob es an der Stelle schon einen grundlegenden Richtungswechsel gäbe. In Deutschland wurde 1997 - Helmut Kohl war an der Regierung - zum ersten Mal ein Mindestlohn eingeführt, und zwar in der Elektrobranche. ({3}) Da fällt mir die Werbung für ein bestimmtes Bonbon ein: „Wer hat’s erfunden?“ - Wir haben den Mindestlohn nicht erfunden, wohl aber in die Tat umgesetzt. ({4}) Mindestlöhne gelten inzwischen in verschiedenen Branchen, und sie leisten - so Frau von der Leyen am letzten Sonntag - „einen großen Beitrag“ auch zu unserem Jobwunder. ({5}) Jetzt wird - je länger, desto mehr - thematisiert, dass es noch Bereiche gibt, die ebenfalls eine solche Lohnuntergrenze brauchen. Diese Diskussion beginnt aber nicht erst jetzt, wie Sie, Herr Ernst, vorhin gesagt haben. Nein, wir wollen seit Monaten dieses Thema behandeln. ({6}) Wir sind dabei. Auch die CDA hat ihren Teil beigetragen und, ebenfalls durch Frau von der Leyen, Stellung bezogen in dieser Debatte. Das ist vielleicht der Unterschied: Wir wollen eben nicht nur von politischen Forderungen getrieben handeln, ({7}) sondern ordentliche Arbeit abliefern. Wir wollen keinen Überbietungswettbewerb und keinen Unterbietungswettbewerb. ({8}) Weil wir gute Arbeit machen wollen, ({9}) hat die Bundesregierung den Auftrag im Koalitionsvertrag ernst genommen und ein entsprechendes Gutachten erstellen lassen. ({10}) Sie hat verschiedene Branchenmindestlöhne von verschiedenen Institutionen untersuchen lassen. Es geht also nicht, wie Sie hier mutmaßen, um einen allgemeinen Mindestlohn, sondern es sind einzelne Branchenmindestlöhne untersucht worden. ({11}) Auf die Ergebnisse der Evaluation bin ich sehr gespannt. Worum geht es uns? Sie haben mich danach gefragt, und Sie fragen in dieser Debatte danach. Die FDP hat für sich Stellung genommen, ich möchte das für uns tun. Die Schnittmenge ist sehr groß. Wir wollen in einer spannenden und, wie ich finde, angemessenen Diskussion einen Weg suchen, wie wir einer gerechten Entlohnung noch näher kommen können. ({12}) Ich müsste Ihrer Meinung nach, Frau Nahles, brüskiert sein als Sozialpolitiker, aber das bin ich nicht. Was ist denn gerechter Lohn? Bezieht er sich auf, wie von Ihnen genannt, die Friseurin in Sachsen oder auf die in Rheinland-Pfalz auf dem Land lebende Helferin im Drogeriemarkt, die mit 5,30 Euro zufrieden sein muss? Oder muss man noch andere Gerechtigkeitsfaktoren betrachten: den Markt als solches, ({13}) die Leistung, wie sie gerade genannt wurde, die Situation - es gibt einen Unterschied zwischen dem Gehalt im Erzgebirge und dem Gehalt in München -, den Aufwand und den Bedarf? Es kennzeichnet den sozialen Rechtsstaat, in dem ich froh bin leben zu dürfen, ({14}) dass Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in ein menschengerechtes Verhältnis zueinander gesetzt werden. Ich zitiere, was am vergangenen Sonntag in Chemnitz, meiner Stadt, gesagt wurde: Sprechen Sie nicht über Mindestlöhne - wir sprechen heute nicht direkt darüber, ({15}) das ist aber der Konsens heute Morgen -, sondern über Löhne, von denen Menschen in Würde ihr Leben gestalten können. Prinzipiell ist es richtig, dass jeder, der vollerwerbstätig ist, ohne Unterstützung des Staates auskommen sollte. ({16}) Aber hier gilt es zu differenzieren. Wenn ich - ich war selber Sozialhilfeempfänger - für meine Familie Hartz IV beantrage, dann liegt dieser Satz bei ungefähr 2 700 Euro. Der Lohn, den ich demnach verdienen müsste, um in Würde leben zu können, liegt bei etwa 16 bis 17 Euro pro Stunde. Das könnte Anlass geben, in dem von Ihnen betriebenen Überbietungswettbewerb mitzuspielen. Das wollen wir aber nicht. Es gibt für uns zwei verschiedene Kategorien von Mindestlöhnen: den gesetzlich festgelegten Mindestlohn, flächendeckend für alle Regionen und Branchen - den lehnen wir ab -, ({17}) und den von den Tarifpartnern ausgehandelten spezifischen, für die Branche festgelegten Mindestlohn, der vom Gesetzgeber als allgemeinverbindlich erklärt werden kann. ({18}) Wir wollen das Erste nicht, am Zweiten arbeiten wir, und wir wollen das erweitern. Die Höhe darf nicht von der Politik, sondern muss von den Tarifparteien entschieden werden, unterstützt und ermutigt von Politik und Wissenschaft. Ein Vorschlag dafür lautet, dass wir uns an den in der Zeitarbeit ausgehandelten Mindestlohn anlehnen. ({19}) Auch hier bin ich gespannt auf die Diskussion in den nächsten Tagen und darauf, wie die Verhandlungen der Tarifpartner sich entwickeln werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. - Neben dem hohen Gut der Tarifautonomie selbst und dem oft eingeforderten Grundsatz der Solidarität ist es ein großer Gewinn, dass wir in der sozialen Marktwirtschaft von Subsidiarität reden: So wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege!

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin der Überzeugung - das hat auch der Staatssekretär gestern im Ausschuss gesagt -: Die Tarifparteien können das. Wir werden sie dazu ermuntern. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, zu dieser Frage hätte uns die Haltung der Bundesregierung interessiert. In der gestrigen Debatte über das Betreuungsgeld war Ihre Kollegin Schröder so mutig, zu versuchen, uns ihren Standpunkt zu erklären. ({0}) Was Sie meinen, das lesen wir in der Bild am Sonntag. Als ich Ihr Interview gelesen habe, erging es mir wie meiner Kollegin Nahles. Ich dachte nämlich: Hossa, die Waldfee! Da bewegt sich etwas. Herr Kober, Sie sind von Hause aus evangelischer Theologe. Ich bin evangelischer Christ. Daher ist folgender Satz nahe liegend: Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 100 Gerechte. - Zu Deutsch: Wenn Sie sich in Sachen Mindestlohn tatsächlich unseren Vorschlägen anschließen, Frau von der Leyen, dann würden wir das nicht kritisieren. ({1}) An dieser Stelle sage ich aber ganz klar: Die Diskussion bei Ihnen hat sich in den letzten Tagen zerbröselt. Sie wissen nicht nur nicht, was Sie wollen, Sie wissen auch nicht, was Sie tun. ({2}) Es gibt da die buntesten Vorschläge. Frau von der Leyen, ich befürchte, dass am Ende Herr Laumann recht hat, der heute in einem Interview gesagt hat, er rechne angesichts der Verhältnisse in seiner Partei und bei seinem Koalitionspartner nicht damit, dass sich in dieser Legislaturperiode in dieser Sache überhaupt etwas tut. Das ist die schlechte Nachricht für die Menschen in Deutschland. ({3}) Ich sage Ihnen ganz offen: Das künstliche Auseinanderdividieren von über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffenen tarifvertraglichen Mindestlöhnen und einer allgemeinen Lohnuntergrenze bzw. eines gesetzlichen Mindestlohnes, der diesen Namen auch verdient, wird der Sache nicht gerecht. Sie könnten ohne Weiteres etwas dafür tun, dass tarifvertragliche Mindestlöhne einfacher vereinbart werden können - das haben wir Ihnen im Frühjahr vorgeschlagen -, indem Sie allen Branchen diese Möglichkeit im Arbeitnehmer-Entsendegesetz eröffnen. Sie tun es nicht, weil sich die CDU nicht gegen die FDP durchsetzen konnte. Das ist an dieser Stelle die Wahrheit. Für jede neu hinzukommende Branche müssen wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sozusagen anfassen. Bisher gilt es nämlich nur für zehn Branchen. Es ist daher ein zähes Ringen um tarifvertragliche Mindestlöhne; denn erstens muss eine neue Regelung, was den Kreis der betroffenen Branchen angeht, in das Gesetz aufgenommen werden, und zweitens muss die Mehrheit im Tarifausschuss entscheiden. Das zu ändern, wäre der erste Schritt, den wir machen könnten. Wir Sozialdemokraten wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Mindestlöhne. Darum haben wir Jahr für Jahr gekämpft - dies mussten wir Ihnen auch in den Verhandlungen im Frühjahr Branche um Branche abringen -, und deshalb sind wir so weit gekommen. ({4}) Wir wollen, wie gesagt, einen Vorrang der Tarifautonomie. Wir wollen aber auch die Möglichkeit für tarifvertragliche Mindestlöhne weiter ausbauen. Daneben brauchen wir eine Lohnuntergrenze, also einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, als untere Auffanglinie. ({5}) Ich sage Ihnen auch, warum. Die Kollegin Pothmer hat nämlich vollkommen recht: In einigen Bereichen gibt es Tarifverträge, die diesen Namen nicht mehr verdienen. Das liegt an der Tarifflucht auf Arbeitgeberseite und auch an der Tatsache, dass es für Gewerkschaften in vielen Branchen außerordentlich schwierig ist, sich zu organisieren. Das ist die Wahrheit. Der Mindestlohn ist notwendig, weil beispielsweise ein Stundenlohn von - wenn ich mich richtig erinnere 3,12 Euro im Friseurgewerbe in Sachsen leider Gottes Bestandteil eines Tarifvertrages ist. ({6}) Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Die Tarifautonomie hat sich jahrzehntelang bewährt. Wer die Augen aber davor verschließt, dass die aktuelle Entwicklung, die sich in Hubertus Heil ({7}) der Tarifflucht und in der aktuellen Schwäche auf Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite zeigt, dazu geführt hat, dass Lohnfindungsprozesse bei 3,12 Euro oder bei 3,06 Euro enden, der muss handeln. Deshalb sage ich Ihnen: Es ist nicht akzeptabel, dass Sie sich hier hinstellen, rumeiern und die verschiedensten Vorschläge machen. Für die Öffentlichkeit und für die betroffenen Menschen ist es vollkommen uninteressant, welcher Flügel der CDU sich in dieser Frage durchsetzt. Es zählen Taten. Es gilt der Satz von Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. ({8}) Frau Ministerin, Sie haben in der Bild am Sonntag angekündigt, dass Sie noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzesvorschlag machen wollen. Nach Ihrem Leipziger Parteitag werde ich Sie täglich fragen, wann Sie liefern. ({9}) Ich kann Ihnen aber nur die alte Kaufmannsweisheit entgegenhalten: Man kann nur liefern, wenn man etwas auf Lager hat. Diese Koalition hat nichts auf Lager. Das führt zu dem Ergebnis, dass Sie manchmal Expertisen, die Ihnen nicht in den Kram passen, unterdrücken. ({10}) Das angesprochene Gutachten von renommierten Instituten wie IAQ, IAW, IAB und ZEW im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, mit Steuergeldern bezahlt, liegt Ihnen doch seit dem 31. August vor. Frau Ministerin, es ist ganz interessant, dass man mit einem wissenschaftlichen Gutachten erst einmal in die Ressortabstimmung mit FDP-Ministern eintreten muss, um zu schauen, ob einem die Ergebnisse passen. Das ist ein dickes Ding, das Sie sich da leisten. ({11}) Dieses Gutachten beleuchtet die Arbeitsplatzeffekte der tarifvertraglichen Mindestlöhne in den Branchen. Daraus ergibt sich, dass das, was die FDP seit Jahren behauptet, dass nämlich Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten würden, schlicht und ergreifend Unsinn ist. ({12}) - Wenn Sie schon nicht auf uns hören, Herr Kolb, dann will ich Ihnen einen Rat von einem Menschen geben, dem sie vielleicht mehr zutrauen als uns; das kann ja sein. ({13}) Ich zitiere: Ein Mensch muss von seiner Arbeit leben können und sein Lohn muss wenigstens existenzsichernd sein! Ja, er sollte in der Regel etwas höher sein. Anderenfalls wäre es nicht möglich, eine Familie zu ernähren. Wissen Sie, wer das schrieb, Herr Kolb? ({14}) - Nein, das ist kein Papst gewesen, sondern das war ein gewisser Adam Smith im Jahre 1776. 235 Jahre nach dem Urvater der liberalen Vorstellung von Marktwirtschaft haben Sie es immer noch nicht begriffen. ({15}) Ich sage Ihnen: Das werden die Menschen Ihnen nicht mehr durchgehen lassen. Frau Merkel kann nicht länger rumeiern. Wir werden Sie stellen; wir werden Sie auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen,

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und wir werden unseren Gesetzentwurf einbringen, weil es uns darum geht, dass Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben können. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wird nach der Haltung der Regierungskoalition gefragt. Sie ist im Koalitionsvertrag ganz klar niedergelegt - darauf wurde schon hingewiesen -: Einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn wollen wir nicht. Warum denn, Herr Heil? ({0}) - Nein, Frau Kollegin Pothmer. - Warum denn? Lassen Sie uns einmal im Detail darüber reden. Sie haben vorhin die Realität in Deutschland beschrieben. Wir alle wollen, dass die Menschen von ihrem Lohn leben können. ({1}) Bei der Debatte müssen wir uns eines klarmachen. Es geht um Fairness gegenüber drei Gruppen, erstens gegenüber den Arbeitnehmern, die gute Löhne wollen. Das wollen wir alle, deswegen tun wir mehr für Qualifikation - und zwar mehr, als Sie getan haben, liebe Kolleginnen Johannes Vogel ({2}) und Kollegen -, gerade von beschäftigten Arbeitnehmern. ({3}) Zweitens geht es um Fairness gegenüber Arbeitgebern und Unternehmen, die die Löhne zahlen können müssen. Drittens schließlich geht es um Fairness gegenüber denjenigen, die erst auf den Arbeitsmarkt wollen. Das ist doch die Voraussetzung für alles Weitere. Echte Teilhabe in der Gesellschaft ist natürlich am besten möglich, wenn man auf dem Arbeitsmarkt dabei ist. Das müssen wir im Blick haben. Zum deutschen Jobwunder gehört die Tarifautonomie, das heißt, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft die Löhne von den Tarifpartnern ausgehandelt werden. Das dürfen wir nicht gefährden. Genau das fordern Sie aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Schauen wir uns doch einmal an, wie die Lage ist, Herr Heil! Wie viele Menschen in Deutschland können denn nicht von ihrem Lohn leben? ({4}) Es wird immer die Zahl von 1,4 Millionen Aufstockern genannt. Von dieser Gruppe arbeiten 900 000 nur in Teilzeit. Hier ist nicht die Lohnhöhe das Problem, sondern die Arbeitszeit. Warum ist das so? Weil Sie die Hinzuverdienstgrenzen bei Hartz IV so ausgestaltet haben, dass man kaum aus diesen Grenzen herauswachsen kann. Dieses Problem wollen wir uns im nächsten Jahr noch einmal vornehmen. ({5}) 125 000 Menschen aus dieser Gruppe sind selbstständig. Man muss untersuchen, ob diese Menschen ein gutes Geschäftsmodell als Grundlage haben und was man für sie tun kann, um gegebenenfalls nachzubessern. Hier geht es nicht um die Lohnhöhe. 300 000 Menschen arbeiten Vollzeit und stocken auf. Herr Heil, die weit überwiegende Zahl dieser Menschen stockt aber nicht auf, weil die Lohnhöhe so niedrig ist, sondern weil sie eine große Familie haben. Das muss man einmal sagen. Es ist eine sozialpolitische Errungenschaft in diesem Land, dass wir Familien nicht alleine lassen, sondern ihre wirtschaftliche Lage verbessern. ({6}) Die Frage lautet: Wie gehen wir als Staat damit um, dass wir den Vorrang für Tarifpartner wollen, dass wir natürlich - der Kollege Kolb hat es ausgeführt - nicht wollen, dass es einzelne schwarze Schafe unter den Unternehmen gibt, die einen niedrigeren Lohn zahlen als sie könnten? ({7}) Wie schafft man das? Die Tarifautonomie hat sich bewährt. Daher ist wohl klar, dass man in drei Schritten vorgeht. Für die 80 Prozent der Beschäftigten in Deutschland, die tarifgebunden sind, funktioniert die Tarifautonomie. ({8}) Hier brauchen wir keine Lösung, weil das Ganze bei den Tarifpartnern richtig funktioniert. In diesem Zusammenhang werden immer die Friseure aus Thüringen angeführt. Wenn wir ehrlich miteinander debattieren wollen, dann gehört hier auch dazu, dass dieser Friseurtarifvertrag aus Thüringen, ({9}) eine wesentliche Umsatzbeteiligung vorsieht. ({10}) Das heißt, es ist unfair, wenn Sie nur auf die Lohnhöhe schauen. Das können Sie gar nicht vergleichen. Die Gewerkschaften, denen Sie offenbar nicht mehr vertrauen, Herr Heil, machen in unserem Land bei der Lohnfindung keinen Unsinn. Bei den Branchen, in denen es einzelne schwarze Schafe gibt, besteht die Möglichkeit, die unterste Lohnhöhe für allgemeinverbindlich zu erklären. ({11}) Das hat diese Regierungskoalition in mehr Fällen getan als Sie in der rot-grünen Regierungszeit. ({12}) Der Unterschied zum allgemeinen Mindestlohn, den Sie wollen, ist eben nur: Hier liegt die Lohnfindung weiterhin in den Händen der Tarifpartner und nicht hier im Deutschen Bundestag, in den Händen von Herrn Ernst und anderen. ({13}) Das wollen wir so lassen. ({14}) - Nein. Johannes Vogel ({15}) ({16}) - Nein, wir reden nichts schön; wir stellen die Realität in Deutschland dar. Dazu gehört eben, dass wir das deutsche Jobwunder haben und die Löhne in der Regel auskömmlich sind. ({17}) Das können wir nicht erhalten, indem wir uns einer Politik anschließen, die alles zurückdreht und alles verändern will, was dieses deutsche Jobwunder ausmacht. Das wäre eine Unverschämtheit gegenüber den Menschen, die dann arbeitslos werden, Herr Kollege Heil. Schauen Sie sich doch einmal im europäischen Ausland um! Das wollen wir nicht. ({18}) - Ja, Herr Ernst. Er spielt eine wesentliche Rolle bei der Frage der hohen Arbeitslosigkeit. Bleiben wir aber bei dem Fall. Für die wenigen weißen Flecken gibt es in Deutschland sogar das Mindestarbeitsbedingungengesetz. ({19}) Wir können eine Lösung für diese Branchen finden. Wenn Sie mehr wollen, ({20}) dann müssen Sie zugeben: Sie wollen einen allgemeinen Mindestlohn; das sagen Sie auch offen. ({21}) Ich sage Ihnen: Ein allgemeiner Mindestlohn, eine allgemeine politische Lohnuntergrenze, die von Aachen bis Cottbus und von Flensburg bis Konstanz gilt und für alle Branchen identisch ist, wird nicht zu höheren Löhnen, sondern zu höherer Arbeitslosigkeit führen. ({22}) Deshalb werden wir weiter differenzierte Lösungen finden, die den Menschen wirklich helfen, und die Tarifautonomie als wesentliches Element der sozialen Marktwirtschaft achten, und das ist auch gut so. Vielen Dank. ({23})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das war unser Kollege Johannes Vogel für die FDPFraktion. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Jutta Krellmann. Bitte schön, Frau Kollegin Jutta Krellmann. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte da anknüpfen, wo mein Kollege Klaus Ernst aufgehört hat, ({0}) nämlich bei Art. 1 Grundgesetz - ich zitiere daraus, damit auch Sie es verstehen -: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Zur Würde gehört auch, dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können. ({1}) Das ist seit zehn Jahren zunehmend nicht mehr der Fall: 23 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnbereich. In der Exportnation Deutschland gibt es Löhne unter 5 Euro. Das kann doch gar nicht wahr sein; das ist ein echter Skandal. ({2}) Herr Kolb sagte, dass es 11 000 Aufstocker gibt. Damit kann er doch nur seinen Landkreis in der Nähe von Frankfurt meinen. ({3}) Für Deutschland gilt das nicht. Das gilt vielleicht für Babenhausen. Mein Kollege Klaus Ernst hat die Antwort der Bundesregierung auf die Frage, wie viele vollzeitbeschäftigte Aufstocker es in Deutschland gibt: 326 000, nicht 11 000. ({4}) Insofern ist es gut, dass die CDU auf ihrem Parteitag das Fenster für den Mindestlohn aufmachen will. Links wirkt! ({5}) Aber was wollen Sie jetzt machen? Die Informationen werden immer diffuser und - wir haben Herbst - immer vernebelter. Die Informationen, die ich habe, sind aus dem Text des Antrages für den CDU-Parteitag - ich zitiere -: Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. ({6}) Jetzt geht das Geschacher los: ({7}) Frau Merkel spricht sich für eine Lohnuntergrenze aus. Ja, toll. Das verbindet sie aber mit dem Ziel: keine Anbindung an die Löhne in der Leiharbeit. Abweichungen nach unten sollen möglich sein. ({8}) Auch ich will keine Anbindung an die Löhne in der Leiharbeit - das sage ich ganz deutlich -, nicht weil mir das zu viel ist, sondern weil mir das eindeutig zu wenig ist. ({9}) 7,89 Euro im Westen und 7,01 Euro im Osten sind mir einfach zu wenig. Unsere Forderung ist: 10 Euro für alle. ({10}) Frau Merkel macht einen Knicks vor der Arbeitgeberlobby. ({11}) Ich kann nicht verstehen, wieso sich die Ostfrau Merkel nicht für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West einsetzt, obwohl sie selbst aus dem Osten kommt. ({12}) Ich als Urwessi setze mich dafür ein, weil ich die Schnauze voll davon habe, dass alle toll finden, dass die Mauer weg ist, Sie aber nichts tun, damit sich die Lebensverhältnisse in irgendeiner Form angleichen nichts! ({13}) Meine Damen und Herren aus der CDU, Sie haben mit Ihrer Diskussion Erwartungen bei den Menschen geweckt, ({14}) nämlich die Erwartungen, dass das Zimmermädchen im Hotel, der Kellner im Restaurant, die Beschäftigten im Callcenter, die Eisverkäuferin im Freizeitpark, der Toilettenmann auf der Autobahnraststätte endlich einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn erwarten können. 85 Prozent der Menschen haben sich nach einer aktuellen Umfrage dafür ausgesprochen. Aber die herbstliche Vernebelung geht weiter. Aktuelle Stichpunkte aus der Debatte sind: Die Tarifvertragsparteien sollen sich am besten ohne Staat und ohne Wissenschaft auf eine Lohnuntergrenze einigen - aber nur in Branchen, in denen es keine Tarifbindung gibt - und regionale Unterschiede zulassen. Auf gut Deutsch heißt das: Mit der CDU wird es keinen Mindestlohn geben. Mit der CDU wird das Gerangel um Branchenmindestlöhne weitergehen. Im Grunde haben wir bereits Branchenmindestlöhne; das wurde schon mehrfach angesprochen. Gewerkschaften werden in die Situation gebracht, mit Arbeitgebern über Sachen zu verhandeln, die die Arbeitgeber eigentlich gar nicht wollen, und zu Bedingungen, die die Arbeitgeber diktieren. Das, Kolleginnen und Kollegen, ist die Aufforderung zum kollektiven Betteln. ({15}) Branchentarifverträge funktionieren dort, wo Gewerkschaften die Verhandlungsmacht haben dank kollektiver Mitgliedschaft sowie der Drohung, im Zweifel das Recht der kollektiven Arbeitsniederlegung, nämlich das Streikrecht nach Art. 9 des Grundgesetzes, wahrzunehmen. Das Streikrecht steht in Verbindung mit Tarifverträgen. Das eine funktioniert ohne das andere nicht. Zu sagen: „Die Gewerkschaften sollen jetzt endlich einmal verhandeln“, ist doch Blödsinn. ({16}) Wenn Gewerkschaften nicht die Möglichkeit haben, zu Arbeitsniederlegungen aufzurufen, wird es keine Tarifverträge geben, sondern dann bleibt es beim kollektiven Betteln. ({17}) Sie haben Erwartungen bei den Menschen geweckt. Ich möchte Sie auffordern: Erfüllen Sie die Erwartungen! ({18}) Die Menschen erwarten einen Mindestlohn, der für alle gilt und der nach unserer Position 10 Euro betragen soll. Tun Sie etwas, bewegen Sie sich und machen Sie das Fenster wieder zu, das Sie selbst geöffnet haben! ({19}) Vielen Dank. ({20})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kollege Straubinger. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Frau Kollegin Krellmann, Sie haben sich gerade darüber ausgelassen, dass die Frau Bundeskanzlerin und die Bundesregierung nichts für die Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten und Westen tun würden. ({0}) Ich möchte zunächst feststellen: Sie von der linken Seite waren überhaupt einmal gegen die Wiedervereinigung - vor allen Dingen Ihr Fraktionsvorsitzender, der gerade den Saal verlässt. ({1}) Damit wären den Menschen gute Lebensverhältnisse vorenthalten worden. Das ist letztlich der Punkt hier. Darüber hinaus möchte ich auch daran erinnern, dass mittlerweile viele Löhne in Ost und West zu 100 Prozent angeglichen worden sind, zum Beispiel im Metallbereich. ({2}) Das ist mit entscheidend dafür, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen im Osten so großartig entwickeln - dies nur mit der Garantie dieser Bundesregierung. Das wäre garantiert nicht der Fall, wenn Sie Verantwortung tragen würden. ({3}) Werte Kolleginnen und Kollegen, der Titel der Aktuellen Stunde lautet: Haltung der Regierungskoalitionen zur Einführung eines Mindestlohns. ({4}) - Herr Kollege Heil, von den Linken wurde also offensichtlich die falsche Frage gestellt. Denn Sie haben bemängelt, dass die Bundesregierung nicht darauf antwortet. ({5}) Wir antworten als Regierungsfraktionen. ({6}) Der Kollege Kolb hat bereits darauf hingewiesen: ({7}) Wir stehen zur vollen Tarifautonomie und nicht zu einer bevormundenden Tarifautonomie durch staatlich festgesetzte Löhne. ({8}) Darüber hinaus steht eindeutig in unserem Koalitionsvertrag, dass wir gesetzliche Mindestlöhne ablehnen. Dabei wird es auch bleiben; ({9}) denn es ist richtig, dass wir auf Branchenmindestlöhne setzen. Das hatte im Bereich Pflege großen Erfolg. Herr Kollege Heil, im Übrigen wurde der erste Branchenmindestlohn unter einer CDU/CSU-FDP-Bundesregierung mit tatkräftiger Unterstützung des Kollegen Kolb, der damals Parlamentarischer Staatssekretär war, eingeführt. ({10}) So viel zur Geschichte. ({11}) Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung den Menschen gegenüber bewusst. Mittlerweile haben wir Branchenmindestlöhne in den Bereichen Pflege, Gebäudereinigerhandwerk, Wäschereien und Wach- und Sicherheitsdienst eingeführt. ({12}) Wenn das Gutachten vorliegt, das die Bundesregierung eingeholt hat - möglicherweise haben Sie schon etwas gelesen; das weiß ich nicht -, ({13}) wird möglicherweise deutlich, dass die Auswirkungen nicht feststellbar sind. ({14}) Es ist nicht klar, ob sie positiv oder negativ sind. Das ist deshalb so, weil wir die Einführung des Mindestlohnes auf einige Branchen beschränkt haben. Das Schlimmste, was im Bereich Arbeitsplätze passieren konnte, ist unter Rot-Grün passiert. Damals gab es in Deutschland einen massiven Verlust an Arbeitsplätzen. Seitdem die Union wieder regiert - mittlerweile mit der FDP -, gab es einen gewaltigen Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. ({15}) Das ist darauf zurückzuführen, dass wir eine fundierte Wirtschaftspolitik in Gang gesetzt haben, durch die die Menschen ein gutes Einkommen erzielen können. ({16}) Nun sind wir wieder beim Thema Mindestlohn. Damit wollen wir uns auch auseinandersetzen. ({17}) Kollege Ernst hat zum einen das Thema Arbeitsplatzverlust angesprochen. Zum anderen hat er darauf hingewiesen, dass die Menschen auch von den Löhnen leben können müssen. ({18}) Nehmen wir das Beispiel Frankreich, das von Ihnen oft als Vorzeigeland bezeichnet wird. Dort beträgt der gesetzliche Mindestlohn 9,10 Euro. Frau Kollegin Nahles hat Großbritannien vorbildlich genannt. Ich möchte feststellen: In Frankreich sind das im Monat 1 365 Euro brutto und in Großbritannien 1 086 Euro brutto. Wissen Sie, wie hoch der niedrigste Tariflohn im Hotel- und Gaststättengewerbe in Bayern - wohlgemerkt: der niedrigste! - ist? Er liegt bei 1 361 Euro und nach drei Monaten Einarbeitungszeit bei 1 464 Euro. ({19}) Das sind letztlich die 8,50 Euro, die die SPD als Mindestlohn fordert. ({20}) Dabei haben das die Tarifparteien bereits vereinbart. ({21}) Deshalb bedarf es auch in dieser Hinsicht dieser Unterstützung nicht. Man sollte sich das Beispiel Frankreich genauer anschauen. In Frankreich werden die Unternehmen, die den Mindestlohn zu bezahlen haben, von der französischen Regierung tatkräftig unterstützt, indem die Sozialversicherungsbeiträge, die die Unternehmen zu leisten haben, subventioniert werden. Diese Subvention betrug im Jahr 2002 19,2 Milliarden Euro. Im Jahr 2010 ist sie mittlerweile auf 30 Milliarden Euro angestiegen. 30 Milliarden Euro für Lohnsubventionen, um den Mindestlohn zu garantieren! Ich bin überzeugt, dass es zu vielen Fehlleitungen kommt und dass es in den Betrieben Mitnahmeeffekte gibt. Deshalb ist die Gestaltung unserer Sozialpolitik besser: Derjenige, der von seinem erwirtschafteten Lohn nicht leben kann, kann aufstocken und ein menschenwürdiges Leben führen. In diesem Sinne: Wir liegen mit unserer Einteilung richtig. Wir brauchen dort Branchenmindestlöhne, wo sie sinnvoll sind, wo die Tarifparteien das selbst vereinbart haben. Wenn es zum Leben nicht reicht, gibt es darüber hinaus staatliche Unterstützung.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das ist ein guter Schlusssatz, Herr Kollege. ({0}) - Diese Frage kann in der Aktuellen Stunde nicht mehr beantwortet werden. Der Kollege hat keine Redezeit mehr.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schade, dass ich die Frage nicht beantworten kann. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Straubinger. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Anette Kramme. Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Regierung ein Thema für wichtig hält, dann redet normalerweise die Spitze der Partei. Dann redet die Bundeskanzlerin, alternativ der zuständige Fachminister oder die zuständige Fachministerin. ({0}) Hier und heute hat man den Eindruck, dass ein Sprechverbot für die obersten Chargen dieser Regierung existiert. ({1}) Das ist nachvollziehbar. Wir würden aber gerne wissen, ob Ursula von der Leyen noch an der Seite von Herrn Laumann steht oder mittlerweile bei Frau Merkel angelangt ist. ({2}) Herr Straubinger, Sie sagen, dass Sie sich um die Menschen in diesem Land kümmern. Es gibt aber sehr viele Zahlen zum Niedriglohnsektor, die mehr als erschreckend sind. ({3}) Angesichts der Zahlen müssten die Ministerpräsidenten aller fünf neuen Bundesländer schreiend durch die Gegend laufen. Das Einkommen von mehr als 40 Prozent der Menschen in Ostdeutschland liegt unterhalb einer einheitlichen Niedriglohngrenze in Deutschland. Sie verdienen also weniger als 1 800 Euro brutto. Wir können auch Zahlen des IAQ nehmen: Das IAQ hat errechnet, dass 23 Prozent aller Haupt- und Nebenbeschäftigten von einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro profitieren würden. Wie erschreckend! ({4}) Wir können das auch noch an anderen Zahlen festmachen. Prognos hat eine Studie vorgelegt. Prognos hat uns auch einiges über die Wirkungen eines Mindestlohns gesagt. Dabei geht es um die Würde der Arbeit. Prognos hat aber auch belegt, wie volkswirtschaftlich sinnvoll die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro ist. Prognos hat belegt: 14 Milliarden Euro würden die Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich verdienen. Es wurde belegt, dass wir zusätzliche Einkommensteuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro hätten. Es wurde belegt, dass die Sozialversicherungen zusätzlich 2,7 Milliarden Euro einnehmen würden. Darüber hinaus ist herausgekommen, dass wir mit 80 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik rechnen könnten. ({5}) Frau von der Leyen, wie das Baby heißt, ob „Lohnuntergrenze“ oder „Mindestlohn“, ist uns an sich egal. Das Paket, dass Sie an dieser Stelle schnüren wollen, ist aber ein Nichts, ein Nullum. Das wird den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland nicht helfen. ({6}) Ein Grund dafür ist, dass Sie wollen, dass die Mindestlöhne nur dann greifen, wenn es an der Tarifbindung fehlt. ({7}) - Das ist nicht Respekt vor der Tarifautonomie, sondern im Prinzip eine Missachtung der Tarifautonomie. ({8}) - Herr Kolb, ich würde Ihnen das gerne erläutern. Es ist so, dass wir mehrere Hundert Tarifverträge in der Bundesrepublik Deutschland haben, die Löhne unterhalb von 8,50 Euro vorsehen. ({9}) Wenn Sie jetzt sagen, dass die Lohnuntergrenze nur dann greifen soll, wenn eine Tarifbindung nicht vorliegt, ({10}) dann bedeutet das, dass Gewerkschaften, wenn sie ihren Leuten etwas Gutes tun wollen, wenn sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land etwas Gutes tun wollen, künftig auf den Abschluss von Tarifverträgen verzichten müssen. Das ist ein Eingriff in die Tarifautonomie und nicht das Gegenteil davon! ({11}) Sie sagen überdies, das Ganze solle branchenabhängig laufen und nach Regionen differenziert. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet, dass ganz viele Menschen in Deutschland mangels Informationen auf ihre Rechte verzichten werden. Da ein solches Verfahren Jahre dauern wird, wird auch sichergestellt, dass Mindestlöhne nicht kommen. Ein weiterer Punkt: Die Kanzlerin oder ihre Regierung hat zunächst erklärt, dass man auf einen Maßstab für eine Lohnuntergrenze nicht verzichten wolle. Die Leiharbeit solle der Maßstab sein. Dann gab es einen Totalrückzieher. ({12}) Herr Heinrich, Sie haben davon gesprochen, dass es künftig einen Überbietungswettbewerb in der Politik geben würde. Was Sie mit diesem Verzicht einleiten würden, ist ein Unterbietungswettbewerb. ({13}) Wir haben bis heute nicht von Ihnen gehört, wie hoch der Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland sein soll. Sollen es 4 Euro sein, sollen es 5 Euro sein, sollen es 5,50 Euro sein, oder sollen es 6 Euro sein? ({14}) Dies ist offensichtlich ein Zugeständnis an den Wirtschaftsflügel Ihrer Partei. ({15}) Zum Abschluss Folgendes: Arbeit muss Würde haben, und würdige Arbeit ist existenziell für das Leben im Alter, für eine Rente, von der man leben kann. Sie leiten hier momentan einen Prozess ein, der zu Altersarmut im großen Maßstab führen wird. Deshalb kann man Ihnen nur sagen: Besinnen Sie sich und kommen Sie endlich zur Vernunft! Vielen Dank. ({16})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Anette Kramme. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön, Kollege Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss dieser Aktuellen Stunde bleibt mir nur noch eine Feststellung: Bei der Opposition geht die blanke Angst um. ({0}) Es ist die blanke Angst davor, dass das Thema Mindestlohn als Verunglimpfungsthema gegen die Regierungskoalition und die sie tragenden Parteien abhandenkommen könnte. Das wurde hier heute vorgeführt. ({1}) Die Behauptung, CDU, CSU und FDP seien strikt gegen Mindestlöhne, ist schon deswegen falsch, ({2}) weil - es ist schon erwähnt worden - der erste branchenbezogene Mindestlohn in Deutschland unter einer Regierung von CDU/CSU und FDP, unter Helmut Kohl und Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vereinbart worden ist. ({3}) Unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler ist in Deutschland kein einziger Mindestlohn vereinbart worden. ({4}) Aber heute, mit einer christdemokratischen Bundeskanzlerin und selbst in einer Koalition mit der FDP - dies hätten viele nicht vermutet -, gibt es in zehn Branchen in Deutschland Mindestlöhne, die die Tarifpartner vereinbart haben und die die Frau Bundesarbeitsministerin per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklärt hat, das heißt, sie gelten für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Branche, ob sie organisiert sind oder nicht. Das ist ein großer Erfolg. Mindestlöhne sind das Markenzeichen der CDU. ({5}) Erst gestern hat der Gemeinsame Tarifausschuss - er besteht aus drei Vertretern der Arbeitgeber und drei Vertretern der Gewerkschaften - getagt und zum Beispiel den Mindestlohn für die Dachdecker verlängert. ({6}) Morgen erscheint der Bundesanzeiger neu. ({7}) Darin werden Sie schwarz auf weiß die Bekanntgabe des neuen Mindestlohns in der Zeitarbeit lesen können, ({8}) den die Bundesministerin ebenfalls für allgemein verbindlich erklären wird. Dann bekommen Zeitarbeiter nicht mehr nur 5 Euro pro Stunde, dann müssen im Westen mindestens 7,89 Euro und im Osten 7,01 Euro gezahlt werden, ({9}) und zwar nicht, weil die Politik es so beschlossen hat, sondern weil Gewerkschaften und Arbeitgeber diesen Mindestlohn vereinbart haben. ({10}) Nun gibt es trotz dieses erfolgreichen Wegs Branchen, in denen voraussichtlich keine branchenbezogenen Mindestlöhne vereinbart werden. ({11}) Das ist Anlass dafür, dass sieben Landesverbände, mehrere Vereinigungen der Partei und 21 Kreisverbände für den CDU-Bundesparteitag, der am Montag und Dienstag der kommenden Woche in Leipzig stattfinden wird, Anträge gestellt haben, ({12}) in denen sie vorschlagen, dass wir eine allgemeine untere Lohngrenze für all die Bereiche festlegen, in denen branchenbezogen nichts geregelt ist, dass diese Lohngrenze von den Tarifparteien, den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, ausgehandelt wird und anschließend durch die Bundesregierung für allgemeinverbindlich erklärt werden soll, sprich: für alle gelten soll, egal ob In- oder Ausländer, ob in der einen oder der anderen Branche beschäftigt. All die Zeitungsmeldungen, die hier vorgetragen worden sind, geben das, was in den Anträgen steht, nicht wieder. ({13}) Die Mühe, darauf hinzuweisen, hat sich niemand von der Opposition gemacht. ({14}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich können Sie heute eine Aktuelle Stunde beantragen. Aber: Die CDU ist wie die CSU und die FDP ({15}) - ich hoffe, wie auch die anderen - eine demokratische Partei. ({16}) Bei uns entscheidet nicht die Parteivorsitzende, nicht ein einzelner Landesverband, ({17}) auch nicht die Fraktion oder ein Abgeordneter. Bei uns entscheidet der Bundesparteitag in der nächsten Woche, wie das Konzept der Union aussieht. ({18}) Mit Interesse verfolgen wir, dass auch einige Kolleginnen und Kollegen der FDP darüber nachdenken, ob eine allgemeine Lohnuntergrenze nicht eine sinnvolle Sache sein kann. ({19}) Der große Unterschied ist: ({20}) Wir sind der Auffassung: Deutschland hat seinen Erfolg der Tarifautonomie zu verdanken. Die Tatsache, dass die Tarifpartner anständige Löhne ausgehandelt haben, ({21}) hat zum Wohlstand der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland beigetragen. ({22}) Den Weg, über Tarifverträge und anschließend durch staatliche Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu guten Löhnen in Deutschland zu kommen, ({23}) wollen wir weitergehen und weisen den Vorschlag, dies durch staatliche Gesetzgebung zu ersetzen, entschieden zurück. ({24}) Wir wollen den Vorrang der Tarifautonomie für gute Löhne in Deutschland. Vielen Dank. ({25})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Peter Weiß war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Veronika Bellmann, Dirk Fischer ({1}), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Vizepräsident Eduard Oswald Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität - zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD EU-Weißbuch Verkehr - Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen - Drucksachen 17/7464, 17/7177, 17/5906, 17/7679 Berichterstattung: Abgeordnete Veronika Bellmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste unsere Kollegin Veronika Bellmann für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin Veronika Bellmann. ({2})

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit den Römischen Verträgen 1958 ist die Verkehrspolitik klassisches Handlungsfeld europäischer Politik. Seit 2001 wird die Konkretisierung der europäischen Verkehrspolitik in Weißbüchern vorgenommen. 2001 gab es das erste, 2006 das zweite, und nunmehr, seit dem 28. März dieses Jahres, gibt es das dritte. Es trägt den Titel „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum - Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“. Mit der Vorlage dieses Weißbuches formuliert die Europäische Kommission die Neuausrichtung der europaweiten Verkehrspolitik bis zum Jahr 2020. Darüber hinaus entwirft sie zugleich eine Vision bis 2050. Damit die Ziele der Nachhaltigkeit - das dritte Weißbuch verschreibt sich vor allen Dingen dem Ziel der Nachhaltigkeit -, der Sicherheit, der Weiterentwicklung des Verkehrsbinnenmarktes und des Abbaus der Abhängigkeit vom Rohstoff Öl erreicht werden, hat die Europäische Kommission dem Papier 40 Maßnahmen in einem Paket bzw. einer Anlage angehängt. Sie sind ohne Zweifel sehr ambitioniert, manchmal auch sehr visionär, aber durchaus umsetzbar. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen die Vorlage des Weißbuches. Das Weißbuch ist notwendig. Europa braucht eine einheitliche und umfassende Strategie zur Sicherung einer nachhaltigen Mobilität. Denn Mobilität stellt einerseits für uns persönlich ein großes Stück Freiheit und Lebensqualität dar. Andererseits ist die Mobilitäts- und Verkehrsbranche auch eine innovative und leistungsstarke Branche, die einen hohen Anteil am wirtschaftlichen Wachstum und an der Schaffung von Arbeitsplätzen hat. Gleichzeitig werden im Verkehrssektor aber eben 25 Prozent der Treibhausgasemissionen produziert. Aus diesem Grunde bestehen auch hier die Notwendigkeit und zugleich die Verantwortung, Ökologie und Ökonomie mit Augenmaß zu verknüpfen. Das heißt insbesondere, dass die Mobilität der Zukunft umwelt- und klimagerecht ausgestaltet sein, den Mobilitätsbedürfnissen der Bürger entsprechen, aber bezahlbar sein muss und auch den wirtschaftlichen Wachstums- und Entwicklungszielen Europas gerecht werden muss. Genau diesen Gleichklang sehe ich im vorgelegten Weißbuch nicht an jeder Stelle. Zwar enthält das Weißbuch Initiativen, die durchaus positiv zu bewerten sind, so zum Beispiel der einheitliche Verkehrsbinnenmarkt, die transeuropäischen Verkehrsnetze, die Einführung alternativer Kraftstoffe und Verkehrsmanagementsysteme, der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur oder die Einführung von alternativen Finanzierungsmodellen. Hinsichtlich der weiteren von mir bereits genannten Herausforderungen gibt es aber kaum bzw. nur ziemlich vage Ansagen. Oder man muss schon sehr in die Verzweigungen einsteigen, wie in die kürzlich von der EUKommission vorgelegten Verordnungsentwürfe zu den transeuropäischen Netzen und den damit in Verbindung stehenden neuen Finanzierungsmodellen, Connecting Europe Facility genannt. Selbst wenn wir auch da grundsätzlich Zustimmung signalisieren können, so verkennen wir doch nicht, dass nicht nur finanztechnisch „gehebelt“ werden soll - das ist ja in den jüngsten Tagen ein Modewort geworden -, sondern auch hinsichtlich der Kompetenzen der Europäischen Union und der Personalausstattung. So soll zum Beispiel mit den transeuropäischen Netzen wieder eine Korridorbildung einhergehen. Für die Korridore soll es Koordinatoren geben. Früher gab es dafür Exekutivagenturen, Sekretariate oder Beobachtungsstellen. Weil das alles politisch nicht mehr ganz korrekt ist, nennen sich die Agenturen heute Komitees. Hier müssen wir also schon ganz genau hinschauen, ob das hinsichtlich der Subsidiarität nicht ausufert. Subsidiarität im Zusammenhang mit dem Weißbuch mahne ich auch an, bezogen auf die Infrastrukturplanungshoheit, die nationalen Anteile der Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturen, die Komodalität oder auch die Organisation städtischer Verkehre. So greift die Europäische Kommission mit ihrer Kraftstoffstrategie für Städte in die Souveränität der Kommunen ein, da ohne Kenntnis der lokalen Rahmenbedingungen pauschale Vorgaben für Bürger, kommunale Dienste, Wirtschafts16514 verkehre und den ÖPNV gemacht werden. Hier muss in jedem Falle nachjustiert werden. ({0}) Aus diesem Grund haben wir als Koalitionsfraktionen unseren Antrag mit dem Titel „Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität“ eingebracht. Mit ihm geben wir unserer Bundesregierung einige Forderungen mit auf den Weg, um auf europäischer Ebene entsprechend zu verhandeln, damit wir im Mobilitäts- und Verkehrssektor der Zukunft Ökologie und Ökonomie ordentlich miteinander verzahnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegen noch zwei andere Anträge bezogen auf das Weißbuch Verkehr vor, nämlich einer der Grünen und einer der SPD. Ich habe gestern in den Ausschussberatungen einmal den Versuch gemacht, die Gemeinsamkeiten in den Anträgen hervorzuheben. Ich glaube, das ist mir an vielen Stellen gelungen. Man kann sie zumindest den schriftlichen Anträgen deutlich entnehmen. In der Diskussion wurde es dann aber doch - insbesondere seitens der Grünen - etwas ideologisch, als es um die Verlagerung des Luft- und Straßenverkehrs auf die Schiene und auf Wasserstraßen ging. Wir sind auch für Verkehrsverlagerungen, aber immer nur dort, wo es sinnvoll ist, also nicht auf Gedeih und Verderb. Wir sehen die im Weißbuch dargelegten Ziele sehr kritisch: Bis 2050 sollen der Straßengüterverkehr und auch große Teile des Personenverkehrs ab 300 Kilometer Streckenlänge auf die Schiene verlagert werden. Gleiches gilt für den Luftverkehr unter einer Streckenlänge von 1 000 Kilometern. Das muss man sich einmal vorstellen: Das sind alle innerdeutschen Verbindungen. Auch das Ziel, bis 2020 einen annähernd CO2-freien Stadtverkehr zu erreichen, muss man sehr kritisch betrachten; denn die Reduktion der Anzahl konventioneller Fahrzeuge um 50 Prozent bis 2030 und um 100 Prozent bis 2050 ist nicht nur ambitioniert, sondern dahinter steckt auch ein hoher Kostenfaktor. Darum sagen wir: Pauschale dirigistische Vorgaben sind nicht zielführend, vor allen Dingen dann nicht, wenn sie in Bezug auf Mengen, Zieldaten und Entfernungen gemacht werden. Solche Vorgaben müssen technologieneutral und verkehrsträgerneutral sein; denn ansonsten verhindern sie Innovationen für effizientere Antriebe, neue Kraftstoffe, intelligente Verkehrsleitsysteme und auch Elektromobilität. Dafür bieten Sie nichts weiter als massive Staatseingriffe und Verteuerung für Staat und Bürger. Ich komme jetzt auf den Antrag der SPD zu sprechen. Dort finden sich einige Gemeinsamkeiten mit unseren Positionen. Das liegt aber auch daran, dass die 47 Punkte, die Sie in Ihrem Forderungskatalog darlegen, überwiegend Allgemeinplätze beinhalten. Sie fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze auch bei einem umfassenden Strukturwandel in Deutschland und Europa bleiben sollen. Das versteht sich für meine Begriffe von selbst. Dort, wo Sie konkreter werden, zum Beispiel bei der Forderung, die Einnahmen aus Investitionen in Verkehrsinfrastruktur europaweit an den Einsatz in Verkehrsinfrastruktur zu binden, verstoßen Sie gegen das Subsidiaritätsprinzip. Auch wir sind für diese Zweckbindung. Wir haben in diesem Jahr damit angefangen, die Mauteinnahmen komplett für Maßnahmen im Zusammenhang mit der Straßenverkehrsinfrastruktur einzusetzen. Aber wir wollen diese Zweckbindung nicht auf europäischer, sondern auf nationaler Ebene. Ich komme noch zu einem letzten Punkt, bei dem ich durchaus Gemeinsamkeiten sehe. Unser Antrag enthält den Passus, in dem wir uns unter anderem für die Berücksichtigung nationaler Arbeitsschutz- und Sozialstandards bei allen zur Liberalisierung anstehenden Bereichen aussprechen. Sie als SPD formulieren das in Form von „Sozialdialogen“ und fordern einen Ausgleich im Zusammenhang mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Standards. Schaut man sich das Weißbuch einmal genauer an, so stellt man fest, dass dort eine Überarbeitung der Bodenabfertigungsrichtlinie gefordert wird. Dabei ist zu erwarten, dass mit Dumpinglöhnen gearbeitet wird, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das akzeptieren wir nicht. ({1}) - Nein.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin Bellmann, Sie wissen schon, was die Lichter vor Ihnen auf dem Pult bedeuten? ({0})

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, das weiß ich. Der ökologische, ökonomische und - das ist der letzte Punkt, den ich genannt habe - soziale Ausgleich ist im Antrag der Koalitionsfraktionen enthalten. Daher ist dieser Antrag der weitgehendste von allen drei vorliegenden Anträgen. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Unterstützung für diesen Antrag hinsichtlich des Weißbuches Verkehr der Europäischen Union. Herzlichen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Martin Burkert. Bitte schön, Kollege Martin Burkert. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Täglich sind Menschen in Deutschland unterwegs: beruflich, privat, in der Stadt, auf dem Land, regional und über Landesgrenzen hinaus, gemäß dem Motto: heute hier, morgen dort, zu Land, zu Wasser und in der Luft. Eine gut ausgebaute Infrastruktur betrifft jeden Einzelnen. Sie ist aber auch wesentlicher Bestandteil unserer Wirtschaft. Doch weder der Individual- noch der Handelsverkehr enden an den nationalen Grenzen. Deshalb ist es richtig, dass das Weißbuch Verkehr, über das wir heute sprechen, den Verkehr in Europa als Ganzes betrachtet, dass es uns einen Fahrplan, eine Richtschnur, gibt, wie der europäische Verkehrsraum in rund 40 Jahren aussehen soll. Die bis 2050 gesteckten Ziele für mehr Umwelt- und mehr Klimaschutz im Verkehr sind dringend notwendig und werden von uns begrüßt. Wie in allen anderen Bereichen muss auch der Verkehr seinen Beitrag leisten, um energieeffizienter zu werden, damit Europa möglichst unabhängig vom Öl wird. Das begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion selbstredend. Wir brauchen aber kein Weißbuch, mit dem wir nur von einem zukunftsfähigen Verkehr im Jahr 2050 träumen. Wir brauchen ein Schwarz-auf-weiß-Buch, in dem wir festlegen, was wir ganz konkret machen, um den Fahrplan im Weißbuch einzuhalten. Dafür bräuchte es in Deutschland aber eine wirkliche Takterhöhung. Wir bräuchten eine grundlegende Fahrplananpassung. Hier haben die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Weichen in der Verkehrspolitik falsch gestellt. ({0}) Die europäische Leitlinie ist laut Weißbuch völlig klar: Mehr Verkehr auf die Schiene und mehr Verkehr auf die Wasserstraße! Wie soll es aber zu einem starken europäischen Eisenbahnverkehrsmarkt kommen, wenn die Bundesregierung nach wie vor ausschließlich auf Asphalt setzt? ({1}) Wie soll man die Wasserstraße sinnvoll nutzen, wenn diese jetzt auch noch bemautet werden soll? Herr Minister, heute wäre ein guter Zeitpunkt, um deutlich zu machen, ob die Kanäle zukünftig bemautet oder besteuert werden sollen. Mehr Verkehr auf der Schiene erreicht man auch nicht einfach durch die Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn, indem also die Infrastruktur, das Streckennetz, in Staatshand verbleibt, die Beförderungs- und Transportsparte aber privatisiert wird. Das kann sicherlich nicht die ultimative Lösung sein. ({2}) Andere Länder haben vorgemacht, wohin das führt. Aber Privatisierung und Liberalisierung sollen das Allheilmittel sein: die gute Fee, durch die jeder Wunsch erfüllt und alles gut wird. ({3}) Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen und Bürger, ob sie an die gute Fee aus dem Märchen glauben. Die Struktur der Bahn sollte nicht ständig infrage gestellt werden. Ich bin der Meinung, nein. Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, unseren Bundesminister Ramsauer, der am 6. Oktober 2011 zur Entscheidung über die Neufassung des dritten Eisenbahnpaketes der EU verlauten ließ, es sei falsch - Zitat - „aus ideologischen Gründen ein erfolgreiches Modell aufzugeben und damit einem Mitgliedstaat unwägbare Risiken zuzumuten“. Dies könne auch „nicht im europäischen Interesse liegen“. ({4}) Herr Minister Ramsauer, wir nehmen Sie hier beim Wort. Ob das Ihre Koalitionsfraktionen machen, lassen wir offen. Die Frage ist nämlich, welche Konsequenzen sich aus einer Trennung der Struktur der Deutschen Bahn AG ergeben würden. ({5}) Für die DB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter würde es jedenfalls bedeuten, dass der konzernübergreifende, integrierte Arbeitsmarkt und damit auch die dort festgelegten sozialen Standards, die Mitbestimmungsrechte, die Arbeitsbedingungen usw., passé wären. ({6}) Alleine bei DB Dienstleistungen arbeiten zurzeit über 26 000 Menschen. Der Bereich trägt 4 Milliarden Euro zum Gesamtumsatz der DB AG bei. 4 000 Kolleginnen und Kollegen sind aus dem Bereich JobService, dem bahneigenen Arbeitsamt, gekommen. Sie mussten sich nicht bei der Agentur für Arbeit arbeitslos melden. Ihre Koalition, Herr Minister, stellt das allerdings immer wieder infrage. Herr Ramsauer, die grenzüberschreitende Beschäftigung im Verkehrssektor ist so auszugestalten, dass Sozialdumping ausgeschlossen ist. Das ist eine der Kernaussagen im Weißbuch. Wenn es um die Tariftreue bei öffentlichen Ausschreibungen geht, lässt sich bei einem Blick auf unser Bundesland Bayern leider nur Negatives berichten: Es gibt kein Tariftreuegesetz. Ein Schienenbranchentarifvertrag für den Schienenpersonennahverkehr wird nicht vorgeschrieben. Ein Lokführer verdient nach Abschluss des Tarifvertrags der sieben großen Eisenbahnen 2 200 Euro, eine Reinigungskraft 1 700 Euro, bei 26 Tagen Urlaubsanspruch und 4 Euro Sonntagszulage. Aber nicht einmal diese Mindestanforderungen will man in Bayern für Ausschreibungen im Schienenpersonennahverkehr zum Standard machen. Das ist ein Skandal. ({7}) - Sie haben völlig recht, Herr Döring: Das entscheidet das Land. Das ist in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz wesentlich besser geregelt. ({8}) Ich bin froh, dass ab 2013 nicht nur in der Bundesregierung wieder ein SPD-geführter Wind weht, sondern dass wir uns auch in der bayerischen Landesregierung ab 2013 darum kümmern können. Ich sage ganz eindeutig: Einen Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten darf es nicht geben. Sie dürfen nicht die Leidtragenden einer weiteren Europäisierung sein. Nein, ihnen muss gezeigt werden, dass dieses Europa eine Chance für uns ist. Das bringt dieses Weißbuch zum Ausdruck. Herr Ramsauer, ich fordere Sie im Namen der Fraktion auf: Führen Sie die europäischen Sozialstandards nicht nur ein, sondern setzen Sie sie auch so schnell wie möglich durch. Das ist eines der Kernelemente. Das ist Ihre Aufgabe. Dabei wünschen wir Ihnen sogar viel Erfolg. Herzlichen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Burkert. - Als nächster Redner für die Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic. Bitte schön, Kollege Luksic. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir widmen uns heute einem der wichtigsten Bereiche Europas: der freien und grenzüberschreitenden Mobilität. Durch sie werden die Vorteile eines vereinten Europas im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar. Ich halte es für besonders wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag ausführlich mit diesem Thema befasst; denn Deutschland ist als Transitland im Herzen Europas von verkehrspolitischen Entscheidungen besonders betroffen. Das gilt auch für das Weißbuch Verkehr der Kommission. Wir als FDP-Fraktion begrüßen ausdrücklich, dass sich neue Verkehrskonzepte - das ist in diesem Weißbuch klar formuliert - dem Bürger nicht aufzwingen lassen. Wir brauchen hier eine Akzeptanz der Bürger und der Wirtschaft. Wir müssen wegkommen von ideologisch motivierter Umerziehungspolitik, wie sie leider auch im Antrag der Grünen ein Stück weit gefordert wird. Wir als FDP unterstützen ausdrücklich den zentralen Satz im Weißbuch Verkehr, dass die Einschränkung von Mobilität keine Option ist. Das ist auch Leitlinie liberaler Verkehrspolitik und entspricht der Haltung dieser Koalition. ({0}) Der Verkehrssektor darf auch nicht ausschließlich als Kohlendioxidverursacher betrachtet werden. Wir müssen uns vielmehr darum kümmern, die Herausforderungen zu bewältigen, die die Zunahme des Verkehrsaufkommens in ganz Europa und natürlich besonders in Deutschland mit sich bringt. Wir glauben, wir brauchen hier ein Miteinander der Verkehrsträger, Ko-Modalität, statt erzwungener Verlagerung. Unsere Regierung steht für Pragmatismus statt Ideologie. Deswegen begrüßen wir, dass das im Weißbuch klar zum Ausdruck kommt. Wir haben uns gewünscht, dass es einen roten Faden beim Thema Ko-Modalität gibt. Stattdessen finden wir immer wieder - Kollegin Bellmann hat es angesprochen einige dirigistische Maßnahmen, die wir kritisch bewerten, beispielsweise den Gedanken einer Citymaut, dem wir wirklich eine Absage erteilen wollen, wie auch der Idee, dass in einer Innenstadt kein Auto mit konventionellem Antrieb mehr fahren darf. Für uns ist das Subsidiaritätsprinzip kein Selbstzweck, sondern es garantiert die besten Lösungen auf der richtigen Ebene. Wir meinen: Brüssel muss sich - vielleicht noch mehr als bisher - um grenzüberschreitende Verkehre bemühen, sich aber aus regionalen und lokalen Verkehren heraushalten. Das geht Brüssel nichts an. ({1}) Wir wollen stärker als bisher einen Austausch von Best-Practice-Lösungen der Mitgliedstaaten, wo es möglich ist, statt europaweit vorgeschriebener Regeln. Wir brauchen beispielsweise im Bereich der Bodenabfertigungsdienste - es wurde zu Recht angesprochen - keine weitere Regulierung durch eine Verordnung. Die bestehende Richtlinie ist ausreichend. Wir sollten dort, wo wir ein hohes Qualitätsniveau haben, Premiumlösungen, beispielsweise im Bereich der Fahrzeugüberwachung, herausstellen und auch in Brüssel offensiv vertreten. Es geht hier wirklich um die Zukunftsfähigkeit des Verkehrssektors und der Mobilität in Europa. Dafür brauchen wir neue Modelle und Ideen, beispielsweise im Bereich der Infrastrukturfinanzierung. Ohne eine verlässliche Finanzierungsgrundlage sind auch die schönsten Projekte leider nur etwas für den Wunschzettel. Es kommt auf die Umsetzung in der Praxis an. Hier brauchen wir in Zeiten knapper Kassen Innovationen. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir als Koalition trotz der schwierigen Haushaltslage auf dem Koalitionsgipfel beschlossen haben, dass wir 1 Milliarde Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ausgeben. Das ist gut, und das ist richtig. ({2}) Wichtig ist auch, dass wir auf europäischer Ebene eine Anrechnung der Umweltkosten erreichen. Dazu muss die Kommission ein Gesamtkonzept für alle Verkehrsträger vorlegen. Ein Punkt, der unserer Fraktion besonders wichtig ist: Wir müssen Verkehrsprojekte zügiger und effizienter als bisher realisieren, beispielsweise mit öffentlich-privaten Partnerschaften oder auch mit Projektanleihen, die die Europäische Kommission zu Recht vorgeschlagen hat, um mehr privates Kapital für große Infrastrukturprojekte zu bewegen. Das sollte meines Erachtens auch die SPD anerkennen, statt dies rundweg abzulehnen. Wichtig ist für uns: Wir erhalten auch bei der Entwicklung neuer Technologien Deutschland als führenden Standort, beispielsweise in der Elektromobilität, aber auch bei anderen Zukunftstechnologien, und wir müssen auch unseren Spitzenplatz als Logistikweltmeister behaupten. Im Bereich des Schienenverkehrs, der eben ausführlich angesprochen wurde, ist für uns klar: Alle Länder müssen Hürden abbauen. Wir wollen einen fairen Wettbewerb. Welche Probleme wir in Europa immer noch haben, zeigen die Schwierigkeiten der Deutschen Bahn, wenn sie mit ihren Zügen durch den Eurotunnel fahren will. Wir brauchen also weitere Liberalisierungsschritte beim Netzzugang und bei der Trennung von Netz und Betrieb. Da ist gerade Deutschland gefordert. Herr Burkert, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass es ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland gibt. Wir erwarten mit Spannung das Urteil des Europäischen Gerichtshofs und die weiteren Vorschläge von Kommissar Kallas zur Öffnung der Eisenbahnmärkte. Dank Brüssel muss sich bei der Bahnpolitik auch hierzulande etwas bewegen. Herr Burkert, Sie haben eben die Gewerkschaftsstandpunkte vorgetragen. Man weiß manchmal nicht, für wen Sie reden, ob für die Gewerkschaften oder für die SPD. Auf jeden Fall ist das, was Sie von der SPD hier vorschlagen, nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch europarechtlich unzulässig. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. ({3}) Lassen Sie mich zum Ende sagen, dass die Koalition für ein vernünftiges Neben- und Miteinander der Verkehrsträger steht statt erzwungener Verlagerungen, wie sie die Grünen wollen. Wir wollen eine Politik, die sich um konkrete Verkehrsprobleme kümmert. Wir brauchen innovative Konzepte wie Projektanleihen. Das ist unsere Auffassung von vernünftiger Verkehrspolitik. Ich glaube, wir müssen - das ist der Auftrag an die Bundesregierung in Brüssel so früh wie möglich proaktiv alles begleiten und gestalten. Unser Antrag bietet dazu eine sehr gute Grundlage. Wir haben gute Arbeit geleistet. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Luksic. - Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Herbert Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden keinen Fortschritt haben, wenn die Durchschnittstemperatur auf der Erde weiter steigt. Mehr Wohlstand werden wir nicht erreichen, wenn der Energiebedarf im Verkehrssektor weiterhin zu 96 Prozent durch Öl gedeckt wird. Das sind Erkenntnisse aus dem Weißbuch Verkehr der EU. Auspuffrohre von Lastwagen und Pkw sollen weniger von dem Klimakiller CO2 herauspusten, Flugverkehr und Schifffahrt sollen genauso einsparen wie die Kraftwerke, die für E-Mobilität auf Schiene und Straße gebraucht werden. Insgesamt 60 Prozent weniger CO2 sollen im Verkehrssektor bis zum Jahr 2050 verbraucht werden. Der Klimawandel ist dramatisch. Trotz der schon lange diskutierten Klimaschutzziele stellen wir fest: Der CO2-Ausstoß der Industrieländer wächst stärker als deren Wirtschaftsleistung; es ist übrigens das erste Mal seit zehn Jahren, dass wir das feststellen müssen. Das ist ein gravierender Rückschritt. Das sogenannte 2-Grad-Ziel, wonach die globale Durchschnittstemperatur gegenüber vorindustriellen Zeiten nicht um mehr als 2 Grad steigen soll, ist nicht mehr zu erreichen, so die Nachrichten der vergangenen Tage. Wir müssen schon heute handeln, und zwar entschiedener, als im Weißbuch Verkehr empfohlen wird. Schon heute müssen wir den Güter- und Personenverkehr umbauen, wir müssen ihn vermeiden, verlagern und verbessern, damit unsere Kinder und Enkel noch die Luft zum Atmen und die Chance auf die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft haben. ({0}) Wir brauchen in Europa und global eine Wirtschaftspolitik, die Verkehr vermeidet. ({1}) Jeder nicht gefahrene Kilometer bedeutet weniger Ölverbrauch und weniger CO2-Ausstoß, jeder nicht auf der Straße gefahrene Kilometer entlastet unsere Städte und Dörfer. Unser Leben wird sicherer, Lärm und Gestank werden dadurch vermieden. Verkehrsvermeidung ist der effektivste, der ökonomisch und ökologisch sinnvollste Weg, um den Klimawandel zu stoppen. ({2}) Davon ist im Weißbuch Verkehr der EU nichts zu finden, übrigens auch nicht in den Anträgen der Koalition, ({3}) und auch nur wenig in den Anträgen der SPD und der Grünen. Diesen schweren Mangel im Weißbuch wollen auch Sie nicht ausgleichen. Im Antrag der CDU/CSU und der FDP heißt es dagegen - es wurde eben ansatzweise erwähnt -, die Bereitstellung einer bedarfsgerechten und leistungsfähigen Infrastruktur müsse im Fokus stehen. ({4}) Hemmnisse des Wettbewerbs im Verkehrssektor sollten abgebaut werden. Vollständige Liberalisierung des EU-Eisenbahnverkehrs wird gefordert. Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ist von einem bekannten Marktradikalismus durchdrungen, ({5}) wenn er auch in Teilen gute Ideen enthält. Aber diese Ideen werden durch Ihren Ansatz plattgemacht. Diesen Radikalismus lehnen wir ab. ({6}) Stattdessen brauchen wir ein radikales Denken, ({7}) wenn wir Verkehrspolitik nachhaltig gestalten wollen. Das ist mit dem Programm von heute nicht mehr zu machen. Diese Politik muss ein gutes Leben und Arbeiten als Maßstab haben und die ökologischen Herausforderungen wirklich ernst nehmen. Die Linke will deshalb eine sozial und ökologisch orientierte Verkehrspolitik, die Gesamtwirtschaft, die Bedürfnisse der Menschen und die klimapolitischen Ziele zusammen denkt. Diese Debatte müssen wir nicht neu erfinden. ({8}) Sie findet schließlich schon statt. Die Menschen machen sich Gedanken darüber, wie beispielsweise der Güterverkehr aus Wilhelmshaven abtransportiert werden kann. Sie machen sich Gedanken über unsinnige, teure Großprojekte im Verkehrswesen. Stuttgart 21 und die Küstenautobahn A 22 sind nur Synonyme dafür. Unser Verkehrskonzept stellt zuerst die Fragen: Welche Transporte sind notwendig? Welche Orte wollen die Menschen erreichen? Wie können wir die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessern? - Die Antworten auf diese Fragen ({9}) geben die Richtung für eine nachhaltige Mobilitätspolitik vor. Die vorliegenden Anträge werden diesen Ansprüchen jedoch nicht gerecht. ({10}) Marktradikalismus ist keine Antwort auf den Klimawandel. ({11}) Wir brauchen auch in der Verkehrspolitik einen sozialökologischen Umbau, und das geht nur mit uns, der Linksfraktion. Vielen Dank. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Herbert Behrens. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, Kollege Dr. Anton Hofreiter.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen, dass unsere Mobilität aktuell zu 96 Prozent am Rohstoff Rohöl hängt, und wir wissen, dass 70 Prozent des Rohöls, das wir Tag für Tag nach Europa importieren, nur für Mobilität verbrannt werden. Wenn wir auf eine Änderung dieser Abhängigkeit setzen, dann tun wir das nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil es schlichtweg umweltpolitisch geboten und einfach nur klug ist, die Verkehrsinfrastruktur, die Mobilitätsinfrastruktur bereits jetzt auf die Herausforderungen der Zukunft auszurichten. ({0}) Wir wissen, dass die einzelnen Verkehrsträger unterschiedlich leicht auf diese Herausforderungen auszurichten sind. Wir wissen, dass die Eisenbahn leichter auf CO2-frei oder CO2-arm umzustellen ist als der Personenoder Gütertransport auf der Straße. Das sind die Hintergründe, warum wir auf eine Verlagerung von der Straße auf die Schiene setzen. ({1}) Wir alle hier im Raum wissen doch, dass es von der Planung bis zur Realisierung von großen und aufwendigen Verkehrsinfrastrukturprojekten zum Teil Jahrzehnte dauert. ({2}) Das wissen wir alle, und wir kennen auch den Hintergrund. Der Hintergrund ist ein eklatanter Mangel an Geld bzw. eine gigantische Anzahl von Projekten, die unserem Ziel letztendlich nicht dienen. Sie alle kennen die Zahlen: 47 Milliarden Euro macht der Vordringliche Bedarf allein im Bereich der Straße aus. Wie viel Geld steht zur Verfügung? - 1,2 Milliarden, 1,5 Milliarden oder vielleicht 2 Milliarden Euro. Wenn einem Vordringlichen Bedarf von 47 Milliarden Euro gerade einmal 2 Milliarden Euro gegenübergestellt werden, dann - das wissen wir alle - wird ein Großteil der Projekte nicht rechtzeitig realisiert werden können. Bei der Schiene schaut es mindestens genauso dramatisch aus. ({3}) Was ist deshalb nötig? Es ist nicht nötig, auf einzelne Projekte zu setzen, die nur wenige Effekte für die MobiDr. Anton Hofreiter lität mit sich bringen. Vielmehr ist es notwendig, endlich dafür zu sorgen, dass wir die Verkehrsinfrastruktur, die zum einen Engpässe tatsächlich beseitigt und uns zum anderen fit für die Zukunft macht, ausbauen. Denn die Herausforderungen der Zukunft sind teureres Rohöl und der Klimawandel. Genau das ist im Moment dringend notwendig, aber die Verkehrspolitik dieser Koalition verhindert es. Denn Sie setzen auf isolierte Großprojekte, wo es keinen einzigen Engpass gibt, ({4}) und Sie setzen bei der Bahn darauf, dass Ihnen die EU-Kommission hilft. Denn Sie sind zu schwach, Ihren eigenen Koalitionsvertrag gegenüber dem Minister und dem Bahn-Chef durchzusetzen. Sie hoffen darauf, dass endlich die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge aufgehoben werden, damit wir bei der Bahnpolitik zu etwas Vernünftigem kommen. Angesichts all dessen ist es eigentlich nur tragisch zu nennen, wie die Verkehrspolitik von dieser Koalition gehandhabt wird. Einerseits sprechen Sie davon, dass es ideologisch sei, wenn man fordere, die Verkehrsinfrastruktur an die Herausforderungen der Zukunft anzupassen. Andererseits passiert aber nichts. Die Gewinnabführungsund Beherrschungsverträge werden nicht aufgehoben; es findet keine vernünftige Verkehrsinfrastrukturpolitik statt, indem das Geld zur Beseitigung von Engpässen verwendet wird; aus der Logistikabgabe haben Sie eine reine Straßenfinanzierungsabgabe gemacht; ({5}) bei den Wasserstraßen wurden kleine Fortschritte erzielt, aber es wurde nicht wirklich etwas erreicht. Das heißt, in allen drei Sektoren der Verkehrsinfrastruktur herrscht Stillstand. Zugleich halten Sie aber große Reden und sprechen von dem Unterschied zwischen ideologischer und nichtideologischer Verkehrspolitik. Hier muss es dringend zu Änderungen kommen. ({6}) Wenn hier nichts passiert, haben wir keine Chance, unsere Verkehrsinfrastruktur an die Herausforderungen der Zukunft anzupassen. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen darin, Mobilität für Menschen und Güter zu gewährleisten, den Klimawandel zu verhindern und das Ganze ökologisch und sozial gerecht zu gestalten. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Anton Hofreiter. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Karl Holmeier. Bitte schön, Kollege Holmeier. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politiker neigen gewöhnlich schnell dazu, von Meilensteinen zu sprechen. Das Weißbuch Verkehr, das die Europäische Kommission im Frühjahr vorgestellt hat, kann jedoch mit Recht als Meilenstein für die europäische Verkehrspolitik bezeichnet werden. ({0}) - Ja. Es hat eine wegweisende Bedeutung für die Verkehrspolitik der kommenden Jahrzehnte und kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag heute intensiv mit diesem Thema befasst. Ich freue mich, dass das Weißbuch Verkehr von allen maßgebenden Fraktionen behandelt wird. Nachdem man die Aussagen der Vorredner gehört hat, insbesondere was die Verkehrspolitik der Linken anbetrifft, ({1}) könnte man sich allerdings fragen, ob wir im 21. Jahrhundert oder vielleicht noch im Mittelalter leben. Ich will aber auch nicht verhehlen, dass ich bei der Durchsicht der Anträge von SPD und Grünen an einigen Stellen wirklich den Kopf schütteln musste. So wird zum Beispiel trotz des ohnehin schon überambitionierten Vorschlags der EU-Kommission, die Treibhausgasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050 um 60 Prozent zu reduzieren, gefordert, hier noch etwas draufzusatteln. Das ist aus meiner Sicht nicht seriös. Wer das tut, hat immer noch nichts aus dem Scheitern der Lissabon-Strategie gelernt. Man darf doch die Realität der Gegenwart nicht aus den Augen verlieren. Der von der Kommission vorgeschlagene Wert kann allenfalls als Orientierungsrahmen angesehen werden. ({2}) Das machen wir im Antrag von CDU/CSU und FDP auch ganz klar und verweisen darin auf die realistischen Zielmarken in unserem Energiepaket. In unserem Antrag sagen wir auf Basis dieser realistischen Zielvorgaben darüber hinaus auch ganz klar, mit welchen Maßnahmen wir diese Ziele erreichen wollen. Die Antworten, die in den Oppositionsanträgen auf diese Frage gegeben werden, sind, vorsichtig formuliert, nur unzureichend. Sie schlagen doch allen Ernstes vor, weniger Geld in den Aus- und Neubau von Straßen zu investieren. Da kann ich zu den Wählern der Grünen nur sagen: Willkommen bei der Dagegen-Partei! Wie, bitte schön, wollen Sie angesichts verstopfter Straßen und langer Staus eigentlich den CO2-Ausstoß reduzieren? Wie wollen Sie die Ortschaften entlasten, wenn Sie keine Umgehungsstraßen mehr bauen wollen? ({3}) Und wie, bitte schön, wollen Sie Mobilität gewährleisten, wenn Sie dem angestauten Nachholbedarf beim Ausbau unserer Straßen nicht endlich gerecht werden? Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land warten dringend - jawohl, Herr Hofreiter, dringend - auf den notwendigen Bau von Ortsumgehungen und auf den Ausbau von Straßen. ({4}) Vor allem aufgrund der zahlreichen Verpflichtungen, die unter SPD-Führung bei der Bahn eingegangen wurden und nun abfinanziert werden müssen, fehlt unserem Verkehrsminister Peter Ramsauer heute Geld für solche wichtigen Ausbaumaßnahmen im Straßenbereich. ({5}) Deshalb danke ich - und das tun viele in unserem Land der Spitze der christlich-liberalen Koalition für die Beschlüsse, die sie letztes Wochenende gefasst hat. Die zusätzliche Milliarde für Investitionen in die Infrastruktur löst zwar nicht alle Probleme. Es können aber einige wichtige neue Maßnahmen auf den Weg gebracht werden. Für uns wäre es wichtig, diese Milliarde in den nächsten Jahren dauerhaft einplanen zu können. ({6}) Ich möchte an dieser Stelle auch einmal unserem Verkehrsminister Peter Ramsauer ein großes Lob aussprechen. ({7}) Er ist um seinen Job keineswegs zu beneiden. Er muss heute ausbügeln, was Rot und Grün in den vergangenen Jahren angerichtet haben, und er macht das wirklich hervorragend. ({8}) Peter Ramsauer war es auch, der von Anfang an klargemacht hat, dass es sein Ziel ist, Mobilität zu ermöglichen und nicht einzuschränken. Dieser Ansatz findet sich nun auch im Vorschlag der Europäischen Kommission wieder.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Holmeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Florian Pronold?

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Kollege Florian Pronold. ({0})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Holmeier, Ihr gerade gelobter Minister spricht zu Recht an, dass, wie wir alle wissen, der Verkehrsetat unterfinanziert ist, und zwar um bis zu 4 Milliarden Euro pro Jahr. ({0}) Jetzt stelle ich Ihnen die Frage, wieso Sie als Koalition angesichts dieser Erkenntnis erstens nur einmalig 1 Milliarde Euro bekommen, wie Sie es zweitens geschafft haben, vorher den Hoteliers große Steuergeschenke zu machen, ({1}) und wie Sie drittens am vergangenen Sonntag auch noch 6 Milliarden Euro an Steuergeldern verschenken konnten. Wie ist das angesichts des unterfinanzierten Verkehrsetats möglich? ({2})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir schaffen nur eine gewisse steuerliche Gerechtigkeit, die schon lange notwendig ist. ({0}) Ich habe es gesagt: Wir sind froh, dass wir diese Milliarde haben, und wir arbeiten daran, sie zu verstetigen, um die notwendigen Projekte auf den Weg zu bringen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir brauchen in Zukunft nicht weniger, sondern mehr Mobilität. Wir müssen darauf achten, dass Mobilität auch in Zukunft leistbar und bezahlbar ist, auch für den kleinen Mann. Der Antrag der christlich-liberalen Koalition macht das ganz klar. Die SPD-Fraktion hat dies im Grundsatz auch erkannt. Die Grünen haben es bis jetzt noch nicht erkannt; aber was nicht ist, kann ja vielleicht noch werden. Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht einzuschränken, sondern zu ermöglichen und gleichzeitig bezahlbar zu halten, darf nicht von vornherein einen bestimmten Verkehrsträger ausschließen. Ebenso darf er nicht einen bestimmten Verkehrsträger bevorzugen. Jeder Verkehrsträger hat seine Stärken und Vorteile. Daher muss jeder Verkehrsträger entsprechend seinen Stärken eingesetzt werden, um das Verkehrsaufkommen optimal bewältigen und bestmögliche Mobilität gewährleisten zu können. Eine dirigistische und pauschale Verlagerungspolitik, wie manche sie fordern, wird dem nicht gerecht. Wir setzen uns in unserem Antrag klar für ein ausgewogenes Verhältnis aller Verkehrsträger ein. Wir sind auch für Verlagerung; aber die sollte es nur dort geben, wo es wirklich sinnvoll ist. Alles andere ist kontraproduktiv, schränkt Mobilität ein und verringert die Akzeptanz der Nutzer. Abschließend möchte ich noch auf den Vorschlag der Kommission eingehen, bis 2050 im Stadtverkehr auf solche Pkw zu verzichten, die mit konventionellem Kraftstoff betrieben werden. Die Oppositionsanträge nehmen diesen Vorschlag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu Stellung zu beziehen. Wir sagen ganz klar: Eine vollständige und undifferenzierte Verbannung von Verbrennungsmotoren darf es nicht geben. Es kann doch nicht zielführend sein, bestimmte Technologien von vornherein auszuschließen, ohne zu wissen, welche technologischen Möglichkeiten es in 40 Jahren geben wird. Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes muss durch einen technologieneutralen Ansatz verfolgt werden, also durch verschiedene alternative Antriebs- und Kraftstoffarten, nicht jedoch durch den Ausschluss einzelner Technologien. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ausführungen zeigen, welche Dimension das Weißbuch Verkehr hat. Es ist tatsächlich ein echter Meilenstein. Ein solch wegweisendes Weißbuch erfordert aber auch eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung, und diese liefert allein der Antrag von CDU/CSU und FDP. ({3}) Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen. Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Karl Holmeier. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Michael Groß. Bitte schön, Kollege Michael Groß. ({0})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wundere mich schon darüber, dass die Koalition immer wieder darauf abhebt, wie lange die rot-grüne Regierung im Amt war. Sie sind jetzt zwei Jahre - Herr Ramsauer, Sie haben gestern von zwei Jahren und 13 Tagen gesprochen - im Amt. Da muss ich schon fragen: Wann übernehmen Sie endlich Verantwortung und treffen Entscheidungen über Dinge, die für unser Land wichtig sind? Dazu gehört die Gestaltung der Verkehrspolitik. ({0}) Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land immer wichtiger wird. Das wird besonders dann der Fall sein, wenn es uns gelingt, in Europa einen einheitlichen Verkehrsraum zu schaffen, von dem die Bürger profitieren. Die Herausforderungen liegen klar auf dem Tisch. Heutige Generationen reisen wesentlich mehr als frühere. Der Güterverkehr in Europa nimmt zu. Ungeachtet dessen haben wir die Aufgabe, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Das ist der entscheidende Punkt für den Klimaschutz. Die EU legt mit dem Weißbuch ein Konzept vor, um die bisherige Politik zu verändern, den Stillstand zu überwinden und eine nachhaltige Verkehrspolitik zu sichern. Das vorliegende Konzept zielt auf einen grundlegenden Wandel im Verkehrssektor; dieser Wandel ist notwendig. Auch wenn die mittelfristigen Zielsetzungen noch konkreter formuliert und Finanzierungsfragen grundlegend geklärt werden müssen, sieht die SPD-Fraktion im Weißbuch Verkehr eine große Chance. Mobilität muss auch in Zukunft bezahlbar, sicher und umweltfreundlich sein. Sie muss die Teilhabe am Leben sichern, Arbeitsplätze schaffen und wirtschaftliches Wachstum fördern. Hinzu kommen Anforderungen wie: die Mobilität für Menschen barrierefrei und verbraucherfreundlich zu gestalten und die Menschen in Europa vor steigendem Verkehrslärm zu schützen. Wichtig ist die Akzeptanz von Infrastrukturprojekten wie dem Ausbau und Neubau von Straße, Schiene, Wasserstraße und Luftverkehr. Diese Akzeptanz muss durch Formen der Bürgerbeteiligung - nicht nur bei länderübergreifenden Projekten - frühzeitig gefördert werden. Dadurch kann eine abgestimmte Verwirklichung von Projekten, die bisher noch auf Eis liegen, sichergestellt werden. Es ist ein gezieltes und schnelles Handeln erforderlich, um nachhaltige Entwicklungen sowohl beim Umwelt- und Klimaschutz wie auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu sichern. Dieser Dreiklang ist für die SPD besonders wichtig. Ich appelliere insbesondere an Sie, Herr Ramsauer, dass Sie endlich aus Ihrem Dornröschenschlaf erwachen und Verkehrskonzepte auf den Tisch legen; ({1}) denn der Zeithorizont wird, je später wir mit der eigentlichen Umsetzung beginnen, immer enger. Wir warten schon viel zu lange auf das von Ihnen angekündigte Konzept. Für Klimaschutz und Stauprävention ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern schon nach zwölf. Sie sperren sich zum Beispiel gegen ambitionierte Zielsetzungen der EU, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene und Wasserstraße zu verlagern. Prognosen gehen aufgrund der Zuwächse im Güterverkehr davon aus, dass in absehbarer Zeit zwei Fahrspuren auf Hauptverkehrsachsen von Lastkraftwagen besetzt sein werden. Die Folgen für Pkw-Reisende oder Pendler kann sich jeder ausmalen: Dauerstau mit hohen Umweltschäden und hohen wirtschaftlichen Kosten. Die EU schlägt Maßnahmen vor, die geeignet sind, ein effizientes Verkehrssystem, das uns unabhängiger vom Öl macht und die Umwelt schützt, aufzubauen. Es sollen aber auch der europäische Wirtschaftsraum gestärkt und Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden. Kostenschätzungen für die erforderlichen Investitionen liegen bei 550 Milliarden Euro für den Zeitraum bis 2020. Allerdings werden die Hauptlast der Finanzie16522 rung einer integrierten und zukunftsfähigen Verkehrsinfrastruktur die Mitgliedstaaten tragen müssen. Doch bereits jetzt ist der Verkehrssektor in Deutschland unterfinanziert. Die von der Koalition geplante weitere Milliarde für den Verkehrshaushalt ist mehr als begrüßenswert. Doch wird sie buchstäblich im Sande versickern, wenn nicht klare Prioritäten gesetzt werden und entsprechende Gelder in den nächsten Jahren verlässlich zur Verfügung stehen. Dass eine zusätzliche Milliarde nicht ausreichen wird, um Engpässe zu reduzieren, Knotenpunkte auszubauen sowie Straßen und Brücken zu erhalten und zu sanieren, hat Herr Ramsauer gestern auf einer Veranstaltung angedeutet. Allein für die notwendigen Schleusenarbeiten im Nord-Ostsee-Kanal werden mehr als 500 Millionen Euro benötigt. Die Leistungsfähigkeit des Nord-Ostsee-Kanals muss deutlich erhöht werden, sonst droht ein Verkehrsinfarkt mit massiven Auswirkungen auf die Entwicklung des Güterverkehrs. ({2}) Festzuhalten ist: In Europa wird für Infrastruktur wesentlich mehr Geld ausgegeben als bei uns. In der Schweiz wird für die Schieneninfrastruktur bis zu sechsmal mehr pro Einwohner ausgegeben. ({3}) In der Süddeutschen Zeitung vom 8. November 2011 ist zu lesen, dass die Landkarte fürs Geldausgeben bereits in der Schublade des Verkehrsministeriums liegt. Aber diesen Plan gibt es ja eigentlich nicht - zumindest wird uns das ständig erzählt. Wegen knapper Haushaltsmittel wurden Projekte wie die regionale Schnellbahn in NRW - der RRX - ersatzlos gestrichen. Ebenso sollte es der Südbahn in BadenWürttemberg ergehen. ({4}) Doch hier vermelden die CDU-Kollegen - man höre - in der Presse, dass das Projekt dank ihres Einsatzes wieder aufgenommen wurde. Kein Verkehrskonzept, sondern allein politische Einflussnahme spielt hier eine Rolle. Die Menschen unserer Zeit wollen und müssen mobil sein. Das bedeutet nicht unbedingt Mobilität mit dem eigenen Auto, wie die Entwicklungen in den Großstädten zeigen. Viele junge Leute haben gar kein eigenes Auto mehr. Dieser Entwicklung müssen wir gerecht werden. ({5}) Heutzutage ist es immer wichtiger, planbar und verlässlich von Haustür zu Haustür reisen zu können. Der europäische Verkehrssektor ist für die Wirtschaft und für die Bürger von enormer Bedeutung. Dabei geht es um innereuropäische Integration und Harmonisierung. Darüber hinaus müssen die Arbeitsplätze im Verkehrssektor auf hohem sozialen Standard gesichert werden und Mobilität für den Einzelnen bezahlbar bleiben. Verkehrspolitik erfordert langfristige Planung, klar definierte nachvollziehbare Kriterien und zeitnahe Umsetzung und Finanzierung. Am allerwichtigsten ist: Sie muss den Menschen dienen und die Umwelt schützen. Herzlichen Dank. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Michael Groß. - Jetzt spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring. Bitte schön, Kollege Patrick Döring. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man der Debatte aufmerksam gefolgt ist, stellt man fest, dass manches zur allgemeinen nationalen Verkehrspolitik gesagt worden ist, aber nicht sehr viel zum Weißbuch. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, das, was hier gesagt worden ist, darf nicht unkommentiert bleiben. Ganz offensichtlich ist zumindest in Ihren Arbeitsgruppen noch nicht angekommen, dass es in Deutschland eine grundgesetzlich festgelegte Schuldenbremse gibt. Deshalb können die Fachpolitiker aus dem Bereich Infrastruktur nicht aus dem Vollen schöpfen, wie Sie das selbst gerne machen würden. ({0}) Das geht schlicht nicht. Deshalb ist die 1 Milliarde Euro, die diese Koalition am Sonntagabend an zusätzlichen Investitionsmitteln für das kommende Jahr geplant hat, ein großer Erfolg von Peter Ramsauer und allen Beteiligten. Das darf man nicht kleinreden. ({1}) Ich will deutlich sagen, dass mich die Rede des Kollegen Burkert - der offenbar schon gehen musste - ausgesprochen fasziniert hat, denn sie hat in weiten Teilen nichts mit der europapolitischen Realität zu tun - übrigens auch nichts mit der eisenbahnpolitischen Diskussion, die wir in der Koalition führen. Eines aber dürfte doch auch Sozialdemokraten vermittelbar sein: Es macht keinen Sinn, dass das von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellte Eigenkapital von Infrastrukturunternehmen, das ausschließlich deshalb entsteht, weil dieses Parlament Infrastrukturprojekte finanziert, mit einer angenommenen Mindestverzinsung von 8 Prozent bewertet wird. Das müsste sogar Sozialdemokraten vermittelbar sein. Das ist der aktuelle Streit bei der Frage des Recast. In diesem Punkt bin ich ganz an der Seite der Sozialistin, die hier Hauptberichterstatterin ist und die es jedenfalls verstanden hat, dass es nicht vernünftig ist, das Eigenkapital von Unternehmen, die von der Finanzierung von Infrastrukturprojekten durch die öffentliche Hand leben, mit einer Verzinsung von 8 Prozent zu bewerten. Das sollte die Haltung des ganzen Hauses sein. ({2}) In dieser Frage lässt sich kein Keil zwischen die Koalitionsfraktionen treiben. Deshalb haben wir in diesem Zusammenhang vereinbart, dass wir die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland abwarten. Wenn diese Entscheidung vorliegt, dann ist der Bund als Eigentümer gerüstet. Dessen können Sie sicher sein. Ich will einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen, weil wir uns dazu alsbald in einem Gesetzgebungsverfahren befinden werden. Es geht um die Frage, wie wir in Deutschland mit dem Fernbusverkehr umgehen wollen. Ab dem 1. Januar kommenden Jahres sind Fernbusse innerhalb der Europäischen Union voll liberalisiert. Das heißt, ein Bus im Fernverkehr kann in Amsterdam starten und bis Warschau durch die Bundesrepublik Deutschland hindurchfahren. Währenddessen kann er Fahrgäste aufnehmen oder absetzen. ({3}) Das ist Ergebnis des Handelns der Europäischen Union. Hiermit hat die Bundesrepublik Deutschland zunächst nichts zu tun. Ich halte es allerdings für eine Aufgabe des nationalen Parlaments, dass wir den Busunternehmen in Deutschland zumindest die gleiche Möglichkeit bieten, im eigenen Land diese Verkehre zu realisieren. Wir arbeiten im Rahmen der Novelle des Personenbeförderungsgesetzes daran, hier gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen dem niederländischen Busunternehmer und dem niedersächsischen Busunternehmer zu schaffen, um das einmal so klar zu sagen. ({4}) Ein Letztes - es wurde vorhin in einer Randbemerkung angesprochen -: Im Antrag steht das Nötige zu den Bodenverkehrsdiensten an Flughäfen. Solange wir Wettbewerb haben und die Eigenabfertigungsmöglichkeiten von den Airlines nicht genutzt werden, ist eine durch Europa verordnete Ausweitung der Regulierung nicht erforderlich. Das ist die Haltung der Koalition und der Bundesregierung; dazu stehen wir. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unser Kollege Alexander Ulrich. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kritik am Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommission ist in jüngster Zeit immer lauter geworden. Die Kritik bezieht sich auf verschiedene Aspekte. So haben die Mitglieder des Verkehrsausschusses in Brüssel zu Recht gesagt, dass der Zeithorizont - 2030 bis 2050 - viel zu weit gefasst ist. Wenn wir die dringend notwendige Verlagerung des Güterverkehrs auf Schiene und Wasser auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, werden wir hier nie vorankommen. Fatal ist auch, dass das Weißbuch weiterhin rücksichtslos auf Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung setzt. Die Kommission muss endlich einsehen, dass diese Strategie gescheitert ist. Die Liberalisierung hat nicht zu niedrigeren Preisen geführt; die Preise sind gestiegen. Die Liberalisierung hat auch nicht die Servicequalität verbessert; sie ist schlechter geworden. ({0}) Der dritte Kritikpunkt ist, dass die Pläne der EU-Kommission wieder einmal auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Schauen wir uns die Bahn an. Auch hier setzt die Kommission auf eine gescheiterte Strategie. Die Grünen fordern auch noch die Trennung von Netz und Schiene bei der Bahn. ({1}) Da kann man Ihnen nur zurufen: Wer bei der Bahn auf britische Verhältnisse setzt, der hat wirklich gar nichts verstanden. Dieses Modell wäre verheerend, nicht nur für die Beschäftigten, sondern auch für die Sicherheit der Reisenden. Lassen Sie mich ein Thema anschneiden, das sehr eng mit der Frage der künftigen Mobilität in Europa verknüpft ist. Am 30. November 2011 soll das sogenannte Flughafenpaket von der EU-Kommission vorgelegt werden. Die bisher bekannt gewordenen Überlegungen werden sowohl von Flughafenbetreibern als auch von den Gewerkschaften scharf kritisiert. Diese Kritik ist absolut gerechtfertigt: Wieder einmal will die Kommission Maßnahmen durchbringen, die gleichbedeutend sind mit weniger Sicherheit und weniger Lohn, mit mehr Lärmbelästigung für die Anwohner und weniger sozialer Sicherheit für die Beschäftigten. Die europäische Verkehrspolitik muss grundlegend verändert werden: ({2}) Die Rechte von Beschäftigten dürfen ebenso wie die Sicherheit der Kunden nicht auf dem Altar einer neoliberalen, ökologisch fragwürdigen Mobilitätspolitik geopfert werden. Die Linke spricht sich klar gegen weitere Liberalisierungen in der Verkehrspolitik aus. Im Verkehrsbereich zählen drei Dinge: Klimaschutz, bezahlbare Mobilität für alle und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten der Branche. Für eine solche ökologischsoziale Mobilität wird die Linke auch in Zukunft eintreten und streiten. Hier ist auch darüber gesprochen worden, was der Bundesverkehrsminister macht. Er ist im Prinzip ein Ankündigungsminister. Er hat Erfolge auf CSU-Parteitagen; aber wenn er hier in Berlin ankommt, wird er von der Bundeskanzlerin ausgebremst. Das, was hier angekündigt wurde, ist in der Realität noch nicht angekommen. Aus linker Sicht muss man aber auch sagen: Zum Glück kommt das nicht in der Realität an. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Alexander Ulrich. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Stephan Kühn. Bitte schön, Kollege Stephan Kühn.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben darüber gesprochen: Die EU-Kommission hat ambitionierte Ziele für den Verkehrssektor formuliert. Wir begrüßen diese Ziele, auch wenn es leider Langfristziele sind. So sollen die Emissionen im Verkehrssektor bis 2050 um 60 Prozent reduziert werden. Es fehlen Zwischenschritte, sodass man Gefahr läuft, diese Sachen auf die lange Bank zu schieben, weil 2050 noch weit weg ist. Ein wichtiges Ziel, das formuliert wird, ist die Minderung der Abhängigkeit vom Öl. Es ist angesprochen worden: Der Bedarf an Öl macht 96 Prozent des gesamten Energiebedarfs des Verkehrssektors aus. Es ist nicht nur eine umweltpolitische, sondern auch eine klar wirtschaftspolitische Herausforderung, diese Abhängigkeit zu reduzieren. ({0}) Die Bezahlbarkeit von Mobilität ist eng mit der Frage verbunden, wie wir die Abhängigkeit vom Öl reduzieren, weil wir nicht mehr die Zeit bekommen werden wie in den 70er-Jahren, als das Barrel Öl 3 US-Dollar gekostet hat. Es ist auch eine volkswirtschaftliche Frage, weil viele Unternehmen aufgrund der steigenden Kosten durch die Energieimporte ganz große Probleme haben. Deshalb ist es nicht nur umweltpolitisch, sondern auch volkswirtschaftlich richtig, diese Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren. ({1}) Deutschland hat sich ähnliche Ziele wie die, die im Weißbuch Verkehr formuliert sind, gesetzt. Der Trend geht jedoch in eine völlig andere Richtung: Während der Energieverbrauch von Industrie und Haushalten sinkt, stagniert er in diesem Bereich in Deutschland seit Jahren. 80 Prozent des Energieverbrauchs für den Verkehr gehen auf das Konto des Straßenverkehrs. Nun könnte man nach dem Energiekonzept der Bundesregierung erwarten, dass diese sich mit Blick auf das Weißbuch Verkehr an die Spitze der Bewegung stellt und mit gutem Beispiel vorangeht. Stattdessen formuliert sie Vorbehalte zum Weißbuch und stellt Ziele und Maßnahmen des Weißbuchs infrage, beispielsweise dass bis 2050 CO2-neutral in unseren Städten gefahren werden soll. Das sei dirigistisch. ({2}) Ich frage mich, welche Umsetzungschancen dieses Weißbuch Verkehr haben soll, wenn das größte und wirtschaftlich potenteste Land in Europa, nämlich Deutschland, beispielsweise über Staatssekretär Jan Mücke ausrichten lässt, das Weißbuch sei nicht unmittelbarer Handlungsleitfaden der Bundesregierung. Wie sieht es konkret mit der nationalen Ausformung aus? Was wurde schon zugesagt? Von Ankündigungsminister Ramsauer hat man Anfang 2010 gehört: Wir legen ein umfassendes Energie- und Klimaschutzkonzept für den Verkehrssektor vor. Fragt man nach, wann das vorliegen wird, heißt es lapidar in der Antwort, dass im Laufe des Jahres 2012, zwei Jahre nach der Ankündigung, etwas vorgelegt wird. Ich erinnere daran: 2013 sind Neuwahlen. Bis dahin wollen Sie etwas geschafft haben, Herr Minister. Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Denn gerade gestern haben wir im Ausschuss eine Debatte zur Verkehrssicherheit geführt. Man kann dazu im Weißbuch Interessantes lesen. Darin heißt es, man wolle die Zahl der Verkehrstoten bis 2050 „auf nahe Null“ senken. Das ist eine Vision Zero und damit etwas völlig anderes als das, was uns gerade mit dem Entwurf eines nationalen Verkehrssicherheitskonzeptes vorgelegt wurde. Unter diesem Minister bleibt die Bundesrepublik hinter den im Weißbuch Verkehr formulierten Zielen zur Verkehrssicherheit zurück. Die zwei häufigsten Unfallursachen sind das Fahren mit nicht angepasster Geschwindigkeit und das Fahren unter Alkoholeinfluss. Was wird dagegen unternommen? - Nichts. Es gibt weder ein einheitliches Tempolimit noch die Null-Promille-Grenze für das Fahren. Im Weißbuch Verkehr ist formuliert, wohin es gehen könnte und müsste. Herr Minister, Sie sollten nicht nur etwas ankündigen, sondern das Weißbuch als Handlungsleitfaden für Ihre Politik nutzen. Schauen Sie regelmäßig hinein, und legen Sie entsprechende Anträge und Gesetzesvorhaben auf, um die Vorgaben dieses Weißbuchs umzusetzen. Herzlichen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Kühn. - Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dirk Fischer. Bitte schön, Kollege Dirk Fischer. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die gemeinschaftliche Verkehrspolitik der Europäischen Union hat dazu beigetragen, dass in den letzten 20 Jahren nach Öffnung des Binnenmarktes für Warentransporte und Bürger vieles einfacher geworden ist. Wir sollten unseren Bürgern immer, auch bei solchen Debatten, den positiven Nutzen der Europäischen Union vor Augen führen. ({0}) Die heutige Debatte zeigt aber auch, dass es notwendig ist, bereits erreichte Ziele dieser gemeinschaftlichen Verkehrspolitik weiterzuentwickeln. Das Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommission gibt hierfür wesentliche Impulse, um das künftige Verkehrswachstum zu bewältigen, ohne dabei Klima- und Umweltschutzziele zu vernachlässigen. Ohne Abstriche unterstütze ich folgende Aussage der Europäischen Kommission: Die Einschränkung von Mobilität ist keine Option. - Das sollte immer wieder deutlich unterstrichen werden. ({1}) Diese Aussage muss Grundlage jeder Verkehrspolitik sein - national wie europäisch. Für Europa, speziell für die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft, müssen technische und rechtliche Hindernisse immer weiter abgebaut werden. Um dies zu verdeutlichen, benutze ich ein ganz triviales Beispiel: Welchen Ladestecker braucht man in der Zukunft, wenn man mit dem Elektroauto von Deutschland nach Frankreich fahren will? Entscheidend ist, dass diese Dinge harmonisch europäisch geregelt werden. Die Wettbewerbsfähigkeit der wachsenden Mobilitäts- und Logistikbranche muss gestärkt werden. Das sorgt für wirtschaftlichen Erfolg und zukunftssichere Arbeitsplätze gleichermaßen. Wichtig ist: Bei allen Maßnahmen, die die europäische Politik ergreift, muss das Subsidiaritätsprinzip eingehalten werden. ({2}) Das gilt vor allem auch für den städtischen Verkehr, Stichwort „Citymaut“. Darüber sollten getrost die Bürgerinnen und Bürger vor Ort und ihre Kommunalparlamente entscheiden und nicht Brüssel. ({3}) Da treffen wir eine ganz klare Aussage. Der Ausbau der transeuropäischen Netze ist für das Zusammenwachsen Europas wichtig. Allerdings dürfen Investitionsmittel nicht allein auf grenzüberschreitende Korridore eines Kernnetzes konzentriert werden. Das Ziel der Europäischen Kommission, möglichst viel Verkehr auf Schiene oder Wasserstraßen zu verlagern, wird von uns unterstützt. ({4}) Allerdings bringen dirigistische und pauschale Vorgaben über Entfernungen, Mengen und Zieldaten überhaupt nichts. ({5}) Die Kommission beantwortet nämlich nicht die zentrale Frage, wie der notwendige Schienenausbau finanziert werden soll, wenn Güterverkehr ab 300 Kilometern Entfernung auf die Schiene verlagert werden soll. Im Übrigen gilt doch auch hier das Wirtschaftlichkeitsgebot. Solche Verkehre müssen wirtschaftlich sein, und der Markt muss sie akzeptieren. ({6}) Ich will bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen, dass Herr Mehdorn als Bahnchef früher dazu gesagt hat: Das rechnet sich erst ab 400 Kilometer. Der frühere SPDVerkehrsminister Klimmt hat noch einen draufgesetzt und gesagt: In Wahrheit rechnet es sich erst ab 500 Kilometer. Also lasst bitte die Kirche im Dorf, und vergesst in diesem Zusammenhang nicht die Aspekte der Wirtschaftlichkeit. ({7}) Alle Verkehrsträger sind gleichwertig zu behandeln. Eine einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung von Verkehrsträgern lehnen wir ab. Das heißt auch: Es darf keine Diskriminierung des Lkw zugunsten der Schiene geben. Zum Thema Trennung von Netz und Betrieb im Schienenverkehr will ich Folgendes sagen: Hätte ich ein weißes Blatt Papier vor mir liegen, würde ich darauf die eigentumsrechtliche Trennung von staatlicher Infrastruktur und Verkehrsbetrieben im Wettbewerb schreiben. Das entspricht meiner ordnungspolitischen Grundüberzeugung. ({8}) Aber ich habe dieses weiße Blatt Papier nicht vor mir liegen. ({9}) Wir müssen uns daher mit den vorhandenen Strukturen auseinandersetzen. Derzeit kann ich mit dem Holdingmodell der DB AG leben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens. Die Bundesnetzagentur muss in ihren Rechten weiter gestärkt werden. Sie muss auch das Recht haben, Bescheide zu erlassen. Zweitens. Mit dem geplanten Eisenbahnregulierungsgesetz müssen weitere Grundlagen für die Stärkung des Wettbewerbs gelegt werden. Drittens. Wir müssen das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland abwarten und gegebenenfalls darauf reagieren. Wettbewerb muss es auch - das wurde von einigen Rednern angesprochen - bei den Bodenabfertigungsdiensten auf den Flughäfen geben. Dafür hat die Richt16526 Dirk Fischer ({10}) linie der EU gesorgt. Was in Brüssel jetzt geplant wird, lehnen wir ab. Wir wollen keinen Wettbewerb zugunsten von Dumpinglöhnen und zulasten von Sicherheit und Qualität. ({11}) Manche Entwicklungen - wir alle in den Fraktionen haben mit den Betriebsräten der Flughäfen gesprochen sind schon heute als eher unerfreulich zu bezeichnen. Wir wollen keine Verschlechterung und auch keine Verteuerung von Leistungen für unsere Passagiere. Das Signal nach Brüssel lautet: Keine Überarbeitung der Bodenabfertigungsrichtlinie mit dem Ziel einer noch weiter gehenden Marktöffnung, schon gar nicht in Form einer Verordnung. Wir fordern, die bestehenden Regelungen erst einmal europaweit umzusetzen, was in etlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch nicht geschehen ist. Eine Zweckbindung verkehrsspezifischer Einnahmen für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, wie es die SPD in ihrem Antrag fordert, ist im Prinzip richtig, aber nur auf nationaler Ebene. Eine Regelung auf EU-Ebene würde die nationalen Befugnisse erheblich einschränken und den Bundestag und die anderen nationalen Parlamente in ihrer Budgethoheit aushebeln. Alles in allem weist das Weißbuch der EU-Kommission, wie ich denke, in die richtige Richtung. Darüber sind sich die Fraktionen wohl weitgehend einig. Es ist keine Frage, dass sich auch der Verkehrssektor den aktuellen Herausforderungen der Politik stellen muss - zur Verbesserung von Qualität und Zuverlässigkeit des Verkehrssystems und der von diesem System angebotenen Dienstleistungen, zum Schutz von Klima und Umwelt, für praxisnahe Innovationen und natürlich auch für die Sicherheit im Verkehr. Einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum zum Wohle unserer Bürger können und wollen wir weiterhin gemeinsam mit unseren Nachbarn verwirklichen. Deswegen bitte ich um Zustimmung zum Antrag der Koalitionsfraktionen. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dirk Fischer. - Wir sind damit am Ende dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/7679. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/7464 mit dem Titel „Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Fraktionen CDU/CSU und FDP. Gegenprobe! - Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7177 mit dem Titel „EU-Weißbuch Verkehr Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5906 mit dem Titel „Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das ist die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({0}), Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Widerruf der gemäß § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes erteilten Zustimmungen zu den Anträgen der Bundesregierung vom 28. Januar 2011 und 23. März 2011 Bundeswehr aus Afghanistan abziehen - Drucksache 17/7547 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. - Bitte schön, Kollege Wolfgang Gehrcke, Sie haben das Wort. ({2})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke sehr, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr bedrückend, in einer Situation über unseren Wunsch, den Krieg in Afghanistan beenden zu wollen, diskutieren zu müssen, in der weitere, neue Kriege drohen. Das Kriegsgetöse um den Iran signalisiert uns, dass Krieg immer mehr wieder zum Mittel der Politik geworden ist, was ich nicht akzeptieren will. Ich möchte, dass sich dieses Parlament für eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten einsetzt, damit dem Kriegsgetöse entgegengetreten wird. Das halte ich für sehr wichtig. ({0}) - Wir können das gerne hineinschreiben. Wenn Sie einverstanden sind, dann beschließen wir das zusammen. Wir haben den Antrag auf der Grundlage des Parlamentsbeteiligungsgesetzes eingebracht. Wir möchten, dass der Bundestag erstmalig von § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes Gebrauch macht, von dem Recht, entsandte Truppen zurückzuholen. ({1}) Wir wollen, dass die Bundeswehr zurückgeholt wird, dass der Einsatz beendet wird. Ich will Ihnen die Gründe dafür vortragen. Der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wäre ein deutliches Zeichen, dass der Krieg beendet werden soll. Jeder Tag, an dem der Krieg fortdauert, kostet Menschen Leben und Gesundheit und mindert die Chancen auf Frieden. Wir verlieren kostbare Zeit. Ohne den Abzug der ausländischen Truppen wird es in Afghanistan keinen Frieden geben. Bislang hat der Krieg zwischen 30 000 und 100 000 Menschen das Leben gekostet. Unser Antrag ist ein Antrag für das Leben. Das Parlament sollte endlich ein Signal für das Leben in Afghanistan aussenden. ({2}) Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht auch das Leben von Soldatinnen und Soldaten schützen. Wir wollen nicht, dass Soldaten, die der Bundestag nach Afghanistan geschickt hat, traumatisiert immer wieder den Krieg durchleben müssen. Wir wollen nicht, dass Soldatinnen und Soldaten durch diesen Krieg verroht werden. Ich fand es erschütternd, im Spiegel über einen deutschen Scharfschützen zu lesen, der unzufrieden war, weil er nicht zum Schuss gekommen ist. Er wird dort mit den Worten zitiert: „Das ist, als wenn du einen Hund scharfmachst und den nicht von der Leine lässt“. Ich fand es ebenso erschütternd, in der gleichen Ausgabe des Spiegel zu lesen, dass ein Soldat folgende Nachricht auf seinem Handy gespeichert hat: „Kämpfe fanatisch! Du bist ein Menschenjäger!“ Das mögen Einzelfälle sein, aber sie zeigen, wie der Krieg Menschen verroht. Dies sollten wir nicht fortsetzen. Wir sollten die Soldaten zurückholen. ({3}) Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht und aus unserer Sicht dazu beitragen, dass das Geld der Steuerzahler nicht mehr für den Krieg, sondern für Entwicklung und Aufbau eingesetzt wird. Bislang haben diese zehn Jahre Krieg Deutschland 17 Milliarden Euro gekostet. Das sind pro Kopf der afghanischen Bürgerinnen und Bürger 3 800 Euro. Das durchschnittliche Einkommen in Afghanistan beträgt 400 bis 450 Dollar pro Jahr. Wie viel Segensreiches könnte man in Afghanistan erreichen, wenn man das Geld nicht für den Krieg vergeuden würde? Dem berühmten Satz: „Nichts ist gut in Afghanistan“, ({4}) ist hinzuzufügen: Vieles kann besser werden, wenn die Gelder nicht mehr für den Krieg, sondern für den Frieden eingesetzt werden. Ich will Ihnen sagen: Dieser Krieg wird nicht um Demokratie und Menschenrechte willen geführt. Unsere Freiheit und unsere Sicherheit werden nicht am Hindukusch verteidigt. Auch bei diesem Krieg geht es um geostrategischen Einfluss und um Naturressourcen. Dieser Krieg ist auch im Interesse der deutschen Rüstungsindustrie, die neue Waffen in Afghanistan testet und ihre Notwendigkeit unter Beweis stellen muss. Ich möchte nicht, dass wir der deutschen Rüstungsindustrie weiter den Gefallen tun, Krieg zu führen. Deswegen erwarte ich, dass der Deutsche Bundestag unserem Antrag, den Einsatz zu beenden, zustimmt und von seinem Recht Gebrauch macht, die Bundeswehr sofort zurückzuholen. Das wäre eine gute und vernünftige Entscheidung des Bundestages. Herzlichen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Robert Hochbaum. Bitte schön, Kollege Hochbaum. ({0})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte ich es nicht versäumen, zuerst einmal all unseren Soldaten, den Polizisten und natürlich auch allen zivilen Akteuren für ihren Dienst in Afghanistan zu danken. Ich glaube, ich darf sagen: Sie können sicher sein, dass wir mit unseren Gedanken immer auch bei Ihnen sind. ({0}) Wenn ich mich hier umschaue, bin ich mir relativ sicher, dass fast alle Anwesenden einer Meinung sind: Unsere Soldatinnen und Soldaten gehören so früh als möglich aus Afghanistan abgezogen. Doch die Geister scheiden sich, wie der vorliegende Antrag der Linken zeigt, bei der Frage, was „so früh als möglich“ bedeutet. Für die Mehrheit dieses Hauses bedeutet dies: ein verantwortungsvoller Abzug mit dem klaren Bewusstsein, die Sicherheit unseres Landes nicht zu gefährden. Die anderen, nämlich Sie, meine Damen und Herren von den Linken, handeln meiner Meinung nach abermals verantwortungslos und leichtfertig. Sie gefährden sogar die Menschen bei uns hier in Deutschland. ({1}) - Hören Sie gut zu. Warum stehen wir für Verantwortung und verantwortliches Handeln in Afghanistan? Die Sicherheit der Bürger in unserem Lande steht dabei auf jeden Fall an erster Stelle. Das heißt, von Afghanistan darf auch in Zukunft, auch nach dem Abzug unserer Truppen, keine Gefährdung für unsere Bevölkerung mehr ausgehen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Hochbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Christian Ströbele?

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darauf freue ich mich, Herr Ströbele. Sehr gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Kollege Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Kollege. - Können Sie mir erklären, wie Deutschland und deutsche Bürger in Deutschland - nicht diejenigen, die in Afghanistan Krieg führen oder aus anderem Grunde dort sind - durch Afghanen bzw. durch den Krieg in Afghanistan konkret gefährdet werden, vor allen Dingen dann, wenn deutsche Truppen nicht mehr in Afghanistan sein sollten? Es hat nach meiner Kenntnis noch nie eine Drohung von Taliban oder anderen Aufständischen in Afghanistan gegenüber dem deutschen Volk gegeben, sondern es wurde immer nur die Forderung „Abzug aus Afghanistan!“ erhoben. ({0})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Ströbele, wenn Sie einen Augenblick länger Geduld gehabt hätten, hätte ich es Ihnen erklärt. Aber ich erkläre es Ihnen auch gerne schon jetzt. Erinnern Sie sich nur an die Bilder von Terrorausbildungscamps in Afghanistan - Sie können sich daran vielleicht nicht mehr erinnern, ich mich aber sehr gut -, auf denen wir vor vielen Jahren gesehen haben, wie vor Ort in Afghanistan junge Menschen für den weltweiten Terrorismus ausgebildet werden. ({0}) Zum Ziel des weltweiten Terrorismus gehören auch Europa und Deutschland. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen, die dort mit Hasstiraden ausgebildet wurden, ({1}) auf den Rest der Welt angesetzt wurden, auch um hier in Deutschland ihre Aktivitäten zu entfalten. Zum Glück konnten einige dieser Aktivitäten im Vorfeld erkannt und verhindert werden. Insofern wäre nicht von den Afghanen direkt, sondern von anderen Leuten, die eventuell in Afghanistan tätig waren ({2}) - wir alle kennen sie -, eine direkte Gefährdung der Bevölkerung in Deutschland ausgegangen. Darum wäre es sträflich, diesen Zustand, der ein Rückschritt wäre, wieder zuzulassen, alle Anstrengungen als vergeblich einzuordnen - wir hatten eine solche Situation in Afghanistan schon einmal - und alle Opfer, die dort zu beklagen waren, für umsonst zu erklären. Nein, wir wollen kein Land mehr, das den Terrorismus in die Welt und auch nach Deutschland exportiert. Wir wollen keine Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, Herr Ströbele. ({3}) Ich sagte bereits: Manche erinnern sich noch an die Bilder von Terrorausbildungscamps und Wüstenfestungen, die nicht zum Spaß gebaut wurden, sondern dem Zweck dienten, den internationalen Terrorismus zu unterstützen. Darum stehen wir zu der Aussage: Erst wenn die Sicherheitslage es zulässt und die Nachhaltigkeit des Übergangsprozesses, Herr Ströbele, nicht gefährdet ist, werden wir den vertretbaren Spielraum zur Truppenreduzierung nutzen. Präsident Karzai hat für sein Land das Ziel definiert, bis Ende 2014 die volle Souveränität zu übernehmen. Die internationale Schutztruppe wird darum bis 2014 ihre Truppenstärke zurückführen. Das ist unser gemeinsam vereinbartes Ziel, und daran werden wir uns halten. Die Fraktion der Linken verweist in ihrem Antrag auf ein Zitat des Sonderbotschafters Steiner aus dem Tagesspiegel, „dass es in Afghanistan keine militärische Lösung geben kann.“ Das ist richtig. ({4}) Dem kann man nur zustimmen. ({5}) Er sagte aber ebenfalls: Ohne die militärische Komponente ist auch eine sichere Entwicklung zurzeit nicht möglich. ({6}) Er sagte auch, dass es sträflich und unverantwortbar sei, die Truppen sofort abzuziehen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wenn Sie schon jemanden für sich sprechen lassen, dann sollten Sie seine gesamte Auffassung wiedergeben. Das würde Ihren Antrag aber ad absurdum führen. ({8}) Natürlich wissen auch wir, dass es in Afghanistan keine rein militärische Lösung geben kann. Darum ist die militärische Komponente nur ein Teil des Konzeptes der vernetzten Sicherheit; denn kein Akteur kann Frieden und Sicherheit in diesem Land allein gewährleisten. Nur durch das Zusammenspiel aller Instrumente können der Erfolg und damit die Stabilität des Landes erreicht werden. Verantwortungsvolles Handeln zeichnet sich auch durch Verlässlichkeit und Langfristigkeit aus. Afghanistan wird auch über 2014 hinaus deutsche Unterstützung brauchen und - da bin ich mir sicher - auch bekommen. Auch wenn die Kampftruppen das Land verlassen haben, müssen die Ausbildung der Sicherheitskräfte und natürlich auch - das ist ganz wichtig - der zivile Aufbau weitergehen. Wir setzen in diesem Zusammenhang sehr auf die Afghanistan-Konferenz in Bonn am 5. Dezember 2011. Dort gilt es, die Weichen für ein sicheres und stabiles Afghanistan zu stellen. Im Fortschrittsbericht Afghanistan vom Juli dieses Jahres wird von einer Generationenaufgabe gesprochen, die in Afghanistan zu leisten ist. Die wirtschaftliche und soziale Transformation ist bei noch immer schwieriger Sicherheitslage nur mit internationaler Unterstützung zu meistern. Es tut mir leid, aber nun noch einmal zu Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der Linken. Mir ganz persönlich kommt es so vor, als wollten Sie, wenn Ihre Ziele erreicht würden, zulassen, dass dieses Land wieder - ich habe es Herrn Ströbele erläutert - in den Terror zurückfällt, als wollten Sie der afghanischen Bevölkerung jede Zukunftsperspektive nehmen und als wollten Sie die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in der Zukunft tatsächlich erneut gefährden. Eine große Mehrheit der verantwortungsvollen Politiker dieses Hauses will das nicht. Sie stehen für Verantwortung für die afghanische Bevölkerung und für Sicherheit für die Menschen in unserem Land. ({9}) Darum ist der Abzug unserer Truppen zwar bereits am Horizont zu sehen - wir wissen: 2014 -, aber er erfolgt erst dann, wenn er verantwortbar ist und wenn von Afghanistan keine Gefährdung mehr für die Menschen in unserem Land ausgeht. Herzlichen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Hochbaum. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Johannes Pflug. Bitte schön, Kollege Pflug. ({0})

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Beginn des Einsatzes unserer Bundeswehr in Afghanistan, also seit fast genau zehn Jahren, wiederholt die Fraktion der Linkspartei fast gebetsmühlenartig Jahr um Jahr eine Forderung: Sofort raus aus Afghanistan, Bundeswehr raus aus Afghanistan. ({0}) Kollege Gehrcke, auch Ihre Argumente sind im Grunde genommen stets dieselben, ({1}) nämlich, militärisch löse man keine Konflikte, ({2}) die Sicherheitslage verschlechtere sich, ({3}) die Bevölkerung sei für den sofortigen Abzug, kurz gesagt: der Einsatz in Afghanistan sei gescheitert, ohne etwas erreicht zu haben. ({4}) - Nun bestätigen Sie das ausdrücklich. Wenn Sie genau auf Ihre Worte achten würden, dann würden Sie wahrscheinlich zu derselben Feststellung kommen: Sie legen ein Glaubensbekenntnis ab. Damit werden Sie der aktuellen Situation in Afghanistan aber nicht gerecht. ({5}) Auf Ihrem Parteitag haben Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Linken, ein Parteiprogramm beschlossen, in dem Sie die internationale Solidarität betonen. Aus Solidarität mit dem afghanischen Volk fordern Sie nun in Ihrem Antrag das unverzügliche Ende des Bundeswehreinsatzes ({6}) und unausgesprochen gleichzeitig natürlich auch den Abzug der NATO-Streitkräfte aus Afghanistan. ({7}) - Sie bestätigen das. - Darüber hinaus haben Sie auf Ihrem Parteitag auch noch das Ende der Unterstützung beim Aufbau des afghanischen Militärs und der Polizei gefordert. Die Frage lautet nun: Was würde diese Art von Solidarität für die Menschen in Afghanistan bedeuten? Das ist die konkrete Frage. Es geht nicht um Glaubensbekenntnisse. ({8}) Trotz der Erfolge bei der Ausbildung sind die afghanischen Sicherheitskräfte ohne Unterstützung der internationalen Truppen noch nicht in der Lage, die Sicherheit in Gesamtafghanistan zu gewährleisten, und ich gebe gerne zu: Wir wissen nicht, wann sie es sein werden. Wie immer man diese Sicherheitslage auch beurteilt: Sie würde sich auf jeden Fall noch einmal erheblich verschlechtern. Mehr noch: Ohne die finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft würde sich die afghanische Armee entlang ihrer ethnischen Grenzen in kürzester Zeit auflösen, und der nächste Bürgerkrieg in Afghanistan wäre unausweichlich. Dies trat im Jahr 1992 genau so ein, als Moskau seine Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte einstellte. Aber diese Lektion, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, weigern Sie sich zur Kenntnis zu nehmen. Wenn internationale Truppen und afghanische Sicherheitskräfte ausfallen: Wer soll dann Ihrer Meinung nach die Afghanen schützen? An die Stelle von gegenwärtig zweifellos prekärer Sicherheit würde ein vollständiges Machtvakuum treten, das Kriegsherren, lokale Machthaber, Drogenbarone und letztendlich auch ausländische Staaten nur allzu gern füllen würden. Die Taliban würden zumindest im Süden und Osten des Landes wieder die Macht übernehmen und Vergeltung an denjenigen üben, die sich im Vertrauen auf die internationale Gemeinschaft für ein modernes und stabiles Afghanistan engagiert haben. Wer ist das? Das sind Lehrer, Frauenrechtler, Journalisten; das sind Eltern, die ihren Töchtern eine gute Ausbildung ermöglichen wollten, um nur einige zu nennen. Mehr Flucht und Gewalt sowie die Zerstörung der bescheidenen bisherigen Fortschritte, insbesondere im Bereich des Bildungswesens und der medizinischen Versorgung, wären das Ergebnis. Richtig ist, dass viele Dinge in Afghanistan nicht zum Besten stehen. Aber am schlimmsten für das Land wäre zweifellos ein unredlicher, überstürzter Abzug, wie Sie ihn fordern. Dies wurde heute Morgen bei einem Gespräch mit Vertretern von NGOs, die in Afghanistan tätig sind, erneut deutlich. Die Linke spricht vom hehren Ziel der internationalen Solidarität, betreibt aber eine Politik des Sich-Heraushaltens. Auch die kritische öffentliche Meinung ist da bereits weiter als Sie. Sie verweisen auf Umfragen, nach denen - das stimmt - 66 Prozent der Deutschen einen sofortigen Abzug der Bundeswehr wünschen. ({9}) Stellt man allerdings den Deutschen konkret die Frage: „Meinen Sie sofortigen Abzug oder Abzug nach angemessenem Abschluss der Mission?“, dann ist das Ergebnis: Es befürworten mehr als 50 Prozent der Bevölkerung den Abzug in Verantwortung, also nicht den sofortigen Abzug. Ihre Politik des „Ohne uns“ repräsentiert also keinesfalls eine Mehrheit der Menschen in diesem Land. Sie sollten nicht Jahr für Jahr dieselben Forderungen herunterbeten, die nicht weniger Gewalt, aber weniger Sicherheit, weniger Entwicklung und weniger Souveränität für Afghanistan bedeuten. Wir laden Sie ein, sich konstruktiv an der Debatte zu beteiligen. Es gibt mit dem Jahr 2014 - das ist die Antwort auf Ihre Frage - nun eine Perspektive für den endgültigen Abzug der deutschen Kampftruppen aus Afghanistan. Allerdings wird die Bundesregierung bis dahin noch viele Fragen zu beantworten haben, auch hier vor dem Deutschen Bundestag, der bislang über die Pläne der Regierung entweder bewusst oder wegen Unvermögens im Dunkeln gelassen wurde. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Schmidt, die SPD-Fraktion fordert Sie und das Verteidigungsministerium auf: Legen Sie endlich dar, wie Sie den Abzug unserer Bundeswehr aus Afghanistan zeitlich und in welcher Größenordnung planen. Wenn sich die Sicherheitslage in Afghanistan begonnen hat, zu stabilisieren, wie es von Ihrem Hause gesagt wird: Wieso war dann Ihrer Meinung nach ein Truppenabzug im Jahre 2011 nicht möglich? Welche Fortschritte gab es bei der Aufstellung der afghanischen Sicherheitskräfte? Planen Sie, auch über 2014 hinaus mit militärischen Ausbildern und Beratern in Afghanistan präsent zu sein? Und: Finden eine Konsultation und eine Koordination mit unseren Verbündeten, allen voran den USA, über unseren Abzug statt? In ihrem Antrag verweist die Linkspartei auf einen Allgemeinplatz, der hier von jedem geteilt wird. Es ist selbstverständlich richtig: Militärisch ist der Konflikt in Afghanistan nicht zu lösen. Aber das ist auch keine Alternative. Beides muss praktiziert werden. Gerade deshalb sind politische Instrumente für die Lösung des Konflikts umso bedeutsamer. Aber auch hier ist die bisherige Bilanz der Regierung relativ ernüchternd. Frau Staatsministerin Pieper - ich hatte sie vorhin gesehen -, wie sehen die Planungen, die Forderungen und Initiativen des Auswärtigen Amtes aus, um zu verhindern, dass die Konferenz in Bonn im Dezember dieses Jahres zu einem reinen Showereignis verkommt? Wie wollen Sie sicherstellen, dass die afghanische Opposition und Zivilgesellschaft ausreichend in Bonn vertreten sein werden? Was haben Sie auf der Konferenz in Istanbul und im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat bisher erreicht, um die Nachbarn Afghanistans konstruktiv in den Stabilisierungsprozess einzubinden? Auch in dieser Beziehung hatten Sie bisher im Bundestag nichts vorzuweisen. Man hört überhaupt nichts über die Konferenz in Istanbul. Frau Staatsministerin Pieper, erklären Sie dem Deutschen Bundestag bitte, ob die Voraussetzungen für einen Abzug unserer Bundeswehr überhaupt gegeben sind. Verläuft die Übergabe von Provinzen und Städten an die Afghanen planmäßig? Sind diese in der Lage, diese Gebiete zu halten und für die Sicherheit der Menschen zu sorgen? Welche Fortschritte macht der politische Versöhnungs- und Friedensprozess in Afghanistan? Und vor allem: Wie hat das militärische Engagement Deutschlands im letzten Jahr dazu beitragen können, diese Prozesse zu fördern? Die SPD-Fraktion hat sich bisher immer zu einem deutschen Engagement in Afghanistan bekannt. Diese Zustimmung kann und wird allerdings nicht ohne Klärung der genannten und anderer offener Punkte durch die Bundesregierung erfolgen. Wir fordern Sie daher auf, dem Deutschen Bundestag endlich über Ihre Pläne für den Einsatz unserer Soldaten in Afghanistan Rede und Antwort zu stehen. Danke. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Ich habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil ich vom Kollegen Pflug direkt angesprochen worden bin. Ich finde, wenn man sich die Sache nüchtern vor Augen führt, muss die erste Feststellung sein - deswegen haben wir Sonderbotschafter Steiner mit seiner Aussage bemüht, dass der Konflikt nicht militärisch zu lösen ist -: Wenn man in der Sackgasse ist, dann kann es kein Weiter-so oder Vorwärts geben; ({0}) dann muss man zurückgehen, das heißt die Truppen zurückziehen. Das hat seine Logik. ({1}) Zweitens ist festzustellen: Weil sehr viel Widerstand in Afghanistan daher rührt, dass die Afghaninnen und Afghanen ihr Land als von fremden Truppen besetzt betrachten, wird der Verbleib von fremden Truppen den Widerstand verstärken, und es wird nicht zu einer friedlichen Lösung kommen. Die Besetzung des Landes ist ein Argument, das die Taliban ständig anführen. Ich sage sehr zugespitzt: Mit Ihrer Politik stärken Sie die Taliban, statt sie zu schwächen. ({2}) Der dritte Punkt ist, dass wir endlich darüber nachdenken müssen, dass das Volk von Afghanistan Selbstbestimmung verdient hat. Das Volk von Afghanistan muss selber entscheiden, was wirtschaftlich gemacht wird und was in seinem Land passieren soll. Sie bevormunden, um es freundlich zu sagen, das Volk von Afghanistan. Das wird nicht zur Lösung des Konfliktes führen. ({3}) Meine Solidarität heißt auch: Die Menschen in Afghanistan müssen endlich selber entscheiden. Es geht nicht an, dass mit Petersberg II in Bonn wieder über sie entschieden wird. Das sind die Probleme, denen man sich stellen muss. Das machen wir in unserem Antrag. Zwei Punkte haben mich begeistert. Das kann ich nur bestätigen, Kollege Pflug. Wir sagen seit zehn Jahren im Bundestag: Schluss mit dem Krieg! Zieht die Bundeswehr zurück! Ich bin stolz darauf, dass wir von Anfang an diese Position gehabt und sie durchgehalten haben im Unterschied zu anderen. ({4}) Es waren bestimmte Regierungen, die diesen unsinnigen Kurs begonnen haben. Der zweite Punkt ist: Dass alle Kolleginnen und Kollegen des Bundestags unser Parteiprogramm lesen, reißt mich zu Begeisterungsstürmen hin. Machen Sie weiter so! Es ist ein gutes Programm. Besonders gut sind die Vorschläge zur internationalen Politik. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Jetzt hat als Nächster in unserer Debatte unser Kollege Dr. Djir-Sarai das Wort. Bitte schön, Herr Kollege. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Gehrcke, auch wenn Ihr Antrag durchaus einige richtige Aspekte beinhaltet, dürfen wir an den Realitäten in dieser Region und vor allem an den Realitäten in Afghanistan nicht vorbeireden. ({0}) Es ist völlig richtig, Herr Kollege Gehrcke: Es wird in Afghanistan keine militärische Lösung geben. Das ist sonnenklar. Darin besteht auch Einigkeit. Es ist ebenfalls richtig: Der Westen hat sich speziell in dieser Region in der Vergangenheit häufig Illusionen hingegeben. Ich bestreite nicht: Auch Deutschland hatte sich unter zum Teil falschen Vorstellungen des Einsatzes und seiner Ziele 2001 mit der Bundeswehr in diesen Einsatz begeben. Daher mussten die Erwartungen genauso wie übrigens auch die Einsatzstrategie selbst im Laufe der Zeit überdacht und angepasst werden. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass wir heute die richtigen Ziele formuliert haben und die richtige Strategie verfolgen. Wir verfolgen heute realistische Ziele - das ist der wesentliche Unterschied zu früher -: hinreichende Stabilität im Land und Gewährleistung von Menschenrechten, begleitet von einer Strategie der Versöhnung und Aussöhnung im ganzen Land. Die aktuelle Strategie trägt zu einer Verbesserung der Situation im Land bei, sodass eine Perspektive für den Abzug der militärischen Hilfe in Aussicht bleibt. Ungeduld zahlt sich an dieser Stelle nicht aus, Herr Kollege. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Bei den Entscheidungen über die Zukunft des deutschen militärischen Engagements in Afghanistan geht es nicht um Tage, sondern es geht um wichtige Weichenstellungen für die Zukunft. Entscheidend ist die Frage, wie das Afghanistan von morgen aussehen kann. Was im Kern nötig ist - da stimme ich Ihnen auch zu -, ist eine politische Lösung, eine Versöhnung der Gegner. Dazu gibt es keine Alternative. ({1}) Wichtig ist bei diesem Friedensprozess, dass alle relevanten Gruppen einbezogen werden und dass nicht Teile der afghanischen Gesellschaft außen vor bleiben. Wie ich oft gehört habe, sagen dies sogar Afghanen selbst. Die Frage des inneren Aussöhnungsprozesses muss allerdings zuerst von den Afghanen selbst vorangetrieben werden; denn Frieden in Afghanistan kann nur zwischen den Parteien und Gruppierungen vor Ort geschlossen werden. ({2}) Diesem Ziel dient übrigens auch die Bonner Afghanistan-Konferenz im Dezember. Herr Kollege Pflug, das ist keine Showveranstaltung. Deutschland ist nicht nur Gastgeber dieser Konferenz, sondern hat auch eine Führungsrolle in Afghanistan. Die Konferenz ist insofern besonders, da sie von afghanischer Seite als Konferenz mit einer strategischen Bedeutung gesehen wird, eine Konferenz, welche die Zukunft Afghanistans massiv beeinflussen wird. Deshalb übergeben wir nach der klaren roten Linie unserer Strategie - die übrigens nicht als gescheitert zu diffamieren ist - schrittweise die Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte - in guter, vertrauensvoller Arbeit mit unseren ISAF-Partnern. Uns allen hier im Haus ist doch klar, dass es nicht um einen direkten Abzug geht. Es ist aber auch klar, dass aus Afghanistan keine Hochburg der Demokratie werden wird. Es geht darum, diesen Übergangsprozess verantwortungsvoll und ordentlich abzuschließen. Das ist heute die Sachlage. Genau darum wird es auch in Bonn gehen: die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen voranzubringen, den inneren Aussöhnungsprozess zu unterstützen und dem Land eine Perspektive für die Zeit nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen 2014 aufzuzeigen. Das sind die Hauptziele, die in Bonn diskutiert werden. Das ist keine Showveranstaltung. In den kommenden Wochen wird uns ein neuer Fortschrittsbericht für Afghanistan vorliegen. Kurz darauf werden wir hier im Deutschen Bundestag über eine Mandatsverlängerung debattieren. In dieser Debatte wird klar zum Ausdruck kommen, dass wir eine konkrete Abzugsperspektive haben und haben müssen. Dabei darf es allerdings keine Gefährdung von allem bisher Erreichten geben. Dabei darf es auch keine Gefährdung für unsere Soldaten in Afghanistan geben. In dem neuen Mandat wird dann auch die Richtung für den Abzug der deutschen Soldaten erkennbar sein. Denn klar und möglich ist: Wir wollen bis Ende 2014 die Verantwortung für die Sicherheit vollständig an Afghanistan übergeben und die Kampftruppen abziehen. Das ist international in Lissabon so vereinbart worden und auch von Präsident Karzai so bestätigt worden. Der Fahrplan steht. Das sind realistische Ziele, für deren Erreichung wir in den nächsten Wochen und Monaten hart arbeiten müssen. Realistisch sind für Afghanistan: eine ausreichend gute Regierungsführung, die Wahrung der fundamentalen Rechte und keine neue Gefährdung unserer Sicherheit hier zu Hause. Ich traf vor einigen Tagen hier im Deutschen Bundestag eine Gruppe von afghanischen Frauenrechtlerinnen. Diese haben bestätigt, dass allein auf diesem Gebiet enorme Erfolge stattgefunden haben und dass diese Erfolge mit einem Schlag vernichtet würden, wenn wir unsere Truppen abziehen würden; darüber müssen wir uns Gedanken machen. Das ist nur ein Beispiel von vielen. In Afghanistan entwickelt sich gerade eine kraftvolle Zivilgesellschaft. Ein kopfloser Abzug unserer Soldaten würde diese Erfolge vernichten und wäre für viele Menschen vor Ort eine Katastrophe. ({3}) Alle diese Verbesserungen wären auf einen Schlag hinfällig, wenn wir planlos und ohne Verantwortung das Land verließen. Deshalb steht Deutschland auch in Zukunft an der Seite der afghanischen Bevölkerung. Auch nach dem Abzug der militärischen Hilfe wird sich Deutschland weiter intensiv am zivilen Wiederaufbau in Afghanistan beteiligen. Statt hier mit wüsten Abzugsplänen um uns zu werfen, sollten wir daher lieber erklären, wie wir die Zivilgesellschaft von morgen in Afghanistan konkret unterstützen können. Wir sollten die Botschaft an unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten vor Ort senden, dass wir Anerkennung zollen: Anerkennung für diese schwere Aufgabe, Anerkennung für diesen guten Job, den sie dort tagtäglich unter harten und gefährlichen Bedingungen leisten. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Dr. Djir-Sarai. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege HansChristan Ströbele. Bitte schön, Kollege Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit zehn Jahren führen wir mit unserer Parlamentsarmee in Afghanistan Krieg. Seit vier, fünf Jahren führen wir ihn mit immer mehr Soldaten und immer schrecklicher. Das Ergebnis dieses Krieges ist bisher desaströs: Zehntausende von Menschen sind getötet worden, eine mehrfache Zahl von Menschen ist in Afghanistan Opfer dieses Krieges, verletzt und zu Krüppeln geworden. Trotz immer neuer Truppenverstärkungen und einer Verschärfung des Krieges ist die Sicherheitssituation für die Bevölkerung in Afghanistan jedes Jahr schlechter geworden. So schlecht wie derzeit war sie noch nie. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir können nicht einfach sagen: „Wir machen weiter so“, sondern wir müssen neue Wege gehen. Für diese neuen Wege gibt es Möglichkeiten, und es gibt Aussicht auf Erfolg. Es kann nicht heißen: „Wir führen den Krieg mindestens drei Jahre weiter“, sondern es muss heißen: Es muss eine Kehrtwendung von dem Einsatz in Afghanistan hin zur Beendigung des Krieges stattfinden, und zwar sofort. - In diesem Punkt gebe ich dem Kollegen Gehrcke ausdrücklich recht. Der Krieg muss beendet werden. Im letzten Jahr sind allein in drei Monaten von den USA 1 485 sogenannte verdeckte Operationen von Spezialkräften durchgeführt worden, bei denen 485 Menschen getötet worden sind und durch die unendlich viel Leid angerichtet worden ist. Das kann nicht sein. Wenn Sie das hochrechnen, kommen Sie auf über 5 000 solcher Angriffe in einem Jahr. Wir können nicht erwarten, dass auf der anderen Seite nichts passiert. Diese Angriffe führen vielmehr zu einer Verschärfung des Krieges. Sie führen dazu, dass die Taliban jeden Tag stärker werden, dass sich immer mehr Menschen aus Hass und deshalb, weil sie Vergeltung üben wollen, dem Krieg der Aufständischen gegen die NATO anschließen. Deshalb ist ein neuer Weg erforderlich. Nun stimme ich dem Antrag der Linken trotzdem nicht zu. Ich glaube, dass die immer gleiche Wiederholung in dem Antrag, sofort alle Truppen aus Afghanistan abzuziehen, falsch ist. Dass das funktioniert, lieber Kollege Gehrcke, glaubt ihr selber nicht. Das ist nicht möglich. ({0}) Das ist im Augenblick auch nicht die erste Priorität. Die erste Priorität muss sein, den Krieg zu beenden. ({1}) Das heißt, man muss morgen erklären, dass keine solchen Offensivmaßnahmen und keine offensiven Großoperationen mehr stattfinden; stattdessen fangen wir zum Zeichen der Versöhnung mit dem Abzug an. Wir sollten aber nicht das machen, was Herr Westerwelle jetzt offenbar vorhat. Noch vor einem Jahr hat er hier im Deutschen Bundestag erklärt, Ende des Jahres 2011 würden die ersten deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen. Davon ist keine Rede mehr. In diesem Jahr werden keine Truppen abgezogen; man vertröstet uns vielmehr auf das nächste Jahr. Das ist der falsche Weg. Wir müssen Zeichen setzen, und wir müssen nach der Erklärung eines Waffenstillstandes deutlich auf die Taliban zugehen und sie in Verhandlungen einbinden. Sie sind dazu bereit. Ich war im September in Afghanistan und habe das von vielen dort gehört, nicht nur von ehemaligen Mitgliedern der Regierung der Taliban, sondern auch von vielen anderen. Es kann allerdings nicht sein, dass die Menschen, die in Verhandlungen mit der Regierung Karzai und den Alliierten eintreten, anschließend in ihrer Wohnung von Spezialkräften der USA aufgesucht, aus ihren Wohnungen herausgeholt, an die Wand gestellt und ermordet werden, wie es in Afghanistan stattgefunden hat. Das führt nicht zum Frieden. Die Verhandlungen müssen vielmehr von Sicherheitsgarantien für alle diejenigen begleitet sein, die verhandlungsbereit sind und in Verhandlungen eintreten. Das ist der Weg aus der Misere. Dieser Weg muss beschritten werden, und zwar nicht erst in drei Jahren oder nächstes Jahr, sondern ab diesem Jahr, jetzt sofort. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Zu einer Kurzintervention hat unser Kollege Dr. Rainer Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Ströbele, Ihre Rede hat mich insofern verwirrt, als ich wirklich nicht weiß, ob Sie hier die Meinung Ihrer Fraktion wiedergeben. Denn die Tonalität, in der Sie diese Rede vorgetragen haben, und die Inhalte, die Sie zum Teil vorgetragen haben, weichen sehr deutlich von dem ab, was wir von Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen über Monate und Jahre vernommen haben. Deshalb frage ich Sie ganz deutlich: Vertreten Sie, auch mit Ihrer Wortwahl, hier die Meinung Ihrer Fraktion? Zweitens. Sie haben angesprochen, dass die Bundesregierung und der Außenminister angekündigt haben, dass wir die Anzahl der Soldaten graduell reduzieren werden. ({0}) Herr Kollege Djir-Sarai hat darauf hingewiesen, dass wir einen Entwicklungspfad bis 2014 haben, und Sie, Herr Kollege Ströbele, haben das Jahr 2011 angesprochen. Ich kann Ihnen sagen: Wir haben eine Mandatsverlängerung im Januar 2012 - das ist nicht 2011, sondern 2012 -, und ich kann Ihnen auch sagen - gerade läuft es über den dpa-Ticker; insofern ist es eine öffentliche Information -, dass die Bundesregierung laut dpa - ich will das jetzt nicht im Einzelnen kommentieren, sondern gebe nur wieder, was ich gerade in öffentlichen Medien gelesen habe beschlossen hat, die Mandatsobergrenze schon ab Januar 2012 auf 4 900 Soldatinnen und Soldaten zu reduzieren. Das heißt, diesem Ansinnen des graduellen Abbaus trägt diese Bundesregierung wieder einmal in exzellenter Weise Rechnung. Vielen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Ströbele, Sie haben die Möglichkeit zur Antwort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist doch schön, dass ich hier zu diesem Thema einmal zu Wort komme. - Herr Kollege, ich lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister am 15. oder 16. Dezember vergangenen Jahres gesagt hat: Ende 2011 werden wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmals reduzieren können. - So, und wann wird jetzt reduziert? ({0}) Ich sage Ihnen: Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich glaube auch dem Außenminister nichts mehr. Denn ich weiß, dass der Außenminister auch in der Bundesregierung ganz offensichtlich andere Auffassungen vertritt als der Verteidigungsminister. Bisher hat sich der Verteidigungsminister ganz offensichtlich durchgesetzt. Er will aber nicht, dass in diesem Jahr Truppen abgezogen werden, ({1}) jedenfalls nicht mehr als 90 Leute, die sowieso nicht dort sind. ({2}) Sie führen die Öffentlichkeit in die Irre, und immer wieder klingt durch, dass ein Einsatz auch über 2014 hinaus durchaus in Betracht kommt, sofern die Sicherheitssituation dies verlangt. Versuchen Sie also Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Dann können wir darüber reden. Nun zu der Frage, für wen ich rede. Ich rede für mich. ({3}) Ich habe hier für mich eine Rede gehalten, aber ich will Sie noch einmal - das haben Sie auch im Ausschuss gehört, und das können Sie auch von mir hier und heute noch einmal hören - auf unsere Forderung nach der Beendigung der Offensivmaßnahmen und insbesondere dieser gezielten Tötungen hinweisen. Wissen Sie, nach jedem Anschlag auf die Bundeswehr wird immer wieder beklagt - dies wird völlig zu Recht beklagt, sage ich -, wie hinterlistig und bösartig diese Angriffe sind, bei denen Bundeswehrsoldaten umkommen. Ich frage Sie aber: Ist es etwas anderes, wenn nachts Spezialkommandos ausrücken und Personen, die vorher aufgelistet worden sind, aus ihren Wohnungen holen und kaltblütig töten? Oder ist es etwas anderes, wenn Menschen am Mittags- oder Abendtisch von einer Drohne, die man in der Luft gar nicht wahrnimmt, getötet werden? Ist das nicht auch heimtückisch? Ist das nicht auch hinterlistig? ({4}) Das heißt, es findet dort ein schrecklicher Krieg statt, und um das zu beenden - darüber war ich froh -, hat meine Fraktion schon vor zwei Jahren die Einstellung solcher Tötungsaktionen und der Offensivmaßnahmen der NATO und insbesondere der US-Amerikaner gefordert. Es sind aber nicht nur die US-Amerikaner. Vielmehr verfahren auch die Deutschen inzwischen so und helfen den Amerikanern bei solchen Kill-Aktionen, indem sie ihnen Informationen geben und Leute auflisten. Wir sind also mit dabei, und ich glaube, die Fraktion vertritt dazu Auffassungen, die sich meinen - sage ich mal annähern. Abschließend dazu, wie wir zu diesem Antrag stehen. Ich werde dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Ich werde mich der Stimme enthalten. Wie sich die Fraktion entscheidet, werden Sie erleben. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den die Linken hier vorgelegen, tut schon etwas weh. Wir wissen ja, dass Sie von der Linken grundsätzlich gegen jeden Auslandseinsatz der Bundeswehr sind. ({0}) Aber bei einem so vielschichtigen Thema wie Afghanistan einen Antrag vorzulegen, in dem Sie in ein paar Zeilen so mir nichts, dir nichts den sofortigen Abzug der Bundeswehr fordern und das auf einer Seite mit ein paar allgemeinen Textbausteinen begründen, ist aus meiner Sicht nicht angemessen. ({1}) Darüber kann sich aber jeder selbst sein Urteil bilden. ({2}) Was mich aber betroffen macht, meine Damen und Herren von der Linken, ist, dass Sie sich in Ihrem Antrag mit keinem Wort dazu äußern, was denn die Konsequenzen eines sofortigen Abzugs für Afghanistan wären: für den bisher erreichten Fortschritt beim Wiederaufbau, für die Übergabe der Verantwortung an das afghanische Volk, für die Sicherheit der Menschen und der zivilen Helfer dort, für die wirtschaftliche Situation im Lande. Mit den konkreten Folgen Ihrer Forderungen beschäftigen Sie sich nicht. Wichtig ist Ihnen nur, dass die Überschriften stimmen und morgen in den Zeitungen steht: Linke fordert sofortigen Abzug aus Afghanistan. ({3}) Meine Damen und Herren, das ist keine Basis für eine ernsthafte Debatte über die Frage, wie langfristig Frieden und Stabilität in Afghanistan geschaffen werden können. Die Antwort auf diese Frage umfasst ein ganzes Bündel an politischen, diplomatischen, entwicklungspolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen, die langfristig angelegt sein müssen und die auch nach dem Abzug des Militärs in 2014 weiter wirken werden. ({4}) Ich finde, Deutschland spielt beim Finden einer entsprechenden Lösung eine sehr positive, konstruktive Rolle. Am 5. Dezember werden sich Außenminister und Vertreter aus über 90 Ländern in Bonn treffen, um dort darüber zu beraten, wie es nach dem Abzug der Kampftruppen 2014 in Afghanistan weitergehen wird. Eben nicht in der Weise „Augen zu und raus und nach uns die Sintflut“, sondern vielmehr von den Überlegungen getragen: Was muss bis dahin an zivilen Maßnahmen noch in die Wege geleitet werden? Wie kann ein langfristiges Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan aussehen? ({5}) Wie muss der politische Prozess der Übergabe in Verantwortung ausgestaltet werden? Dass Deutschland auf afghanischen Wunsch hin Gastgeber dieser Konferenz sein darf, ist ein Zeichen des hohen Vertrauens, das uns von diesem Land und von der internationalen Staatengemeinschaft entgegengebracht wird. ({6}) Das zeigt sich auch immer wieder in Umfragen, in denen vom Ausland der deutsche Einfluss in der Welt sehr positiv bewertet wird. ({7}) Das ist vielleicht der größte Trumpf, den wir in unserer Außenpolitik haben. Den dürfen wir nicht leichtfertig verspielen. Das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird, gründet unter anderem darauf, dass uns kein Hegemonialdenken unterstellt wird, ({8}) und auch darauf, dass wir in der Welt als zuverlässige und verlässliche Partner gelten. Meine Damen und Herren, ich komme zurück auf Afghanistan und die Forderung der Linken nach einem sofortigen Abzug. An dem Einsatz beteiligen sich im Moment 49 Nationen aus der ganzen Welt. Diese teilen sich die Aufgabe sowohl regional als auch funktional auf. Dass man eine solche globale Aufgabe gemeinsam unter dem Dach der Vereinten Nationen angeht, ist doch begrüßenswert. Das geht aber nur, wenn sich die Länder untereinander auf Zusagen verlassen können und Entscheidungen wie die eines Abzuges gemeinsam treffen, und zwar in enger Abstimmung mit dem Land, dem man helfen möchte. Und es sind auch die Menschen vor Ort, die sich auf uns verlassen, die mit unseren Soldaten zusammenarbeiten und deren Leben wir unter Umständen aufs Spiel setzen würden, wenn wir uns von heute auf morgen aus der Verantwortung verabschieden würden. Das alles blendet die Linke aus, wenn sie heute einen sofortigen Abzug fordert. Das ist verantwortungslos. ({9}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist gerade dabei - der Kollege Stinner hat es vorhin angesprochen -, im Vorfeld der Mandatsbeschlüsse die Voraussetzungen für eine Reduzierung zu schaffen. Ich würde es begrüßen, wenn sich dafür eine breite Mehrheit im Parlament finden würde. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7547 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes - Drucksachen 17/7317, 17/7369 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) - Drucksache 17/7671 Berichterstattung: Abgeordnete Alois Gerig Dr. Christel Happach-Kasan Harald Ebner Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes leisten wir in Deutschland unseren Beitrag dazu, die Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in Europa zu harmonisieren. Gleichzeitig sorgen wir mit dem Gesetz dafür, dass im Pflanzenschutzrecht die hohen Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz erhalten bleiben bzw. dass sich Europa an unseren hohen Standards orientiert. ({0}) Bei vielen Verbrauchern stößt der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln leider immer noch auf Skepsis. Bei der heutigen abschließenden Beratung des Entwurfs des neuen Gesetzes möchte ich deshalb betonen: Erstens. Die Zulassung und Anwendung von PSM bleiben an strenge Anforderungen gebunden. In den vergangenen Jahrzehnten konnten deutliche Fortschritte bei der Minimierung der Risiken erzielt werden. Bei den Lebensmitteluntersuchungen hierzulande werden - und das bei immer besseren Untersuchungsmethoden - kaum noch überhöhte Rückstände festgestellt. Zweitens. Die Anwendung von PSM in der konventionellen Landwirtschaft, der Forstwirtschaft, dem Weinbau oder dem Obst- und Gartenbau ist und bleibt - das können Sie gerne wörtlich nehmen - notwendig. ({1}) Sie trägt wesentlich zu höheren Erträgen bei guter Qualität und damit zu einer sicheren Versorgung unserer Bevölkerung mit bezahlbaren und gesunden Lebensmitteln bei. Warum ist es erforderlich, in der EU die Anwendung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zu harmonisieren? Auf dem europäischen Binnenmarkt bestehen beachtliche Unterschiede. Es ist zum einen für die deutschen Landbewirtschafter ein klarer Wettbewerbsnachteil, wenn Konkurrenten in anderen EU-Staaten Pflanzenschutzmittel zur Verfügung haben, die in Deutschland nicht zugelassen sind, und es ist zum anderen irreführend und äußerst unfair für die Verbraucher, wenn Lebensmittel in unseren Supermarktregalen stehen, die nicht nach den gleichen bzw. strengen deutschen Umweltstandards produziert wurden. Ein wichtiger Schritt in Richtung von mehr Harmonisierung ist zum Beispiel die gegenseitige Anerkennung von Zulassungen. Die EU wurde in drei Zonen aufgeteilt. Ist ein PSM in einem Mitgliedstaat zugelassen, so soll die Zulassung dieses Mittels in Mitgliedstaaten, die der gleichen Zone angehören, innerhalb von 120 Tagen erfolgen. Im Ergebnis ist zu erwarten, dass durch dieses Zusammenspiel schneller bessere und möglicherweise auch mehr Pflanzenschutzmittel zugelassen werden. Dadurch dürfte sich die Verfügbarkeit von PSM in Deutschland verbessern, was ökologisch durchaus sinnvoll ist und auch dazu beiträgt, zunehmende Resistenzen in den Kulturen zu verhindern. ({2}) Das kann allerdings nur dann gelingen, wenn die nationalen Zulassungsbehörden im Verfahren einheitliche Bewertungsmaßstäbe anlegen und praktikabel handhaben. Dies fordern wir ebenso wie die Umsetzung des Nationalen Aktionsplanes in unserem gemeinsamen Entschließungsantrag. Große Bedeutung für einen fairen Wettbewerb beim Pflanzenschutz haben auch die Anwendungsbedingungen: Integrierter Pflanzenschutz, Sachkundenachweis und ein TÜV für Pflanzenschutzgeräte wurden in Deutschland bereits vor Jahren eingeführt und werden künftig EU-weit vorgeschrieben. Wir müssen allerdings schon aufpassen, dass die Harmonisierungsziele möglichst eins zu eins umgesetzt und nicht durch ungeschickte Regelungen durch die Hintertür konterkariert werden. Hier ist die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern gefordert. Überhaupt ist Praktikabilität in dem neuen Gesetz ein wichtiges Anliegen. So haben wir, anders als vom Bundesrat gefordert, auf die Festlegung starrer Abstandsregelungen für Gewässer verzichtet. Besser ist es, wenn diese im Rahmen der guten fachlichen Praxis nach den örtlichen Gegebenheiten und den Anwendungsbestimmungen des konkreten Mittels ausgerichtet werden. ({3}) Für besondere Gebiete, wie beispielsweise das Alte Land, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, unter Wahrung des Schutzniveaus abweichende Regeln anzuwenden. ({4}) Die Entscheidung über die Ausweisung dieser sogenannten Sondergebiete wird unter Beteiligung des Umweltbundesamtes getroffen. Gleichzeitig stellen wir im Gesetz sicher, dass im Einzelfall zügige Entscheidungen über Sondergebiete oder dann, wenn Gefahr im Verzug ist, möglich sind. Ähnlich pragmatisch wird, falls unabdingbar, bei der Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln mit Luftfahrzeugen im Steillagenweinbau und im Kronenbereich der Wälder verfahren. Gegen den Handel mit gefälschten oder verbotenen PSM werden strengere Regeln geschaffen. Dies ist gleichermaßen im Sinne von Herstellern und Verbrauchern. Eines möchte ich zum Ende meiner Rede noch grundsätzlich festhalten: Um die Welt bei zunehmender Bevölkerung ({5}) mit Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen versorgen zu können, brauchen wir moderne und innovative Pflanzenschutz- bzw. im gewissen Rahmen auch Pflanzenstärkungsmittel. ({6}) Mit dem vorliegenden Gesetz wird es gelingen, den Pflanzenschutz auch weiterhin in den Dienst einer leistungsfähigen, nachhaltigen und ökologisch ausgewogenen Landbewirtschaftung zu stellen. Damit wird nach meiner festen Überzeugung ein weiterer wichtiger Beitrag zur Harmonisierung in Europa geleistet. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Gesetz zu. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Gustav Herzog für die SPD-Fraktion. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pflanzenschutzrecht ist eine sehr komplexe Materie, um die sich überwiegend die Spezialisten in den Fraktionen kümmern. ({0}) Aber das damit verbundene Regelwerk betrifft uns alle. Dies gilt insbesondere für die Qualität und Quantität der uns zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel. Es wird aber auch geregelt, wie wir am Wochenende, wenn es unsere Zeit erlaubt, den Rasen zu Hause pflegen dürfen, wie der Zustand unserer Gewässer ist und wie hoch das Einkommen der Landwirte ausfällt, inwiefern sie ihre Erträge sichern können. Ferner wird Einfluss auf die Vielfalt von Flora und Fauna genommen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher wichtig und hat die notwendige Aufmerksamkeit verdient. Wir regeln die Zulassung der Mittel, während es europäische Regelungen für die Wirkstoffe gibt. Wir schaffen Regelungen bezüglich der Anwendung und der Geräte. Eine wichtige Frage ist - sie wird immer mehr an Bedeutung gewinnen -, wie wir illegale Importe und die damit verbundenen kriminellen Machenschaften verhindern. Wir haben gemeinsam den Fokus darauf gerichtet und die entsprechenden Sanktionen vereinbart. Wir haben diese Neuordnung erarbeitet, weil im Jahr 2009 die EU eine entsprechende Vorgabe in Form einer Verordnung und einer Richtlinie gemacht hat. Herr Kollege Bleser, Sie haben sich jetzt auf die Abgeordnetenbank gesetzt, ich spreche Sie aber als Vertreter des Ministeriums an: Sie haben sich viel Zeit gelassen, dem Deutschen Bundestag diesen Gesetzentwurf vorzulegen. Wir hätten gerne etwas mehr Zeit gehabt, mit den Fachleuten über diesen Entwurf zu beraten. Ich glaube, es ist im Sinne des ganzen Hauses, wenn Sie sich beim nächsten Mal etwas weniger Zeit lassen. ({1}) Die Auswirkungen dieses Gesetzes sind für Deutschland nicht gravierend. Der Entwurf beinhaltet insbesondere für Hersteller und Anwender wesentliche neue Regelungen - auch Vorteile; da stimme ich dem Kollegen Gerig zu. Ich habe immer für die zonale Zulassung gekämpft; denn wir brauchen eine Vielfalt an Mitteln, um Resistenzen vorzubeugen. Jedoch trägt nicht das UBA die Schuld daran, dass für eine Reihe von Indikationen so wenige Mittel zur Verfügung standen. Vielmehr konzentriert sich die Industrie darauf, für die großen Produkte und Kulturen entsprechende Mittel zu erforschen und zuzulassen; die kleinen Kulturen jedoch - die seltenen Schadorganismen - bleiben außen vor. Ich kann mich noch gut an Aufrufe im Pfälzer Bauer erinnern, in denen geradezu um Geld zur Durchführung von entsprechenden Untersuchungen gebettelt worden ist, um Lückenindikationen schließen zu können. Von daher auch von hier ein Aufruf an die Industrie, in diesem Bereich etwas mehr zu tun. ({2}) Herr Gerig, Sie haben heute - wie Sie alle bei der ersten Lesung - von dem hohen Schutzniveau in Deutschland gesprochen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Ihre Seite in diesem Haus hierzu am allerwenigsten einen Beitrag geleistet hat. ({3}) Sie waren nicht die Lokomotive des Fortschrittes; Sie standen eher auf der Bremse und haben plakativ Ihren Slogan „Wettbewerbsverzerrung“ hochgehalten. Das war Ihr Schlagwort, um eigentlich jede Weiterentwicklung zu behindern. Wenn Sie sagen, dass es bei uns einige Regelungen schon viele Jahre gibt, dann können wir stolz darauf sein, dass wir sie eingeführt haben, und Sie können uns dafür dankbar sein. Der gesamte Prozess dauert schon lange an. Zur Frage, ob das Umweltbundesamt seine Einvernehmensregelung bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln beibehält, habe ich im Deutschen Bundestag bereits mehrfach gesprochen. Wir haben uns zahlreiche Rededuelle geliefert. Frau Kollegin Happach-Kasan, Respekt, Sie sind bei Ihrer Position geblieben. ({4}) Ich hoffe, die Union hat inzwischen Einsichten gewonnen und ihre Meinung geändert. Die Regelung wird jedenfalls so bleiben. ({5}) Sie haben die Eins-zu-eins-Umsetzung angesprochen. Ich bin da sehr zögerlich; denn ich halte das für ein Stück politische Selbstkastration. ({6}) Hier hätte man schon etwas mehr machen können. Der Bundesrat hat 56 Änderungsanträge gestellt. Sie sind der Bundesregierung willig gefolgt, indem Sie nur die Punkte in Ihre Änderungsanträge übernommen haben, in denen sich Bundesrat und Bundesregierung einig waren. Sie haben keine einzige Anregung aus der Anhörung übernommen, die qualitativ sehr gut besetzt war. Etwas mehr Kreativität hätte ich von den Koalitionsfraktionen schon erwartet. Aber nach all dem, was ansonsten an Unsinn verbreitet wird, ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung vielleicht doch das Beste für die deutsche Landwirtschaft. ({7}) Wir sagen: Fortschritt ist möglich. Das Recht soll einfacher, ökologischer und damit besser sein. Lassen Sie mich kurz vier Punkte ansprechen. Erstens: Abstand zu Gewässern. In der Anhörung sind unterschiedliche pauschale Abstände genannt worden. Der Bundesrat wollte 1 Meter - abgelehnt durch die Bundesregierung. Vorgeschlagen wurden auch 3 Meter, 5 Meter und 10 Meter Abstand. Wir hielten - ich sage das bewusst - 3 Meter für opportun, um eine ganze Reihe von Pflanzenschutzmitteln in dieses Regelwerk aufzunehmen. Das wäre ein Beitrag zur Entbürokratisierung gewesen. Dass das Thema „Eintrag in Gewässer“ nach wie vor sehr wichtig ist, zeigt ein Beispiel: Im Oktober hat das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung eine Untersuchung veröffentlicht, für die europaweit 750 000 Gewässeranalysen ausgewertet wurden. 73 chemo-organische Verbindungen sind als potenziell prioritäre Schadstoffe identifiziert worden, zwei Drittel davon waren Pestizide. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist für uns ein Alarmzeichen, dass wir uns intensiv darum zu kümmern haben. ({8}) Zweitens. Die gute fachliche Praxis darf nicht nur als Inhalt einer schönen Broschüre des Ministeriums verteilt werden, sondern muss als verbindliches Regelwerk, als Verordnung festgeschrieben werden. Dritter Punkt. Hier geht es um eine, wie ich finde, sehr gute Anregung aus der Industrie. Sie müssen sich vorstellen: Die Behälter, in denen sich die Pflanzenschutzmittel befinden - das sind hochgiftige, konzentrierte Substanzen -, werden nicht immer und überall dort zurückgegeben, wo sie anständig entsorgt werden; sie können auch einmal im Gelben Sack landen. Was heißt das für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sortierwerken, in denen die Kunststoffe sortiert werden? Was heißt es, wenn Reste von Pflanzenschutzmitteln an dem Kunststoff haften bleiben und aus dem recycelten Kunststoff zum Beispiel Kinderspielzeug hergestellt wird? Ich sage: Bei solchen wirklich gefährlichen Substanzen ist es sinnvoll, sie sicher zu entsorgen. Sie sind unserer Anregung nicht gefolgt. Schade! Vierter Punkt. In der Frage der Pflanzenstärkungsmittel sind Sie uns aber gefolgt. Herr Kollege Bleser, jetzt muss ich Sie als Staatssekretär doch einmal loben. - Jetzt, wo ich ihn lobe, hört er nicht zu. ({9}) Herr Bleser hat eine erneute juristische Prüfung im Haus veranlasst. Das Ministerium ist zur Einschätzung gekommen, dass es doch möglich ist, die Pflanzenstärkungsmittel weiterhin mit einer geeigneten Kennzeichnung in den Vertrieb zu bringen. Dafür möchte ich mich bedanken. Ich glaube, das hilft einer Branche. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Nationalen Aktionsprogramm zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln unterscheiden wir uns wieder. Früher hieß es einmal „Pflanzenschutzmittelreduktionsprogramm“. Ich glaube, dieser Titel war angemessener. Da ist noch einiges zu tun. Wir werden Ihnen kritisch auf die Finger schauen. Das Gesetz ist notwendig. Die Bundesregierung hat die Vorgaben der Europäischen Union eingehalten. Sie haben nichts kaputtgemacht. Wir können dem Gesetz zwar nicht zustimmen, aber wir werden uns der Stimme enthalten. Das gilt im Übrigen auch für den Entschließungsantrag der Grünen: Es gibt viel Übereinstimmung, aber auch ein paar Punkte, bei denen wir Ihnen nicht folgen können. ({11}) Wir haben aber noch ein paar parlamentarische Debatten, in denen wir vielleicht doch noch mehr Einigkeit herstellen können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Christel Happach-Kasan ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede von Gustav Herzog war nach dem Motto: Nicht kritisiert ist genug gelobt. Herzlichen Dank dafür. ({0}) Wir sind da in einigen Punkten auch gar nicht sehr weit auseinander. ({1}) Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird zwar immer wieder kritisiert. Trotzdem wissen wir alle: Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen Produkte, die frei von Blattläusen sind, und Erdbeeren, die keinen Schimmel haben, weil sie keine Pilzvergiftung erleiden wollen. Vor diesem Hintergrund ist uns klar, dass wir in der modernen Landwirtschaft, im Getreideanbau und im Gemüse- und Obstanbau genauso wie im Ökolandbau Pflanzenschutzmittel brauchen; das ist unverzichtbar. Dies möchte ich festhalten. Gleichzeitig sind wir alle in diesem Hause uns einig, dass wir natürlich eine Minimierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln wollen, weil wir die Natur schonen und schützen wollen. Ich glaube, auch jeder Landwirt ist sich bewusst, dass es wichtig ist, nur einen sehr maßvollen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu betreiben, weil dieser nämlich extrem teuer ist. Mit dem heute eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes setzen wir zwei Verordnungen und zwei Richtlinien der EU in nationales Recht um. Diese Verordnungen und Richtlinien stammen aus dem Jahre 2009; das Ziel ist die Harmonisierung der Zulassungen in der EU. ({2}) - Lieber Kollege Herzog, es gibt andere Richtlinien und Verordnungen, für deren Umsetzung Rot-Grün einen deutlich längeren Zeitraum gebraucht hat; ich glaube, das können wir gemeinsam festhalten. ({3}) Ein Ziel ist, dabei Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Denn uns allen ist klar: Es ist nicht sehr glaubDr. Christel Happach-Kasan würdig, wenn ein Landwirt in Niedersachsen ein Pflanzenschutzmittel nicht anwenden darf, wenn nebenan, hinter der Grenze zu den Niederlanden, der Einsatz durchaus erlaubt ist. ({4}) - Oder umgekehrt; das ist ein Punkt, den ich sehr gerne aufnehme. ({5}) Wir sind uns auch darüber einig, dass neue Pflanzenschutzmittel in aller Regel besser sind als alte, dass es in der Regel einen Entwicklungsfortschritt gibt. Insofern ist es gut, wenn wir die Forschung und die Entwicklung neuer Pflanzenschutzmittel unterstützen. Deswegen haben wir uns entschieden, in § 20 des Gesetzentwurfs öffentliche Labore und öffentlich zertifizierte Labore gleichzusetzen, wenn sie eine Anzeige über den Versuch an das BVL geben und mitteilen, welchen Versuch sie unternehmen wollen. Wir haben ein relativ kompliziertes Gesetz geschaffen; das muss man deutlich sagen. Die Zulassung neuer Pflanzenschutzmittel erfolgt durch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Es hat im Benehmen mit dem RKI und dem BfR und im Einvernehmen mit dem Umweltbundesamt zu handeln; Kollege Herzog hat sich dazu schon geäußert. ({6}) - Zutreffend geäußert, sehr richtig. - Im Verfahren gab es 50 Anträge der Bundesländer. Die Hälfte haben wir übernommen. Kollege Herzog, hinsichtlich der Behälter sollte man Folgendes zur Kenntnis nehmen: Neben den gesetzlichen Regelungen gibt es auch eine handelnde Zivilgesellschaft. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass einige Pflanzenschutzunternehmen diese Behälter eingesammelt haben. Das scheint mir eine besonders sinnvolle Regelung zu sein, damit sie nicht wieder in die Entsorgung kommen. ({7}) - Das mag so sein. Trotzdem freue ich mich, wenn Unternehmen eigenverantwortlich handeln. ({8}) Weitere Änderungen haben wir beim Parallelhandel vorgenommen, weil wir uns beim Thema „kriminelles Handeln“ einig sind. Wir haben hier eine Strafbewehrung geschaffen. Lassen Sie uns auch das Thema Gewässerabstand behandeln. Man braucht sich nur anzuschauen, was beim Alten Land los ist, um festzustellen, dass dort für die unterschiedlichen Pflanzenschutzmittel unterschiedliche Gewässerabstände definiert sind. Da heißt es, angepasst und angemessen mit Blick auf die standortliche Situation zu handeln. Genau das wollen wir tun. ({9}) Wir haben bei den Pflanzenstärkungsmitteln eine geänderte Situation aufgrund des EU-Rechts. Deswegen können wir damit nicht mehr ganz so einfach wie vorher umgehen. Trotzdem haben wir eine Sonderregelung für Pflanzenstärkungsmittel aufgenommen, nämlich eine einjährige Übergangsfrist. ({10}) Auch beim Import von Jungpflanzen werden wir anders handeln; denn wir können die Vorschläge des Bundesrates so nicht gesetzlich umsetzen. Vielmehr werden wir in anderer Weise den Anliegen gerecht werden. Ich bedaure sehr, dass es uns nicht gelungen ist, für Landwirte eine Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Rechts hinzubekommen. Wir haben weiterhin eine verkürzte TÜV-Frist im Vergleich zu anderen Ländern. Wir haben gleichzeitig den Sachkundenachweis, der statt alle fünf Jahre alle drei Jahre erbracht werden muss. Wir werden darauf dringen müssen, dass die Behörden dies pragmatisch umsetzen. Ich bedaure, dass dies nicht gelungen ist. Das ist auf Anträge des Bundesrates hin so erfolgt. Ich bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland einen sehr verantwortlichen Umgang mit Pflanzenschutzmitteln haben. Man kann dies gut daran sehen, dass das Lebensmittelmonitoring in jedem Jahr einen deutlichen Rückgang von beanstandetem Obst und Gemüse aus deutschem Anbau zeigt. Inzwischen werden weniger als 2 Prozent beanstandet. In der letzten Untersuchung lag der Wert bei 1,4 Prozent. Das zeigt, wie verantwortlich damit umgegangen wird. Wir sehen es auch daran, dass sich beispielsweise die Lebensmittelwarnungen der EU nicht auf die Kontamination mit Pflanzenschutzmitteln beziehen, sondern beispielsweise auf Kontaminationen mit Pilzgiften oder mit Bakterien. ({11}) Wir erinnern uns an die Ehec-Krise, die uns deutlich vor Augen geführt hat, welche Gefährdungen von gefährlichen Bakterien ausgehen. Wir können auch feststellen, dass die Zahl der Schadensmeldungen der Imker in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist. Ich halte das für gut. Wir müssen daran arbeiten, dass es gar keine Schadensmeldungen mehr gibt. Insgesamt gesehen können wir feststellen, dass der Umgang mit Pflanzenschutzmitteln verantwortlich ist. Wir wollen ihn weiter verbessern. Wir wollen über den Nationalen Aktionsplan zu einer deutlichen Minimierung kommen. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem Gesetz auf einem guten Weg dahin sind. Danke schön. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Alexander Süßmair ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Süßmair (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004172, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Keiner von uns will Rückstände von chemischen Pflanzenschutzmitteln im Salat mitessen, und keiner von uns will in einen Apfel beißen, aus dem er von einem Wurm angelächelt wird. Genau in diesem Dilemma befinden wir uns beim Thema Pflanzenschutzmittel. Pflanzenschutzmittel bewahren die Erträge aus Garten und Ackerbau vor Schaden. Der Einsatz von Düngeund Pflanzenschutzmitteln trägt zur betriebswirtschaftlichen Effizienz und zu höheren Erträgen der landwirtschaftlichen Produktion bei. Aber betriebswirtschaftliche Effizienz bedeutet auch die Spezialisierung auf nur wenige Anbaukulturen und damit die Ausbreitung von Monokulturen. Das hat zur Folge, dass viele Pflanzen anfälliger für Schädlinge werden. Deshalb werden mehr Pestizide gespritzt, und die Umwelt wird stärker belastet. Genau das ist der Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie, der durch den Wunsch nach ständigem Wachstum verstärkt wird. ({0}) Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Verlust an Tier- und Pflanzenarten in der Natur und der Intensivierung der landwirtschaftlichen Erzeugung gibt. Die Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat alle Fehler des vorliegenden Gesetzentwurfs auf den Tisch gebracht. Mit diesem Gesetzentwurf wird es keine Verbesserung beim Gewässerschutz geben, das steht jetzt schon fest. Hätten Sie den Willen der EU umgesetzt, wären konkrete gesetzliche Vorgaben im Gesetz die Folge gewesen. Aber das Gegenteil ist der Fall. In Ihrem Gesetzentwurf ist zum Beispiel kein Mindestabstand zu Gewässern bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln enthalten. Wasserund Naturschutzgebiete hätten berücksichtigt werden müssen. Sie werden aber nicht berücksichtigt. Das ist für uns nicht akzeptabel. ({1}) Pestizide schädigen nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern auch uns Menschen. Menschen verbringen besonders viel Zeit in Gärten und sind eng mit der Natur verbunden. Deshalb kann nicht jedes Mittel, das für den Acker zugelassen ist, für den Schrebergarten genehmigt werden. Besonders in diesem Bereich möchten wir Artenvielfalt bewahren. Die Menschen sollen sich sicher erholen und Kinder gefahrlos spielen können. ({2}) Deshalb dürfen nur Mittel mit geringem Risiko ohne Sachkundenachweis zugelassen werden. Das hätten Sie im Gesetzentwurf regeln müssen, haben Sie aber nicht. ({3}) Wir sind der Meinung: Pflanzenschutzmittel mit hohem Risiko gehören nicht in den Garten. ({4}) Wird der vorliegende Gesetzentwurf zum Pflanzenschutz den heutigen Anforderungen an eine nachhaltige und umweltgerechte Agrarwirtschaft gerecht? Wir meinen, nein. Mit Ihrem Gesetzentwurf zum Pflanzenschutzrecht wird die Chance verspielt, klare Vorgaben zu machen und einen Schritt zum Erhalt der biologischen Vielfalt zu tun. Heute wird wieder einmal deutlich, wer Ihnen die Feder für den vorliegenden Gesetzentwurf geführt hat, nämlich eine Lobby aus Landwirtschafts- und Agrarindustrie. Dafür spricht auch, dass Naturschutz-, Wasserwirtschafts- und Umweltverbände den Gesetzentwurf für ein Feigenblatt zugunsten der Agroindustrie halten. Damit haben Sie von der Koalition wieder einmal die Gelegenheit verpasst, eine nachhaltige Lösung im Sinne des Schutzes von Umwelt, Natur und Mensch zu finden. ({5}) Die Linke wird deshalb den Gesetzentwurf ablehnen. Danke. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition haben hier und auch gestern im Ausschuss viel von Harmonisierung, beschleunigter Zulassung und Parallelhandel gesprochen. Das hört sich für mich fast so an, als ob der vorliegende Gesetzentwurf vor allem die Probleme der Industrie lösen soll. So kann man natürlich an ein Gesetz herangehen - das erwarte ich schon fast von der Koalition -, man kann aber auch die Probleme der Menschen und der Umwelt lösen wollen. Da muss der Blick über den Ackerrand hinausgehen. ({0}) Wir finden heute im Blut von Eisbären in der Arktis Rückstände von Pflanzenschutzmitteln und deren Metabolite. Die WHO hat 1990 aufgehört, die Fälle der jährlichen akuten Pestizidvergiftungen von Menschen zu zählen. Damals war man bei 3,5 bis 5 Millionen Fällen pro Jahr angelangt. Das heißt, die Stoffe gelangen in die hinHarald Ebner tersten Winkel der Welt und entfalten auch dort ihre Wirkung, wo wir es längst nicht mehr brauchen. Das ist die Problemlage. Weil es eben nicht um harmlose Substanzen geht - wir reden hier über Pestizideinsatz -, muss ein modernes Pflanzenschutzgesetz zum Ziel haben, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren und diejenigen, die dennoch angewandt werden, vor ihrer Zulassung zuverlässig und umfassend auf ihre Risiken für Mensch und Umwelt zu prüfen. ({1}) Dass dies gegenwärtig nicht in ausreichendem Maß der Fall ist, zeigen die zahlreichen Fälle der erst viel zu spät erkannten Gefährlichkeit von Pestiziden: in der Vergangenheit bei Atrazin oder aktuell bei Glyphosat und Tallowaminen. Weil in Ihrem Gesetzentwurf das Ziel der effektiven Reduktion gar nicht zu finden ist und auch das Ziel einer wirklichen Risikovorsorge nicht zufriedenstellend angegangen wird, kann die Novelle nicht mit ein paar Änderungen geheilt werden. Welche Kernpunkte muss ein modernes Pflanzenschutzgesetz abdecken? Diese Punkte haben wir in unserem Entschließungsantrag aufgeführt: Das beginnt bei einer gründlichen Zulassungsprüfung, die im Interesse von Verbrauchern, Landwirtschaft und Umwelt auf den Ergebnissen einer unabhängigen Risikoforschung basieren muss. Das Gegenteil ist heute der Fall. Es darf nicht weiter so sein, dass sämtliche Daten für die Zulassung von Pestiziden von den Herstellern dieser Mittel selber stammen. ({2}) Gerade hier gilt: „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ und nicht umgekehrt. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt sogar eine verbindliche Definition der guten fachlichen Praxis; das hat Herr Herzog schon dargestellt. Es fehlen Angaben über die Abstände zu Gewässern. Wir wollen einen Mindestabstand von 5 Metern und spezifische Risikominderungsmaßnahmen. Die Haus- und Kleingärten wurden vom Kollegen Süßmair schon angesprochen; hier sind wir ganz auf einer Linie. Die Ökobauern wollen ihre Pflanzen stärken, statt Schädlinge und Nützlinge zu vergiften. Deshalb brauchen wir längere Übergangsfristen bei der Zulassung von Pflanzenstärkungsmitteln. Ja, Herr Kollege Gerig, da haben Sie völlig recht, aber Sie haben sich im Gesetzentwurf nicht zu einer richtigen Lösung durchringen können. Aber was will man von dieser Bundesregierung schon erwarten, wenn Staatssekretär Bleser schon beim Wort „Ökolandbau“ eine „Stimmhemmung“ hat, wie gestern nach eigenem Bekunden im Ausschuss geschehen. ({3}) Ich komme langsam zum Schluss. Wir waren schon einmal wesentlich weiter auf dem Weg zu einer umweltverträglichen und nachhaltigen Landwirtschaft. Nach 2005 kam leider ein Rollback. Aus dem Reduktionsprogramm Pflanzenschutz wurde ein unverbindlicher Aktionsplan. Der vorliegende Gesetzentwurf verfestigt diesen Rollback zum Dauerzustand. Damit verabschiedet sich die Bundesregierung leider von dem Ziel der EU, die Abhängigkeit vom Pestizideinsatz zu verringern. Frankreich geht einen anderen Weg. Dort sagt man: Wir wollen den Pestizideinsatz um 50 Prozent verringern. Das könnte man sich zum Vorbild nehmen. ({4}) Sie legen zum wiederholten Male einen Gesetzentwurf vor, der zwar vorgibt, dass im Sinne von Verbrauchern und Umwelt gehandelt wird, in Wahrheit folgt man aber den Interessen einer Lobbygruppe. Die Frage ist doch, welche Landwirtschaft wir wollen: Eine billigere oder eine bessere? ({5}) Wir wollen eine nachhaltige, zukunftsorientierte Landwirtschaft, die Umwelt und biologische Vielfalt, also unsere Lebensgrundlagen, auf Dauer schützt und erhält, statt sie zu vergiften. Dafür müssen wir immer weniger Pestizide einsetzen, und das immer sicherer. Diese Zielsetzung fehlt in Ihrem Gesetzentwurf leider vollkommen. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Ebner, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit. ({0}) Nun hat der Kollege Max Lehmer das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke. - Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich begrüße wie Sie alle und wie meine Vorredner die Ziele des vorliegenden Gesetzentwurfs, welcher der Umsetzung des EU-Pflanzenschutzpaktes dient. Ich unterstütze, auch als Praktiker, ausdrücklich die weitere Harmonisierung der Pflanzenschutzmittelzulassungen und der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus in der gesamten Europäischen Union. Bei der Umsetzung des Gesetzes in die Praxis muss aber noch auf einige unbürokratische Lösungen für unsere Landwirte geachtet werden. Herr Herzog, da haben wir sicher noch einige Hausaufgaben zu machen. So besteht zum Beispiel bei der Frage der TÜV-Fristen, also bei der technischen Prüfung von Spritzgeräten, noch Handlungsbedarf. ({0}) - Nein. Darüber reden wir separat noch einmal. Darüber können wir gerne diskutieren. Allgemein ist zu sagen, dass die Regelungen in Deutschland ein hohes Niveau haben und die EU-Vorgaben übertreffen, was der Sicherheit der Verbraucher, aber auch der Umwelt und der Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft dient. Gleiches gilt für die hohe Sachkunde unserer Anwender. Ich kann es mir nicht verkneifen, eines an die Adresse einiger meiner Vorredner zu richten: Sie müssen sich dringend einmal mit den zehnjährigen Zulassungsprüfungen für ein Präparat befassen. ({1}) Sie müssen einmal sehen - ich wende mich insbesondere an meinen Vorredner -, welche Prüfungen in ökotoxikologischer, toxikologischer, human- und umwelttoxikologischer Hinsicht und zur Wassergängigkeit durchgeführt werden müssen. So ein Prozess dauert zehn Jahre und kostet 250 Millionen Euro. Ich sage Ihnen das nur. Alles, was Sie erst bei der Anwendung verlangen, wird schon vorher in weiten Bereichen - Herr Herzog weiß das - geprüft. Dass trotzdem - das gilt im Straßenverkehr genauso wie bei allen Anwendungen von Präparaten und Produkten - bei Anwendungen Unregelmäßigkeiten auftreten und Fehler passieren, die nachhaltig zu vermeiden sind, ist unstrittig. Aber Sie können uns nicht vorwerfen, man sei zugunsten der Agrarlobby und der Industrie bei der Zulassung von Präparaten großzügig. Das ist doch Unsinn pur. ({2}) Erlauben Sie mir, bei dieser Gelegenheit auf einige grundsätzliche Aussagen zu Pflanzenschutzmitteln einzugehen. In der Tat, Herr Herzog, geht Pflanzenschutz uns alle an; das ist aber leider nicht allen bewusst. Darum möchte ich auf ein paar Punkte zu sprechen kommen, die vor allen Dingen den Verbraucher angehen. Pflanzenschutz ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil moderner Produktionstechnik; daran gibt es für mich in der Landwirtschaft keine Zweifel. Eines darf man uns nicht vorwerfen: Wir sind längst über das Prinzip „Viel hilft viel“ hinaus. Ich bin jetzt seit 50 Jahren gelernter Landwirt. Am Anfang konnte man die Mittel vielleicht nicht so genau dosieren; dies lag auch an der Technik. Schon seit vielen Jahren werden anspruchsvolle Prognose- und Diagnosemodelle als Entscheidungsgrundlage für Pflanzenschutzmaßnahmen in der Praxis vielfach genutzt. Für nahezu alle Anwendungssegmente werden sogenannte Schadschwellen definiert, wodurch sichergestellt wird, dass Pflanzenschutzmittel erst dann ausgebracht werden, wenn Gefahr im Verzug ist und ein entsprechender Schaden prognostiziert werden kann. Diese anspruchsvollen Anwendungsgrundlagen dienen sowohl dem Landwirt für einen kostengünstigen Pflanzenschutzeinsatz - ein Landwirt wird nicht beliebig viel, sondern möglichst wenig einsetzen; denn die Mittel sind sehr teuer; das muss klar sein ({3}) als auch der Umwelt, indem nur die unbedingt notwendige Menge an Präparaten eingesetzt wird. Ein derart fachkundiger Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, wie er in der Praxis gängig ist, hat auch dazu geführt, dass nur noch in Ausnahmefällen Rückstände in Ernteprodukten aus deutscher Produktion gefunden werden, die aber in aller Regel keine toxikologische Relevanz erreichen. Pflanzenschutz - das bedauere ich sehr - wird in der öffentlichen Wahrnehmung allgemein mit großer Skepsis begegnet. Gespräche mit Bürgern bestätigen eine sehr kritische Einstellung gegenüber dem chemischen Pflanzenschutz - das muss man konstatieren -, welche meiner Auffassung nach - ich bin in der Diskussion immer an der Front - einem verbreiteten Informationsdefizit geschuldet ist. Dies liegt meines Erachtens unter anderem auch daran, dass viele Kritiker des Pflanzenschutzes - auch das haben wir heute wieder gehört - Begriffe wie „Pestizide“ und bösartige Worte, die negative Assoziationen hervorrufen sollen, verwenden. ({4}) Sie nehmen woanders auch nicht englische Begriffe. Wir sollten über Pflanzenschutzmittel sprechen. ({5}) Der Begriff „Pflanzenschutzmittel“ kommt der Sache viel näher als „Pestizid“. ({6}) Pflanzenschutzmittel haben die Aufgabe, Pflanzen vor Schädlingen, Krankheiten und Konkurrenzpflanzen zu schützen; sonst wären weder Ertrag noch Menge noch Qualität erreichbar. Sie werden zum Schutz gegen Krankheiten und Schädlinge eingesetzt. ({7}) - Ach, Frau Kollegin, Sie sind doch auch Agrarexpertin! ({8}) Letztlich geht es beim Pflanzenschutz darum, Ernteerträge zu sichern und die zum Teil erheblichen Ertragsverluste durch Pilzerkrankungen und Schädlinge zu verDr. Max Lehmer meiden. Es geht nicht immer darum, Erträge zu steigern, sondern darum, Schäden und Verluste zu minimieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Pflanzenschutzmittel leisten daher einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherung und durch die Erzeugung gesunder und befallsfreier Ernteprodukte auch zur gesunden Ernährung. Wichtig ist ein Fall, den ich Ihnen schildern möchte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, Herr Kollege, das wird jetzt nicht mehr gehen, weil wir schon deutlich über die vorgesehene Zeit sind. ({0})

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich fertig. Ein Beispiel sei mir noch erlaubt, Herr Präsident. - Es geht auch um die Bekämpfung humantoxischer Stoffe, wie sie zum Beispiel durch Fusarien, also Schimmelpilze, im Getreide gebildet werden. Schließlich haben wir durch eine MykotoxinHöchstmengenverordnung dazu beigetragen, die Menschen vor Schaden durch dieses natürliche Gift zu schützen. Dies zeigt, dass auch natürliche Gifte erhebliche Probleme mit sich bringen. Ein geordneter Pflanzenschutz, der Ökologie, Ökonomie und den Menschen schützt, ist unabdingbar. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ja. Das war in der Tat der Zuschlag, den ich auch anderen Kollegen einmal im Leben aus Anlass des 65. Geburtstages hiermit förmlich in Aussicht stelle. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/7671 ({1}), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/7317 und 17/7369 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalition angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/7671 ({2}) empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit erkennbarer Mehrheit angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7680. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mehrheitlich abgelehnt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt Voraussetzungen für die Einführung eines Mindestlohns schaffen - Drucksache 17/7483 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ({4}) - Dafür werden die Pflanzenschutzexperten offenkundig nicht alle benötigt. Vielleicht können wir den Personalwechsel zügig durchführen. ({5}) - Nein, es schadet überhaupt nicht. Im Gegenteil: Gerade der Blick aus einer anderen Perspektive tut dem Finden sachgerechter Lösungen meistens gut. ({6}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu gibt es offenkundig keine Meinungsverschiedenheit. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns entschieden, diesen Antrag hier und heute ins Plenum einzubringen, weil wir davon überzeugt sind, dass es nicht nur in der Gesellschaft eine riesengroße Mehr16544 heit für einen Mindestlohn gibt, sondern dass es diese Mehrheit in Wahrheit auch in diesem Parlament gibt. Es gibt eine Mehrheit dafür, Lohndumping zu stoppen und faire Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen. Wir haben ganz bewusst darauf verzichtet, in diesen Antrag Maximalforderungen zu schreiben. Wir betonen nicht das Trennende. Wir betonen die Gemeinsamkeiten, die sich herauskristallisiert haben. Wir haben deswegen auch darauf verzichtet, in unserem Antrag bereits die Höhe des Mindestlohnes festzulegen. Wir wollen, dass die Höhe des Mindestlohns von einer Mindestlohnkommission festgesetzt wird und dass diese Mindestlohnkommission bei der Festsetzung der Höhe des Mindestlohns auch die sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen berücksichtigt. Meine Damen und Herren von der Unionsfraktion, wenn ich Ihre Anträge für den Bundesparteitag, Ihre Stellungnahmen der letzten Tage und Wochen und das berücksichtige, was hier heute gesagt worden ist, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir selbst Sie mit unserem Antrag nicht überfordern. ({0}) Wo ist eigentlich Herr Weiß? Herr Weiß hat heute hier im Rahmen der Aktuellen Stunde nämlich gesagt, die CDU sei die Partei des Mindestlohnes. ({1}) Herr Weiß, jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen. ({2}) Sie können das unter Beweis stellen und zeigen, dass Sie nicht nur große Reden halten können, sondern dass Sie auch in der Lage sind, diesen Reden Taten folgen zu lassen und das in Ihrer Partei und Ihrer Fraktion auch durchzusetzen. ({3}) Ich sage Ihnen: Sie müssen sich jetzt einmal entscheiden, ({4}) ob Sie weiterhin wollen, dass 3,4 Millionen Menschen nach getaner Arbeit mit weniger als 7 Euro pro Stunde nach Hause gehen. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie Lohngerechtigkeit wirklich wollen, und zwar für alle, unabhängig davon, ob sie für Hungerlöhne aufgrund eines Tarifvertrages oder für Hungerlöhne außerhalb von Tarifverträgen arbeiten. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie weiterhin Lohndumping zulassen oder faire Wettbewerbsbedingungen durchsetzen wollen. Alle Umfragen zeigen, dass Sie von der Union unter einem erheblichen Beweisdruck stehen. Die Bevölkerung nimmt Ihnen Ihren Kursschwenk in Sachen Mindestlohn nämlich nicht ab. Sie müssen jetzt zeigen und können jetzt unter Beweis stellen, dass es Ihnen nicht einfach nur darum geht, politische Geländegewinne zu erzielen - mit der Zustimmung zu unserem Antrag können Sie diese Zweifel ausräumen -, sondern dass Sie auch die Menschen, die für Hungerlöhne arbeiten, im Blick haben. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist nach der Aktuellen Stunde das zweite Mal am heutigen Tage, dass wir über das Thema Mindestlohn sprechen. ({0}) Sie müssen damit leben: Wir halten uns an demokratische Spielregeln. Es ist normalerweise so, dass man erst auf einem Parteitag diskutiert und dann in ein Parlament geht, um dort Entscheidungen zu treffen. Vielleicht ist das bei Ihnen anders, aber wir machen das so, und wir freuen uns natürlich, dass die innerparteilichen Debatten in der Union bei Ihnen auf ein so großes Interesse stoßen. ({1}) Ich muss Sie allerdings ein bisschen aufklären. Vielleicht beschäftigen Sie sich nicht intensiv genug mit dem, was die Union bei diesem Thema umtreibt. Ein Blick in unser Grundsatzprogramm hilft. Ich möchte Ihnen gerne zwei Abschnitte daraus vorlesen, die ich Ihnen extra mitgebracht habe. ({2}) Der erste Abschnitt lautet: Unser Leitbild für Deutschland ist die Chancengesellschaft, in der die Bürger frei und sicher leben. ({3}) Sie steht für Respekt vor Leistung und Erfolg. Und wir wollen die soziale Verankerung in die gesellschaftliche Mitte auch für jene, die bisher davon ausgeschlossen sind. ({4}) Jetzt können Sie aufschreien und sagen: Super, genau deswegen muss die Union jetzt ja für einen gesetzlichen Mindestlohn sein. ({5}) So einfach ist es nicht. Sie werden es nicht erleben, dass die Union in einen Bieterwettstreit um den möglichst höchsten gesetzlichen Mindestlohn eintritt, nach dem Motto: Immer zweimal mehr als du. ({6}) Das ist keine Lösung für die Probleme. Dass wir das so sehen, liegt an einem weiteren Satz, den Sie so wahrscheinlich in der Tat nur in unserem Parteiprogramm und nicht in Ihrem finden. Er lautet: Die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen bewahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren, und zeigt uns die Grenzen der Politik auf. Genau das tun Sie beim Thema Mindestlohn natürlich seit langer, langer Zeit. Sie ideologisieren ({7}) und verschieben die Grenzen der Politik in einen Bereich, in dem wir uns tunlichst zurückhalten sollten; denn auch das ist eben eine Lehre aus den ersten 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland: Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft ist maßgeblich auf der Grundlage der Tarifautonomie aufgebaut worden. Da hat sich die Politik aus dem einen oder anderen herauszuhalten. ({8}) Ludwig Erhard hat recht. Er hat einmal den schönen Satz gesagt: Die Sozialdemokraten habe ich schon 1948 als Nachtwächter bezeichnet. Sie sind es bis zum heutigen Tage geblieben. - Das gilt unverändert fort, denn nachdem 1987 - hören Sie gut zu; ich glaube, das hat Ihnen der Kollege Weiß heute auch schon erklärt - der erste branchenspezifische Mindestlohn eingeführt worden ist, sind seitdem zehn weitere Branchen gefolgt. Und man höre und staune: Jedes Mal war ein Christdemokrat Bundeskanzler. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Deswegen brauchen wir da keine Nachhilfe. ({9}) Jetzt kann man fragen: Was haben Sie eigentlich gemacht? Auch Sie haben einmal regiert. ({10}) - Auch mit uns zusammen. - Dabei haben wir mit einer christdemokratischen Kanzlerin den einen oder anderen branchenspezifischen Mindestlohn eingeführt. ({11}) Sie haben in Ihrer Regierungszeit andere Dinge gemacht. Sie haben auch ohne Mindestlohn 5 Millionen Arbeitslose erreicht. Sie haben Griechenland in die Euro-Gruppe aufgenommen. Sie haben die MaastrichtKriterien verletzt. Sie haben ein Körperschaftsteuergesetz geschaffen, bei dem die Konzerne Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen in Brasilien oder in Großkrotzenburg hatten. ({12}) Sie haben am Ende ein Finanzmarktförderungsgesetz beschlossen, anstatt sich um das zu kümmern, was Sie jetzt einfordern. Ich möchte einmal das vorlesen, was Franz Müntefering damals gesagt hat. Er hat zum Beispiel erklärt, es sei darauf zu achten, dass unnötige Belastungen für die Unternehmen der Finanzdienstleistungsindustrie vermieden werden. Regulierung sei kein Selbstzweck. Die Bundesregierung solle weitere Maßnahmen zur Schaffung eines leistungsfähigeren, international wettbewerbsfähigen Verbriefungsmarktes prüfen. Und Sie haben Derivate, Hedgefonds etc. zugelassen. ({13}) Dass Sie bei diesen politischen Entscheidungen keine Zeit hatten, einen branchenspezifischen oder gar einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, das mag Ihnen nachgesehen werden. Sie hatten in der Tat ein volles Arbeitsprogramm. Aber uns hier vorzuwerfen, wir seien untätig gewesen, das schlägt dem Fass den Boden aus. ({14}) - Nein, das sind wir eben nicht. - Wir haben elf branchenspezifische Mindestlöhne eingeführt. Wir reden jetzt darüber, eine Lohnuntergrenze dort einzuführen, wo es keinen tariflichen Lohn gibt. ({15}) - Für Sie reicht es intellektuell immer noch, Frau Kollegin. Ganz ehrlich: Diese Bemerkung kann ich mir nach diesem Zwischenruf nicht verkneifen. ({16}) - Herr Heil, auch da gilt das, was ich Ihrer Kollegin gestern gesagt habe: Wer schreit, hat unrecht. ({17}) Sie können sich zu einer Zwischenfrage melden. Sie können weiter toben. Aber trotzdem werde ich mich nicht auf Ihr Niveau in der Debatte herablassen. Da können Sie ruhig weiterschreien. ({18}) Es bleibt dabei: Wir haben elf branchenspezifische Mindestlöhne eingeführt. Wir streiten für eine Lohnuntergrenze, die genau dies leisten soll. Dass sich die Tarif16546 partner, also starke Gewerkschaften gemeinsam mit Unternehmern, die sozialverantwortlich handeln, darauf verständigen, das ist soziale Marktwirtschaft. ({19}) Wir brauchen beide Seiten: starke Gewerkschaften und sozialverantwortlich handelnde Unternehmer. Das hat in der Vergangenheit gut funktioniert. Diese gesellschaftlichen Kräfte müssen wir stärken. Wir dürfen nicht glauben, dass wir das in einem Bieterwettbewerb in der Politik besser machen. Dabei bleibt es. Das werden Sie am Montag und am Dienstag auf dem Bundesparteitag der Union mitverfolgen können. ({20}) Ich lade Sie dazu herzlich ein. Der Lerneffekt kommt manchmal bei der Wiederholung. ({21}) Insofern ist es gut, dass Sie zugehört haben. Herzlichen Dank. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gabriele Lösekrug-Möller ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele im Bundestag kennen das Struck’sche Gesetz. Das heißt: Kein Gesetz verlässt das Parlament so, wie es eingebracht wurde. Dieses Gesetz zeigt, wie kraftvoll ein Parlament ist. Kennen Sie das Merkel’sche Gesetz? Es lautet: Je vehementer etwas abgelehnt wird, desto sicherer kommt es dann. Das haben wir beim Atomausstieg gesehen. Das haben wir bei der Abschaffung der Wehrpflicht erlebt. Auch beim Schuldenschnitt für Griechenland kam dieses Gesetz zum Tragen. ({0}) Ich frage Sie: Wie lange müssen wir jetzt warten, bis das Merkel’sche Gesetz in Sachen Mindestlohn kommt? Ich sage Ihnen: Jeder Tag, der untätig vergeht, ist ein verlorener Tag für 1,6 Millionen Menschen, die hart arbeiten, vollschichtig erwerbstätig sind und trotzdem am Ende nicht von ihrer Hände Arbeit leben können. Sie finden nicht, dass es ein Witz ist, wenn der Kollege Weiß heute sagt: „Mindestlöhne sind das Markenzeichen der CDU.“ Herr Kollege Weiß, darüber mögen Sie lachen können und sich freuen. Die Menschen, die am Ende des Monats nicht genug Geld haben, empören sich darüber. Denn sie fühlen sich in ihrer Lebenssituation nicht verstanden. ({1}) Sie haben die Hoffnung, dass ihnen bei dem Schauspiel, das gerade anfängt, in der nächsten Woche in Leipzig Hilfe zuteilwird. Wir können ihnen heute schon sagen: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Aller Wahrscheinlichkeit kommt nichts dabei heraus. Herr Tauber, hatten nicht auch Sie kürzlich Post vom DGB? Ich habe einen Brief vom DGB bekommen mit der herzlichen Bitte, ganz dringend für einen gesetzlichen Mindestlohn zu sorgen. Das sieht nicht nur der DGB so, sondern auch die Einzelgewerkschaften sehen es so. Sie halten das für unverzichtbar und sagen: Es hilft unserer Tarifpolitik, wenn es den gesetzlichen Mindestlohn gibt. Wenn Sie meinen, dass Sie an der Seite der Tarifvertragsparteien stehen, sollten Sie aufpassen, dass Sie nicht in Kürze ganz allein dastehen. Das sieht nämlich gar nicht gut aus, und es hilft auch den Menschen nicht. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Lösekrug-Möller, darf der Kollege Weiß Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Immer gern.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Lösekrug-Möller, es gibt zwei Arten von Politik: Bei der einen redet man einfach viel, ({0}) und bei der anderen handelt man. Können Sie mir bestätigen, dass wir in Deutschland auf Vorschlag der Tarifpartner mittlerweile in zehn Branchen Mindestlohnregelungen haben, ({1}) dass diese zehn Mindestlöhne für über 4 Millionen Beschäftigte in Deutschland allesamt unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl und Angela Merkel in Kraft gesetzt worden sind und dass unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder kein einziger Mindestlohn in Kraft gesetzt worden ist und somit in der Kanzlerschaft eines sozialdemokratischen Kanzlers, um mit Ihren Worten zu sprechen, eine besondere Zuneigung zu Menschen im Niedriglohnbereich offensichtlich nicht geherrscht hat? ({2})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darauf antworte ich Ihnen besonders gerne, Herr Kollege Weiß. Denn wir haben viel gemeinsame Zeit im Fachausschuss verbracht, und meine Antwort lautet: Es gibt nur eine gute Politik, und zwar die, bei der Wort und Tat zusammenfallen. Das vermisse ich bei der CDU/ CSU. ({0}) Wir haben all diese Lösungen organisiert - hören Sie mir schön zu! -, weil es mit Ihnen nicht möglich war, einen gesetzlichen Mindestlohn durchzubringen. ({1}) Zur Wahrheit gehört doch, dass Sie sich über Jahre hinweg hinterher die Zähne geputzt haben, wenn Sie das Wort „Mindestlohn“ in den Mund nehmen mussten. Wir sind zum Glück ein Stückchen weiter und sagen: Ja, wir wollen jede Hilfe geben, die möglich ist. Mehr war nicht drin. Wir sagen: Das reicht uns nicht. Auch die Gewerkschaften sagen: Das war in Ordnung, aber wir wollen mehr. Das wollen wir mit der Mehrheit in Deutschland. Ich bin fertig mit der Beantwortung der Frage. ({2}) - Falsch. Sie haben die Chance, das im Protokoll nachzulesen. Dann werden Sie sehen, dass ich Ihnen sehr korrekt geantwortet habe. Ich wünsche mir, dass auch bei Ihnen Handeln und Reden zusammenfallen. Denn das haben die vielen Menschen, die immer noch auf einen ordentlichen Lohn warten, verdient. Es reicht nicht aus, wenn man Tarifabschlüsse mit Löhnen hat, die unter dem liegen, was zum Leben reicht. Wir haben heute Morgen lange darüber diskutiert. Auch diesen Menschen wollen wir helfen. Sie würden nämlich nicht mit der Lösung klarkommen, die Sie vorschlagen. ({3}) Sie müssen bei der Wahrheit bleiben: Am Ende wäre Ihr Vorschlag ein Flickenteppich. Damit könnte man noch leben, auch wenn Herr Laumann sagt, 500 Lohnuntergrenzen seien ein bisschen viel. Ich stehe sehr an seiner Seite. Aber das Allerschlimmste ist: Der Flickenteppich hätte riesengroße Löcher. Das wollen wir in der Tat nicht hinnehmen. Es ist erwiesen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn gut für Deutschland insgesamt ist. Deshalb finden wir den Antrag der Grünen, den wir jetzt diskutieren, ausgezeichnet. Das ist errechnet worden. Frau Kramme hat das heute Morgen im Plenum belegt. Es ist interessant, dass das Ministerium seit August auf Evaluierungsergebnissen zu jenen Mindestlöhnen hockt, die wir immerhin zustande gebracht haben; denn das waren nicht Sie allein, Herr Weiß, und auch nicht die CDU/CSU allein. Das Ergebnis dieser Evaluierung ist: Mindestlohn ist grundsätzlich richtig. Interessant ist, dass diese Ergebnisse uns als Parlament bis heute nicht vorliegen. Es gab ein unglaubliches Geeiere vom Staatssekretär Brauksiepe, der gerade diesen Saal betritt. Wir haben eine Ausschusssitzung erlebt, in der es wirklich bitter zuging, nach dem Motto: Die Endfassung muss noch bearbeitet werden. - Wahrscheinlich bekommen wir das Ergebnis nach dem Bundesparteitag der CDU. Wir würden uns gar nicht wundern, wenn das Ganze auf einmal zusammenpasst. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute Beschlüsse in Leipzig und den Menschen in Deutschland endlich einen gesetzlichen Mindestlohn. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Pothmer, auch ich danke Ihnen, dass wir dieselbe Debatte am gleichen Tag jetzt das zweite Mal führen dürfen. ({0}) Das ist eine ganz gute Gelegenheit, sich einmal anzuschauen, wie Sie sich das vorstellen. Vielleicht erkennt man dann auch, dass die Befürchtungen, die wir haben, gerechtfertigt sind. Ich will erst einmal an die Grundlage dieser Debatte erinnern; denn sie geht bei den Diskussionen unter den Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikern immer unter. Wir reden gerne über das deutsche Jobwunder. Darüber freuen Sie sich hoffentlich genauso wie wir: unter 3 Millionen Arbeitslose, eine extrem niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Die Frage ist ja: Kommt das von allein zustande, oder hat das Gründe? ({1}) - Nein. - Das hat natürlich Gründe, und zwar drei: Klar, wir haben enorme, innovative, wettbewerbsfähige Unternehmen in Deutschland. Ja, wir haben einen flexiblen Arbeitsmarkt. Bei vielen anderen Debatten wird deutlich: Sie wollen gerne zurückdrehen, was Sie einmal erreicht haben. Darüber streiten wir gerne: über Befristungen, über andere Möglichkeiten der Flexibilisierung. Wenn Sie etwa die Zeitarbeitsregelungen kaputtmachen wollen, dann wollen Sie das kaputtmachen, was durch mehr Flexibilität erreicht worden ist. Aber zum Erfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt gehört eben auch die Tarifautonomie. Dazu gehört eben auch, dass in Deutschland Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Löhne vereinbaren. Und das ist gut so. Wenn man die Tarifautonomie achtet, dann kann man, glaube ich, in Anerkennung, dass es in einzelnen Branchen und in einzelnen Unternehmen natürlich Lohnprobleme gibt, Johannes Vogel ({2}) die auch wir nicht wollen, nur zu dem Ergebnis kommen: Wir gehen dreistufig vor. Der Regelfall ist: Die Tarifpartner bringen die Lohnfestsetzung ganz gut ohne die Politik zustande. Wenn die Tarifpartner einer Branche zu dem Ergebnis kommen, sie wollen einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt haben, dann ist das möglich. Der Kollege Weiß führt das immer wieder gerne aus - der Kollege Kolb hat daran schon in den 90er-Jahren mitgewirkt -: Dann werden Branchentarifverträge in der untersten Lohngruppe für allgemeinverbindlich erklärt. ({3}) Dies haben wir in dieser Legislaturperiode schon in vielen Branchen gemacht. Nächster Schritt: Selbst wenn es dann noch Probleme geben sollte, gibt es die letzte Auffanglinie - das Mindestarbeitsbedingungengesetz. Das heißt, in Summe gibt es keinen Grund, diese Betrachtung, die im Kern heißt: „Die Lohnfindung liegt in der Hand der Tarifpartner und nicht hier im Deutschen Bundestag“, zu verlassen. ({4}) - Ich gehe auf Ihren Antrag gleich noch ein, Frau Kollegin Pothmer. Hier wird immer wieder auf die Evaluation der Branchenmindestlöhne verwiesen. ({5}) Ich will noch einmal festhalten: Diese Evaluation muss von der Bundesregierung nicht vorgelegt werden; vielmehr haben die Koalitionsfraktionen die Regierung aufgefordert, sie vorzulegen. ({6}) Deswegen gibt es auch keine Frist, bis zu der sie erscheint. Wir werden sie in den nächsten Wochen noch ausführlich diskutieren. Sie zitieren immer wieder aus den vorläufigen Ergebnissen, die in der Presse schon kursieren. Selbst bei diesen vorläufigen Ergebnissen ist eines klar - das erwarte ich auch -: Es ist überraschenderweise nicht alles schlecht, was wir gemacht haben. Noch etwas ist klar: Die Ergebnisse werden differenziert sein. Dann müssen aber auch die Lösungen differenziert sein. Warum Sie aus einer Evaluation von Branchenmindestlöhnen - die Tarifpartner haben die Lohnhöhe festgelegt - ableiten, wir könnten jetzt eine allgemeine Lohnuntergrenze für ganz Deutschland, für alle Branchen, für alle Altersgruppen festlegen, das werden Sie mir noch erklären müssen. ({7}) Den Grund kann ich nicht erkennen. Ich glaube, das wird auch aus den Ergebnissen nicht abzuleiten sein. Aber warten wir ab, bis sie vorliegen; dann können wir sie in Ruhe diskutieren. Sie wollen aber eine allgemeine Grenze; das schreiben Sie auch ganz offen. Weil darüber nicht der Bundestag entscheiden soll, verkünden Sie seit, glaube ich, zwei Jahren die Umwegkonstruktion, das Ganze werde in einer unabhängigen Kommission behandelt. ({8}) - Herr Kurth, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen: sehr gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gut. - Bitte schön, Herr Kurth. Sie dürfen eine Zwischenfrage stellen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe kurz auf meine Redezeit gesehen. Es ist mir daher sogar sehr lieb, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Vogel, Sie sagen, Sie könnten den Sinn einer allgemeinen Lohnuntergrenze nicht erkennen. Stimmen Sie mir zu, dass die Einschätzung Ihres Parteikollegen Pascal Kober, der auch hier sitzt, zutrifft, der - so wird er zumindest in der Welt von heute zitiert - sagte: Unternehmen zahlen Niedrigstlöhne und wälzen ihre Kosten so auf Steuer- und Beitragszahler ab. Meinen Sie nicht, dass das ein hinreichender Grund ist, eine allgemeine Untergrenze einzuführen? ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kurth, sowohl der Kollege Kolb als auch ich haben Ihnen heute Morgen schon gesagt: Was wir nicht wollen, ist, dass Unternehmer niedrigere Löhne zahlen als sie könnten. Niemand von uns wünscht sich niedrige Löhne. Nur, zur Wahrheit, Herr Kurth, gehört - auch das haben wir heute Morgen nicht zum ersten Mal hinlänglich diskutiert -: Zu niedrige Löhne, also Löhne, von denen die Menschen nicht leben können, müssen ja Löhne sein, zu denen die Menschen ergänzende Hartz-IV-Leistungen bekommen. Das betrifft in Deutschland 300 000 Menschen, die Vollzeit arbeiten. Die weit überwiegende Zahl dieser Menschen stockt doch nicht wegen der Lohnhöhe auf, sondern weil sie eine große Familie haben. Wir können das gerne hundertmal diskutieren. Wir glauben, dass es eine sozialpolitische Errungenschaft ist, dass Familien unterstützt werden. Sie machen daraus ein Problem der Lohnhöhe. Das ist es aber nicht. Es gibt nur wenige schwarze Schafe unter den Unternehmern, die zu niedrige Löhne zahlen. Dafür müssen wir eine Lösung finden. Johannes Vogel ({0}) ({1}) Das ist genau das, was ich eben beschrieben habe. Nur, es muss doch eine Lösung sein, mit der das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird und gleich die ganzen Grundlagen der deutschen Tarifautonomie aufgegeben werden. ({2}) Deswegen kann es nur die dreistufige Lösung geben. Wenn die Tarifpartner das selber hinbekommen, besteht kein Handlungsbedarf. Wenn die Tarifpartner keine Einigung erzielen, können wir Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären - das haben wir in großer Zahl getan -, und als letzte Möglichkeit haben wir das Mindestarbeitsbedingungengesetz. Die Frage ist, warum es, wie Sie sagen, etwas darüber hinaus geben muss. Damit sind wir bei einer allgemeinen Lohnuntergrenze. Ich kann aus Ihren Anträgen der letzten Jahre nur schließen, dass Sie selber erkennen, dass dann, wenn die Politik das in der Hand hätte, wir ganz schnell einen Überbietungswettbewerb bezüglich der Lohnhöhe hätten. Dann wären wir ganz schnell in der Situation wie in anderen Ländern, in denen die Löhne so hoch sind, dass sie die Chancen der Menschen, einen Arbeitsplatz zu bekommen oder den Arbeitsplatz zu behalten, zerstören. Genau das wollen wir nicht. Ich erkenne an, Frau Kollegin Pothmer, dass Sie sich für eine unabhängige Kommission aussprechen. ({3}) Das habe ich gelesen. Wir sollten immer lesen, was wir uns gegenseitig vorschlagen. Nur, seit zwei Jahren schlagen alle drei Fraktionen, die für den Mindestlohn sind, die Einrichtung einer unabhängigen Kommission vor. ({4}) - Damals war ich noch nicht dabei. Ich erkenne gerne an: die Grünen schon seit fünf Jahren. - Das Problem ist: Sie wollen, dass diese von der Politik unabhängige Kommission bei der Festlegung der Mindestlohnhöhe eine bestimmte Grenze nicht unterschreitet. Sie von den Grünen nennen als Betrag 7,50 Euro, ({5}) Sie von der SPD aktuell 8,50 Euro und Sie von den Linken 10 Euro. Eine Kommission, der von der Politik vorgegeben wird, wie hoch der Lohn zu sein hat, ist alles andere als unabhängig. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, möchten Sie eine weitere Zwischenfrage beantworten, und zwar vom Kollegen Birkwald?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Vogel, dass Sie die Frage zulassen. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die drei Oppositionsfraktionen den Vorschlag gemacht haben, eine unabhängige Kommission für die Festlegung der Steigerungsraten des Mindestlohns einzusetzen, dass dieses Verfahren genauso in Großbritannien eingeführt worden ist, wo die Low Pay Commission einen Vorschlag für die Steigerungen vorlegt, und dass die Einführung des Mindestlohns selbst aber politisch festgesetzt worden ist?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kenne das Modell in Großbritannien gut. Darauf beziehen Sie sich in der Tat immer wieder. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass die Kommission in Großbritannien nicht nur die Steigerungen festlegt, sondern auch die Einstiegshöhe. Der Mindestlohn in Großbritannien gilt übrigens nicht für junge Menschen, ganz bewusst nicht. Also, es gibt dort keine allgemeine, alles übergreifende Lohnuntergrenze. Der Mindestlohn in Großbritannien ist zudem in der wirtschaftlichen Boomphase eingeführt worden und erlebt jetzt die erste Krise, interessanterweise ist die Arbeitslosigkeit in Großbritannien heute deutlich höher als in Deutschland; das wünschen wir uns wohl nicht. Großbritannien hat zudem keine vergleichbare Tradition bei der Tarifautonomie. Großbritannien hat zudem viel weniger starke Tarifpartner, die Flächentarifverträge festlegen. Die Frage ist doch - das habe ich bereits in der Aktuellen Stunde ausgeführt -: Wollen wir diese Tradition der Tarifpartner beibehalten oder nicht? ({0}) Wenn Sie den Tarifpartnern die Lohnfindung entziehen, wenn Sie sagen, dass die Lohnfindung nicht mehr in erster Linie die Aufgabe der Tarifpartner ist, dann werden Sie die Tradition der deutschen Tarifautonomie schwächen. Davon bin ich fest überzeugt. Frau Kollegin Pothmer, ich erkenne natürlich an, dass Sie das alles jetzt weggelassen haben. Ich muss allerdings dazusagen, dass das nicht besonders glaubwürdig ist. Sie legen uns seit zwei Jahren Anträge zur Höhe des Mindestlohns vor und verlieren nun kein Wort darüber. In der Begründung verweisen Sie aber auf Ihren eigenen Gesetzentwurf, der einen Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro vorsieht, sowie auf die Gesetzentwürfe der anderen Oppositionsfraktionen, die andere Lohnvorgaben machen. Darüber hinaus schreiben Sie, dass Sie einen mehrheitsfähigen Gesetzentwurf der Bundesregierung verlangen, auch was die Lohnhöhe angeht. Johannes Vogel ({1}) ({2}) Liebe Frau Pothmer, damit haben Sie sich von dem Gedanken, dass die Politik bestimmen soll, welcher Lohn akzeptabel ist und welcher nicht, noch gar nicht verabschiedet. Das zeigt, dass mit Ihnen - selbst dann, wenn man es wollte - kein überparteilicher Konsens über eine unabhängige Kommission zu erzielen wäre. Vielmehr wäre die Lohnfindung wieder da, wohin sie nicht gehört, nämlich hier im Deutschen Bundestag, also auch bei Ihnen und bei den Kollegen von der Linken. Da wollen wir sie im Interesse der arbeitenden und arbeitsuchenden Menschen in diesem Land nicht haben. ({3}) Deswegen - und weil Sie die Tarifautonomie damit kaputtmachen - kommt für die Koalitionsfraktionen in Summe eine Zustimmung zu Ihrem Antrag leider nicht infrage. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Schlecht ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Gewerkschaften und die Linke wollen den Mindestlohn mit einem festen Betrag per Gesetz einführen. Die Gewerkschaften wollen 8,50 Euro. Meine Gewerkschaft Verdi sagt mittlerweile dazu, dass in schnellen Schritten 10 Euro kommen sollen, ({0}) und 10 Euro sind auch der Betrag, den die Linke als gesetzlichen Mindestlohn möglichst unverzüglich in diesem Lande politisch festsetzen will. ({1}) Jetzt erleben wir plötzlich seit ein oder zwei Wochen, dass die CDU und - seit dem Antrag, der hier zur Debatte steht - auch die Grünen in trauter Eintracht diese Startmarke nicht mehr selbstständig hier im Parlament politisch setzen wollen, sondern dass für die Ermittlung eines Startmindestlohns eine Kommission eingesetzt werden soll. ({2}) Nach Auffassung von Gewerkschaften und uns sollte eine solche Kommission nach einem politisch festgesetzten Startmindestlohn nur Vorschläge für weitere Steigerungen machen. Diese Kommission wird nun in Ihrem Konzept missbraucht, den Startmindestlohn festzusetzen. In dieser Kommission sollen die Tarifvertragsparteien das Ganze aushandeln. ({3}) Ich sage Ihnen ganz deutlich: So etwas kann sich nur jemand ausdenken, der von der Tarifwirklichkeit keine Ahnung hat oder der die Öffentlichkeit über seine Vorhaben bewusst täuschen will. ({4}) Mit der Agenda 2010, die SPD und Grüne 2003 unter Applaus der rechten Seite beschlossen haben, ist der Tarifautonomie ein schwerer Schlag versetzt worden; zum Teil ist sie sogar zerstört worden. Wenn immer mehr Menschen befristet arbeiten und um die Verlängerung zittern, wenn immer mehr Menschen nur einen Leiharbeitsjob haben, wenn vor allem immer mehr Frauen in Minijobs die Arbeitswelt nur noch in einer zerstückelten Weise erleben, dann ist das eine Situation, in der es für die betroffenen Menschen sehr schwierig ist, sich zu wehren und gewerkschaftlich zu organisieren. Das verdeutlicht, dass die anderen vier Parteien, diese ganz große Koalition, im letzten Jahrzehnt die gewerkschaftliche Handlungsmacht für die Durchsetzung gerechter Arbeitsbedingungen und gerechter Löhne durch die Agenda 2010 massiv beschädigt und zerstört haben. Das ist der Sachverhalt. ({5}) Hinzu kommt die allgegenwärtige Angst vor dem Absturz in Hartz IV, die wie eine disziplinierende Peitsche über den Köpfen vieler kreist und die die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zusätzlich eingeschränkt hat. Vor diesem Hintergrund ist es wirklich schon eine Infamie, zu sagen: Jetzt sollen doch die Tarifvertragsparteien den Startmindestlohn festsetzen. - Den Schwarzen Peter den Tarifvertragsparteien zuzuschieben, ist bildlich gesprochen so, als würde man jemandem die Beine brechen und dann von ihm verlangen, 100 Meter in 10 Sekunden zu laufen. Das ist natürlich vollkommen abenteuerlich und zeigt nur Ihre Geisteshaltung: Sie wollen im Grunde genommen gar keinen Mindestlohn bzw. eine Lohnuntergrenze. ({6}) - Sie kennen die Wirklichkeit nicht. Das ist das Problem. ({7}) Wenn CDU und Grüne jetzt Krokodilstränen ob des Schicksals der Hunger- und Niedriglöhner vergießen und die Einrichtung einer Kommission fordern, ({8}) dann ist das im Grunde genommen nichts anderes als ein fauler Trick, mit dem man den Eindruck zu erwecken versucht, man wolle eine Lohnuntergrenze, man wolle einen Mindestlohn durchsetzen; aber in Wirklichkeit wird hier nur eine riesengroße Nebelkerze geworfen. Dass in Anbetracht der Not der Menschen - diese ist ja in diesem Hause heute weidlich dargestellt worden - mit einer solchen Nebelkerze operiert wird, ist wirklich eine Schweinerei. Damit werden die Menschen, die unter Hungerlöhnen und den Verhältnissen leiden, auch noch verhöhnt. Danke schön. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mindestlohn, die Zweite - so könnte man das heute nennen. Ich habe mich gefragt, welchen Erkenntnisgewinn wir heute Nachmittag erzielen werden. Mich erinnert das hier so ein bisschen an eine nachmittägliche Schulstunde zur Wiederholung. Sie, Herr Schlecht, nehme ich allerdings aus; denn das, was Sie da gerade vorgebracht haben, war einfach unterirdisch. ({0}) Da muss ich sogar der Kollegin Pothmer zur Seite springen. Ich habe den Antrag der Grünen gelesen. Man kann da sicherlich über vieles diskutieren. Aber dass wir jetzt gemeinsam in einen Topf geworfen werden, finde ich wirklich bemerkenswert. Das schafft wirklich nur die Linke. ({1}) Ja, die Grünen haben sich von ihrem ursprünglichen Plan, einen staatlichen Mindestlohn festzulegen, ein wenig wegbewegt und sich dem System einer Lohnuntergrenze genähert. Ich nehme einmal an, dass Sie eine Anleihe bei § 5 Tarifvertragsgesetz gemacht haben und diesen analog anwenden wollen, um hier irgendwo Boden zu finden. Ich möchte zunächst festhalten, nachdem vorhin etwas hart diskutiert wurde, dass es die Union war, die die Branchenmindestlöhne äußerst erfolgreich eingeführt hat. Wort und Tat haben bei der Union - da muss ich dem Kollegen Weiß recht geben - über die Jahrzehnte sozialer Marktwirtschaft zusammengepasst. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Nachhilfe in diesem Bereich brauchen wir von Ihnen nicht. Wir haben von Rot-Grün einen Scherbenhaufen in Form von 5 Millionen Arbeitslosen übernommen. Seitdem die christlich-liberale Koalition unter Angela Merkel regiert, reparieren wir eine arbeitsrechtliche bzw. arbeitsmarktpolitische Baustelle nach der anderen. Ich nenne als Beispiel für den Themenkomplex Zeitarbeit nur den Fall Schlecker mit dem Drehtüreffekt. All die Missstände, die die Koalition zu beseitigen versprochen hat, hat diese Koalition in den letzten zwei Jahren angepackt und alles solide, auf verfassungsmäßiger Grundlage zu einem guten und seriösen Ende gebracht. Das bitte ich in der jetzigen Diskussion um Einführung einer Lohnuntergrenze in die Überlegungen einzubeziehen. ({3}) Ich will nicht zum fünften Mal auf die Agenda 2010 eingehen. Ich bleibe allerdings dabei: Sie war in vielen Punkten nicht falsch, auch wenn Sie heute davon nichts mehr hören wollen. Aber den Mindestlohn, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, haben Sie damals nicht eingeführt. Dass wir - auch darauf ist heute schon mehrfach eingegangen worden - seit Ludwig Erhard die soziale Marktwirtschaft stringent fortentwickelt haben, möchte ich am Beispiel eines Gesetzes deutlich machen. Wieso leuchtet der Präsident?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Weil der Kollege Schlecht Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen möchte und ich Sie fragen muss, ob Sie diese zulassen wollen.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das machen wir danach.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Was heißt „danach“?

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich muss meine Redezeit heute nicht unnötig verlängern. Wenn er danach intervenieren will, kann er das tun. Dann antworte ich oder auch nicht; jetzt mache ich weiter. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gut.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben heute lange genug über das Thema gesprochen. 1952 wurde unter Ludwig Erhard das Mindestarbeitsbedingungengesetz eingeführt, und seitdem haben wir die soziale Marktwirtschaft stringent weiterentwickelt. Heute diskutieren wir über Lösungen in tariffernen Bereichen, weil auch wir natürlich erkennen, dass es Tarifflucht gibt, dass es Branchen gibt, in denen die Tarifpartnerschaft nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen. Das heißt aber nicht - das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen -, dass wir den Grundsatz der Tarifautonomie auch nur im Geringsten aufzuweichen oder gar aufzugeben gedenken. Die Allgemeinverbindlichkeit - das ist auch vom Kollegen Vogel schon angesprochen worden - war bisher ein sehr gutes und sehr schlüssiges Mittel, Mindestlöhne und tarifliche Bedingungen festzuschreiben. Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es überwiegend christlich-liberale Regierungen waren, die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt haben. Also tun wir bitte heute nicht so, als ob das alles neu und quasi eine Erfindung aus irgendeiner Richtung wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Union wird eine ernste und an den Werten unserer sozialen Marktwirtschaft orientierte Debatte geführt, die berücksichtigt und berücksichtigen muss, dass zum Beispiel ein flexibler Arbeitsmarkt als Motor und als wesentliches Erfolgsrezept unseres Jobwunders, unseres Wirtschaftswunders erhalten bleiben muss. Geringe Jugendarbeitslosigkeit und weniger als 3 Millionen Arbeitslose insgesamt - das sind Erfolge, die wir nicht durch fahrlässige Diskussionen in Gefahr bringen dürfen. Unnötige staatliche Eingriffe in die Lohnfindung gefährden die Tarifautonomie. Politik darf Löhne nicht diktieren. Die Lohnfindung ist zunächst Aufgabe der Tarifpartner. Nur dort, wo eine Nachjustierung notwendig ist, soll und darf die Politik eingreifen. Ich sage ganz deutlich: Wir werden nicht mitmachen bei einer billigen Mindestlohnwahldemokratie nach dem Motto „Wer bietet mehr?“. ({0}) Wir sind für soziale Marktwirtschaft mit fairen Löhnen. Das ist wirklich christlich-sozial. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht das Wort.

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke. - Sie haben sich unverständig gezeigt, warum ich die Grünen plötzlich an Ihrer Seite sehe. Haben Sie den Antrag der Grünen denn nicht gelesen? Dort heißt es: Die Mindestlohnhöhe wird durch eine unabhängige Kommission festgelegt. Das ist im Prinzip O-Ton mindestens der Sozialausschüsse. Die Kommission setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Wissenschaft zusammen. Da erkenne ich höchstens die Differenz, dass hier auch die Wissenschaft vertreten sein soll, was bei der CDU/ CSU nicht der Fall ist. Aber das ist, glaube ich, eine zu vernachlässigende Größe. Im vierten Punkt wird ausgeführt, dass der von der Kommission beschlossene Mindestlohn durch eine von der Bundesregierung zu erlassende Rechtsverordnung wirksam wird. Auch das ist Originalton der Sozialausschüsse. Zudem verweigert man sich im Antrag der Grünen genau wie bei Ihnen generell, irgendeine Zahl und einen Mindestlohnbetrag als Startmarke zu nennen. Von daher verstehe ich nicht, weshalb Sie so unverständig sind, wenn ich sage, dass die Grünen an Ihre Seite getreten sind. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schlecht, diese Frage hätten Sie vielleicht besser der Kollegin Pothmer gestellt. Was wir immer gesagt haben - dazu steht diese Koalition weiterhin -, ist, dass es keine staatlich festgesetzten Mindestlöhne in einer bestimmten Höhe geben wird. Punkt 4 des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, den Sie gerade zitiert haben, beinhaltet im Endeffekt nichts anderes als das, was ich angesprochen habe. Diese Formulierung lehnt sich an § 5 des Tarifvertragsgesetzes, also an die Allgemeinverbindlichkeit, an. Daher, Herr Kollege Schlecht, kann man sagen, dass diese Forderung zum größten Teil schon heute durch das Gesetz erfüllt wird. Danke schön.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe selten eine Debatte erlebt, in der so viel geheuchelt worden ist wie in dieser Debatte. ({0}) Es geht los bei der FDP, die sich jetzt zum Sachwalter der Tarifautonomie aufspielt. ({1}) Das ist schon eine groteske Veranstaltung. ({2}) Ich sehe, dass Ihr früherer Parteivorsitzender, Herr Westerwelle, anwesend ist, der vor wenigen Jahren die Gewerkschaften als die größte Plage der Bundesrepublik bezeichnet hat. ({3}) Jetzt erklären Sie sich zum Sachwalter der Tarifautonomie. ({4}) Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Gewerkschaften unisono einen allgemeinen Mindestlohn, eine Lohnuntergrenze fordern. Die Gewerkschaften weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der gegenwärtige Zustand das gesamte Tarifgefüge quer durch alle Bereiche erschüttert. Sie wissen, dass wir etwa mit dem Bundesurlaubsgesetz und dem Bundesarbeitszeitgesetz Regelungsfelder haben, in denen der Gesetzgeber Rahmenbedingungen formuliert, die nicht unterschritten werden dürfen und die durch die Tarifparteien ausgefüllt werden sollen. Das funktioniert in Deutschland seit Jahrzehnten ganz hervorragend. Warum soll dies ausgerechnet bei den Tarifen nicht funktionieren, wo es doch in anderen Regelungsfeldern, wie gesagt, gute Ergebnisse gezeitigt hat? Die zweite Bemerkung geht an die Adresse des Kollegen Weiß. Der Kollege Weiß hat heute eine Formulierung gebraucht, die mich fast umhaut. Er hat nämlich gesagt, dass das Markenzeichen der Union der Mindestlohn ist. ({5}) Das hat er wirklich gesagt. Herr Kollege Weiß, nicht der Mindestlohn ist das Markenzeichen der Union, sondern platteste Geschichtsfälschung ist das Markenzeichen der Union. ({6}) Warum, das will ich Ihnen in aller Kürze erklären. Sie haben auf die Einführung der branchenbezogenen Mindestlöhne während der Zeit der Großen Koalition hingewiesen. ({7}) In der Großen Koalition sind alle branchenbezogenen Mindestlöhne - es waren deren acht - vom sozialdemokratisch geführten Bundesarbeitsministerium gegen den teilweise erbitterten Widerstand der Union durchgesetzt worden. Das ist die Wahrheit. ({8}) Sie wissen gar nicht mehr, was in Ihren Wahlprogrammen steht, Herr Kollege Weiß. In Ihrem Wahlprogramm 2005 ist folgende Formulierung enthalten: Für die Arbeitnehmer sichern wir durch eine ausgewogene Kombination aus Arbeitslohn und ergänzender Sozialleistung ein angemessenes Auskommen. ({9}) Das heißt, Armuts- und Hungerlöhne sollen durch staatliche Leistungen aufgestockt werden, damit die Menschen in irgendeiner Weise leben können. Das war Ihre Linie über Jahre hinweg. ({10}) Jetzt zu behaupten, Mindestlöhne seien der Markenkern der Union, ist geradezu eine Verarsche auf gut Deutsch gesagt. Das kann man Ihnen wirklich nicht durchgehen lassen, Herr Kollege Weiß. Das ist des Guten eindeutig zu viel. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, mir ist klar, dass der gerade von mir benutzte Ausdruck nicht sehr parlamentarisch war. Aber „Wat mutt, dat mutt!“ hat ein anderer immer gesagt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gut. Aber deswegen habe ich Sie gar nicht unterbrochen, zumal die Einsicht Sie schnell eingeholt hat. ({0}) Ich habe Sie fragen wollen, ob Sie sich vorstellen können, eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger zu beantworten.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er ist schon in Lauerstellung. Bitte.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, Sie haben gerade der Äußerung des Kollegen Weiß widersprochen, dass die Union die Hüterin des Branchenmindestlohns ist. Sie haben auch lobend gesagt, dass die meisten dieser Löhne von einem SPD-Minister eingeführt worden sind. Deshalb frage ich Sie: Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass dies unter Bundeskanzlerin Angela Merkel geschehen ist, die zugleich CDU-Vorsitzende ist? ({0}) In diesem Sinne hat der Kollege Weiß mit seiner Aussage durchaus recht. ({1})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Frau Bundeskanzlerin musste sich wohl der Vernunft der Zwänge beugen. Anders ist das gar nicht zu erklären. ({0}) Auch in der Großen Koalition mussten Kompromisse gemacht werden. Die CDU/CSU wollte ausweislich ihres Wahlprogramms Kombilöhne, ({1}) das heißt die Hinnahme von Armutslöhnen, die durch staatliche steuerfinanzierte Leistungen aufgestockt werden. Das war Ihre Ausgangsposition. Die Ausgangsposition der SPD im Jahr 2005 - lesen Sie die Wahlprogramme! - war die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn. In den Bereichen, in denen das nicht durchsetzbar sein sollte, sollten dann branchenbezogene Mindestlöhne eingeführt werden. Das war exakt der Kompromiss zwischen dem klaren Nein der Union und dem ebenso klaren Ja der SPD zum gesetzlichen Mindestlohn. Dieser Kompromiss konnte auf Druck der sozialdemokratischen Abteilung in der Großen Koalition herbeigeführt werden. ({2}) Wenn Sie das nun bestreiten wollen, dann wird es hier allmählich finster, was die Wahrheit anbelangt. - Bitte bleiben Sie noch einen Moment stehen, Herr Straubinger, dann gewinne ich noch ein paar Sekunden. Auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Mai 2010 hat Frau Merkel - bezogen auf den Mindestlohn - gesagt: Ich glaube, dass das nicht die richtige Antwort der Politik ist. - Das waren die Worte von Frau Merkel zum Mindestlohn noch im Mai 2010. Die berüchtigte Frau Kollegin Connemann, die heute bedauerlicherweise nicht hier sein kann, hat im April des Jahres 2010 gesagt: Ein Mindestlohn in Deutschland hätte nur ein Ergebnis: Jobvernichtung. Der ehemalige Ministerpräsident von BadenWürttemberg hat gesagt: Von einem flächendeckenden Mindestlohn halte ich gar nichts. Der Vorsitzende der CDU in Nordrhein-Westfalen, Herr Röttgen, hat gesagt: Ich bin gegen eine Politisierung der Lohnfindung. Die Lohnhöhe richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Der Markt definiert den Lohn. Ich könnte diese Aussagen beliebig fortführen. Sie alle zeugen von einem: Wenn Sie sagen, dass es in Sachen Mindestlohn irgendeinen Markenkern der Union gibt, dann ist das die platteste Geschichtsfälschung. Das ist die Wahrheit. ({3}) Werfen wir einen Blick auf die Ausgangslage für Ihren Parteitag: Einige von Ihnen fordern jetzt flächendeckende Mindestlöhne. Hier hat sich der Kollege Laumann ohne jeden Zweifel Verdienste erworben. Das ist sehr zu unterstützen, und wir beobachten das mit viel Respekt. Herr Kollege Weiß, im Übrigen geht bei uns nicht die blanke Angst um, dass uns etwa ein Thema abhandenkäme. Vielmehr geht es uns darum, dass Millionen von Menschen ein Stück menschlicher Würde zurückgegeben wird. ({4}) Wenn jemand für seine Arbeit mit 2, 3, 4 oder 5 Euro in der Stunde entlohnt wird, dann ist das ein grober Verstoß gegen die menschliche Würde. Es ist ein Angriff auf das Selbstwertgefühl der Menschen. Was ist ihre Arbeit eigentlich wert? Das hat nichts mit vermeintlich blanker Angst vor dem Verlust eines Themas zu tun. Es hat aber sehr wohl etwas damit zu tun, dass wir dazu beitragen wollen, dass Menschen ihre Würde in der Arbeitswelt zurückgewinnen. Ich fordere Sie dazu auf, hierzu einen vernünftigen Beitrag zu leisten; das würde ich sehr begrüßen. Als letzte Bemerkung möchte ich Ihnen das Gleichnis vom verlorenen Schaf aus Lukas, Kapitel 15, mit auf den Weg geben. Herr Kollege Weiß, dort lesen wir: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen - reuigen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Hier sitzen eine Menge Leute, die der Buße nicht bedürfen. Wenn Sie am Montag oder Dienstag auf Ihrem Parteitag entsprechende Beschlüsse fassen, dann können Sie, Herr Kollege Weiß, davon ausgehen, dass ich Ihnen das Gleichnis vom verlorenen Schaf eingerahmt schenken werde. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7483 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 ({0}) und Folgeresolutionen - Drucksache 17/7577 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Interesse an der Stabilisierung von Bosnien und Herzegowina ist unverändert groß. Unser Ziel bleibt ein friedliches, demokratisches, rechtsstaatliches Bosnien und Herzegowina, das aus eigener Kraft in der Lage ist, den Weg der EU-Integration erfolgreich zu beschreiten. Bei aller Vorsicht und aller zurückhaltenden Bewertung können wir heute sagen, dass die militärischen Sicherungsaufgaben der Operation zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfüllt sind. Die Sicherheitslage ist stabil. Das zeigt, wie viel wir erreicht haben. Gerade weil wir in diesem Hause sehr oft kontrovers diskutieren - zum Beispiel gerade eben mit Leidenschaft und fast mit Atemlosigkeit der Redner -, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier seit vielen, vielen Jahren eine große Übereinstimmung in diesem Hause besteht. Ich denke, ich spreche im Namen aller Anwesenden, wenn ich hier den Frauen und Männern der Bundeswehr, die vor Ort ihren verantwortungsvollen Dienst tun, unseren Dank zum Ausdruck bringe. ({0}) Meine Damen und Herren, das militärische Engagement der Europäischen Union bleibt aber weiter nötig. Es muss insbesondere noch mehr getan werden, um die Kompetenz und Professionalität der bosnischen Streitkräfte weiter zu stärken. Der Rat für Außenbeziehungen der Europäischen Union hat daher am 10. Oktober beschlossen, dass der Schwerpunkt der Operation ALTHEA, für die ich jetzt hier das Mandat einbringe, künftig auf Ausbildung und Training liegen soll. Unsere Bundeswehr beteiligt sich an dieser Ausbildung und am Personal des Hauptquartiers in Sarajevo. Ansonsten sind keine deutschen Soldatinnen und Soldaten mehr in Bosnien und Herzegowina eingesetzt. Damit konnte das umgesetzt werden, was ich hier vor einem Jahr, bei der letzten Einbringung des Mandates, in Aussicht gestellt und formuliert habe. Im letzten Jahr konnten wir die Personalobergrenze des Mandates von 2 400 auf 900 absenken. Auch jetzt können wir eine Senkung der Personalobergrenze vornehmen, und zwar von 900 auf 800. Gemessen an der Zahl der tatsächlich vor Ort eingesetzten Soldaten, bleibt eine hohe Personalobergrenze des Mandates, denn wie bislang wird für die Operation ein Reservebataillon bereitgehalten. Deutschland stellt den Löwenanteil an diesem Bataillon, das im Falle einer Lageverschlechterung kurzfristig in das Einsatzgebiet verlegt werden kann. Im Kosovo hat sich bedauerlicherweise gerade gezeigt, wie wichtig eine solche Vorsorge ist; denn auch wenn wir hier gemeinsam eine sehr erfreuliche Entwicklung feststellen können, so wissen wir doch, dass die Unwägbarkeiten noch lange nicht überwunden sind. Dementsprechend ist es notwendig, dass wir diesen Weg weiter vorsichtig und verantwortungsvoll beschreiten. Ebenso hält die Bundeswehr eine größere Zahl von Kräften bereit, die zur vorübergehenden logistischen und technischen Unterstützung der Mission entsandt werden können. Beides zusammengenommen erklärt die Personalobergrenze des Mandates; beides ist Ausdruck unseres fortgesetzten Engagements und unserer Solidarität mit unseren Partnern. Für die Bundesregierung bitte ich um Zustimmung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der EU-geführten militärischen Operation ALTHEA zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina. Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen von ALTHEA erfolgt unverändert auf Grundlage der Resolution 1575 aus dem Jahre 2004 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und ihrer Folgeresolutionen; er ist also völkerrechtlich eindeutig abgedeckt. Ich denke, viele wissen nicht mehr, warum seinerzeit dieser Einsatz begonnen worden ist, warum das Engagement überhaupt notwendig war. Wer sich noch an die 90er-Jahre erinnern kann, an das, was in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattgefunden hat, der wird zu dem Ergebnis kommen, dass es auch sehr erfolgreiche Friedenseinsätze der Frauen und Männer unserer Bundeswehr gibt. Wenngleich alles immer kritisch beäugt werden muss - das ist erste Bürgerpflicht in der Demokratie -, so kann man, denke ich, doch feststellen: Es ist schon eine sehr beeindruckende Erfolgsgeschichte. Dass wir Deutsche einen Beitrag zu Frieden und Stabilität geleistet haben, das gereicht unserem Land zur Ehre. ({1}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die stabile Sicherheitslage ist das eine; die innenpolitische Lage birgt jedoch nach wie vor Risiken. Fast ein Jahr nach den Wahlen konnte noch immer keine neue Regierung auf Gesamtstaatsebene gebildet werden. Ich kann dies nicht aussparen, weil auch das natürlich zu einer umfassenden Lagebetrachtung gehört. Diese Lähmung des Landes verhindert, dass die auf dem Weg nach Europa dringend notwendigen Reformen angegangen werden. Diese politische Stagnation muss unbedingt überwunden werden. Deshalb macht die Bundesregierung das in all ihren Gesprächen mit den Verantwortlichen immer wieder deutlich. Wir bieten eine europäische Perspektive. Wir wissen um die positive Dynamik, die der Annäherungsprozess an die Europäische Union im Land entfalten kann. Wir erwarten aber, dass die notwendigen Schritte vor Ort gegangen werden. Die auf die Europäische Union bezogenen Reformen müssen eindeutig Priorität erhalten. Ethnische Einzelinteressen müssen dahinter zurückgestellt werden. Die EU soll in Bosnien und Herzegowina zentraler Akteur sein. Es ist deshalb gut, dass die Trennung der Funktion des Hohen Repräsentanten von dem Amt des EU-Sonderbeauftragten vollzogen ist. Der Amtsantritt des neuen eigenständigen EU-Sonderbeauftragten ist Ausdruck der Neuaufstellung der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina. Auch dies zeigt, dass wir einen entsprechenden Fortschritt verzeichnen können. Es bleibt das Ziel der Bundesregierung, ALTHEA mittelfristig zu einer nichtexekutiven Beratungs- und Unterstützungsmission weiterzuentwickeln. Dazu ist noch weitere Abstimmung mit unseren Partnern erforderlich. Bis es so weit ist, bleiben wir in Loyalität und Verlässlichkeit gegenüber unseren Partnern und in unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Bosnien und Herzegowina diesem Mandat verpflichtet. Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Zustimmung zu diesem Mandat. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion. ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 24. November des vergangenen Jahres haben wir hier über die damalige Mandatsverlängerung für ALTHEA diskutiert. An dieser Stelle habe ich meiner Hoffnung und vielleicht auch meinem Wunsch Ausdruck verliehen, dass sich Dinge in Bosnien-Herzegowina zum Besseren wenden werden. Ich hatte das damit begründet, dass die dortigen Wahlen am 3. Oktober vergangenen Jahres die moderaten Kräfte ausdrücklich deshalb gestärkt haben, weil diese moderaten Kräfte nicht Nationalismus, sondern soziale Aspekte und Themen des Landes in den Vordergrund des Wahlkampfs gestellt hatten. Ich hatte auch die Hoffnung, dass die Regierungsbildung eine neue Chance eröffnet, die dringend notwendigen Verfassungsreformen in Gang zu setzen, die das Land auf dem Weg nach Europa braucht; der Außenminister hat darauf hingewiesen. Ich hatte mir erhofft, dass die Visaliberalisierung auch ein Zeichen dafür ist, dass wir Bosnien auf seinem Weg nach Europa unterstützen. Heute, ein Jahr später, kann ich nicht verhehlen, dass ich von den politischen Eliten in Bosnien-Herzegowina sehr enttäuscht bin, die bis jetzt das Ziel ihrer Verantwortung, eine stabile Regierung zu bilden und die notwendigen Verfassungsreformen auf den Weg zu bringen, eindeutig verfehlt haben. Ich habe den Verdacht, dass sich ein Großteil der politischen Eliten in Bosnien-Herzegowina sehr gut in der derzeitigen Situation eingerichtet hat, die der DaytonRahmen gibt, sich gegenseitig zu blockieren. Das bringt das Land nicht voran, aber das scheint dem einen oder anderen zu genügen, um seine Claims abzustecken. Mit diesen Fehlern verspielen die dort Verantwortung Tragenden die Zukunft ihrer Bürgerinnen und Bürger, die sie bei den letzten Wahlen schon deshalb gewählt haben, damit sie genau diese Zukunft positiv gestalten. Die Frage ist, welche Schlussfolgerung wir aus diesem unwürdigen Spiel ziehen, das wir dort sehen. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Die Schlussfolgerung kann nicht sein, das Mandat jetzt einfach zu beenden. Denn das würde gerade für die Menschen, die dort Veränderungen zum Guten haben wollen, das Zeichen in sich tragen, dass wir uns abwenden und unserer Verantwortung nicht nachkommen. ({0}) Ich finde es auch richtig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt - der Europäische Rat hat das am 10. Oktober beschlossen -, das Mandat zu modifizieren, von einem exekutiven Mandat hin zu einer Beratungsund Unterstützungsmission für die Streitkräfte BosnienHerzegowinas, die eine der Klammern sind, in denen eben nicht nach Ethnien getrennt Verantwortung übernommen werden soll. Ich finde weiter, dass wir die Bundesregierung bei ihrem Ansinnen unterstützen sollen, die Zahl der stationierten Soldatinnen und Soldaten auf insgesamt 200 zu reduzieren, um deutlich zu machen, dass es nicht mehr um eine exekutive Mission geht, sondern um eine Unterstützungsmission. Aber Sie alle wissen: Das reicht nicht aus. Wir müssen deutlich machen, dass wir uns sowohl in Bosnien-Herzegowina als auch in der gesamten Region noch stärker politisch engagieren wollen. In diesem Zusammenhang danke ich der Bundesregierung ausdrücklich dafür, dass sie sich bemüht hat, bei der Regierungsbildung in Bosnien-Herzegowina eine konstruktive, vermittelnde Rolle zu spielen. Für die Reformkräfte, die es gerade in der jungen Generation in Bosnien-Herzegowina gibt, ist es deshalb wichtig, dass wir die Beitrittsperspektive verlässlich erneuern, die wir mit dem Versprechen von Thessaloniki allen Staaten in der Region gegeben haben. Ich will auch darauf hinweisen, dass wir überlegen müssen, welche Möglichkeiten wir haben, durch ein möglichst geschlossenes Auftreten der Europäischen Union den Druck auf die sogenannten politischen Führer bestimmter Ethnien zu erhöhen. Sie sollen ihrer Verantwortung gerecht werden, nicht nur bei der Regierungsbildung, sondern auch bei der notwendigen Verfassungsreform, die eine wirkliche Demokratie bringt und nicht nur ein Vetosystem und eine pervertierte Form der Fixierung auf die ethnische Herkunft. Nicht nur die EU, sondern auch die Nachbarn müssen sich stärker engagieren. Unsere Freunde in Kroatien müssen ihre Möglichkeiten nutzen, die HDZ in BosnienHerzegowina davon zu überzeugen, dass sie bei den GeDietmar Nietan sprächen zur Regierungsbildung ihren Alleinvertretungsanspruch für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina aufgeben muss. Serbien muss seinen Druck dahin gehend erhöhen, dass Herr Dodik endlich zu einer konstruktiven Politik zurückkehrt, weg vom Nationalismus. ({1}) Deshalb ist es gut, dass Kroatien hoffentlich bald Mitglied der Europäischen Union ist. Es ist auch gut, dass wir im Fortschrittsbericht der Europäischen Union nachlesen konnten, dass Serbien auf dem Weg nach Europa große Fortschritte gemacht hat. Ich würde mir deshalb wünschen, dass der Europäische Rat im Dezember ein klares Zeichen in Richtung Serbien setzt und Serbien den Kandidatenstatus, so wie von der Kommission vorgeschlagen, einräumen wird. Ich finde, dass Präsident Tadic, der für seine Reformpolitik nicht nur ein hohes politisches, sondern auch ein hohes persönliches Risiko eingeht, unser aller Unterstützung verdient hat. Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung schon vor dem Europäischen Rat das klare öffentliche Signal geben würde, dass die Bundesregierung den Vorschlag der Kommission, Serbien den Kandidatenstatus einzuräumen, mit aller Kraft unterstützt. Bisher vermisse ich dieses öffentliche Signal. Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger Europa. - Das hat Polens Ministerpräsident Tusk in einer bemerkenswerten Rede zum Antritt der EU-Ratspräsidentschaft Polens vor dem Europäischen Parlament gesagt. Ich finde, diese Maxime darf nicht nur bei der Rettung unserer gemeinsamen Währung gelten, sondern sie muss auch gelten, wenn es jetzt darum geht, auf dem Westbalkan, mitten in Europa - das will ich betonen -, endlich die Folgen des schrecklichen Bürgerkrieges zu überwinden. Aus dieser Verantwortung können wir uns nicht stehlen. Als der Bürgerkrieg in den 90er-Jahren ausbrach, war das Handeln der Europäer - das wissen Sie - kein Ruhmesblatt. Wir haben dort versagt und sind unserer politischen Verantwortung nicht gerecht geworden. Deshalb will ich noch einmal betonen, was ich schon im letzten Jahr gesagt habe: Es geht nicht nur um eine Mandatsverlängerung, sondern es geht darum, dass wir deutlich machen: Die Bundesrepublik Deutschland will sich gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Union stärker engagieren. Es wird nach Kroatien kein Ende der Erweiterungsfähigkeit und der Offenheit für Erweiterung geben. Die, die die Reformen erfüllen, die die Region in eine Region des Friedens und der Demokratie verwandeln wollen, haben unsere Unterstützung und können der Europäischen Union beitreten. In diesem Sinne würde ich mir wünschen, dass wir über die Diskussion des Mandats hinaus unsere Anstrengungen verstärken, damit diese Region mitten in Europa Frieden findet und die Menschen dort eine wirkliche Perspektive bekommen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Kossendey. ({0})

Thomas Kossendey (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001188

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 16 Jahren, am 6. Dezember 1995, stimmte der Bundestag in einer sehr bedeutsamen Debatte erstmals der Entsendung deutscher Streitkräfte nach Bosnien und Herzegowina zu. Die Zustimmung erfolgte damals unter dem Eindruck der schockierenden Ereignisse, unter anderem in Srebrenica. Heute beraten wir die erneute Verlängerung dieses Mandats. Zwar hat die Führung dieses Mandats gewechselt - die Mission steht heute unter europäischer Verantwortung -, die Ziele jedoch sind unverändert. Deutschland kommt seiner Verantwortung für die Stabilisierung in Bosnien und Herzegowina nunmehr seit 1995 nach, zunächst im Rahmen der NATO-Operation IFOR - das war von 1995 bis 1996 -, dann im Rahmen von SFOR - von 1996 bis 2004 - und seit Dezember 2004 im Rahmen der EU-geführten Operation ALTHEA und des NATO-Hauptquartiers in Sarajevo. Das zeigt: Deutschland ist ein verlässlicher Partner und steht zu seiner Verantwortung - in Bosnien-Herzegowina wie auch an den anderen Einsatzorten. Das heißt: Verantwortung für den Einsatz von Soldaten, wenn es notwendig ist, und Verantwortung für den zivilen Übergang, sobald das möglich ist. ALTHEA umfasst derzeit noch insgesamt 1 300 Soldatinnen und Soldaten in Bosnien und Herzegowina. Zusätzlich werden zwei Bataillone als operative Reserve für den Balkan bereitgehalten, um auf Lageverschärfungen schnell reagieren zu können. Wie wichtig und wie unverzichtbar so eine Vorsorge ist, haben die jüngsten Entwicklungen im Kosovo sehr deutlich gezeigt. Deshalb sind und bleiben Reservekräfte für KFOR und für ALTHEA ein wichtiger Bestandteil unserer Planungen. Insgesamt hat Deutschland seit 1995 mit mehr als 50 000 Soldaten in Bosnien und Herzegowina gearbeitet und damit wesentlich zum Erreichen des Friedens beigetragen. Aktuell beteiligen wir uns im Rahmen des ALTHEA-Mandats nur noch mit fünf Soldaten in den Stäben. Wir stellen gemeinsam mit Österreich eines der beiden genannten Reservebataillone. Aktuell ist dieses Bataillon im Kosovo stationiert. Dort wird es wegen der nicht ganz sicheren Lage voraussichtlich bis zum Jahresende bleiben. Ich will die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten, die nun aus der Reserve in Deutschland in den Einsatz auf dem Balkan gerufen wurden, wie auch den Soldaten in den anderen Einsätzen ausdrücklich zu danken. Sie leisten einen wichtigen Bei16558 trag zur Stabilisierung des Friedens und damit letztendlich für den zivilen Übergang. ({0}) Nachdem wir bereits 100 deutsche Soldatinnen und Soldaten aus Bosnien und Herzegowina abziehen konnten, geht es nun um die Fortsetzung des Einsatzes mit inhaltlich unverändertem Mandat, allerdings unter Absenkung der personellen Obergrenze von 900 auf 800 Soldaten. Diese Zahl bietet uns die Möglichkeit, flexibel zu reagieren. Sie beinhaltet einen Anteil von ungefähr 500 Soldaten in dem Reservebataillon. Das gibt uns Spielraum, um gegebenenfalls, bei Verstärkungsnotwendigkeiten, im logistischen Bereich nachzusteuern. Wenn wir uns die Entwicklung der Gesamtzahlen bei dieser Operation anschauen - von mehr als 50 000 NATO-Soldaten im Jahr 1996 zu 1 300 Soldaten im Rahmen von EUFOR -, dann wird deutlich, dass sich die Sicherheitslage dramatisch verbessert hat. Bosnien und Herzegowina macht im Augenblick sogar den ersten Schritt, um selber internationale Verantwortung zu übernehmen. Das Land beteiligt sich im Augenblick mit 54 Soldaten am Einsatz in Afghanistan, entlastet damit die Verbündeten, auch uns. Dennoch hat Bosnien und Herzegowina ein gutes Stück des Weges noch vor sich; der Außenminister hat darauf hingewiesen. Wir müssen auch im Interesse der Menschen vor Ort weiter politischen Druck ausüben. Es fehlt noch immer an den notwendigen Reformen, einschließlich einer Verfassungsreform. Es fehlt vor allen Dingen auch an dem Willen zur Bildung einer gesamtstaatlichen Regierung. Ich bekräftige deswegen ausdrücklich den Appell des Außenministers: Ja, die Zukunft dieses Landes liegt langfristig in der NATO und in der Europäischen Union, aber dafür bedarf es der Kompromissbereitschaft und letztendlich auch des Dialoges zwischen den Volksgruppen, und es bedarf des gemeinsamen Willens zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Deswegen sind die aktuellen Aufträge von ALTHEA neben Ausbildungs- und Trainingsaufgaben auch weiterhin exekutive Aufgaben zum Erhalt eines sicheren Umfeldes und zur Unterstützung der bosnischherzegowinischen Autoritäten. Außerdem gewährleistet ALTHEA die Unterstützung für den EU-Sonderbeauftragten und für den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien sowie - auch darauf sind wir vorbereitet gegebenenfalls die Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft. Auch das ist Teil unserer Verantwortung, die nicht mit dem Abzug der Soldaten endet und letztendlich nicht an den Einsatz von Streitkräften gebunden ist. Dieses exekutive Mandat der Operation wird mit reduzierter Präsenz in Bosnien und Herzegowina zunächst einmal fortgesetzt werden. Ab 2012 wird sich die Operation vornehmlich auf die Unterstützung der Ausbildung und die Entwicklung der Fähigkeiten der bosnisch-herzegowinischen Streitkräfte konzentrieren. Der Einsatz von EUFOR/ALTHEA bleibt somit ebenso wichtig wie richtig, auch wenn er nicht im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht. Ich bitte Sie deswegen um eine breite Unterstützung für das Mandat, für unsere Frauen und Männer von der Bundeswehr, die dort ihren wichtigen Dienst tun. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Höger von der Fraktion Die Linke. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Land Bosnien-Herzegowina ist eine moderne Kolonie. - Dieser Satz stammt nicht von mir. Er stammt von Ismet Bajramovic, dem Vorsitzenden des Bundes unabhängiger Gewerkschaften im bosnisch-kroatischen Landesteil Bosnien-Herzegowinas. Herr Bajramovic ist nicht der Einzige, der das vor Ort so sieht. Ich war im Juni dieses Jahres dort und habe mich mit den Menschen in Sarajevo und Srebrenica unterhalten. Dabei habe ich festgestellt, dass es eine tiefe Kluft gibt zwischen der lokalen Bevölkerung und denen, die nicht gern Besatzer genannt werden wollen, aber als solche wahrgenommen werden. In den Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der NATO und der EU hatte ich den Eindruck, dieses Land würde längst in Schutt und Asche liegen, wenn es nicht selbsternannte Helferinnen und Helfer aus den reichen Ländern gäbe, die hier mit Militär und Investitionen für Ordnung sorgen. Bei Gesprächen mit Bosnierinnen und Bosniern hörte sich alles ganz anders an. Die EUFOR-Truppen werden mit Befremden wahrgenommen, nicht nur wegen der nächtlichen Truppenübungen, mit denen sie in Wohngebieten in Sarajevo für Unmut sorgen. Schüsse und Kriegslärm kennen die Leute dort aus den schlimmen Zeiten der 90er-Jahre nur zu gut. Die EUFOR verbessert die unerträgliche Situation im Lande nicht; vielmehr zementieren die Truppen diese Situation. Auch deshalb fordert die Linke immer wieder den Abzug der Bundeswehr aus Bosnien. ({0}) Banken aus dem Ausland, vorrangig aus Österreich und Deutschland, kaufen einen Großteil des Landes auf. Fabriken werden nach den Vorgaben von EU und IWF privatisiert. Die Arbeitslosigkeit steigt. Nicht nur die 7 Millionen Euro, die dieser Einsatz im nächsten Jahr kosten wird, sind an der falschen Stelle ausgegeben, auch ein Teil der knapp 100 Millionen Euro im zivilen Bereich richtet Schaden an; denn dieses Geld dient auch als Druckmittel für neoliberale Wirtschaftsreformen. Wer Privatisierungen, Sozialabbau und die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes auf dem Balkan durchInge Höger drückt, der hat nichts, aber auch gar nichts von den Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise verstanden. Es ist mehr als fragwürdig, in Bosnien die gleiche Politik durchzusetzen, die Griechenland und Italien gerade in den Ruin treibt. ({1}) Im Übrigen sehen die Menschen auf dem Balkan am Beispiel Griechenlands, was ihnen blüht, wenn die von Minister Westerwelle propagierte euro-atlantische Integration kommt. Sie sollten zumindest so mutig sein, den Leuten nicht länger Sand in die Augen zu streuen. Auch gemessen an den Maßstäben der Bundesregierung ist dieser Einsatz völlig unnötig. 16 Jahre nach Kriegsende brauchen die Bosnier keine militärischen Bewacher. Die Vorstellung, dass sich Mitglieder der einen Ethnie sicherer vor den Mitgliedern der anderen Ethnie fühlen, weil die Bundeswehr dort stationiert ist, entbehrt jeder realen Grundlage. ({2}) - Ich war vor kurzem in Bosnien; das habe ich Ihnen gerade gesagt. ({3}) Genau das haben sie gesagt: Die Militärpräsenz verstärkt den Eindruck, Bosnien-Herzegowina werde von der EU fremdbeherrscht. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch. EUFOR bildet die bosnische Armee aus, damit sich diese in Afghanistan an einem neuen Krieg beteiligen und neue Probleme schaffen kann. Diese Spirale von Militarisierung und Krieg muss endlich durchbrochen werden. ({4}) Auch die EU-geführte Polizeitrainingsmission dient letztlich dem Aufbau einer Polizei, die Proteste niederschlägt und somit den Ausverkauf des Landes unterstützt. ({5}) So wurden zum Beispiel im vergangenen Jahr Demonstrationen gegen Kürzungen im Gesundheitswesen von der Polizei brutal niedergeschlagen. Damit muss endlich Schluss sein. ({6}) Das Geld, das für den Bosnien-Einsatz ausgegeben wird, könnte viel nützlicher für Aufbauprogramme ausgegeben werden. Gut angelegt wäre das Geld unter anderem bei der Minenräumung. Minen sind in Bosnien ein echtes Problem, und es ist gut, dass sich auch Minenräumerinnen und Minenräumer aus Deutschland hier engagieren. Den Einsatz deutscher Minenfachleute befürworten wir. Den Einsatz der Bundeswehr in Bosnien lehnt die Linke jedoch entschieden ab. ({7}) Ziehen Sie die Soldaten ab! Die Menschen in BosnienHerzegowina werden es Ihnen danken. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Keul vom Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr ist in Bosnien-Herzegowina mit gerade noch zwölf Soldaten vor Ort. Wir hoffen alle gemeinsam, dass der Militäreinsatz nach 16 Jahren irgendwann sein Ende finden wird. Einige EU-Staaten haben ihre Soldatinnen und Soldaten bereits vollständig abgezogen. Allerdings findet dieser Rückzug gleichzeitig mit einer sich ständig verschärfenden politischen Krise statt. Der diesjährige EU-Fortschrittsbericht zeichnet ein düsteres Bild. Seit den letzten Wahlen im Oktober 2010 konnten sich die Parteien nicht auf die Bildung einer gesamtstaatlichen Regierung einigen. Die Spaltung zwischen den drei ethnischen Entitäten hat sich weiter verschärft. Vermittlungsversuche, ob vonseiten der EU oder vonseiten der Bundesregierung, sind allesamt gescheitert. Nun haben auch die Kroaten innerhalb der Föderation im April dieses Jahres ihre eigene Nationalversammlung gegründet - ein verheerendes Signal für die Einheit des Staates. Der Präsident der Republik Srpska unterstützte offen die Absetzbewegung der kroatischen Bosnier und drohte, im serbischen Teilstaat ein Referendum abhalten zu lassen. Dabei ging es ihm um den Ausstieg aus dem gemeinsamen Justizsystem - eine der wenigen gesamtstaatlichen Strukturen überhaupt. Catherine Ashton reiste im letzten Moment nach Banja Luka und musste Dodik für die Absage des Referendums auch noch Zugeständnisse machen. Nicht auszudenken, was ein solches Referendum für die Existenz des Staates Bosnien-Herzegowina hätte bedeuten können! In Anbetracht dieser Spannungen ist es nach wie vor angemessen, für den Krisenfall 500 Einsatzkräfte in einem Reservebataillon bereitzuhalten. Die Höchstgrenze laut Mandat beträgt vor diesem Hintergrund immer noch 800 Soldatinnen und Soldaten, und das akzeptieren wir. Klar ist aber auch, dass die Konflikte nur auf politischem Wege gelöst werden können. Kanzlerin Merkel hat sich persönlich Anfang des Jahres engagiert, allerdings ohne Erfolg. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass bisher eine konsistente politische Strategie fehlt, die den ganzen Raum des westlichen Balkans umfasst. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich in der EU für ein solches Konzept starkzumachen. ({0}) Ganz vorne muss dabei weiterhin die Reform der Staatsverfassung stehen. Die im Vertrag von Dayton festgeschriebene Verfassung hat das Land nicht befriedet, sondern die Aufteilung in Volksgruppen befördert. Dadurch verhindert sie eine integrierte nationale Regierung. Leider müssen wir konstatieren, dass die EU durch ihre nichtkonsistente Politik ein gutes Stück Verantwortung dafür trägt, dass sich die Kluft zwischen den Volksgruppen immer mehr vertieft hat. Wir müssen uns dieser Verantwortung stellen und den Bosniern signalisieren, dass ihnen weiterhin eine Beitrittsperspektive offensteht. Deshalb war es richtig und wichtig, dass Ende letzten Jahres die Visumfreiheit auch für Bosnien eingeführt wurde. Weiterhin müssen wir die Bosnier beim Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Korruption wirksam unterstützen. Denn diese kriminellen Strukturen nutzen die bestehenden Konflikte aus, um aus der Instabilität Profit zu schlagen, und leider stehen sie oft in enger Verbindung zur Politik. An diesem Punkt ist es wichtig, dass die EU ihre Unterstützung fortsetzt, auch wenn EUPM, die Polizeimission, bis Mitte nächsten Jahres eingestellt wird. Wir fordern die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass die EU neue Projekte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Strafverfolgung auf den Weg bringt. Es darf in Bosnien nicht der Eindruck entstehen, dass sich die Europäische Union angesichts der Krise resigniert zurückzieht. Dies wäre eine fatale Ermutigung für all jene Kräfte, die darauf hinarbeiten, dass das Land auseinanderbricht. Die Bundesregierung sollte im nächsten Jahr endlich ein starkes politisches Signal setzen und den Westbalkan in das Zentrum ihrer Außenpolitik rücken. Hier kann sie mit ihrem politischen Gewicht wirklich etwas bewegen. Dabei muss sie auch wagen, Druck auf die politischen Kräfte auszuüben. Die EU darf sich nicht mehr von plumpen Drohungen der Rassisten und Separatisten beeindrucken lassen. ({1}) Das führt zu fragwürdigen Kompromissen, die nur die Instabilität verstärken. Seit den Balkankriegen wissen wir wieder, dass der Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Diese Erkenntnis sollte auch 16 Jahre nach Kriegsende Ansporn sein, uns weiter für Frieden und Stabilität auf dem westlichen Balkan einzusetzen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Florian Hahn von der CDU/CSUFraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn uns in bewegten Zeiten wie diesen nicht jeden Tag Nachrichten aus Bosnien und Herzegowina erreichen, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass wir dort ein wichtiges Mandat erfüllen. Gerade in diesem Zusammenhang dürfen wir vor allem nicht den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, der zivilen Helfer und der Polizisten vergessen. Sie alle sind mit dafür verantwortlich, dass die Region als weitestgehend stabil eingestuft werden kann. Sie bündeln die zivil-militärische Zusammenarbeit vor Ort und leisten somit einen wichtigen Beitrag zum Friedenserhalt. ({0}) Das haben Sie, Herr Bundesminister Westerwelle, noch einmal deutlich gemacht. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken. Ein stabiles Bosnien-Herzegowina liegt in unserem wie auch im elementaren Interesse der Europäischen Union. Daher müssen und wollen wir das Land auch weiterhin auf dem Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat begleiten. Unser Ziel muss dabei auch in Zukunft sein, dass dort ein Staat entsteht, in dem alle Ethnien - Bosniaken, Serben und Kroaten - in Frieden miteinander leben können. Die Region muss hierfür durch bi- und multilaterale Hilfe langfristig und nachhaltig stabilisiert werden. Nur so können sich Zukunftsperspektiven, Wohlstand und Demokratie entwickeln. Das ist die Voraussetzung dafür, dass irgendwann ethnische Auseinandersetzungen für immer der Vergangenheit angehören können. Deutschland engagiert sich seit 1995 im Friedensprozess. Wir unterstützen dabei nachhaltig die zivilen und politischen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft. So können wir heute über eine Aufnahme in die NATO und auch in die Europäische Union zumindest ansatzweise nachdenken. Ich stehe auch dazu, dass es für den gesamten westlichen Balkan eine EU-Perspektive geben muss. Doch trotz aller Erfolge ist es bis dahin noch ein weiter Weg; denn Bosnien und Herzegowina ist nach wie vor ein großes Sorgenkind auf dem Balkan. So wurde dort am 3. Oktober 2010 gewählt, doch gibt es seit über 400 Tagen keine Regierung, und eine Einigung ist bisher auch nicht in Sicht. Beim Dialog zu Fragen der Justizreform wollen führende Politiker möglichst wenig Rechtsprechung auf der Ebene Bosnien-Herzegowinas akzeptieren. Dies stellt in meinen Augen einen deutlichen Rückschritt auf dem Weg hin zu einem demokratischen Rechtsstaat dar. Wenn Rechtsstaatlichkeit nicht im Interesse der Verantwortlichen dort liegt, ({1}) so liegt ein EU-Beitritt auch nicht in unserem Interesse. Ein glaubhaftes Bemühen, Mitglied der Europäischen Union zu werden, beinhaltet deshalb für mich eine solide Regierungsbildung, das Bearbeiten der längst überfälligen Verfassungsreform sowie die wirtschaftliche Integration nach den Regeln der EU. Bei der Verfassungsreform muss beispielsweise die menschenrechtswidrige Praxis, dass Minderheiten nicht gewählt werden können, umgehend geändert werden. Bei der wirtschaftlichen Integration in den EU-Binnenmarkt gilt es, das Beihilfeverbot der EU einzuhalten. Hierzu ist eine Aufsichtsbehörde notwendig, die das auch nachvollziehbar überwachen kann. Da sich in Bosnien und Herzegowina aber noch große Teile der Wirtschaft in öffentlicher Hand befinden, verlaufen Auftragsvergaben nicht immer zweifelsfrei. Im Gegenzug sind öffentliche Unternehmen eine Versorgungseinrichtung für bestimmte Cliquen. Auch hier braucht es mehr Transparenz, hier sind entsprechende Gesetze notwendig. Vetternwirtschaft und Korruption muss Einhalt geboten werden; denn auf Korruption kann man keinen modernen Staat aufbauen. ({2}) Als weiterer Punkt ist für mich die Durchführung eines Haushaltszensus von großer Wichtigkeit. Der letzte Zensus wurde 1991 durchgeführt. Die damals erhobenen Daten sind obsolet und können keine Basis für die Gegenwart und die Zukunft sein. Gerechtigkeit in der Verteilung und beim Mitspracherecht kann so niemals hergestellt werden. Technisch ist die Durchführung eines Zensus kein Problem. Das Problem liegt allein im politischen Willen. Meine Damen und Herren, Bosnien und Herzegowina braucht für eine chancenreiche Zukunft dringend weitere Erfolge. Mit einer Mandatsverlängerung werden wir auch künftig dazu beitragen, dass das Land diese Erfolge realisieren kann. Wir wissen, dass Bosnien und Herzegowina die internationale Präsenz selbst wünscht. Die Menschen haben den Wunsch, dass im Notfall eine Reserve da ist, die für sie und ihre Sicherheit sorgt. Wir haben das Ziel, die exekutive Operation ALTHEA zu beenden und in eine nichtexekutive Ausbildungs- und Unterstützungsmission umzuwandeln. Die Reduzierung der Mandatsobergrenze ist dafür ein Indikator. Ich werbe für die Verlängerung dieses Mandats. Unseren Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten und zivilen Helfern wünsche ich auf diesem Weg viel Erfolg und Gottes Segen. Danke sehr. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Sönke Rix, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rechtsextremistische Einstellungen im Sport konsequent bekämpfen - Toleranz und Demokratie nachhaltig fördern - Drucksachen 17/5045, 17/7597 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Dr. Lutz Knopek Katrin Kunert Viola von Cramon-Taubadel Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner. ({1})

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl ich aufgefordert bin, hier für die Bundesregierung Stellung zu nehmen, sei es mir gestattet, ein Beispiel aus der Vereinspraxis anzuführen. Mein eigener Sportverein hat auf seiner letzten Delegiertenversammlung eine Satzungsänderung beschlossen. Die Satzung lautet - ich darf zitieren -: Unser Verein ist offen für alle sportinteressierten Bürger, unabhängig von ihrer Religion, Weltanschauung, Parteizugehörigkeit und gesellschaftlichen Stellung. So weit war das schon bisher Satzungstext. Nun kommt hinzu: Er wendet sich entschieden gegen jede Form von Rassismus, Chauvinismus, Extremismus und politischer Willkür. Die Satzungsänderung, die wir in unserem Verein beschlossen haben, hat einen Hintergrund. Wir haben aus den Erfahrungen gelernt, die ein anderer Verein unseres Bundeslandes machen musste, als ein Trainer und Übungsleiter, der Mitglied der NPD war, seine Vereinsmitarbeit für Werbung im extremistischen Sinne ({0}) - im rechtsextremistischen Sinne - genutzt hatte und der Verein große Schwierigkeiten hatte, sich von diesem Trainer und Übungsleiter auf der Basis der bestehenden Satzung zu trennen. Ich nenne dieses Beispiel, um deutlich zu machen, dass die Sportvereine und -verbände im Rahmen ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung hier vor besonderen Herausforderungen stehen, dass also das Anliegen, das mit dem Antrag der SPD-Fraktion zum Ausdruck gebracht wurde, durchaus als berechtigt gelten kann. Aber allein diese Feststellung sollte uns bei der Bewertung und der Behandlung dieses Antrages nicht genügen. Denn was aus meiner Sicht im Antrag unzureichend zum Ausdruck kommt, ist die Anknüpfung an entsprechende Bemühungen. Ich nenne insbesondere die Kampagne „Sport und Politik verein({1}) gegen Rechtsextremismus“, ({2}) die nicht allein, wie der Antragsteller sagt, eine Kampagne der Bundesregierung ist. Kampagnenträger sind neben dem Bundesinnenministerium und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Bundeszentrale für politische Bildung, die Deutsche Sportjugend im Auftrag des DOSB, der Deutsche Fußball-Bund, die Sportministerkonferenz, die kommunalen Spitzenverbände und die Landessportbünde. Sie alle - das wird bei der weiteren Beratung des Antrags noch bedeutsam werden - wirken bei der Umsetzung der Empfehlungen des Handlungskonzepts mit, das der Kampagne zugrunde liegt. Dabei steht die Bekämpfung von Rechtsextremismus zwar im Vordergrund, aber der Initiative geht es um viel mehr: Sie richtet sich auch gegen jegliche Form von Diskriminierung im Umfeld des Sports und legt deshalb einen besonderen Schwerpunkt auf die Prävention. Ich will nur kurz auf die drei wichtigsten Punkte der Kampagne verweisen. Es geht darum, die Vereine für rechtsextremistische Einflussnahmen, die subtil erfolgen, zu sensibilisieren, sie zu motivieren, konsequent gegen rechtsextremistische Erscheinungsformen und Diskriminierung vorzugehen, sich entsprechend fortzubilden und gegen Rechtsextremismus zu positionieren und durch eine Bündelung von Informationen und Vernetzung von externen Unterstützungsangeboten Vereinen eine entsprechende Hilfestellung zu geben. ({3}) Ich verweise mit Blick auf die neuen Bundesländer darauf, dass es dem Bundesinnenministerium ein wichtiges Anliegen war, das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ zu einem Programm zu machen, das die Landessportbünde bei der Bekämpfung extremistischer Einflussnahmen und Bestrebungen im Sport unterstützt. So wichtig das Anliegen ist, so sehr ist zu bemängeln, dass sich die Antragsteller nicht über den Stand der Arbeit hinreichend informiert bzw. nicht daran angeknüpft haben. Im Lichte der bereits bestehenden Kampagne ist manche der Forderungen, die im Antrag erhoben werden, als wenig zielführend zu bewerten. Das gilt zunächst einmal für die Forderung, zeitnah einen Bericht über verfassungsfeindliche extremistische Bestrebungen im Sport, mit konkreten Fallzahlen nach Bundesländern und Sportarten, vorzulegen. Die Umsetzung dieser Forderung bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Einführung eines verbindlichen Meldesystems für die Vereine, bei dem bereits unterhalb der Strafbarkeitsschwelle entsprechende Meldungen zu machen sind. Sie alle, jedenfalls die Mitglieder des Sportausschusses, stecken tief im Thema Vereinsverantwortung und Vereinsarbeit und wissen, was das für den einzelnen Verein und die ehrenamtlichen Leitungen bedeutet. Die zweite Forderung, die Aufnahme eines Kapitels „Extremismus und Sport“ in künftigen Sportberichten, ist mit dem 12. Sportbericht bereits erfüllt. Wir werden bei der Diskussion des nächsten Sportberichts die Gelegenheit haben, festzustellen, ob die Forderungen entsprechend umfänglich und vollständig umgesetzt wurden. ({4}) Ich erwähne schließlich eine ganze Reihe von Forderungen, die auf eine finanzielle Unterstützung der Vereine abzielen. Ich muss an diesen Forderungen zum einen kritisieren, dass sie haushaltsrelevant sind. Sie sollten an anderer Stelle und weniger pauschal gestellt werden. Zum anderen muss ich aber vor allen Dingen kritisieren, dass sie die Zuständigkeits- und Kompetenzfragen außer Acht lassen, die für die jeweiligen Finanzierungsmodelle nicht ohne Bedeutung sind. Es gibt eine Anzahl von Forderungen, die ich als auf dem Wege, wenn auch nicht als erfüllt betrachte. Die Einführung eines Gütesiegels ist Teil der Handlungsempfehlungen. Die geforderten Ansprechpartner im LSB gibt es bereits. Fortbildungsveranstaltungen mit LSB-Vertretern sind schon im Herbst dieses Jahres durch die Deutsche Sportjugend entsprechend terminiert. Ich will noch einmal deutlich machen: Ich glaube, es gibt gegen das Anliegen des Antrags keinerlei Einwände. Im Gegenteil, wir wissen, dass wir es mit einem wichtigen Anliegen zu tun haben. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Das ist der letzte Satz, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Gut. Bitte.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Ich möchte an dieser Stelle an Sie alle appellieren, dafür zu sorgen, dass wir die in der Kampagne verfolgten Ziele nicht durch ein vordergründiges Einfordern von Erfolgsmeldungen, nicht erfüllbaren Beitragspflichten oder unpräzise formulierten Finanzierungsmaßnahmen konterkarieren, sondern dass wir die Maßnahmen dieser gemeinsamen Kampagne, die von der Bundesregierung nur zu einem Teil betrieben wird, gemeinsam unterstützen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der SPD-Fraktion. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gestern war der 9. November - ein ganz besonderer Tag, in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Tag in der deutschen Geschichte. Mit Blick auf die Reichspogromnacht ist dieser Tag für uns natürlich eine immerwährende Mahnung, entschlossen gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, kurz: gegen Menschenfeindlichkeit mit all ihren Erscheinungsformen einzutreten und klarzumachen: Nein, so etwas nie wieder! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Sport sprechen, dann beschwören wir oft die Fähigkeit des Sports, Menschen zusammenzubringen, Vorurteile abzubauen und an ihrer Stelle Fairness und Toleranz zu fördern. Viel weniger sprechen wir über die Gefahren, die damit verbunden sind, wenn Sport missbraucht wird: Dann kann das exakte Gegenteil von dem entstehen, was wir uns vom Sport wünschen. Seit Jahren ist bekannt, dass Rechtsextremisten gezielt versuchen, den Sport vor ihren ideologischen Karren zu spannen, und die ehrenamtliche Tätigkeit im Sportverein nutzen, um ganz nebenbei ihre rechtsextreme Propaganda zu verbreiten. Sportstätten sehen sie als Bühne, um zu provozieren, um rassistische und antisemitische Inszenierungen irgendwie zustande zu bringen. Die Politik darf dabei nicht wegsehen. Politik muss handeln und muss Vorschub leisten, damit das nicht weiter um sich greifen kann. ({1}) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es geschafft, solche Aktivitäten zuweilen aus den großen Sportarenen zu verbannen. Aber die Frage ist ja: Wie ist es uns gelungen? Hier muss man ganz klar sagen: Das ist das Verdienst all derjenigen, die sich in den Fanprojekten engagieren, die engagierte Arbeit an der Basis leisten und andererseits oftmals nicht die notwendige Unterstützung aus der Politik erfahren, weil es noch immer viel zu viele Kommunen gibt, die nicht erkennen, welcher Wert dahintersteckt, weil es noch immer viel zu viele Bundesländer gibt, die sich letztendlich schwertun, sich hierbei zu engagieren. Ich will nur das Beispiel Baden-Württemberg nennen: Die schwarz-gelbe Landesregierung hat ganz lange gebraucht, um endlich einzusehen, wie wichtig Fanprojekte an dieser Stelle sind. Die neue Landesregierung aus Grünen und SPD hat es im Koalitionsvertrag festgeklopft: Fanprojekte sind ein ganz wichtiger Bestandteil ihrer Politik. Das ist so, und das wird auch so bleiben in Baden-Württemberg. ({2}) Seit Jahren fordern wir, die Aufbauarbeit der Koordinationsstelle Fanprojekte, KOS, in Frankfurt stärker zu unterstützen. Unverständlich für uns ist, dass diese Woche in der Presse zu lesen war, dass Bundesinnenminister Friedrich die Finanzierung dieser Projekte infrage stellt. Wir wissen nicht, ob zutrifft, was dort berichtet wurde. Aber ich hätte mir schon gewünscht, Herr Staatssekretär Dr. Bergner, dass Sie die heutige Debatte genutzt hätten, um klarzustellen, dass eine Reduzierung der Mittel nicht angestrebt wird. Schade! Eine verpasste Chance an dieser Stelle. Wir finden, dass es irgendwie unglaubwürdig ist, wenn einerseits im Januar der Vorgänger des jetzigen Bundesinnenministers, Herr Thomas de Maizière, und die Familienministerin Frau Schröder sich bei einer großen Veranstaltung feiern lassen, wenn sie bei diesem Event viel ankündigen, wir aber andererseits jetzt in den Zeitungen lesen: Die Finanzierung wird infrage gestellt. Schade! Vielleicht wird das einer der folgenden Redner noch klarstellen. Wir haben jedenfalls nicht vergessen, dass vor zehn Monaten zwei Minister in Berlin die Initiative „Verein({3}) gegen Rechtsextremismus“ mit einem großen Bahnhof vorgestellt haben, und stellen fest, dass bis jetzt eigentlich noch gar nichts passiert ist. Ich glaube, hier wird etwas verwechselt. Ankündigung ist noch nicht gleich Handeln. ({4}) Wenn in der Diskussion im Sportausschuss gesagt wird, der Antrag der SPD-Fraktion habe sich durch Handeln erledigt, dann muss ich sagen, dass das einfach nicht zutrifft; denn schon vor über zehn Monaten wurde zum Beispiel angekündigt, dass ein Gütesiegel für Vereine eingeführt wird. Bislang ist noch nichts passiert. Wir haben im Sportausschuss bei den Vertretern des Ministeriums nachgefragt. Da hieß es, in den nächsten Wochen wolle man sich so langsam zusammensetzen und überlegen, wie man das irgendwie hinbekommen könne. Dazu muss ich sagen: Es dauert ganz schön lange, bis irgendetwas auf die Reihe gebracht wird. Die Regierung kündigt viel an, aber es passiert letztendlich viel zu wenig. Das kritisieren wir. Deswegen haben wir den Antrag eingebracht. Wir sagen nicht, dass alles falsch ist, was im Januar angekündigt wurde, aber mit der Umsetzung hapert es gewaltig. Im Übrigen muss man ganz klar sagen: Sie könnten eigentlich jetzt mit gutem Beispiel vorangehen, wenn es darum geht, Demokratie und Wertevermittlung voranzubringen, indem Sie uns zugestehen, dass wir auch im Sportausschuss wieder öffentlich über ein solches Thema diskutieren. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Lutz Knopek von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lutz Knopek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004074, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Könnten Sie das Pult hochdrehen?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das müssen Sie selber machen.

Dr. Lutz Knopek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004074, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mein Vorredner und ich, wir unterscheiden uns in der Größe, aber nicht in unserem Engagement für den Sport. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße es, dass die SPD mit ihrem Antrag auf die ernstzunehmende Gefahr hinweist, dass Rechtsextremisten Sportvereine gezielt zur Verbreitung ihres rassistischen, antidemokratischen und menschenverachtenden Gedankenguts nutzen, sei es als aktiver Sportler, Trainer, Vorstandsmitglied oder Sponsor. Es freut mich daher, dass dieses wichtige Thema heute Nachmittag im Plenum öffentliches Gehör finden kann. ({0}) Gerade der Sport, der Menschen verschiedenster Kulturen miteinander verbindet, innerhalb der Gesellschaft die Integration fördert und Werte wie Toleranz, Respekt und Fairness vermittelt, muss unbedingt vor antidemokratischem und rassistischem Gedankengut geschützt werden. Immer wieder blicken wir hier als Erstes auf den Fußball. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass Rechtsextremismus im Sport kein reines Problem des Fußballs ist. Rechtsextremisten fokussieren sich auf diesen Sport, da der Fußball in unserer Gesellschaft besonders stark wahrgenommen wird und sie ein Höchstmaß an Öffentlichkeit suchen. Aber auch Kampfsportvereine und die Kraftsportszene können beispielsweise betroffen sein. Die Gefahr wurde von den Sportverbänden und der Bundesregierung erkannt, und gute Maßnahmen wurden bereits getroffen. So hat das Innenministerium Anfang dieses Jahres mit der Auftaktveranstaltung „Foul von Rechtsaußen - Sport und Politik verein({1}) für Toleranz, Respekt und Menschenwürde“ eine Initiative gestartet. Gemeinsam mit dem organisierten Sport hat die Bundesregierung tragfähige Handlungskonzepte vorgelegt, um rechtsextremistische Tendenzen im Sport abzuwehren. Auch hat das Innenministerium gegenüber den Landessportbünden, wie im Antrag der SPD gefordert, bereits die Empfehlung ausgesprochen, Ansprechpartner und Hilfe zur Verfügung zu stellen, was diese teilweise auch schon umgesetzt haben. Insbesondere der Fußball zeigt sich auf der Ebene der Landesverbände für diese Problematik sensibilisiert. Auch die klassischen Fanprojekte leisten auf diesem Feld bereits hervorragende Arbeit. Des Weiteren gibt es inzwischen zahlreiche Faninitiativen wie die „Bunte Kurve“ oder „Fare Network“, die sich gezielt gegen Rassismus und Diskriminierung im Allgemeinen wehren; denn auch Homophobie stellt ein großes Problem im Sport dar. Die Europäische Kommission vergibt Zuschüsse an zwölf transnationale Initiativen - neun davon in Deutschland - zur Bekämpfung von Gewalt und Intoleranz im Sport, insbesondere auf der Basisebene. Zusätzlich gibt es eine europaweite Aktionswoche gegen Rassismus, und Vereine und Spieler positionieren sich öffentlich gegen Rassismus und nutzen ihre Möglichkeiten, in ihren Stadien gegen Rassismus vorzugehen. Die von der SPD im Antrag geforderten Initiativen seitens der Regierung, Verbände, Vereine und Fanclubs existieren also bereits: organisationsübergreifend und sogar konkreter und zielgerichteter als nun gefordert und sind bis zum haushaltsrechtlich zulässigen Maß umgesetzt. Ich denke nicht, dass es bei einer so großen und breiten gesellschaftlichen Gegenbewegung Aufgabe des Bundes ist, hier noch weitere Modellprojekte oder Gütesiegel zu schaffen. Eher sehe ich hier die Länder und Kommunen in der Pflicht, die die Gegebenheiten und Gefahren vor Ort viel besser kennen, antiextremistische Initiativen zu unterstützen, zu fördern und eng mit ihnen zusammenzuarbeiten. In diesem Punkt kann ich dem Antrag zustimmen, und ich begrüße es ausdrücklich - anders als die Linke -, dass die SPD an dieser Stelle einen geweiteten Blick auf andere Formen des Extremismus lenkt. Natürlich liegt im Bereich der Vereine der Schwerpunkt klar beim Rechtsextremismus. Allerdings darf man vor anderen Formen des gewaltbereiten Extremismus, wie Linksextremismus und Islamismus, grundsätzlich nicht die Augen verschließen. ({2}) Wir hoffen sehr, dass die heutige Debatte alle, also Politik, Verbände, aber auch die Vereine selbst mit ihren Vereinsmitgliedern stärker für die Problematik des Rechtsextremismus im Sport sensibilisiert und zum Handeln motiviert. Wir brauchen noch stärker eine Kultur des Hinsehens und der Zivilcourage. Je mehr Menschen von den Kampagnen und Maßnahmen sowie den Anlaufstellen bei Betroffenheit erfahren, umso stärker können wir alle gemeinsam Rechtsextremismus im Sport vorbeugen und bekämpfen. Mit Blick auf ihren Antrag muss sich die SPD allerdings die Frage gefallen lassen, ob sie der Bundesregierung unterstellt, hier etwas versäumt zu haben. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Das ist unfair und unsportlich. Meine Fraktion wird diesen Antrag daher leider ablehnen. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jens Petermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004128, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen sind erschreckend: In den letzten 20 Jahren haben 137 Menschen ihr Leben durch rechtsextremistische Straftaten verloren. Sie wurden Opfer antisemitischer, fremdenfeindlicher und rassistischer Gesinnungstäter. Derartige Einstellungen finden sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen - leider auch im Sport. Sie stellen eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Darum müssen wir uns immer wieder damit auseinandersetzen auch hier und heute im Deutschen Bundestag. Die Zusammenarbeit von Politik und zivilgesellschaftlichen Strukturen ist hier ein erfolgreiches Agieren gegen die Gefahr von rechts außen und ohne Alternative. Ein Beispiel dafür ist die thüringische Kreisstadt Hildburghausen. Dort hatte ein bekennender Neonazi einen Fußballverein gegründet, der als rechtes Sammelbecken diente. Durch zivilgesellschaftliches Engagement ist es gelungen, den Verein von der Bildfläche zu verbannen. Die Stadt Hildburghausen - übrigens mit einem linken Bürgermeister an der Spitze - hat dem Verein den Zugang zu Sportanlagen untersagt. Der Kreissportbund hat dem Zusammenschluss die Anerkennung als Verein verwehrt, und das örtliche Bündnis gegen Rechtsextremismus, in dem unter anderem Vertreter von Kirchen, Parteien und Gewerkschafter organisiert sind, hat vorbildliche zivilgesellschaftliche Aufklärungsarbeit geleistet. Rechtsextremismus im Sport ist ein sehr ernstzunehmendes Phänomen. Das zeigt eine endlose Kette von Vorfällen insbesondere im Umfeld des Fußballs; Kollege Knopek, Sie hatten es bereits erwähnt. Meine Fraktion begrüßt darum den Antrag der SPD als Schritt in die richtige Richtung. Umso bedauerlicher ist es allerdings, dass Union und FDP selbst diesen kleinen Schritt mit fadenscheinigen Begründungen ablehnen. Anstatt mit konkreten Maßnahmen dem Rechtsextremismus im Sport Paroli zu bieten, belässt es die Koalition leider bei Lippenbekenntnissen. „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Worten“, heißt es sinngemäß bei Matthäus. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das Feld überlasse ich Ihnen gerne. Auch die heutige Politik muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Die Linke wird darum dem Antrag der SPD zustimmen. Die Forderung, dauerhafte Förderstrukturen für Verbände und Vereine zu schaffen, unterstützen wir. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag, auch wenn der Antrag in der Wahl der Begriffe nicht ganz konsistent ist. Ich erinnere an dieser Stelle an die Erkenntnisse, die der Sportausschuss bereits im Jahre 2008 gewonnen hat. Damals erklärte der Sachverständige Martin Endemann vom Bündnis Aktiver Fußballfans in der Anhörung zu Extremismus im Sport: Mir ist nicht bekannt, dass es in Deutschland ein großartiges Problem mit linksextremistischen Fußballfans gebe. Insofern halte ich den Titel dieser Veranstaltung für falsch; es sei denn, man macht den Fehler, antirassistisches Engagement in irgendeiner Weise mit linksextremistischer Politik verknüpfen zu wollen. - Übrigens hat sich der DFB-Präsident Theo Zwanziger diese Position in der gleichen Sitzung zu eigen gemacht. Im Bereich Fußball bestehen sicherlich die größten Probleme, aber Rassismus und Diskriminierung gibt es auch in anderen Sportarten, manchmal offensichtlich, manchmal aber auch im Verborgenen. Bedingungsloser Einsatz gegen den Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft muss über Konzepte auf geduldigem Papier hinausgehen. Ich empfehle darum Union und FDP, einmal beim Bürgermeister in Hildburghausen zu hospitieren. Ich setze mich gerne dafür ein, dass Sie dort kurzfristig einen Termin bekommen, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde schon gesagt: Neonazismus und Rechtsextremismus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, das immer wieder auch im Sport vorkommt. Deshalb bin ich den Kolleginnen und Kollegen der SPD dankbar, dass sie diesen Antrag eingebracht haben. ({0}) Sie haben den Ball aufgenommen, den wir ihnen in der letzten Wahlperiode mit unserem Antrag zugespielt haben. ({1}) Unseren damaligen Antrag „Alle Formen von Diskriminierungen thematisieren“ hatten Sie leider abgelehnt. Allerdings sehen wir mit Freude, dass Sie in Ihrem jetzt vorgelegten Antrag durchaus viele unserer damaligen Forderungen teilen. Der Sport hat einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft - da sind wir uns wahrscheinlich alle einig. Allerdings ist der Sport nicht automatisch tolerant und integrativ. Wir müssen uns da immer wieder engagieren. Ich persönlich habe schon häufig erlebt, wie Initiativen, die sich für Toleranz im Sport einsetzen, von anderen Vereinen oder Verbänden argwöhnisch beäugt werden. Sie werden sehr schnell als Nestbeschmutzer beschimpft, oder es wird gesagt, sie würden unnötigerweise die Politik in den Sport hineintragen. Deshalb möchte auch ich auf das Engagement von Theo Zwanziger verweisen, der sich diesbezüglich immer sehr explizit äußert: ob in der Anhörung des Sportausschusses oder auch sonst bei vielen anderen Gelegenheiten. Diese Appelle müssen insbesondere im Breitensport gehört und umgesetzt werden. Viel zu häufig wird vor Ort gesagt, das schaffe man nicht, es wird auf das Prinzip der Subsidiarität verwiesen oder auf die Überlastung des Ehrenamtes hingewiesen. Politik ist bei dieser Thematik ebenso gefragt. Die Initiative „Verein({2}) gegen Rechtsextremismus“ wurde ja schon von verschiedenen Vorrednern angesprochen. Auch ich kann allerdings nur sagen: Außer markigen Worten ist bis jetzt leider nichts weiter erfolgt. ({3}) Der Präsident des DOSB, Thomas Bach, schilderte, dass man gegen rechtsextreme Einstellungen im Sport konsequent vorgehe. Der DOSB hätte - ich zitiere - „diesen Tendenzen bereits vor Jahren den Krieg erklärt“. Das waren klare Worte, doch nach fast einem Jahr müssen wir konstatieren: Es waren wohl eher, um im Jargon zu bleiben, leere Patronenhülsen. Das Programm mag noch so schön zu lesen sein; wir würden im Bundestag gerne mehr über die Umsetzung erfahren. Wenn die entsprechenden Ministerien der Bundesregierung mehr wissen, könnte man uns ja in den Ausschüssen dahin gehend informieren. Wir haben in den vergangenen Jahren insbesondere auch bei den Fanprojekten sehr viel gemacht, mittlerweile in allen Bundesländern. In Sachsen hat es wie in Baden-Württemberg - Letzteres wurde ja schon angesprochen - lange Jahre gedauert, bis etwas unternommen wurde. Es musste erst etwas Schlimmes passieren, bis sich die sächsische Landesregierung dazu durchgerungen hat. Von daher sind die geplanten Kürzungen bei der KOS in keiner Weise nachvollziehbar. Es kann einfach nicht sein, dass man sagt, hier werde Geld verschwendet. Hier wird gute Arbeit geleistet. Wir brauchen eher mehr davon als weniger. Von daher ist insbesondere die sozialpädagogische Arbeit in diesen Bereichen auszuweiten. Hier darf es keine Kürzungen geben. ({4}) Das Förderprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ ist ebenfalls schon angesprochen worden. Die dazugehörigen Modellprojekte unterstützen wir. Allerdings ist auch bei diesem Programm zu kritisieren, dass der unklare, unwissenschaftliche Extremismusbegriff immer wieder verwendet wird. Dieser Umstand erschwert die ohnehin schwierige praktische Arbeit. Ebenso ist zu kritisieren, dass die Dauer des Programms nur befristet ist. Das ist ein generelles Problem. Ich erinnere nur an das ausgelaufene Modellprojekt „Am Ball bleiben“. Dort wurden tolle Sachen gemacht, aber das Programm läuft aus; alles wird abgeheftet, und es folgt leider nichts. Wir müssen nicht jedes Mal das Rad neu erfinden; aber wir sollten uns endlich alle zusammensetzen und nachhaltige Konzepte entwickeln, inklusive Finanzierung. Ganz zum Schluss an all diejenigen, die den Antrag heute ablehnen werden: Ihnen empfehle ich die Lektüre des Buches „Angriff von Rechtsaußen - Wie Neonazis den Fußball missbrauchen“ von Ronny Blaschke. Dort können Sie alle möglichen Beispiele noch einmal nachlesen, zum Beispiel den von Herrn Bergner erwähnten Fall Battke und den Fall in Hildburghausen, den der Kollege Petermann genannt hat. Es gibt auch ein großes Kapitel zum Thema Leipzig, wo es in der Auseinandersetzung große Probleme gibt. Lesen bildet! Wenn Sie heute nicht zustimmen, kommen wir vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt zu einer gemeinsamen Position. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Frank Steffel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir begrüßen es, um das gleich vorneweg zu sagen, dass es seit Anfang dieses Jahres das gemeinsame Programm „Verein({0}) gegen Rechtsextremismus“ gibt - ein Programm der Bundesregierung, mehrerer Ministerien, der Sportminister der 16 Bundesländer, der Landessportbünde, des DOSB, des DFB, der Deutschen Sportjugend, der kommunalen Spitzenverbände und vieler anderer. Unabhängig davon, was wir im Detail kritisieren können - das mag ja zum Teil sogar einen -, sind wir dankbar, dass sie alle sich darauf verständigt haben, diesem wichtigen Thema die Bedeutung beizumessen, die wir ihm heute zu Recht auch im Deutschen Bundestag zuerkennen. Es gibt Themen, die sich wenig für parteipolitischen Dissens eignen. Deswegen haben wir Ihren Antrag, Herr Gerster, im Sportausschuss sehr ausführlich beraten. Wir sind in der Tat in einigen der acht Punkte, die Sie ergänzend vorschlagen, nicht Ihrer Auffassung und werden den Antrag heute ablehnen müssen, weil das nun einmal das parlamentarische Verfahren ist. Wir lassen uns deswegen aber nicht unterstellen, wir würden das Thema nicht ernst nehmen oder gar uns nicht ernsthaft darum bemühen, unseren Vereinen dabei zu helfen, sich vor Rechtsradikalen und Rechtsextremen zu schützen. Denn, meine Damen und Herren, darum geht es im Wesentlichen. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, der deutsche Sport, gar der deutsche Vereinssport oder wesentliche Teile der Ehrenamtlichen, die im deutschen Vereinssport tätig sind, seien rechtsradikal oder hätten verdeckt rechtsradikale Empfindungen. ({1}) - Ich will das nur klarstellen, Frau Kollegin. Ich habe da überhaupt keinen Dissens gehört. Aber viele Hunderttausend Menschen hören heute zu oder erfahren das, was wir hier besprechen, auf anderem Wege. Insofern will ich deutlich machen: In den Vereinen sind zu 99,9 Prozent Menschen tätig, die für Toleranz, für Menschenrechte, für Respekt, für Fairness und für all das werben, was uns auch hier verbindet. ({2}) Nun gibt es offensichtlich ein Problem. Viele junge Menschen engagieren sich sehr stark in Vereinen; 50 Prozent unserer Jugendlichen sind in Sportvereinen. Diese jungen Menschen sind natürlich ein guter Nährboden für politische Strömungen, die versuchen, Menschen in die Irre zu führen, die mit Fremdenfeindlichkeit, mit Ausgrenzung, mit all den Dingen, die wir in unserem demokratischen Spektrum eben nicht wollen, versuchen, diesen Menschen einfache Antworten zu geben und damit vielleicht auch von Alltagsproblemen abzulenken. Insofern sind wir gut beraten, den Vereinen zu helfen - die Bundesregierung und die Initiative tun das - und sie übrigens auch zu ermutigen - auch diesen Aspekt möchte ich herausarbeiten -, sich dazu zu bekennen, wenn sie ein solches Problem in ihrer ehrenamtlichen Trainer- oder Betreuerschaft haben. Das ist doch ein wirkliches Problem bei diesem Thema. Wenn ein Verein sagt, er habe bei einem Jugendtrainer festgestellt, dass er beispielsweise Mitglied der NPD ist und dass er mit jungen Menschen nicht so arbeitet, wie der Verein sich das vorstellt, dann führt das zu einer medialen Ächtung und, möchte man fast sagen, zu einer gesellschaftspolitischen Hinrichtung des Vorstandes des Vereins und der anderen ehrenamtlichen Trainer. Es entsteht außerdem der Eindruck, der gesamte Verein habe jahrelang bewusst weggeschaut, was dazu führt, dass Eltern ihre Kinder aus dem Verein herausnehmen. So dürfen wir uns nicht wundern, dass die Vereine sagen: Wenn das die Konsequenz ist, dann vertuschen wir diese Vorkommnisse und schweigen das Thema lieber tot. - Daher möchte ich heute meine Rede dazu nutzen, nicht nur allgemeine Bekenntnisse abzugeben, sondern an uns und an die Medien zu appellieren, die Vereine, die den Mut haben, ein solches Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, zu unterstützen. Das ist ein wichtiger Aspekt dieser Debatte. ({3}) Ich möchte noch einen Punkt aufgreifen, bei dem ich manchmal das Gefühl habe, wir laufen ein wenig in die falsche Richtung. Wir haben in den Vereinen Ehrenamtliche, die sich mit vielen Dingen hoffentlich gut auskennen: mit den Regeln, mit Trainingsmethoden und damit, wie man die Vereinskasse ordentlich führt. Wir sollten uns aber alle gemeinsam davor hüten, diesen Ehrenamtlichen, die für unsere Gesellschaft eine wichtige Arbeit leisten, durch immer neue Auflagen, durch immer neue Prüfungen und durch immer neue Bürokratie die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erschweren. Ich empfehle, sehr genau hinzuschauen sowie für Toleranz, Fairness und Respekt zu werben. Wir müssen die integrierende Bedeutung des Sports für unsere Gesellschaft betonen und die Initiative, auf die der Herr Staatssekretär schon hingewiesen hat, unterstützen. Wo es Probleme gibt, müssen wir sie gezielt in Zusammenarbeit mit den Landessportbünden und den Fachverbänden angehen. Sie haben es vielleicht mitbekommen, dass während eines Auswärtsspiels von Tennis Borussia, einem Berliner Fußballverein mit jüdischen Wurzeln, das am vorletzten Wochenende stattfand, Leute auf den Platz gelaufen sind, rechtsradikale Parolen geschrien und Gewalt ausgeübt haben. Diese waren übrigens nicht Mitglieder des gastgebenden Vereins. Deswegen dürfen wir nicht den Eindruck erwecken - ich nenne deshalb den Namen des betroffenen Vereins nicht -, dass der Verein, der Gastgeber dieser Veranstaltung war, für irgendetwas, was auf dem Sportplatz passiert ist, verantwortlich ist. Der Sport und die Sportvereine werden missbraucht; ihnen wird Schaden zugefügt. Wir müssen gemeinsam schauen, wie wir den Vereinen helfen können. Es handelt sich um ein bedauerliches gesellschaftliches Phänomen. Wenn die Berichte des Bundesinnenministeriums zutreffen, können wir feststellen, dass der Rechtsradikalismus in Deutschland insgesamt deutlich abgenommen hat. Das ist gut so. Aber in den Vereinen müssen wir die Jugendlichen vor diesen Gefahren schützen. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung und die Verbände bei ihrer Arbeit. Wir halten es für angezeigt, dass wir über dieses Thema nicht streitig diskutieren. Wir müssen vielmehr deutlich machen, dass wir gemeinsam alles dafür tun, dass sich unsere Vereine gegen diese Menschen, die keine Toleranz, keine Fairness und keinen Sportsgeist zeigen, aktiv wehren können. Ich habe den Eindruck, dass wir da auf einem besseren Wege sind als in den letzten Jahren. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Sönke Rix von der SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal möchte ich feststellen, dass es heute nicht darum geht, dass Fußballfans - teilweise handelt es sich um Hooligans - bei Bundesligaspielen Spieler mit Migrationshintergrund beleidigen, wie wir es öfter im Fernsehen beobachten können. Es geht vielmehr darum, wie gerade bei den kleinen Vereinen vor Ort mit dem Thema Menschenverachtung, Rassismus und Rechtsextremismus umgegangen wird. Dass das im Sport genauso wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen ein wichtiges Thema ist, muss uns allen bewusst sein. Herr Bergner und Herr Steffel, Sie haben auf die guten Ansätze, die mit den Projekten verbunden sind, hingewiesen. Sie haben das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ und die Fanprojekte gelobt. Sie sprechen von einer guten Arbeit vor Ort. Dem schließen wir uns an und danken den Ehrenamtlichen herzlich für ihre Arbeit. ({0}) Ich sage auch einen herzlichen Dank dafür, dass wir diese Arbeit hier gemeinsam unterstützen. Wir sind uns darin einig, dass es sich um eine Aufgabe handelt, der wir uns ständig stellen müssen. Aber weil wir uns dieser Aufgabe ständig stellen müssen, ist unser Antrag ein Beitrag dazu, neue Impulse zu setzen. Diese vermisse ich aber auf der Seite der schwarz-gelben Koalition. Hier hätten Sie doch sagen können: Wunderbar, die Sozialdemokraten haben einen Antrag eingebracht. In der Bewertung der Lage sind wir uns einig und auch darüber, dass wir gute Projekte haben. Wie aber machen wir gemeinsam weiter? - Das fehlt auf der schwarz-gelben Seite. Hierzu hätte ich heute etwas mehr von Ihnen erwartet. ({1}) Die Frage, wie wir für Menschlichkeit und Toleranz werben können, ist nicht nur im Sport wichtig, sondern insbesondere auch in der Jugendpolitik. Das ist ein sehr wichtiges Thema. Ich vermisse in der Debatte über diese Frage aber noch ein Zweites, nämlich die Gesamtstrategie der Bundesregierung dazu. In den einzelnen Häusern gibt es viele unterschiedliche und gute Ansätze, was meistens in den Haushaltstiteln zum Ausdruck kommt. Wie aber die Gesamtstrategie der Bundesregierung für diesen Bereich aussieht, ist auch heute wieder nicht deutlich geworden. Ich bitte Sie, hier noch einmal nachzuarbeiten. Dann freuen wir uns auf die weitere Diskussion. ({2}) Schließlich ist heute noch einmal deutlich geworden, dass den Projekten die Nachhaltigkeit fehlt. ({3}) Nicht umsonst wollen wir die neuen Impulse starten und erneut über das Thema reden; denn es passiert immer wieder, dass gute Projekte auslaufen und leider nicht weitergeführt werden. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Machen Sie mit. Arbeiten Sie diese Punkte gemeinsam mit uns ab, wenn sie doch so schlecht gar nicht sind. Dann können wir ein gemeinsames Zeichen gegen Rechtsextremismus im Sport setzen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Rechtsextremistische Einstellungen im Sport konsequent bekämpfen - Toleranz und Demokratie nachhaltig fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7597, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5045 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - ({0}) - Wollen Sie Ihr Abstimmungsvotum ändern? - Ich wiederhole die Abstimmung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 15 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Somit rufe ich den Zusatzpunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1}) Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 17/7682 - Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/7682, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms - zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausgleich für Radargeschädigte der Bun- deswehr und der ehemaligen NVA - zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausgleich für Radargeschädigte der Bun- deswehr und der ehemaligen NVA voran- bringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Umfassende Entschädigung für Radar- strahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA - Drucksachen 17/7354, 17/5365, 17/5373, 17/7553 - Berichterstattung: Abgeordnete Karin Strenz Burkhardt Müller-Sönksen Agnes Malczak b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer ({4}), Kathrin Vogler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen NVA und ziviler Einrichtungen - Drucksachen 17/5233, 17/6556 Berichterstattung: Abgeordnete Karin Strenz Burkhardt Müller-Sönksen Paul Schäfer ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian Schmidt das Wort.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Herr Präsident! Mein Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte des gemeinsamen Antrags der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ist eine wichtige Debatte. Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich das Ergebnis der vorangegangenen Beratungen in den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages unter Federführung des Verteidigungsausschusses, mit der sie aufgefordert wird, zu prüfen, ob zur umfassenden Wahrung der Fürsorgepflicht für alle Bundeswehrangehörigen - aber auch für die ehemaligen Angehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR - eine Stiftung oder ein Fonds eingerichtet werden kann, um in besonderen Härtefällen auch außerhalb des geltenden Rechts finanzielle Unterstützung leisten zu können. Nach Auffassung der Bundesregierung sollten mit dem beabsichtigten Ausgleich auch Härtefälle erfasst werden, die außerhalb der Radarproblematik in Ausübung des Dienstes in der Bundeswehr entstanden sind und vermutlich bedauerlicherweise entstehen werden. Ich denke hier vor allem an Schädigungen, die im Rahmen der Auslandseinsätze der Bundeswehr entstanden sind, hier vor allem an diejenigen, die unter psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Ich darf bei dieser Gelegenheit stellvertretend für alle Mitglieder des Hauses der sicherheitspolitischen Sprecherin der FDP-Fraktion, Frau Hoff, danken, die sich beim Thema PTBS sehr intensiv eingebracht hat. ({0}) Um eine solche Unterstützung bei individuellen Härtefällen zu ermöglichen, ist die Errichtung einer Stiftung geplant. Das Soldatenhilfswerk der Bundeswehr, eine bekannte guttätige Einrichtung, hat sich in Vorgesprächen grundsätzlich bereit erklärt, bei Vorliegen der Voraussetzungen eine solche Stiftung unter seinem Dach und in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung zu errichten. Hierfür spreche ich dem Soldatenhilfswerk an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank aus. ({1}) Eine solche Tätigkeit ist nicht ganz einfach, weil erhebliche finanzielle Volumina bewegt und Entscheidungen im Einzelfall getroffen werden müssen, die von erheblicher Tragweite für die Betroffenen sind. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seiner Sitzung vom 27. Oktober dieses Jahres empfohlen, im Haushalt des Jahres 2012, in unserem Einzelplan 14, eine Summe von 7 Millionen Euro für eine mögliche Stiftungslösung vorzusehen. Ich komme gerade von der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses und durfte die frohe Nachricht mitnehmen, dass zwischenzeitlich die letzten Hürden genommen worden sind. ({2}) Kollegin Hoff, es ist ein Zufall, dass diese Bereinigungssitzung vor unserer Debatte stattgefunden hat und ich dem Hauptberichterstatter Ihrer Fraktion, Herrn Koppelin, sowie den Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der Koalition, aber auch der Opposition für die Unterstützung danken darf. Ich möchte sowieso sagen: Bei diesem Thema, das sich seit 12 oder 13 Jahren in der politischen Diskussion befindet, stehen wir alle in einer Verantwortung, sei es eine parlamentarische Verantwortung oder eine Regierungsverantwortung; wir haben mit erheblichem Engagement und Maß versucht, uns den entsprechenden Fragen zu stellen. Die Diskussionen sind nun zu einem gewissen Abschluss gekommen; das ist erfreulich. Wir werden nicht nur die Empfehlungen der Radarkommission eins zu eins umsetzen; es kommt ein weiteres Instrument hinzu, das mit Blick auf die Fürsorge angewendet werden kann. Die entsprechenden Gelder müssen sicherlich mit Augenmaß und verantwortungsbewusst verteilt werden; sie müssen ihre Wirkung entfalten können. Wir werden über eine reine Stiftungslösung hinausgehende Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Radargeschädigten sorgfältig prüfen. Ohne das Ergebnis vorwegnehmen zu wollen, möchte ich zu der Aufforderung, eine finanzielle Beteiligung der Gerätehersteller an solch einer Stiftung zu erreichen, jedoch sagen, dass dies zwar angestrebt und gefordert wird, wir uns aber, wie ich meine, nicht von unserem Weg abbringen lassen dürfen, indem wir Bedingungen aufstellen, die ein baldiges Wirken der Stiftung verhindern würden. Hinsichtlich der Empfehlungen aus dem Bericht der Radarkommission kann ich versichern, dass wir diese eins zu eins umsetzen. Wir haben eine erhebliche Zahl von Fällen, die bereits verbeschieden sind. Darüber hinaus kann ich versichern, dass wir Entscheidungsspielräume, beispielsweise bei Doppelkausalitäten, im Sinne der Betroffenen nutzen, ohne im Einzelfall nachzuprüfen, ob wirklich eine Kausalität besteht. Das ist eine Frage, die sich über das soziale Entschädigungsrecht hinaus entwickelt. Das müssen wir wissen. Genauso gehört dazu, dass sich der jetzige Sachverständigenbeirat „Versorgungsmedizin“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales fortentwickelt und dort neue Prüfungen von über das evidenzbasierte Wissen hinausgehenden Vorgaben erforderlich sind, um beispielsweise bei der CLL, der chronischen lymphatischen Leukämie, oder bei benignen Tumoren zu möglicherweise neuen Bewertungen zu kommen. Diese werden dann selbstverständlich einfließen. Ich hoffe, dass wir aus dem Bereich Radar nicht weitere neue Fälle von Soldatinnen und Soldaten dazubekommen, die Schäden davongetragen haben. Ich meine, dass das Instrument einer Stiftung für die Fürsorge, die wir unseren Soldatinnen und Soldaten angedeihen lassen müssen, eine ganz wichtige Errungenschaft ist. Dafür möchte ich mich noch einmal bei allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern sowie beim Haus für die Unterstützung und die Aufforderungen bedanken. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ullrich Meßmer von der SPD-Fraktion. ({0})

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben innerhalb kürzester Zeit jetzt zum zweiten Mal Gelegenheit, eine parlamentarische Initiative auf den Weg zu bringen, die den Menschen nützt. Nach dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz bringen wir jetzt eine Initiative auf den Weg, die weiteren Menschen, die vielleicht nicht im Auslandseinsatz waren - Herr Staatssekretär, das reicht zum Teil weiter zurück -, helfen soll, ihre Ansprüche zu befriedigen. Seit über elf Jahren beschäftigen sich die Fraktionen dieses Hauses mit einem Ausgleich für radargeschädigte Soldatinnen und Soldaten der ehemaligen NVA und der Bundeswehr. 2003 veröffentlichte die Radarkommission ihren Bericht, entwickelte dazu Kriterien und Vorschläge und zeigte Wege auf. Problematisch gestaltete sich, wie mir als Parlamentsneuling berichtet worden ist, allerdings nicht die Frage des Willens, sondern, wie es so oft der Fall ist, der Umsetzung. Besonders gut wissen das unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem Petitionsausschuss. Immer wieder schreiben ehemalige Soldatinnen und Soldaten, wie schwierig und vor allem wie langwierig es ist, eine Wehrdienstbeschädigung nachzuweisen oder anerkennen zu lassen. Deshalb gibt es eine Erwartungshaltung der Geschädigten an uns - ich finde: zu Recht. Sie verweist auf unsere Fürsorgepflicht. Ich zitiere aus unserem vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag: Der politische Wille, den auf Grund ihrer Strahlenexposition Erkrankten möglichst zügig und unbürokratisch zu helfen, ist fraktionsübergreifend vorhanden. Ich sage deutlich: Jeder fraktionsübergreifende Antrag, meine Damen und Herren, ist ein Kompromiss, aber auch ein fraktionsübergreifender Konsens. Ich glaube, dass er auch ein Stück weit in die Zukunft gerichtet ist. Angesichts der schon angesprochenen Zeitknappheit war dies ein notwendiger Weg. ({0}) Vor uns liegen klare Verbesserungen der jetzigen Situation: Erstens. Die Möglichkeit, dass bereits abgelehnte Fälle als Härtefälle positiv im Sinne der Antragsteller beschieden werden können. Zweitens. Eine mögliche Beteiligung der Gerätehersteller an einem Ausgleich. Drittens. Eine klare Aufforderung auch an die Verwaltung, die Umsetzungspraxis weiter im Interesse der Betroffenen zu verbessern. Viertens. Die Absicht, auch weiterhin neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Anerkennungspraxis zu berücksichtigen. Fünftens. Die Aufforderung, ein Expertengremium für Zweifelsfälle einzurichten, das auch vermitteln kann. Sechstens. Eine jährliche Berichtspflicht der Bundesregierung zur Kontrolle der Fortschritte. Was bedeutet das konkret? Erstens. Bereits abgelehnte Anträge - ich hatte bereits darauf hingewiesen erhalten erneut eine Chance. Hier fordert der Antrag eindeutig, dass im Zweifelsfall großzügig verfahren werden soll - ich zitiere -, um in besonderen Härtefällen, die auf Grund der Ausübung der dienstlichen Pflichten entstanden sein könnten, eine gewisse Unterstützung - auch außerhalb des geltenden Versorgungsrechts - ermöglichen zu können. Sie haben auf die Problematik hingewiesen. Zweitens ermöglicht der Antrag ungeachtet rechtlicher Verpflichtungen eine Beteiligung der Gerätehersteller an einer solchen Stiftung oder einem Fonds, der dann notwendig wäre. Ich weiß auch - ich will das so deutlich sagen -, dass das sicherlich einer der schwierigsten Teile ist. Niemand wird sich jubelnd darauf stürzen. Aber ich denke, es ist es durchaus wert und Aufgabe der Bundesregierung, ein Stück weit auf die Gerätehersteller einzuwirken, dass auch sie als Produzenten eine Verantwortung für die durch Strahlung geschädigten Opfer haben. Drittens. Besonders wichtig ist es mir, festzuhalten, dass der Wille, den Opfern zu helfen, im Vordergrund steht, und zwar möglichst unbürokratisch und möglichst zügig. Ich gebe zu, das wir uns als SPD bei diesen Formulierungen ein bisschen mehr Biss gewünscht hätten. Aber wir sind uns einig, es gilt die Feststellung: Es mangelt in diesem Haus nicht am politischen Willen. Die Umsetzung ist vielleicht - hier hilft der Antrag - noch verbesserungsfähig. Viertens. Es ist wichtig, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Das ist im Interesse der Betroffenen; denn manche Krankheitsbilder werden möglicherweise erst in den nächsten Jahren so weit untersucht sein, dass man ionisierende Strahlung als Auslöser ansehen oder sicher ausschließen kann. Deshalb müssen auch weitere Untersuchungen erfolgen. Radioaktive Leuchtfarbe wird im Antrag explizit genannt. Es geht um Klarheit für ehemalige Bordmechaniker und Wartungspersonal, die Leuchtfarben ohne Schutzvorrichtungen erneuert haben. Fünftens. Bei strittigen Fällen sollen unabhängige Experten zurate gezogen werden. Dadurch können Verfahrensdauern verkürzt werden; denn die Zeit wird knapp. All diese Vorschläge wurden fraktionsübergreifend - ich will das so deutlich sagen - erarbeitet. Das war eine positive Erfahrung für mich, deshalb möchte ich mich bei allen Beteiligten der Fraktionen für die sehr kollegiale und zielorientierte Zusammenarbeit herzlich bedanken. Mein Dank geht auch in Richtung der Interessenverbände der Opfer und des Deutschen BundeswehrVerbandes. Ihrem unablässigen Wirken - das muss man so ehrlich sagen - ist es zu verdanken, dass das Thema Radarschädigung nicht vergessen, sondern auf der politischen Tagesordnung gehalten wurde. ({1}) Ich weiß, dass in dem Antrag nicht alle Wünsche bis zum Letzten erfüllt worden sind, zum Beispiel in der Frage der Beweislastumkehr bzw. der Erleichterung von Anerkennung weiterer Krankheitsbilder oder der Ausweitung der Gruppe der Betroffenen. Ich will hinzufügen: Es ist nicht alles eins zu eins umsetzbar. Man muss sich fragen: Entscheide ich mich für den schönsten Antrag im Interesse der Verbände, der aber keine Mehrheit im Parlament findet, oder entscheide ich mich für einen Antrag im Sinne der Opfer, der die Mehrheit im Parlament findet? Ich denke, wir haben uns richtig entschieden. Ich weiß, dass viele Dinge problematisch sind. Man könnte in Abwandlung des deutschen Sprichwortes von Spatz und Taube die irische Variante nehmen, die da lautet: Ein Vogel in der Hand ist ungefähr so viel wert wie zwei Vögel im Busch. Dieser Antrag ebnet den Weg zu etwas besseren Lösungen. Die derzeitige Entschädigungspraxis wird verbessert. ({2}) - Ja, das war nur die Abwandlung des Sprichwortes von Spatz und Taube. Die Iren haben da eine etwas andere Formulierung, vielleicht eher landschaftlich verhaftet. Herr Staatssekretär, Sie kommen gerade aus der abschließenden Konsolidierungssitzung. Ich denke, man muss über die 7 Millionen Euro, je nachdem, wie die Entschädigungspraxis ausfällt, nachdenken; denn gute Absichten können bei unzureichender finanzieller Unterfütterung - das ist mir sehr wichtig - sehr schnell in das Gegenteil umschlagen, weil alle sagen: Ihr habt etwas Schönes gemacht, aber ihr gebt kein Geld dazu, damit das umgesetzt werden kann. Mein Appell geht an die Haushälter aller Fraktionen: Es ist noch einmal zu überlegen, ob man nicht gerade in der Anfangsphase, in der der Druck sehr groß ist, doch noch Verbesserungen erreichen kann. Ich glaube, dass hier einiges möglich ist. Wir sind uns darüber einig, dass wir zügig und unbürokratisch helfen wollen. Die Praxis wird zeigen, ob es tatsächlich gelingt, hier etwas auf den Weg zu bringen. Wenn aus der Absicht Realität wird, waren wir mit unserem Antrag sehr erfolgreich. In diesem Sinne betone ich: In den weiteren Beratungen bis zur Abstimmung geht es darum, das Ganze umzusetzen. An die Arbeit, die Zeit drängt! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhardt MüllerSönksen von der FDP-Fraktion. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Meßmer, im Anschluss an Ihre Rede möchte ich zwei Dinge ansprechen. Erstens. Sie haben von der Beweislastumkehr gesprochen. Dieser Antrag stellt in gewisser Weise juristisch eine Beweislastumkehr dar. Ja, wir wollen den Betroffenen helfen. Das ist richtig und gut so. Bisher mussten die Soldaten beweisen, dass sie eine Schädigung davongetragen haben. Das haben wir mit diesem Antrag beseitigt. Insofern ist das ausgeräumt. Ich möchte gleich mit einem zweiten Punkt aufräumen: Für mich sind die 7 Millionen Euro, die wir angesetzt haben, das Ergebnis einer realistischen Abschätzung dessen, was wir finanziell zu wuppen haben. Das ist seriös gerechnet. Diese Summe ist im Haushaltsentwurf bereits enthalten; das ist wichtig und zu betonen. Ich möchte aber auch klar sagen, dass eine Evaluierung stattfinden wird. Es gibt keinen Deckel. Wir müssen seriös arbeiten und schauen, ob das reicht. ({0}) Wir als Parlament haben Wort gehalten. Mit dem heute vorliegenden Antrag haben wir die Grundlage für einen fairen und unbürokratischen Ausgleich für die Radargeschädigten gefunden. Darüber werden wir gleich abstimmen. Mich freut besonders, dass wir keinen Unterschied machen, ob die Soldatinnen und Soldaten bei der Bundeswehr oder bei der NVA gewesen sind. Der heute vorliegende Antrag geht auf die gemeinsame Initiative einer breiten Mehrheit der Fraktionen hier im Haus zurück. Daher gilt mein besonderer Dank meinen Berichterstatterkolleginnen, Karin Strenz und Agnes Malczak, sowie meinem Berichterstatterkollegen, Herrn Meßmer. Wir haben im Interesse der Sache und im Interesse der Soldatinnen und Soldaten sehr gut zusammengearbeitet. ({1}) Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist, einen solchen Konsens im Sinne der Sache zu finden. Mein Dank gilt auch dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian Schmidt, der das Anliegen des Parlaments von Anfang an positiv begleitet hat. ({2}) Mein Dank gilt aber auch den Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss. Sie haben trotz der großen Herausforderung Bundeswehrreform eine Möglichkeit gefunden, im Verteidigungshaushalt eine angemessene Entschädigung für die Radaropfer einzustellen. Ganz besonders möchte ich mich bei den Opferverbänden bedanken. Sie haben uns Parlamentariern in vielen Gesprächen, in vielen Stunden immer wieder die Lücken im bisherigen Entschädigungsverfahren aufgezeigt. Ihr jahrelanges Engagement ist ein Grund dafür, dass wir heute den ersten Schritt in die richtige Richtung, in Richtung einer umfassenden Entschädigung gehen werden. Wir als FDP-Fraktion setzen uns seit mehr als zehn Jahren für einen fairen Ausgleich für die Radargeschädigten ein. Viele Jahre lang - der Kollege sagte das eben schon - scheiterte die Umsetzung, scheiterte eine Lösung immer wieder an Teilen der jeweils wechselnden Koalitionsfraktionen. Deswegen freut es mich ganz besonders, dass jetzt mit der liberalen Regierungsbeteiligung und zugleich auf Basis eines solch breiten Konsenses hier im Parlament der Ausgleich für die Radargeschädigten auf den Weg gebracht wird. Das ist ganz besonders wichtig: Es bleibt nicht bei einer folgenlosen Absichtserklärung, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit dem Radarbericht 2003 - das war gut gemeint - in diesem Parlament besprochen worden ist. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass die notwendigen Mittel für die finanzielle Entschädigung im Verteidigungsetat bereitgestellt werden. Der Staat übernimmt hier endlich konkret Verantwortung für die gesundheitlichen Folgeschäden der Soldaten, die für Deutschland ihren Dienst geleistet haben. Der breite Konsens, von dem der Antrag getragen wird, zeigt, dass die Fürsorge für unsere Soldatinnen und Soldaten ein Anliegen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages ist. Wie schon beim Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz senden wir ein gemeinsames Signal für unsere Soldaten. Die Veteranen - darauf möchte ich zum Abschluss gern zu sprechen kommen - sind viel zu lange sowohl von der Politik als auch von der Bundeswehr vernachlässigt worden. Für die Mehrheit der Veteranen steht nicht nur die finanzielle Entschädigung im Mittelpunkt, sie wünschen sich vielmehr Anerkennung für ihre Leistungen und für ihren Einsatz. Sie verdienen endlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit und eine faire und unbürokratische Behandlung ihrer Anliegen. Überall dort, wo sich noch Lücken auftun - ich verweise gern auf die Ausführungen des Kollegen Meßmer -, müssen wir sorgfältig schauen, ob wir diese Lücken bereits durch unseren Antrag schließen oder noch weiter tätig werden müssen. Damit dienen wir nicht nur den aktiven, sondern gleichermaßen auch den früheren Soldaten der Bundeswehr und der NVA. Jeder Soldat, der Dienst für unser Land geleistet hat, muss sich der Fürsorge des Dienstherrn sicher sein. Auch wenn es sich bei den Radargeschädigten nur um eine vermeintlich kleine Gruppe handelt, müssen wir im Umgang mit ihnen beweisen, dass wir es mit der Fürsorgeverpflichtung ernst meinen, die wir als Parlament gegenüber unserer Parlamentsarmee eingegangen sind. Nun liegt es an der Bundesregierung, zeitnah einen passenden Vorschlag vorzulegen, wie die unbürokratische Entschädigung am besten gestaltet werden kann. Die Signale, die im Vorfeld von Staatssekretär Schmidt zu vernehmen waren, waren ausgesprochen positiv. Schon bald - darauf freue ich mich - werden wir im Verteidigungsausschuss und im Plenum darüber sprechen können, wie das konkrete Modell einer Stiftung oder eines Fonds ausgestaltet wird. Dann können in der ersten Hälfte des kommenden Jahres die ersten EntschädigunBurkhardt Müller-Sönksen gen geleistet werden. Damit, dass wir hier heute beginnen, setzen wir ein Zeichen. Ich bitte daher alle um ihre Zustimmung zu diesem interfraktionellen Antrag. Ich glaube, dass diese breite Mehrheit hier eine klare Aussage in Richtung der Radargeschädigten ist: Wir haben euch nicht vergessen, und wir setzen uns weiterhin für euch ein. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege Harald Koch. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten führen viele ehemalige Bundeswehr- und NVA-Angehörige einen engagierten, aber erfolglosen Kampf um Anerkennung und Entschädigung für ihre unwissentlich durch die Arbeit an ungeschützten Radargeräten erworbenen Krankheiten. Um diesen Menschen endlich zu ihrem Recht zu verhelfen, gibt es seit mehr als einem Jahr interfraktionelle Gespräche, die maßgeblich von der Linken initiiert wurden. ({0}) Dabei wurde von allen Fraktionen immer wieder der Wille bekundet, den Betroffenen möglichst zeitnah und umfassend Hilfe zuteil werden zu lassen. Dass dies offenbar nur leere Floskeln waren, zeigt sich nun in dem Antrag, den Sie heute zwar interfraktionell, aber ohne die Linke vorlegen. Ich möchte hier Folgendes betonen - das erwarten Sie wahrscheinlich gar nicht -: Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Berichterstatterkolleginnen und -kollegen für die Zusammenarbeit. Es war eine sehr sachliche Zusammenarbeit, aber leider wurden wir als Linke dann aus diesem Antrag ausgeschlossen. Ich bedauere das sehr. Ich hoffe, dass das in Zukunft anders wird. Sie fordern in Ihrem Antrag, die Bundesregierung solle prüfen, ob eine gewisse Unterstützung durch eine Stiftung oder einen Fonds denkbar ist. Das ist zu wenig; das ist zu unverbindlich. Sie prüfen seit zehn Jahren. In den letzten zehn Jahren ist bei dieser Prüfung nichts Sinnvolles für die Betroffenen herausgekommen. Das sage ich aus der Sicht der Betroffenen. Wie wir das sehen, sei dahingestellt. Soll es jetzt noch weitere zehn Jahre so gehen? Dafür haben die Betroffenen keine Zeit mehr. Aufgrund ihres oft schon hohen Lebensalters sterben sie, bevor die Bundesregierung zu Ende geprüft hat. Das kann ja wohl nicht Ihre Lösungsstrategie sein. Das Spiel auf Zeit zulasten der Betroffenen ist zynisch und muss endlich ein Ende haben. ({1}) Des Weiteren sind wir sehr verwundert, dass Sie sich jetzt auf die Stiftungslösung versteift haben, obwohl uns die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages - sie sind hoch geschätzt - in der Antwort auf eine interfraktionelle Anfrage genau davon abgeraten haben. Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr kompliziert, und die eigentlich angestrebte unbürokratische und schnelle Hilfe kann damit kaum gewährleistet werden. Die Linke wird daher sehr genau prüfen und beobachten, ob diese Stiftung wirklich Abhilfe schafft. Aber nicht nur wir sind verwundert und enttäuscht. Auch die Betroffenenverbände fühlen sich wieder einmal von der Politik allein gelassen. Sie - damit meine ich alle vier Fraktionen, die diesen Antrag eingebracht haben - hätten die Chance gehabt, eine klare politische Botschaft im Sinne der Betroffenen an die Regierung zu senden. ({2}) Stattdessen fehlt Ihnen wieder einmal der Mut, und Sie bringen einen Antrag ein, der vom Bundesministerium der Verteidigung geschrieben wurde. So ist Parlamentarismus aus meiner Sicht nicht zu verstehen. Noch einen Satz an die SPD und die Grünen. Warum lassen Sie sich an dieser Stelle eigentlich vor den Karren der Regierung spannen? Vor ein paar Monaten standen wir kurz davor, einen gemeinsamen und viel weiter gehenden Antrag einzubringen, der von Ihnen maßgeblich mitgeschrieben wurde. Warum jetzt dieser Rückzieher? Zufrieden sein können Sie mit dem jetzigen Ergebnis jedenfalls nicht. Dass Sie es nicht sind, zeigen Sie, indem Sie neben dem Regierungsantrag eigene - zum Teil mit uns gemeinsam erarbeitete - Anträge vorlegen. Die Linke jedenfalls bleibt dabei: Der vorliegende interfraktionelle Antrag besagt nicht viel mehr als „Weiter so wie bisher“. Da machen wir nicht mit. Wir fordern ein Radarstrahlenopfergesetz, welches die Anerkennungsund Entschädigungsverfahren schnell und unbürokratisch im Sinne der Geschädigten voranbringt, ({3}) Geschädigte der ehemaligen NVA und der Bundeswehr gleich behandelt und auch zivile Radargeschädigte berücksichtigt. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat die Kollegin Agnes Malczak von Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut und richtig, dass dieser interfraktionelle Antrag heute vorliegt. Sicherlich kann er nur ein Kompromiss sein. Deshalb, Herr Kollege Koch, haben wir unsere ursprünglichen Anträge für erledigt erklärt, um das an dieser Stelle klarzustellen. Wir konnten uns in unserem interfraktionellen Antrag auf wichtige gemeinsame Forderungen an die Bundesre16574 gierung einigen. Dazu gehört vor allem der Prüfauftrag zur Einrichtung einer Stiftung zur Unterstützung der radargeschädigten ehemaligen Soldaten und eines unabhängigen Expertengremiums für Streitfälle. Einig sind wir uns aber nicht in der Bewertung der bisherigen Entschädigungspraxis. Wir haben eine besondere Verantwortung für die Parlamentsarmee. Diese besteht auch in der Verpflichtung zur Fürsorge für die Soldatinnen und Soldaten. Das gilt nicht nur für die Gegenwart und die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit. ({0}) Die durch Radarstrahlen geschädigten Soldaten haben diese Fürsorge bisher nur unzureichend erfahren. Dies gilt auch für die ehemaligen Soldaten der NVA. Hier müssen wir dringend Abhilfe schaffen. Es war schon einige Überzeugungskraft notwendig, um die Koalitionsfraktionen von diesem Handlungsbedarf zu überzeugen. Das Verfahren ist an der einen oder anderen Stelle leider unnötigerweise ins Stocken geraten. Erst nachdem die Oppositionsfraktionen jeweils Anträge eingereicht haben, haben sie sich bewegt. Allein in dieser Legislaturperiode haben wir nun zwei Jahre gebraucht, um diesen Kompromiss zu erzielen. Insgesamt wurde auf diese Art und Weise zu viel Zeit vertan, Zeit, in der sich die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und der NVA und ihre Angehörigen von Dienstherr und Politik alleine gelassen gefühlt haben. ({1}) Es ist zehn Jahre her, dass sich der Verteidigungsausschuss erstmals intensiv mit dem sogenannten Radarproblem auseinandergesetzt hat. Ehemalige Soldaten der Bundeswehr, aber auch der NVA waren bis in die 80erJahre hinein unzureichend geschützt an Geräten eingesetzt, von denen eine gesundheitsschädliche Strahlung ausging. Die tragischen Folgen für die Soldaten zeigten sich in der Regel erst wesentlich später. Die Betroffenen erkrankten schwer - nicht selten mit tödlichem Ausgang -, sie konnten keine Kinder zeugen, oder ihre Kinder kamen mit massiven Erbgutschäden zur Welt. Da die Ursache ihrer Erkrankung im Dienst bei der Bundeswehr lag, sollten sich die Betroffenen eigentlich auf die Fürsorge und Unterstützung ihres ehemaligen Dienstherrn verlassen können. Es war eine äußerst schmerzhafte Erfahrung für die Betroffenen, dass der Dienstherr eine Verantwortung zuerst verweigerte. Doch sie gaben nicht auf und konnten schließlich erreichen, dass sich das Parlament mit ihrer Situation auseinandersetzte. Experten untersuchten damals im Auftrag des Verteidigungsministeriums die Zusammenhänge und empfahlen schließlich eine wohlwollende Entschädigungspraxis. Das ist acht Jahre her. Es ist traurig, dass dieser Antrag nach diesem langen Zeitraum heute noch notwendig ist. In dieser Zeit ist es eben nicht gelungen, die Entschädigungspraxis so zu gestalten, dass allen Betroffenen geholfen werden kann. Die Folge ist, dass Menschen, die um ihr Leben kämpfen, oder auch die Hinterbliebenen Kraft in einen mühsamen Rechtsstreit stecken müssen. Es ist richtig, dass wir hier von schwierigen Fragen des Entschädigungsrechts sprechen, doch kann eben nicht die Rede davon sein, dass bisher alle erdenklichen Spielräume immer schnell und entschlossen ausgeschöpft worden sind. ({2}) Das Verteidigungsministerium ist jetzt in der Pflicht, den Auftrag, den das Parlament ihm heute hier erteilen will, zügig umzusetzen. Insbesondere in die Stiftungslösung setzen viele Betroffene große Hoffnungen, und die dürfen wir nicht enttäuschen. In den Debatten und in der heute diskutierten Einigung haben wir uns auf die ehemaligen Soldaten konzentriert. Was wir nicht vergessen sollten: Auch die zweite Generation, die Kinder der Soldaten, ist durch Erbgutschäden von dieser Problematik betroffen. Auch für sie ist die Entschädigungsfrage noch nicht beantwortet. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie bei der Umsetzung dieses Antrages auch die Kinder der betroffenen Soldaten nicht außer Acht lässt. ({3}) Die Weigerung, ein Problem im Fürsorgebereich anzuerkennen und schnell und entschlossen nach einer Lösung zu suchen, finde ich im Übrigen ausgesprochen bedenklich. Radargeschädigte sind für diese Haltung nur ein Beispiel. Auch die an einer posttraumatischen Belastungsstörung Erkrankten mussten viel zu lange um die Anerkennung ihrer Probleme und um Unterstützung kämpfen. Ich kann den Minister nur eindringlich dazu auffordern, die Neuausrichtung der Bundeswehr auch als Chance zu nutzen, hier an einem Einstellungswandel zu arbeiten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Karin Strenz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Karin Strenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004170, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Bürgern mahlen die Mühlen unserer parlamentarischen Demokratie zu langsam. Seien wir ehrlich: Auch wir als Abgeordnete müssen bisweilen erfahren, dass sie nicht schneller mahlen, selbst dann nicht, wenn wir noch so viel Wind drum machen. Aber unser Mühlen mahlen eben. Ich freue mich, dass wir uns mit dem Antrag heute abermals um jene Männer kümmern, die einst bei NVA und Bundeswehr bis in die 80er-Jahre hinein ohne Wissen gesundheitliche Schäden durch Radarstrahlen erlitten haben. Wir tun dies nicht zum ersten Mal. Es war der Verteidigungsausschuss, der vor allerdings fast zehn Jahren eine unabhängige Radarkommission erkämpft hatte. In ihrem Abschlussbericht kam sie 2003 zwar zu dem Ergebnis, dass es keinen konkreten Zusammenhang zwischen der Arbeit am Radargerät und späteren Erkrankungen gebe, gleichwohl war dies kein Vorwand, um finanzielle Hilfen zu verweigern; denn die Kommission schlug vereinfachte Kriterien vor, um Versorgungsanträge anzuerkennen. Nun baut unser Rechtsstaat - übrigens aus gutem Grund - manche Hürde zwischen Helfen-Wollen und Helfen-Dürfen. Der Rechtsstaat will nämlich genau wissen, ob jemand Ansprüche hat, ob ihm geholfen werden darf oder gar geholfen werden muss. Das ist für den Betroffenen natürlich nicht immer leicht; denn die Hilfe, die der Staat gewährt, trägt der Steuerzahler. Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt wurden, bisweilen ungerecht behandelt fühlen, ist menschlich absolut nachvollziehbar. Ich nehme aber ausdrücklich auch die Beamten in Schutz, die diese Verfahren begleitet haben und auch weiter begleiten werden. Ich habe in jüngster Zeit immer wieder mit einem Vorstandsmitglied des Bundes zur Unterstützung Radargeschädigter persönliche Gespräche geführt und auch sehr lange telefoniert - so auch heute. Der Mann hat Ausdauer, und er verfolgt, wie viele seine Mitstreiter, unsere Arbeit sehr, sehr aufmerksam. Der eine oder andere Kollege kann das ganz sicher bestätigen. ({0}) Vielen Radargeschädigten sind wir natürlich nicht schnell genug, und ich kann das gut verstehen. Es tickt da - die Betroffenen nennen das selbst so - eine biologische Uhr. Wir haben es mit Männern zu tun, die in den 60er- und 70er-Jahren gedient haben. Das ist schon eine Weile her. Die meisten Männer sind nur noch auf alten Fotos jung. Sie wollen und können nicht mehr warten. Jeder fünfte Antrag auf Entschädigung ist im Laufe der Jahre anerkannt worden. Dies mag auf den ersten Blick wenig erscheinen. Mehr als zwei Drittel wurden nicht bewilligt. Man hat dennoch großzügig geprüft, immer mit dem Wissen, wie schwierig der Nachweis sein kann, dass eine heutige Erkrankung mit der Arbeit an Radargeräten vor Jahrzehnten zusammenhängt. Vergessen wir nicht: Dass heute manches so kompliziert ist, liegt auch daran, dass von damals so wenig dokumentiert ist. Es fehlte letztlich das Bewusstsein im Umgang mit Strahlen, zumal sich die Folgen nicht sofort zeigten, sondern oft erst Jahre oder Jahrzehnte später. Das Soldatenbild hat sich seit der Gründung der Bundeswehr gewandelt - zum Glück. Ich kann mir vorstellen, dass Schmerzen früher nicht ins Bild passten. Man hat sich weniger Gedanken um das Wohlergehen der Soldaten und auch um ihre Gesundheit gemacht. Wie schwer der Kampf für die Rechte ist, auch davon können die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit ihren Forderungen, um das einmal vorsichtig zu sagen, bei der Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer offene Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück geändert. Die Anerkennungskriterien sind vielfach weit ausgedehnt worden: im Zweifel für das Opfer. So wurden etwa trotz eines festgestellten Konkurrenzrisikos - starkes Rauchen ist beispielsweise eines - Ansprüche anerkannt. Als Gesetzgeber haben wir eine besondere Fürsorgepflicht für alle Soldaten, nicht nur für die noch aktiven. Wir haben sie auch für die ehemaligen Angehörigen der Bundeswehr und, anders als es hier steht, auch der NVA. Auch sie haben gedient. Auch sie hätten im Ernstfall ihre Heimat, ihr Vaterland und seine Menschen verteidigen müssen. Ich meine, wir sind es ihnen schuldig, sorgfältig zu prüfen, ob die bisherigen Hilfen ausreichen. ({1}) Die gesundheitlichen Probleme im Alltag bleiben häufig. Und mehr noch: Sie verändern sich mit den Jahren und dem Alter, leider nicht zum Besseren. Es hat mich sehr bedrückt, in Gesprächen zu hören, wie enttäuscht viele Radaropfer heute sind. Ich bedaure es, dass diese Männer keine guten Erinnerungen an ihre Armeeoder Bundeswehrzeit haben, weil das heute viel von dem trübt, was sie damals erlebt und geleistet haben. Aber ich bin noch optimistisch, dass wir mit diesem interfraktionellen Antrag wieder einen Beitrag zur Versöhnung erbringen können. Daran hat das Verteidigungsministerium, vor allem aber der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt, einen großen Anteil. Dafür herzlichen Dank! ({2}) Der Dank geht natürlich ebenso an die Berichterstatterkollegen, mit denen wir vielfach zusammengesessen haben und heute hoffentlich ein tolles Abstimmungsergebnis erzielen werden. Jedem Opfer werden wir es wahrscheinlich nicht recht machen können. Wer von der Politik - das ist immer so - absolute Gerechtigkeit und die Zufriedenheit aller Betroffenen verlangt, ist und bleibt blauäugig. Das ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit unterschiedlichen, sehr persönlichen Schicksalen zu tun haben und eben nicht mit einer Art Standarderkrankung. Aber wenn wir hier und dort Leid lindern, ist das ein gutes Ergebnis. Dann hätte sich alles gelohnt: das Ringen um einen gemeinsamen Antrag, die Suche nach einem Kompromiss, kurz: unsere gesamte Arbeit. Geholfen hat uns auch in schwierigen Augenblicken, wenn die Verhandlungen einmal ins Stocken gerieten, ein gemeinsamer Wille: Helfen - schnell und unbürokratisch; denn das Ticken der biologischen Uhr kann verdammt laut sein. In Härtefällen soll der Dienstherr auch seiner Fürsorgepflicht nachkommen dürfen, wo das Versorgungsrecht eben nicht weiterhilft. Das ist ein wichtiges Ergebnis. Wir wollen erreichen, dass noch nicht abgeschlossene Fälle sorgfältig behandelt werden. Die Bundesregierung widmet sich also nicht nur der Ausfinanzierung, sie schaut auch, ob die Gerätehersteller beteiligt werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind mit diesem Antrag auf einem guten Weg. Das behaupte nicht nur ich. Das hat mir auch der Vorstandsmann vom Bund zur Unterstützung der Radargeschädigten bestätigt. Unser letztes Telefongespräch wird es mit Sicherheit trotzdem nicht gewesen sein. Die Mühlen mahlen weiter. Danke. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 17/7553. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7354 mit dem Titel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. ({0}) Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5365 mit dem Titel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA voranbringen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5373 mit dem Titel „Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Stimmverhältnissen wie die vorherige angenommen. Tagesordnungspunkt 32 b: Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen NVA und ziviler Einrichtungen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6556, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5233 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Graf ({1}), Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Glücksspielsucht bekämpfen - Drucksache 17/6338 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen im Saal so vorzunehmen, dass wir die Aussprache eröffnen können. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion. ({3})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Laut dem Endbericht des sogenannten PAGE-Projektes gibt es in Deutschland hochgerechnet circa 500 000 pathologische Glücksspieler und rund 800 000 problematische Spieler. Rund 3 Millionen Menschen haben ein oder zwei Kriterien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt. Glücksspiel wird vor allem von der Hoffnung auf einen großen Gewinn gespeist oder der Hoffnung, durch das Spielen aus einer schwierigen finanziellen Situation herauszukommen. Bei Süchtigen kommt die Hoffnung dazu, verlorenes Geld durch nochmaliges Spielen wieder zurückzugewinnen. Diese Hoffnung wird jedoch in der Regel nicht erfüllt. Im Gegenteil: Glücksspielsucht hat für Betroffene und deren Familien dramatische psychische und materielle Folgen wie Verschuldung, Kriminalität oder im schlimmsten Fall auch Selbstmord. In unserem Antrag schlagen wir ein Gesamtkonzept zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht vor. Das ist nur in Zusammenarbeit von Bund und Ländern möglich. Wir sehen es daher sehr kritisch, dass die Bundesregierung noch immer keine abgestimmten Vorschläge für die dringend notwendige Novelle der Spielverordnung vorgelegt hat. ({0}) Angelika Graf ({1}) Der Europäische Gerichtshof hat ein kohärentes System der Prävention und Bekämpfung der Glücksspielsucht zur Voraussetzung für das Glücksspielmonopol der Länder gemacht. Dieses kohärente System liegt in Deutschland nicht vor, wenn der Bund bei den Geldspielautomaten, von denen eine besonders hohe Suchtgefahr ausgeht, beide Augen zudrückt. Erschreckende 52 Prozent der Spieler in Spielhallen sagen laut dem Abschlussbericht des Instituts für Therapieforschung, welches eine allgemeine, öffentlich anerkannte Untersuchung durchgeführt hat, dass sie die Kontrolle über das Spiel an den Automaten verloren haben. Die Suchtgefahr ist seit der Lockerung der Spielverordnung im Jahre 2005 unter dem damaligen Wirtschaftsminister Michael Glos - diese Lockerung war ohne Zweifel ein Fehler; das sage ich ganz selbstkritisch, weil auch wir damals mit an der Regierung waren - gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt die Ende 2010 vorgelegte Evaluation des IFT, auf die ich schon hingewiesen habe und auf die wir mit unserem Antrag reagieren. Gleichzeitig gibt es in manchen Gegenden eine regelrechte Flut von neuen Spielhallen. Diesen Trend, meine ich, müssen wir dringend stoppen, indem wir die Geldspielautomaten wieder stärker zum Unterhaltungsspiel zurückführen und die Prävention stärken. ({2}) Es geht uns dabei um die Entschärfung und Entschleunigung der Geldspielautomaten, die Reduzierung der Anzahl der Automaten sowohl in Spielhallen als auch in Imbissbuden, mehr Transparenz für die Spieler hinsichtlich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau von suchtfördernden Funktionen der Automaten. Auch den Einfluss der Kommunen auf die Standorte von Spielhallen wollen wir ausbauen. Wir schlagen zudem ein Identifikationssystem für die Spieler als Voraussetzung für einen besseren Jugendschutz und die Möglichkeit der Sperrung Süchtiger vor. Die von der Bundesregierung diskutierte elektronische Spielerkarte mit Geldkartenfunktion und der Möglichkeit zur Spielmanipulation ist dagegen aus unserer Sicht gefährlich und dient gerade nicht der Suchtprävention. ({3}) Als Gegengewicht zu der zweifellos mächtigen Glücksspiellobby - man muss da immer nur die Zeitungen lesen - brauchen wir ein Korrektiv auf Bundesebene. Wir denken, dass bei der Drogenbeauftragten - oder dem Drogenbeauftragen - der Bundesregierung ein unabhängiger Beirat einzusetzen ist, der analog zum bestehenden Fachbeirat Glücksspielsucht der Länder eine kohärente Suchtpolitik durch die Zusammenarbeit mit den Ländern stärken soll. ({4}) Wir fordern Sie dazu auf, der Lobby nicht auf den Leim zu gehen und das Problem der Glücksspielsucht nicht mit ein paar Placebos zu ignorieren und zu verharmlosen. Ich denke, die Fortbildung der Mitarbeiter in Spielhallen ist eine Selbstverständlichkeit und sollte nicht als ein großer Erfolg gefeiert werden. Minimale Veränderungen der Spielverordnung reichen auch nicht aus. Das wissen Sie auch ganz genau. ({5}) Wir brauchen ein Gesamtkonzept zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht, und wir brauchen das staatliche Monopol als Voraussetzung für den bestmöglichen Spielerschutz. Die von den Ländern auf Druck der FDP vorgesehene Aufgabe des Monopols ausgerechnet bei den suchtgefährlichen Sportwetten bedauere ich daher ausdrücklich. ({6}) Die Länder laufen damit nämlich Gefahr, dass das Monopol insgesamt verzockt wird. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schutzauftrag des Staates muss höher bewertet werden als das Interesse der Profitmaximierung. Deswegen werbe ich für unseren Antrag. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die Unionsfraktion. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Graf, Ihnen geht es darum, die Glücksspielsucht zu bekämpfen; so lautet zumindest Ihr Antrag. Ich glaube, bevor wir hier wieder sehr breit streuen, lohnt es sich jetzt einfach einmal, das Ganze systematisch aufzuarbeiten. Sie haben recht: Das Glücksspiel ist weit verbreitet. ({0}) 14 Prozent der Deutschen haben bereits einmal eine Spielbank aufgesucht und dort an den Spieltischen und Spielautomaten gespielt. 25 Prozent der Bevölkerung haben bereits an Geldspielautomaten in Spielhallen und Gaststätten gespielt. Nicht zuletzt spielen rund 70 Prozent der Deutschen Lotto. Wie überall kommt es auch beim Spielen und bei der Spielsucht auf das richtige Maß und vor allen Dingen auf die richtigen Ansätze an. In der Tat ist es besorgniserregend - da haben Sie recht -, dass mittlerweile rund 1,1 Prozent der bundes16578 deutschen Bevölkerung zwischen 16 und 65 ein problematisches Spielverhalten aufweisen. Absolut sind es rund 600 000 Menschen. Der Anteil der pathologischen Spieler beträgt je nach Ergebnis der repräsentativen Umfragen zwischen 0,2 und 0,6 Prozent. Insofern ist die Grundüberlegung Ihres Antrags richtig. Pathologisches Glücksspiel ist als eigenständige psychische Erkrankung anerkannt. Man darf sich nicht wundern, dass es die Spieler an den Geldautomaten sind, die die größte Gruppe innerhalb der pathologischen Spieler darstellen. Automatenspiele - übrigens unabhängig vom Standort, ob in Spielbanken oder in Gaststätten und Hallen - haben nach allen Untersuchungen das höchste Suchtpotenzial. Das ist einleuchtend; denn zum einen erlebt der Spieler, der die schnelle Spielfrequenz mag, mit der bislang erlaubten Mehrfachbespielung und der Schnelle den Verlust deutlich weniger. Er hat gar keine Zeit, zu realisieren, dass er in dem Augenblick, in dem er die Taste neu drückt, schon Geld verloren hat. Zum anderen wird der Anreiz, mehr Geld einzusetzen, um damit einen höheren Verlust auszugleichen, größer. Natürlich sind diese Automatenspiele auch außerhalb der Kasinos in den Hallen und Gaststätten verfügbar. Aber - jetzt kommt das große Aber, Frau Graf - erstens ist der Antrag, wenn Sie ihn an die Bundesregierung richten, überwiegend an die falsche Adresse gerichtet. Das merkt man übrigens auch an Ihren Formulierungen. So solle die Bundesregierung auf die Länder einwirken und an die Länder appellieren. Mit der Föderalismusreform 2006 ist die Kompetenz für die Hallen auf die Länder übergegangen. ({1}) Die Ministerpräsidenten werden den Staatsvertrag irgendwann im Dezember unterzeichnen. Also: falscher Adressat. ({2}) Zweitens. Sie verlangen eine strengere Regulierung der Automaten in Spielhallen, ohne den technisch weitgehend nicht regulierten Markt in den Spielbanken überhaupt zu hinterfragen. Geldspielgeräte in den Spielbanken erfahren keinerlei technische Vorgaben in der Gerätekonstruktion. Da gibt es kein Verlustlimit und keine Laufzeitbeschränkung. Es wird einzig über den Zutritt in die Kasinos gesteuert. Diese einseitige Sicht ist schon deshalb ein Versäumnis, weil der EuGH anmahnt, dass das staatliche Glücksspielmonopol nur vor dem Hintergrund haltbar ist, dass die Spielsucht in allen Glücksspielbereichen konsequent verfolgt werden muss. Drittens. Sie holen zum Rundumschlag gegen alle Automaten aus. Sie ignorieren - das finde ich eigentlich schade -, dass die Automatenwirtschaft, die Sie so sehr als Lobby hingestellt haben, ({3}) im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung bereits einiges erreicht hat und dass sie vor allem selbst das Interesse hat, die schwarzen Schafe, die es ohne Zweifel gibt - das gestehe ich Ihnen ohne Weiteres zu -, zu benennen und auszuschalten. Unsere Politik unterscheidet sich grundsätzlich in dieser Hinsicht. Wir sagen: Eine Politik gegen diejenigen, die betroffen sind, hat noch nie gefruchtet. Wir müssen auch die mitnehmen. ({4}) - Ich bin durch die Stadt gelaufen, Herr Kollege. ({5}) Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich will ausdrücklich zugestehen, dass wir die schwarzen Schafe bekämpfen werden. Aber ich bin von einer Tatsache extrem überzeugt: Wir werden weiterhin diese Form der schnellen Spiele haben. Mir ist es sehr viel lieber, dass diese in den kontrollierten Spielhallen stattfinden und dass die Menschen in diesen Spielhallen bleiben, ({6}) in denen zum Beispiel Alkohol verboten ist und in denen Broschüren über Sucht ausliegen müssen, als dass sich diese Szene in das Internet verlagert, wo man keinerlei Zugangsmöglichkeit zu ihnen hat, um das Suchtthema anzugehen. ({7}) Ich habe mit den Vertretern der Branche gesprochen und mir Spielhallen angeschaut. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, dass die sogenannten Guten durchaus bereit sind, mitzuwirken. ({8}) - Liebe Frau Bätzing, ich habe noch etwas und kann noch nachlegen und sagen, was wir machen wollen. Jetzt warten Sie einfach einmal ab. ({9}) Für mich ist es sehr wichtig, dass das Element der freiwilligen Selbstkontrolle, das ich für ein gutes Element halte, ({10}) bleibt und dass wir erst dann, wenn dieses nicht funktioniert, mit der staatlichen Keule kommen. Aus all diesen Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt regen Sie sich ein bisschen weniger auf. Ich bin ja noch nicht am Ende. ({12}) Das heißt nicht, dass wir Prävention vernachlässigen und dass wir uns außerhalb der technischen Regulierung nicht auch um die Suchthilfe kümmern. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es seit 2007 Modellprojekte des BMG gibt. Zum Beispiel wird das Projekt „Frühe Intervention bei pathologischem Glücksspiel“ mit 1,1 Millionen Euro gefördert. Es steht bereits jetzt fest, dass die Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit diesem Modellprojekt gelungen ist. Des Weiteren ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - das wissen Sie - umfassend tätig. ({13}) Wenn Sie Ihren Fokus heute ausschließlich auf die Geldspielgeräte richten wollen, so kann ich Ihnen sagen, dass dieser Bereich in Spiel- und Gaststätten bereits heute streng reguliert ist. Darüber hinaus mahnten Sie den Einsatz auf europäischer Ebene an. Ich kann Sie beruhigen: Auch dort ist Deutschland sehr präsent. Es geht dabei insbesondere um den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der Spielsucht und den Schutz vor Folge- und Begleitkriminalität. Sie rufen stets nach Änderungen der Baunutzungsverordnung. Auch hier empfehle ich - wie sonst auch - ein differenziertes Vorgehen. Die Städte und Gemeinden haben heute schon die Instrumente, um den Spielhallenaufwuchs zu steuern. Das setzt vor allem die Verabschiedung der entsprechenden Bebauungspläne voraus. Ich nenne aus meiner Region Ludwigsburg und Esslingen. Daneben gehen die Städte jetzt dazu über, illegale und nicht angemeldete Geräte in den Gaststätten zu bekämpfen. Das finde ich vorzüglich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Maag, gestatten Sie eine Frage oder Erklärung des Kollegen Ströbele? ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Kollegin. - Ich frage mich die ganze Zeit, während ich hier sitze, wie häufig Sie schon in Spielhallen gewesen sind. Wir könnten einmal hier um die Ecke gehen; das ist gar nicht weit weg. Ich bin vor wenigen Tagen über die Stromstraße geradelt und habe die Spielhallen gezählt. Dort befindet sich eine Spielhalle neben der anderen. Insgesamt sind es 17 Spielhallen, und alle haben verdunkelte Fenster. ({0}) Gehen Sie einmal in eine hinein. Dann sehen Sie, welches Milieu dort verkehrt. Es ist die Frage, ob Sie weiterhin sagen werden: Wie gut, dass alles kontrolliert ist. Vor allen Dingen - deshalb habe ich mich gemeldet möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zum zuständigen Bezirksamt zu gehen und denen zu sagen, wie die lokalen Behörden dagegen vorgehen können? ({1})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Würden Sie denen einmal sagen, wie das möglich wäre? Die bemühen sich nämlich seit vielen Jahren, nicht nur auf der Stromstraße, sondern auch auf der Turmstraße - die befinden sich hier in Moabit - dagegen vorzugehen, aber leider fehlt ihnen die notwendige Handhabe.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Ströbele, ich bin gerne bereit, mit Ihnen gemeinsam einmal da hinzugehen. ({0}) Ich kann Ihnen sagen, dass es in den Gemeinden Ludwigsburg und Esslingen keine Spielhallen mehr gibt, weil diese die entsprechenden Bebauungspläne erstellt haben. Ich bin gerne bereit, dem Land Berlin die Adressen zu nennen, bei denen man erfahren kann, wie so etwas geht. ({1}) Bei aller Kritik am Antrag: Natürlich verlangt die Evaluation der Spielverordnung - das haben wir auch im Ausschuss gesehen - ein Nachsteuern. Die früheren Unterhaltungsspiele, bei denen man das Geld einsetzte, um die Unterhaltungsautomaten - beispielsweise FlipperAutomaten - in Gang zu setzen, gibt es nicht mehr. Der Unterhaltungsaspekt ist im Laufe der Zeit zugunsten des Gewinnaspektes in den Hintergrund getreten, und gerade durch die letzte Novellierung der Spielverordnung wurde die Ereignisfrequenz, diese Illusion der Beeinflussbarkeit von Einsatz und Gewinn, erhöht. Die Evaluation hat auch ergeben, dass der damals, 2006, mit den Änderungen beabsichtigte Schutz zum Beispiel mit dem Verbot der Fungames erreicht wurde. Illegale Praktiken, Frau Graf, gibt es; das gestehe ich Ihnen ohne Weiteres zu. Das ist zum Beispiel das Vormünzen. Diese illegalen Praktiken konnte man nicht ausreichend verhindern, und daher müssen wir jetzt nachsteuern. Für mich ist allerdings zentral wichtig, dass Spielerschutz auch heißt, dass wir vor allem die Spieler und nicht die Geräte in den Blick nehmen müssen. Die Geräte sind zweitrangig. Um diese kümmern wir uns auch. Aber wichtiger ist, dass wir den Spieler schützen. Die Suchtpolitik der christlich-liberalen Koalition nimmt stets Bezug auf den einzelnen Menschen und seinen Lebenshintergrund. ({2}) Insofern will ich da auch einen Schwerpunkt setzen. ({3}) - Ich glaube nicht, dass das zum Lachen ist. ({4}) - Ich glaube, Frau Kollegin, dass wir, wenn wir uns darüber unterhalten, wer von uns wie viele Spielhallen besucht hat, wer mit wie vielen betroffenen Menschen geredet hat, ({5}) feststellen werden, dass ich Ihnen zumindest da in nichts nachstehe. Das Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie hierzu ausdrücklich festgestellt, nicht das Spielangebot sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in der Spielerpersönlichkeit. Das heißt, wenn eine bestimmte Spielform erschwert oder verboten wird, hört der Spieler logischerweise nicht auf, zu spielen, sondern wendet sich anderen Formen zu. Es macht deshalb auch wenig Sinn, einzelne Formen zu verbieten oder einfach nicht mehr zuzulassen. Wir vertreiben die Menschen damit nur aus den Hallen und treiben sie ins Internet. ({6}) Ich setze mich deshalb für Maßnahmen ein, wie sie in der Evaluation vorgesehen sind: Hier wird einmal die Einführung einer sogenannten Spielerkarte vorgeschlagen, um illegale Spielpraktiken zu verhindern. Diese Karte soll nur für einen Tag und für eine Spielstätte gelten. Sie kann nur an einem Gerät eingesetzt werden. Damit verhindert man Mehrfachbespielungen. Die Karte soll auch eine maximale Obergrenze für mögliche Einzahlungen beinhalten. Gewinne werden nicht auf der Karte gespeichert, sondern müssen ebenso wie möglicherweise verbleibende Restbeträge am Ende des Tages ausbezahlt werden. Dann ist es mir tatsächlich auch wichtig, Frau Graf, dass die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den Spieler- und Jugendschutz verbessert werden, dass eine Sachkundeprüfung zur Voraussetzung für die Erteilung einer Spielhallenerlaubnis gemacht wird und der Betreiber und die Mitarbeiter diese Prüfung in regelmäßigen Abständen wiederholen müssen. Das ist ein zentrales Anliegen. Jetzt kommen wir zu dem technischen Bereich, der Ihnen ja so wichtig ist. Selbstverständlich müssen wir die Begrenzungen für Gewinne und Verluste pro Stunde überdenken - da sind wir bei Ihnen -, gegebenenfalls ergänzt durch die Einführung einer weiteren Grenze für absolute Tagesgewinne oder -verluste. Man kann mit mir auch über die Verlängerung der Laufzeit pro Spieleinheit sprechen. Sie sagen ja in Ihrem Antrag, dass die derzeit geltenden 5 Sekunden zu kurz seien. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn man gleichzeitig auch die Laufzeit der Geräte in den Spielkasinos verlängert. Das Suchtpotenzial ist nämlich in beiden Fällen absolut dasselbe. Schließlich müssen wir auch über Repression reden. Zurzeit wird die Nichteinhaltung einiger suchtpolitisch relevanter Vorgaben wie beispielsweise das Auslegen von Informationsbroschüren über die Risiken übermäßigen Spielens nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet. Darüber kann man reden. Hier müsste man neue Tatbestände schaffen. Auch über die Höhe der Bußgelder kann man mit mir reden. Ich gehe davon aus, das BMWi wird genügend Kreativität entwickeln, um die schwarzen Schafe auszumerzen. Wir werden selbstverständlich auch unseren Teil dazu beitragen, dass es einen „kohärenten“, wie Sie so schön formuliert haben, Spielerschutz gibt, und zwar, ohne unsere Pflichten aus Art. 12 Grundgesetz zu vernachlässigen. Diesen Einschub erlaube ich mir im Hinblick auf die derzeitige Fassung des Entwurfs des Staatsvertrags der Länder. Zusammenfassend sage ich: Wir lehnen Ihren Antrag ab. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke. ({0})

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben eben von Frau Graf gehört und können es auch dem SPD-Antrag entnehmen, dass wir in Deutschland rund 500 000 pathologische Glücksspieler und rund 800 000 problematische Spieler haben. Denken Sie, wenn wir über das Thema reden, ganz kurz daran, was das für den Einzelnen, aber auch dessen Familie bedeutet. Wir müssen also schon über die Glücksspielsucht insgesamt reden und dürfen nicht nur auf die Kompetenzen von Bund und Ländern abstellen. Die Bundesregierung kann nämlich durchaus auch Einfluss auf die Länder nehmen. ({0}) Der Europäische Gerichtshof fordert ja die Reformierung des Glücksspielvertrages der Bundesländer, wenn das staatliche Glücksspielmonopol aufrechterhalten werden soll; denn staatliche Werbung für Lotterien auf der einen Seite und der Auftrag der Suchtprävention auf der anderen Seite ist mit dem staatlichen Monopol auf das Glücksspiel unvereinbar. Wer also ehrlich mit dem Thema Glücksspiel umgehen will, muss zuerst eine Frage beantworten: Wollen wir eine funktionierende Suchtprävention, die die Gefahren des Glücksspiels einschränkt, oder sollen mit dem Glücksspiel Mehreinnahmen erzielt werden, die den Betreibern und auch dem Staat zufallen? Ein Beispiel: Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein scheint sich für die Einnahmeseite entschieden zu haben. Dort lässt man jetzt Poker-Portale und Wettangebote jeglicher Art ohne Begrenzung der Zahl der kommerziellen Anbieter zu. Schleswig-Holstein ist so auf dem besten Weg zu einem Las Vegas an der Waterkant. Tobias Koch von der CDU Schleswig-Holstein hat schon Euro-Zeichen in den Augen. Er rechnet mit 40 bis 60 Millionen Euro Mehreinnahmen für die Landeskasse. Im Klartext heißt das aber: Mehr Markt gleich mehr Spiel gleich mehr Spielsucht. ({1}) Das ist verantwortungslos, und das wird mit der Linken nicht gehen. ({2}) Die anderen Bundesländer gehen mit der Einnahmeorientierung nicht ganz so weit. Hier soll auf der einen Seite das staatliche Lottomonopol erhalten bleiben, auf der anderen Seite aber auch der Markt für Sportwetten geöffnet werden. Es soll 20 statt der geplanten 7 kommerziellen Sportwettenanbieter geben, und die Steuerbelastung für Spieleinsätze soll von 16,6 Prozent auf 5 Prozent gesenkt werden. Die Ministerpräsidenten haben also keine neue Regelung im Bereich der Suchtprävention gesucht, sondern es vorgezogen, der Glücksspiellobby durch Öffnung des Marktes entgegenzukommen. ({3}) Es sagt doch alles, wenn der Chef des Anbieters Bet and Win die neue Regelung als wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Glücksspielregelung bezeichnet und damit sozusagen lobt. Gleichzeitig findet er die Regelung in Schleswig-Holstein zukunftsweisend. Hier spricht einer, der noch mehr Einnahmen auf sich zukommen sieht und am liebsten noch mehr Spielraum hätte. Auch dazu sagt die Linke: So geht es nicht. ({4}) Dass es für diese Problematik eine hohe Sensibilität gibt, zeigt die SPD mit ihrem hier vorliegenden Antrag. In ihm wird vor allem die Suchtgefahr beim Automatenglücksspiel thematisiert. Konkret wird unter anderem gefordert: Entschleunigung der Geldspielautomaten, Senkung des maximalen Verlustes pro Stunde, ein verpflichtendes Identifikationssystem. Das alles sind geeignete präventive Lösungsansätze. Die Linke findet, dass die SPD mit ihrem Antrag in eine gute Richtung geht, und deshalb wollen wir ihn mittragen. ({5}) Aber darüber hinaus ist es wichtig, weitere Fragen zu stellen. Daran können wir, wie Sie sicher zugestehen werden, arbeiten. Zu fragen ist, ob es sinnvoll ist, das Automatenspiel überhaupt außerhalb von Spielkasinos zu ermöglichen. Zudem ist zu fragen, wie Sanktionsmaßnahmen gegen Betreiber bei Verstößen kontrolliert werden sollen. Sollen das die Polizei oder die Ordnungsämter nun auch noch bewältigen? Wie und von welchem Geld sollen diese Kontrollen bezahlt werden? Das sind Probleme, die gelöst werden müssen. Zudem stellt sich die Frage: Wie können wir den Jugendschutz weiter verbessern? Sie sehen, dass die Diskussion noch lange nicht am Ende ist. Aber 500 000 Glücksspielsüchtige und 800 000 problematische Spieler sollten uns allen zu denken geben. Wenn wir es mit der Bekämpfung der Spielsucht ernst meinen, müssen wir neue Wege der Prävention und nicht neue Wege der Marktöffnung gehen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus das Wort. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Thema. Wer auf Dauer länger spielt oder mehr Geld einsetzt, als er sich leisten kann oder will, für den kann das Spielen zu einer schweren Belastung werden. Doch so ernst dieses Thema auch ist, es gibt auch Anlass für positive Botschaften. Ich bin froh, Ihnen mitteilen zu können, dass 99 Prozent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 65 Jahren insgesamt kein pathologisches Glücksspielverhalten aufweisen. Das ist auch eine Botschaft unserer heutigen Debatte. Im Umkehrschluss heißt das, dass insgesamt nur 1 Prozent der Bevölkerung problematisches Glücksspielverhalten aufweist. ({0}) Das sind nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bundesweit 540 000 Betroffene zu viele; da gebe ich Ihnen recht. Im Jahr 2009 waren es übrigens noch 590 000 Betroffene. Wir haben also schon einen Rückgang um 50 000 zu verzeichnen. ({1}) Wir sprechen hier also von 1 Prozent mit missbräuchlichem Verhalten. ({2}) Bei allem Respekt vor diesen Menschen, denen wir ganz sicher helfen müssen und auch helfen wollen: Es ist schlicht nur 1 Prozent. Für die überwältigende Mehrheit ist Glücksspiel ein emotionaler Freizeitspaß. Die martialische Dramatik, die Sie in Ihrem Antrag an den Tag legen, ist daher vollkommen unangebracht. Sie tun gerade so - das haben wir heute schon mehrfach festgestellt -, als ob ein ganzes Volk durch Glücksspiel von massiver Verschuldung oder Kriminalität bedroht wäre. Sie tun so, als wenn wir hier in einem völlig unkontrollierten Las Vegas wären, in dem vernünftige Menschen dazu animiert werden, ihre Existenz zu verspielen und Frau und Kind im Elend zurückzulassen. ({3}) Meine Damen und Herren, das ist nicht der Fall. ({4}) Denn es gibt bereits klare gesetzliche Vorgaben und sehr begrüßenswerte freiwillige Maßnahmen, auch und gerade - auch wenn Sie das kritisieren - von der Automatenindustrie, und zwar ohne staatlichen Dirigismus. So setzen die Konzepte der Automatenindustrie einen Schwerpunkt auf Information und Prävention. Die Ansätze hierbei sind: erstens Mitarbeiterschulung zur Früherkennung und Prävention, ({5}) zweitens Informationsflyer über kostenfreie und anonyme Beratungsmöglichkeiten sowie drittens Hinweise auf die Beratungshotline der BZgA. Außerdem besteht - die Kollegin Maag hat es schon angesprochen - seit 1985 in vielen Spielotheken ein absolutes Alkoholverbot - das finde ich sehr richtig -, um einen klaren Kopf bei den Spielgästen zu garantieren. ({6}) Dennoch ist jeder Fall von Glücksspielsucht einer zu viel. Deshalb helfen wir diesen Menschen. Doch jede noch so gut gemeinte Hilfestellung muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit standhalten. ({7}) Ich lehne es grundsätzlich ab, die große Mehrheit derer, die mit einer Sache verantwortungsvoll umgehen, vollkommen überzogen zu bestrafen, und das nur, weil eine Minderheit nicht damit umgehen kann. Beim Glücksspiel sprechen wir von solch einer Sachlage. Es gilt, mit Augenmaß und Gespür für die Menschen an die Problematik heranzugehen, und genau das tun wir. ({8}) Liebe Sozialdemokraten, in Ihrem Antrag formulieren Sie einige wichtige Forderungen, die ich hier gar nicht ablehnen will. Aber Sie bleiben auch wichtige Antworten schuldig. Ein Beispiel ist Ihr Mantra des staatlichen Glücksspielmonopols. Warum soll nun ausgerechnet ein staatliches Monopol den besten Schutz vor Sucht bewirken? Erklären können Sie das nicht. ({9}) Allein Ihr unerschütterlicher Glaube an den Staatsdirigismus wird deutlich. Bei Sportwetten und beim Lotto ist das ganz besonders offensichtlich. Dass ein vom Staat organisiertes und beworbenes Glücksspiel weniger abhängig macht als eines von privaten Anbietern, war schon immer ein Irrglaube. Das können Sie auch niemandem erklären. Das ist nicht unser Weg. ({10}) Unser Weg setzt beim aufgeklärten, mündigen Bürger an. Genau deswegen setzen wir auf Prävention. ({11}) In diesem Punkt kann ich Ihrem Antrag auch folgen. Eine Intensivierung von Aufklärungskampagnen ist absolut begrüßenswert und wird von uns unterstützt. Die Fortführung bewährter und die Entwicklung neuer, und zwar zielgruppenspezifischer, Präventionsmaßnahmen stehen ganz oben auf unserer Agenda. Die BZgA macht hier eine ganz hervorragende Arbeit. Wir debattieren auch - da bin ich mit Karin Maag einig - über die Einführung einer Spielerkarte, um die Suchtspirale der Automatenmehrfachbespielung zu durchbrechen. Ganz besonders im Hinblick auf den Jugendschutz muss natürlich auch das Personal in seiner Kompetenz gestärkt werden; denn es muss ohne Wenn und Aber dafür Sorge tragen, dass Minderjährige nicht an Automaten spielen. Ansonsten muss der Verstoß gegen gesetzliche Vorgaben natürlich strikt sanktioniert werden. Herr Ströbele, es gibt übrigens auch einige grüne Bezirksstadträte, die lieber die Einhaltung des Heizpilzverbots kontrollieren als die Einhaltung des Jugendschutzes. An diesem Punkt könnten wir auch einmal ansetzen. Wir haben nämlich ein Vollzugsdefizit und kein Gesetzesdefizit. Das sage ich, um das Ganze richtig einzuordnen. Die Sachkenntnis von Automatenaufstellern hinsichtlich des pathologischen Glücksspielverhaltens kann und muss noch verbessert werden. Doch bevor wir es Gastronomen verbieten, in ihrer Kneipe einen Automaten aufzustellen, sollten wir lieber die Einhaltung der Gesetze kontrollieren und Verstöße hart bestrafen. In der Summe müssen wir die Beteiligten stärken, statt sie zu bevormunden: Wir müssen erstens die Spieler in ihrer aufgeklärten Eigenverantwortung und zweitens die Betreiber in ihrer Verantwortung, Missbrauch zu erkennen, zu vermeiden und zu unterbinden, stärken. Das kann und sollte auch durch technische Maßnahmen flankiert werden. Wir sollten beispielsweise über eine Verringerung der Ereignisfrequenz und eine Verringerung des maximalen Verlustes bzw. Gewinns ergebnisoffen diskutieren. Dazu gehört ebenso die Einführung einer Spielerkarte. Einen mit erhobenem Zeigefinger versehenen Rundumschlag lehne ich jedoch ab; denn die meisten Menschen haben keine Probleme mit dem Glücksspiel. Diejenigen, die sie haben, werden wir davor schützen. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Kollegin Aschenberg-Dugnus - an dieser Stelle könnte ich auch Frau Maag erwähnen - an Verharmlosung geboten hat, ist kaum erträglich. ({0}) Dass wir dann auch noch hören mussten, dass der Automatenindustrie in diesem Lande der Charakter von Samaritern zugeschrieben wird, ({1}) ist wirklich so daneben, wie man sich das nur vorstellen kann. Die übliche Floskel: „Das liegt in der Suchtstruktur der Spieler begründet“, bedeutet eine klare Ablehnung von Verhältnisprävention. Auch das ist überhaupt nicht zu verstehen. ({2}) Das Thema Glücksspiel ist ein anschauliches Beispiel dafür, welche Folgen eine falsche Suchtpolitik haben kann. ({3}) Bei der Behandlung illegaler Drogen haben die Ideologen das Sagen, die die Abhängigen kriminalisieren. Beim Thema Glücksspielsucht bestimmt maßgeblich die Industrie den Kurs der Bundesregierung. ({4}) Den Preis dafür zahlt immer die gesamte Gesellschaft. Bezüglich des Automatenspiels heißt das: Privatisierung der Gewinne - 7 Milliarden Euro für die Automatenindustrie - und Sozialisierung der Suchtfolgen. Das kann das Parlament doch nicht tolerieren. ({5}) Insofern ist jede Initiative zu begrüßen, die hier Abhilfe schaffen will. So zumindest verstehe ich den Antrag der SPD. Auch meine Fraktion hatte in der Vergangenheit diesbezüglich mehrfach Vorstöße unternommen, zuletzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss. Ich schlage Ihnen vor, einmal in den Zusammenfassungen die Ausschussergebnisse nachzulesen; daraus kann man einiges lernen. Es gilt festzuhalten, dass Prävention nicht nur Suchtschicksale verhindert, sondern auch notwendige Voraussetzung ist, um den Bestand von Monopolstaatsverträgen gerichtsfest zu sichern - wenn man es denn will. Wir wollen das. ({6}) Viele Forderungen im Antrag der SPD werden von uns unterstützt, insbesondere die strengen Rahmenvorgaben für Geldspielgeräte. Das setzt allerdings voraus - da schließe ich mich dem Kollegen Tempel an -, dass man die Kommunen finanziell und personell in die Lage versetzt, die Einhaltung der Vorgaben auch zu kontrollieren. Die Ergebnisse der Modellversuche und der Studien zur Evaluation der Spielerverordnung sind ernüchternd. Man kann mitnichten sagen, da sei alles in Butter. Vielmehr berichten die Kolleginnen und Kollegen vor Ort von einer derart mangelnden Kooperation der Betreiber, dass einem die Haare zu Berge stehen. Das muss hier einmal festgehalten werden. Wir begrüßen den Ansatz der SPD, über die Baunutzungsverordnung der Spielhallenflut in den Kommunen Herr zu werden, und freuen uns darüber, dass Sie inzwischen selbst einen entsprechenden Antrag umsetzen wollen, nachdem Sie zuvor unserem Antrag nicht zustimmen konnten. Es gibt aber auch Forderungen, die man kritisch hinterfragen muss. Beispielsweise bin ich skeptisch, was die Einführung einer Spielerkarte in Spielhallen angeht. Erfahrungen aus Australien haben gezeigt, dass solche Karten wirkungslos sind und zu nichts führen. Dass eine solche Einführung ausgerechnet von der Automatenindustrie befürwortet wird, nährt doch den Verdacht, damit quasi als Alibi wirksame Einschränkungen zu verhindern oder Kundenprofiling zu betreiben, möglicherweise sogar beides. Wir sind der Überzeugung, dass solche Automaten in Kneipen und Imbissbuden nichts zu suchen haben. Viele Studien haben gezeigt, dass junge Menschen dort angefixt werden, zumal dort wirksame Kontrollen des Jugendschutzes nicht möglich sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam Fehlentwicklungen und Probleme, die nach der letzten Novelle zur Spielerverordnung aus dem Jahr 2006 aufgetreten sind, beseitigen. Meine letzte Anregung ist, uns auch auf Länderebene für die Stärkung der Monopolstaatsverträge einzusetzen und dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Aushöhlung kommt. Die Länder muss man zumindest dafür loben, dass sie mehr Bereitschaft zeigen als der Bund, Spielautomaten strenger zu reglementieren, weil ihnen die Probleme vor Ort offenbar stärker auf den Nägeln brennen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Terpe, achten Sie bitte auf das Signal.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ein solches Engagement würde ich mir natürlich auch vom Bund wünschen. Das ist aber von einem FDP-ge16584 führten Bundeswirtschaftsministerium weniger zu erwarten, obwohl der Minister eigentlich etwas von Suchtgefährdung verstehen müsste. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Oscar Wilde hat gesagt, allem könne er widerstehen, nur der Versuchung nicht. Was uns vielleicht zum Schmunzeln bringt, ist für viele Menschen leider schmerzhafte Realität: Sie können einer Versuchung nicht widerstehen; sie sind süchtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Eigenverantwortung allein hilft an dieser Stelle nicht weiter. ({0}) Mit unserem Antrag wollen wir nicht das Glücksspiel verbieten. Mit unserem Antrag wollen wir nicht das prosaische letzte bisschen Freiheit, das so oft beschworen wird, eingrenzen. Nein, es geht uns ausschließlich darum, süchtigen Menschen zu helfen; denn Sucht ist nicht Freiheit; Sucht ist das Gegenteil. ({1}) Ich möchte auf einen anderen Aspekt hinweisen. Mit dem Entwurf eines neuen Glücksspielstaatsvertrags sind vor einigen Wochen negative Fakten geschaffen worden, etwa durch die Aufgabe des Sportwettenmonopols. Warum negativ? Mit dem Glücksspielmonopol wurde bisher nicht nur die Prävention sichergestellt; das Glücksspielmonopol hat auch - das gehört dazu - massiv zur Förderung und Finanzierung des Breitensports beigetragen, weil die staatliche Lotterie eine Konzessionsabgabe von 16 2/3 Prozent des Einsatzes gezahlt hat, die dem Breitensport insgesamt zugeflossen ist. So kamen durch Lotto und Oddset jedes Jahr 500 Millionen Euro für den Breitensport zusammen. ({2}) Mit diesem Geld wurde mehr gemacht, als Torpfosten einzugraben und Tischtennisplatten aufzustellen. Mit diesem Geld wurden Jugendarbeit und ehrenamtliches Engagement gefördert. In diesem Bereich wird es durch die Aufgabe des Monopols extreme Einschnitte geben. Denn es gibt erhebliche Zweifel, ob eine 5-prozentige Abgabe auf Wetteinsätze, die von 20 bisher rein potenziellen Konzessionsnehmern gezahlt werden soll, den Wegfall der bisherigen Einnahmen aus der Zweckabgabe im Rahmen des Wettmonopols ausgleichen wird. ({3}) Selbst der Deutsche Olympische Sportbund, seit langem ein Verfechter der Marktöffnung im Sportwettenbereich, hat die Erwartungen hinsichtlich eines potenziellen Geldsegens mittlerweile zurückgeschraubt, wie wir in der gestrigen Sportausschusssitzung erfahren haben. Von den oft vom DOSB veranschlagten 80 Millionen Euro für den Sport ist nur noch eine vage Option auf ein Drittel der Abgaben für den Sport übrig geblieben, was im Staatsvertrag allerdings nirgendwo festgehalten ist. ({4}) Es bleibt offen, was das in Euro und Cent für den Breitensport bedeutet. Das bedeutet: Nur wenn einerseits das Volumen des Glücksspielmarktes an sich steigt und andererseits mehr Menschen als bisher spielen und mehr Geld als bisher verspielen, wird der Breitensport annähernd die gleiche Förderung wie bisher erhalten. Das aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde zu einer erhöhten Zahl der Spielsüchtigen führen. ({5}) Das ist kein Schreckgespenst; das sind Fakten: In Großbritannien ist die Zahl der Spielsüchtigen in den ersten drei Jahren der Kommerzialisierung des Glücksspielmarktes um 50 Prozent gestiegen. Es kann von uns nicht gewollt sein, eine dahin gehende Liberalisierung durchzuführen. Die Ausrede, dieser Staatsvertrag sei Angelegenheit der Länder, lassen wir einfach nicht gelten. An anderer Stelle sind Sie auch nicht so zurückhaltend und versuchen vielmehr, auf die Länder einzuwirken. ({6}) Insofern möchte ich Sie noch einmal bitten, auf der einen Seite die Spielsüchtigen und ihre Angehörigen und Familien nicht alleinzulassen und in die Prävention zu investieren und auf der anderen Seite sicherzustellen, dass dem Breitensport wenigstens durch die staatliche Abgabe eine angemessene Finanzierung zur Verfügung gestellt wird. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es tut mir leid, Kollege Kauder, aber Sie waren mit Ihrer Initiative, mit der Kollegin Bätzing ins Gespräch zu kommen, zu spät. Sie hatte ihre Redezeit schon über- schritten. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6338 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Vizepräsidentin Petra Pau verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen- tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Bericht des Parlamentarischen Beirats über die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfol- genabschätzung und die Optimierung des Ver- fahrens - Drucksache 17/6680 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Europäische Nachhaltigkeitsstrategie - Drucksachen 17/5295, 17/7678 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Dr. Matthias Miersch Ralph Lenkert Dorothea Steiner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion. ({1})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zwei Themen, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben: die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung und die Fortschreibung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie. Auf den ersten Blick sind dies scheinbar zwei unterschiedliche Aspekte, die aber deutlich mehr miteinander zu tun haben. Es geht nämlich immer um die Frage: Wie wird Politik nachhaltiger? Wenn es um die Sicherung von Nachhaltigkeitszielen in der Gesetzgebung geht, stehen wir in der Politik eigentlich immer vor einem Dilemma. Die Gesetzgebung orientiert sich zumeist an einer Legislaturperiode. Sie möchte innerhalb dieser Zeit Ergebnisse vorweisen. Auch die Bürgerinnen und Bürger erwarten zumeist relativ schnell und kurzfristig Ergebnisse. Sie sind oftmals nicht bereit, mit uns den Weg einer langfristigen Perspektive zu gehen. Es soll immer recht schnell etwas herauskommen. Unsere honorige Aufgabe als Beirat ist es nun - das ist auch Aufgabe der Nachhaltigkeitsprüfung -, genau dem entgegenzuwirken und die Aufmerksamkeit im politischen Betrieb darauf zu lenken, wie Politik, Gesetzentwürfe und Verordnungen nachhaltiger werden können. Wir haben unsere sogenannte Nachhaltigkeitsprüfung an den Anfang gestellt. Ihr müssen sich alle Gesetzentwürfe und Verordnungen der Bundesregierung unterwerfen. Das heißt: In allen Gesetzentwürfen und Verordnungen, die von der Regierung kommen, müssen Aussagen sowohl zu den in unserer Nachhaltigkeitsstrategie niedergelegten Managementregeln enthalten sein ({0}) als auch zu den Zielvorgaben der 21 Indikatoren. Es geht nicht zwingend darum, immer exakt bezifferbare Aussagen zu machen. Dazu ist auch niemand bei jedem Gesetzentwurf und jeder Verordnung in der Lage. Es geht schlicht und ergreifend immer darum, möglichst sorgfältig und möglichst intensiv zu den Auswirkungen auf die Vorgaben dieser Managementregeln und der Indikatoren Stellung zu nehmen. Das heißt: Es müssen sowohl positive als auch negative Auswirkungen dargestellt werden. Eine gute Nachhaltigkeitsprüfung kommt fast nicht ohne diese beiden Aspekte aus; denn es kann durchaus einmal eine negative Auswirkung bei einem Indikator geben, die sich aber letztlich positiv auf das Gesamtbild des Gesetzentwurfs auswirkt. Diese Gegenüberstellung von positiven und negativen Aspekten hilft uns, in unseren Ausschussberatungen vielleicht eine noch breitere Entscheidungsgrundlage zu finden. Ich gebe gern zu: Als wir mit unserer Bewertungsarbeit, lieber Andreas Jung, im Beirat angefangen haben, mussten wir bei manchen Nachhaltigkeitsprüfungen, sofern sie überhaupt vorhanden waren, manchmal ziemlich großzügig sein, um festzustellen: Es hat zumindest eine Prüfung stattgefunden. Ob das richtig intensiv war oder nur aus einem hinzugefügten Textbaustein bestand, sei einmal dahingestellt. Liebe Kollegin Arndt-Brauer, wir haben viele Sachen herausgezogen, mussten aber auch feststellen: Wir haben im Prinzip mit dieser Nachhaltigkeitsprüfung eine Operation am offenen Herzen begonnen; denn vor uns hat das niemand so wirklich praktiziert. Die Bundesregierung wurde ins kalte Wasser geworfen, wir als Beirat letztlich auch. Wir haben uns die ambitionierte Aufgabe gestellt, wirklich von Anfang an strikt durchzuprüfen: Wird zur Generationengerechtigkeit Stellung genommen? Wird zum Umweltschutz, zur nachhaltigen Landwirtschaft usw. Stellung genommen? Ich glaube, dass wir uns im Beirat seit Beginn der Legislaturperiode ordentlich gesteigert haben, sowohl was die Intensität unserer Arbeit als auch was die Arbeit der Bundesregierung im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsprüfung betrifft. Die Nachhaltigkeitsprüfung ist nichts anderes als lebenslanges Lernen. Wir lernen bei jedem Gesetzentwurf und bei jeder Verordnung dazu. Dass Fehler passiert sind und immer noch passieren, ist bedauerlich. Sie werden aber verzeihbar, wenn wir bei unserem nächsten Anlauf merken, dass Korrekturen stattfinden und dass man uns ein klein wenig verinnerlicht hat. Ich hoffe, für den einen oder anderen von uns zu sprechen, wenn ich sage: Es ist besser geworden, liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank, aber das ist noch deutlich steigerungsfähig. Das ist das eine Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen und für das ich sehr werbe, auch unter den Kollegen, die nicht im Beirat sitzen. Ich empfehle, sich dieses Themas fraktionsübergreifend sensibler anzunehmen. Ich glaube, jeder findet in seiner Fraktion den einen oder anderen Ansprechpartner, der einen mit großen Augen anschaut, wenn man die Themen Gesetzesfolgenabschätzung und Nachhaltigkeitsprüfung in einem Satz erwähnt. Wir alle haben noch Lieferbedarf, Hol- und Bringschuld gleichermaßen. Wir haben uns in der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion vorgenommen, dieses Thema massiv anzugehen. Gestatten Sie mir zum Abschluss noch wenige Worte zum Thema Europäische Nachhaltigkeitsstrategie, das wir an diese Debatte angedockt haben. Es ist aus Sicht des Beirats - Sie merken, wir versuchen immer sehr konsensual zu arbeiten; das gelingt uns nicht immer, aber sehr häufig - absolut inakzeptabel, wenn die Europäische Kommission den Standpunkt vertritt, eine Fortschreibung der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie sei nicht erforderlich, weil die Nachhaltigkeitsstrategie in die Strategie Europa 2020 aufgehe. So wird kein Schuh draus. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie muss immer der große Rahmen für alle anderen Strategien auf europäischer Ebene sein, zum Beispiel die Lissabon-Strategie. Ich bin sehr froh, dass wir einen gemeinsamen Entschließungsantrag zustande gebracht haben, in dem die Bundesregierung einvernehmlich aufgefordert wird, auf europäischer Ebene genau in diese Richtung hinzuwirken und dieses Thema in Brüssel intensiv anzubringen. Im Großen und Ganzen sind wir national wie europäisch auf einem ausgesprochen guten Weg. Lassen Sie uns diesen Weg weitergehen. Lassen Sie uns immer besser werden. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist am 17. Dezember 2009 zum dritten Mal eingesetzt worden. Es ist unser Problem, dass wir in jeder Legislaturperiode neu eingesetzt werden müssen. Wir gehören noch nicht ganz normal dazu. Wir haben auch keinen Minister, der für uns zuständig ist. Wir müssen immer über den Umweltausschuss hier im Plenum reden. Wir sind bisher also etwas stiefmütterlich behandelt worden. Aber wir haben Aufgaben. Diese Aufgaben beinhalten seit dieser Legislaturperiode unter anderem die Gesetzesfolgenabschätzung. Das heißt, wir haben die Aufgabe, zu überprüfen, ob die Bundesregierung, wenn sie einen Gesetzentwurf eingebracht hat, auf das Thema Nachhaltigkeit geachtet hat. Wir prüfen das sehr formal. Wir haben Managementregeln, wir haben ein Konzept, das dahintersteht, und wir haben 21 Indikatoren, mit deren Hilfe wir überprüfen, ob irgendetwas davon berücksichtigt worden ist, als ein Gesetz auf den Weg geschickt worden ist. Hier beginnt unser Problem. Wir prüfen sehr formal. Für die Oppositionsfraktionen darf ich sagen: Wir würden gerne auch inhaltlich prüfen. Wir würden gerne prüfen, ob ein Gesetz, das auf den Weg gebracht worden ist - von welchem Minister auch immer -, inhaltlich wirklich auf Generationengerechtigkeit ausgerichtet worden ist; denn wir haben da manchmal unsere Zweifel. Wir versuchen immer, wie meine Vorrednerin schon angedeutet hat, am Ende einen Konsens hinzubekommen. Deswegen steht das Thema inhaltliche Prüfung im Moment noch ein bisschen hintan. Ich würde mir wünschen, dass wir das im Konsens ein bisschen verändern. Wir prüfen in vier Nachhaltigkeitsbereichen: Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung. Es hat sich herausgestellt - das ist Folge des Umstands, dass wir es hier mit einem völlig neuen Thema zu tun haben -, dass das Ganze verbesserungswürdig ist. Unsere Prüfungen sind immer noch sehr aufwendig. Ich möchte das Verfahren einmal denen erklären, die nicht dabei sind: Es prüfen jeweils ein Koalitionspolitiker und ein Oppositionspolitiker, ähnlich wie im Petitionsausschuss. Die Prüfungen verlaufen manchmal einvernehmlich, manchmal strittig. Wenn strittig geprüft worden ist, wird anschließend im Beirat abgestimmt. Zu diesem Zeitpunkt sind dann alle Politiker der Koalition anwesend. Ansonsten haben wir das Gefühl, dass die Koalition nicht so sehr an diesem Thema hängt wie die Opposition. Dieser Eindruck drängt sich manchmal auf, wenn nur ein Vertreter der CDU dasitzt, obwohl neun dort sitzen könnten. Auch da sind Verbesserungen möglich. ({0}) - Quantität gegen Qualität. Gut. Bei uns geht es mit Qualität und Quantität. Das sollten Sie eigentlich auch anstreben. ({1}) Schwierig ist die Vernetzung mit der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie; das wurde schon angedeutet. Die praktische Umsetzung ist sehr problematisch, weil Eurostat zwar viele Daten erhebt, die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie für die Bundesregierung in Bezug auf ihr Verhalten aber eigentlich keine Rolle spielt. Wir würden uns schon etwas anderes wünschen. Wir wünschen uns entweder eine stärkere inhaltliche Verzahnung oder dass man das eine zur Grundlage des anderen macht. Ich finde, es ist sehr wichtig, dass wir, wenn es um Generationengerechtigkeit geht, wenn es wirklich um die Verantwortung für nachfolgende Generationen geht, auf europäischer und nationaler Ebene in eine Richtung laufen. Auf europäischer Ebene werden ganz andere Dinge geprüft und ganz andere Daten erhoben. Man hat das Gefühl, dass zwei Stränge vollkommen parallel nebeneinander verlaufen. Das ist unbedingt zu verändern. Ich denke, wir müssen die Bundesregierung immer wieder auffordern, ihren Einfluss in Europa geltend zu machen. Vielleicht müssen wir so weit gehen, dass wir sagen: Okay, wir passen unsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie an die europäische an. Im Moment haben wir aber den Eindruck, dass das Thema Nachhaltigkeit in Europa nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es werden zwar viele Daten erhoben und Leitlinien entwickelt, man hat aber das Gefühl, dass Überlegungen zur Nachhaltigkeit auf die Europäische Politik in Wirklichkeit kaum Einfluss haben. Wir haben versucht, mit Parlamentariern in Kontakt zu kommen. Das ist bisher aber nicht besonders werthaltig gewesen. Ich möchte die Kollegen auffordern, in ihrem täglichen Leben und in ihrer Politik Nachhaltigkeitsüberlegungen stärker zu verankern. Ich möchte aber ausdrücklich auch die Regierung, die heute nur sehr marginal vertreten ist - da gilt vermutlich auch: Qualität vor Quantität -, ({2}) auffordern, das Thema Nachhaltigkeit stärker in den Fokus zu rücken und dafür zu sorgen, dass wir das Thema Generationengerechtigkeit nicht immer nur in Reden hochhalten, sondern Generationengerechtigkeit als Ziel der Politik ausdrücklich anstreben. ({3}) Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns im Beirat sehr bemühen, die Dinge im Konsens zu verabschieden. Auf dem Weg dorthin wird manchmal recht strittig diskutiert. Das wird im Rahmen der Obleuteberatungen aber meistens abgeräumt. Ich fände es gut, wenn wir einmal gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen könnten, bei dem alle Fraktionen im Titel erscheinen. Vielleicht können einige einmal über ihren Schatten springen. ({4}) Ich würde es begrüßen, wenn wir das erreichen könnten und auf lange Sicht Anträge im Parlament einvernehmlich verabschieden könnten. Vielleicht ist das auch zu einer anderen Tageszeit möglich, sodass uns auf den Rängen und im Fernsehen mehr zuhören und zuschauen können. Das Thema Nachhaltigkeit sollte nicht nur in Regierungserklärungen erwähnt werden, sondern auch im täglichen Leben eine Rolle spielen. Dazu möchte ich alle auffordern. Ansonsten wünsche ich uns weiterhin eine erfolgreiche Arbeit beim Thema Nachhaltigkeit. Die Gesetzesfolgenabschätzung sollte nicht das Endziel sein. Das Endziel sollte sein: mehr nachhaltige Gesetzgebung. Ich hoffe, da kommen wir irgendwann hin. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kauch das Wort. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in einer Finanz- und Schuldenkrise. Wir haben sowohl im Bereich des Klimaschutzes als auch im Bereich der Biodiversität massive ökologische Probleme. Wir stehen vor einer großen UN-Konferenz. 20 Jahre nach der UN-Konferenz von Rio soll die Welt erneut das Thema Nachhaltigkeit diskutieren. Was macht die Europäische Kommission? Die Europäische Kommission sagt angesichts all dieser Nachhaltigkeitsprobleme, vor denen wir stehen: Wir brauchen keine Nachhaltigkeitsstrategie. - Das ist eine abwegige Haltung der Europäischen Kommission, die der Deutsche Bundestag so nicht teilt. ({0}) Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt in den Gesprächen mit dem Parlamentarischen Beirat deutlich gemacht haben, dass die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie für die Bundesrepublik Deutschland weiterhin eine wesentliche Strategie ist und dass sie eben nicht durch die Strategie „Europa 2020“ abgelöst wird. Nachhaltigkeitsstrategien brauchen einen längeren Atem als nur für die nächsten neun Jahre. Sie brauchen auch ein weiteres Spektrum als das, was in der Strategie „Europa 2020“ genannt ist. Die Strategie „Europa 2020“ ist wichtig, aber sie deckt nicht alle Bereiche ab, die für eine nachhaltige Entwicklung, für Generationengerechtigkeit auf unserem Kontinent erforderlich sind. ({1}) Ich habe etwas zur Europäischen Kommission gesagt. Im Europäischen Parlament läuft dies nicht besser. Wir vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung haben die zuständigen Kollegen im Europäischen Parlament besucht. Wir haben leise angeregt, dass ein solches Gremium wie das im Deutschen Bundestag, das fraktionsübergreifend arbeitet und sich mit den langen Linien von Politik abseits der Tagesdebatten beschäftigt, eine gute Idee auch für das Europäische Parlament wäre. Die fraktionsübergreifende Antwort war: Alles, was das Europäische Parlament macht, ist so nachhaltig, dass wir ein solches Gremium nicht brauchen. ({2}) Ich glaube, dass manche Kolleginnen und Kollegen auch im Europäischen Parlament vielleicht ein bisschen von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union lernen könnten, zum Beispiel von Deutschland, Skandinavien, Großbritannien und auch einigen der südeuropäischen Länder, die inzwischen eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie haben. Bei uns besteht eine Nachhaltigkeitsstrategie nicht nur aus Blabla, wir stellen nicht nur ein paar Ziele auf und machen dann eine statistische Auswertung. Das deutsche System und das von Großbritannien und anderen Ländern hat vielmehr eine klare Managementorientierung und beinhaltet Strategien, Ziele, Indikatoren und dann auch eine Überprüfung und Rückkopplung, in deren Folge neue Ziele aufgestellt werden. Das ist aus meiner Sicht für die Europäische Union längst überfällig. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist in und ein Lieblingswort der Bundesregierung. Als Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung überprüfen wir, ob es die Bundesregierung mit der Nachhaltigkeit wirklich ernst meint. Nachhaltigkeit beschreibt eine Gesellschaft, die Wasser und andere Ressourcen nur in der Menge verbraucht, wie sie im Kreislauf erneut verfügbar sind, und welche die Natur erhält, eine freie und gerechte Gesellschaft, die Wohlstand für alle erreicht. Das unterstützt die Linke. Aber müssen wir der Nachhaltigkeitsstrategie der Regierung deshalb zustimmen? Bevor ich fortfahre, sei eine kurze wichtige Frage erlaubt: Woher kommt eigentlich das viel bemühte Wort „Nachhaltigkeit“? Warum haben Bürgerinnen und Bürger, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Regierung und Opposition, oder auch Manager deutscher DAX-Unternehmen das Wort dauernd im Mund? Das Wort enthält den Wunsch, Entscheidungen und Produkte seien haltbar wie ägyptische Pyramiden nach ihrem Bau, also nachhaltig. Deshalb vermittelt die Verwendung des Attributes „nachhaltig“ zusammen mit Vorhaben und Gesetzen das gute Gefühl von Ewigkeit. Herrlich! Aber das Streben nach ständigem Wachstum, so wie es der aktuellen Wirtschaftspolitik entspricht, ist nicht nachhaltig. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Unternehmerinnen und Unternehmer, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt haben vor den katastrophalen Folgen unserer Art des Wirtschaftens gewarnt: vor der Überfischung und Verschmutzung der Meere, der Verpestung des Klimas, der hemmungslosen Rohstoffausbeutung und der rücksichtslosen Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung. Dies alles macht die Reichen reicher und die Armen ärmer. ({0}) Das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich fördert nachhaltig die Zerstörung der Demokratie, und die wachstumsgetriebene Wirtschaft vernichtet die Natur dauerhaft. Das alles nimmt das Kanzleramt in Kauf. Sie folgen nur den Interessen der Konzerne und deren Profitstreben. Sinkenden Reallöhnen und Altersbezügen, der Rente mit 67, Hartz IV, aber auch dem Flächenverbrauch, der Verlagerung schmutziger Industrien in Entwicklungsländer und dem weltweit ausufernden Lohndumping verpasst die Regierung ein Prädikat „nachhaltig“. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({1}) In Wahrheit ist es so, dass die Bundesregierung die Nachhaltigkeitsidee als Deckmantel ihrer Lobbypolitik missbraucht. Dadurch wird echte Nachhaltigkeit diskreditiert. In der Praxis sieht es so aus: Der Beirat bewertet, ob Gesetze auf Nachhaltigkeit geprüft wurden. Ob der Inhalt nachhaltig wirkt, spielt keine Rolle. Vorschläge im Parlamentarischen Beirat, die Wirkung von Gesetzen auf echte Nachhaltigkeit zu untersuchen, verhindern Sie. Deshalb kann die Regierung sogar Gesetzen, die Panzerverkäufe nach Saudi-Arabien erlauben, schlechte Regelungen für die kommunale Abfallentsorgung enthalten und Riester-Rente und Vorratsdatenspeicherung ermöglichen, einen Nachhaltigkeitsstempel verpassen. Diese Gesetze sind unmöglich nachhaltig. Um ein aktuelles Beispiel, was als nachhaltig durchgeht, zu nennen, zitiere ich Punkt 6, Nachhaltigkeitsprüfung, des Gesetzentwurfes zum Euro-Rettungsschirm: Die Wirkungen des Gesetzes entsprechen den Vorgaben zur Nachhaltigkeit. Die Notmaßnahmen der EFSF erhöhen zwar zunächst anteilig den Schuldenstand Deutschlands. In dem Maße, in dem es zu Rückzahlungen kommt, vermindert sich der nationale Schuldenstand allerdings wieder. Da Notmaßnahmen der EFSF unter strengen Auflagen … erfolgen, … ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit einer Inanspruchnahme der Bundesrepublik Deutschland aus den ausgegebenen Garantien zu rechnen. Wollen Sie uns veralbern? Sagen wir unseren Kindern doch offen: Diese Finanzpolitik verursacht nachhaltige Schuldenberge, und die müsst ihr Kinder abtragen. Wenn Ostern, Weihnachten und der Kanzlerin Geburtstag auf einen Tag fallen, dann wird Ihre Politik nachhaltig. ({2}) Die Arbeit des Parlamentarischen Beirates ist derzeit eher ein Alibi. Meistens gleicht sie dem Schicksal eines einsamen Rufers in der Wüste: Keiner nimmt sie wahr. Die Linke will erreichen, dass der Beirat die Interessen der Menschen und der Natur gegen Finanzhaie und Profithamster durchsetzt, und zwar durch Überprüfung der Gesetze. Das wäre nachhaltig. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser sehr emotionalen Rede des Kollegen Lenkert möchte ich den Blick wieder auf das Thema europäische Nachhaltigkeitsstrategie lenken; ({0}) schauen wir einmal, wie wir da weiterkommen. Die Nachhaltigkeitsprüfung möchte ich nur ganz kurz ansprechen; denn meine Redezeit als Vertreterin der kleinsten Fraktion ist sehr kurz bemessen. Darüber, wie die Nachhaltigkeitsprüfung abläuft, haben meine Vorrednerinnen, Frau Arndt-Brauer und Frau Ludwig, schon eine ganze Menge berichtet. Das Verfahren ist jetzt etabliert. Nach einer zähen Anfangsphase verlässt kaum noch ein Gesetzentwurf ohne diese Prüfung das Kabinett; so weit sind wir immerhin schon. Auch wenn da nur platt steht: „Der Gesetzentwurf ist nachhaltig“, haben wir schon gewisse Verbesserungen erzielt. Es könnte allerdings noch ein bisschen mehr sein. ({1}) Sicherlich werden wir Probleme bekommen, wenn es darum geht, in eine umfassende inhaltliche Prüfung einzusteigen; schauen wir einmal. Aber auch hier werden sich vielleicht noch Türen öffnen. Wir sollten insgesamt ehrlich sein: Ist unsere Republik nachhaltiger geworden, seitdem diese Prüfung durchgeführt wird? Der Beschluss zur Energiewende war sicherlich kein Ergebnis einer Initiative im Rahmen der Nachhaltigkeitsprüfung; er war essenziell notwendig. Hier hat die Nachhaltigkeitsprüfung also nichts gebracht. Mit dem Euro-Rettungsschirm laufen wir der Nachhaltigkeit stets nur hinterher. Mit einer nachhaltigen, also einer vorsorgenden und vorausschauenden Haushaltspolitik und Finanzmarktregulierung wäre er wahrscheinlich nicht erforderlich geworden. Für eine nachhaltige Politik brauchen wir nicht nur eine Nachhaltigkeitsprüfung, sondern auch stringente und konsequente Konzepte, mit denen wir auf diesem langen Weg, den Kollege Kauch angesprochen hat und der absolut richtig ist - wir dürfen uns nicht immer nur im Vierjahresrhythmus treiben lassen, sondern wir müssen hier etwas Längerfristiges entwickeln -, weiterkommen. Jetzt komme ich zur europäischen Nachhaltigkeitsstrategie. Sie könnte ein solches Konzept sein. Aber was ist in der Praxis? Sie existiert seit nunmehr zehn Jahren. Für 2011 hat der Europäische Rat eine Überprüfung und Überarbeitung angesetzt. Es ist also an der Zeit, sich mit der Strategie zu beschäftigen - das haben wir im Beirat getan - und Bilanz zu ziehen, und zwar mithilfe des Monitoring-Berichtes 2009 des Europäischen Statistikamtes. Wir haben uns hier durch 100 Indikatoren gewühlt. Das war eine interessante Arbeit. Es hat schon etwas gedauert, sich hier einen Überblick zu verschaffen, aber wir sind fündig geworden. Es hat sich wirklich für uns gelohnt. Kollege Kauch hat das schon angesprochen. Im Ergebnis kann man sagen, dass wir in Deutschland mit unserer damals von Rot-Grün eingeleiteten Nachhaltigkeitsstrategie, die von allen nachfolgenden Regierungen fortgeschrieben wurde, sehr weit gekommen sind. In Europa ist dies noch lange nicht der Fall. Dort läuft das alles auseinander. Der vorliegende Bericht zeigt: Es bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, wie stark sie sich für die nachhaltige Entwicklung engagieren. Das spricht nicht wirklich für das Vorhandensein einer Strategie. Es kommt aber noch viel schlimmer. Wir waren in Brüssel zu einem Gespräch mit den Verantwortlichen. Dort hat sich gezeigt, dass die Kommission die Strategie einfach nicht für erforderlich hält. Sie redet nur von ihrer Strategie „Europa 2020“, durch die die Welt glücklich wird. Die langen Linien hat sie partout nicht im Auge. ({2}) Die Krönung waren die Abgeordneten. Unsere lieben Kolleginnen und Kollegen in Brüssel hatten diesen Begriff teilweise überhaupt noch nicht gehört. Es lohnt sich, das Thema Nachhaltigkeit ernsthaft zu verfolgen. Wir als rohstoffarmes Land haben hier einen entsprechenden Bedarf, und wir müssen unsere Intelligenz für die Sicherstellung der Nachhaltigkeit einsetzen. Hier sind wir in Deutschland relativ gut dabei, aber es wäre auch sinnvoll, wenn aus Europa ein solcher Wink kommen würde, gerade im Hinblick auf die Vorbereitung des neuen Erdgipfels nach 20 Jahren Rio. Was brauchen wir? Durch die europäische Nachhaltigkeitsstrategie könnte deutlich mehr geboten werden. Bei der anstehenden Überprüfung und Überarbeitung müssen wir aber mehr Verbindlichkeit einfordern. ({3}) Damit es dazu kommt, müssen wir das nicht nur in der Europäischen Kommission behandeln, sondern wir müssen auch die Parlamente beteiligen: das Europäische Parlament und auch die nationalen Parlamente. Die ganzen Indikatoren und Ziele müssen auch parlamentarisch abgesichert sein. In diesem Sinne sollten wir weitermachen. Vielleicht gelingt es uns ja auch, das dicke Brett Europa irgendwann einmal zu durchbohren. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Andreas Jung hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Bericht zeigt sich, dass wir bei der Implementierung des Nachhaltigkeitsgedankens in den politischen Prozess in den letzten Jahren entscheidende Schritte vorangekommen sind. Ich will mit der Neuerung auf Initiative des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in der letzten Legislaturperiode beginnen. Schon damals ist es gelungen, dass die Bundesregierung in die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien neu aufgenommen hat, dass bei jedem einzelnen Gesetzentwurf eine Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen ist, dass also nicht nur gesagt werden muss, welche Kosten entstehen und welcher Aufwand an Bürokratie entsteht, sondern dass in jedem einzelnen Gesetzentwurf auch gesagt werden muss, welches die Auswirkungen auf nachhaltige Entwicklung sind. Das war ein wichtiger Punkt. ({0}) Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass der Parlamentarische Beirat wiederum auch in dieser Legislaturperiode und somit zum dritten Mal vom Deutschen Bundestag eingesetzt wurde und damit zu einem nicht mehr wegzudenkenden Gremium im Deutschen Bundestag geworden ist. Auch ist der Parlamentarische Beirat nun beauftragt worden, die Nachhaltigkeitsprüfung der Bundesregierung zu bewerten. Das war ein wichtiger Schritt. Davor war der Beirat ein Gremium, das sich allgemein mit Nachhaltigkeitsfragen auseinandergesetzt hat, das Stellungnahmen abgegeben hat, das aber vom parlamentarischen Alltag losgelöst war. Jetzt haben wir harte Rechte. Wir haben Möglichkeiten, die sogar über die der Fachausschüsse hinausgehen, weil wir uns mit jedem einzelnen Gesetzentwurf befassen können und bei jedem einzelnen Gesetzentwurf sagen können: Hier stellen wir auf Rot, hier sehen wir Probleme, hier führen wir Kritikpunkte an. Das war ein wichtiger Schritt. Es ist schon gesagt worden: Damit leisten wir Pionierarbeit. Ich finde es bemerkenswert, dass es in den allermeisten Fällen gelingt, nicht nur fraktionsübergreifend zu diskutieren, sondern am Ende auch fraktionsübergreifend Stellungnahmen abzugeben. Es ist zum Beispiel von Frau Arndt-Brauer angeführt worden, dass das oftmals ein Ringen ist und dass das auch nicht in jedem Einzelfall gelingt. Aber wir sagen dann: Fraktionsübergreifend nehmen wir uns dieses Themas an, fraktionsübergreifend werden wir aktiv. Das ist ein Beispiel für lebendigen und hart an der Sache orientierten Parlamentarismus. Ich finde, auf diesem Wege sollten wir weitergehen. ({1}) Wir stellen fest, dass das, was im Deutschen Bundestag gemacht wird, durchaus beispielgebend ist, auch über Deutschland hinaus. In unseren Länderparlamenten, aber auch in anderen europäischen Staaten gibt es ein solches Verfahren oder ein solches Gremium nicht. Das Europäische Parlament ist angesprochen worden. Ich will all das unterstreichen, was die Kollegen gesagt haben. Es ist nicht in Ordnung, wie auf europäischer Ebene mit den Nachhaltigkeitsstrategien, den Nachhaltigkeitsindikatoren und den Nachhaltigkeitsinstrumenten umgegangen wird. Da braucht es deutliche Impulse. Ich bin froh, dass wir diese fraktionsübergreifend geben können. Wir wünschen uns, dass in Europa Nachhaltigkeit eine größere Rolle spielt und eine wichtigere Bedeutung erhält. ({2}) Wenn ich vorher gesagt habe, dass man einerseits die Fortschritte sieht, die gemacht werden, dann müssen wir andererseits zur Kenntnis nehmen, dass das wie bei allen Innovationen ist: Es geht nicht von einem Tag auf den anderen. Deshalb gab es Anlaufschwierigkeiten und gibt es auch jetzt noch Verbesserungsbedarf. Die Anlaufschwierigkeiten sind genannt worden. Wir haben zu Anfang unserer Prüfungen festgestellt, dass in vielen Gesetzentwürfen der Bundesregierung dem selbst auferlegten Erfordernis nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen wurde. Wir haben Stellungnahmen abgegeben und haben dann auch das Gespräch mit den Vertretern von Bundeskanzleramt und den Ministerien gesucht. Wir haben mittlerweile festgestellt, dass sich das eingespielt hat und dass in den allermeisten Gesetzentwürfen entsprechende Ausführungen enthalten sind. Wahr ist - das ist auch schon gesagt worden -, dass hinsichtlich der Qualität der Ausführungen teilweise immer noch Spielraum nach oben besteht. Aber wir stellen fest, dass sich hier eine ganz deutliche Verbesserung eingestellt hat. Ein anderer Punkt, über den wir hier im Plenum diskutieren sollten, wo viele Kolleginnen und Kollegen dabei sind, die nicht dem Parlamentarischen Beirat angehören, betrifft uns selber. Es geht um die Frage: Wie gehen wir selbst, wie gehen die jeweils federführenden Fachausschüsse, denen wir unsere Stellungnahmen überweisen, mit diesen Stellungnahmen um? Hier erkennen wir ganz deutliche Defizite. Das geht auch aus dem Bericht hervor. Wir haben in insgesamt 16 Fällen, in denen eklatant gegen das Erfordernis einer guten Nachhaltigkeitsprüfung verstoßen wurde, dem federführenden Fachausschuss Andreas Jung ({3}) eine Stellungnahme zukommen lassen und darum gebeten, in den jeweiligen Beratungen darauf einzugehen. Das entspricht auch dem Erfordernis, das der Deutsche Bundestag in seinem Einsetzungsbeschluss postuliert hat, nämlich dass der federführende Ausschuss über die Stellungnahmen zu diskutieren und diese zu bewerten hat. Wir haben festgestellt, dass das nur in fünf Fällen tatsächlich passiert ist, in neun aber nicht. Deshalb möchte ich an dieser Stelle aus Anlass dieser Debatte noch einmal an alle Ausschüsse und Ausschussvorsitzende appellieren: Hier müssen wir gemeinsam besser werden. Wir wünschen uns, dass dem, was nicht nur wir uns vorstellen, sondern was der Deutsche Bundestag gemeinsam beschlossen hat, Rechnung getragen wird. Darauf wollen wir in Gesprächen hinweisen. Wir sind aber auch der Meinung, es braucht noch einen weiteren Schritt. Dieses Verfahren muss mit der konkreten Vorgehensweise, mit konkreten Anforderungen in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages verankert werden. ({4}) Das ist die logische Konsequenz aus unserer gemeinsamen Auffassung, dass Nachhaltigkeit eine besondere Bedeutung über alle Bereiche hinweg hat und kein Modethema, sondern eine Daueraufgabe ist. Deshalb gehört es auch formalisiert in unsere Geschäftsordnung. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Jung hat es gerade zu Recht gesagt: Die Implementierung der Nachhaltigkeitsprüfung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien war sicherlich ein Meilenstein für den Parlamentarischen Beirat. Damit es nicht bei einem Lippenbekenntnis der Ministerien bleibt, haben wir als Parlamentarischer Beirat ein Verfahren entwickelt, mit dem wir den Ministerien auf die Finger schauen, wenn es darum geht, wie die Nachhaltigkeitsprüfung umgesetzt wird. Mit dem vorliegenden Bericht versuchen wir nun, die Verfahren, die wir entwickelt haben, praxistauglicher zu machen und ein Stück weit zu verbessern. Obgleich ich allen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar dafür bin, wie konstruktiv die Beratungen zu diesen Verbesserungen waren, will ich nicht konkret auf die Verbesserungen eingehen, sondern noch einmal etwas Grundsätzliches sagen, was mir auch in den Beratungen mit den Berichterstattern wichtig war. So wichtig und sinnvoll solche Verfahrensverbesserungen sind, vergrößern sie ein Spannungsverhältnis, das wir als Parlamentarischer Beirat durchaus ernst nehmen müssen. Natürlich ist es richtig, dass wir versuchen, unsere Verfahren effizienter zu machen, sie zu professionalisieren und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es ist im Übrigen auch gut, dass der Parlamentarische Beirat mittlerweile eine eigene Sprache gefunden hat, wie er Dinge ausdrückt und sich über Nachhaltigkeit verständigt. Das alles darf aber nicht dazu führen, dass wir uns beim Thema Nachhaltigkeit in einer Art Elfenbeinturm einbauen. Nachhaltigkeit muss Grundsatz jeder politischen Entscheidung sein. Nachhaltigkeit muss im Querschnitt aller Themen verlaufen und darf nie zu einer Delikatesse für den Parlamentarischen Beirat werden. ({0}) Deswegen reicht es nicht, wenn wir als Parlamentarischer Beirat nur bessere und professionellere Verfahren finden. Wir müssen auch unsere Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg nehmen. Ich behaupte, uns ist das bisher nicht ganz so gut gelungen. Sie können heute Abend in der Parlamentarischen Gesellschaft ausprobieren, wie gut wir unsere Kollegen beim Thema Nachhaltigkeitsprüfung schon mit auf den Weg genommen haben, und sie fragen, was sie zur Diskussion um den Indikator 15 sagen, ob sie das auch aufregt, dass man damit nichts Vernünftiges abbilden kann, oder ob sie bei der aktuellen verkehrspolitischen Ausrichtung das Gefühl haben, dass wir die Indikatoren 4 und 11 c vernünftig abbilden. Ich glaube, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann werden unsere Kolleginnen und Kollegen uns nicht verstehen. Das muss man als Parlamentarischer Beirat ernst nehmen. Ich wage noch eine These. Ich glaube, viele Kolleginnen und Kollegen konzentrieren das Thema Nachhaltigkeit nach wie vor auf die Umweltpolitik und vernachlässigen damit die wichtigen anderen Dimensionen von Nachhaltigkeit. ({1}) Deswegen freue ich mich über den klaren Handlungsauftrag, den wir in der Einleitung zum Bericht gegeben haben. Darin heißt es: Es gilt daher, alle Mitglieder des Bundestages für die Nachhaltigkeitsprüfung und deren Bewertung zu sensibilisieren. Es ist richtig und wichtig, dass wir uns weiter auf den Weg machen, unsere Verfahren zu verbessern. Aber auch diesen Handlungsauftrag müssen wir ernst nehmen. Wir müssen die Kollegen für ein sehr scharfes Schwert in der Diskussion begeistern, nämlich die Nachhaltigkeit. Das gilt für die Opposition wie für die Regierungsfraktionen. Ich glaube, wenn uns das gelungen ist, dann erleben wir nicht nur im Parlamentarischen Beirat spannende Debat16592 ten über Nachhaltigkeit, sondern in allen unseren Fachausschüssen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6680 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Bei- rat für nachhaltige Entwicklung mit dem Titel „Europäi- sche Nachhaltigkeitsstrategie“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7678, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 17/5295 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten Kormoranmanagement einführen - Drucksachen 17/5378, 17/5955 Berichterstattung: Abgeordnete Carola Stauche Holger Ortel Dr. Kirsten Tackmann Undine Kurth ({1}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Franz-Josef Holzenkamp, Peter Altmaier, Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christel HappachKasan, Rainer Erdel, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Fischartenschutz voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für ein Kormoranmanagement - Drucksachen 17/7352, 17/7673 Berichterstattung: Abgeordnete Cajus Caesar Holger Ortel Dr. Kirsten Tackmann Cornelia Behm Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Cajus Caesar für die Unionsfraktion. ({3})

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kormoranmanagement ist für uns ein ausgewogener Artenschutz. Wir setzen nicht auf eine Art, sondern wir setzen auf das Gleichgewicht in der Natur, und wir setzen auf die Artenvielfalt. Das ist uns wichtig. Es geht darum, langfristig die Artenvielfalt zu sichern und zu entwickeln. ({0}) Es ist ganz wichtig, dass wir - ob wir über Ökologie oder über den Umwelt- und Klimaschutz reden - diesen Gleichklang, dieses Voranbringen in der Gesamtheit sehen und uns hier nicht in Details verlieren. Die Union jedenfalls will sich dieser Herausforderung stellen. Wir setzen auf Kooperation und nicht auf Konfrontation. Das ist uns in diesem Zusammenhang besonders wichtig. ({1}) Ich glaube, es ist wichtig, dass man nicht die Augen verschließt, sondern dass man schaut, was da passiert, und diese Problematik zur Kenntnis nimmt. Richtig ist, dass der Kormoran ein prominenter Vogel ist. In der Tat, der Naturschutzbund hat ihn zum Vogel des Jahres ausgerufen, und der Kormoran hat es auch verdient. Jahrzehntelang hatten wir nur wenige Brutpaare, und es lag uns am Herzen, die Population zu entwickeln. Aber wenn diese Population aus dem Ruder läuft, muss man auch den Mut aufbringen, Maßnahmen zu ergreifen und sich diesen Herausforderungen zu stellen. Deshalb sagt die Union all denjenigen Nein, die sagen: Lass es so laufen; lass es so weitergehen! Das ist nicht unsere Vorgehensweise. Wir wollen eine erfolgreiche Erhaltung von Biodiversität. Zwei Jahrzehnte, besonders intensiv in den letzten Jahren, haben sich Wissenschaftler mit der Bestandsentwicklung der Kormorane beschäftigt, und sie sind jetzt zu dem Ergebnis gekommen: Die Population ist überhöht, und sie ist insgesamt, wenn man die Artenvielfalt sieht, so nicht hinnehmbar und so nicht gesund. Diese Wissenschaftler kommen sogar zu dem Ergebnis: Wenn wir mehr FFH-Gebiete ausweisen und den Naturschutz voranbringen wollen, dann geht das nicht mit der PopuCajus Caesar lation, die wir jetzt haben, und deshalb müssen wir handeln. ({2}) Wir als Union jedenfalls wollen diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen. Deshalb ist es uns wichtig, hier ein Kormoranmanagement auf den Weg zu bringen, das die Dinge insgesamt betrachtet und das erfolgreich handelt. Der Kormoran selbst ist ein Fischfresser, er ist schnell, er ist hartnäckig, und er kann bis zu 40 Meter tief tauchen. In größeren Gewässern treibt er sogar die Fischbestände zusammen - das beherrscht er hervorragend - und jagt sie so lange, bis nicht mehr viel übrig bleibt. ({3}) - Das sagen Sie zu Recht. Deshalb hoffe ich, dass Sie unserem Antrag zustimmen. - Es gibt da eine große Problematik, die wir als Union aufgreifen wollen. Wir sehen die Problematik im Zusammenhang mit denjenigen, die Familienbetriebe haben, von denen sie leben müssen, und denjenigen, die Lebensqualität im ländlichen Raum bewahren wollen. Auf der einen Seite geht es also darum, die wirtschaftliche Entwicklung zu sichern. Auf der anderen Seite wollen wir den Fischbesatz und die Artenvielfalt dort, wo wir eine intakte Natur und gesunde Bachläufe haben, erhalten und entwickeln. Schauen Sie sich die Entwicklung an. 1980 gab es in Deutschland 800 Brutpaare, heute haben wir es mit 130 000 Vögeln zu tun. Daran sieht man, welche Entwicklung die Kormoranpopulation genommen hat. An 1 000 Brutpaaren allein in Nordrhein-Westfalen sieht man, wie rasant diese Entwicklung gewesen ist. Sie ist aber nicht positiv rasant gewesen, sondern negativ rasant. Deshalb kommen zu Recht Beschwerden wie die folgende aus der Bevölkerung: Lieber Unionsabgeordneter meines Wahlkreises, du musst dich kümmern. - FranzJosef Holzenkamp hat mir vor wenigen Tagen gesagt: Cajus, wir müssen etwas tun. Setz dich ein. Wir gemeinsam schaffen das. - Ich denke, die Bundesregierung und insbesondere unser Staatssekretär Peter Bleser sowie wir Unionsabgeordnete werden das schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Bemühungen erfolgreich sein werden. ({4}) Wir müssen feststellen, dass gerade im süddeutschen Raum die Bestände der Zugvögel stark zunehmen und es deshalb auch dort Handlungsbedarf gibt. Wir wollen Nationalparks und gesunde Gewässer erhalten und müssen deshalb tätig werden. Ein Kormoran ist etwa 80 bis 100 Zentimeter groß. Er wiegt 2 bis 3 Kilogramm. ({5}) Was will ich damit sagen? Er verzehrt, um dieses Gewicht zu halten, 400 bis 500 Gramm am Tag. Das ergibt pro Vogel und Jahr rund 160 Kilogramm. Wenn man alle Kormorane berücksichtigt, dann kommt man auf rund 20 000 Tonnen täglich in Deutschland. Somit kommt einiges zusammen. Man darf sich nicht vorstellen, dass der Kormoran nur ganz große Fische frisst, also beispielsweise Forellen, die wir Menschen verzehren; er fängt insbesondere Jungfische und greift somit sehr stark in den Besatz ein. Das ist für die Artenvielfalt, aber auch für diejenigen, die von der gewerblichen Fischzucht leben, problematisch. Wir jedenfalls wollen effektive und langfristige Lösungen. Deshalb ist es uns wichtig, das Ganze im Dialog zu betreiben. ({6}) Wir wollen nicht bestimmte Gruppen an die Seite drängen. Uns liegen Gewässerqualität und Artenschutz in ihrer Gesamtheit am Herzen. Es ist wichtig, dass wir den Bestand der einheimischen Fischarten, der als gefährdet gilt, wie Lachs, Äsche, Zander, Hecht, Karpfen, Meeresforelle, aber auch den Aal, erhalten. ({7}) Sie alle wissen, dass das Bundesamt für Naturschutz - wenn jemand für den Naturschutz eintritt, dann ist es dieses Bundesamt - festgestellt hat, dass 74 Prozent der heimischen Rundmäuler und Fischarten als gefährdet oder sogar ausgestorben gelten. Daraus können wir schließen, dass es Handlungsbedarf gibt und wir eingreifen müssen. Das geht ganz eindeutig daraus hervor. ({8}) Wir als Union wollen, dass ein Räuber nicht mehr Spielraum bekommt, ({9}) sondern wir wollen in der Tat vernünftigen Ressourcenschutz betreiben und uns für Nachhaltigkeit einsetzen. Wenn wir das tun, sind wir auf dem richtigen Weg. Es ist festzustellen, dass die Fischpopulation, ob es sich um die in freien Gewässern oder um die in heimischen Bachläufen handelt, durch den Kormoran großen Schaden nimmt. Deshalb müssen wir das Gleichgewicht herstellen. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Dinge konsequent anzugehen ({10}) - wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie es - und den massiven Bestandszuwachs zurückzudrängen. Wir orientieren uns an dem, was Wissenschaftler und Exper16594 ten festgestellt haben. Wir nehmen die Populationszunahme sehr wohl zur Kenntnis, im Gegensatz zu Ihnen. ({11}) Jedenfalls ziehen wir daraus entsprechende Schlüsse, und das ist wichtig. Ich denke, jeder kennt in seinem Wahlkreis Gegenden mit idyllischen Bachläufen und gesunder Gewässerqualität, und dort können wir uns über den Fischreichtum und insbesondere über seltene Fische freuen. Wir als Union wollen den Artenschutz erhalten und entwickeln. ({12}) Es ist in der Tat wichtig, dass man nicht nur die Aspekte von Umwelt- und Naturschutz, sondern auch die Interessen derjenigen berücksichtigt, die ihre wirtschaftliche Existenz sichern müssen. Wir wollen die Familienbetriebe nicht im Stich lassen. Wir denken auch an die vor Ort arbeitenden und lebenden Menschen und wollen sie einbeziehen. Bisher sind Schutzmaßnahmen wie das Abspannen und Überspannen von Wasserflächen relativ erfolglos geblieben, und deshalb muss man über andere Maßnahmen nachdenken. Die Union hat sich auch in den Ländern schon sehr früh damit beschäftigt. Sie hat in Schleswig-Holstein eine Kormoranverordnung erlassen. Wir können dank unserer Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, auch auf europäischer Ebene einige Aktivitäten vorweisen. Es ist zudem wichtig, dass die im Rahmen der Agrarministerkonferenz eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kormoran“ vorankommt. Wir haben bereits Maßnahmen zur Abwehr fischereiwirtschaftlicher Schäden ergriffen. Allerdings müssen diese durch entsprechende politische Maßnahmen flankiert werden, die über die Bundesländer hinaus abgestimmt werden müssen. ({13}) Ich glaube, es macht wenig Sinn, wenn auf der einen Seite eines Bachlaufs, die zu Niedersachsen gehört, etwas anderes passiert als auf der anderen Seite, die zu Nordrhein-Westfalen gehört. Es macht daher mehr Sinn, wenn die Bundesregierung flankierende Maßnahmen auf den Weg bringt. Dazu gehören auch konkrete und umsetzbare Maßnahmen für ein effektives Kormoranmanagement. Wir jedenfalls wollen klare Lösungen, ein zügiges Verfahren und eine effektive Umsetzung. Wir wollen einen erfolgreichen Vogelschutz ebenso wie einen effektiven und erfolgreichen Fischschutz. Wir wollen eine ausgewogene Artenvielfalt. Wir wollen die Fischereiwirtschaft nicht im Stich lassen. Wir wollen nicht nur über Regelungen reden, sondern auch handeln. Ich bin froh, dass wir als Union im Dialog sowohl mit den Fischereiverbänden als auch mit den Fischereivereinen und den vielen Ehrenamtlichen stehen und im Austausch mit den Naturschutzverbänden alles zusammenführen können. ({14}) Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, die Koalition und die Bundesregierung, auf einem erfolgversprechenden Weg sind. Herzlichen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ute Vogt das Wort. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Caesar, was Sie geschafft haben mit Ihrem Antrag, ist in der Tat eine bemerkenswerte Allianz aus Regierungskoalition und Linksfraktion. Es ist eine Allianz, die mit vereinten Kräften den Anglern und Fischern Sand in die Augen streut und auf ziemlich plumpe Weise den Schutz von Fischarten gegen den Vogelschutz ausspielt. ({0}) Sie verfallen mit Ihren Anträgen zurück in ein ziemlich schlichtes Denken von vorgestern. Sie teilen Arten einerseits in nützlich, also schützenswert, und andererseits in Nahrungskonkurrenten, also nicht schützenswert, ein. Diese Einteilung ist in der Tat schon lange überholt. Sie widerspricht nicht nur einem modernen Natur- und Artenschutzdenken, sondern auch der europäischen und unserer eigenen nationalen Gesetzgebung. ({1}) Alle Arten, ob Vögel oder Fische, sind erst einmal grundsätzlich in ihrem Bestand zu erhalten, und ihre Lebensräume sind entsprechend zu schützen. Weder das Bundesnaturschutzgesetz noch die FFH-Richtlinie noch die Vogelschutzrichtlinie räumen einer wirtschaftlich bedeutenderen Art gegenüber einer anderen Art eine gewisse Vorzugsbehandlung ein. Diese Idee, die in Ihren Anträgen zum Ausdruck kommt, stammt allein von Ihnen. ({2}) Die Wirtschaftlichkeit ist im Zusammenhang mit dem Artenschutz schlicht kein Kriterium. Schon gar nicht wird die europaweite Reduktion des Kormoranbestandes um 25 Prozent, also um ein ganzes Viertel, in irgendeiner Form auf europäischer Ebene gefordert oder unterstützt, auch nicht, wenn Sie diese Idee euphemistisch verbrämen und als Kormoranmanagement tarnen. Es geht ja tatsächlich darum, eine Art zu reduzieren. ({3}) Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, fressen Kormorane Fische. ({4}) Es ist auch nachzuvollziehen, dass sich Angler und Fischer darüber ärgern und dadurch gestört fühlen. Aus individueller Sicht kann man all das verstehen. Aber es gibt bereits entsprechende Möglichkeiten. Es gibt sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene Ausnahmeregelungen, ({5}) nach denen Kormorane an Fischteichen vergrämt oder gegebenenfalls sogar abgeschossen werden dürfen. Diese Ausnahmeregelungen gibt es heute schon. ({6}) Die Bundesländer, zumindest die meisten, machen auch Gebrauch von solchen Ausnahmeregelungen. Es besteht also keinerlei Bedarf, auf Bundesebene eine weiter gehende Regelung einzuführen. Ich will Ihnen noch einmal die Zahlen vor Augen führen. Nach der Analyse des von Ihnen geführten Landwirtschaftsministeriums wurden im letzten Jahr in zwölf Bundesländern knapp 27 000 Kormorane abgeschossen. Das ist ja eine beträchtliche Anzahl. In Deutschland befinden sich etwa 21 000 Brutpaare. Der Bestand der Kormorane, die sich im Winter in Deutschland befinden, nämlich 51 000, wurde durch diese 27 000 Abschüsse in etwa halbiert. Ich finde, aufgrund dieser hohen Abschusszahlen und auch aufgrund der Entschädigungszahlungen, die sehr viele Bundesländer leisten, wenn es zu Schäden durch Kormorane kommt, besteht kein weiterer Regelungsbedarf. Vor allen Dingen gibt es auch keine weitere Regelungsmöglichkeit. Die von Ihnen hier vorgelegten Anträge sind Schaufensteranträge; denn es gibt in der Europäischen Union keine Mehrheit für Ihr sogenanntes Kormoranmanagement. ({7}) Eine entsprechende Vorlage wurde nämlich schon mehrfach abgelehnt. ({8}) Kolleginnen und Kollegen, die SPD ist gerne bei Ihnen, wenn es darum geht, Fischarten zu schützen. ({9}) Da sind wir gerne an Ihrer Seite. Der Weg dahin - ich sage es Ihnen gerne noch einmal - darf aber nicht in der Weise beschritten werden, dass man eine andere Vogelart an die Seite drängt, sondern der Weg des Fischschutzes führt über die Verbesserung der Gewässerqualität und über die Verbesserung der Durchgängigkeit von Fließgewässern. ({10}) Wenn Sie es wirklich ernst meinten mit dem Fischschutz, dann müssten Sie doch Ihre Energie darauf konzentrieren, auf europäischer Ebene auf die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie hinzuarbeiten, ({11}) statt im nationalen Alleingang etwas gegen die Kormorane zu unternehmen. Ich jedenfalls kann für die SPD-Fraktion sagen: Wir halten es für unfair, ({12}) wenn von Menschen gemachte Probleme beim Fischbestand und bei der Artenvielfalt von Fischen nun einzig und allein den Kormoranen angelastet werden. Deshalb wird die SPD-Fraktion die vorliegenden Anträge mit großer Mehrheit ablehnen. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, heute Abend hier zum Thema Kormoran sprechen zu dürfen; denn es ist mir ein Anliegen, dass wir gerade bei diesem Thema, dem Kormoran, zu einem sachverständigen Naturschutz kommen. Ich freue mich auch sehr darüber, dass ich in der gestrigen Ausschussberatung von einer Seite Zustimmung bekommen habe, von der ich sie gar nicht erwartet hätte, ({0}) nämlich nicht nur von der CDU/CSU, sondern auch von der Linken sowie vom Fischereiexperten der SPD-Bundestagsfraktion sowie des Deutschen Bundestages, Herrn Holger Ortel, ({1}) und von Dr. Wilhelm Priesmeier. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Zustimmung zu dem Antrag. ({2}) Der Kormoran ist das Beispiel in Deutschland für erfolgreichen Naturschutz. Frau Kollegin Vogt, eine Vogelart mit fast 2 Millionen Exemplaren durch ein Management zu reduzieren, ist völlig unmöglich. ({3}) Sie haben eine absolut eingeschränkte Sicht. Vor 20 Jahren war der Kormoran stark gefährdet. Heute ist er eine Allerweltsvogelart. Die EU-Vogelschutzrichtlinie führt ihn in ihren Anhängen gar nicht mehr auf. Wir haben neun Forderungen für eine nachhaltige Bestandsregulierung ({4}) aufgestellt, die offensichtlich mehrheitlich Zustimmung findet. Es ist bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es trotz eines sehr eindeutigen Votums in der Bevölkerung Naturschützer gibt, die sich mit diesem Erfolg des Naturschutzes nicht zufriedengeben, sondern den Vogel weiterhin auch dort schützen wollen, wo dadurch andere Arten, beispielweise Fischarten, gefährdet werden. ({5}) Wir leben in einer Kulturlandschaft. Es ist völlig unstrittig, dass zum Schutz der Wälder Rehwild geschossen wird, dass wir ein Management für Rotwild haben. Es ist völlig unstrittig, dass wir in unserer Kulturlandschaft Wildschweine bejagen. Allein bei mir im Wahlkreis hat es eine Verzehnfachung des Wildschweinbestandes innerhalb der letzten 30 Jahre gegeben, und natürlich werden sie bejagt. Genauso unstrittig sollte es sein, dass der Kormoran dort, wo er zu Schäden an autochthonen Fischbeständen führt, ebenfalls reguliert wird. ({6}) Der Schutz autochthoner Bestände ist unser Anliegen, genauso wie der Artenschutz unter der Wasseroberfläche. Wir wollen den Erhalt von Teichwirtschaften, gerade in FFH-Gebieten. Jeder, der ein bisschen Ahnung von unserer Kulturlandschaft hat, weiß, dass wir die Fischbestände dort nicht durch Überspannung der Teiche schützen können; das geht überhaupt nicht. Sie sind zu groß. Ich will als Schleswig-Holsteinerin natürlich die Fischerei am Großen Plöner See erhalten. Auch dort ist es nicht möglich, die Fischbestände durch Überspannen zu schützen. Wer einmal mit Sabine Schwarten, der einzigen deutschen Fischereimeisterin, gesprochen hat, der weiß, wie sehr die Fischerei unter dem Kormoran leidet. Sie hat Vögel geschossen und hinterher 40 cm lange Zander aus dem Bauch herauspräpariert. Das ist ein sehr deutliches Beispiel dafür, wie sehr der Fischbestand durch den Kormoran gefährdet ist. ({7}) Wir wollen - das will ich ganz deutlich sagen - mit unserem Antrag auch Anerkennung gegenüber den Anglerinnen und Anglern zum Ausdruck bringen, die in ihrem anerkannten Naturschutzverband herausragende Arbeit zum Schutz der Gewässer und in der Umweltbildung leisten. Schauen wir doch einmal in die Presse. In der MainPost lesen wir unter der Überschrift „Kormoran frisst den Main leer“, was Willi Wingenfeld, Fischereiverbandsbeauftragter, dazu sagt: Die reinen, selbst ernannten Vogelschützer haben kein Verständnis. Für die sind Fische Vogelfutter. - Genauso wie für Sie, Frau Vogt. ({8}) Nach dem Motto: Solange es Fischstäbchen gibt, brauchen wir keine Fische draußen. Das ist bemerkenswert. - In Franken sagt ein Mitarbeiter der unteren Naturschutzbehörde, ein Biologe, er stelle sich hinter die Teichwirte in seinem Land. Im Zusammenhang mit der Karpfenernte in der Lewitz berichtet der NDR, dass der Fischer Hermann Stahl die Verluste auf 30 Prozent senken konnte, seit er intensiver gegen den größten Fischräuber, den Kormoran, vorgehen kann. Früher betrugen die Verluste bis zu 75 Prozent. Das Bundesamt für Naturschutz führt in der Roten Liste der Süßwasserfische und Neunaugen aus: Eine befriedigende Lösung des Kormoranproblems ist bisher nicht in Sicht, und zu der Frage, wie der Äsche geholfen werden kann, gibt es erheblichen Forschungsbedarf. ({9}) Die fachliche Meinung des Bundesnaturschutzamtes sollte ernst genommen werden. Es reicht nicht, zu sagen, dass es Umweltverbände gibt, die nicht wollen, dass etwas unternommen wird. ({10}) Wenn wir uns eine entsprechende Veröffentlichung des Bundesumweltministeriums aus dem Oktober 2011 anschauen, sehen wir, dass auch darin der Kormoran als Fraßräuber benannt wurde. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir beim Kormoran zu einem Umdenken kommen. ({11}) Liebe Kollegin Kurth, ich fand es schon bemerkenswert, dass Sie gestern im Ausschuss erstmalig davon gesprochen haben, dass wir einen Interessenkonflikt beim Thema Kormoran haben. Frau Kollegin Behm hat in der ersten Rede zum Kormoranantrag ausgeführt, dass es durchaus Gewässerabschnitte geben kann, in denen tatsächlich Bedarf an einem Management für bestimmte Arten besteht. ({12}) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Kormoran in den küstenfernen Regionen Deutschlands, also in Süddeutschland, eine invasive Art ist. ({13}) Er hat Brutbestände dort aufgebaut, wo er früher einmal allenfalls als Irrgast vorgekommen ist. Es ist auch klar, dass wir bestimmte Fischarten haben, die sich der neuen Situation nicht angepasst haben. Insbesondere gilt dies für die Äsche, aber auch für andere Fischarten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind aufgefordert, die Akzeptanz für den Naturschutz zu erhalten. Dazu gehört auch, dass wir ein Management organisieren, wenn sich eine Art, wie es beim Kormoran der Fall ist, so stark vermehrt, dass andere Arten in ihrem Bestand gefährdet sind. Es ist richtig, was der Fischereiverband von Brandenburg sagt: Auch Fische brauchen Schutz. - In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich, meinem Antrag zuzustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ergibt sich bei dieser Debatte eine etwas ungewöhnliche Konstellation. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass sich offenbar in mehreren Fraktionen Sachkenner mit dieser Materie auseinandergesetzt haben und dementsprechend sinnvolle Anträge eingebracht haben. ({0}) Die Linke hat bereits im April zum Kormoranmanagement einen Antrag eingebracht. Die Koalitionsfraktionen haben dann im Oktober nachgelegt und die wesentlichen Punkten unseres Antrages erfreulicherweise bei uns abgeschrieben und übernommen. Das ist in Ordnung; denn der Antrag, den wir eingebracht haben, ist ein sehr kluger Antrag. ({1}) Weil Sie es fertigbringen, mit keinem Wort den Antrag der Linken zu erwähnen, der nun wirklich sehr differenziert und sachlich ist, will ich diese Anmerkung machen: ({2}) Zumindest bei dieser K-Frage hätten Sie einmal ausnahmsweise sachlich und nicht ideologisch mit uns diskutieren und dem Antrag einfach zustimmen können. Dann wären wir schon ein gutes Stück weiter. ({3}) Nun aber zu den Fakten. Bis auf die Grünen und bis auf Ute Vogt wissen alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, dass der Kormoran ein großes Problem darstellt. 1990 gab es 5 000 Brutpaare. 2010 gab es schon 24 000 Brutpaare. Das ist in der Tat - darüber können wir uns alle freuen - ein Erfolg für den Artenschutz. Das ist auch erst einmal in Ordnung. Aber - darüber diskutieren wir hier zu Recht - der Artenschutz endet eben nicht an der Wasseroberfläche, liebe Kollegen von den Grünen. Um dieses Problem geht es heute. ({4}) Ich habe mir die Reden, die damals zu Protokoll gegeben wurden, angeschaut. Den Grünen und in diesem Falle auch Ute Vogt sei gesagt: Was Sie in dieser Debatte nicht begriffen haben, ist, dass Artenschutz eben nicht nur für kleine, niedliche Tierchen mit Knopfaugen gilt - das ist Ihre Position -, sondern beispielsweise auch für den Aal und für die Äsche. ({5}) Nun weiter zu den Fakten. Erstens. In einer Studie des Thüringer Umweltministeriums zur Kormoranüberwinterung an Fließgewässern in Thüringen heißt es abschließend - das ist das Fazit der Wissenschaftler -: Der daraus resultierende Fraßdruck auf die Äschenpopulation kann nicht mehr kompensiert werden. Zweitens. Der Kormoran frisst pro Tag - das besagen alle wissenschaftlichen Untersuchungen - zwischen 300 und 500 Gramm Fisch. Das macht pro Jahr insgesamt zwischen 15 000 und 25 000 Tonnen. Das ist übrigens mehr, als die gesamte deutsche Binnenfischerei produziert. Drittens. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken frisst der Kormoran pro Jahr rund 340 Tonnen des europäischen Aals, einer Art, die mittlerweile fast vollkommen ausgestorben ist. Viertens ein Beispiel aus Brandenburg, das schon zu Recht angesprochen wurde: Die dort existierenden kleinen Teichwirtschaften in Form von Familienbetrieben - das müsste die Kollegin Behm doch wissen - hatten im letzten Jahr einen Verlust von 1 Million Euro bei einem Gesamtumsatz von 3,6 Millionen Euro. Da kann man doch nicht einfach sagen: „Das ist uns egal“, insbesondere wenn man sich die regionale Wirtschaft auf die Fahnen schreibt. In dieser Frage sind Sie schlicht unglaubwürdig. ({6}) Deswegen - in dem Punkt ist unser Antrag wirklich besser - fordern wir, wie es bereits in Dänemark erfolgreich praktiziert wurde, dass man Naturschützer, Fischer und Angler in diesen Prozess einbezieht. Wir fordern die Bundesregierung auf, nachhaltig dafür zu sorgen, diese Gruppen einzubinden. ({7}) Die Kollegin Tackmann hat hierzu heute eine sehr fachkundige Erklärung zur Abstimmung vorgelegt. Ich will Ihnen eines sagen - auch das ist bereits angesprochen worden -: Der Dank sollte heute in der Tat allen Naturschützern und Artenschützern gelten, aber eben auch den Anglern, ohne deren Besatzmaßnahmen es beispielsweise den europäischen Aal in unseren Gewässern gar nicht mehr geben würde. Insofern gilt ihnen der ausdrückliche Dank des Bundestages. ({8}) Es ist schon bemerkenswert, dass all diese Fakten Sie nicht überzeugen können. Zum Schluss möchte ich aber doch noch eine Anmerkung zu CDU/CSU und FDP machen. Im Gegensatz zu Ihnen entscheidet die Linke grundsätzlich nach Sacherwägungen. ({9}) Wir lesen, was in dem Antrag steht. Sie aber schauen nur darauf, wer den Antrag eingebracht hat. Das heißt, Sie sind ideologisch, und wir sind unideologisch. ({10}) Das ist die Wahrheit, und weil wir das nicht nur postulieren, sondern auch machen, werden wir heute Ihrem Antrag selbstverständlich zustimmen, genauso wie wir hoffen, dass Sie - ebenfalls unideologisch und an der Sache orientiert - unserem Antrag zustimmen werden. ({11}) Dafür möchte ich gerne werben. Das wäre dann in der Tat ein gutes Zeichen für einen ganzheitlichen Artenschutz, der in diesem Bereich dringend erforderlich ist. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzte Rednerin in dieser grundsätzlichen und leidenschaftlichen Debatte ist die Kollegin Undine Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für das Wort. Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Das Ganze klingt ziemlich heiter; dabei ist es eigentlich ein relativ ernstes Thema. ({0}) Ich frage mich, wie oft wir hier noch über dieses Thema reden müssen, ehe Sie endlich einmal bereit sind, die Rechtslage zu akzeptieren ({1}) und sich damit auseinanderzusetzen, dass wir uns über deutsches und europäisches Naturschutzrecht unterhalten. Sie hingegen tragen emotional zum Fischartenschutz vor, meinen aber eigentlich wirtschaftliche Interessen. ({2}) - Doch. ({3}) Natürlich stört der Artenschutz, wenn es eigentlich um wirtschaftliche Interessen geht. Der steht im Wege; den kann man nicht brauchen. Wir sollten uns endlich einmal klarmachen, dass man nicht jeden Konflikt zwischen wirtschaftlichen Interessen und dem Arten- und Naturschutz mit dem Gewehr lösen kann. Das führt zu keinem Ergebnis. ({4}) Um es gleich vorwegzunehmen: Wir werden keinem der beiden Anträge - weder dem der Linken noch dem der Koalition - zustimmen. ({5}) - Gott sei Dank? Sie scheinen ja selber nicht viel von Ihrem Antrag zu halten, wenn Sie sagen, wir sollten ihm nicht zustimmen. ({6}) Weil ich nur relativ wenig Zeit habe, werde ich mich nur auf wenige Punkte konzentrieren. ({7}) - Das glaube ich nicht; Sie sollten besser zuhören. Undine Kurth ({8}) Erstens. Sie tragen immer wieder die allseits beliebte Forderung vor, man müsse den Fischartenschutz mit dem Vogelschutz gleichstellen. ({9}) Ute Vogt ist darauf schon eingegangen. Sie sollten zur Kenntnis nehmen: Es gibt im Artenschutz gar keine Vorrangregelung. ({10}) Das deutsche und das europäische Naturschutzrecht bestimmen nach Daten und Fakten Schutzkategorien. An die haben sich alle verbindlich zu halten. Ihnen geht es aber gar nicht - das behaupte ich - um mehr Fischartenschutz, sondern um die Ertragslage der Fischer. ({11}) Das ist völlig in Ordnung. Darum muss man sich auch kümmern. Man muss dann aber die Instrumente einsetzen, die wirklich eine Verbesserung bringen. ({12}) - Sie kennen das. Sie wissen, dass wir für die Gewässer wesentlich mehr tun müssen. Dort, wo Fischer wirklich unter extremem Druck leiden, können wir mit Ausgleichsmaßnahmen ansetzen oder Sonderregelungen zum Tragen bringen. ({13}) - Zu denen komme ich gleich noch. Ihnen ist berichtet worden, dass es Eingriffsmöglichkeiten gibt. Es liegt nämlich nicht - das ist das einzig Entscheidende - im Belieben irgendeines Mitgliedstaates, festzulegen, an welche Artenschutzregelungen er sich gerade halten will und welche ihm gerade nicht passen. Das Recht ist verbindlich. Wenn Sie der Meinung sind, dass der Kormoran inzwischen eine Allerweltsvogelart ist, ({14}) wobei ich ja eher den Eindruck hatte, es sei der böse Wolf, dann stellen Sie doch bitte den entsprechenden Antrag und bringen empirische Belege, die einem solchen Antrag, nämlich den Kormoran artenschutzrechtlich neu einzugruppieren, als Grundlage dienen können. Das wäre doch eine Variante.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte, Frau Happach-Kasan.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin Christel Happach-Kasan, bitte schön.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage. - Sicherlich haben Sie festgestellt, dass die Grünen in Rheinland-Pfalz inzwischen die Umweltministerin stellen und damit an einer entscheidenden Stelle mitwirken. Sicherlich haben Sie auch festgestellt, dass diese Umweltministerin erst kürzlich darauf hingewiesen hat, dass die Fischbestände an den Nebenflüssen von Rhein und Mosel erstmalig existenziell gefährdet seien. Außerdem hat sie festgestellt, dass die Zahl der Brutplätze für den Kormoran um ein Drittel zugenommen hat. Dies hat sie als bedenklich bewertet. ({0}) Sie hat außerdem die gestiegenen Bruterfolge als alarmierende Hinweise bezeichnet. Ist Ihnen dieses bekannt? Wie beurteilen Sie die Bemerkungen von Frau Ministerin Höfken? ({1}) - Sie war bei uns im Ausschuss!

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Frau Ministerin wird sicherlich im nächsten Schritt überlegen, welche der möglichen Ausnahmeregelungen, die das Naturschutz- und Artenschutzrecht vorsehen, zur Anwendung kommen sollen, wenn sich jetzt ein kausaler Zusammenhang offenbaren würde. Ganz einfache Antwort! Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Das, was Sie von der Koalition und von der Linken in Ihren Anträgen vortragen, ist zum Teil wirklich abenteuerlich und fordert zum Rechtsbruch auf. ({0}) Machen Sie sich bitte bewusst: Der Kormoran ist nach Art. 2, 5, 6 und 4 Abs. 2 der europäischen Vogelschutzrichtlinie geschützt. ({1}) Daraus ergeben sich erhebliche Zugriffsverbote und ein prinzipielles und generelles Jagdverbot.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir können das heute Abend gerne so weiterführen. Von wem diesmal, bitte?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vom Kollegen Jan Korte.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0}) - Na ja, diese Allianz gibt’s doch gerade!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Kurth, Sie haben gerade die EU-Vogelschutzrichtlinie angesprochen. Lassen Sie mich kurz daraus zitieren. Dort heißt es in Art. 2: Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird. Wie konstruieren Sie damit bitte einen Gegensatz zwischen den vorliegenden Anträgen und der geltenden EU-Vogelschutzrichtlinie? Das verstehe ich nicht. ({0})

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt hat der Angler gesprochen. - Ich wollte des Weiteren sagen: Alle Maßnahmen, die zu einer Eingrenzung oder Beeinflussung der Population führen sollten, sind nach § 38 Bundesnaturschutzgesetz als Eingriff zu bewerten. - Darauf haben Sie gerade auch abgehoben. Ein Eingriff, wenn es darum geht, Veränderungen vorzunehmen, kann einer Verträglichkeitsprüfung unterzogen werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch die geplante Maßnahme eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensräume des Kormorans zu erwarten ist oder der günstige Erhaltungszustand der Bestände gefährdet wird. ({0}) - Herr Döring, mit dieser Haltung werden Sie im Naturschutz und im Artenschutz natürlich besonders weit kommen. Sie stellen sehr deutlich klar, in welche Richtung Ihr Denken geht, in welche Richtung Ihr Verhältnis zum Natur- und Artenschutz geht. ({1}) Wenn Sie meinen, ein scharfer Schuss zur rechten Zeit sei das Richtige, dann ist damit auch geklärt, was das bedeutet, was in Ihrem Antrag steht. ({2}) Ich darf Sie darauf hinweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im März dieses Jahres eine solche Vergrämungsaktion, wie sie in der Gegend von Radolfzell durchgeführt worden ist, für unrechtmäßig erklärt hat. Es wird zukünftig nicht mehr zu solchen Aktionen kommen. Es wäre gut, wenn Sie endlich einmal die Rechtslage und die Rechtsprechung zur Kenntnis nähmen. ({3}) Wie gesagt: Es ist kein Geheimnis, dass der Kormoran gerne und gut Fisch isst. Das weiß jeder; das haben wir, Frau Happach-Kasan, übrigens noch nie geleugnet. Wir verkennen auch nicht das Problem, das es mit Populationen gibt, wenn sich große Kolonien bilden. Aber dort müssen spezifische Lösungen gefunden werden; man kann sie auch finden, denn das Artenschutzrecht gibt bereits jetzt Ausnahmemöglichkeiten her, aber eben keine generellen, sondern nur im in der Sache geprüften Einzelfall. Es ist doch geradezu aberwitzig, wenn wir uns hier hinstellen und sagen: Wir haben zwar europäisches Naturschutz- und Artenschutzrecht, aber wir müssen uns gerade einmal nicht daran halten. Wieso glauben Sie eigentlich, dass dieser Rechtsbereich der individuellen Entscheidung unterliegt, während man sich an andere Rechtsvorschriften zu halten hat? Das ist doch nicht beliebig. ({4}) Wir haben geltendes Recht, und das ist verbindlich für alle. ({5}) - Doch, er widerspricht geltendem Recht, denn Managementpläne sind gar nicht möglich.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir machen dann Schluss. ({0})

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist wahrscheinlich auch besser, denn wir müssen noch oft üben, ehe Sie offensichtlich bereit sind, zu begreifen, was Naturschutzrecht bedeutet. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Undine Kurth. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten - Kormoranmanagement einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5955, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5378 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der größte Teil der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Linksfraktion und einige Stimmen aus der sozialdemokratischen Fraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Fischartenschutz voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für ein Kormoranmanagement“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7673, den Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 17/7352 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Linksfraktion und einige Stimmen aus der sozialdemokratischen Fraktion. ({0}) - Ich korrigiere mich: zwei Stimmen. - Gegenprobe! - Das sind der größte Teil der Fraktion der Sozialdemokra- ten sowie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthal- tungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. Ich darf noch darauf hinweisen, dass Frau Kollegin Dr. Kirsten Tackmann eine Erklärung zur Abstimmung abgegeben hat.1) ({1}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ ({2}) - Drucksache 17/7238 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. ({4}) 1) Anlage 2 - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit der ersten Rednerin zum neuen Thema schenken würden, wäre das schön; denn es ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort. ({5})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für das Wort. - Nach dieser sicherlich sehr wichtigen Debatte um das Kormoranmanagement wenden wir uns nun einem vielleicht auch nicht ganz unwichtigen, einem sicherlich wichtigen gesellschaftlichen Thema zu, nämlich der Gewalt gegen Frauen, und der Frage, was wir dagegen tun können. Das Hilfetelefon, um das es heute geht, ist ein zentrales Vorhaben der Gleichstellungspolitik in dieser Legislaturperiode. Ich bin sehr froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf, den die Frauenministerin vorgelegt hat, nun einen entscheidenden Schritt weitergehen, auch wenn wir noch nicht ganz auf der Ziellinie sind. Noch einiges ist in der Umsetzung und Planung zu machen. Mit dem Hilfetelefon erfüllen wir eine internationale Verpflichtung. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt hat Deutschland im Frühjahr als eines der ersten Länder unterschrieben. Wir nehmen einen wesentlichen Punkt heraus und setzen die Konvention um. Zugleich erfüllen wir hiermit ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen, mit der Einrichtung der bundesweiten Notrufnummer ein Hilfesystem im Bereich Gewalt gegen Frauen zu etablieren. Außerdem erstellen wir einen Bericht zur Lage der Frauenhäuser, an dem das Frauenministerium ebenfalls arbeitet. ({0}) - Soviel ich weiß, wird er bald vorgelegt. Es wäre nicht schlecht gewesen, ihn vorher zu haben, aber er wird nachgeliefert. - Das Wichtigste ist aber nicht, dass wir irgendwelche Versprechen erfüllen und abstrakte Regelungen beschließen, sondern dass wir ein konkretes Hilfeprojekt etablieren, das Frauen in besonders gewaltbehafteten Lebenssituationen konkret hilft. Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in Deutschland wird zumeist unterschätzt. Wenn es nicht die Studie des Frauenministeriums gäbe, würde man nicht für möglich halten, dass bereits 40 Prozent aller Frauen einmal in ihrem Leben mit Gewalt konfrontiert gewesen sind, und zwar in unterschiedlichen Formen: angefangen bei der häuslichen Gewalt bis hin zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Stalking, Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung sind weitere Arten der Gewalt. 25 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben in einer früheren oder in ihrer aktuellen Partnerschaft Ge16602 walt erfahren. Es ist also ein wirklich wichtiges Thema, um das wir uns heute kümmern. ({1}) Diesem Problem steht eine breite Hilfestruktur gegenüber. Es gibt 360 Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen, an die 500 Beratungsstellen und Notrufe sowie besondere Beratungsstellen für besondere Problemlagen, für Opfer von häuslicher Gewalt oder Opfer von Frauenhandel. Viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, aber auch viele Profis arbeiten in diesem Bereich. Sie engagieren sich besonders und tun nicht nur das, was sie vom Arbeitsvertrag her zu leisten hätten, also zum Beispiel 38,5 Stunden arbeiten, sondern sie setzen sich in der Regel auch darüber hinaus ein. Ich finde es in diesem Zusammenhang wichtig, den Mitarbeiterinnen in den Beratungsstellen und Frauenhäusern unseren Dank auszusprechen. ({2}) Die schon angesprochene Studie zeigt - und das ist erschreckend -, dass in einer konkreten Notsituation nur 20 Prozent der Frauen das Hilfeangebot überhaupt wahrnehmen können. 80 Prozent, also die weitaus größte Zahl der betroffenen Frauen, findet das nötige Angebot in einer solchen Situation nicht. Das ist auch kein Wunder; denn Frauenhäuser sind in der Öffentlichkeit bewusst nicht präsent. Wenn man sich in einer Gewaltsituation befindet, hat man nicht die Zeit, das Telefonbuch zu wälzen oder sich zu erkundigen. Es geht deswegen darum, die Nummer zu kennen und zu wissen, an wen man sich wenden kann. Ziel des neuen Angebots ist es, Bedarf und Angebot auf einfache Weise besser zusammenzubringen, damit ein Weg offensteht, wenn es nötig ist. Daraus ergeben sich bestimmte Merkmale und Anforderungen, die wir an diese Helpline stellen. Es geht um eine Lotsenfunktion. Es geht nicht darum, in Konkurrenz zu treten oder selbst ein Angebot zu unterbreiten, sondern es geht darum, zu vermitteln. Wir setzen dazu qualifizierte Kräfte ein, die aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage sind, mit den Frauen in der konkreten Situation zu kommunizieren, auf sie einzugehen und ihnen zu erklären, was für sie in der jeweiligen Situation am besten ist. Wir müssen für ein mehrsprachiges Angebot sorgen, um Frauen unterschiedlicher Herkunft beraten zu können. Es muss anonym, vertraulich, kostenlos und - ganz wichtig - 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche zur Verfügung stehen, also rund um die Uhr. Wir lassen uns das einiges kosten. Die Prognose, auch aufgrund der Erfahrung anderer Länder, ist: Wir brauchen dafür ungefähr 80 bis 90 Kräfte. Wenn das Ganze läuft, wird das jedes Jahr etwa 6 Millionen Euro kosten. Das Angebot steht allen betroffenen Frauen zur Verfügung, aber auch dem Umfeld, zum Beispiel der Nachbarin, die Geräusche hört, der Freundin, die blaue Flecken sieht, oder dem Mitarbeiter im Jugendzentrum, der Anhaltspunkte dafür hat, dass ein junges Mädchen in den Ferien im Heimatland seiner Eltern zwangsverheiratet wird. Auch diesen Menschen hilft die Helpline, auch sie sollen sich an die Helpline wenden. Mit diesem Gesetz wird der Appell verbunden, das Hilfetelefon zu nutzen, nicht wegzuschauen, sondern zu helfen. Ganz wichtig ist aber auch, dass das Angebot ausreicht, dass ein gesichertes Angebot vorhanden ist. Wir müssen damit rechnen, dass der Bedarf steigt, sobald Bedarf und Angebot besser zusammengebracht werden. Das müssen wir im Auge behalten. Vielleicht kann das Hilfetelefon dazu beitragen, den Bedarf transparenter zu machen. Wenn die Beraterinnen keine Angebote mehr aufzuweisen haben, an die sie die Frauen vermitteln können, dann wird die politische Diskussion darüber, ob das Angebot ausgeweitet werden muss oder ob es ausreicht, auf Basis dieser Fakten geführt werden können. ({3}) Die Helpline ist ein wichtiges Signal. Sie wird helfen, in den Fällen den Weg aus der Gewalt zu finden, in denen er bisher nicht gesehen wird. Es ist Zeit, dass wir das schaffen. Die Ministerin hat dabei unsere volle Unterstützung. Herzlichen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin Rupprecht. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines Hilfetelefons vorliegen. Dieser Gesetzentwurf ist notwendig, wichtig und richtig. ({0}) Wir setzen damit internationale Vorgaben um. Wir haben uns verpflichtet, diese Vorgaben umzusetzen. Europa fordert uns auf - die Kollegin Winkelmeier-Becker hat das schon gesagt -, ein Hilfetelefon einzurichten und dafür zu sorgen, dass die Nummer europaweit bekannt wird. Mit den Telefonnummern 110 und 112 verbinden wir etwas. Bei dieser neuen Telefonnummer sollte das ebenfalls so sein. Wir in Europa sollten klar sagen: Wir schützen Frauen vor Gewalt, vor allem vor häuslicher Gewalt. Gewalt im familiären Umfeld akzeptieren die Gesellschaften Europas nicht. Der Europarat - ich bin Mitglied der Parlamentarischen Versammlung - hat in langen, manchmal schwierigen Verhandlungen ein Übereinkommen dazu erarbeitet, das in Istanbul gezeichnet wurde, auch von Deutschland. Ich hoffe, es gelingt uns möglichst bald, es zu ratifizieren. Das Übereinkommen enthält viele MaßMarlene Rupprecht ({1}) nahmen, die wir umzusetzen haben. An manchen Stellen brauchen wir gar nichts zu machen, weil wir schon seit vielen Jahren Aktionspläne haben und bereits Gesetze verabschiedet haben. Das heißt: Wir haben schon sehr viel. An dieser Stelle möchte ich, was man als Oppositionspolitikerin selten oder eigentlich gar nicht tut, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die in diesem Bereich im Ministerium seit vielen Jahren gut und ordentlich arbeiten. Sie sind auch im Ausland als Sachverständige für diesen Bereich anerkannt. ({2}) Im Vorfeld dieses Gesetzentwurfs bin ich etliche Male angesprochen worden mit dem Tenor: Nehmt doch das Geld und gebt es den regionalen Netzwerken! Gebt es denen, die schon etwas tun! Dazu sage ich: Wenn man sich das nur kurz anschaut, kann man auf die Idee kommen, dass das eine Möglichkeit wäre. Dieses Hilfetelefon ist aber keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung des bereits bestehenden Hilfeangebots. Das halte ich für richtig. Was uns fehlt, ist natürlich nach wie vor eine strukturierte Finanzierung all der Angebote vor Ort. Wir sollten nicht auf Spenden angewiesen sein und nicht jedes Jahr betteln müssen. Angesichts der Haushaltslage der Kommunen werden die Mittel für die Frauenhäuser und die Notrufe gekürzt. Das Leistungs- und Hilfeangebot wird reduziert. Einen Ausgleich dafür kann dieses Hilfetelefon nicht darstellen. Deshalb appelliere ich hier noch einmal an die Regierung, an den Staatssekretär, der die Regierung hier vertritt: Wir müssen möglichst schnell gemeinsam eine Länderfinanzierung hinbekommen. Hierbei muss der Bund den Hut aufhaben. Heute Mittag habe ich mir als Nichtjuristin extra noch einmal einen Kommentar zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz - öffentliche Fürsorge - angesehen. Da heißt es: Hilfsmaßnahmen sind anzubieten, nicht nur bei wirtschaftlichen Notlagen, sondern auch bei Notlagen in neuen Lebenssachverhalten. Ich denke, da müssen wir in die Gänge kommen, egal wo, ob auf Bundesebene, auf Landesebene oder sonst wo. Nach weit über 30 Jahren Frauenhäusern kann es nicht sein, dass diese als freiwillige Leistung angesehen werden. Ich finde, das ist einfach unerträglich. ({3}) Deshalb brauchen wir die Finanzierung dieser örtlichen Netzwerke und Angebote. Ich habe 20 Jahre lang ein Frauenhaus geleitet. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe manchmal nicht gewusst, wie wir es das nächste Jahr finanzieren, obwohl ich da sehr fantasievoll bin. Diese Gelder zu besorgen, mit wem man sich auseinandersetzen muss, damit man Geld bekommt, das kann man schon fast mit Prostitution vergleichen; so habe ich das manchmal empfunden. Für mich selbst als Person würde ich dies nie tun, aber für das Frauenhaus bin ich zu verschiedenen Firmen gegangen und habe um Geld gebeten. Ich habe das Geld immer zusammenbekommen. Aber so kann es doch nicht laufen. Es gehört zum Regelangebot der sozialen Daseinsvorsorge der Kommunen, der Länder und des Bundes. Diese gemeinsame Verantwortung müssen wir wahrnehmen. Wir können nicht immer fragen, was grundgesetzlich ist. Ich finde, unser Grundgesetz besagt eindeutig, dass wir das vorhalten müssen, dass wir unsere Verantwortung für die öffentliche Fürsorge wahrnehmen und Hilfsmaßnahmen anbieten müssen. Deshalb lautet mein dringender Appell: Kommen Sie damit in die Gänge! Es täte mir leid, wenn dies noch einmal um eine Legislaturperiode verzögert würde. ({4}) Ich habe eine weitere Bitte, diesmal an dieses Parlament. Der Europarat hat eine Kampagne zum Schutz der Frauen vor häuslicher Gewalt gestartet. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats bin ich Koordinatorin bei dieser Kampagne. Es wäre schön, wenn dieses Parlament sagte: Ja, wir machen mit, und wir sind auch bereit, hier eine Veranstaltung durchzuführen für den Europarat, für die Länder, die erst jetzt begreifen, dass es notwendig ist, so etwas in ihrem Land vorzuhalten. Wir haben etwas vorzuweisen. Wir haben uns schon vor langem auf den Weg gemacht. Vielleicht gelingt es uns, nächstes Jahr hier in Berlin so eine gemeinsame Veranstaltung durchzuführen. Ich kann Ihnen eines sagen: Es ist den Parlamentariern aus anderen Staaten ziemlich egal, wer einen Gesetzentwurf geschrieben oder einen Aktionsplan aufgelegt hat. Sie wollen sehen, was dieses Land auf den Weg gebracht hat. Ich bin stolz, dass wir etwas geschafft haben, auch wenn es mühsam war. Der gravierendste Kritikpunkt, den der Europarat uns gegenüber geäußert hat, war, dass unsere Frauenhausplätze nicht sicher und nicht in genügender Zahl vorhanden sind. Dies müsste sich beheben lassen. In allen anderen Punkten wurden wir gelobt. Deshalb freue ich mich, dass auch das Hilfetelefon nun eingeführt wird. Es ist schön, dass dessen Nutzung ausgewertet werden soll und dass eine Datenbank erstellt werden soll. Ich hoffe, dass alle kooperieren. In diesem Sinne sage ich Dankeschön und wünsche Ihnen einen schönen Abend. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Marlene Rupprecht. Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Sibylle Laurischk. Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vereinten Nationen haben im CEDAW-Übereinkommen die Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der Frau verlangt. Dem widmen wir uns. Das sehen wir als eine Aufgabe, die wir auch auf europäischer Ebene formuliert haben. So hat beispielsweise der Rat der Europäischen Union in seinen Schlussfolgerungen „Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in der Europäischen Union“ vom 8. März 2010 die Einrichtung einer kostenlosen und einheitlichen Telefonnummer für von Gewalt betroffene Frauen gefordert. Es ist also durchaus eine internationale Aufgabenstellung. Insofern war es für uns nur folgerichtig, diese Aufgabenstellung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Da es im Koalitionsvertrag steht, wird es vor allem von den Frauen in der Koalitionsfraktionen gefordert. Ich erinnere mich gut an die Beratung, in der wir das vereinbart haben; Herr Kues, auch Sie erinnern sich sicherlich daran, auch wenn Sie gerade nicht zuhören. Wir haben gesagt: Wir wollen ein Hilfetelefon. - Ich bin froh, dass es tatsächlich auf den Weg gebracht wird und dass uns heute der Gesetzentwurf vorliegt; denn das ist ein wichtiges Signal. Wir wollen etwas gegen die häusliche bzw. familiäre Gewalt, besonders gegen die Gewalt, die Frauen immer wieder erleben, unternehmen. Dabei geht es um eine Situation, die wir uns, glaube ich, kaum vorstellen können. Frauen, die geschlagen, misshandelt oder vergewaltigt werden, die sich in großer Not nicht zu helfen wissen und sich voller Scham kaum jemandem öffnen, sollten ein Gesprächsangebot bekommen: einfach, niederschwellig, anonym, aber mit der klaren Aussage, wo sie Hilfe finden können, wenn sie sie in Anspruch nehmen wollen. Das brauchen wir. Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich im Rahmen einer Frauenhausinitiative den Wochenenddienst übernommen habe. Gerade am Wochenende, wenn die Familie beisammen ist, ist die familiäre Gewalt besonders heftig. Die Kinder erleben sie mit, die Frauen wissen sich nicht zu helfen. Wenn sie dann eine Ansprachemöglichkeit haben, ist das ein erster Schritt, der aus der Gewaltspirale hinausführt. Wir brauchen ein vielsprachiges Angebot; denn Migrantinnen, die isoliert sind und oftmals zu geringe Sprachkenntnisse haben, wissen sich sonst nicht zu helfen. Es ist sehr wichtig, dass sie in ihrer Muttersprache nach Hilfe fragen können. Das ist ein notwendiges Angebot, gerade vor dem Hintergrund, dass wir die Zwangsverheiratung unter Strafe gestellt haben. Wir müssen die flankierenden Maßnahmen ernsthaft anbieten. Dies ist ein erster Schritt. Dass wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben können, ist völlig klar. Wie Sie wissen, setze ich mich sehr dafür ein, dass die Finanzierung von Frauenhäusern stabilisiert und bundesweit einheitlich geregelt wird. Da sind wir noch nicht so weit wie beim Hilfetelefon. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Die flankierenden Maßnahmen sind dabei notwendig. Ich bin froh, dass wir uns hier verständigen und einen breiten Konsens finden konnten. Vielen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Laurischk. - Jetzt für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Cornelia Möhring. Bitte schön, Frau Kollegin Möhring. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die Fraktion Die Linke begrüßt die Einrichtung eines zentralen Hilfetelefons. Eine einheitliche Nummer - darüber sind wir uns alle im Klaren -, die kostenfrei zur Verfügung gestellt wird und unter der 24 Stunden am Tag jemand erreichbar ist, übernimmt eine sehr wichtige Lotsenfunktion. Nach Aussage der Bundesregierung können bisher immerhin 80 Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen nicht in unser bestehendes Hilfesystem vermittelt werden. Ich finde, das ist eine unglaublich hohe Zahl von Frauen, die, obwohl sie dringend Hilfe brauchen, keine Hilfe erhalten. Ich möchte daran erinnern - Frau Laurischk und die anderen Vorrednerinnen haben das eindrücklich geschildert -: Von Gewalt betroffen sind Frauen aller gesellschaftlichen Schichten: die Professorin genauso wie die Verkäuferin im Supermarkt, die Hamburgerin genauso wie die Migrantin. Das geht quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Berufe. Wir haben die Zahl schon gehört: 40 Prozent der Frauen und Mädchen machen im Laufe ihres Lebens Gewalterfahrungen. Das ist eine gigantische Größenordnung und macht den Handlungsbedarf im Hinblick auf einen umfangreichen Schutz der von Gewalt betroffenen Mädchen und Frauen deutlich. Die Bundesregierung rechnet im Zusammenhang mit der Einführung des bundesweiten Hilfetelefons mit 700 Anrufen täglich. Das sind - ich habe es ausgerechnet; ich könnte das jetzt nicht so schnell im Kopf - 255 500 Anrufe jährlich. Wir sollten uns immer wieder deutlich machen, was für ein wichtiger Schritt es ist, wenn eine Betroffene tatsächlich zum Telefon greift und sagt: Ich brauche Hilfe. - Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Sie muss dann auch schnell Hilfe vor Ort bekommen. Der bundesweite Notruf kann dafür natürlich nur der erste Anstoß sein. Das Ausmaß der erwarteten Anrufe macht schon deutlich, dass die personelle und finanzielle Ausstattung der bestehenden Schutzeinrichtungen und die Zahl der Plätze bei weitem noch nicht ausreichen. In SchleswigHolstein werden zurzeit aufgrund von Kürzungen und Kahlschlägen Frauenhäuser und Beratungseinrichtungen plattgemacht. Ich möchte auch hier deutlich sagen: Ich finde es zwar gut, dass die Bundesregierung die Vorgabe, die wir von der EU bekommen haben, jetzt umsetzt, aber in Schleswig-Holstein und in anderen Bundesländern müssen Frauenhäuser und Beratungsstellen schließen. Das Frauenhaus in Wedel zum Beispiel, obwohl immer voll ausgelastet, steht vor dem Aus. Auch der Mädchentreff in Husum, an den sich betroffene Mädchen wenden konnten und wo sie bisher immer Hilfe beCornelia Möhring kommen haben, steht vor dem Aus und kann sich nur noch über Spenden aufrechterhalten. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus. Ich finde, das darf nicht sein. ({0}) Noch einmal zurück zum Hilfetelefon. Ich möchte noch ein wichtiges Anliegen der örtlichen Beratungsstellen und Nottelefone anbringen, das bei der Umsetzung des Gesetzes unbedingt beachtet werden muss. Sie planen zwar einen jährlichen Sachstandsbericht, aber die erste umfassende Evaluation soll erst nach fünf Jahren erfolgen. Ich finde, das ist viel zu spät. ({1}) Bei Fragen an das Ministerium - nicht wahr, Herr Dr. Kues - hören wir immer wieder: Das haben wir noch nicht geprüft, da haben wir noch keine Ergebnisse, dazu können wir noch nichts sagen. - Ich finde, wir sollten in dieser Sache weder Herrn Dr. Kues noch uns solche Bandschleifen weiter zumuten. Die Evaluation muss von Anfang an erfolgen. Der noch nicht erstellte Bericht zur Lage der Frauenund Kinderschutzhäuser ist schon genannt worden. Ich finde, zwei Jahre nachdem die Vorlage dieses Berichts im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, wird es tatsächlich einmal Zeit dafür. ({2}) Eine Evaluierung erst nach fünf Jahren ist aber auch fachlich völlig unlogisch. Projekte dieser Art, die ja völlig sinnig und richtig sind, müssen im Verlauf, im ständigen Prozess evaluiert werden, und zwar gemeinsam mit den Akteurinnen vor Ort. Damit wird, wie Sie gesagt haben, Frau Winkelmeier-Becker, Transparenz hinsichtlich der Frage hergestellt, wo weiterer Bedarf besteht. Denn durch die vorliegenden Zahlen wird deutlich: Es wird weiteren Bedarf geben. Ich fordere Sie also ausdrücklich auf: Machen Sie aus dieser guten Idee eines zentralen Hilfetelefons auch tatsächlich eine richtig gute Sache. Sorgen Sie dafür, dass es für die vielen Schutzbedürftigen dann auch wirklich Schutz und Unterstützung geben wird. Wir sind dabei an Ihrer Seite. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Möhring. - Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Monika Lazar. Bitte schön, Frau Kollegin.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gewalt ist für viele Frauen immer noch eine bittere Realität, und zwar, wie einige Vorrednerinnen schon gesagt haben, quer durch die gesamte Gesellschaft. Konfliktsituationen wie Trennung und Scheidung erhöhen die Gefahr für Frauen, Opfer von Stalking, von körperlicher oder sexueller Gewalt zu werden. Frauen mit Behinderung sind übrigens besonders gefährdet, besonders dann, wenn sie durch Pflege oder Assistenz in Abhängigkeitsstrukturen leben. Gewalt ist ein patriarchalisch geprägtes Phänomen, für das wir als Sozialstaat eine Lösung anbieten müssen. Mit dem Hilfetelefongesetz setzt Deutschland die internationalen und europäischen Verpflichtungen zum Schutz von von Gewalt betroffenen Frauen um. Wir begrüßen es, dass die Regierung jetzt so weit ist und das Hilfetelefongesetz auf den Weg bringt. ({0}) Allerdings bleiben noch immer Fragen offen. Im Gesetzentwurf steht - Zitat -: Die Einrichtung und der Betrieb des Hilfetelefons verursachen Ausgaben zu Lasten des Bundeshaushalts. … Für die Länder und Kommunen entstehen unmittelbar keine Kosten. Ich finde es richtig, dass der Bund hier in Vorleistung geht, allerdings muss natürlich auch geschaut werden, welche Folgeleistungen hier von den Kommunen und den Ländern zu übernehmen sind. Die Koalition will dieses Angebot schaffen, da die Untersuchungen gezeigt haben, dass circa 80 Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen noch nicht erreicht werden. Ein Grund dafür ist unter anderem die unzureichende Ausstattung des bestehenden Hilfesystems. Daran wird auch das Hilfetelefon erst einmal nichts ändern. Was machen nämlich diese 80 Prozent der Frauen, die sich dann nicht nur an das Hilfetelefon wenden, sondern auch an die örtlichen Hilfsstellen überwiesen werden sollen, wenn diese gar nicht existieren bzw. nicht ausgebaut werden? Deshalb ist es wichtig, dass lokale Strukturen erhalten bleiben und nicht Kürzungszwängen zum Opfer fallen. ({1}) Deswegen sind insbesondere auch die Länder und Kommunen angehalten, ebenfalls Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Neben der Finanzierung ist auch das Problem der Frauenhäuser schon angesprochen worden. Ich hoffe, dass wir Anfang nächsten Jahres den Bericht dazu endlich diskutieren können und dass wir noch in dieser Wahlperiode zügig eine gemeinsame Lösung finden; denn in den Beratungen sowohl im Plenum als auch im Ausschuss gab es einen ziemlich großen Konsens. Wir alle würden uns freuen, wenn wir mit guten Schritten vorankämen; denn wir als Bund müssen die Linie vorgeben und selbstverständlich auch die Kommunen und Länder mit ins Boot holen. Aber für uns - das hat auch Kollegin Rupprecht gesagt - ist das einfach eine grundgesetzliche Verpflichtung. ({2}) Das Hilfetelefon soll eine Erstberatung anbieten. Dann soll an die örtlichen Strukturen vermittelt werden. Diese Lotsenfunktion setzt allerdings eine Datenbank voraus, die es bis jetzt noch nicht gibt. Bei deren Erstellung müssen Qualitätsstandards eingehalten werden. Es ist insbesondere wichtig, dass die vorhandene Expertise von den Frauen und den Beratungsstellen in den Ländern genutzt wird. Deshalb unser Aufruf: Richten Sie jetzt einen Beirat ein, mit dem Sie gemeinsam dieses Problem beheben. Laut Gesetzentwurf ist für das Hilfetelefon ein Arbeitskräftebedarf von 80 bis 90 Personen vorgesehen. Qualifizierte weibliche Fachkräfte werden gesucht. Wichtig ist allerdings auch, dass diese Fachkräfte weiterhin geschult werden. Bei einem Anfall von täglich circa 700 Anrufen ist es wichtig, dass auch Supervision angeboten wird; die Mittel dafür müssen spätestens in den Haushaltsplan 2013 eingestellt werden. Ansonsten sind die Fachkräfte sehr schnell ausgebrannt und fallen entsprechend aus. Die mit dem Hilfetelefon angesprochene Zielgruppe ist sehr weitreichend, da die Erscheinungsformen von Gewalt sehr breit gefächert sind. Es geht um sexualisierte und häusliche Gewalt, Stalking, Genitalverstümmelung und um Gewalt im Rahmen von Prostitution und Zwangsverheiratung. Zum letzten Thema wurde gerade erst eine Studie erstellt, aus der hervorgeht, wie schwierig dieser Bereich ist. Die Einrichtung eines Hilfetelefons ist wichtig, aber bitte in Zusammenarbeit mit den Fachfrauen. Es muss für dieses Telefon, wenn es dann so weit ist, mit einer Kampagne geworben werden, damit die Frauen wissen, dass es dieses niedrigschwellige Angebot gibt und wohin sie sich wenden müssen. Insgesamt: Wir sollten uns in den nächsten Monaten alle gemeinsam zusammensetzen und insbesondere für die betroffenen Frauen eine Lösung finden; denn wir machen diese Sache nicht für uns, sondern für die Frauen, die uns dankbar sind, wenn sie nicht nur das Hilfetelefon in Anspruch nehmen können, sondern auch die örtlichen Strukturen. Danke. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir haben zu danken. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege Norbert Geis. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Widerstand gegen Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deswegen ist es vielleicht nicht verkehrt, dass hier auch einmal ein Mann das Wort ergreift. ({0}) Ich freue mich, dass ich zu einem Thema reden darf, das auf Konsens trifft, und dass es nicht immer zu einer streitigen Auseinandersetzung kommen muss. Wenn man der Statistik glauben kann, dann leben wir in einem ganz sicheren Land, jedenfalls in einem relativ sicheren Land mit Blick auf andere Länder. Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Es ist richtig, dass beispielsweise die Jugendgewalt in unserem Land zurückgeht. Aber wir erleben seit 10 bis 15 Jahren, dass die Gewalttäter brutaler werden. Die Gewalttaten nehmen an Brutalität zu. Das ist eine gefährliche Tendenz. Gegen diese Tendenz muss es einen gesellschaftlichen Widerstand geben. Deswegen ist auch diese Diskussion von großer Bedeutung. Natürlich ist dieser gesellschaftliche Konsens insbesondere bei Gewalt gegen Frauen angebracht. Wir haben es vorhin schon gehört: 40 Prozent - man soll es nicht glauben - der in Deutschland lebenden Frauen sind bereits Opfer einer körperlichen oder sexuellen Gewalt geworden. Das ist eine unvorstellbar hohe Zahl. Sie ist auch im europäischen Vergleich außerordentlich hoch. Das können wir so nicht mehr länger hinnehmen. Es gibt natürlich Gruppen von Frauen, die der Gewalt besonders ausgesetzt sind. Der Weiße Ring hat festgestellt, dass es sich dabei um Migrantinnen handelt - das ist hier schon zur Sprache gekommen -, um Frauen, die in Asylbewerberwohnheimen leben, und um Prostituierte. Auch gibt es in Deutschland Gewalt gegen Frauen, die voll und ganz in die Gesellschaft integriert sind. Das ist meistens Gewalt in der Privatheit der Wohnung. Es ist Gewalt, die in der Regel vom Partner ausgeht und im Grunde genommen aus einer intimen Beziehung heraus entstanden ist. Sie trifft die Frauen in einer ganz besonderen Weise. Diese Frauen wenden sich aber nicht an die zuständigen Stellen. Sie suchen keine Hilfe, obgleich zwei Drittel dieser Vorfälle, vor allen Dingen häusliche Gewalt, so viele und so schwere Verletzungen verursachen, dass manchmal sogar lebensbedrohliche Verletzungen festgestellt werden. Das ist ein gefährlicher Umstand. Davor kann man nicht die Augen verschließen. Deswegen müssen wir einen Weg finden, wie wir diesen Frauen klarmachen, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Aber da es sich um einen sehr intimen Bereich, nämlich die eigene Wohnung, handelt und die Gewalt von Personen ausgeübt wird, mit denen man zunächst einmal in einer intimen Beziehung gelebt hat, haben diese Frauen oft Scham. Sie wagen sich nicht an die Öffentlichkeit oder wollen nicht, dass ihr Fall irgendwo bekannt wird. Deswegen sind sie auch nicht bereit, eine entsprechende Stelle aufzusuchen. Oft sind auch keine Nachbarn da, die das mitbekommen würden. Die eigenen Kinder bekommen es vielleicht nicht mit. So leben diese Frauen in einem Teufelskreis aus Privatheit, Abhängigkeit und Gewalt, aus dem sie nicht mehr allein herausfinden. Da ist Hilfe von außen notwendig, zumindest die Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Ich meine, das bundesweite Hilfetelefon ist eine gute und vernünftige Einrichtung. Es wurde schon angesprochen, dass es in den europäischen Ländern längst verbreitet ist und dass wir noch ein wenig nachhinken. Es ist höchste Zeit, dass eine solche Einrichtung bei uns geschaffen wird. ({1}) Dieses Hilfetelefon muss natürlich, wie schon gesagt wurde, barrierefrei sein. Es muss schnell erreichbar sein. Wenn eine Frau anruft und wieder auflegt, weil niemand am Ende der Leitung ist, dann hat sie nicht den Mut, gleich wieder anzurufen. Sie hat schon gar nicht den Mut, am nächsten Morgen anzurufen. Deshalb muss am anderen Ende der Leitung eine wache, gut ausgebildete, kompetente Person sein. Es muss in der Regel eine Frau sein, weil sich Frauen in einer solchen Situation nicht gerne Männern anvertrauen. Es muss darauf geachtet werden, dass wir kompetente Personen einsetzen, die auch andere Sprachen sprechen. Auch eine türkische Frau muss beim Hilfetelefon anrufen können und eine Antwort auf Türkisch bekommen, wenn sie die deutsche Sprache nicht versteht. Die technische Ausstattung muss hervorragend sein, und am Telefon müssen hervorragend ausgebildete Personen sein. Das muss man mit berücksichtigen. ({2}) Ich will einen weiteren Gedanken ansprechen, der noch nicht richtig zur Geltung gekommen ist. Nicht nur die Betroffenen, sondern auch andere Personen können dieses Hilfetelefon in Anspruch nehmen. Das können Kinder oder Nachbarn sein. Jeder, der entdeckt, dass gegen eine Frau Gewalt ausgeübt wird, soll und kann dieses Telefon in Anspruch nehmen. Dafür muss natürlich die Nummer bekannt sein. Es muss also eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit geben, damit die bundesweite Telefonnummer weithin bekannt wird und genutzt werden kann. Ich meine, dass der Gesetzentwurf eine sehr gute Initiative der Bundesregierung bzw. der Bundesministerin ist. Ich kann sie nur unterstützen. Ich möchte zum Schluss noch einen Gedanken ansprechen. Es ist richtig, dass wir solche Möglichkeiten haben. Aber wir müssen in einem stärkeren Maße in unserer Gesellschaft eine Ächtung jeglicher Gewalt herbeiführen. ({3}) Der Gewalttäter muss merken, dass er auf geschlossenen Widerstand stößt. Dieser Widerstand muss auch einmal, wenn es notwendig ist, handfest werden. Darauf muss sich der Gewalttäter ebenfalls einrichten. Ich will nun nicht die Gewalt auf der anderen Seite predigen - das will ich tatsächlich nicht -; aber der Gewalttäter muss wissen: Ich stoße auf Widerstand. Das muss gesellschaftsweit in das Bewusstsein der Bevölkerung eingepflanzt werden. Ich meine, dass wir vielleicht tatsächlich zu einer größeren Freiheit von Gewalt innerhalb der gesamten Gesellschaft kommen. Danke schön. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Auch der Präsident hätte geklatscht, wenn ihm dies möglich gewesen wäre. Nächste Rednerin in unserer Debatte ist die Frau Kollegin Nicole Bracht-Bendt für die Fraktion der FDP. Bitte schön. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal freut es mich, dass wir heute Abend hier füreinander klatschen und so stimmig miteinander sind. Ich wünsche mir, dass das hier häufiger vorkommt. Etwa jede vierte Frau in Deutschland ist mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch derzeitige oder frühere Partner geworden. Gewalt gegen Frauen findet alltäglich und mitten unter uns statt, und zwar nicht nur im sozial kritischen Milieu, sondern überall. Opfer von Gewalt gegen Frauen sind häufig auch deren Kinder. Für alle Betroffenen bedeutet Gewalt meistens erhebliche psychische und gesundheitliche Folgen. Die Bekämpfung von Gewalt ist ein vordringliches Ziel der Koalition. Wir sind uns alle einig, dass hier hoher Handlungsbedarf besteht. Deshalb handeln wir. Nachdem der Bundesrat im September dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einrichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ zugestimmt hat, ist der Weg frei für eine kostenlose bundesweite Hotline - eine Nummer, die Frauen rund um die Uhr wählen können, wenn sie in Not sind. Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich maßgeblich für diese Hotline starkgemacht. In Deutschland existiert bereits ein Netz von Anlaufstellen für betroffene Frauen. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass circa 80 Prozent der Opfer von den bestehenden Hilfsstrukturen nicht oder nicht früh genug erreicht werden. Eine Frau, die Opfer einer Gewalttat wird, braucht sofort und nicht zu bestimmten Öffnungszeiten unbürokratische Hilfe. ({0}) Die Wirksamkeit der Hotline unter Federführung des Familienministeriums hängt allerdings davon ab, ob sie auch bekannt ist. Das A und O ist deshalb eine nachhaltige Öffentlichkeitsarbeit. Opfer von Gewalt müssen wissen, wo sie rund um die Uhr Hilfe von Experten bekommen können. Es handelt sich um ein bewusst niedrigschwelliges, barrierefreies Hilfsangebot, das Frauen jederzeit und auch anonym in Anspruch nehmen können. Die Experten am Telefon sind eng vernetzt und nennen Adressen, an die sich Frauen wenden können. Damit fällt die Hemmschwelle für viele Frauen weg. Das ist ein wichtiger Punkt. Gerade in kleineren Städten scheuen sich Frauen häufig, Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie sich schämen. Sie wollen nicht, dass in ihrem Umfeld bekannt wird, was sich hinter ihrer Wohnungstür abspielt, und versuchen lange, damit allein fertigzuwerden. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die bundesweit einheitliche Nummer einen höheren Bekanntheitsgrad erreicht als bisherige Einzelmaßnahmen. Mit dem Hilfetelefongesetz setzt die Bundesregierung ein weiteres Ziel des Koalitionsvertrages um. Ganz herzlichen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. - Wir ha- ben keine weiteren Wortmeldungen mehr. So schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/7238 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- ordnungspunkt 16 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu Lasten des Strahlenschutzes - Zwischenlage- rung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungs- abfälle verursachergerecht neu gestalten - Drucksachen 17/7465, 17/7677 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Angelika Brunkhorst Sylvia Kotting-Uhl b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothée Menzner, Johanna Voß, Eva BullingSchröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE CASTOR-Transport 2011 nach Gorleben stoppen - Drucksache 17/7634 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön, Frau Kollegin Maria Flachsbarth. ({1})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute Abend über zwei Anträge, einen der Grünen und einen der Linken, bezüglich der Ende des Monats geplanten Castortransporte von La Hague nach Gorleben, die die Forderung enthalten, diese Transporte zu stoppen. Anlass dazu sind Strahlenmessungen des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, der am 15. August und am 21. August dem niedersächsischen Umweltministerium mitgeteilt hat, dass der Grenzwert am Zaun des Transportbehälterlagers in Gorleben in diesem Jahr möglicherweise überschritten werden könnte. Das niedersächsische Ministerium hat daraufhin den Niedersächsischen Landtag unterrichtet und ein fachaufsichtliches Gespräch mit der Gesellschaft für Nuklear-Service als Betreiberin der Anlage geführt. Die GNS wurde aufgefordert, vorsorglich Maßnahmen vorzuschlagen, die eine Einhaltung des genehmigten Wertes gewährleisten. Es wurden Prüfungen der Messungen durch den TÜV Nord initiiert und weitere Messungen durch die PhysikalischTechnische Bundesanstalt durchgeführt. All diese Überprüfungen ergaben, dass die zunächst befürchtete Überschreitung des Genehmigungswertes, auch bei Einlagerung der Castoren aus La Hague, wohl nicht zu erwarten ist. Das wurde vom niedersächsischen Ministerium dem Umweltausschuss des Niedersächsischen Landtags und im Rahmen eines bundesaufsichtlichen Gesprächs dem Bundesumweltministerium mitgeteilt. Anschließend sind wir im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages am 28. September und am 9. November durch Vertreter des niedersächsischen Ministeriums und des Bundesumweltministeriums über diesen Sachverhalt umfassend informiert worden. Darüber hinaus kann man das Ganze in den Antworten der Bundesregierung auf zwei Kleine Anfragen zu dieser Thematik nachlesen. Nun heute Abend den Eindruck zu erwecken, wie es bei den Anträgen der Grünen und der Linken der Fall ist, dass bei diesem Castortransport nach Gorleben Sicherheitsbestimmungen außer Acht gelassen oder GrenzDr. Maria Flachsbarth werte gröblich verletzt würden, ist einfach grob unredlich. ({0}) Im Gegenteil: Aufgrund der geltenden Gesetzeslage, also wegen der nach dem Atomgesetz vorgenommenen Berechnungen und Messungen sowie aufgrund des völkerrechtlichen Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Frankreich über die Rücknahme der wiederaufgearbeiteten Abfälle bis zum 31. Dezember 2011, ist gar keine andere Entscheidung möglich als die, die der niedersächsische Umweltminister letztendlich getroffen hat, nämlich die Genehmigung für die Einlagerung zu erteilen. Allerdings - auch das will ich sagen - sollte man bezüglich der Rücknahme von Abfällen aus Sellafield ab 2014 - denn aus La Hague kommen jetzt keine Abfälle mehr - neu nachdenken, insbesondere was die Frage des Standorts betrifft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Niedersachsen nimmt seine Verantwortung bezüglich der Zwischenund Endlagerung radioaktiver Abfälle wahr, nicht zuletzt aufgrund der Geologie seines Untergrunds. Aber wir reißen uns nicht darum, dass radioaktive Abfälle nach Niedersachsen kommen. ({1}) Ich bin davon überzeugt, dass die Zwischenlagerung der Castoren in einem anderen Bundesland den Dialogprozess, den die Bundesregierung bezüglich der Weiterführung der ergebnisoffenen Erkundung in Gorleben initiiert hat, intensivieren könnte. Ich will es ganz deutlich hier sagen: Gerade nach dem Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie ist die Suche nach einem sicheren Endlager dringlicher denn je. ({2}) Sie ist eine nationale und gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich der Bund und alle Bundesländer - nicht nur ein Bundesland - stellen müssen. Sie stehen gemeinsam in der Verantwortung. Deshalb begrüße ich die Initiative des Bundesumweltministers, in Vorbereitung auf das im Rahmen des Atomausstiegs angekündigte Entsorgungsgesetz Gespräche mit allen Ländern zu führen. Schade finde ich es, dass nur zwei von 16 Ministerpräsidenten teilnehmen, und schade finde ich es, dass aus den Reihen der Opposition versucht wird, schon im Vorfeld das Gespräch zu diskreditieren. ({3}) Der Minister sei mit der Vorlage des Gesetzes ins Hintertreffen geraten, wird gesagt. Ich will Ihnen eines sagen: Wenn der Minister ein Gesetz vorgelegt hätte, dann würde genau aus dieser Richtung des Hauses der Vorwurf ertönen, dass der Minister Fakten schaffen will, bevor solche Gespräche stattgefunden haben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ziemlich leicht, einen solch schwierigen Dialogprozess zu torpedieren, und es braucht ziemlich viel Mut, sich in ihn hineinzubegeben und die Schützengräben der Vergangenheit zu verlassen. ({5}) Der Bundesumweltminister und die beiden Ministerpräsidenten aus Niedersachsen und aus Baden-Württemberg haben diesen Mut, und ich bitte Sie, dass auch der Deutsche Bundestag, also wir Abgeordnete und die Fraktionen dieses Hauses, den Mut haben, die politischen Schaukämpfe beiseite zu lassen und wirklich gemeinsam diese dringliche nationale Frage ({6}) der Endlagerung anzugehen. Herzlichen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörenden! Ganz besonders begrüße ich die Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis Uelzen, ({0}) die bis zur Behandlung dieses wichtigen Themas, das sie natürlich auch betrifft, ausgeharrt hat. ({1}) Zitat: Eine Absage des geplanten Castor-Transports nach Gorleben würde das Land Niedersachsen Millionen kosten. „Wir mussten die Transportbehälter bereits anmieten und müssten sie auch bei einer Absage bezahlen“, sagte Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann ({2}). Das war die Antwort auf die Forderung der Deutschen Polizeigewerkschaft, den Castortransport in diesem Jahr aus sachlichen Gründen abzusagen. Wenn das die Antwort des Innenministers ist, hat man natürlich den Verdacht, dass bei der Genehmigung dieses Transports nicht wissenschaftlich begründete Sicherheitskriterien ausschlaggebend waren, sondern wirtschaftliche Kostenkriterien den maßgeblichen Anlass dazu gaben, die Genehmigung zu erteilen, und das, liebe Herren und Damen, ist einfach inakzeptabel. ({3}) Worum geht es? - Wir haben ein Zwischenlager, das eine Genehmigung für eine maximale Strahlendosis hat, die am ungünstigsten Messpunkt 0,3 Millisievert im Jahr nicht überschreiten darf. Wir haben Messungen, die Folgendes aussagen: Wenn wir zusätzliche Castoren einlagern, dann droht diese Zahl überschritten zu werden. Frau Flachsbarth, es ist eben nicht unbestritten, dass diese Messungen stimmen. Sie haben von neuen Messungen geredet. ({4}) Ich würde viel lieber über neue Berechnungsmodelle reden, aufgrund derer andere Zahlen herauskommen. Die Frage, die sich stellt, ist: Was tut die Regierung angesichts dieser Zahlen? ({5}) Als Erstes beruhigt sie die Bevölkerung. Ich zitiere wieder: Die von Greenpeace dargestellten Zusammenhänge entbehren jeder technischen und naturwissenschaftlichen Grundlage, sind somit unhaltbar … Als Nächstes haben Sie Transparenz angekündigt. Ich zitiere: Man sei froh, dass Greenpeace die Einwände jetzt formuliert hätte, „da die Entscheidung über den Castor-Transport noch nicht gefallen ist“, sagte eine Sprecherin der niedersächsischen Umweltministeriums der Berliner Zeitung. Sie würden nun geprüft. Aber was ist dann passiert? - Bei einer öffentlichen Veranstaltung im Wendland hat sich die niedersächsische Regierung geweigert, eingeladene Experten dort hinzuschicken. Die hätten Transparenz herstellen können. Als eine Gruppe Bundestagsabgeordneter nach telefonischer Anmeldung und der Zusage, dass sie in das Zwischenlager hineingehen könne, vor Ort war, wurde ihr mitgeteilt, man könne sie leider nicht hineinlassen, weil die Zeit für die Sicherheitsüberprüfung ihrer Personen nicht ausgereicht habe. ({6}) Ich möchte nur kurz erwähnen, dass der Deutsche Bundestag 48 Stunden braucht, um die Sicherheitsprüfung durchzuführen. Ich habe es jedoch auch schon erlebt, dass er es in sechs Stunden geschafft hat. Wenn man so etwas weiß, dann weiß man auch, dass die Begründung der Betreibergesellschaft an den Haaren herbeigezogen ist, meine Herren und Damen. ({7}) Es ist unter diesen Voraussetzungen natürlich schwierig für uns, zu glauben, dass nichts zu verbergen ist und dass Transparenz hergestellt werden soll. Für den Fall, dass die heute vorliegenden Anträge hier eventuell nicht die nötige Mehrheit bekommen und es einen Castortransport geben wird, lade ich Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, herzlich ein. Die SPD wird wieder ein Castorcamp machen, in dem sich Polizistinnen und Polizisten mit heißem Kaffee aufwärmen können, in dem sich die Bevölkerung an einer Suppe laben kann. Da können Sie einmal schauen, woher denn dieses Misstrauen kommt und was Ihre Politik vor Ort bewirkt, meine Herren und Damen. ({8}) Was mich auch verwundert, ist die Tatsache, dass die Betriebserlaubnis für das Zwischenlager für 40 Jahre und für 420 Castorbehälter erteilt wurde. Wir haben bisher noch nicht einmal die Hälfte der genehmigten Betriebszeit erreicht, und es ist nur ein Viertel der vorgesehenen Transportbehälter eingelagert. Aber schon haben wir Probleme mit dem festgelegten Grenzwert. Angesichts der Tatsache, dass dieser Grenzwert für die vierfache Menge an Müll ausgelegt war, frage ich mich doch: Ist 1995 falsch gerechnet worden, oder sind die Werte schöngerechnet worden? Beides ist auf alle Fälle inakzeptabel. ({9}) Ich hatte in meiner Heimatgemeinde eine Diskothek gehabt. In der Genehmigung war ein Lärmrichtwert enthalten. Wir alle wissen, auch Lärm macht ab einer gewissen Stärke krank. Als Messungen ergaben, nachdem sich die Bevölkerung beschwert hatte, dass dieser LärmgrenzKirsten Lühmann wert überschritten war, musste die Diskothek schließen. Es wurden Auflagen erlassen; es mussten bauliche Veränderungen vorgenommen werden. Nachdem sichergestellt worden war, dass der Lärm das zulässige Maß nicht überschreitet, durfte die Diskothek wieder öffnen. Ich frage Sie jetzt: Wieso ist das, was bei einer Diskothek in Bezug auf das Problem Lärm selbstverständlich ist, bei einem Zwischenlager in Bezug auf das Problem Strahlung ganz anders? Das kann ich nicht verstehen. ({10}) Darum wird die SPD dem Antrag der Grünen, die unter anderem fordern, den Castortransport für dieses Jahr auszusetzen, zustimmen. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, wie die Planungen für diesen Castortransport in diesem Jahr gelaufen sind. Der ursprüngliche Termin Anfang November konnte nicht eingehalten werden, weil die französische Polizei angab, sie könne den Transport auf französischer Seite nicht schützen, weil sie aufgrund der Belastungen durch den G-20-Gipfel erst ausreichende Ruhezeiten brauche, bevor sie in den neuen Großeinsatz gehen könne. Dann gab es diverse Diskussionen. Jetzt ist der erste Advent als Transporttermin vorgesehen. Jede Person in diesem Land weiß: Erster Advent heißt Weihnachtsmärkte. Einige wissen: Erster Advent ist das Wochenende mit mehreren problematischen Fußballspielen der Ersten bis Dritten Liga. Viele in diesem Land wissen inzwischen: Es gibt Probleme mit Grenzwerten. Daher haben beide Polizeigewerkschaften, die DPolG und die GdP, die berechtigte Forderung gestellt, den Castortransport zu diesem Zeitpunkt auszusetzen. ({11}) Wenn Sie sagen, diese Bedenken seien nicht gerechtfertigt, möchte ich Ihnen kurz die Situation bei einem normalen Castortransport schildern. Einige Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen tragen persönliche Strahlenmessgeräte. Aufgrund verschiedener technischer Probleme zeigen die aber erst Werte an, die deutlich über den Grenzwerten liegen. Darum gibt es auch eine Anweisung über maximale Aufenthaltszeiten im Nahbereich des Castors oder des Zwischenlagers. Wir haben es aber oft erlebt, dass die Einsatzlage es nicht zulässt, diese Zeiten einzuhalten. Ich persönlich habe erlebt, dass Kollegen die dreifache Zeit in unmittelbarer Nähe des Castortransportes verbringen mussten, weil eine Ablösung nicht möglich war. Jetzt haben wir Hinweise auf mögliche zusätzliche Belastung. Ich verstehe die Forderungen der Gewerkschaften. Eigentlich sollte es unser aller Anliegen sein, dass wir den transportbegleitenden Polizeibeamten nur die unvermeidbare Belastung zumuten und nicht noch zusätzliche. ({12}) Präsident Sarkozy hat sich schützend vor seine Polizei gestellt und ihr ausreichend Erholungszeiten ermöglicht. Ich finde, es würde Frau Merkel gut anstehen, wenn sie bei der Frage möglicher zusätzlicher Belastungen für die Gesundheit der Bevölkerung und der Polizei sich genauso fürsorglich verhalten würde wie ihr französischer Kollege und den Castortransport 2011 verschieben würde. ({13}) Ich befürchte allerdings, dass ich dieses Zeichen von Kraft und Entscheidungsfähigkeit in dieser Regierung nicht nur bei der Kanzlerin vergeblich suche. Danke schön. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. - Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Angelika Brunkhorst. Bitte schön, Frau Kollegin Brunkhorst. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wie in jedem Jahr geht es darum, radioaktive Abfälle zurückzunehmen, die die Franzosen in La Hague aus abgebrannten Kernbrennstäben aus deutschen Kernkraftwerken aufbereitet haben. Das Entsorgungskonzept vorangegangener Bundesregierungen sah vor, den noch nutzbaren Kernbrennstoff aus den abgebrannten Brennelementen wiederaufzuarbeiten und nur das zurückbleibende Abfallgebinde in den Castoren zentral in einem Zwischenlager, dem sogenannten Transportbehälterlager in Gorleben, zu lagern. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde die Wiederaufarbeitung verboten und die dezentrale Zwischenlagerung der abgebrannten Brennstäbe an den Kernkraftwerksstandorten vorgeschrieben. Anstelle von zwei bzw. drei zentralen Lagern haben wir nunmehr 15 dezentrale Zwischenlager. Aber einzig und allein das Transportbehälterlager in Gorleben hat eine Genehmigung, die Abfälle aus der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague überhaupt aufzunehmen. Der Castortransport Ende November nach Gorleben ist erforderlich; denn wir sind zur Rücknahme des deutschen Atommülls rechtlich, aber vor allen Dingen auch moralisch verpflichtet. ({0}) Ich kann das Gejammer, insbesondere der GrünenFraktion, hier nicht so ganz nachvollziehen; denn diese besondere Genehmigungssituation ist Ihnen längst bekannt. Sie haben sie auch nicht geändert. Auch Herr Trittin hat sie nicht geändert. Also, sorry. Nach dem Willen der Grünen und der Linken soll der anstehende Castortransport nach Gorleben dennoch abgeblasen werden, weil der sogenannte Eingreifwert von 0,27 Millisievert pro Jahr möglicherweise überschritten wird. Sie werfen den zuständigen Ministerien und Behörden einen laxen Umgang mit den Strahlenwerten am Zwischenlager vor. Meine Kollegin Frau Flachsbarth hat schon ausreichend erläutert, dass hier einiges getan wurde, um mit zusätzlichen Messungen sicherzustellen, dass dieser Eingreifwert gar nicht erst erreicht wird. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen doch selbst - spätestens seit den Beratungen im Umweltausschuss -, dass der Betreiber bei Erreichen des sogenannten Eingreifwerts die Einlagerungsmaßnahmen unterbrechen muss oder auf jeden Fall Maßnahmen ergreifen muss, um die Einhaltung des geltenden Grenzwerts von 0,3 Millisievert im Jahr zu gewährleisten. Ich möchte hier, weil auch Frau Lühmann sehr viel über Grenzwerte erzählt hat, eine Klarstellung zu den Grenzwerten vornehmen. Der Grenzwert für das zentrale Zwischenlager in Gorleben beträgt 0,3 Millisievert pro Jahr. Umweltminister Trittin hat ja, wie schon gesagt, die dezentralen Zwischenlager eingerichtet. Für Zwischenlager, die sich dezentral an den Kernkraftwerken befinden, gilt demgegenüber ein Grenzwert von 1 Millisievert pro Jahr. Das ist also das Dreifache. ({2}) - Hört, hört; so ist das. 1 Millisievert gilt demnach auch für das Zwischenlager im Kernkraftwerk Philippsburg. Es wurde von Greenpeace durchaus als Option vorgeschlagen, die Castoren dorthin zu verbringen. Ich frage mich wirklich, wo die vielen Greenpeace-Atomexperten waren, als Herr Trittin die Regelung getroffen hat, die einen Grenzwert von 1 Millisievert vorsieht. Damit Sie einmal ein Gefühl für die Werte entwickeln können: Die natürliche Strahlendosis, der wir ausgesetzt sind, beträgt im Jahr durchschnittlich 2,1 Millisievert. Das ist also das Siebenfache. Da kann man doch sagen, dass der Grenzwert von 0,3 Millisievert ein sehr ambitionierter Wert ist. Ich denke, das Eingreifen des liberalen Umweltministers in Niedersachsen war genau richtig. Ich habe auch großes Vertrauen zu den Beamten, ({3}) die dargelegt haben, was sie alles getan haben, um zu gewährleisten, dass dieser Wert auch eingehalten wird. Zum Schluss möchte ich noch sagen: Die Behauptung, dass jeder zusätzliche eingelagerte Castor im Atomzwischenlager in Gorleben eine Manifestierung ist, kann ich nicht untermauern. Ich bin der Meinung: Nicht die Zahl der dort befindlichen Castoren ist ausschlaggebend, sondern die Frage, ob wir eine Schadensvorsorge nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik gewährleisten können. Das wird unser Maßstab für die Zukunft sein. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Brunkhorst. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dorothée Menzner. Bitte schön, Frau Kollegin Menzner. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es sind jetzt 102 von 420 genehmigten Castoren im Zwischenlager in Gorleben. Bereits jetzt wird hin- und hergeschoben, weil die Strahlendosiswerte im Grenzbereich des Zulässigen liegen. Wenn eine Badewanne überläuft, muss man das Wasser abstellen und nicht die Hähne neu anordnen. ({0}) Die gesetzlich festgelegten Grenzwerte sind nicht dazu da, sie zu ignorieren. Sie sollen die Werte der künstlichen Strahlendosen aus Atomanlagen auf einem akzeptablen Niveau halten. Das ist eigentlich gar nicht möglich. Denn es gibt kein akzeptables Niveau für künstliche Strahlendosen. Die Grenzwerte sind höchstens eine Obergrenze einer wachsenden Unverantwortlichkeit. Auf welcher Höhe diese festzulegen sind, ist eine ethische Frage. Wir alle wissen und haben es erlebt, dass im Falle eines Falles Grenzwerte auch veränderbar sind. In Fukushima wurden sie sukzessive hochgesetzt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens klingt es immer harmloser, wenn man formuliert, dass sich die Werte innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen bewegen. Zweitens übertrifft der radioaktive Ausstoß immer wieder alle Erwartungen der Atombefürworter, mit denen man die Gesellschaft seit Beginn der Nutzung der Atomkraft versucht hat zu beruhigen. Das alles ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Aber mit der permanenten Unbelehrbarkeit und mit dem kapitalträchtigen Lobbyismus, den wir Tag für Tag und Jahr für Jahr erleben, wird ein unausräumbarer Widerspruch geschaffen, der täglich größer wird. ({1}) Sie vergrößern diesen Widerspruch, indem Sie nicht sofort aus der Atomkraft aussteigen, indem Sie die Castortransporte nach Gorleben nicht stoppen und indem Sie nicht bereit sind, sich auf einen gesellschaftlichen Dialog wirklich einzulassen, bei dem die Bevölkerung mitreden darf, wie es mit der Atommüllverwahrung weitergehen soll. ({2}) Ich will Ihnen auch sagen, warum Sie nicht bereit sind, diese gesellschaftlich dringend notwendige Debatte zu führen. Sie haben Angst, und Sie wissen, dass es eigentlich keine Lösung gibt. Dieser Widerspruch ist nicht auflösbar. Das Vertrauen der Menschen ist grundlegend verspielt. Nein, mit den Akteuren in der Atomindustrie, aber auch in den Parlamenten, die seit Jahrzehnten dieses Desaster angerichtet haben, wird es nicht möglich sein, mit dieser Problematik verantwortungsvoll umzugehen. Sie sind an sinnvollen Lösungen offensichtlich nicht interessiert, sondern hören nach wie vor auf das Deutsche Atomforum, auf den BDI und auf die anderen Verbände. Wir haben derzeit kein Zwischenlager für die Castorbehälter aus der Wiederaufarbeitung. Das ist Ihr Verschulden. Deutschland ist momentan nicht in der Lage, diesen strahlenden Müll aus Frankreich aufzunehmen. Das Zwischenlager Gorleben ist das einzige Lager, das über eine entsprechende Genehmigung verfügt. Dort sind die Grenzwerte aber erreicht. Das Lager ist damit voll. Es wurde versäumt, sich rechtzeitig nach Alternativen umzuschauen. Die Konsequenz für das französische Volk ist unzumutbar: Die Genehmigung für den Castortransport ist zu widerrufen. Das Zeug muss offensichtlich noch Jahre in La Hague bleiben, was für die Franzosen, wie gesagt, unzumutbar ist. Wir wissen aber alle, dass es Jahre dauern wird, bis die Genehmigung für ein weiteres Zwischenlager erteilt wird. Welchem Landstrich wollen wir dieses Lager bitte schön aufbürden? Ich sehe nicht, dass es eine Lösung wäre, einen der Standorte der Atomkraftwerke als Atommülllager auszuweisen. ({3}) Ich komme zu den Konsequenzen. Erstens. Den Castortransport untersagen. ({4}) Zweitens. Die Atomkraftwerke abschalten. Drittens. In der Vergangenheit gemachte Fehler eingestehen. Viertens. Gorleben und Schacht Konrad als Endlager aufgeben. Fünftens. Einen gesellschaftlichen Dialog beginnen. Dieser Dialog muss Menschen einbeziehen und Vertrauen schaffen. Dann kann in der Gesellschaft darüber diskutiert werden, wie wir dieses in 50 Jahren entstandene Problem lösen können. Wie können wir diese Probleme gemeinsam lösen? Das funktioniert nur mit einem Dialog auf Augenhöhe, und nicht mit Durchknüppeln, mit Erlassen oder der Einschränkung von Demokratierechten. ({5}) Von daher wird die Linke am ersten Adventswochenende wieder mit vielen Menschen bunt und vielfältig im Wendland unterwegs sein. Ich danke Ihnen. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Menzner. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Sylvia Kotting-Uhl. Bitte schön, Frau Kollegin KottingUhl.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wie mehrere der Rednerinnen und Redner bei dieser Debatte bin ich erst vorhin aus dem Untersuchungsausschuss Gorleben gekommen. Wenn man sich mit der Geschichte von Gorleben befasst, dann trifft man auf das Prinzip: Was nicht passt, wird passend gemacht. ({0}) Das bezieht sich auf das Endlagerbergwerk, an dem dort gearbeitet wird. Man kann heute hinzufügen: Oder es wird so lange gemessen, bis es passt. Das bezieht sich auf das Zwischenlager. ({1}) Was passt nicht? Es passt nicht, dass der zuständige Landesbetrieb NLWKN eine Neutronenstrahlung von bereits 0,41 Millisievert gemessen und hochgerechnet hat, dass nach Einlagerung weiterer elf Castoren, die im November erwartet werden, der Eingreifwert voraussichtlich überschritten wird. Was ist seitdem passiert? Es wurden Behälter umgestellt, die PTB hat gemessen, der TÜV hat gerechnet. Einige Abgeordnete - ich selbst war eine dieser Abgeordneten - haben versucht, ihre Kontrollfunktion wahrzunehmen und in dem Transportbehälterlager einmal zu prüfen, was dort an sogenannten Optimierungsmaßnahmen vorgenommen wurde. Das wurde uns jedoch verwehrt. ({2}) Trotz des Wustes von Hintergrundwerten, Messunsicherheiten, Tageswerten und jeder Menge offene Fragen ist für das NMU eines klar: Es gibt keine Bedenken gegen die Einlagerung der Castoren. Der Transport kann rollen. Umweltminister Sander ist hier genauso widersprüchlich wie die Messungen; denn er spricht sich gegen weitere Castortransporte aus. Er ist aber derjenige, der diesmal den Schlüssel in der Hand hat, den Castortransport zu verhindern. Er hat die Entscheidung in der Hand, und er kneift vor dieser Entscheidung, ({3}) und zwar möglicherweise aus Gründen, die Sie, Frau Lühmann, uns dargelegt haben. Dahinter steckt ein Problem, das - wie so oft bei der Atomkraft - unschön und schwer lösbar ist. In Deutschland gibt es keinen anderen genehmigten Ort für die Rücknahme des atomaren Wiederaufarbeitungsmülls als dieses Zwischenlager in Gorleben. Abhilfe schafft aber nicht eine Spielwiese, auf der man einfach einmal mit den bestehenden Grenzwerten, den Eingreifwerten und dem Strahlenminimierungsgebot herumjongliert. Abhilfe schafft man nur, wenn man die AKW-Betreiber gemäß dem Verursacherprinzip dazu auffordert, Genehmigungsanträge für die Aufbewahrung des Mülls in den standortnahen Zwischenlagern zu stellen. Zu den Grenzwerten will ich Ihnen einmal etwas sagen, Frau Brunkhorst: Grenzwerte sind gesetzliche Regelungen, die zumeist ihren Grund haben. Grenzwerte sind immer Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem gesundheitlich Notwendigen und dem, was wirtschaftlich als notwendig erachtet wird. Deswegen haben Grenzwerte für unterschiedliche Müllsorten an unterschiedlichen Standorten auch unterschiedliche Höhen. ({4}) Das müssten Sie in der - immer noch - vermeintlichen Wirtschaftsfraktion eigentlich wissen. ({5}) Wir haben jetzt die Möglichkeit, gemeinsam eine entsprechende Forderung an die Atomkraftwerksbetreiber zu stellen. Dazu fordere ich Sie auf. Das muss umgehend geschehen, damit die Zeit des Verbleibs der Castoren in La Hague so kurz wie möglich ist; denn für die Franzosen ist es unzumutbar, sie noch länger in ihrer Obhut zu haben. Diese Aufforderung können wir gemeinsam stellen, wenn Sie unserem Antrag zustimmen. Die Widersprüche von Herrn Sander zeigen, dass er offensichtlich bundesaufsichtliche Hilfe braucht. Deshalb würde ich an dieser Stelle gern Herrn Röttgen - wenn er denn da wäre, aber vielleicht liest er ja meinen Antrag auffordern, damit aufzuhören, den Kopf in den Sand zu stecken, sich wegzuducken und die Dinge laufen zu lassen. Es ist Zeit für eine bundesaufsichtliche Weisung. Herr Röttgen sollte seiner Aufgabe jetzt gerecht werden. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Zu einer Kurzintervention hat unsere Kollegin Frau Skudelny das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Skudelny.

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß, es ist nicht die Uhrzeit dafür, aber ich mache es ganz kurz. - In Baden-Württemberg stellen die Grünen nicht nur den Ministerpräsidenten, sondern auch den Umweltminister. Von Greenpeace wurde vorgeschlagen, die Anlage in Philippsburg als Zwischenlager - so wie Sie es sagen - zu nutzen. Die EnBW gehört etwa zur Hälfte dem Land Baden-Württemberg. Ich frage mich, warum Sie die Schleife über den Bund drehen, wenn Ihr Landesumweltminister eigentlich das eigene Unternehmen dazu auffordern könnte. Das wäre doch der erste Schritt, bevor man die große Schleife über die Bundesregierung dreht. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Zur Antwort, Frau Kollegin Kotting-Uhl.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich werde jetzt ganz sachlich auf das antworten, was Sie hier vorgetragen haben, ({0}) obwohl es da noch viele andere Dinge zu sagen gäbe. Greenpeace hat gefordert, diese Castorbehälter ausschließlich zum standortnahen Zwischenlager in Philippsburg zu bringen. Hätten Sie mir zugehört, den Antrag gelesen oder dem Umweltminister von BadenWürttemberg zugehört, dann wüssten Sie, dass sowohl der Umweltminister von Baden-Württemberg wie auch ich dafür sind, diesen Transport abzusagen und diese Castoren zu den verschiedenen standortnahen Zwischenlagern in Deutschland zu bringen, nicht nur zu dem standortnahen Zwischenlager in Philippsburg. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Nachdem Baden-Württemberg jetzt, und zwar wohlweislich nach dem Regierungswechsel, das erste Land war, das gesagt hat: „Wir werden unserer Verantwortung für die Lagerung des Atommülls gerecht und öffnen uns für eine Endlagersuche“, kann es nicht sein, dass man zum Dank dafür einem einzigen Zwischenlager in diesem Land just den ganzen anstehenden Müll vor die Füße wirft. ({1}) Baden-Württemberg ist für 20 Prozent des Mülls zuständig, der jetzt zurückkommt. Für diese 20 Prozent soll Baden-Württemberg nach der Vorstellung des badenwürttembergischen Umweltministers und meiner Fraktion die Verantwortung übernehmen. Die Aufgabe liegt im Moment darin, dass die AKW-Betreiber die Genehmigungsanträge stellen. Es ist deren Sache, wie sie sich auf eine Verteilung der Transporte einigen und wie sie das ausrechnen. Es sind noch einige Transporte zu erwarten: Es ist nicht der letzte Transport aus La Hague; es wird noch schwach- und mittelradioaktiver Müll aus La Hague kommen. Es kommen auch noch 22 Castoren aus Sellafield. Wir in Baden-Württemberg sind im Gegensatz zu vielen anderen Ländern bereit, Verantwortung zu übernehmen, übrigens auch im Gegensatz zur früheren schwarzgelben Regierung in Baden-Württemberg; Gott sei Dank ist diese Zeit vorbei. Die schwarz-gelbe Regierung hat immer nur gesagt: Nicht bei uns! Not in my backyard! Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei; BadenWürttemberg übernimmt seine Verantwortung. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Nach der Rücknahme der Laufzeitverlängerungen und einer Präzisierung, insbesondere einer zeitlichen Klarstellung, zum Ausstieg aus der Kernenergie bleibt bei mir immer noch die Hoffnung, dass es diesem Haus gelingen mag, solche Themen wie das heutige mit großer Sachlichkeit und Verantwortung für das, was noch vor uns liegt, anzugehen. Andererseits ärgert es mich natürlich, wenn von einer Seite immer wieder Panikmache und Betroffenheitsrhetorik kommen. Liebe Frau Kollegin Menzner, es ist nun einmal hanebüchen, uns den Vorschlag, die Untersuchungen in Gorleben und gleich auch noch den Schacht Konrad aufzugeben, als Lösung der Endlagerfrage zu präsentieren; das muss man einmal ganz deutlich sagen. ({0}) Ich will klipp und klar festhalten, dass für uns beim Thema Kerntechnologie und Strahlenschutz Sicherheit das oberste Gebot ist; ich gestehe es allen anderen Fraktionen zu, dass sie es genauso sehen. Vor diesem Hintergrund möchte ich eindeutig klarstellen, dass die Messungen, über die wir hier diskutieren, in § 6 Atomgesetz, der Strahlenschutzverordnung, der Aufbewahrungsgenehmigung des Bundesamtes für Strahlenschutz, der Richtlinie zur Emissions- und Immissionsüberwachung kerntechnischer Anlagen sowie den Messanleitungen für die Überwachung radioaktiver Stoffe in der Umwelt und externer Strahlung so festgehalten sind. ({1}) Das ist richtig und wichtig. Die Messungen sind auf dieser Grundlage erfolgt. ({2}) Sobald es auf dieser Basis einen Handlungs- und Eingriffsbedarf gibt, hat dieser Eingriff unmittelbar und sofort zu erfolgen, und zwar ohne Wenn und Aber; das sage ich klipp und klar. ({3}) Ich sage dann aber auch klar: Ich bin zunächst einmal absolut darüber erleichtert, dass uns in der Umweltausschusssitzung vom 9. November vom Bundesumweltministerium noch einmal ausführlich erläutert wurde, dass der genehmigte Jahreswert nicht überschritten wird ganz klipp und klar. ({4}) Ich bin - vermutlich wie auch Sie - unglücklich über die Kommunikation in der letzten Woche. Aber in der gestrigen Umweltausschusssitzung wurde das Thema noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei wurde ausführlichst erläutert, wie die unterschiedlichen Messwerte des Niedersächsischen Landesbetriebes für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt sowie des TÜV Nord zustande kamen. Das haben die meisten der hier anwesenden Ausschussmitglieder mitbekommen. Im Übrigen gibt es dazu eine schriftliche Abhandlung, nämlich die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Heinen-Esser, nachzulesen in der Drucksache 17/7239.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Nüßlein, geben Sie der Frau Kollegin Kotting-Uhl die Chance für eine Zwischenfrage? ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Kolleginnen und Kollegen sind nicht begeistert; ich bin es um 22.31 Uhr auch nicht übermäßig. Aber wenn Sie meinen, Sie müssten noch einmal zwischenfragen, tun Sie es doch. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie haben versprochen, sich kurzzufassen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will mich nur auf das „klipp und klar“ beziehen. Der TÜV hat klipp und klar ausgerechnet, dass man bei 0,254 mSv landen wird. Dabei ist eine Prognose von plus/minus 10 Prozent. Wenn Sie die 10 Prozent addieren, sind Sie bei über 0,27 mSv. Das ist genau der Ein16616 greifwert. Das heißt, nach dem Strahlenminimierungsgebot muss man eingreifen.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man liegt unter dem Eingriffswert. ({0}) - Es heißt: „plus/minus 10 Prozent“. Sie haben Werte zwischen 0,238 mSv und 0,254 mSv plus/minus 10 Prozent. ({1}) Also liegt man aus meiner Sicht, jedenfalls wenn man diese Werte begutachtet, unter dem Eingriffswert. Damit ist man ganz eindeutig in einer Situation, in der das in dieser Art und Weise jedenfalls nicht geboten ist. Die Frage ist, was Sie damit erreichen wollen. Sie müssen natürlich dann auch erklären, liebe Frau Kollegin, wie Sie mit dieser Thematik umgehen wollen, wie Sie den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die wir erfüllen müssen, nachkommen wollen, wie Sie den Franzosen erklären wollen, weshalb Sie die Castoren, die von dort zu Recht wieder zurück nach Deutschland gebracht werden müssen, jetzt nicht in diesem Land annehmen können. Diese Fragen müssen sie aus meiner Sicht beantworten. Fest steht, dass in Gorleben derzeit 102 Castorbehälter liegen. Die Lagergenehmigung ist auf über 400 dieser Behälter ausgerichtet. Eigentlich wollte ich nicht konfrontativ vorgehen. Aber weil Sie mich gefragt haben, möchte ich Folgendes zur Sicherheit und den Castortransporten sagen: Dazu können Sie einen entscheidenden Beitrag leisten. Ich erinnere mich gut an die Aktion im Herbst letzten Jahres. Damals sind elf Castorbehälter von Nordfrankreich nach Gorleben transportiert worden. ({2}) Dabei wurde ein neuer Begriff geprägt, nämlich der Begriff des Schotterns. Das wurde von verschiedenen Seiten - ich schaue bewusst niemanden an - ganz massiv protegiert. ({3}) Das wurde auch von Ihnen in dem Wissen, dass mit solch einem Eingriff in den Schienenverkehr am Ende auch Risiken für Menschen verbunden sind, unterstützt. ({4}) Das ist nicht nur ein unzulässiges Eingreifen in Eigentumsrechte. Das muss ich deutlich sagen. ({5}) Von Ihrer Seite ist schon die übliche Folklore angekündigt worden. Sie haben schon gesagt, was Sie in den nächsten Wochen vorhaben und wie Sie demonstrieren wollen. ({6}) Meine Damen und Herren, nichts gegen das Demonstrationsrecht. ({7}) Das ist ein hohes Rechtsgut. Aber was Sie persönlich betreiben und vormachen, geht weiter über das Demonstrieren hinaus. Das ist ein Eingriff ins Eigentum und ({8}) gefährdet Sicherheit. Das muss man in dieser Klarheit sagen. Ich hoffe, dass Sie damit anders umgehen. ({9}) Ich sage das auch an Herrn Trittin und an Herrn Gysi gerichtet, die jetzt wieder zu Demonstrationen aufrufen. ({10}) Während seiner Amtszeit hat Herr Trittin Castortransporte genehmigt. Ich erinnere mich noch gut an die Aussagen von Herrn Trittin. ({11}) Er hat sich hingestellt und gesagt: Gegen die Castortransporte - die guten, von den Grünen genehmigten ({12}) dürften die Grünen weder singend, tanzend noch sonst irgendwie demonstrieren. Aber gegen die, die von uns genehmigt werden müssen, muss man natürlich demonstrieren. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Es wäre gut gewesen, wenn Sie diese Doppelzüngigkeit eingestellt hätten. Es hätte mich gefreut, wenn Sie bei Ihren Redebeiträgen außer der angekündigten Folklore etwas dazu gesagt hätten, dass es verantwortlich wäre, zu Zurückhaltung aufzurufen. ({0}) Das hätte ich von Ihnen erwartet, aber anscheinend kann man so viel von Ihnen nicht erwarten. In diesem Sinne: Vielen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu Lasten des Strahlenschutzes - Zwischenlagerung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungsabfälle verursachergerecht neu gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7677, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD sowie Teile der Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die übrige Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7634 mit dem Titel „CASTORTransport 2011 nach Gorleben stoppen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Besetzung der Großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung - Drucksachen 17/6905, 17/7276 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/7669 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Christoph Strässer Jens Petermann Jerzy Montag Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sie sind alle damit einverstanden? - Die Namen der Kolle- ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Ich ver- zichte auf die Verlesung.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Be- setzung der Großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7669, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- sachen 17/6905 und 17/7276 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Sozialdemokraten 1) Anlage 3 und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({1}) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative - Drucksache 17/7575 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Petitionsausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung dient dazu, für das Institut der Europäischen Bürgerinitiative, das mit Art. 11 Abs. 4 des Vertrags über die Europäische Union neu geschaffen wurde, nationale Zuständigkeiten zuzuweisen und Verfahren festzulegen. Da es sich bei der Europäischen Bürgerinitiative um ein neuartiges Instrument direkter Demokratie handelt, das den Unionsbürgern ab 1. April 2012 zur Verfügung steht und ihnen erstmals die Möglichkeit verschafft, direkt und nicht vermittelt über Wahlen oder eine Petition an der europäischen Gesetzgebung mitzuwirken, möchte ich zunächst einige wichtige Voraussetzungen und Verfahrensschritte dafür kurz darstellen. Inhalt einer solchen Bürgerinitiative muss die Aufforderung an die Europäische Kommission sein, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die europäischen Verträge umzusetzen. Da die Kommission in fast allen Politikbereichen, die in den Kompetenzbereich der Union fallen, das Initiativrecht hat, sind die Initiatoren einer Bürgerinitiative thematisch kaum eingeschränkt. Der vorgeschlagene Rechtsakt darf aber höherrangigem europäischem Recht nicht widersprechen und die Grundrechte der Union nicht verletzen. Eine Änderung des Primärrechts, also der grundlegenden Verträge der EU, ist ebenfalls ausgeschlossen. Nachdem die Europäische Kommission die Bürgerinitiative auf einer Website registriert hat, können die Organisatoren der Initiative innerhalb eines Jahres Unterstützungsbekundungen sammeln. Neben der Papierform können auch online Unterstützungsbekundungen gesammelt werden, wofür die Europäische Kommission eine kostenfreie Open-Source-Software bereitstellt. Für eine gültige Bürgerinitiative bedarf es der Unterzeichnung durch 1 Million Unionsbürger, die nach dem jeweiligen nationalen Recht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wahlberechtigt sind. Die Zahl der Unterzeichner entspricht 0,2 Prozent der Unionsbürger und ist damit sehr niedrig angesetzt. Um sicherzustellen, dass die Angelegenheit von europaweitem Interesse ist, müssen die Unterstützer aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten, derzeit also aus sieben Mitgliedstaaten, kommen. Erforderlich ist auch eine jeweilige Mindestzahl aus diesen Staaten. Aus Deutschland müssen es mindestens 74 250 Unterzeichner sein. Liegen alle Voraussetzungen vor und ist eine Bürgerinitiative danach zulässig, prüft die Europäische Kommission diese und legt innerhalb von drei Monaten ihr beabsichtigtes Vorgehen und die Gründe dafür dar. Falls sie nicht beabsichtigt, Maßnahmen zu ergreifen, erläutert sie die Gründe dafür ebenfalls. Den Organisatoren wird zuvor die Möglichkeit gegeben, ihre Bürgerinitiative innerhalb einer öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament vorzustellen. Die EU-Verordnung über die Bürgerinitiative verlangt nationale Zuständigkeitszuweisungen und Verfahrensfestlegungen, die mit dem vorliegenden Gesetz erfolgen sollen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um folgende Regelungen: Das Bundesversicherungsamt wird als zuständige Behörde für die Überprüfung der Unterstützungsbekundungen sowie das Ausstellen von Bescheinigungen über die Zahl der gültigen Bekundungen in Deutschland benannt. Um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Zulässigkeit der gesammelten Unterstützungsbekundungen stichprobenartig zu überprüfen. Zudem soll die Überprüfung von Unterstützungsbekundungen durch einen automatisierten Datenaustausch zwischen Bundesversicherungsamt und Meldebehörden erleichtert werden. Zu diesem Zweck wird die Bundesmeldedatenübermittlungsverordnung ergänzt. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik wird als die zuständige Behörde benannt, die bescheinigt, ob ein Onlinesammelsystem mit den technischen und sicherheitsrelevanten Anforderungen der EUVerordnung über die Bürgerinitiative vereinbar ist. Außerdem werden Bußgeldvorschriften erlassen, die Verstöße der Organisatoren einer Bürgerinitiative gegen die EU-Verordnung sanktionieren. Da ein Demokratiedefizit auf der europäischen Ebene offensichtlich ist und dies auch von einer großen Zahl der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland beklagt wird, begrüßen wir die Europäische Bürgerinitiative und die dazu erforderlichen nationalen Umsetzungsregelungen, die mit dem vorliegenden Gesetz erfolgen sollen. Das Instrument kann ein Schritt sein, dieses Defizit abzubauen. Allerdings dürfen die positiven Wirkungen der Europäischen Bürgerinitiative auch nicht überschätzt werden. Denn die gestalterischen Möglichkeiten, die den Unionsbürgern mit diesem Instrument gesetzt wurden, sind eingeschränkt: Die Europäische Kommission kann das Begehren der Bürgerinitiative mit Gründen zurückweisen und von konkreten Umsetzungsmaßnahmen absehen. Im Falle der Ablehnung der Bürgerinitiative ist auch keine Volksabstimmung vorgesehen. Dennoch sehen wir die Europäische Bürgerinitiative positiv, verbindet sich damit doch die Hoffnung, dass sich mit der unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeit die Kenntnis und das Verständnis über die europäische Politik und das dortige Gesetzgebungsverfahren erhöhen. Das Interesse an Europa soll gesteigert werden und für Europa-Kritiker soll es schwieriger werden, zu argumentieren, dass ausschließlich ferne EU-Bürokraten über machtlose Unionsbürger entscheiden. Aufgrund der Tatsache, dass die Unterstützer aus mindestens sieben Mitgliedstaaten kommen müssen, ist eine Vernetzung von nationalen Bewegungen und Organisationen erforderlich, wodurch ein transnationales, europäisches Bewusstsein vertieft werden soll.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein Fokus liegt auf Europa, und das leider nicht nur positiv. Die Zeitungen sind voll von Europa. Es geht um die Finanzkrise, es geht um Milliardenrettungspakete, es geht um drohenden Staatsbankrott und tiefe Einschnitte in die Lebensumstände der Bürger. Im Kern aber geht es um den Zusammenhalt Europas und seine Legitimation gegenüber seinen Bürgern, die zunehmend den Eindruck haben, dass anonyme Zirkel und Mächte über ihre Köpfe hinweg über ihre Zukunft und die ihrer Kinder entscheiden. Die Einführung einer Europäischen Bürgerinitiative stellt vor diesem Hintergrund eine enorme Chance dar. Sie kann den Menschen die Möglichkeit und das Gefühl geben, Europapolitik nicht ausgeliefert zu sein, sondern diese aktiv mitgestalten zu können. Bürgerwille und Protest sind bereits jetzt ein wichtiges Korrektiv zu politischen Entscheidungen. So ist es dem stetigen Beharren vieler engagierter Menschen zu verdanken, dass die Bundesregierung in ihrer Energiepolitik nach Fukushima eine Kehrtwende vollzogen und die erst 2010 beschlossenen Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken zurückgenommen hat. Die neuen Medien und sozialen Netzwerke eröffnen uns zugleich die Möglichkeit, jenseits traditioneller Medienhoheit Themen über nationale Grenzen hinweg zu kommunizieren und sich politisch zu organisieren. Ein gutes Beispiel ist die „occupy-Bewegung“, egal wie man inhaltlich dazu stehen mag. Wer den Bürger in Europa aber lediglich auf die Straße als Artikulationsmöglichkeit verweist, wird ihn Zu Protokoll gegebene Reden auf Dauer gegen die europäische Idee mobilisieren und nicht für sie gewinnen. Will Europa von den Bürgern als ihres begriffen werden, so muss es ihnen jenseits der sehr indirekten Strukturen von Rats-, Kommissions- und Parlamentsentscheidungen direktere demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich von Anfang an für die Europäische Bürgerinitiative ausgesprochen und den Prozess begleitet. Da gibt es deutliche Erfolge zu verzeichnen! Die notwendige Unterstützeranzahl einer solchen Initiative wurde von 160 000 Bürgerinnen und Bürger auf 72 000 reduziert. Die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unterstützer kommen müssen, wurde von neun auf sieben gesenkt. Das ist erfreulich, denn Bürgerinnen und Bürger aus einem Viertel der Mitgliedstaaten können bereits sicherstellen, dass es um Fragen von europaweitem und nicht nur nationalem Interesse geht. Bedauerlich ist, dass der Zeitraum für die Sammlung von Unterstützungsbekundungen nicht von zwölf Monaten auf achtzehn Monate erhöht wurde. Wir haben damals schon gesagt, dass es einen enorm hohen Aufwand bedeutet, Menschen aus so vielen EU-Mitgliedstaaten miteinander zu vernetzen und dass das angemessen bei der Zeitraumbestimmung berücksichtigt werden sollte. Trotz allem ist es jetzt dringend geboten, die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in Europa zügig Realität werden zu lassen. Die EU-Verordnung zur Europäischen Bürgerinitiative soll im April 2012 in Kraft treten. Bis dahin müssen die nationalen Regelungen angepasst sein. Es mag der Tatsache geschuldet sein, dass es hier um die Anpassung deutschen Rechts an eine ohnehin unmittelbar geltende EU-Verordnung ging, was insoweit kaum eigenständigen Regelungsgehalt aufweist. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dennoch erfreut zur Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen, einen Gesetzentwurf zur Durchführung der EU-Verordnung vorzulegen, ausnahmsweise frühzeitig ergriffen hat. Wenn die Regierungen Europas es nicht schaffen, eine Finanztransaktionsteuer in Europa durchzusetzen, dann werden mit der Europäischen Bürgerinitiative künftig die Bürgerinnen und Bürger Europas dazu die Gelegenheit haben.

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Menschen in Europa haben bis heute wenige reale Möglichkeiten, aktiv am europäischen Willensbildungsprozess teilzunehmen. Europa muss dringend nach grenzübergreifenden Beteiligungsformen über die Wahl des Europäischen Parlaments hinaus suchen. Gerade jetzt, in Zeiten der europäischen Krise und der „Wutbürger“, die sich nicht so einfach mit politischen Entscheidungen abfinden wollen, sollten die Menschen stets in Politikprozesse einbezogen werden. Sie müssen die Chance erhalten, ihre Anliegen zu artikulieren, Argumente auszutauschen und angehört zu werden. Mit der Europäischen Bürgerinitiative erhalten Menschen in Europa endlich ein direktdemokratisches Instrument, mit dem die Europäische Kommission gezwungen werden kann, in einem bestimmten Bereich initiativ zu werden. Zurzeit wird die europäische Politik von den Bürgerinnen und Bürgern der EU oft als bürgerfern und technokratisch empfunden. Dem muss entgegengewirkt werden. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein erster Schritt für mehr direkte Teilnahme an europäischen politischen Prozessen für mehr Akzeptanz für die Idee vom vereinten Europa. Sie trägt zu mehr europäischer Solidarität bei, weil sie den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten die Kraft gibt, etwas bewirken zu können. Gerade in Zeiten starker finanzieller Turbulenzen und von Zweifeln an dem europäischen Zusammenhalt ist Solidarität unabdingbar. Die Europäische Bürgerinitiative bietet neue, nie da gewesene grenzüberschreitende Partizipationsmöglichkeiten. Sie ist dazu da, um europaübergreifend über politische Fragen zu diskutieren. Sie bietet die Chance, neue, aktuelle Themen unmittelbar in die europäische Politik einzubringen. Sie ermöglicht Initiativen und die Übermittlung politischer Vorschläge direkt an die Europäische Kommission. Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Bürgerinitiative zum Element eines politischen Frühwarnsystems wird, das Defizite auf der EU-Ebene verdeutlicht. Sie kann aufzeigen, in welche Richtung sich die politischen Wünsche und Hoffnungen der Bürgerinnen und Bürger der EU entwickeln, so wie das zurzeit in Deutschland über Petitionen, insbesondere die öffentlichen Petitionen, passiert. Petitionen sind das einzige Element der direkten Demokratie auf Bundesebene. Eine klug genutzte und unbürokratisch umgesetzte Bürgerinitiative kann ein Schrittmacher für mehr Bürgernähe und Demokratie sein. Sie kann auch eine Waffe gegen die Politikverdrossenheit sein. Ich hoffe sehr, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas die Chancen für mehr Beteiligung über die Bürgerinitiative nutzen. Die Politik ist gut beraten, wenn sie die Europäische Bürgerinitiative nicht nur schnellstens und unbürokratisch umsetzt, sondern die Bürgerinitiative und ihre Breitenwirkung auch aufmerksam verfolgt, nutzt und gebührend berücksichtigt. Beschämend ist allerdings, dass es demnächst direktdemokratische Elemente in den Kommunen, Ländern und der EU gibt, und auf der Bundesebene direkte Beteiligung nur über das Petitionsrecht möglich ist.

Jimmy Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004148, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine letzte Rede zur Europäischen Bürgerinitiative, EBI, vom 10. Juni 2010 ist schon einige Zeit her. In der Zwischenzeit ist viel passiert. Die EU-Verordnung Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative wurde verabschiedet. Die Bundesregierung hat ihren Gesetzentwurf zur Umsetzung dieser Verordnung nun vorgelegt. Zu Protokoll gegebene Reden Ich freue mich sehr, dass die EBI durch diesen Gesetzentwurf immer greifbarer wird. Aus der Idee, eine europäische Möglichkeit, sich zu beteiligen, zu etablieren, ist ein konkreter Gesetzentwurf geworden, der das Verfahren zur Umsetzung einer EBI regelt. Die Idee wird also zunehmend lebendiger. Wichtig ist es, Bürgerinnen und Bürger zu einer Bürgerinitiative zu ermutigen und zu motivieren - sie mitzunehmen. Gerade deshalb ist es entscheidend, die Verfahren so benutzerfreundlich und einfach wie nur möglich zu gestalten. Das Verfahren entscheidet schließlich auch über die Häufigkeit der Anwendung einer EBI. Gleichzeitig muss natürlich auch der Datenschutz gewahrt bleiben. In meiner ersten Rede zu diesem Thema habe ich gefordert, dass der Schutz der Unterstützerdaten durch die Organisatoren und die zuständigen Behörden sichergestellt werden muss. Damals wie heute erachte ich es als besonders wichtig, dass die Möglichkeit der Sammlung von Unterschriften über das Internet möglich ist. Dies wird in Art. 6 der EU-Verordnung extra geregelt. Als erster Schritt zur Umsetzung einer EBI soll in Deutschland durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, eine Bescheinigung ausgestellt werden, die den Organisatoren einer EBI die Erfüllung der Anforderungen zum Onlinesammelsystem gemäß dieses Art. 6 Abs. 4 bestätigt. Das BSI überprüft also erst einmal das Sammelsystem der Organisatoren auf die festgelegten Datenschutz- und Sicherheitsbestimmungen. Gibt das BSI das Okay, können die Organisatoren sammeln. In der EU-Verordnung heißt es nämlich, die Onlinesammelsysteme müssen über angemessene Sicherheitsmerkmale und technische Merkmale verfügen. Dies ist zunächst natürlich sehr zu begrüßen. Der Datenschutz ist ein wichtiger Aspekt, der garantiert werden muss. Bis zum 1. Januar 2012 will die Kommission nun noch technische Spezifikationen für die Umsetzung verabschieden. Diese werde ich dann genau betrachten und analysieren. Neben der Sammlung der Daten müssen diese dann auch in einem professionellen Verfahren überprüft werden. Das fällt in die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsamtes. Die Organisatoren übermitteln also die Daten an das Amt. Dieses wird stichprobenartig die Gültigkeit der Daten überprüfen und arbeitet dafür mit den Meldebehörden zusammen. Um Missbrauch zu vermeiden ist dies ein wichtiger und richtiger Ansatz. Voraussetzung für eine EBI muss natürlich ihre Legitimität sein, die so bestätigt wird. Allerdings möchte ich die Vorgehensweise hier nicht ganz unkritisch stehen lassen. In § 3 Abs. 3 ist festgeschrieben, welche Daten mit den Melderegistern abgeglichen werden können. Darunter fallen auch frühere Anschriften und frühere Namen. In der Begründung steht, dass zunächst nur die erforderlichen Daten für den Abgleich genutzt würden, und später erst weitere wie frühere Adressen zum Tragen kämen: Das BVA beschränkt den Datenabgleich auf das zu diesem Zweck Erforderliche, beispielsweise indem es die Überprüfung zunächst nur anhand von Familienname, Vorname, Geburtstag und Anschrift durchführt und nur, wenn anhand dieser Daten keine eindeutige Identifizierung möglich ist, den Datensatz um die frühere Anschrift oder weitere Daten erweitert. Diese Abschichtung ist im Gesetzentwurf leider nicht angelegt. Hier würde ich mir eine konkretere Festlegung der Vorgehensweise wünschen. Insgesamt sollten wir uns jedoch freuen, dass wir einen Schritt weiterkommen bei der Umsetzung von mehr Mitspracherechten für alle Europäerinnen und Europäer. Gerade jetzt brauchen wir das umso mehr. Wir diskutieren über die Situation Griechenlands und die beste Lösung für ein zusammenwachsendes Europa. Allerdings bietet die Debatte auch Raum für Euro-Skeptiker und Euro-Kritiker. Ich bin davon überzeugt, dass wir durch mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger das Gemeinschaftsgefühl für unser Europa weiter stärken können. Die EBI ist eine Methode, die Europäische Union bürgernäher zu gestalten. Hier müssen wir alle über weitere Möglichkeiten nachdenken, die europäische Politik für die Bürgerinnen und Bürger transparenter und verständlicher zu machen. Ich habe mir jetzt erst einmal den 1. April 2012 als Geburtstag der EBI im Kalender markiert, den ich gerne mit allen Europäerinnen und Europäern gemeinsam feiern möchte. Ich hoffe, dass besonders aus Deutschland viele interessante Initiativen kommen werden.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir beraten heute ein Gesetz zur Durchführung einer europäischen Verordnung, die keinen großen Wurf darstellt, sondern nur ein kleiner Schritt in Richtung Beteiligungsdemokratie ist. Die EU-Verordnung 211/2011 ermöglicht ab April 2012, dass mindestens 1 Million Staatsangehörige aus mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten die Europäische Kommission auffordern, eine Gesetzesinitiative zu ergreifen. Wir sollen nun die entsprechenden gesetzlichen Bedingungen dafür schaffen, dass diese Verordnung umgesetzt werden kann. Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht mehr als ein Massenpetitionsrecht, und es fehlt ihr an Verbindlichkeit. Mit dieser Unverbindlichkeit wird ein grundlegendes Defizit fortgeschrieben, das der Vertrag von Lissabon postulierte und das die Linke kritisiert. Er verweigert seinen Bürgerinnen und Bürgern direktdemokratische Partizipation. Auch mit der Europäischen Bürgerinitiative bekommen sie nichts an die Hand, das es ihnen ermöglicht, direkten Einfluss auf die Politik der Europäischen Union zu nehmen. Meine Fraktion hat im Juni vergangenen Jahres den Antrag „Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlich gestalten“ ins Parlament eingebracht, mit dem der Versuch unternommen wurde, aus dem halbherzigen Angebot zumindest noch das Bestmögliche im Sinne der BürZu Protokoll gegebene Reden gerinnen und Bürger zu machen. Wir haben goutiert, dass die Europäische Bürgerinitiative ein Instrument sein kann, grenzüberschreitende Debatten anzustoßen und zum Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen. Wir haben aber auch gesagt, einen Schritt zur unmittelbaren Volksgesetzgebung stelle sie indes nicht dar. Aber, wie wir - im Zusammenhang mit der Frage nach Volksabstimmungen zu europäischen Fragen - erst wieder in den vergangenen Tagen seitens der CDU hören konnten: Es ist auch gar nicht gewünscht, dass die Menschen in diesem und allen anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union mehr Beteiligungsmöglichkeiten haben und größeren Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat es deutlich gemacht, indem er sagte: „Das Hauptproblem der Leute scheint mir nicht zu sein, dass sie sich von Entscheidungen ausgeschlossen fühlen, die sie selbst fällen möchten. Im Gegenteil: Die meisten fühlen sich von diesen Fragen zwar betroffen, aber auch überfordert. Sie wollen doch nicht ernsthaft die Entscheidung anstelle der gewählten Gremien treffen.“ Diese Art des Paternalismus ist es, die den Geist des Vertrages von Lissabon ausmacht und die verhindert, dass wir in Deutschland und in der EU auch nur ein Stück vorankommen in Richtung direkter Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung. Eine ehrliche Antwort aller Bundestagsabgeordneten auf die Frage, ob sie vollständig verstehen, worüber sie beim dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM abstimmen, oder sich überfordert fühlen, überraschte uns sicher. Gut ist, dass die Bundesregierung mit dem vorliegenden Entwurf zur Europäischen Bürgerinitiative zumindest von ihrem ursprünglichen Plan, die Kosten, die bei Onlinebürgerinitiativen entstehen, teilweise an die Organisatoren durchzureichen, absieht. Es wäre auch einer Verhöhnung der Menschen gleichgekommen, die initiativ werden und sich im Sinne der Fortentwicklung unserer Demokratie engagieren. Die EBI ist keine bedeutende Neuerung in Richtung „Europa für Bürgerinnen und Bürger“. Sie bietet zwar vernetzten Organisationen die Möglichkeit, initiativ zu werden; für alle anderen aber ist sie zu elitär. Die EBI hat kein wirkliches Initiativrecht und bietet keine Möglichkeit, die Politik tatsächlich zu beeinflussen. So entsteht kein europäisches Bewusstsein, das sich daraus nährt, auf politische Prozesse einwirken, sie mitgestalten zu können. Sie ist nur ein bisschen mehr als Kosmetik und hat mit wirklicher europäischer Bürgerbeteiligung wenig zu tun. Sie wird das strukturelle Demokratiedefizit der Europäischen Union nicht aufheben, auch weil es die Mitgliedstaaten der Union sind, die ein europäisches Bewusstsein zu verhindern suchen. Wir fordern die Bundesregierung auf, auf europäischer Ebene die Initiative für mehr direkte demokratische Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung zu ergreifen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Jahr 2012 wird für Europa und die europäische Idee ein gutes Jahr. Ab dem 1. April 2012 wird es für jede Europäerin und jeden Europäer möglich sein, eine Europäische Bürgerinitiative einzuleiten. Adressat der Initiative ist die EU-Kommission. Sie soll geeignete Handlungsvorschläge zu Themen unterbreiten, die der Umsetzung der europäischen Verträge dienen. In Zeiten, in denen sich Europa in einer tiefen Krise befindet wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ist die Europäische Bürgerinitiative Balsam für die Seele eines jeden überzeugten Europäers. Die europäische Integration kommt damit unmittelbar bei den Bürgerinnen und Bürgern an. Jetzt können die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union direkt die Politik der Europäischen Union mitgestalten, zusätzlich zu den alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Die Europäische Union etabliert mit der Europäischen Bürgerinitiative das erste staatenübergreifende Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit. Die damit einhergehende Ausstrahlungskraft dürfte auch über die Grenzen Europas hinaus wahrgenommen werden. Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Verordnung über die Bürgerinitiative gibt dieser Bundesregierung gleichwohl keinen Grund, sich auf die Schulter zu klopfen. Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht auf engagiertes Betreiben der Bundesregierung oder der Regierungsfraktionen entstanden. Das deckt sich im Übrigen auch mit Ihrem mäßigen Engagement für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. An der Wiege der Europäischen Bürgerinitiative standen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union und ihre Initiativen. Wir Grünen haben diesen Prozess von Anfang an intensiv begleitet und uns bereits im Europäischen Konvent, später im Europäischen Parlament und auch hier im Bundestag für eine bürgerfreundliche Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative eingesetzt. Die Bundesregierung unterdessen versuchte in ihrem ersten Entwurf zur Umsetzung der EU-Verordnung, die Bürgerinitiative gen null zu führen. Wie sonst lässt sich erklären, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger für die Wahrnehmung ihres demokratischen Rechts zur Kasse gebeten werden sollten? Die Bundesregierung hatte allen Ernstes vor, die Kostenlast zur Zertifizierung von Onlinesammelsystemen auf die Organisatorinnen und Organisatoren der Bürgerinitiativen abzuwälzen. Unser Protest vom 18. Juli dieses Jahres hat dazu beigetragen, diese von der Bundesregierung beabsichtigte Hürde gegen mehr direkte Demokratie zu verhindern. Damit sind die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben, nun ausreichend gewahrt. Gemeinsam können wir daher feststellen, dass die kostenfreie Nutzung der Europäischen Bürgerinitiative ein Erfolg ist. Es ist auch ein Erfolg, dass die Hürden, die die Europäische Kommission zunächst in die Ausgestaltung der Bürgerinitiative eingebaut hatte, nun abgebaut sind. Wir Grünen haben daran intensiv mitgearbeitet. Im Einzelnen: Die Anzahl der Mitgliedstaaten, in denen Unterschriften für die Initiative gesammelt werden müssen, ist auf ein Viertel, also auf jetzt sieben Mitgliedstaaten, abgesenkt worden. Die Zulässigkeitsprüfung findet gleich am Anfang - und nicht erst nach dem Sammeln von über 300 000 Unterschriften - statt. Die Initiatoren zulässiZu Protokoll gegebene Reden ger Bürgerinitiativen haben ein Recht auf Anhörung bei der EU. Die Kommission und das Europäische Parlament stellen sicher, dass diese Anhörung im Europäischen Parlament stattfindet, dass gegebenenfalls andere Organe und Einrichtungen der Union an der Anhörung teilnehmen und dass die Kommission auf geeigneter Ebene vertreten ist. Bürgerinnen und Bürger können damit nicht mehr nur mit einem Brief der EU-Kommission abgespeist werden. Es wird eine Open-source-Software für die Onlineunterschriftensammlung geben. Die Europäische Kommission wird eine Kontaktstelle für Beratungen und Nachfragen einrichten. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber sie ist nur ein erster Schritt. Wir Grüne wollen mehr. Wir wollen, dass sich die EU-Kommission nicht nur mit dem Anliegen der Initiative befassen muss, um dann eventuell nach Belieben einen entsprechenden Gesetzesvorschlag zu erarbeiten. Wir wollen mehr direkte Entscheidungsmöglichkeiten, die über die bloße Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Agenda hinausgehen. Europa sollte seinen Bürgerinnen und Bürgern mehr zutrauen. Wir tun es und fordern auch die Bundesregierung und die Regierungskoalition dazu auf. Vertrauen Sie den Menschen, und öffnen Sie die Türen für mehr Demokratie in der Europäischen Union!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7575 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Nachhaltige Entwicklung in Subsahara-Afrika durch die Stärkung der Menschenrechte fördern - Drucksache 17/7370 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. - Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin- nen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7370 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein- verstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 4 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über Verkündung und Bekanntmachungen - Drucksache 17/6610 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 17/7560 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Mechthild Dyckmans Ingrid Hönlinger Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Art. 82 GG verlangt, dass die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze im Bundesgesetzblatt verkündet werden. Das vorliegende Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Verkündung und Bekanntmachungen setzt an dieser grundgesetzlichen Regelung an und geht einen fortschrittlichen Weg, indem es die nicht mehr zeitgemäße Form der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt durch eine elektronische Form der Veröffentlichung im Bundesanzeiger ersetzt. Der Bundesanzeiger wird nun ausschließlich in elektronischer Form erscheinen, da das Nebeneinander von Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger nicht mehr erforderlich und zudem unwirtschaftlich ist. Wie die bisherige gedruckte Fassung des Bundesanzeigers enthält auch die elektronische Form zwei Teile; einen amtlichen Teil und einen Teil für beispielsweise gerichtliche Bekanntmachungen, Bekanntmachungen der Kommunen und gesellschaftsrechtliche Bekanntmachungen. Die beschriebenen Bekanntmachungen und Verkündungen erhalten ihre rechtsverbindliche Fassung mit der Einstellung in das Internet. Personen ohne Internetzugang erhalten Ausdrucke des Bundesanzeigers oder bestimmter Teile des Bundesanzeigers gegen ein Entgelt. Drei Aspekte sprechen für die ausschließliche Veröffentlichung in elektronischer Form: Zuerst ist hier zu nennen, dass der Zugang der Bevölkerung zu den Gesetzestexten deutlich vereinfacht wird. Gleichzeitig erhält der Informationssuchende die Möglichkeit, die Suchfunktionen der elektronischen Fassung zu nutzen und einen umfassenden Einblick in die jeweiligen Ausgaben des Bundesanzeigers zu erhalten. Somit gewinnt der Informationssuchende Zeit bei der Recherche, und die Zurverfügungstellung der zu verkündenden Texte erfolgt ebenfalls ohne Zeitverzug. Weiter wird der Zugang aus dem Ausland erst durch die elektronische Veröffentlichung ermöglicht. Durch die elektronische Veröffentlichung erhält somit nicht nur jeder in Deutschland wohnende Interessierte Zugang, sondern auch jede Person, die im Ausland wohnt und Interesse an den in Deutschland verkündeten Texten hat. Im europäischen Kontext wird so ein Zusammenwachsen gefördert. Letztlich können durch die Umstellung auf die elektronische Verkündung bei Druck und Vertrieb Kosteneinsparungen realisiert werden. Diese Einsparungen kommen der Wirtschaft zugute. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass nach dem Vertrag mit der Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft Kostensenkungen weiterzugeben sind. Mit dem heute zu beschließenden Gesetz zur Änderung von Verkündung und Bekanntmachungen wird aber gleichzeitig eine Korrektur des Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung vom 29. Juli 2009, Bundesgesetzblatt I, Seite 2258, beschlossen. Die entsprechenden Korrekturen und Änderungen sind im Wesentlichen die grundlegende Neukonzeption der Vermögensverzeichnisse und der Schuldner-verzeichnisse. Die Vermögensverzeichnisse und die Schuldnerverzeichnisse werden derzeit in Papierform geführt und lokal bei den einzelnen Vollstreckungsgerichten verwaltet. Dies beeinträchtigt die Effektivität von Vollstreckungsmaßnahmen des Gläubigers erheblich. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung am 1. Januar 2013 werden die Vermögensverzeichnisse künftig in jedem Land zentral an einem Vollstreckungsgericht verwaltet. Die Schuldnerverzeichnisse werden zentral an diesem Vollstreckungsgericht geführt. Beides erfolgt künftig in elektronischer Form. Im Zuge der Ausarbeitung der Verordnung über das Vermögensverzeichnis hat sich Anpassungsbedarf bei den gesetzlichen Grundlagen für den Erlass der Verordnungen ergeben. Die Änderungen sind für den Erlass einer widerspruchsfreien Verordnung, die auf die praktischen Bedürfnisse der Länder abgestimmt ist, zwingend notwendig. Das Gesetz über Änderungen von Vorschriften über Verkündungen und Bekanntmachungen, das einerseits eine elektronische Form des Bundesanzeigers festlegt und gleichzeitig einige notwendige Korrekturen an dem Gesetz zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung vornimmt, stellt für den interessierten Bürger eine Erleichterung in zeitlicher Hinsicht dar und schafft eine zeitnähere Informationsmöglichkeit des Bürgers. Gleichzeitig führt die Einführung des elektronischen Bundesanzeigers zur Einsparung von Druck- und Vertriebskosten, ohne solche Kosten ungerechtfertigter Weise umzuverteilen. Auch im Hinblick auf die Entwicklungen in der Europäischen Union ist die Einführung des elektronischen Bundesanzeigers notwendig. Das Amtsblatt der Europäischen Union wird nun elektronisch veröffentlicht. Das entsprechende Gesetz wurde am 27. Oktober 2011 in zweiter und dritter Lesung beraten und angenommen. Damit nun der deutsche Standard der Veröffentlichung des Bundesanzeigers nicht hinter dem europäischen Standard zurückbleibt, ist die Einführung des elektronischen Bundesanzeigers unabdingbar. Der Einwand, dass nicht jedem der Zugang zum Bundesanzeiger möglich sei, da Ausdrucke nur gegen Entgelt erhalten werden können, schlägt fehl. § 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über Verkündungen und Bekanntmachungen schreibt fest, dass Veröffentlichungen im amtlichen Teil des Bundesanzeigers von jedermann unentgeltlich ausgedruckt und gespeichert werden können. Lediglich der Bezug einzelner Veröffentlichungen ist entgeltpflichtig. Jeder hat mithin die Möglichkeit, den amtlichen Teil des Bundesanzeigers entgeltfrei einzusehen. Da das vorliegende Gesetz mithin bei Schaffung vieler Vorteile für den interessierten Bürger und sogar finanzieller Einsparmöglichkeiten keinerlei Nachteile birgt, darf ich um die Zustimmung zu diesem Gesetz werben. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass die christlichliberale Koalition selbst bei so praktischen Vorhaben wie der elektronischen Veröffentlichung des Bundesanzeigers gleichzeitig fortschrittliche und an den Interessen der Bürger orientierte politische Entscheidungen fällt.

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Bundesanzeiger soll künftig ausschließlich elektronisch geführt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Verkündungs- und Bekanntmachungswesen des Bundes für den Bereich der Verkündungen und Bekanntmachungen im Bundesanzeiger nur noch elektronisch erfolgen. Die Rechtsnormen sind der Öffentlichkeit in einer Weise förmlich zugänglich zu machen, dass die Betroffenen sich verlässlich Kenntnis von ihrem Inhalt verschaffen können. Nach Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Rechtsverordnungen des Bundes werden nach Art. 82 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes von der Stelle, die sie erlässt, ausgefertigt und grundsätzlich ebenfalls im Bundesgesetzblatt verkündet. Rechtsverordnungen können alternativ gemäß Art. 82 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit den Regelungen des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen, RVVerkG, auch im Bundesanzeiger verkündet werden. In elektronischer Form sollen Verkündungen und Bekanntmachungen im Bundesanzeiger künftig unproblematisch bereitgestellt werden. Die Bezeichnung „Bundesanzeiger“ wird weitergeführt. Das nutzt dem Bekanntheitsgrad des Organs und unterstreicht die grundgesetzlich geforderte Verlässlichkeit. Ein wichtiges Argument für die ausschließliche Einführung des elektronischen Bundesanzeigers ist die erhebliche Kosteneinsparung. Druck und Vertrieb des Zu Protokoll gegebene Reden Bundesanzeigers verursachen hohe Kosten. Der Aufwand für die Herstellung einer Papierausgabe für Informationen, wie etwa Tarife oder technische Regeln, die nur von einem vergleichsweise kleinen Kreis von Spezialisten nachgefragt werden, ist unverhältnismäßig. Der Gesetzentwurf führt zu Recht aus, dass mit dem elektronischen Bundesanzeiger inzwischen eine funktionsfähige elektronische Veröffentlichungsmöglichkeit besteht, die dem bisherigen gedruckten Bundesanzeiger überlegen ist. Durch die Veröffentlichung im elektronischen Bundesanzeiger werden die Rechtsnormen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der gedruckte Bundesanzeiger wurde nur noch von etwa 1 700 Abonnenten bezogen. Die elektronische Fassung bietet über das Internet eine sehr gute Verbreitungsmöglichkeit. Zu Recht wird im Gesetzentwurf festgestellt, dass ein Nebeneinander von Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger damit nicht mehr erforderlich und unwirtschaftlich ist. Durch eine Zusammenführung der verschiedenen Verkündungen im elektronischen Medium können die Anforderungen an eine ordentliche Verkündung auf Vollständigkeit einerseits und einfache Handhabbarkeit sowie zügige Veröffentlichung andererseits ideal erfüllt werden. Bei der Bekanntmachung muss aber auch die Identität des Textes selbst sichergestellt werden. Dies betrifft zum einen die „Authentizität“, die inhaltliche Übereinstimmung mit der Originalvorlage. Das hat auch mit „Amtlichkeit“ zu tun. Die Bürgerinnen und Bürger vertrauten darauf, dass fehlerhafte oder gar falsche Texte schnell erkannt und publik gemacht werden. Dieses Vertrauen, das vor allem auch mit der greifbaren Verfügbarkeit der Hefte verbunden ist, fehlt dem elektronischen Dokument. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Erscheinungsbild eines Gesetzblattes imitiert wird und gezielt Fälschungen in Umlauf gebracht werden. In den Begründungen zu den einzelnen Paragrafen des Gesetzentwurfs ist zur Umsetzung des § 7 die Verwendung und Beifügung einer qualifizierten elektronischen Signatur entsprechend dem Signaturgesetz vorgesehen. Die Überprüfung sollte aber für den Anwender direkt möglich sein, das heißt, die Überprüfung muss direkt auf der Webseite des Bundesanzeigers angeboten werden. Es darf nicht sein, dass die Anwender eine Software von Drittanbietern erst auswählen, dann downloaden und installieren müssen. Zum anderen betrifft dies die Formatierung der Inhalte. Die Sicherungsanforderungen des § 7 Abs. 2 sehen vor, dass ein Dokument in einem ständig und dauerhaft verfügbaren und lesbaren Format bereitgestellt wird. Durch technische Vorkehrungen muss sichergestellt sein, dass nachträgliche inhaltliche Veränderungen eines Dokuments zuverlässig erkennbar sind. Dies kann nach unserer Auffassung und bestätigt durch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Recht und Informatik e. V., die DGRI, das PDF-Format gewährleisten. Das Portable Document Format ist ein ständig und dauerhaft verfügbares Format, das den ISOStandards entspricht. Der Änderungsantrag der Regierungsfraktionen betrifft fast ausschließlich unwesentliche redaktionelle Änderungen. Außerdem soll durch Änderung des § 802 k Abs. 1 ZPO ({0}) künftig ermöglicht werden, dass die Länder eine zentrale und länderübergreifende Datensammlung einrichten und per Internet verfügbar halten können, unter der eine Einsichtnahme in die Vermögensverzeichnisse möglich ist. Diese soll allerdings erst im Jahr 2013 in Kraft treten. Vermögensverzeichnisse müssen angelegt werden im Rahmen der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung nach der Abgabenordung wegen Steuerschulden und im Rahmen einer Vermögensauskunft, die vom Gerichtsvollzieher bei der Vollstreckung von Geldforderungen abverlangt werden kann. Die Einsichtnahme ist möglich für Gerichtsvollzieher, Vollstreckungsgerichte, Insolvenzgerichte, Registergerichte und Strafverfolgungsbehörden. Bisher gibt es eine solche bundesweite Datensammlung nach § 882 b ZPO nur für das Schuldnerverzeichnis, in das Name, Adresse, Geburtsdatum und Aktenzeichen von Schuldnern eingetragen werden, wenn die Eintragung im Rahmen der Zwangsvollstreckung, der Eintreibung einer Steuerschuld oder im Rahmen eines Insolvenzverfahrens angeordnet wird. Die zentrale bundesweite Sammlung von Vermögensverzeichnissen ist ein großer Datensammelschritt, aber richtig. Ohne diese Sammlung müssten die Behörden und Gerichte erst das bundesweite Schuldnerverzeichnis einsehen und dann in den Ländern nachforschen, ob es dort Vermögensverzeichnisse gibt.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Verkündung und Bekanntmachungen hat zum einen das Ziel, den Bundesanzeiger künftig ausschließlich elektronisch über das Internet herauszugeben. Darüber hinaus werden weitere Änderungen der ZPO und der Abgabenordnung vorgenommen, die im Wesentlichen Korrekturen hinsichtlich der Vorschriften über die Vermögensverzeichnisse enthalten. Diese unterschiedlichen Regelungsmaterien bedingen auch eine Anpassung des Titels des Gesetzes. Der Bundesanzeiger wird künftig ausschließlich elektronisch über das Internet herausgegeben werden. Damit wird das Nebeneinander von Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger, das seit Inbetriebnahme der elektronischen Veröffentlichung im Jahr 2002 besteht, aufgegeben. Der gedruckte Bundesanzeiger, dessen Druck und Vertrieb hohe Kosten verursachen, wurde zuletzt nur noch von etwa 1 200 entgeltpflichtigen Abonnenten in einer Stückzahl von 1 700 Exemplaren bezogen, während die Verbreitungsmöglichkeit über das Internet wesentlich mehr Interessenten erreicht. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, über den eigenen Internetanschluss, ein Internetcafe oder eine öfZu Protokoll gegebene Reden fentliche Bibliothek Einsicht in den elektronischen Bundesanzeiger zu nehmen. Daneben erhalten Personen, die mit dem Internet nicht umgehen wollen oder können, die Möglichkeit, Ausdrucke des Bundesanzeigers oder bestimmter Teile davon gegen Entgelt zu beziehen. Die elektronische Veröffentlichung wird inzwischen aufgrund spezieller Ermächtigungen in verschiedenen Gesetzen sicher und erfolgreich auch für die Verkündung von Rechtsverordnungen genutzt. Damit liegen ausreichende Erfahrungen mit diesem Medium vor, und ein Nebeneinander von gedruckter Fassung und elektronischem Bundesanzeiger ist nicht mehr erforderlich und darüber hinaus auch unwirtschaftlich. Durch die neue Form der Veröffentlichung wird der Zugang der Bevölkerung zu den Gesetzestexten wesentlich verbessert. Die Gesetze werden schneller und leichter auffindbar und auch die jederzeitige Einsicht vom Ausland her wird erst durch die elektronische Verkündung möglich. Wichtig ist, dass die Funktion des Bundesanzeigers als Bekanntmachungs- und Verkündungsorgan erhalten bleibt, und ebenso wichtig ist, dass ein sicheres Verfahren entwickelt wurde, das Authentizität und Dauerhaftigkeit der veröffentlichten Texte gewährleistet. Mit der Umstellung auf die alleinige elektronische Verkündung und Bekanntmachung des Bundesanzeigers können auch praktische Erfahrungen gesammelt werden auf dem Weg zu einem einheitlichen elektronischen Rechtsinformationssystem. Der zweite Hauptgegenstand des Gesetzentwurfs betrifft im Wesentlichen Korrekturänderungen des Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung, das zum 1. Januar 2013 in Kraft tritt und eine Vielzahl von Verbesserungen bei der Informationsgewinnung bei der Durchführung der Zwangsvollstreckung mit sich bringt. Schuldnerund Vermögensverzeichnis werden künftig zentral verwaltet und in elektronischer Form geführt, wobei die Einzelheiten betreffend Verwaltung und Löschung der Verzeichnisse durch Rechtsverordnung geregelt werden. Im Rahmen der Ausarbeitung der Verordnungen hat sich ein Korrekturbedarf bei den gesetzlichen Grundlagen für ihren Erlass ergeben, der zeitnah vorgenommen werden muss, damit die Länder ausreichend Gelegenheit haben, die elektronische Führung der Verzeichnisse einzuführen. Dabei befürworten die Länder ausdrücklich einen einheitlichen bundesweiten Abruf der Vermögensverzeichnisse über eine Adresse im Internet. Dies soll durch § 802 k Abs. 1 ZPO ermöglicht werden. Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zeigt der Gesetzgeber, dass er die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie auch in Gesetzgebung und öffentlicher Verwaltung verantwortungsbewusst einsetzt.

Jens Petermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004128, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Bundesanzeiger wird seit Jahrzehnten in Papierform durch das Bundesministerium für Justiz veröffentlicht. Daneben wurde am 30. August 2002 der elektronische Bundesanzeiger eingerichtet. Beide werden mittlerweile für gesellschaftliche und amtliche Bekanntmachungen sowie für die Verkündung von Rechtsverordnungen genutzt. Im Zuge der Entwicklung hin zu einer papierlosen bzw. papierarmen Verwaltung begrüßt die Linke die ausschließlich elektronische Herausgabe des Bundesanzeigers über das Internet. Zudem ist nach Ausführungen des Statistischen Bundesamtes die Bedeutung der kostenintensiven Papierform stark zurückgegangen. Alles in allem ein Schritt in die richtige Richtung. Doch nun kommt das obligatorische Aber der Linken: Der umfangreiche Änderungsantrag der Koalition zu ihrem eigenen Gesetzentwurf beseitigt fast ausschließlich Fehler, die redaktioneller Natur sind. Aber: Ganz am Ende taucht auf einmal ein neuer Artikel zur Zivilprozessordnung auf. Und was regelt dieser? Absolut gar nichts, was mit dem elektronischen Bundesanzeiger zu tun hat. Nein, laut Begründung werden vermeintliche Fehler, die mit dem Gesetz zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung gemacht wurden, ausgebügelt. Das heißt, in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren zu einer speziellen Sachmaterie wird eine vollkommen neue Sachmaterie ohne Bezug zum ursprünglichen Gesetz behandelt. Und um dem ganzen Vorgang noch eine Krone aufzusetzen, hat die Koalition versucht, das gesamte Verfahren ohne Debatte in einer ersten, zweiten und dritten Lesung durch den Bundestag zu schleusen. Aber nicht mit uns! Die Vorgehensweise, einfach einem Gesetzentwurf durch einen Änderungsantrag eine völlig fremde Materie ohne Sachzusammenhang anzuhängen, in der Hoffnung, dass es niemand bemerken wird, ist unseres Erachtens eine unzulässige Umgehung der formellen Vorschriften zum Gesetzgebungsverfahren. Auf diese Weise wird die erste Lesung der neuen Sachmaterie übergangen, sodass sich der Bundestag nicht in verfassungskonformer Weise mit der Materie beschäftigen konnte. Meine Damen und Herren der Koalition, es hat schon seinen Sinn, jede Gesetzesänderung in drei Lesungen im Bundestag zu verhandeln. Finden Sie nicht? Da die Koalition diese Verfahrensweise häufiger wählt, habe ich beim Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages ein Gutachten in Auftrag gegeben. Dieses hatte die Frage zu klären, ob dieses Omnibusverfahren mit Art. 76 Abs. 1 Grundgesetz vereinbar ist. Darin heißt es: Eine Veränderung eines Gesetzentwurfs durch Änderungsbeschlüsse des federführenden Ausschusses würde verfassungsrechtlich dann problematisch, wenn sie auf ein dem Ausschuss nicht zustehendes Gesetzesinitiativrecht hinauslaufen würde. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages regelt, dass die Ausschüsse dem Bundestag bestimmte Beschlüsse nur empfehlen dürfen, wenn sie sich auf die in ihren Vorlagen oder mit diesen in unmittelbaren Sachzusammenhang stehenden Fragen beziehen. Ein eigenes Initiativrecht gegenüber dem Plenum steht den Ausschüssen nicht zu - § 62 Abs. 1 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Zu Protokoll gegebene Reden Der Geschäftsordnungsausschuss hat in seiner Auslegungsentscheidung vom 15. November 1984 Folgendes festgelegt: Ausschussmitglieder dürfen bei der Beratung eines Gesetzentwurfs Anträge zu seiner Änderung oder Ergänzung einbringen, die in unmittelbarem Sachzusammenhang zu der Vorlage stehen. Ein unmittelbarer Sachzusammenhang ist anzuerkennen, wenn die Ergänzungen am Gesetzgebungsgrund oder an den Gesetzgebungszielen der ursprünglichen Vorlage anknüpfen. Da im vorliegenden Fall durch den Änderungsantrag Vorschriften zur Zwangsvollstreckung aufgenommen wurden, die mitnichten mit dem Gesetzgebungsgrund oder auch den Gesetzgebungszielen, den elektronischen Bundesanzeiger festzuschreiben, verknüpfbar sind, ist der erforderliche Sachzusammenhang nicht gegeben. Durch Annahme dieses Änderungsantrages und Vorlage zum Plenum verstößt der Rechtsausschuss gegen seine Pflicht aus § 62 Geschäftsordnung des Bundestages und maßt sich das Gesetzgebungsinitiativrecht des Art. 76 Abs. 1 Grundgesetz an. Das ist nicht hinnehmbar. Die Linke kann nicht sehenden Auges einem nicht verfassungsgemäß entstandenen Gesetzentwurf die Zustimmung erteilen und muss demnach unabhängig von den inhaltlichen Erwägungen leider mit Ablehnung votieren.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Internet und andere elektronische Medien gewin- nen in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. Über das Internet können wir auf eine unendliche Fülle von Dokumenten zugreifen. Die Informationsbeschaf- fung ist auf diese Weise leichter und vor allem schneller geworden. Im Laufe der Zeit haben wir uns immer wie- der neuen technischen Herausforderungen gestellt und haben unser Leben daran angepasst. E-Mails haben bin- nen kürzester Zeit dem Briefverkehr den Rang abgelau- fen. Eine komplett neue Infrastruktur der Kommunika- tion hat sich eröffnet. Wer kann sich heute noch eine Welt ohne elektronische Medien vorstellen? Auch die deutsche Verwaltung und Justiz haben sich den Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation gegenüber aufgeschlossen gezeigt. Eine klare Tendenz zur verstärkten Nutzung elektronischer Kommunika- tionsformen ist erkennbar. Nicht umsonst entstehen neu- deutsche Begriffe wie „E-Justice“, die elektronische Justiz. Als erfolgreiches Beispiel der elektronischen Jus- tiz möchte ich hier das EGVP nennen - das Elektroni- sche Gerichts- und Verwaltungspostfach. Das EGVP ist eine Software, die es Verfahrensbeteiligten ermöglicht, mit Gerichten, Behörden und untereinander elektroni- sche Nachrichten schnell und sicher auszutauschen. Zum einen macht dies eine effizientere Bearbeitung bei den Gerichten und Behörden möglich. Zum anderen er- leichtert es den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu Gericht und Behörden. Mitte dieses Jahres waren bereits 45 000 Nutzer des EGVP registriert, wie dem Internet zu entnehmen ist. Die elektronische Fassung des Bundesanzeigers ist bereits heute jedem Internetnutzer frei zugänglich. Die Onlineversion erleichtert nicht nur den Zugriff auf den Bundesanzeiger, sondern vereinfacht auch die Recher- che. Jede und jeder Internetnutzer kann jederzeit gezielt Informationen zu bestimmten Rubriken oder mittels Voll- textsuche erlangen. Wird die Druckversion des Bundes- anzeigers abgeschafft, wie mit dem Entwurf, den wir heute diskutieren, geplant, verringern sich Verwaltungs- aufwand und Bürokratiekosten. Die Verkündung wird beschleunigt. Deutschland kann so auch im internatio- nalen Trend hin zur verstärkten Elektronisierung mithal- ten. Die Europäische Union plant übrigens gerade, die elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen Union als rechtsverbindliche Version einzuführen. Bei allen Vorteilen dürfen wir aber nicht außer Acht lassen, dass nicht alle Bürger am technischen Fort- schritt gleichermaßen teilhaben. Deshalb müssen wir gewährleisten, dass auch Nichtinternetnutzern der Zu- griff auf den Bundesanzeiger möglich bleibt. Niemand darf aufgrund technischer Barrieren vom Informations- zugang ausgeschlossen werden oder Nachteile erleiden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht hierzu vor, dass Ausdrucke einzelner Veröffentlichungen des Bundesanzeigers gegen ein angemessenes Entgelt beim Betreiber des Bundesanzeigers bezogen werden können. Der Zugang zur elektronischen Version ist demgegen- über kostenfrei. Menschen ohne Internetzugang sind in der Regel ältere Personen oder Personen, die in sehr ländlichen Gegenden leben. Für diese ist häufig auch der Zugang zu einer Bibliothek nicht ohne Weiteres mög- lich. Wir müssen darauf achten, dass das verlangte Ent- gelt für einen Ausdruck des Bundesanzeigers tatsächlich „angemessen“ ist. Kosten, die über Bearbeitungsgebüh- ren und Porto hinaus gehen, sind nach meiner Ansicht eine unzulässige Diskriminierung der Menschen, die keinen Internetzugang haben. Dem müssen wir vorbeu- gen. Mit dem Gesetzentwurf haben wir die Möglichkeit, Erfahrungen mit Onlineveröffentlichungen zu sammeln. Diese Erfahrungen können wir auch dazu nutzen, Onlineveröffentlichungen weiterer amtlicher Blätter, wie zum Beispiel des Bundesgesetzblattes, anzustoßen. Die Elektronisierung von Dokumenten ist zwar keine neue Idee, jedoch kann sie für die elektronische Veröf- fentlichung von Bundesblättern ein Pilotprojekt bilden. Wir sollten zukunftsgerichtet denken und uns neuen Möglichkeiten nicht verschließen. Gleichzeitig sollten wir uns vom technischen Fortschritt nicht unter Druck setzen lassen. Ein Vorgehen Schritt für Schritt halte ich an dieser Stelle für den richtigen Weg.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/7560, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6610 in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bünd- nis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das ist die Linksfraktion. Vorsichts-

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzent- wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü- nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Agnes Malczak, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gegen eine Aufweichung des Verbots von Streumunition - Drucksache 17/7637 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Streumunition nicht wieder zulassen - Gegen ein Protokoll über Streumunition zum CCW - Drucksache 17/7635 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Damit ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Uta Zapf. - Bitte schön, Frau Kollegin Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns in diesem Jahr schon mehrfach mit dem Thema Streumunition beschäftigt. Im Mai und im September haben wir ein Round-Table-Gespräch mit Vertretern von Nichtregierungsorganisationen zum Thema Investitionsverbot in Firmen, die Streumunition herstellen, durchgeführt. Am 20. Oktober dieses Jahres haben wir die Reden zu diesem Antrag zu Protokoll gegeben. Heute reden wir zwar zu später Stunde darüber, aber ich glaube, es ist gut, dass wir die Reden heute nicht zu Protokoll geben; denn dieses Thema ist von großer Wichtigkeit. ({0}) Ein Aspekt im Zusammenhang mit Streumunition ist in der heutigen Debatte von ganz besonderer Brisanz: Der Inhalt und der Geist des von uns allen hochgelobten Oslo-Abkommens zum Verbot von Streumunition steht auf dem Spiel. Die Convention on Cluster Munition, CCM, wurde von uns, vom Deutschen Bundestag, eindringlich gefordert. Wir waren alle froh, dass die Bundesregierung die Konvention von Oslo sehr schnell gezeichnet hat und wir sie im Jahr 2009 ratifiziert haben. Wir sind alle sehr froh darüber, dass wir vorfristig mit der Vernichtung dieser grausamen Munition fertig sein können. In dem Protokoll, über das ich hier rede, geht es auch um Streubomben. Man muss sagen: „immer noch“; denn bereits 2008 wurde deutlich, dass ein Verbot von Streumunition nicht in die UN-Waffenkonvention aufgenommen würde. Daraufhin hat die norwegische Regierung den sogenannten Oslo-Prozess initiiert. Es entstand ein Übereinkommen zum Verbot von Streumunition außerhalb der Genfer Abrüstungskonferenz. Ich zitiere den Außenminister. Minister Westerwelle nannte diese Konvention einen „Meilenstein hin zu einer weltweiten Ächtung dieser unmenschlichen Waffen“. Jetzt will ebendieser Außenminister der Konvention jegliche Wirkung rauben, indem er bei der anstehenden vierten Revisionskonferenz vom 14. bis 25. November dieses Jahres in Genf einem zahnlosen Protokoll zustimmen will. Mir will die Logik eines solchen Verhaltens einfach nicht in den Kopf. ({1}) Das von uns ratifizierte Abkommen von Oslo beinhaltet ein umfassendes Verbot dieser grausamen Waffe, die Zivilisten, Kinder, Alte und Junge ohne Unterschied tötet, und dies noch Jahre nach Abwurf. Immerhin 111 Staaten haben die Konvention unterzeichnet; viele EU- und NATO-Staaten sind dabei. Nur die ganz großen Staaten und Besitzer dieser Waffen, vor allen Dingen die USA, Russland und China, aber auch Indien, Pakistan und einige andere - sie produzieren und verkaufen diese Munition und wenden diese an -, sind nicht dabei. Sie sind es, die auf eine Miniversion des Verbots im UN-Kontext drängen. Durch dieses Protokoll würde ihre Weigerung, auf diese inhumane Waffe zu verzichten, legitimiert. Ich glaube, das können wir nicht wollen. ({2}) Die Oslo-Konvention hat in hohem Maße zur Delegitimierung und Stigmatisierung von Streumunition beigetragen. China und Russland nehmen zum Beispiel als Beobachter an den Konventionskonferenzen teil. Beide sind nicht Vertragsstaaten und haben hohe Bestände an Streumunition. Die USA verzichten seit geraumer Zeit auf den Einsatz dieser Waffen. In dieser Situation soll im November im Rahmen der Convention on Certain Conventional Weapons, CCW, über Streumunition verhandelt werden. Das erst 2011, also kürzlich erneuerte Mandat soll sich - ich zitiere „mit der humanitären Problematik durch Streumunition … befassen und dabei eine Balance zwischen militärischen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten … wahren“. Schon dieser Satz ist eine Ungeheuerlichkeit. Das, was vorgeschlagen wird, ist noch ungeheuerlicher. Künftig wäre wieder erlaubt, was von der OsloKonferenz verboten wurde. Nur wenige Einschränkun16628 gen werden auferlegt. Produktion und Transfer bleiben erlaubt. Nur Streumunition, die vor 1980 hergestellt worden ist, wird verboten; alles andere bleibt erlaubt. Die Munition, die vor 1980 hergestellt wurde, hat eine Übergangsfrist von zwölf Jahren. Dies ist ein Nullverbot, weil derart überalterte Munition heute ohnehin nicht mehr eingesetzt wird. Der Text des Entwurfes erlaubt darüber hinaus die Nutzung für weitere zwölf Jahre. Sollte dies beschlossen werden, werden alle der Oslo-Konvention nicht beigetretenen Länder leichten Gewissens wieder Streumunition verwenden. Streumunition mit einer Fehlerquote von bis zu 1 Prozent mit integriertem Sicherheitsmechanismus wäre erlaubt. Aber Fehlerquoten sind im Test realistisch nicht feststellbar. Im Libanon wurde 2006 die M 85 eingesetzt, die eine Fehlerquote von unter 1 Prozent haben sollte; tatsächlich kam es bei ihrem Einsatz zu 15 Prozent Blindgängern. Ein solches Protokoll ist in der Tat eine Nulllösung. Die humanitäre Frage wird nicht gelöst. Im Gegenteil: Es gibt keine konkrete Verpflichtung zur Opferunterstützung, zur Munitionsbeseitigung, zur Lagerbestandsauflösung usw. Mit diesem Protokoll wird also alles, was in Oslo beschlossen wurde, wieder rückgängig gemacht. Es ist richtig - dieses Argument wird jetzt natürlich genannt werden -: Deutschland bleibt selbstverständlich an die hohen Standards von Oslo gebunden. Deutschland gäbe aber den USA, China, Russland, Pakistan, Israel und noch einigen anderen, die ein Zusatzprotokoll über Streumunition abgelehnt haben, einen Freibrief, ohne schlechtes Gewissen in die Steinzeit der Streumunition zurückzufallen. ({3}) Die Argumentation, man hole diese Staaten näher an die Oslo-Standards heran, kann ich angesichts dieses mickrigen Entwurfs nun wirklich nicht teilen. Ich zitiere aus dem Abrüstungsbericht: Die Bundesregierung glaubt, „substanzielle Verpflichtungen der großen Herstellerländer und einen deutlichen humanitären Mehrwert“ zu erzielen, der „die weltweite Streumunitionssituation entscheidend verbessern“ wird. Das glaube ich nicht. Das ist auch nicht zu erwarten. Der Vertreter eines Landes, das über große Bestände verfügt, nämlich der russische UNBotschafter Antonov, hat zu diesem Entwurf - er nennt ihn „Verbotsvertrag“ - gesagt, dieser Verbotsvertrag dürfe Russlands Verteidigungsfähigkeit in Bezug auf den Einsatz von Streumunition nicht beeinträchtigen und keine finanziellen Konsequenzen für sein Land haben, und alle technischen Vorschriften des Verbotsvertrages müssten unverbindlich formuliert sein. Ich fordere die Bundesregierung auf, über einen solchen Entwurf nicht zu verhandeln, sich dem zu verweigern und damit die Oslo-Kriterien, die wir erkämpft und unterschrieben haben, zu schützen und beizubehalten. Ich danke Ihnen. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Zapf. - Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Erich Fritz. Bitte schön, Kollege Erich Fritz. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Abrüstungsschritte und die Ächtung von bestimmten Waffen auf unterschiedlichen Feldern waren in den letzten Jahren weltweite Erfolge; da sind wir uns einig. Wir sind uns auch darin einig, dass es keinen Einsatz von Streumunition mehr geben soll und dass wir mit aller Entschiedenheit für die Beseitigung dieser Waffen kämpfen wollen. Das sind Waffen, die von der Welt verschwinden müssen. Diese eindeutige Position Deutschlands wird nicht allein daran deutlich, dass hierzulande keine Produktion solch inhumaner Waffen stattfindet. Tatsache ist auch, dass Deutschland einen erheblichen Beitrag dazu geleistet hat, dass wir mit dem CCM-Protokoll bzw. der OsloKonvention vorankommen. Dieser völkerrechtliche Vertrag beinhaltet das Verbot des Einsatzes, der Herstellung und der Weitergabe bestimmter Typen von konventioneller Streumunition und ist am 1. August 2010, wie Frau Kollegin Zapf schon gesagt hat, in Kraft getreten - ein wichtiger Schritt, den man nicht hoch genug einschätzen kann. Wünschenswert wäre nun, dass die weltweite Staatengemeinschaft den CCM-Vertrag ratifiziert. Das ist nach unserer Auffassung das Ideal. Auch mit noch so viel Idealismus ist an dieser Stelle aber leider eine eindeutige Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen: Gegenwärtig erfasst das Übereinkommen nur 10 bis 20 Prozent der weltweiten Streumunitionsbestände. Deshalb frage ich: Was muss man angesichts der Gewissheit, dass einige Staaten das CCM-Übereinkommen nicht, zumindest nicht kurz- oder mittelfristig, ratifizieren werden, tun? Was der Vertreter eines dieser Länder in aller Offenheit gesagt hat, haben wir gerade gehört. Hier wird im Prinzip die Schwäche plurilateraler Abkommen sichtbar. Häufig sind die Gutwilligen die Vertragspartner, aber die, auf die es besonders ankäme, stehen, weil sie scheinbar bedeutende Interessen wahren wollen, abseits. ({0}) Wie soll man das überbrücken? Das ist die Kunst. Das Protokoll VI zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über bestimmte konventionelle Waffen, CCW, bleibt hinter den restriktiven Festlegungen des Vertrags von Oslo zurück. Hier gibt es keine Fehldeutung; das ist eine Tatsache. Dennoch ist die Umsetzung dieses Protokolls nach unserer Auffassung wünschenswert, da es den einzigen zurzeit möglichen Einstieg in ein weltweites und mit der Autorität eines UN-Abkommens ausgestattetes Streumunitionsregime darstellt. Ein solches mit dieser Bedeutung gibt es bisher nicht. Es wäre nicht allumfassend - klar - und erreichte nicht das Niveau des Oslo-Abkommens, aber erstmals wäre die Teilnahme und Zustimmung von Russland und den Vereinigten Staaten möglich. ({1}) Ein multilateraler Ansatz unter Einbindung der Großmächte - das wäre ein solcher - brächte uns also einen Schritt in die richtige Richtung. Multilaterale Regeln würden die Politik gegen Streumunition auf eine neue, qualitativ höhere Stufe stellen. Erstens wird ein sofortiges Verbot von Streumunition, die vor 1980 hergestellt wurde, erreicht. Sie ist zu zerstören. Das kann man bagatellisieren, und darüber kann man auch gut diskutieren, aber das ist ein Zugeständnis, das nicht zu erwarten war und mit dem wir uns zunächst einmal doch zufrieden zeigen können. Zweitens gibt es ein Verbot jeder nach 1980 hergestellten Streumunition ohne Sicherheitsmechanismus. Da wir eine bestimmte Einschätzung dieser Waffen haben, tröstet uns das nicht sehr. Staaten, die diese Bedingungen nicht sofort erfüllen können, werden für nach 1980 produzierte Streumunition Übergangsfristen ermöglicht. Sie haben gleich die höchstmögliche angeführt. Eigentlich sollen es für Gebrauch, Lagerung und Rückbehalt acht Jahre sein - einmalig um vier Jahre verlängerbar. Für eine Weitergabe von Streumunition, also den Transfer, den Sie angesprochen haben, Frau Zapf, sowie für deren Beschaffung und Produktion sind Übergangsfristen dagegen nicht vorgesehen. Hier müssen Sie noch einmal hinschauen. Nicht zu verachten ist, dass die quantitative Wirkung des Protokolls von Anfang an deutlich höher wäre als die des gesamten Oslo-Übereinkommens. Eben dies ist der entscheidende Punkt. Wichtig ist im Ergebnis doch nicht die Anzahl der Staaten, die mitmachen, sondern die Menge an Munition, die keine Gefährdung mehr darstellen kann. ({2}) - Auch das, ja, klar. Der potenzielle Einsatz der ältesten und unzuverlässigsten Streumunitionstypen sowie deren Weiterverbreitung würde zumindest stark begrenzt. Das kann einem zu wenig sein und ist uns allen zu wenig. Wenn diese Möglichkeit aber besteht, dann ist es doch allein aus humanitären Aspekten geboten, sie auch zu nutzen. ({3}) Die hier eingebrachten Anträge sind hingegen Statusquo-orientiert und somit leider wenig konstruktiv. Ich meine sogar, sie mindern die Durchsetzungsfähigkeit des Verbots von Streumunition, indem sie das VN-Protokoll VI blockieren. Dabei führt dieses Protokoll dazu, dass Staaten, die das CCM-Übereinkommen noch nicht unterzeichnet haben, zumindest gewisse Limitierungen und Reglements beachten. ({4}) Mir wäre es auch lieber, die anderen Staaten hätten das Oslo-Übereinkommen ratifiziert. Ich glaube, niemand hier hat eine andere Vorstellung. Genau deshalb hat die Bundesregierung seit 2008 viele diplomatische Versuche unternommen, mehr Staaten von der Ratifizierung des CCM zu überzeugen. Aber Sie wissen, wer mit welchen Interessen und aus welchen mehr oder weniger nachvollziehbaren Gründen das nicht getan hat. Wenn wir jetzt auf die Rolle Deutschlands innerhalb der Vereinten Nationen eingehen, dann ist es vielleicht wichtig, zu erwähnen, dass angesichts unserer derzeitigen Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat und des deutschen Bestrebens, in den VN mehr Verantwortung zu übernehmen, auch ein besonderes deutsches Interesse an der Stärkung der Vereinten Nationen und seiner Institutionen besteht. ({5}) Ein Scheitern der Verhandlungen im November, das durch die Anträge in Kauf genommen oder sogar gefördert wird, würde nicht nur eine Abwertung der Vereinten Nationen im Allgemeinen, sondern auch des CCW, also des UN-Protokolls, als wichtigem Forum der Vereinten Nationen im Besonderen nach sich ziehen. Das gilt es auf jeden Fall abzuwenden. Im Gegenteil müssen wir versuchen, dieses Protokoll mit einer höchstmöglichen Autorität auszustatten. Durch das VN-Protokoll werden erstmals auch Verbotsstandards für die großen Hersteller geschaffen. Jetzt wird es vielleicht ein bisschen technisch: Eine klar definierte Bemühensklausel würde diese großen Hersteller dazu verpflichten, sich in Zukunft auf stärkere Verbote einzulassen. Sie wissen doch selbst, auf welche Prozesse man sich einlassen muss und dass man geduldig sein muss, um solche Ziele zu erreichen. Alleine die Forderung, man müsse sich auf das einlassen, was wir für richtig halten, ist ja leider kein besonders guter Beitrag zur Lösung dieser Probleme. Ich plädiere deshalb dafür, dass Deutschland in den Verhandlungen den Fokus auf eine Verschärfung der aktuellen Bemühensklausel legt. Es war Deutschland, das diese für meine Begriffe schon starke Brücke zwischen CCM und CCW in die Verhandlungen eingebracht hat. Man bedenke, dass alleine die USA 300 Millionen Stück Submunition zerstören müssten. Das ist mehr als doppelt so viel Streumunition, wie alle Oslo-Vertragsstaaten zusammen zerstören müssen. ({6}) Das ist doch eine Hausnummer. ({7}) - Sie gehen ja davon aus, dass mit einem solchen Protokoll der ganze moralische Druck sozusagen weggenommen wird. Das bestreite ich. ({8}) Wir dürfen über dem Wünschenswerten nicht das Mögliche aus den Augen verlieren. Insofern liegt es in unserem Interesse, wenigstens einen Großteil der Streumunitionsbestände so schnell wie möglich zu vernichten und die bestehende Lücke jenseits der Oslo-Zeichner zu schließen. Die legitime Forderung nach universeller Übernahme der CCM-Standards ist weiterhin unser Bestreben. Daran halten wir fest. Meines Erachtens steht das aber nicht im Widerspruch zu den Verhandlungen über ein VN-Protokoll. Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass mit der Annahme des VN-Protokolls eine verminderte Stigmatisierungswirkung einhergehen würde. ({9}) Ganz im Gegenteil belegt das Nebeneinander von AP II und Ottawa-Konvention in der ähnlich gelagerten Frage des Verbots von Antipersonenminen, dass auf einer solch zweigleisigen Strecke Fortschritte möglich sind. Rechtlich - so entnehme ich einer juristischen Experteneinschätzung - schließen sich das VN-Protokoll und die CCM-Standards nicht aus. Ich war nicht bei der Anhörung, sondern habe das nur nachgelesen. Dabei hat mich die Darstellung von Frau Dr. Jana Hertwig vom Bochumer Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht überzeugt. Sie erklärte: Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge aus dem Jahre 1969 hält für den Fall, dass Staaten Vertragsparteien aufeinander folgender Verträge über denselben Gegenstand sind, eine entsprechende Regelung in Art. 30 Abs. 2 bereit. Dort heißt es: Bestimmt ein Vertrag, dass er einem früher … geschlossenen Vertrag untergeordnet ist …, so hat der andere Vertrag Vorrang. Der VN-Protokollentwurf enthält ausdrücklich eine solche Bestimmung, in welchem Verhältnis das Protokoll zum Oslo-Übereinkommen stehen soll. In Art. 1 Ziff. 3 heißt es, dass das Protokoll die Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten des Oslo-Übereinkommens nicht beeinträchtigt. Oslo geht vor! ({10}) Das ist wichtig. Deshalb ist es keine Relativierung, sondern der Versuch der Einbeziehung derer, die bis jetzt abseits gestanden haben und die wir durch kein Mittel der Welt außer über den Schritt eines gemeinsamen Protokolls mit der Autorität der UNO in dieses System hineinbekommen. Das Oslo-Übereinkommen hat für die Vertragsstaaten also weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Ein künftiges Protokoll VI würde diesen früheren Normenstandard des CCM nicht unterminieren. Ich wünsche mir, dass zumindest dies als gemeinsame Einschätzung festgehalten werden kann. Ferner heißt es in dieser Einschätzung: Die spätere Annahme eines schwächeren Vertrages kann die progressive Weiterentwicklung rechtlicher Standards durchaus bedingen. Der VN-Protokollentwurf ist hierfür ein gutes Beispiel; denn nur mit den darin enthaltenen Zugeständnissen wird es gelingen, Staaten, die zu den wichtigsten Herstellern, Exporteuren und Besitzern von Streumunition gehören, zur Ratifizierung des Protokolls zu bewegen. - Anders als bei der Mehrzahl der OsloStaaten hätten wir es hier mit genau den Staaten zu tun, die über erhebliche Mengen an Streumunition verfügen. Das VN-Protokoll setzt zwar schwächere, aber neue Anreize für die Staaten, die große Bestände an Streumunition haben. Ich glaube, dass der eigentliche Wert des CCM-Abkommens ein hoher moralischer Anspruch an diejenigen ist, die nicht beteiligt sind, und ein Appell, sich zu bewegen. Dies wird durch eine Weiterbehandlung in diesem UN-Protokoll eher verstärkt als verringert. Unser gemeinsames Ziel bleibt, dass ein vollständiges Verbot von Streumunition am Ende des Prozesses steht. Für uns ist das UN-Protokoll dazu ein wichtiger Schritt, den wir unterstützen. Danke schön. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Erich Fritz. - Jetzt für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Inge Höger. Bitte schön, Frau Kollegin Inge Höger. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Streumunition macht ganze Regionen unbewohnbar. Dies gilt im Krieg und lange danach. Nicht explodierte Reste von Streumunition zerfetzen Bauern bei der Feldarbeit und verstümmeln Kinder beim Spielen. In diesem Sommer habe ich Minenräumer in Sarajevo besucht. Ich konnte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie kompliziert, wie opferreich und wie teuer die Beseitigung von Geschossresten ist. Deutschland hat angekündigt, auch in Libyen Minen räumen zu wollen. Das ist gut. Aber viel besser ist es, dafür zu sorgen, dass solche Waffen gar nicht erst zum Einsatz kommen. ({0}) Streumunition tötet unterschiedslos Soldaten und Angehörige der Zivilbevölkerung. Die meisten Opfer sind Zivilisten, häufig Kinder. Solche Waffen und solche Formen der Kriegsführung verbietet das humanitäre Völkerrecht eindeutig. Deswegen war es überfällig, dass im April 2009 auch der Bundestag einstimmig beschloss, die Ächtung von Streumunition durch die Ratifizierung der Oslo-Konvention umzusetzen. Für die Linke habe ich damals erklärt, dass wir diesen Schritt ausdrücklich unterstützen. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, dass es für die Zukunft gilt, noch einige Lücken, die in der Konvention enthalten sind, zu schließen und Ausnahmeregelungen ebenfalls zu verbieten. Doch nun wird auf UN-Ebene mit Unterstützung Deutschlands über Regelungen verhandelt, die komplett in die falsche Richtung gehen. Ich spreche vom Protokoll VI zum Übereinkommen über bestimmte konventionelle Waffen. Um es klar zu sagen: Was nächste Woche beschlossen werden soll, würde Streumunition wieder legalisieren. Das steht im Widerspruch zum Völkerrecht. Das sogenannte CCW-Protokoll würde lediglich veraltete Typen von Streumunition verbieten, und selbst diese würden wegen langer Übergangsfristen nicht sofort aus den Arsenalen der Militärs verschwinden. Profitieren würde von dieser Regelung die Rüstungsindustrie. Sie könnte sich über Aufträge für neue Generationen von Streumunition freuen. Das ist doch perfide. Bis jetzt war die Oslo-Konvention zum Verbot von Streumunition ein großer Erfolg. 111 Staaten sind ihr bereits beigetreten. Andere Staaten wie USA, China, Russland, Israel und Indien haben dies zwar noch nicht getan, doch der internationale Druck auf diese Staaten und der Druck von Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb dieser Staaten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dieser Druck, internationales Recht und humanitäre Standards einzuhalten, ist ein wichtiges Instrument zur Erreichung politischer Fortschritte. Das CCW-Protokoll würde diesen politischen Druck verringern. Es relativiert völkerrechtliche Standards und suggeriert, der Einsatz bestimmter Arten von Streumunition wäre völkerrechtskonform. Das ist er nicht. Der Einsatz von Streumunition ist und bleibt ein Verbrechen. ({1}) Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf: Bitte unterlassen Sie alles, was ein Ende der Ächtung von Streumunition bedeuten könnte! Lassen Sie mich an dieser Stelle auch etwas zum Agieren der anderen Fraktionen im Bundestag anmerken. Die Regierungsfraktionen haben offenbar vergessen, dass Deutschland sich mit der Ratifizierung der Oslo-Konvention verpflichtet hat, andere Staaten nicht dabei zu unterstützen, etwas zu unternehmen, was durch die Oslo-Konvention verboten ist. ({2}) Durch die Zustimmung zum CCW-Zusatzprotokoll machen Sie aber genau dies. Die FDP hätte sich an ihrer Schwesterpartei in der Schweiz orientieren können, deren Antrag wir hier fast wortgleich einbringen. Die Linke ist daran interessiert, den großen Konsens zur Ächtung von Streumunition aus dem Jahr 2009 auch weiter aufrechtzuerhalten. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Stimmen Sie nächste Woche gegen das CCW-Zusatzprotokoll! ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Höger. - Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Christoph Schnurr. Bitte schön, Kollege Christoph Schnurr. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Rückblick in eine Zeit beginnen, in der ein Krieg herrscht. In diesem Krieg kommt eine Waffe zum Einsatz, deren Folgen dramatisch sind. In ihrer Wirkung unterscheidet die Waffe nicht zwischen Zivilisten und Soldaten. Sie tötet unterschiedslos. Auch Jahre nach ihrem Einsatz bleiben die betroffenen Gebiete weitgehend unbewohnbar. Die Folgen sind so erschütternd, dass sich die Weltgemeinschaft zum Handeln gezwungen sieht. Die große Mehrheit der Staaten verpflichtet sich dazu, solche Waffen niemals mehr zu entwickeln, zu erwerben und schon gar nicht einzusetzen. Ein paar wenige Staaten sind aber nicht bereit, auf diese Waffenkategorie zu verzichten. Auch sie möchten die Waffen nicht unbedingt einsetzen. Die Option für den Ernstfall wollen sie sich trotzdem offenhalten. Einige Jahre später einigen sich die größten Besitzerstaaten auf einen Kompromiss. Zwar wollen sie die Waffen nicht sofort aufgeben, sie verpflichten sich aber, ihre Bestände deutlich zu reduzieren. Politik, Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und die Medien sind sich weitestgehend darüber einig: Das ist - bei aller verbleibenden und berechtigten Kritik - ein Fortschritt. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben es sicherlich bemerkt: Ich spreche nicht von Streumunition, sondern ich spreche über Kernwaffen. Was aber hätte ich ändern müssen, wenn ich über Streumunition gesprochen hätte? Nicht besonders viel! Es gibt noch keinen Kompromiss der größten Streumunitionsbesitzer, wie der Kollege Fritz es völlig zu Recht erwähnt hatte. Vor allem aber: Allein die Möglichkeit eines solchen Kompromisses ruft bereits heute Abend hier bei der Opposition und einigen anderen Empörung hervor. Diese Haltung haben Sie in diese beiden Anträge gegossen, die wir heute diskutieren. Sie fordern darin zum Beispiel, die Bundesregierung solle sich - so wörtlich - entschieden jedem Abkommen zu Streumunition entgegenstellen, welches einen Rückschritt gegenüber der CCM darstellt. ({0}) Ein Rückschritt wäre es aus Ihrer Sicht wahrscheinlich auch, wenn das Protokoll nicht identisch mit der CCM wäre. Dass es zu einem mit der CCM identischen Protokoll kommt, ist aber von der Realität weit entfernt und nahezu absurd. Da frage ich mich: Warum wurden die Verhandlungen in der CCW dann überhaupt aufgenommen? Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratie, hätten das 2007 und 2008 verhindern können, als es noch einen sozialdemokratischen Außenminister gab. Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, keinesfalls. Aber damals wie auch heute ist die CCW nicht nur ein Forum und ein Instrument, um das Thema Streumunition auf der internationalen Agenda zu halten, sondern eben auch ein Instrument, um Druck auf die Streumunitionsbesitzer auszuüben. Die Verhandlungen über ein Protokoll sollen auch ganz konkret auf die weltweite, rechtlich verbindliche Ächtung von Streumunition hinwirken. In den Vorbereitungssitzungen zur CCW-Überprüfungskonferenz wurde ein Protokollentwurf diskutiert, demzufolge Streumunition, die vor 1980 produziert wurde, verboten werden soll. Aus meiner Sicht ist das allein nicht ausreichend. Trotzdem muss man sich auch die Dimension dieses Vorschlages einmal vergegenwärtigen. Allein die Vereinigten Staaten müssten circa 40 Prozent oder, in absoluten Zahlen, 300 Millionen Stück ihrer Submunition vernichten. Das wäre fast die doppelte Menge dessen, was von den Oslo-Staaten zerstört werden muss. Dazu kommen andere Verpflichtungen wie die zur Opferfürsorge und zur Räumung von Kampfmittelrückständen. Wenn der Protokolltext noch verbessert werden wird, kann es also durchaus einen humanitären Mehrwert geben. Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen, warum ein Streumunitionsprotokoll nicht die Katastrophe wäre, als die Sie es gerne darstellen: die Abkommen zu Antipersonenminen. Auf der einen Seite haben wir die OttawaKonvention, auf der anderen Seite das Protokoll II zur CCW. Obwohl hier zwei unterschiedlich starke Regelungen nebeneinanderstehen, wirkt die Stigmatisierung durch das stärkere Abkommen, nämlich die OttawaKonvention, fort. So könnte es auch im Fall der Streumunition funktionieren. Ich kenne natürlich Ihre Einwände: Im Gegensatz zur Regelung bei Antipersonenminen würde bei der Streumunition das schwächere dem stärkeren Abkommen folgen. Sie folgern daraus, dass die Stigmatisierung von Oslo verloren ginge. Zu dieser Einschätzung kann man kommen, ja; belegen lässt sie sich allerdings nicht. Ich komme deshalb zu einer anderen Bewertung - die Gründe dafür habe ich gerade dargelegt -: Ein Streumunitionsprotokoll in Genf kann - ich sage ausdrücklich: kann - ein Zwischenschritt hin zu einem universellen Verbot dieser Waffenkategorie sein. Der Protokollentwurf für das letzte Vorbereitungstreffen im August - das sage ich ebenfalls ganz deutlich an dieser Stelle - gibt das noch nicht her. Hier muss es noch substanzielle Verbesserungen geben, vor allem bei der Definition, welche Munition verboten wird. Meine Damen und Herren, unser Ziel ist am Ende doch das gleiche: Wir wollen, dass Streumunition weltweit geächtet wird. Auch die Bundesregierung hat sich immer wieder zu diesem Ziel bekannt. Der Bundesaußenminister wurde zu Recht mit seinen sehr intelligenten und klugen Äußerungen in dieser Hinsicht schon zitiert. Aber wir müssen auch die Realität anerkennen. Wir müssen fähig zu Kompromissen sein und sollten uns nicht schon im Vorfeld den Weg zu einem solchen Kompromiss verbauen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Agnes Malczak. Bitte schön, Frau Kollegin Malczak.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Frühjahr 2009 hat sich der Deutsche Bundestag einstimmig zu einem umfassenden Verbot von Streumunition bekannt, und das aus gutem Grund. Die Oslo-Konvention ist ein Meilenstein hin zu einer weltweiten Ächtung dieser unmenschlichen Waffe, die fast ausschließlich zivile Opfer fordert, darunter vor allem Kinder. Die Oslo-Konvention hat bereits jetzt maßgeblich zu einer internationalen Stigmatisierung von Streumunition beigetragen, und zwar weit über den Kreis der Vertragsstaaten hinaus. ({0}) Auch große Anwenderländer, die der Konvention nicht beigetreten sind, wie die USA, China oder Russland, verzichten mittlerweile auf den Einsatz. Das ist ein Beleg dafür, dass das Oslo-Übereinkommen wirkt. ({1}) Was wirkt, bewirkt jedoch oft Widerstand bei jenen, die sich an der Wirkung stoßen. Gerade weil das OsloÜbereinkommen wirksam ist, ist es bedroht. Wenn wir wollen, dass die völkerrechtlichen Standards, für die wir lange gekämpft haben, erhalten bleiben, müssen wir sie immer wieder gegen Widerstände verteidigen. ({2}) Die großen Hersteller- und Besitzerstaaten sind nun darum bemüht, die Wirkung Oslos auf sie selbst auszuhebeln. Wie man das am besten macht, lässt sich zurzeit in Genf bei den Verhandlungen zum VN-Waffenübereinkommen beobachten. Dort setzen sich einige Nichtvertragsstaaten für neue Standards ein, die das umfassende Verbot von Streumunition untergraben würden. Um sich dem Wirkungsradius von Oslo zu entziehen, soll ein zweiter, laxer völkerrechtlicher Referenzrahmen geschaffen werden, in den Nichtvertragsstaaten dann entweichen können. Herr Kollege Fritz, Herr Kollege Schnurr, es ist eben nicht so, dass eine weitere völkerrechtliche Norm zu Streumunition schon deshalb wünschenswert sein soll, weil sich ihr mehr Staaten anschließen; denn entscheidend sind doch die Qualität und die Wirkung der Norm. ({3}) Hier würde eine von mehr Staaten durchgesetzte schlechtere Regelung eine von weniger Staaten getragene bessere Regelung verdrängen. ({4}) Insbesondere die USA - auch darüber kann man einmal nachdenken ({5}) bemühen sich in Genf um ein Protokoll VI zu Streumunition, das nur ein Teilverbot von Munition vorsieht, die vor 1980 produziert wurde. Ein umfassendes Produktionsverbot, Zerstörungsfristen für vorhandene Bestände oder Verpflichtungen zur Opferhilfe und Minenräumung sucht man vergeblich. Sollte dieses Protokoll so verabschiedet werden - es ist naiv, zu glauben, dass sich da noch viel verändern wird, Herr Schnurr -, ({6}) hätten wir neue, schwächere Standards und eine Relegitimierung neuerer Typen von Streumunition. De facto würde ein großer Teil dieser Waffen somit wieder für legal erklärt. ({7}) Zwar wären Deutschland und andere Vertragsstaaten weiter an Oslo gebunden - Sie haben recht, Herr Kollege Fritz; das hat auch niemand bestritten -, anderen Staaten aber, die außerhalb des Vertragsregimes stehen wie die USA, Russland, China, Israel oder Indien, wären die Produktion und der Einsatz von Streumunition auf einmal völkerrechtlich erlaubt. Das würde nicht nur der USRegierung ermöglichen, ihr Streumunitionsarsenal auch noch mit Hinweis auf das Völkerrecht zu modernisieren. Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz völlig zu Recht feststellt, würde damit ein Präzedenzfall im humanitären Völkerrecht geschaffen. Dann würde eine schwächere Norm zu einem Waffentyp vereinbart, für den es bereits höhere Standards gibt. Bisher gab es einen solchen Rückschritt nicht, und ich glaube, den kann man sich auch nicht wünschen. ({8}) Ich kann nur hoffen, dass der dringende Appell aus der Zivilgesellschaft von der Bundesregierung erhört wird, einem solchen Protokoll nicht zuzustimmen. Bisher hat sich die Bundesregierung in dieser Frage nämlich leider nicht als eiserne Verfechterin der Oslo-Konvention hervorgetan. Im Gegenteil: Sie setzt sich weiter für ein Protokoll zu Streumunition ein. Damit nimmt sie eine Aufweichung des Verbots von Streumunition billigend in Kauf ({9}) und verspielt leichtfertig die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik. Damit nehmen Sie jeglichen Druck von anderen Staaten, dieser Konvention beizutreten. ({10}) Es ist daher nun am Deutschen Bundestag, sich gegen eine Aufweichung des Verbots von Streumunition auszusprechen. Die grüne Bundestagsfraktion hat hierfür einen Antrag erarbeitet, den wir gemeinsam mit der SPD zur Abstimmung stellen. Wir bitten um Ihre Stimme für diesen Antrag und damit um Ihre Stimme gegen eine Zustimmung Deutschlands zu einem verheerenden Protokoll zu Streumunition. Vielen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Malczak. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7637 mit dem Titel „Gegen eine Aufweichung des Verbots von Streumunition“. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPDFraktion und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Antrag ist abgelehnt. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7635 mit dem Titel „Streumunition nicht wieder zulassen - Gegen ein Protokoll über Streumunition zum CCW“. Wer stimmt für diesen Antrag? Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 24: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde - Drucksachen 17/5493, 17/7596 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Lars Lindemann Claudia Roth ({1}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unter der NS-Schreckensdiktatur wurden auch Hunderttausende Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in ganz Europa systematisch erfasst, für medizinische Experimente missbraucht, zwangssterilisiert und zu Zehntausenden ermordet. Eines von leider vielen dunklen Kapiteln unserer jüngeren Geschichte, das uns Nachgeborene erschauern lässt, fassungslos macht ob der Abgründe des Menschlichen. Die Verpflichtung, die Aufarbeitung des NS-Terrors und der späteren SED-Diktatur in der ehemaligen DDR im Gedenkstättenkonzept des Bundes nicht nur fortzusetzen, sondern zu verstärken, war integraler Bestandteil der Koalitionsverhandlungen der christlich-liberalen Koalition zu Beginn dieser Wahlperiode. Die Morde an behinderten Menschen, insbesondere Patienten, die besonderen Schutzes bedurft hätten, dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Der Opfer zu gedenken, ist Aufgabe von nationaler Bedeutung und gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt die Euthanasieopfer daher ausdrücklich in unser nationales Gedenken ein. Bestandteil der Beschlussfassung 1999 über die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas war daher auch die Verpflichtung, der anderen Opfer des Nationalsozialismus würdig zu gedenken. Unser Antrag steht entsprechend auf breiten, übergreifenden Füßen der demokratischen Fraktionen des Hauses. Das beweist, dass sich das Parlament in diesem wichtigen Punkt seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist und dafür Sorge tragen will, die Erinnerung im kollektiven Gedächtnis zu behalten. Der Antrag ist nicht nur als ein wichtiges Signal gegen das Vergessen an die Hinterbliebenen und Angehörigen zu verstehen. Er ist auch bedeutender Beitrag für die Erinnerung und Aufklärung der Nachgeborenen. Wir wollen die Aufwertung des gegenwärtigen Gedenkortes in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Wenngleich das Gebäude am historischen Standort der Planung und Organisation dem Ort der Täter, an dem am Schreibtisch über Leben und Tod von Menschen entschieden wurde, nicht mehr steht, so ist doch das Kürzel T4 zum Begriff für diese Mordaktion geworden. Historischer Anknüpfungspunkt für das Erinnerungszeichen ist daher der Platz um die Berliner Philharmonie. Wir setzen auf die Ergebnisse des durch das Land Berlin auszuschreibenden Ideenwettbewerbs zur künstlerischen Umgestaltung des Geländekomplexes am Kulturforum. Unsere Hauptstadt würdigt damit ihren besonderen Stellenwert in der Erinnerungskultur und kommt mit der anteiligen Übernahme der erforderlichen Mittel ihrer Verantwortung in kulturpolitischer Hinsicht ebenso wie der Bund nach. Angesichts der bestehenden Nutzung des Areals an der Berliner Philharmonie und der nicht mehr vorhandenen Baulichkeiten sind einer Aufwertung jedoch natürliche Grenzen gesetzt. Neben einem Erinnerungszeichen am historischen Ort wollen wir gleichwohl die Thematik weiter bearbeiten. Über die Erinnerung hinaus sollen Information und Aufarbeitung gestärkt werden. Wir wollen dafür einen angemessenen Rahmen schaffen und dafür Sorge tragen, dass das Verbrechen und seine Dimension stärker dokumentiert wird, dass die Opfer, aber auch die Täter und ihre „Motive“ dargestellt werden. Dies soll ein wichtiger Bestandteil der Ergänzung des vorhandenen Mahnmals in Zusammenarbeit mit der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ unter Einbeziehung der Stiftung „Topographie des Terrors“ werden. Wir begeben uns also in unmittelbarer Nähe der Tiergartenstraße in die Tiefe.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Ewig einstehen gegen das Vergessen!“ Dies forderte Bundespräsident Christian Wulff im Januar dieses Jahres bei seinem Besuch im früheren Konzentrationslager Auschwitz. Dieser Forderung kommen wir heute nach. Während der NS-Herrschaft wurden in Deutschland und den von Deutschland während des Zweiten Weltkrieges besetzten Gebieten Schätzungen zufolge bis zu 300 000 Menschen mit Behinderungen und psychisch Kranke getötet. Auch Kinder, die in dieser Zeit mit Behinderungen geboren wurden, wurden systematisch ermordet. Für die Nationalsozialisten waren diese Menschen „lebensunwert“. Die menschenverachtende nationalsozialistische Rassenideologie forderte die Erfassung, Verfolgung und Ermordung dieser Menschen zur angeblichen „Reinigung“ der Nation. Auch in meiner Heimatregion, in der Gemeinde Kropp bei Schleswig, hat das menschenverachtende System der Nationalsozialisten in einer großen christlichen Behinderteneinrichtung tiefe Spuren hinterlassen. Die NS-„Euthanasie“ gehört zu den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte. Auch und gerade an diese Teile der Vergangenheit unseres Landes müssen wir uns erinnern - zum Gedenken an die Opfer und ihr unermessliches Leid sowie zur Vergegenwärtigung der Tatsache, dass Menschen zu solchen Taten fähig sein können und dass deshalb alles unternommen werden muss, um solche Verbrechen in Zukunft unmöglich zu machen. „Die nationalsozialistischen Morde an behinderten Menschen bzw. Patienten gehören in das kollektive Gedächtnis unserer Nation“, heißt es in unserem Antrag. Ich bin froh, dass es darüber fraktionsübergreifend eine Übereinstimmung im Deutschen Bundestag gibt und ein gemeinsamer Antrag der Koalition mit SPD und den Grünen zustande gekommen ist. Auch besteht Einigkeit in der Frage der Bundeszuständigkeit. Die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“-Morde ist auch eine Aufgabe von gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt diese Opfergruppe auch ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Deshalb haben wir uns auf Bundesebene einvernehmlich dazu entschieden, einen zentralen Gedenkort zu schaffen. Zur Thematik der NS-„Euthanasie“ fördert die Bundesrepublik Deutschland die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein in Sachsen. Außerdem wurden Projekte der GeZu Protokoll gegebene Reden Wolfgang Börnsen ({0}) denkstätten Grafeneck in Baden-Württemberg und Hadamar in Hessen unterstützt. In einer weiteren ehemaligen Tötungsanstalt in Brandenburg an der Havel wird auch mit Mitteln aus der Gedenkstättenkonzeption des Bundes eine weitere Gedenkstätte aufgebaut. Doch auch Berlin muss Standort eines Gedenkortes sein. Als Hauptstadt der Bundesrepublik sowie als kultureller Anziehungspunkt für Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt nimmt Berlin einen zentralen Platz in der Erinnerungsarbeit des Bundes ein. Hier in Berlin - in der Tiergartenstraße 4 - wurde die sogenannte Aktion T4 systematisch und zentral geplant. Hier war der Sitz der koordinierenden Dienststelle. Deshalb sollte auch hier - am historischen Ort der Planung der Verbrechen - ein sichtbares Zeichen gesetzt werden und sollten hier die Opfer gewürdigt werden. An einem düsteren Herbsttag in diesem Jahr war ich zuletzt an der besagten Stelle und war zutiefst betroffen bei dem Gedanken daran, was hier vor über 70 Jahren beschlossen worden war. Dabei wurde mir von Neuem deutlich, dass die derzeitige in den Boden eingelassene und leider kaum beachtete Gedenktafel sowie die umgewidmete Plastik von Richard Serra nicht ausreichend sind, um an das Grauen, das von diesem Ort ausgegangen war, zu erinnern. Auch das für die Umsetzung zuständige Land Berlin steht in der Pflicht, alles zu tun, um den Verbrechen, die in dieser Stadt stattfanden, in angemessener Form Rechnung zu tragen. Wir erwarten, dass Bund und Berlin gemeinsam das bereits bestehende Denkmal aufwerten und gemeinsam die Opfer am historischen Ort würdigen. Zum Schluss ist es mir ein Anliegen, den verschiedenen bürgerschaftlichen Initiativen ausdrücklich für ihren langjährigen geduldigen, aber auch hartnäckigen Einsatz zu danken. Stellvertretend für viele weitere seien hier der Runde Tisch zu T4, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde sowie der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation genannt. Vor allem ihnen ist es zu verdanken, dass die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde nicht in Vergessenheit geraten sind, bleibende Mahnmale und Dokumentationen daran erinnern, dass wir alle aufgerufen sind, unsere Demokratie zu stärken, Extremisten abzuwehren, damit es nie wieder zu diktatorisch-autoritären Regierungen in unserem Land kommt, die Bürger- und Menschenrechte mit Füßen treten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daran, wie ein Gemeinwesen mit seinen Kranken umgeht, lässt sich erkennen, wie human es ist. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden Kranke ermordet. Die euphemistische Umschreibung für den systematischen, bürokratisch exakt organisierten Massenmord an körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen lautete Euthanasie - das griechische Wort für den „leichten“, den „schönen Tod“. Der Tod, der im Gebäude der Berliner Tiergartenstraße 4 koordiniert wurde, war alles andere als leicht und schön. Ab 1939 und während des gesamten Zweiten Weltkrieges wurden Hunderttausende Menschen in Hospitälern und Heilanstalten vergast, vergiftet oder durch Vernachlässigung und Verhungern dem Tod preisgegeben. Das Gebäude Tiergartenstraße 4 steht nicht mehr. Heute erinnern ein kaum beachtetes Kunstwerk, eine Informations- und eine Gedenktafel neben der Berliner Philharmonie an das Geschehen. Die Dimension des Verbrechens, sein ideologischer Kontext, das konkrete Handeln der Täter, die Lebensgeschichten der Opfer all dies wird derzeit vor Ort nicht ausreichend vermittelt. Mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag wollen wir das ändern. Wir sind der Auffassung, dass eine Aufwertung des Gedenkortes erfolgen muss. Das grausame Kapitel der „Euthanasie“-Morde bedarf stärkerer Beachtung. Im Rahmen eines Ideenwettbewerbs setzt sich das Land Berlin für das Vorhaben ein. Der Bund wird die Umsetzung unterstützen. Für das Haushaltsjahr 2012 hat der Beauftragte für Kultur und Medien 500 000 Euro eingestellt, eine Summe, bei der sich - ich formuliere das vorsichtig - noch herausstellen muss, ob sie ausreichen wird, um eine angemessene und würdige Gestaltung zu realisieren. Dass der Antrag zustande kam, haben wir eindrucksvollem bürgerschaftlichen Engagement zu verdanken. Wissenschaftler, Vereine und Verbände setzen sich seit vielen Jahren für die Neugestaltung des historischen Ortes T4 ein. Umso ärgerlicher ist, dass sich die Koalitionsfraktionen einer Expertenanhörung im Ausschuss verweigert haben! Die SPD-Fraktion hat sich wiederholt für ein Fachgespräch eingesetzt. Nun soll nach Verabschiedung des Antrages ein Fachgespräch erfolgen: Ein ärgerliches Verfahren. Als wäre die Zustimmung von SchwarzGelb zum Antrag lediglich ein ängstliches Zugeständnis. Sie geben ein äußerst zwiespältiges Bild ab. Die SPD steht zu diesem Antrag! Ich will es noch einmal ausdrücklich betonen: Einsatz und Beharrlichkeit der Initiativen sind kaum hoch genug zu schätzen! Sie hätten es verdient, im Deutschen Bundestag gehört zu werden! Dass sich vor knapp einem Jahr die Deutsche Gesellschaft der Psychiater, Psychotherapeuten und Nervenheilkundler zu der Schuld ihrer Berufskollegen in der Zeit des Nationalsozialismus bekannt hat, begrüße ich auch wenn die öffentliche Stellungnahme sehr spät erfolgte. Dass die Gesellschaft das Handeln der an den „Euthanasie“-Morden und weiteren Medizinverbrechen beteiligten Fachärzte untersuchen lässt, ist ein richtiger Schritt. Die Ergebnisse sollen in einer Ausstellung präsentiert werden. Ich kann mir gut vorstellen und würde es unterstützen, diese Ausstellung hier im Bundestag zu zeigen. Der Antragstext ist - das kann bei einem interfraktionellen Antrag kaum verwundern - an verschiedenen Stellen unscharf formuliert. Lassen Sie mich deshalb zwei Punkte präzisieren. Zu Protokoll gegebene Reden Klarheit ist erstens darüber zu schaffen, wie weit die geplante Aufwertung des Gedenkortes gehen soll. Die Linke hätte am liebsten ein neues Dokumentationszentrum und trägt unseren Antrag deshalb nicht mit. Die Koalitionsfraktionen unterstützen die Neugestaltung zwar, tendieren aber zum anderen Extrem und wünschen sich nur minimale Veränderungen. Dies ist zu wenig. Damit zukünftige Besucher die Qualität des historischen Ortes erfassen können, bedarf es grundlegender Informationen. Drei Aspekte halte ich dabei für besonders wichtig: Die Opfer sind zu würdigen. Die Täter sind zu benennen. Der Ort sollte für Besucher kenntlich werden, beispielsweise durch Kennzeichnen der Umrisse des einstigen T4-Gebäudes. Auch Hinweise auf die bestehenden Gedenk- und Informationsstätten in Deutschland und Europa sind erforderlich. Die dezentrale Umsetzung und die schiere Dimension der „Euthanasie“Verbrechen müssen deutlich werden. Zweitens ist zu klären, welche Einrichtung geeignet wäre, sich der Thematik der „Euthanasie“-Morde dauerhaft anzunehmen. Dabei muss der weitere Kontext nationalsozialistischer Erbgesundheitspolitik, Eugenik und der sogenannten Rassenhygiene beleuchtet werden. Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ wird hier eine wichtige Rolle spielen. Dem Charakter des Ortes entsprechend halte ich aber die Stiftung „Topographie des Terrors“ für besonders geeignet, die Aufgaben der Dokumentation und der pädagogischen Arbeit zum Thema zu übernehmen. Ich plädiere dafür, dass die Stiftung „Topographie des Terrors“ dem Thema einen dauerhaften Platz in ihrer Ausstellung einräumt. Über diese Präzisierungen wird noch zu sprechen sein. Verehrte Kollegen der Koalitionsfraktionen: Schieben Sie das Fachgespräch nicht auf die lange Bank!

Lars Lindemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004095, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es steht außer Frage: Wir tragen als Deutsche besondere Verantwortung, um der Opfer der NS-Terrorherrschaft zu gedenken, um die heutige und zukünftige Generation zu mahnen und zu informieren. Teil des nationalsozialistischen Rassenwahns war die Erfassung, Verfolgung und Ermordung „lebensunwerten Lebens“, die Verfolgung und Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychisch Kranken. Von September 1939 bis April 1940 fielen mehr als 10 000 psychiatrische Patienten aus Pommern, Westpreußen und dem Wartheland den Krankenmorden auf dem damaligen besetzten Gebiet Polens zum Opfer. Von Januar 1940 bis August 1941 wurde die sogenannte Aktion T4 durchgeführt, bei der in eigens eingerichteten Gasmordanstalten mehr als 70 000 Psychiatriepatienten und -patientinnen systematisch und zentral geplant ermordet wurden. Die Aktion T4 wurde benannt nach dem Sitz der koordinierenden Dienststelle in der Tiergartenstraße 4. Wir sind uns fraktionsübergreifend einig: Dieser Ort benötigt ein würdiges Gedenken. Heute erinnert nur eine im Boden eingelassene Gedenktafel, eine nachträglich den Opfern der Aktion T4 gewidmete Plastik von Richard Serra und eine Informationstafel zur Aktion T4 an die dort geplanten Morde. Alle Fraktionen sind sich einig: Die derzeitige Form der Erinnerung und Information an diesem Ort reichen nicht aus, um einem Vergessen angemessen entgegenwirken zu können. Aus diesem Grund haben die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen einvernehmlich beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, sich in Zusammenarbeit mit dem Land Berlin dafür einzusetzen, dass das bereits bestehende Denkmal eine angemessene Würdigung am historischen Ort der Planung Aktion T4 erhält und dass an einem solchen Ort die Information über die „Euthanasie“-Morde und die damit zusammenhängenden NS-Verbrechen nicht fehlen dürfen. Ich bedauere es sehr, dass die Fraktion Die Linke sich dieser Initiative durch Zustimmung bisher nicht anschließen konnte. Die Fraktion Die Linke hat im Ausschuss für Kultur und Medien einen Änderungsantrag eingereicht, in dem ein Dokumentations- und Informationszentrum gefordert wird. Dieser Antrag wurde von der Mehrheit des Ausschusses abgelehnt. Es ist unrichtig, in der Öffentlichkeit zu behaupten, dass durch die Bundesregierung eine Informationsstätte zur Aktion T4 nicht gewollt sei. Ganz im Gegenteil: Es gibt bereits vier Gedenkstätten, die der Bund in erheblichem Maße mit unterstützt. So fördert der Bund zusammen mit dem Freistaat Sachsen die Gedenkstätte PirnaSonnenstein, wo sich eine der Tötungsanstalten befand. Aus Mitteln der Gedenkstättenkonzeption des Bundes wurden der Aufbau der Gedenkstätten Grafeneck, Baden-Württemberg, und Hadamar, Hessen, ermöglicht. Ein weiteres Projekt des Bundes betrifft den Aufbau einer Gedenkstätte in Brandenburg an der Havel. Mit unserem Antrag entsteht nun ein Ort in der Mitte Berlins, an dem eine angemessene Würdigung am historischen Standort der Planung und Organisation der Aktion T4 möglich sein wird. Der Bund wird dazu im Rahmen des Haushaltes des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gemeinsam mit dem Land Berlin Gelder zur Verfügung stellen. Information und Dokumentation zur Aktion T4 sind jedoch nicht ausgeschlossen, sondern in der Nachbarschaft - in der Stiftung Topographie des Terrors - möglich. Unter den zahlreichen Erinnerungsorten, Denkmalen und Museen, mit denen heute in Berlin an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert wird, nimmt die Stiftung Topographie des Terrors als „Ort der Täter“ eine besondere Stellung ein. Die Aktion T4 findet dort mit ihren 600 000 Besuchern pro Jahr sehr viel mehr Aufmerksamkeit als durch ein neues Informationszentrum in der Tiergartenstraße 4. Der durch das Land Berlin angekündigte Ideenwettbewerb zur künstlerischen Umgestaltung des Geländes steht aus. Dieser Ideenwettbewerb ist Voraussetzung für die Einbringung der Bundesregierung und Umsetzung unseres Antrages. Das Land Berlin ist aufgefordert, schnellstmöglich den angedachten Ideenwettbewerb Zu Protokoll gegebene Reden auszuloben. Wir sind gespannt auf diesen Wettbewerb zur Umgestaltung des Areals Tiergartenstraße 4, in den Betroffene und Verbände in adäquater Weise eingebunden werden.

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Rückdatiert auf den Überfall Deutschlands auf Polen, den Kriegsbeginn am 1. September 1939, befahl Adolf Hitler die sogenannte „Euthanasie“-Aktion. Zum medizinischen Leiter dieser - später T4 genannten - Aktion wurde der Psychiater und Neurologe Professor Werner Heyde bestimmt. Der Aktion T4 und den nach ihrer offiziellen Beendigung sich anschließenden weiteren Phasen der Krankentötungen sollten bis zum Kriegsende - und noch einige Wochen darüber hinaus - mindestens 250 000 bis 300 000 psychisch, geistig und körperlich kranke Menschen zum Opfer fallen. Am Ort der ehemaligen Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 befinden sich heute nur eine unscheinbare, in den Boden eingelassene Gedenktafel für die „Euthanasie“-Opfer und eine erst nachträglich den Opfern gewidmete Plastik. Einen zentralen, nationalen Gedenkort für die Opfer der sogenannten „Euthanasie“ gibt es bisher nicht. Dies soll nun geändert werden. Mit ihrem Antrag „Gedenkort für die Opfer der NS-Euthanasie-Morde“, 17/5493, wollen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen sich für eine Aufwertung des bestehenden Denkmals und eine angemessene Würdigung der Opfer am historischen Ort der Planung und Organisation der Aktion T4 in der Tiergartenstraße 4 einsetzen. Die Linke hat dieses Ansinnen von Beginn an auf Bundes- und Landesebene unterstützt. Die nationalsozialistischen Morde an behinderten Menschen bzw. Patienten gehören in das kollektive Gedächtnis unserer Nation. Die Erinnerung daran ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung und gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt diese Opfergruppe ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Es steht für uns außer Frage, dass der Bund zu seiner Verantwortung stehen sollte und in diesem Fall gibt es auch einen parteiübergreifenden Willen, dies zu tun. Leider wurden wir erneut von der Erarbeitung eines interfraktionellen Antrages ausgegrenzt und konnten so Einwände und Änderungsvorschläge am vorliegenden Antrag nicht geltend machen. Um diesen unserer Auffassung nach wichtigen Ergänzungen Gehör zu verschaffen, haben wir einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, in dem wir nicht allein einen Gedenk-, sondern auch einen entsprechenden Informationsort sowie darüber hinaus die finanziellen Mittel für eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas fordern. Wir reagieren damit auch auf Anregungen der in dieser Thematik engagierten Initiativen und Institutionen, stellvertretend für eine größere Gruppe ist hier die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, DGPPN, die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und die Stiftung „Topographie des Terrors“ zu nennen. Trotz zweijähriger Beratungen zum Thema gelang es nicht, die von ihnen vorgebrachten Vorschläge und Einwände in dem vorliegenden Antrag angemessen zu berücksichtigen. Da die Planung und Umsetzung des geplanten Gedenkortes im Antrag aber explizit unter dem Dach der vom Bund getragenen Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und unter Einbeziehung der Stiftung „Topographie des Terrors“ stattfinden soll, sollte unserer Meinung nach den vorgebrachten Bedenken Rechnung getragen werden. Vor allem die Gewichtung von Gedenkort und Informations- und Erinnerungsort bedarf dringend einer Überarbeitung. Bei der Neugestaltung des bereits bestehenden Denkmals für die Opfer der „Euthanasie“-Morde am historischen Ort in der Tiergartenstraße 4 geht es darum, keinen reinen Gedenkort zu etablieren, sondern das Erinnern mit einer grundlegenden Information zu verbinden. Dies ist deswegen so wichtig, weil dieser Ort ausschließlich ein Täterort war, den nie ein Opfer betreten hat. Die Angehörigen der Opfer bzw. jene vor allem zwangssterilisierten Menschen, die die Verfolgung überlebt haben, finden hier keine direkt mit dem persönlichen Leiden ihrer Nächsten bzw. mit den eigenen Erfahrungen verbundene Relikte, auch nicht in symbolischer Hinsicht. Eine örtliche Auslagerung der Information in die Nachbarschaft der „Topographie des Terrors“, wie sie die antragsstellenden Fraktionen vorschlagen, entspricht diesem Zweck in keiner Weise. Ich schließe mich an dieser Stelle der Verwunderung von Dr. Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a. D., an, dass weder dem Wunsch der an den Beratungen beteiligten Initiativen und Institutionen nach einem im Bundestag stattfindenden Fachgespräch entsprochen wurde noch die äußerst konstruktiven Vorschläge, wie ein neu entstehender Gedenk- und Informationsort in der Tiergartenstraße 4 aussehen könnte, in den vorliegenden Antrag aufgenommen wurden. Nicht nur hat die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ schon seit längerem ein Grundkonzept für eine historische Dokumentation erstellt, welche detailliert und wissenschaftlich fundiert die Aktion T4 darstellt und einen besonderen Schwerpunkt auf exemplarische Opferbiografien legt, die die Bandbreite des Mordens und der Opfergruppen zwischen 1939 und 1945 widerspiegeln, auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde hat ganz konkrete Vorschläge für eine Neugestaltung des bisherigen Denkmals vorgelegt, welche explizit die Wichtigkeit eines Dokumentationszentrums hervorheben. Hier soll im Rahmen einer wissenschaftlich fundierten Ausstellung über die Entstehungsgeschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, ihre Einbettung in eine rassenhygienisch aufgeladene Gesundheits- und Bildungspolitik und auch die unzureichende juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen aufgeklärt werden. Die Opfer sollen gewürdigt werden, und nicht zuletzt sollte auch an die weitgehend fehlende bzw. unangemessen geringe Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen erinnert werden. Ich erinnere daran, dass der Bundestag erst im Januar dieses Jahres einen Beschluss über eine Angleichung der moZu Protokoll gegebene Reden natlichen Entschädigungen an die für andere aus rassistischen Gründen verfolgten Opfer gefasst hat - im Jahre 2011! Warum die an dem Antrag beteiligten Fraktionen nicht auf die Angebote gerade der DGPPN eingegangen sind, welche von der Erstellung einer Ausstellung über einen finanziellen Zuschuss zu einem Dokumentationszentrum bis hin zur Finanzierung einer wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle für die Dauer von zehn Jahren gehen, bleibt unverständlich. Vielleicht lassen sich in einem „verspätet“ stattfindenden Fachgespräch diese Defizite beseitigen. Uns wäre sehr daran gelegen, soll es doch hier nicht um parteipolitische Interessen, sondern nach mehr als 60 Jahren um eine angemessene Würdigung der Opfer und ihrer Angehörigen gehen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir freuen uns, dass der Bundestag den interfraktionellen Antrag zum Gedenken an die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde breit unterstützen will. Wir bedanken uns ausdrücklich für die Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung und Diskussion des Antrags und auch dafür, dass hier mit großer Offenheit eine Initiative unserer Fraktion aufgegriffen und nun gemeinsam umgesetzt wird. Die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“-Opfer, an Zwangssterilisationen und weitere grausame Verbrechen an dieser Opfergruppe ist ein wichtiger Teil in der Gedenkpolitik und Erinnerungskultur. Für die gesellschaftliche Wahrnehmung der Täter und ihrer schrecklichen Taten und für das Gedenken an die Opfer ist eine Dokumentation an dem Ort, von dem die Verbrechen ausgingen, der Berliner Tiergartenstraße 4, wichtig und von nationaler Bedeutung. Bei den Gesprächen zur Ausarbeitung des Antrags haben wir an einem Punkt etwas länger debattiert, und zwar bei der Frage, wie sich der Informationsaspekt und der Gedenkaspekt in diesem Projekt zueinander verhalten sollten. Wir Grüne haben uns sehr dafür eingesetzt, dass der Informationsaspekt zusammen mit dem Gedenkaspekt deutlich herauskommt. Es gab einige Bedenken, ob eine Herausstellung des Informationsaspekts etwa bedeuten würde, am Ort von T4 ein Museum neu zu bauen - mit allen auch finanziellen Konsequenzen. Eine zweite Frage war, ob es nicht zu einer Inflationierung von entsprechenden Informationsorten in Berlin käme, die sich möglicherweise gegenseitig entwerten würden. Wir glauben, dass man hier keine künstlichen Gegensätze zwischen Gedenken und Informieren aufmachen sollte. Wir brauchen beides, und es ist gut, dass wir im Antrag gemeinsam die Aufgabe der Information auch am Ort T4 deutlich gemacht haben. Denn es geht ja ganz wesentlich auch um Information - zum Ablauf der Verbrechen, um die Aufarbeitung auch individueller Lebensgeschichten von Opfern, um Forschungen zur Beteiligung von Ärzten und Pflegepersonal und politisch und administrativ Verantwortlichen. Die Bedeutung der Information heben auch Wissenschaftler und Initiativen aus der Zivilgesellschaft hervor, die sich sehr konstruktiv in die Debatte eingebracht haben. So trifft sich in den Räumen der „Topographie des Terrors“ seit geraumer Zeit ein Runder Tisch „T4“, der am Thema arbeitet und auch die weitere Arbeit hier in Berlin begleiten wird. Im Internet ist eine Seite „Gedenkort T4“ eingerichtet worden, die jetzt schon wichtige Informationsarbeit leistet. Und auch die DGPPN, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, wird die Aufarbeitung des Themas unterstützen und auch für zehn Jahre eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle zur Forschung und Information über die T4-Verbrechen finanzieren. Das Land Berlin hat angekündigt, einen Ideenwettbewerb für die künstlerische Um- und Weitergestaltung dieses T4-Geländes auszuloben - zusätzlich zu der in den Boden eingelassenen Platte und der Skulptur von Richard Senna, die sich bereits dort befinden. Diesen Wettbewerb möchten wir aufmerksam verfolgen und begleiten. Wir rechnen fest mit der Kreativität von Künstlern und der Fachkompetenz von Wissenschaftlern, damit das Projekt in einer guten und angemessenen Form zur Ausführung kommt. Es ist gut, dass sich nun auch der Bund bei T4 verpflichtet. Das ist ein wichtiger Baustein für unsere Erinnerungskultur - auch angesichts von demokratiefeindlichen rechtsextremen Tendenzen, die besorgniserregend sind. Vielen Dank noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7596, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5493 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die antragstellenden Fraktionen. Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016 verlängern - Drucksache 17/7486 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsident Eduard Oswald Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten läuft zum Jahresende 2011 ab. In dem Antrag der Fraktion Die Linke, über den wir heute beraten, wird die Bundesregierung dazu aufgefordert, die Aufbewahrungsfrist von Unterlagen über Löhne und Arbeitszeiten in DDR-Betrieben über den 31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016 zu verlängern. Diese Unterlagen sind vor allem für die korrekte Rentenberechnung wichtig, da sie zur Klärung des Versicherungskontos notwendig sind. Im Rahmen der sogenannten Kontoklärung wird das Versicherungskonto mit allen versicherungsrechtlich relevanten und rentenrelevanten Daten vervollständigt. Zur Sicherstellung der vollständigen Kontenklärung und Vormerkung aller rentenanwartschaftsbegründenden Beschäftigungszeiten und Arbeitsentgelte der betroffenen Versicherten beschloss der Bundestag im Oktober 2006, die zum Jahresende 2006 auslaufende Aufbewahrungspflicht um fünf Jahre zu verlängern. Das heißt also, dass die Betriebe rund 20 Jahre lang im Interesse der Versicherten und der Deutschen Rentenversicherung die Lohnunterlagen aufbewahrt haben. Und das zusätzlich zu den jeweils aktuell zu speichernden Daten. Eine solche Aufbewahrung ist vor allem mit hohen Lager- und Verwaltungskosten sowie mit großem Aufwand für die Betriebe verbunden. Es ist auch zu bemerken, dass viele dieser DDR-Betriebe mittlerweile nicht mehr existieren. Das bedeutet, dass ihre Rechtsnachfolger oder auch private Firmen, wie zum Beispiel die Rhenus Office Systems GmbH in Großbeeren, sich um die Aufbewahrung der alten Lohnunterlagen kümmern. Die Kollegen aus der Partei Die Linke haben zutreffend bemerkt, dass es noch nicht gelungen sei, alle Konten aufzuklären. Ich glaube jedoch, dass 20 Jahre lang genug sind, um Kontoklärungen veranlassen zu können. Es steht auch nicht fest, ob zur Klärung der übrigen Konten tatsächlich im Einzelfall auf Lohnunterlagen der DDR-Betriebe zugegriffen werden muss. Die Belastung der Arbeitgeber ist meiner Meinung nach in diesem Fall unverhältnismäßig, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Versäumnisse bei der Kontoklärung hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass die Versicherten ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgehen. Ohne aktives Mitwirken der Versicherten selbst ist die Beschaffung von fehlenden Unterlagen durch den Rentenversicherungsträger kaum möglich. Es geht hier also um eigene Verantwortung und Selbstständigkeit der Versicherten. Die Medien haben insbesondere in den letzten Monaten viel darüber berichtet, dass die Aufbewahrungsfrist zum Jahresende 2011 abläuft. Auch die Rentenversicherungsträger haben mehrmals zur Kontenklärung aufgerufen. Am Beispiel von meiner Stadt Chemnitz kann ich bestätigen, dass die Information für Bürger zugänglich gemacht wurde und auf verständlicherweise zu allen Interessenten gebracht wurde, und das nicht nur übers Internet. An der Aufklärung mangelt es also nicht. Eine weitere Verlängerung der Frist würde nicht nur hohe Kosten verursachen, sondern kann auch den Eindruck erwecken, dass es unendlich so weitergeht. Das trägt nicht unbedingt zur Förderung der eigenen Selbstverantwortung von Versicherten bei.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für Lohnunterlagen, die am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet vorhanden waren, ist im SGB IV eine besondere Aufbewahrungsfrist geregelt. Mit dem Auslaufen dieser Frist zum 31. Dezember 2011 entfällt eine zusätzliche Belastung für ostdeutsche Unternehmen. Die Dokumente mussten aufbewahrt werden. Mit den Lohnunterlagen werden Beschäftigungszeiten und Verdienste nachgewiesen. Aber auch Zeiten von Krankheit und sonstigen Ausfällen sind darin enthalten. Allerdings sollte die Aufbewahrungsfrist ursprünglich schon vor Jahren auslaufen. Wir haben den Termin zuletzt im Jahr 2006 um weitere fünf Jahre verlängert, obwohl wir damals schon der Ansicht waren, dass eine Übergangsfrist von 15 Jahren zur Klärung der Konten ausreichen müsste. Damit wurde der Zugriff auf die Lohndaten für weitere fünf Jahre gesichert. Das gab den Menschen ausreichend Möglichkeit zur Klärung ihrer persönlichen Rentenkonten. Bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Rentenversicherungskonten sind bezogen auf Personen mit Wohnsitz in den neuen Bundesländern derzeit noch rund 286 000 Konten nicht vollständig geklärt. Dies entspricht 12 Prozent. Zahlen für die gesamte Rentenversicherung liegen nicht vor. Dabei ist ein geklärtes Versicherungskonto nicht nur wichtig für die spätere Rentenberechnung, sondern ist bei politisch Verfolgten ein Indiz für eine berufliche Verfolgung - insbesondere, wenn der Antragsteller keine Unterlagen mehr über seine Beschäftigung hat. Änderungen in den Einkommensverhältnissen wie abrupte Minderverdienste können auf eine politische Verfolgung im Beruf hindeuten. Die Zahl potenzieller Betroffener dürfte aber geringer sein als häufig angenommen. In den letzten Jahren wurden pro Jahr circa 1 800 Neuanträge auf berufliche Rehabilitierung gestellt. Die Antragsfrist läuft am 31. Dezember 2019 aus. Eine Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung der Unterlagen von ehemals in der DDR Beschäftigten ist nach unserer Auffassung nicht nötig. In den 21 Jahren seit der Wiedervereinigung wurden die Betroffenen mehrfach aufgefordert, ihre Rentenkonten zu klären. Die ungeklärten Konten sind auf die fehlende Mitwirkung der Betroffenen zurückzuführen. Es ist nicht absehbar, dass sich daran künftig etwas ändern wird. Die Versicherten erhalten jährlich Renteninformationen. Außerdem bekamen sie Briefe, in denen sie über die Notwendigkeit der Kontenklärung und über den Fristablauf aufgeklärt wurden. Wenn 21 Jahre zur Klärung der Rentenkonten nicht ausgereicht haben, berechtig das zu der Annahme, dass Zu Protokoll gegebene Reden auch in den nächsten fünf Jahren keine wesentliche Veränderung des Sachverhalts zu erwarten sein wird. Vor diesem Hintergrund halten wir es für richtig, dass die Unternehmen und der Bund als Rechtsnachfolger ehemaliger DDR-Betriebe die Kosten für die Aufbewahrung der Unterlagen nicht noch für weitere fünf Jahre übernehmen sollen, nur weil etliche Bürgerinnen und Bürger sich nicht um die Klärung ihres Rentenkontos kümmern. Diesen Bürgerinnen und Bürgern kann man nur raten, sich um die Klärung ihres Rentenkontos zu bemühen. Wenn Versicherte aus der ehemaligen DDR ihre Beschäftigungszeiten möglichst genau im Kontenklärungsantrag angeben, kann darauf gestützt die Deutsche Rentenversicherung den ehemaligen Arbeitgeber bzw. dessen Rechtsnachfolger ermitteln und eine Bestätigung der Daten erhalten. Alternativ können sich Antragsteller bis Ende dieses Jahres auch an die privaten Archivierungsgesellschaften wenden, die alte Lohnunterlagen liquidierter DDR-Betriebe aufbewahren. Zudem können fehlende Versicherungszeiten durch eigene Dokumente sowie auch mittels Zeugenerklärungen belegt werden. Betroffene sollten sich spätestens jetzt Kopien aller persönlichen DDR-Lohnunterlagen besorgen. Wenn der damalige Betrieb oder dessen Rechtsnachfolger nicht mehr existieren, kann der Rentenversicherungsträger helfen. Wenn die Aufbewahrungsfrist dann zum Jahresende abgelaufen sein wird, bedeutet das aber nicht, dass die Unterlagen weggeworfen werden. Die noch bei Behörden, Arbeitgebern und Rechtsnachfolgern von DDR-Betrieben liegenden Dokumente werden Landes- und Staatsarchiven bzw. dem Bundesarchiv angeboten. Die Betroffenen können sich also ab kommendem Jahr an diese Stellen wenden. Auch potenziellen Antragstellern auf berufliche Rehabilitierung wird mit dem Auslaufen der Aufbewahrungsfrist für die Lohnunterlagen keinesfalls die Möglichkeit der Antragstellung nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz abgeschnitten. Es gibt auch Beweiserleichterungen: Es reicht aus, wenn der Betroffene seine Angaben zur Verfolgteneigenschaft und zur Verfolgungszeit glaubhaft machen kann. Deshalb gibt es keinen Grund, die Aufbewahrungszeit von Unterlagen erneut zu verlängern.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lohnunterlagen müssen vom Arbeitgeber generell für eine Frist von sechs Jahren aufbewahrt werden. Hiervon abweichend, sind nach geltendem Recht gemäß § 28 f Abs. 5 Satz 1 SGB IV die am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet vorhandenen Lohnunterlagen mindestens bis zum 31. Dezember 2011 vom Arbeitgeber aufzubewahren. Diese Pflicht zur Aufbewahrung der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben läuft wegen Untätigkeit der Regierungskoalition zum Ende des Jahres aus. Eine vorhergehende Verlängerung hatten wir am 20. Oktober 2006 mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linkspartei beschließen können. Dies haben wir zum damaligen Zeitpunkt für dringend nötig erachtet, weil die Lohnunterlagen für die Klärung von gesetzlichen Rentenansprüchen zwingend erforderlich sind. Damals waren noch immer mehr als 1,3 Millionen Versicherungskonten von Versicherten in der ehemaligen DDR ungeklärt. Den Betroffenen hätten Rentenkürzungen gedroht, wenn sie keinen Nachweis über ihre Beschäftigungszeiten in DDR-Betrieben hätten vorlegen können. Eine umfassende und alle Versicherungszeiten berücksichtigende Rentenberechnung durch die Rentenversicherungsträger ist nämlich nur dann möglich, wenn das Versicherungskonto vollständig ist. Auch nach nunmehr 20 Jahren ist noch immer eine große Anzahl der Versichertenkonten hinsichtlich der Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR nicht geklärt. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung Bund sind Versicherte der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1974, die Beitragszeiten in der DDR zurückgelegt haben können, betroffen. Allein bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versicherungskonten sind noch circa 286 000 Konten nicht vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von rund 12 Prozent. Deshalb muss die Aufbewahrungsfrist um weitere fünf Jahre, also bis zum 31. Dezember 2016, verlängert werden. Durch diese verlängerte Aufbewahrungsfrist soll gewährleistet werden, dass die für die Rentenversicherung erforderlichen Daten der Beschäftigten vor dem Beitritt gesichert werden. In dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass die Frist über den 31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016 verlängert wird. Der Antrag ist in der Sache zwar richtig, aber die Aufforderung zur Vorlage eines Gesetzentwurfs ist zu weit gegriffen. Es gibt folgende Möglichkeit: Mit dem Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksache 17/6764, welches zurzeit im Deutschen Bundestag beraten wird, soll eine Vielzahl von sozialrechtlichen Einzelregelungen geändert werden. Die Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen in DDR-Betrieben ist Regelungsbestandteil des SGB IV. Das ist aktuell der richtige Anknüpfungspunkt. Daher hat meine Fraktion im Rahmen der Beratungen zum Vierten SGB-IV-Änderungsgesetz einen Änderungsantrag mit dem Ziel, die genannte Aufbewahrungsfrist durch die Änderung des § 28 f Abs. 5 Satz 1 um fünf Jahre zu verlängern, eingebracht. Die SPD-Bundestagsfraktion will die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen in Ostdeutschland und fordert die Bundesregierung auf, unseren diesbezüglichen Änderungsantrag im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Vierten SGB-IV-Änderungsgesetz mit zu berücksichtigen. Zu Protokoll gegebene Reden

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In dem vorliegenden Antrag fordert die Linke, einen Gesetzentwurf zur Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben vorzulegen, der sicherstellt, dass die Frist über den 31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016 verlängert wird. Worum geht es hier im Detail? Zum Ende dieses Jahres - also am 31. Dezember 2011 - läuft die Frist zur Aufbewahrung von Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 5 Satz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch aus. Es handelt sich um eine Sonderregelung für die Aufbewahrung von Lohnunterlagen für abhängig Beschäftigte aus der ehemaligen DDR. Diese Regelung umfasst Lohnunterlagen, die am 31. Dezember 1991 in den neuen Bundesländern vorhanden gewesen sind. Grundsätzlich müssen Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 1 SGB IV in Verbindung mit § 28 p SGB IV für fünf Jahre aufbewahrt werden, um den Rentenversicherungsträgern zu ermöglichen, die Arbeitgeber im Hinblick auf ihre Meldepflicht und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV zu überprüfen. Für abhängig Beschäftigte in der ehemaligen DDR dienen diese Lohnunterlagen zur Klärung ihres Rentenversicherungskontos. Erschwerend ist bei diesem Personenkreis hinzugekommen, dass sie oftmals keine ausreichenden eigenen Nachweise über ihre Beschäftigung erbringen konnten. Die Klärung des Versicherungskontos erfolgt auf Antrag des Betroffenen bei der Deutschen Rentenversicherung. Die Betroffenen wurden in den vergangenen 20 Jahren mehrfach persönlich angeschrieben und über Pressemitteilungen in den gängigen Medien von den Rentenversicherungsträgern für die Problematik sensibilisiert, die nötigen Anträge vor Fristablauf einzureichen. Eine vollständige Rentenberechnung setzt ein vollständiges Versicherungskonto voraus. Die ursprüngliche Aufbewahrungsfrist ist im Jahr 2006 ausgelaufen. Mit Rücksicht auf die hohe Anzahl Beschäftigter, die noch keinen Antrag auf Kontenklärung eingereicht hatten, wurde die Frist bis zum 31. Dezember 2011 verlängert. Bezogen auf den Antrag der Linken bedeutet das für uns als FDP-Fraktion, dass wir keinen Grund für eine erneute Fristverlängerung sehen. Schon die Verlängerung der Frist im Jahre 2006 war für uns in vielerlei Hinsicht strittig. So müssen zum Beispiel Arbeitgeber bzw. der Bund als Rechtsnachfolger der abgewickelten DDR-Staatsunternehmen die Lohnunterlagen mit erheblichen Kosten aufbewahren - nach den aktuellen Vorgaben 15 Jahre über die „reguläre“ Zeit von fünf Jahren hinaus. Sämtliche Jahrgänge mit Wohnsitz oder Zeiten im Beitrittsgebiet sind in den Jahren 2005 bis 2007 aufgerufen worden, einen Antrag auf Kontenklärung zu stellen. Im Jahr 2006 wurden alle Betroffenen auf die Notwendigkeit einer Kontenklärung bezüglich der Zeiten in der früheren DDR hingewiesen. Auch im Zuge der jährlich wiederkehrenden Versendung der Renteninformation sind alle Versicherten erneut persönlich auf das Erfordernis einer Kontenklärung hingewiesen worden. Ein Großteil der Betroffenen ist dem bislang auch nachgekommen. Darüber hinaus hat auch in diesem Jahr die Deutsche Rentenversicherung Bund noch einmal auf den Fristablauf öffentlich hingewiesen. Der aktuelle Stand sieht folgendermaßen aus: Zum Ablauf der Aufbewahrungsfristen am 31. Dezember 2011 werden die Bestände den regional zuständigen Landes- und Staatsarchiven zur Übernahme angeboten. Bei zentralen staatlichen Behörden und Einrichtungen werden die Unterlagen dem Bundesarchiv angeboten. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung sind bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versicherungskonten in den neuen Bundesländern noch circa 286 000 Konten nicht vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von rund 12 Prozent. Die Aktenlagerung hat vom 1. Juli 2007 bis zum 31. Oktober 2011 bereits 12,5 Millionen Euro gekostet, bis zum Ablauf der Frist am 31. Dezember 2012 rechnet man mit weiteren 1,4 Millionen Euro. Eine wie von der Linken geforderte Fristverlängerung würde entsprechende Kosten nach sich ziehen. Die Akten werden bei der Rhenus Office GmbH gelagert - die Kosten tragen Bund und Länder. Die Administration erfolgt durch die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben. Insofern wäre an dieser Stelle interessant zu erfahren, welche konkreten Zahlen die Linke zur Begründung ihres Antrags vorweisen kann. Oder noch besser: Die Linke möge einen eigenen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben einreichen und darstellen, in welchem Umfang Kosten für die Fristverlängerung zu erwarten sind - außerdem, inwiefern zu erwarten ist, dass diejenigen Betroffenen, die noch keine Kontenklärung beantragt haben, dies in Zukunft tun werden und wie die zu erwartenden Kosten zu rechtfertigen sind. Solange die Linke dies unterlässt, werden wir als FDP-Fraktion diesen Antrag ablehnen.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zeitungen schreiben darüber, im Radio und im Fernsehen gibt es Hinweise, Kommunen machen darauf aufmerksam, Gewerkschaften und Sozialverbände informieren. Auch Sozialministerien und die Deutsche Rentenversicherung äußern sich inzwischen zum bevorstehenden Ablauf der Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen aus DDRZeiten. Dabei hatte die Bundesregierung mir im April auf eine diesbezügliche Frage noch wie folgt geantwortet: „Handlungsbedarf für eine gesonderte Information der Öffentlichkeit über den endgültigen Ablauf der Aufbewahrungsfrist wird zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesehen, da der Fristablauf lange genug bekannt ist.“ Zum Glück haben sich damals dennoch einige Zeitungen dieses Themas angenommen, das inzwischen solche Aufmerksamkeit findet - und das zu Recht, denn die Lohnunterlagen, die unter anderem Auskunft über die Höhe der Einkommen und über Beschäftigungszeiten geben, sind unverzichtbar für die Sicherung von Rentenansprüchen. Fehlende Lohnunterlagen können dazu führen, dass Rentenansprüche gemindert werden oder im schlimmsten Falle ganz verloren gehen. Zu Protokoll gegebene Reden Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung, DRV, Bund sowie der DRV Berlin-Brandenburg, der DRV Mitteldeutschland und der DRV Nord gibt es rund 648 000 ungeklärte Rentenkonten von Versicherten in den ostdeutschen Bundesländern. Nicht erfasst sind in diesen Zahlen diejenigen, die nach Herstellung der Einheit von Ost nach West gingen. Laut Statistischem Bundesamt waren das allein bis 2008 mehr als 2,7 Millionen Menschen. Es ist leider nicht davon auszugehen, dass alle ihre Rentenangelegenheiten geklärt haben. Natürlich resultieren nicht alle Lücken in Rentenkonten aus Zeiten der Berufstätigkeit in der DDR. Aber die Deutsche Rentenversicherung Nord zum Beispiel schätzt für Mecklenburg-Vorpommern, dass von den 57 900 offenen Konten etwa 45 000 wegen fehlender Unterlagen aus DDR-Zeiten noch nicht abschließend geklärt werden konnten. Das sind mehr als drei Viertel. Noch einige Worte zu zwei speziellen Gründen, die Lohnunterlagen zugänglich zu halten. Erstens geht es um diejenigen, die sich in Klageverfahren befinden. Sie müssen erfahrungsgemäß häufig weitere Belege beibringen. Zweitens gibt es den Personenkreis, der nach eventuellen gesetzlichen Korrekturen mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Originaldokumente vorlegen muss. Beide Gruppen brauchen zur Wahrnehmung ihrer Rechte den weiteren Zugang zu den Lohnunterlagen. Die Bundesregierung hat mich auf die Glaubhaftmachung nach SGB VI verwiesen. „Hierdurch werden Nachteile in der Rentenhöhe abgemildert, wenn der Nachweis von Versicherungszeiten nicht gelingt“, hieß es in einer Antwort. Konkret ist eine Glaubhaftmachung mit einem Verlust von einem Sechstel des eigentlichen Anspruchs verbunden. Das wäre eine Belastung vor allem für diejenigen, die längere Zeiten von Arbeitslosigkeit hinnehmen mussten und deren Renten ohnehin schmal ausfallen dürften. Im Übrigen gibt es Menschen, für die selbst eine Glaubhaftmachung schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, zum Beispiel Menschen, die in die Bundesrepublik geflüchtet waren - nachvollziehbarerweise ohne alle Unterlagen - und die heute nur noch vage Erinnerung an genaue Beschäftigungszeiten und an das Einkommen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, entschließen Sie sich wie schon im Jahr 2006 zu einer Gesetzesänderung, um die Frist nochmals zu verlängern! Ändern Sie wie damals den § 28 f Abs. 5 des SGB IV! Ersetzen Sie das darin enthaltene Datum „31. Dezember 2011“ durch den „31. Dezember 2016“. So einfach wäre die Gesetzesänderung! Sie wäre nicht nur für zahlreiche Versicherte, sondern auch für die Deutsche Rentenversicherung gut, denn deren Aufwand zur Feststellung von Rentenansprüchen würde sich ohne den weiteren Zugang zu den Lohnunterlagen massiv erhöhen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Altersarmut droht besonders in Ostdeutschland. Dort drohen nach Berechnungen des DIW aufgrund der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und der Absenkung des Rentenniveaus die Altersbezüge für künftige Rentnerinnen und Rentner massiv zu sinken. Weil jeder Euro zählt, ist es wichtig, dass wir die Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben über den 31. Dezember dieses Jahres hinaus um mindestens fünf weitere Jahre verlängern. Die verlängerte Aufbewahrungsfrist soll gewährleisten, dass die für die Rentenversicherung erforderlichen Daten der Beschäftigten vor dem Beitritt gesichert werden, da gegenwärtig allein bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versicherungskonten noch circa 286 000 Konten nicht vollständig geklärt sind. Dabei kann noch ein Monat offen sein, aber es können auch mehrere Jahre ungeklärt sein. 286 000 Rentenversicherte, das entspricht einem Anteil von circa 12 Prozent. Eine stattliche Zahl. Wenn wir nicht handeln, läuft den Versicherten der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1974, also allen, die noch Berufsjahre in der DDR zurückgelegt haben, langsam die Zeit davon. In sechs Wochen schon, nach dem 31. Dezember, können alle Arbeitgeber und Rechtsnachfolger von DDR-Betrieben, die zuvor gesetzlich verpflichtet waren, die alten Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten aufzuheben, diese nun vernichten. Im Ergebnis wären Verdienstnachweise aus den Jahren vor 1992 dann nicht mehr zu beschaffen und könnten bei der Rentenberechnung nicht mehr berücksichtigt werden. Wenn das Konto Lücken in der Versicherungsbiografie aufweist oder Nachweise unvollständig sind oder ganz fehlen, kann das bei der späteren Rente zu finanziellen Einbußen führen. Wir alle wissen doch: Jede Lücke im Versicherungskonto ist bares Geld. Da ist es nicht nur nicht zielführend, ständig darauf hinzuweisen, die Betroffenen seien in den vergangenen 16 Jahren mehrfach aufgefordert worden, ihre Rentenkonten zu klären, und wer nichts tue, sei selber Schuld. Das ist hochgradig zynisch. Noch mal: Jede Lücke im Versicherungskonto ist bares Geld wert, und zwar für den Einzelnen, der oder die bei der Rente Einbußen wegen Versicherungslücken hinzunehmen hat, aber auch für die Gemeinschaft, der allen Zahlen zufolge auch ohne diese einheitsbedingten Lücken in den Erwerbsbiografien ein immenser Anstieg an Grundsicherungsbezugsbeziehenden ins Haus steht. Wir können uns das schlicht nicht erlauben. Natürlich reicht eine Verlängerung der Aufbewahrungszeiten für die Lohnunterlagen als Maßnahme gegen Altersarmut nicht aus, sondern wir brauchen insbesondere für den Osten eine Garantierente, die über dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau liegt. Die Garantierente kann und soll aber eigene Ansprüche nicht ersetzen. Deswegen gilt es jetzt sicherzustellen, dass die am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet vorhandenen Entgeltunterlagen mindestens bis zum 31. Dezember 2016 vom Arbeitgeber aufbewahrt werden.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7486 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsident Eduard Oswald Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 25 sowie den Zusatzpunkt 6: 25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Tressel, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kontaminierte Kabinenluft in Flugzeugen unterbinden - Drucksache 17/7480 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Tourismus ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Federführung strittig ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter Kabinenluft schützen - Drucksache 17/7611 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Ausschuss für Tourismus ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Federführung strittig Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor.

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich zunächst die vorliegenden Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPDFraktion und die diesbezügliche Debatte nutzen, um klar zu verdeutlichen, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung im Bereich des Luftverkehrs nachkommt. Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, seien sie Beschäftigte bei Fluggesellschaften oder Passagiere an Bord von Luftfahrzeugen, werden mit einer verantwortungsbewussten und nachhaltigen Luftverkehrspolitik begleitet. Als Grundlage aller gesetzlichen Rahmenbedingungen genießen dabei die Sicherheit des Luftverkehrs und der Ausschluss gesundheitlicher Gefährdungen vor allen anderen Belangen die mit Abstand höchste Priorität. Nicht nur vor diesem Hintergrund betrachte ich es als überaus bedauerlich, dass die heute im Plenum zur Debatte stehende Thematik der Geruchsbelästigung und Kontamination von Kabinenluft in Flugzeugen durch Ölrückstände in den vergangenen Wochen überaus einseitig und unverhältnismäßig diskutiert wurde. Höhepunkt dieser überspitzten Darstellung des Sachverhaltes sind die nun vorliegenden Anträge, in welchen von einer Verdichtung von Fällen kontaminierter Kabinenluft in der jüngsten Vergangenheit die Rede ist und der Bundesregierung und den nachgeordneten Behörden in diesem Zusammenhang Untätigkeit vorgeworfen wird. Zunächst gilt deutlich herauszustellen, dass die Gründe für Geruchsbelästigungen in einer Flugzeugkabine unterschiedlich und vielfältig sind und nicht zwangsläufig auf die in den Anträgen thematisierten „fume-events“, eine Verunreinigung der Kabinenluft durch Öldämpfe, zurückzuführen sind. Häufige Ursachen sind vielmehr Gerüche durch Papier oder Cateringaufkleber im Ofen, defekte Kaffeemaschinen, andere Küchendämpfe, Rauchentwicklung im Abfalleimer der Toilette oder verschmorte Verkabelungen und Kunststoffverkleidung. Auch die Verschmutzung der Klimaanlage oder durch Störungen der Hilfsgasturbine verursachter Geruch werden immer wieder als Auslöser einer Geruchsbelästigung identifiziert. Die zuständige Europäische Agentur für Flugsicherheit, EASA, spricht in diesem Zusammenhang von sehr seltenen und kurz andauernden Fällen von Öldämpfen in Flugzeugkabinen, die den Charakter eines meldepflichtigen Ereignisses hätten. Dennoch entsteht fälschlicherweise sowohl in den vorliegenden Anträgen als auch in der Debatte in den Medien der Eindruck, als wären ungewöhnliche Gerüche in Flugzeugkabinen fast zwangsläufig auf Öldämpfe zurückzuführen. Im Monat Oktober hat es drei Ausweichlandungen von Maschinen der Deutschen Lufthansa aufgrund von Geruchsentwicklung gegeben, welche diese bedauerliche Eigendynamik der gegenwärtigen Debatte verdeutlichen. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im politischen Feld wurden die Ereignisse als vermeintliche Vorfälle dargestellt, bei denen es sich um einen „fumeevent“ gehandelt habe und verbrannte Ölrückstände in die Kabine gelangt seien. Nach Rücksprache mit der Lufthansa sind alle drei Vorkommnisse nach umgehender Untersuchung als Aneinanderreihung von Zufällen zu werten, die eindeutig in keinem Zusammenhang mit solch einer Belastung der Kabinenluft stehen. Auch das Luftfahrt-Bundesamt und die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung haben keine Veranlassung gesehen, weitere Untersuchungen in dieser Hinsicht vorzunehmen. Wie man vor diesem Hintergrund, wie in den vorliegenden Anträgen geschehen, von Diskrepanzen und Aufklärungsbedarf sprechen kann, ist mir schleierhaft. Auch die zuständigen Behörden sehen weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene einen Handlungsbedarf. Die weltweit für die Sicherheit im Luft16644 verkehr zuständige Internationale Zivilluftfahrtorganisation, ICAO, die sich bereits Anfang Oktober 2010 mit der Thematik beschäftigt hat, erkennt keinen Grund für Veränderungen. Selbiges gilt für die EASA, die diesbezüglich bereits 2009 einen umfassenden Konsultationsprozess begonnen hat, dessen Ergebnisse öffentlich und auf der Internetseite der Behörde einsehbar sind. Auch gegenwärtig liegen beiden Organisationen keine konkreten Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung von Passagieren oder Besatzungsmitgliedern durch kontaminierte Kabinenluft vor. Selbst die zuständige Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft befasst sich seit dem Jahr 2008 eingehend mit der Frage möglicher Gefährdungen des Personals durch belastete Luft in Flugzeugkabinen, auch in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, IFA. Um einen möglichen Zusammenhang von Gesundheitsbeeinträchtigungen und der beruflichen Tätigkeit zu untersuchen, wurde unter anderem das weltweit größte TKP-Biomonitoring-Projekt initiiert, das nun kurz vor dem Abschluss steht. Bis heute konnten nach Auswertung eines Großteiles der Proben in keinem einzigen Fall Konzentrationen des in den Anträgen thematisierten Öladditivs Trikresylphosphat TKP festgestellt werden, die Gesundheitsbeschwerden begründen könnten. Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, dass die Thematik der kontaminierten Kabinenluft durchaus aktuell ist, die vorliegenden Anträge und die darin enthaltenen Forderungen ebenso wie die mediale Berichterstattung aber mit der gegenwärtigen Sachlage nicht vereinbar sind. Entgegen den Ansichten der Oppositionsfraktionen sieht die CDU/CSU-Fraktion keinen Handlungsbedarf und teilt die Auffassung der Bundesregierung, dass die bereits bestehenden Untersuchungen, Meldepflichten und Verfahren zur Störungsbehebung ausreichen, um - im Falle von Missständen und Fehlverhalten - weitere Schritte einleiten zu können. Nicht zuletzt die umfangreiche Auseinandersetzung mit der Thematik seitens zuständiger Behörden wie der EASA oder auch der zuständigen Berufsgenossenschaft belegt, dass eine mögliche Gefahr durch verunreinigte Kabinenluft seit Jahren immer wieder verantwortungsbewusst und ergebnisoffen untersucht wird. Eine Veranlassung, über die bereits bestehenden und angemessenen Zuständigkeiten und Aktivitäten hinaus Maßnahmen vorzuschreiben, ist daher nicht gegeben. Die vorliegenden Anträge lehnen wir dementsprechend ab.

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am 21. September hat der Tourismusausschuss sich in einem Expertengespräch ausführlich dem komplexen Thema der „fume-events“ in Passagierflugzeugen und der damit in Zusammenhang gebrachten Kontaminierung der Kabinenluft gewidmet. Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung in diesem Kontext auch den Tourismusausschuss zu den gesundheitlichen Gefahren des aerotoxischen Syndroms unterrichtet. Dies zeigt, dass wir uns alle der Problematik verunreinigter Kabinenluft bewusst sind und es auch als potenzielle Gefahrenquelle für die Sicherheit und Gesundheit der Fluggäste wie auch der Besatzungen sehr ernst nehmen. Dies zeigt aber auch, dass das Problem an verantwortlicher Stelle auf der Agenda ist, sowohl bei der Bundesregierung als auch bei den zuständigen Bundesbehörden, dem Luftfahrt-Bundesamt und der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen. Hinsichtlich des prinzipiellen Handlungsbedarfs besteht daher auch weitgehend Konsens. Diese Ereignisse sind sehr ernst zu nehmen, und sie sind in ihrer Relevanz für die Gesundheit der an Bord befindlichen Personen und für die Sicherheit des Flugverkehrs einer eingehenden Bewertung zu unterziehen. Dabei kann sich dies aufgrund der verfahrensrechtlichen Vorgaben und Zuständigkeiten nicht allein in Maßnahmen auf nationaler Ebene erschöpfen, sondern muss in erster Linie zwingend bei der auf europäischer Ebene zuständigen Agentur für Flugsicherheit, EASA, erfolgen. Mit diesen prinzipiellen Punkten endet dann aber auch schon die Übereinstimmung, die ich mit den vorliegenden Anträgen teile. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen speist sich zu sehr aus Mutmaßungen, Einschätzungen und Konstrukten und räumt damit den bislang wissenschaftlich erarbeiteten Untersuchungsergebnissen so gut wie keinen Raum oder Berücksichtigung ein. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der statistischen Datenbasis nicht zielführend, da hiermit die sogenannten fume-events über ihre tatsächliche statistische Relevanz und Ereigniswahrscheinlichkeit aufgebauscht und skandiert werden. Die Art und Weise, wie dieses Thema aufgegriffen wird, ist damit nicht nur unsachlich, sondern dient auch nicht den berechtigten Anliegen der Fluggäste und des Flugpersonals. Schon in der vergangenen Legislaturperiode hat die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitgeteilt, dass in einem Fünfjahreszeitraum, von 2004 bis 2009, vom Luftfahrt-Bundesamt lediglich 156 solcher „fumeevents“ erfasst worden sind. Nach aktuellen Beobachtungen entfällt auf circa 100 000 Flüge ein gemeldeter Fall. Die EASA, die seit einigen Jahren mit diesem Problem befasst ist, hat im Mai dieses Jahres deutlich gemacht, dass bislang keiner dieser Fälle von so gravierender Relevanz gewesen ist, dass damit eine generelle oder gar sofortige Vorschriftenänderung gerechtfertigt werden könnte. Damit greifen auch die Forderungen des Antrags ins Leere, so zum Beispiel, die Wartungsintervalle und -verfahren zu optimieren. Bei einer solchen Ereigniswahrscheinlichkeit ist zwischenzeitlich jedes Teil der Maschine durch mehrere Wartungszyklen gelaufen, sodass ein weiterer keinen Zusatznutzen bescheren könnte. Auch die Aufforderung des Antrags an die Flugzeugbesatzungen, bei entsprechenden Ereignisfällen im Cockpit die Sauerstoffmasken zu verwenden, scheint mehr von der Außenwirkung getragen zu sein als von sachlicher, unaufgeregter Herangehensweise. Schließlich ist dies den Piloten in entsprechenden Gefahrensituationen ohnehin aufgegeben. Zu Protokoll gegebene Reden Anita Schäfer ({0}) In diesem Zusammenhang stellt auch die Begriffsverwendung von „neurotoxologisch bedenklichen Ölen“ eine tendenzielle und pauschalisierte Bewertung der bislang verwendeten Öle dar. Damit soll ein kausaler Zusammenhang zwischen den verwendeten Ölen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Fluggästen oder dem Flugpersonal impliziert werden. Das ist aber derzeit nicht nur wissenschaftlich nicht nachweisbar, sondern auch durch die bislang vorhandenen Untersuchungsergebnisse in keiner Weise untermauert. Vielmehr sprechen eben diese Ergebnisse dezidiert gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen den sogenannten fumeevents und den in Urinproben festgestellten untergrenzwertigen TCP-Belastungen. Gleichwohl wird in dem Antrag gefordert, diese bedenklichen Öle durch andere, als weniger bedenklich bezeichnete auszutauschen. Offen bleibt dabei, welche das sein sollen. Denn auch hier ist es ein feststehendes Faktum, dass die bislang verwendeten Öle und Betriebsmittel ausführlich erprobt und auch hinreichend bewährt sind. Mir scheint es dagegen viel mehr ein Risiko darzustellen, diese durch vermeintlich unbedenklichere zu ersetzen, die nicht annähernd so gut untersucht und im Einsatz bewährt sind. Der Nutzen einer Maßnahme, die etwas Bewährtes durch etwas noch nicht Bewährtes ersetzt, erschließt sich mir nicht. Ebenso sind die Forderungen zu den Bauvorschriften nicht hinlänglich stringent, weder im Fall der geforderten Detektoren noch der entsprechenden Filter. Einerseits erscheint mir die Forderung, Bau- und Konstruktionsvorschriften zu erlassen, ohne eine schlüssig und empirisch nachgewiesene Ursache-Wirkung-Kette zu haben, ein Stück weit unredlich. Andererseits sind die infrage kommenden zu detektierenden oder zu filternden Stoffe so vielfältig, dass dies in technischer Hinsicht eine außerordentlich breite anspruchsvolle Anforderung darstellt. Derzeitig verfügbare Detektoren können bei entsprechender Kalibrierung rund zehn unterschiedliche Stoffe aufspüren. Wie in der Expertenanhörung deutlich wurde, umfasst allein die Gruppe der unter dem Sammelbegriff Trikresylphosphat zusammengefassten Stoffe zehn unterschiedliche Isomere. Dabei kann deren Konzentration in der Kabine hinsichtlich ihrer Kausalität für Beschwerden derzeit nicht wissenschaftlich fundiert unterstellt werden. Demzufolge ist das Spektrum infrage kommender Stoffe eventuell noch breiter. Zum anderen sind aber auch die Expositionsquellen der unter dem Grenzwert liegenden TCP-Konzentrationen, wie zum Beispiel in den Kabinen verwendete Kunststoffe, vielfältiger, als der Antrag glauben macht, und vielfältiger, als dass man dem Ganzen mit Zapfluftfiltern begegnen könnte. Der Antrag der SPD-Fraktion bemüht sich mit weniger Pauschalisierungen um einen sachlicheren Umgang mit dieser sensiblen Materie. Gleichwohl betrachtet er das Problem ebenfalls allein aus einer Blickrichtung und räumt den bislang vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen ebenfalls keinen Raum ein. Wenngleich ich in meinen Ausführungen die vielfältigen Forderungen der Anträge ablehne und an deren Sachdarstellung Kritik übe, dann jedoch nicht, weil ich auch die grundsätzliche Zielsetzung ablehne. Nein, denn auch ich bin dezidiert wie meine Fraktion der Auffassung, dass hier weiterhin grundsätzlicher Klärungsbedarf zur Gewährleistung der Gesundheit und Sicherheit von Flugpersonal und Passagieren besteht. Mir ist es aber wichtig, für alle regulatorischen Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze eine ausreichende, stichhaltige und gerichtsfest verantwortbare Datenbasis zu besitzen. Diese ist derzeit nicht gegeben und muss dringend eine Erweiterung erfahren. Der wichtigste Ansatz hierzu ist es hierbei, die Meldeketten im Ereignisfall effektiver zu gestalten. Hier muss die Aufsicht über die Luftfahrtunternehmen durch das Luftfahrt-Bundesamt dafür Sorge tragen, dass alle Vorfälle vollständig und unverzüglich gemeldet werden und damit einen hilfreichen und zielführenden Beitrag für die notwendige Verbreitung der Datenbasis leisten. Nur so ist es möglich, zeitnah zu den Vorfällen wissenschaftlich zweifelsfrei verwendbare Erhebungen zu erhalten. Gegenüber den umfänglichen Forderungen, die in den Anträgen aufgestellt werden, ist dies zudem eine Vorgabe, die nicht ins Blaue hinein umfängliche und kostenträchtige technische Maßnahmen für die Unternehmen und mittelbar für die Fluggäste sowie insgesamt einen spürbaren wirtschaftlichen Wettbewerbsnachteil für den Standort Deutschland nach sich zieht.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Seit Jahren gibt es eine sich wiederholende Diskussion zum Thema „kontaminierte Kabinenluft“. Manche bezeichnen das als Phantomdiskussion. Die SPD-Bundestagsfraktion sagt klar: Wir haben es hier mit einem Problem für Flugsicherheit und Gesundheit des Flugpersonals und der Passagiere zu tun. Deswegen haben wir das Problem aufgegriffen. In unserer Bewertung fühlen wir uns unterstützt durch zahlreiche Medienberichte wie im „Spiegel“ und der Magazinsendung „Monitor“, aber mehr noch durch Berichte von Flugzeugbesatzungen. Im Tourismusausschuss hat es am 21. September 2011 hierzu ein Expertengespräch gegeben. Im Vorfeld dieses Expertengespräches erreichten den Tourismusausschuss beunruhigende Berichte von Flugzeugbesatzungen, die über chemische Gerüche in Flugzeugkabinen klagten und über gesundheitliche Beeinträchtigungen berichteten. Es geht hier nicht nur um gesundheitliche Gefährdungen für die Flugzeugbesatzung und Passagiere, sondern es geht um ein Risiko für die Flugsicherheit. So wurde zum Beispiel berichtet, dass Piloten am 18. Januar 2002 auf einem Flug von Katowice nach Frankfurt, nachdem sie den ganzen Flug über schon Gerüche in der Kabine festgestellt hatten, nur durch das Aufsetzen der Sauerstoffmasken das Flugzeug sicher auf den Boden bringen konnten. Berichte über ähnliche Vorkommnisse gibt es auch aus jüngerer Zeit. Ich verweise auf die Darlegungen im Expertengespräch. Um welches technische Problem geht es eigentlich? Diese als „smoke/fume-events“ bezeichneten Vorkommnisse entstehen zum Beispiel, wenn infolge fehlerhafter Dichtungen durch das Zapfluftsystem der Verkehrsflugzeuge Rückstände von verdampftem Triebwerksöl angeZu Protokoll gegebene Reden saugt werden und danach in die Kabinenluft gelangen. Im Triebwerksöl enthalten sind verschiedene Additive, unter anderem das hoch giftige Trikresylphosphat, TKP, englisch TCP. Gelangen diese Rückstände in die Kabinenluft, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie ernste gesundheitliche Beeinträchtigungen wie stechende Schmerzen in Armen, Händen, Füßen, Schwindel, Taubheitsgefühle, Muskelschwäche, chronische Müdigkeit, Asthma, Schädigungen des Nervensystems, Krebs etc. hervorrufen können. Einwirkungen auf das Servicepersonal für die Reinigung der Flugzeuge am Boden sind nicht ausgeschlossen. Bislang ist es für das betroffene Flugpersonal schwer, zu beweisen, dass langfristige gesundheitliche Schäden durch das Einatmen bzw. anderweitige Aufnahme von Giftstoffen während der Tätigkeit an Bord verursacht wurden, denn bislang fehlt der wissenschaftliche Beweis einer Kausalkette für die Auswirkungen von kontaminierter Kabinenluft auf die menschliche Gesundheit. Eine Erkrankung mit den beschriebenen Symptomen, das „Aerotoxische Syndrom“, wurde bislang von den Berufsgenossenschaften nicht als Berufskrankheit des fliegenden Personals klassifiziert. Hier besteht dringender Klärungsbedarf, in diesem Sinne ist unser Antrag zu verstehen. Vorfälle infolge kontaminierter Kabinenluft treten unvorhergesehen auf. Häufig besteht keine Klarheit darüber, wann es sich um eine Störung bzw. schwere Störung nach § 5 der Luftverkehrs-Ordnung, LuftVO, handelt. Stellungnahmen des Flugpersonals und aktuelle Medienberichte lassen darauf schließen, dass das Personal im Hinblick auf diese Vorfälle bislang nur ungenügend aufgeklärt und geschult wurde. Gemäß § 5 der Luftverkehrs-Ordnung, LuftVO, sind „smoke/fume-events“ dem Luftfahrtbundesamt, LBA, bzw. der Bundesstelle für Fluguntersuchungen, BFU, anzuzeigen. In 2010 wurden bei der BFU zwar von einer deutschen Airline 60 Öldampf-Störfälle gemeldet, vergleiche „Spiegel“-Ausgabe 9/2011. Dennoch besteht offensichtlich eine Diskrepanz zwischen den in den Medien berichteten Vorfällen, bei denen kontaminierte Kabinenluft vermutet wurde, und den tatsächlich bei der BFU angezeigten Störfällen. Auch hier besteht dringender Aufklärungsbedarf. Das Expertengespräch hat ergeben, dass die Sachverständigen die Existenz eines „Problems“ bestätigt haben. In der Frage der Folgen von kontaminierter Kabinenluft auf Flugsicherheit und Gesundheit gab es unterschiedlich Bewertungen. Die SPD-Bundestagsfraktion geht davon aus, dass die Flugzeugindustrie und die Fluggesellschaften, aber auch die Flugsicherheitsbehörden ein großes Interesse an der weiteren Ursachenforschung und an technischen Lösungen haben. Der SPD-Bundestagsfraktion fehlen Handlungsanweisungen zur technischen Aufklärung der Ursachen dieser Erscheinung auf der Basis gesicherter Erkenntnisse und wissenschaftlich-technischer Forschungsergebnisse. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung daher auf, entsprechend tätig zu werden. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass nun endlich umfassende Langzeitmessungen zur Belastung der Kabinenluft mit Organophosphaten und anderen Schadstoffen veranlasst werden, und im Rahmen einer unabhängigen wissenschaftlichen Studie der kausalen Zusammenhang zwischen kontaminierter Kabinenluft und den gesundheitlichen Auswirkungen weiter erforscht wird. Die Entwicklung von geeigneten Bluttests zum Nachweis von Organophosphaten im menschlichen Organismus muss vorangetrieben werden, um schädigende Auswirkungen auf die Flugzeugbesatzungen und die Passagiere feststellen zu können, wenn es zu einem Vorfall mit kontaminierter Kabinenluft gekommen ist. Für die vom „Aerotoxischen Syndrom“ betroffenen Flugzeugbesatzungen ist es von besonderer Wichtigkeit, dass die Voraussetzungen für eine mögliche Anerkennung als Berufskrankheit geprüft werden. Wir dürfen die Piloten und Flugbegleiterinnen hier nicht im „Dunst“ stehen lassen. Um das gesamte Problemfeld zu untersuchen und Lösungen zu finden, müssen die zuständigen Bundesbehörden, die Luftfahrtunternehmen und Flugzeug- sowie Triebwerkshersteller Hand in Hand arbeiten. Die Entwicklung geeigneter Mess-, Kontroll- und Warnsysteme für gesundheitsgefährdende Stoffe im Zapf-/Luftsystem aus den Triebwerken muss vorangetrieben werden. Ein Lösungsweg könnte im Einbau entsprechender Technik, wie zum Beispiel Sensoren in Verkehrsflugzeugen mit Zapf-/Luftsystem, bestehen. Für die künftige Generation von Verkehrsflugzeugen ist die Entwicklung von Alternativen zur gegenwärtigen Zapfsystemtechnik zu prüfen. Im Zusammenhang mit der Erstellung dieses Antrags hatte ich interessante Gespräche mit Unternehmen, Gewerkschaften und der Luftverkehrswirtschaft. Dabei wurde meine Aufmerksamkeit auf eine Firma gelenkt, die bereits ein Messgerät entwickelt hat - den „Aerotracer“ -, das bereits im praktischen Einsatz ist, um Öldämpfe aus Flugzeugturbinen zu lokalisieren. Dies ist nach meiner Auffassung ein Ansatzpunkt für weitere technische Untersuchungen. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht im Übrigen ein Potenzial für die Beseitigung des „Problems“ auch in der Entwicklung von nicht toxischen Schmierölen für Triebwerke. Diese Entwicklungen müssen vorangetrieben werden. Es liegt nahe, dass nicht nur die Flugzeugbesatzungen und Passagiere, sondern auch das Reinigungspersonal dem gesundheitsgefährdenden TCP ausgesetzt sein können. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag von der Bundesregierung Untersuchungen zu veranlassen, die Aufschluss über mögliche gesundheitliche Belastungen des Reinigungspersonals durch Kontakt mit entsprechenden Schadstoffen auf Sitzen und Innenverkleidung geben. Das Thema „kontaminierte Kabinenluft“ ist von allen Experten als ein Problem anerkannt worden. Deshalb fordern wir, dass über ein kontinuierliches Forum der fachliche Informationsaustausch über Kabinenluftbelastungen geführt wird. Darin müssen die zuständigen Ministerien und Behörden, aber auch Gewerkschaften, Verbände, Berufsgenossenschaften, die Luftfahrtindustrie und die Luftfahrtunternehmen einbezogen werden. Wir dürfen die Betrachtung des Problems nicht auf Deutschland beschränken. Es reicht nicht aus, in Deutschland die Untersuchungen zur kontaminierten Zu Protokoll gegebene Reden Kabinenluft voranzutreiben. Dies ist ein globales Thema. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Bundesregierung auch auf EU-Ebene und international dafür einsetzt, dass Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt und daraus abgeleitete einheitliche Standards für die Qualitätssicherung der Kabinenluft sowie entsprechende Prüfverfahren vereinbart werden. Wir können uns in Kenntnis der Vorkommnisse mit den derzeitigen fachlichen Bewertungen durch die EASA nicht zufrieden geben. Ich bitte Sie im Interesse der Flugzeugbesatzungen und der Passagiere unseren Antrag zu unterstützen.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die von Bündnis 90/Die Grünen und SPD vorgelegten Anträge sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Hysterie verbreitet wird. Wer die Antragstexte liest, bekommt den Eindruck, als ob Fluggäste und Flugpersonal geradezu reihenweise vergiftet werden. Es heißt sogar, dass ein „enormes Risiko für die Flugsicherheit bestünde“. In Deutschland starten und landen jedes Jahr fast drei Millionen Flugzeuge. Zahlen, die auch nur ansatzweise eine Gefahr für die Flugsicherheit durch kontaminierte Kabinenluft hergeben, lassen sich nicht finden. Die Europäische Agentur für Flugsicherheit EASA hat im Mai 2011 festgehalten, dass es zum Thema Kabinenluft bezogen auf die Sicherheit keinen Vorfall gebe, der eine sofortige oder generelle Vorschriftenänderung rechtfertigt. Ebenso wenig gibt es Erkenntnisse über großflächige Vergiftungen. Insofern stellt sich die Frage, ob hier nicht Panik geschürt wird, die der Sache unangemessen ist. Stattdessen wird von den Grünen auch noch der Verdacht geschürt, die Luftverkehrsbranche würde Rechtsbruch begehen. Es heißt da im Antrag, die Bundesregierung solle „die Einhaltung aller Rechtsvorschriften fordern“. Oder wollen Sie behaupten, dass die Bundesregierung kein Auge darauf hat, dass geltendes Recht eingehalten wird? Natürlich, die Möglichkeit, dass Kabinenluft in Flugzeugen kontaminiert wird, darf nicht einfach beiseite gewischt werden. Es besteht aber nicht, wie von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, dargestellt, akuter Handlungsbedarf. Die Ergebnisse der EASA, die sich mit dem Thema beschäftigt, sind öffentlich. Die EASA will weitere Studien auf den Weg bringen. Es ist nicht nötig, wie von Ihnen gefordert, weitere umfangreiche Testreihen auf den Weg zu bringen. Diese Forderung ist schlicht unangemessen und unverhältnismäßig. Ich weise Sie auch darauf hin, dass die Industrie dieses Thema schon lange auf dem Schirm hat. Sowohl die Fluggesellschaften als auch die Flugzeughersteller beschäftigen sich intensiv mit der Problematik. Dabei sind Studien sowohl der Fluggesellschaften selbst als auch der Berufsgenossenschaft ohne Befund geblieben. Die Hersteller arbeiten bereits an Lösungen, die die schon jetzt sehr geringe Gefahr weiter reduzieren. Störungen und Ereignisse, die die Sicherheit beeinträchtigen können, eben zum Beispiel kontaminierte Kabinenluft, müssen dem Luftfahrt-Bundesamt gemeldet werden. Hier ist es auch unverhältnismäßig, zu fordern, dass selbst jede kleine Störung weitergemeldet wird. Damit schaffen Sie einen erheblichen bürokratischen Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Eine Meldepflicht für jede noch so kleine Störung ist abseits der Lebenswirklichkeit. Es gibt bereits eine Reihe von Maßnahmen, die auf den Weg gebracht wurden. Es gibt bereits Studien, und weitere sind im Auftrag, also muss man die Kirche auch mal im Dorf lassen. Die von der Opposition geforderten Gremien und neuen Studien bedeuten eine unverhältnismäßige Bürokratie. Neue Erkenntnisse hingegen sind nicht zu erwarten. Es bleibt schleierhaft, wieso die bisherigen Instanzen nicht ausreichend für die Problematik qualifiziert sein sollen. Es ist auch bezeichnend, wie hier, um dem eigenen Antrag mehr Dramatik zu verleihen, Worte verdreht werden. Die sogenannten „fume-events“ werden gleich samt und sonders zu einer Verunreinigung durch Öldämpfe erklärt, obwohl sie auch andere Ursachen haben können. Hinzu kommt, dass nicht jeder, der mit Kopfschmerzen oder Übelkeit aus dem Flugzeug steigt, gleich vergiftet worden ist. Wer diesen Eindruck erweckt, handelt fahrlässig und schürt unverantwortliche Panik unter all den Millionen Urlauberinnen und Urlaubern, unter den Berufspendlern und unter dem Flugpersonal. Oft genug vertragen Menschen den niedrigen Luftdruck in der Höhe nicht, leiden unter einer Allergie oder haben schlicht zu wenig getrunken. Wer dann mit solchen Anträgen kommt und den Menschen den Eindruck vermittelt, sie seien vergiftet worden, handelt schon fast fahrlässig. Das Fliegen gehört zu den sichersten Fortbewegungsmöglichkeiten überhaupt. Daran ändern auch einzelne Vorfälle nichts. Wie oft hat es bei den fast drei Millionen Flugbewegungen in Deutschland solche Probleme gegeben? Und wie oft haben die Flugpassagiere dann noch so viel von eventuellen Schadstoffen eingeatmet, dass es überhaupt zu einer Vergiftung kommt? Vergessen Sie auch nicht, dass die Kabinenluft eines Flugzeugs innerhalb weniger Minuten komplett ausgetauscht wird. Dies alles ist bei der Bewertung dieser Frage ebenfalls zu berücksichtigen. Eine hundertprozentige Sicherheit wird man nie schaffen können. Letzten Endes bleibt der Eindruck, dass die Anträge vor allem durch eine generelle Skepsis gegenüber dem Flugverkehr motiviert sind. Es gibt bereits diverse Untersuchungen zu diesem Thema, und die verantwortlichen Stellen, also vor allem das Luftfahrt-Bundesamt und die Europäische Agentur für Flugsicherheit, handeln verantwortungsbewusst und angemessen. Es besteht kein Grund, eine überbordende Bürokratie aufzubauen und Doppelstrukturen zu schaffen. Zu Protokoll gegebene Reden

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Immer wieder berichten Fluggäste und die Besatzungen von Flugzeugen von störenden, chemischen Gerüchen und Rauch- oder Gaserscheinungen in der Kabine. Diese sogenannten Fume Events oder Smoke Events werden ausgelöst durch das Ansaugen von verdampften Ölrückstanden durch die Frischluftzufuhr des Flugzeuges. Dieses Triebwerksöl enthält unter anderem das hochgiftige Kresylphosphat, weshalb die Kontamination der Kabinenluft durch Ölrückstände im dringenden Verdacht steht, für eine Reihe akuter Beschwerden und chronischer Erkrankungen von Kabinenpersonalpersonal verantwortlich zu sein. Unser im Tourismusausschuss durchgeführtes Expertengespräch hat uns zum Thema aufschlussreiche wie erschreckende Erkenntnisse gebracht. Hierbei bewegen mich besonders zwei Aspekte: Die Belange der Betroffenen, die als fliegendes Personal dem Schadstoff Kresylphosphat möglicherweise über Jahre in gesundheitsschädlichen Konzentrationen ausgesetzt waren. Zum Zweiten, wie eine Kontamination zukünftig wirksam ausgeschlossen werden kann. Ich komme zunächst zum fliegenden Personal. Wie im Expertengespräch deutlich wurde, haben Angestellte der Luftfahrtbranche große Schwierigkeiten bei der Beweisführung, dass infrage kommende Erkrankungen durch eine Kontamination der Kabinenluft durch Kresylphosphat ausgelöst wurden. Dies liegt zum einen daran, dass ein Nachweis über die Aufnahme von Kresylphosphat in den Körper und ein Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen aus medizinischer Sicht schwer zu führen ist. Auf der anderen Seite - und dies wiegt schwerer - zögern viele Kabinenbeschäftigte aufgrund von Klauseln in ihrem Arbeitsvertrag damit, ihre Beschwerden untersuchen zu lassen; denn sollte ein Arzt die Flugunfähigkeit eines Beschäftigten feststellen, ist dieser seinen Job los. Ohne beweisen zu können, dass seine Flugunfähigkeit durch die berufliche Tätigkeit verursacht wurde, bedeutet dies den wirtschaftlichen Ruin. Hier muss die rechtliche Situation dringend zugunsten der Beschäftigten angepasst werden. Wie kann es aus technischer Sicht überhaupt zu einer solchen Kontamination der Kabinenluft durch Rückstände von Triebwerksöl kommen? Die Antwort ist in der Tat bemerkenswert: Die Luft für die Triebwerke des Flugzeuges und die Luft zur Belüftung der Kabine wird dem Flugzeug durch ein und dasselbe Ansaugsystem zugeführt, wodurch im Störungsfalle Substanzen aus dem Treibwerk in die Luftzufuhr gelangen können. Die Zusammenführung der Luftversorgung von Triebwerk und Kabine ist allerdings keine technische Notwendigkeit, sondern lediglich Kostengrünen geschuldet. Eine Trennung in zwei voneinander getrennte Systeme ist technisch ohne Weiteres möglich und würde die sogenannten Fume/Smoke-Events wirksam ausschließen. Aus Sicht der Linken sind folgende Maßnahmen im Umgang mit kontaminierter Kabinenluft erforderlich: langfristig angelegte unabhängige Untersuchungen zur Häufigkeit der sogenannten Fume/Smoke-Events; Maßnahmen zur Luftgütesicherung in Kabinen durch Installation von geeigneten Messsystemen; eine medizinische Studie zu den Auswirkungen einer Langzeitkontamination mit Kresylphosphat bei gleichzeitiger Herstellung von Rechtssicherheit für die Beschäftigten im Hinblick auf ihren Arbeitsplatz und mittelfristig eine Änderung der Bestimmungen zum Flugzeugbau, sodass eine Kontamination von Kabinenluft mit Triebwerksrückständen zukünftig auf technischem Wege ausgeschlossen werden kann.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Seit fast zwei Jahren beschäftige ich mich nun mit dem Thema Kabinenluft in Verkehrsflugzeugen. Heute haben Sie einen Antrag von uns vorliegen. Warum haben wir so lange an diesem Antrag gearbeitet? Ich sage es Ihnen: Es ist ein sehr komplexes Thema, das keine Schnellschüsse erlaubt. Dabei lässt es sich ganz kurz vorstellen: Es geht um Nervengift in der Flugzeugkabine. Ich hielt das zunächst für ausgeschlossen. Deshalb habe ich entsprechende Vorrecherchen betrieben, führe seit nunmehr anderthalb Jahren intensive Gespräche. Nur nicht mit den Fluggesellschaften. Die verwehren sich größtenteils diesem Dialog, leider. Dabei wird es nur mit ihnen gelingen. Erst im Vorfeld der heutigen Debatte erhielt ich erste Rückmeldungen. Dieser Antrag ist deshalb - wohl gemerkt - nur ein Zwischenergebnis. Es geht nicht nur um Gift in der Kabine und damit um die Flugsicherheit und die Gesundheit von Passagieren und Flugpersonal. Es geht hier um unternehmerische Verantwortung und eine Bundesregierung, die nicht handelt. Aber es geht auch um die Zukunft der Luftverkehrswirtschaft. Dieses Thema erstreckt sich weit in die Industriepolitik. Deshalb ist hier erstens ein Dialog der Akteure gefragt und zweitens auch eine Politik, die sich der Konsequenzen durchaus bewusst ist. Mich erinnert die Debatte manchmal ein wenig an die Diskussion über andere Schadstoffe wie etwa Asbest. Auch hier hat man lange ein Problem negiert. Heute weiß man jede Menge darüber, und niemand würde mehr die Gefährlichkeit dieses Stoffes bestreiten. Im Flugzeug haben wir es mit mehreren verschiedenen Gefährdungsquellen zu tun. Das haben wir in unserem Antrag dargelegt. Leider leidet der heute zuständige Staatssekretär Mücke offensichtlich an Regierungsamnesie. Jedenfalls scheint er sich nicht mehr daran zu erinnern, dass er in der letzten Legislaturperiode selber Informationen einforderte und explizit auf Pestizide in Flugzeugen hinwies. Herr Mücke, Sie ließen zuletzt über das Kabinettsreferat mitteilen, dass meine diesbezüglichen Schreiben an zuständige Behörden nicht mehr beantwortet würden. Ich finde, das ist ein ganz schön dicker Hund! Um eines deutlich zu sagen: Uns geht es hier nicht darum, Verunsicherung zu schüren oder Airlines zu beschädigen, wie uns zuweilen unsachlich vorgeworfen wird. Uns geht es darum, eine nachhaltige Lösung für ein schwerwiegendes Problem zu finden, das es objektiv betrachtet gibt. Es hilft weder den Passagieren und den Zu Protokoll gegebene Reden Besatzungen noch den Airlines selbst, wenn man sich einem derartigen Problem nicht stellt und stattdessen eine Wagenburg baut und versucht, das Thema auszusitzen. Es bringt aber auch nichts, ausschließlich zurückzuschauen. Ich appelliere an die Airlines, aber auch an die Flugzeughersteller, den Dialog unaufgeregt und sachlich zu führen und mit der Politik gemeinsam eine Lösung zu finden. Wir haben mit unserem Antrag Lösungsvorschläge gemacht, die auch die Industrie nicht überfordern, aber für mehr Sicherheit und Gesundheitsprävention im Flugverkehr sorgen. Und das ist nicht nur im Interesse zufriedener Fluggäste und Besatzungsmitglieder, sondern auch im ökonomischen Interesse der Fluggesellschaften. Ich möchte mich hier noch einmal kurz auf die Öldämpfe konzentrieren. Wie kommen die eigentlich in die Kabine? Vereinfacht dargestellt: Fast alle Flugzeuge zapfen die Luft an den Triebwerken ab. Darin werden Öle benutzt. Und in den Ölen befinden sich Additive, die toxisch wirken. Wenn diese Öle erhitzt werden und Dampf bilden, kann dieser in die Kabinenluft gelangen. Lediglich eine Dichtung trennt mit Öl geschmierte Teile des Triebwerkes von der Kabinenluft. Solche Dichtungen lassen konstruktionsbedingt bei Lastwechseln quasi immer zumindest geringe Mengen an Öldampf durch, der dann in die Kabinenluft gelangt. So wurde auch eine Belastung von neurotoxischen Stoffen im Normalbetrieb durch das norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt festgestellt. Dieser Mechanismus ist meines Erachtens schon rein aus der Logik heraus extrem fragwürdig. Warum zapft man „Frischluft“ in Triebwerken ab, die nun mal auf Öle etc. angewiesen sind? Nun gut: Dieses Problem wird man nicht von heute auf morgen lösen können. Lösungsansätze haben wir Ihnen präsentiert. Und nicht zuletzt der Dreamliner zeigt mit seiner Abkehr vom Zapfluftmechanismus, wohin die Reise technisch geht! Qualitätsstandards der Kabinenluft sind bezogen auf die drei Gefahrenquellen TCP, Ozon und Pestizide nicht vorhanden. Stattdessen ist es laut den Bestimmungen sogar zulässig, Passagiere bei 60 Grad Celsius zu befördern. Das macht doch deutlich, dass wir hier Handlungsbedarf haben. Das LBA erweist sich bislang nicht als verantwortungsbewusst. Bis zuletzt begnügte sich die Aufsichtsbehörde mit erst auf Nachfrage gemeldeten Fällen von meldepflichtigen Ereignissen. Das kann nicht geduldet werden. Das widerspricht auch nicht zuletzt dem europäischen Recht! Kurzum: Öldampf hat nichts in der Kabine zu suchen. Ozon hat nichts in der Kabine zu suchen. Und Pestizide haben auch nichts in der Kabine zu suchen, wenn Passagiere darin sitzen. Fälle, bei denen Personal ausfällt und Störungen, welcher Art auch immer, festgestellt werden, sind schwere Störungen! Daran gibt es nichts zu deuteln. Aber durch zögerliches Meldeverhalten werden hier unabhängige Untersuchungen verhindert. Weitere Untersuchungen seien auch gar nicht nötig, so die Wirtschaft bislang; denn eigene Tests würden beweisen, dass noch nie etwas gefunden worden wäre. Ist ja erstaunlich, fragt man sich da. Nicht nur, dass Testverfahren und Suchergebnisse eventuell falsch sein könnten - es ist doch umso verwunderlicher, dass eine Vielzahl von unabhängigen Studien und Forschungen mittlerweile Nachweise erbracht haben. Sind denn etwa nur deutsche und betriebsinterne Studien anerkannt? Das wäre ein ganz schön großer Affront gegen die Wissenschaft! Die Liste der Studien wird immer länger, die auf kontaminierte Kabinenluft - mittlerweile, wie vorhin gesagt, sogar im Normalbetrieb - hinweisen. Das Fresenius Institut hatte im Jahr 2009 über sogenannte Wischproben eine Verunreinigung der Lufteinlässe durch TKP festgestellt. Gestützt wird diese These mittlerweile durch andere Untersuchungen wie beispielsweise durch das norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt oder Studien aus den USA, bei denen 50 Prozent der getesteten Personen Abbauprodukte im Blut hatten, obwohl sie noch nicht einmal ein „fume-event“ bewusst erlebt haben. Neben den Amerikanern, den Norwegern, Briten, Australiern und Kanadiern kommt dieses Thema nun Deutschland immer näher. So zeigen sich auch in den Niederlanden entsprechende Forschungsansätze. Und was passiert hier? Ein Großteil der Arbeitsmediziner ist überfordert, weil es keine Forschung hierzulande gibt. Folglich wird auch eine mögliche Erkrankung nicht auf einen Flug zurückgeführt. Unbekannte Anamnese, heißt es dann. Wir haben zahlreiche Stellungnahmen von Betroffenen im Vorfeld des Expertenhearings bekommen. Warum lassen diese Menschen zahlreiche Untersuchungen über sich ergehen, zuweilen in den USA für viele Tausend Euro, frage ich mich. Das sind doch nicht alles Simulanten, die sich ein Krankheitsbild überlegt haben, um ihren Arbeitgeber zu schädigen! Das Statement des Bundesverbandes der Deutschen Luftverkehrswirtschaft, BDL, möchte ich zum Abschluss zitieren. „Für die Luftverkehrswirtschaft haben die Sicherheit und damit das Ziel, dass Passagiere und Mitarbeiter ihr Ziel gesund und sicher erreichen, höchste Priorität.“ Wenn dem so ist, wovon ich ausgehe, muss man auch entsprechend handeln. Selbst wenn nur der geringste Verdacht bestünde, dass es ein ernsthaftes Problem gibt, wäre ein stringenteres Handeln notwendig. Wir sind bereit, zusammen mit der Wirtschaft nach Lösungen zu suchen, und bieten noch einmal den Dialog und die Bereitschaft an, im Interesse der Fluggäste, der Besatzungen und der Airlines zu deutlichen Verbesserungen zu kommen. Wir haben Lösungswege in unserem Antrag aufgezeigt, für deren Umsetzung wir werben.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/7480 und 17/7611 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch bei beiden Vorlagen strittig. Die Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Tourismus. Vizepräsident Eduard Oswald Ich lasse zunächst abstimmen über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der Sozialdemokraten, also über die Federführung beim Tourismusausschuss. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Das sind die SPD-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Überweisungsvorschläge sind abgelehnt. Ich lasse nunmehr abstimmen über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also über die Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei anderen Fraktionen in der Opposition. Enthaltungen? - Keine. Überweisungsvorschläge sind angenommen. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 26 sowie den Zusatzpunkt 7: 26 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen - Assoziationsrecht wirksam umsetzen - Drucksache 17/7373 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen - Drucksachen 17/3686, 17/5989 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Daniela Kolbe ({3}) Hartfrid Wolff ({4}) Ulla Jelpke Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bereits in der vergangenen Plenarwoche haben wir im Plenum ausführlich über den 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens debattiert. Unverständlich ist es deshalb, dass nun mit einiger Verspätung im Antrag der Linksfraktion dazu noch einmal dieselben Forderungen vorgebracht werden, die wir nicht nur bereits aus der gemeinsam vereinbarten Debatte am 26. Oktober 2011 im Plenum kennen, sondern auch aus einigen gleichgerichteten Anfragen der letzten Jahre. Gefordert wird - in der eigenen Begrifflichkeit der Linksfraktion - die Änderung der „restriktiven Einwanderungspolitik“: erleichterte Einbürgerungen, Wahlrecht für Ausländer auf kommunaler, Landes- und Bundesebene und die Rücknahme der so bezeichneten „Gesetzesverschärfungen“. Mit Letzterem bezieht sich die Linksfraktion insbesondere auf das von Regierung und Koalition im März dieses Jahres beschlossene „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“, zum Beispiel auf die Verlängerung der Mindestehebestandszeit, aufgrund derer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehepartners nunmehr erst nach drei und nicht mehr wie bisher nach zwei Jahren begründet werden kann. All diesen angeblichen „Verschärfungen“ läge derselbe Fehler zugrunde: Die Verletzung der sogenannten Stillhalteklausel des Assoziationsrechts zwischen der EU und der Türkei. Ich möchte mich hier nicht detailliert mit unseren Gesetzesvorhaben der letzten Jahre auseinandersetzen und die Angemessenheit dieser Regelungen begründen, da an dieser Stelle zum einen dafür schlichtweg die Zeit fehlt, vor allem aber, weil diese schon ausgiebigst in den einzelnen Stufen des Gesetzesverfahrens erörtert wurden. Ich möchte vielmehr auf den von der Linksfraktion zu Unrecht erkannten „Grundfehler“ und die „standstill“-Klausel eingehen: Unter Berufung auf eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages behauptet die Linksfraktion, die Bundesregierung habe gegen das Verschlechterungsverbot im Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei aus dem Jahre 1963 verstoßen. Die Bundesregierung hat aber in diesem Zusammenhang bereits mehrfach ausgeführt, dass sich die hier von der Fraktion Die Linke erhobenen Forderungen keineswegs zwingend aus dem Assoziationsrecht ergeben. Wir halten weiter an unserer bekannten Rechtsauffassung zu der Reichweite der assoziationsrechtlichen Stillhalteverpflichtungen fest. Insoweit sei insbesondere auf die Vorbemerkung der Bundesregierung in der Drucksache 17/5884 vom 23. Mai 2011 verwiesen. Selbst wenn sich aus dem Assoziationsrecht Folgerungen ergäben, bestünde aber immer noch kein Rechtsänderungsbedarf. Zur Begründung sei erneut auf die Drucksache 17/5884 verwiesen. Mir geht langsam das Verständnis dafür verloren, dass die Fraktion Die Linke nun zum wiederholten Male die immer gleichen Argumente vorträgt. Auch durch Repetition werden diese nicht richtiger. Noch weniger Verständnis habe ich allerdings für die Tatsache, dass hier unter dem Titel „50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen“ versucht wird, bei den ehemaligen Gastarbeitern eine Missstimmung über eine ihnen vermeintlich angetane Ungerechtigkeit zu erzeugen, indem man nämMichael Frieser lich behauptet, die Bundesregierung würde ihnen Rechte vorenthalten. Das ist nun aber keineswegs der Fall. Wenn wir zum Beispiel über das Wahlrecht sprechen, dann ist festzuhalten, dass alle diejenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben - was auf die meisten der ehemaligen Gastarbeiter zutrifft -, das Recht und die tatsächliche Möglichkeit haben, in Deutschland auf allen Ebenen zu wählen. Auch haben sich für diejenigen, die sich offen für Deutschland entschieden haben, seit dem „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“ keine Verschlechterungen ergeben: Für Deutschland wie für die Türkei war das Anwerbeabkommen ohne jeden Zweifel ein Gewinn. Die Zuwanderer haben großen Anteil am Erfolg der deutschen Wirtschaft. Der Umgang mit Gastarbeitern, die im Grunde, was damals noch keiner wusste, Einwanderer waren, war der Bundesrepublik damals noch fremd. Deshalb haben alle damaligen Parteien, auch wir, in der Integrationspolitik - aus heutiger Sicht - zweifellos auch Fehler gemacht. Aber gerade in den letzten Jahren hat sich die Bundesregierung mit aller Kraft für eine bessere Integration eingesetzt. Wir wollen den Migranten eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland stärken. Deshalb haben wir in der Integrationspolitik bewusst umgesteuert. Wir fördern die Integration der Migrationsbevölkerung mit allen Mitteln, fordern zugleich aber auch deren aktive Mitarbeit an der Integration ein. Das beste Beispiel hierfür sind die verpflichtenden Integrationskurse, die sich zum weit überwiegenden Teil auf die Vermittlung der deutschen Sprache konzentrieren, die - unstreitig - das Fundament des Miteinanders in Deutschland ist. Nur wer die deutsche Sprache spricht, kann sich in unsere Gesellschaft einfinden und mit den Mitmenschen kommunizieren, und ist damit fähig zu Teilnahme und Teilhabe. Darüber hinaus erfordern der Zusammenhalt und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft eine sinnvolle Steuerung der Migration, was auch integrationspolitische Maßnahmen sowie die Neuzuwanderung begrenzende Maßnahmen mit einschließt. Ich stimme meinem Kollegen Stephan Mayer zu, der am 26. Oktober erklärte, dass mit dem sehr würdigen Begehen dieses Jahrestages deutlich wird, das es traditionell eine enge Freundschaft zwischen der Türkei und Deutschland gibt. Zum 50. Jahrestag sollten wir uns deshalb vor allem vornehmen, noch stärker darauf hinzuwirken, Missverständnisse und Vorurteile abzubauen. Die Fraktion Die Linke strebt mit ihrem Antrag jedoch genau das Gegenteil an, und das konnte und kann unsere Zustimmung gestern, heute und morgen nicht finden.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Wer hätte vor 50 Jahren gedacht, dass dies einmal ein Datum sein wird, das wir bewusst in Deutschland begehen und feiern werden? Es ist aber auch ein Datum, das uns Anlass geben sollte, zurückzuschauen und uns bei den mutigen Frauen und Männern, die vor 50 Jahren ihr Zuhause und ihre Familien verlassen haben, zu danken. Sie sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, sie sind ein Wagnis in einem ihnen unbekannten Land eingegangen. Was anfangs als temporärer Aufenthalt gedacht war, ist heute als eine erfreuliche Erfolgsgeschichte zu betrachten. Heute leben mehr als 2,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in unserem Land. Ich hoffe, dass Deutschland für sie zur Heimat geworden ist. „Türkiyeli kökenli vatandaslarima merhaba. Iyiki buradasiniz.“ „Meine türkischsprachigen Mitbürger, herzlich willkommen! Gut, dass ihr da seid.“ Aber es ist nicht nur so, dass viele türkische Einwanderer bei uns heimisch geworden sind und hier in zweiter oder dritter Generation leben. Sie haben auch unsere Kultur und Sichtweise bereichert, und sie haben beide Gesellschaften mit modernisiert. Es ist an der Zeit, das einmal zu würdigen. Auch wenn die letzten Tage, um den 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens herum glückerweise eine andere Sprache sprechen, so haben wir doch im politischen Alltag der ersten Gastarbeitergeneration zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und ihr als Politik und Gesellschaft zu wenig Anerkennung, Respekt und Dank für ihre Lebensleistung gezollt. Denn die Angehörigen dieser Generation haben einen großen Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder geleistet und damit dazu beigetragen, dass unser aller Lebensstandard kontinuierlich steigen konnte, sie haben - und so ehrlich müssen wir sein - auch Aufgaben und Arbeiten übernommen, die kein anderer von uns machen wollte. Sie haben damit unser Land mit zu dem gemacht, was es ist: ein leistungsfähiges Wirtschaftsland und eine erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft. Hinter 50 Jahren Gastarbeiterabkommen verbergen sich Geschichten des Ankommens, des Hierbleibens, des Abschiednehmens und neue sogenannte hybride Identitäten. Dazu gehört leider aber auch die Geschichte von politischen Versäumnissen und einer verspäteten Integrationspolitik in Deutschland. Schon 1979, also 18 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens, hat der erste Ausländerbeauftragte Heinz Kühn, SPD, in seinem berühmten Memorandum festgehalten: Deutschland ist ein Einwanderungsland und muss den Gastarbeitern eine dauerhafte Integration ermöglichen. Knackpunkt, wenn wir über Integration sprechen, ist für mich aber insbesondere die Frage der Zugehörigkeit und der Identität. Beides, ein Gefühl von Zugehörigkeit und gemeinsamer Identität, kann jedoch nur entstehen, wenn auch die Aufnahmegesellschaft den „Neuen“ - in unserem Fall überhaupt nicht mehr Neuen - offen, aufgeschlossen und respektvoll gegenübersteht. Das vermisse ich selbst 50 Jahre nachdem sie hierher nach Deutschland gekommen sind. Das sind doch die Aspekte einer Willkommenskultur, die Integration erst möglich machen, einer Kultur, die in Deutschland leider immer noch nicht gut ausgeprägt ist. Interessanterweise ist das, worüber wir hier in der Politik und in den Medien oft abstrakt und problematiZu Protokoll gegebene Reden Daniela Kolbe ({0}) sierend reden und debattieren, für die jungen Menschen der 3. und 4. Generation kein Thema mehr. Integration für sie ist sie selbstverständlich. Warum ist das so? Ganz einfach: Sie sind hier geboren, aufgewachsen, sie gehen hier zur Schule, machen ihre Ausbildung und sie arbeiten. Kurzum: Für sie ist Deutschland ebenso ihr Zuhause, wie vielleicht die Türkei, das Herkunftsland ihrer Eltern. Sie sind beides. Sie sind deutsch und türkisch. In eine Schublade lassen sie sich nicht drängen. Darum ist es für sie auch unverständlich, dass sie sich entscheiden sollen, wie sie sich fühlen. Was macht es für einen Sinn, diese jungen Leute zu zwingen, sich zu entscheiden und eine der beiden Schubladen abzuschließen? Das macht keinen Sinn. Das Festhalten an der Optionspflicht, bei der junge Menschen zu einer Entscheidung gezwungen werden, die sie gar nicht treffen sollten, zeigt, wie weit wir von einer anerkennenden respektvollen Willkommenskultur entfernt sind. Wir diskutieren heute zum zweiten Mal über 50 Jahre Gastarbeiterabkommen mit der Türkei. Nach einer vereinbarten Debatte in der letzten Sitzungswoche sind heute Anträge der Grünen und der Linken der Anlass. Vielen Dank, dass sie uns einen zweiten Anlass zur Debatte geben, denn auch 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens gibt es noch genug offene Themen, über die es zu diskutieren lohnt. Die Grünen thematisieren in ihrem Antrag die Visapraxis gegenüber türkischen Staatsangehörigen. Und in der Tat, laut Assoziationsabkommen zwischen der Türkei und der EU müssten zahlreiche türkische Reisende ohne Visum, zum Beispiel für Kurzaufenthalte, nach Deutschland einreisen können. Die aktuelle Praxis sieht jedoch wie so oft ganz anders aus. An die Adresse der schwarz-gelben Bundesregierung sage ich: Wir brauchen hier endlich eine Debatte und eine Anpassung des deutschen Rechts an die Lebenswirklichkeit und vor allem an EU-Vorgaben. Deshalb stimmen wir als SPD dem Grünen-Antrag auch zu. Anders verhält es sich jedoch bei dem Antrag der Linken. Zwar spricht auch dieser in der Tat viele Punkte an, über die es sich lohnt zu diskutieren: den Spracherwerb vor Ehegattennachzug etwa oder die absurde Verlängerung der Ehebestandszeit durch Schwarz-Gelb. An anderen Stellen geht uns ihr Antrag jedoch zu weit, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Sie fordern ein Wahlrecht auf allen Ebenen. Ich gehe einmal davon aus, Sie meinen Bund, Land und Kommune. Das schießt für uns als SPD-Fraktion übers Ziel hinaus. Wir fordern schon seit langem endlich ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige auf kommunaler Ebene. Dafür sollten wir gemeinsam streiten; aber wir sollten den ersten Schritt vor dem zweiten machen und nicht umgekehrt. Zudem, liebe Linke, wollen sie die Gebühren für die Erteilung von Aufenthaltstiteln auf den Stand von 1980 senken. Bei allem Respekt: Als SPD sind wir zwar ebenfalls der Ansicht, dass die Gebühren sozial gestaltet und bezahlbar sein müssen. Diese Ihre Forderung schießt aber auch hier weit übers Ziel hinaus. Denn immerhin gab es seit 1980 auch so etwas wie Inflation. Diesem Antrag werden wir daher jedenfalls so nicht zustimmen. Lassen Sie uns über den Antrag und das gesamte Thema aber gern weiter im Innenausschuss reden und danach auch wieder hier im Plenum; denn auch 50 Jahre nach dem Anwerbeabkommen haben wir genug miteinander zu besprechen, um ein respektvolles Miteinander, eine echte Willkommenskultur in diesem Land und eine gelungene Integration zu organisieren. Da wurde in den letzten Jahren schon sehr viel erreicht. Es liegt aber noch ein gewaltiger Weg vor uns.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Deutsche Bundesregierung hat zu Recht in der vergangenen parlamentarischen Sitzungswoche das 50jährige deutsch-türkische Anwerbeabkommen unter anderem mit einer Plenardebatte in diesem Hohen Hause gewürdigt. Die türkischen Migranten der ersten Stunde haben unser Land mit aufgebaut und unseren Wohlstand mit begründet. Diese Menschen haben Offenheit bewiesen; sie hatten Durchhaltevermögen, sie hatten Leidenschaft, und sie hatten Mut. Wir sind dankbar, dass Sie gekommen sind, sich mit Ihrem Fleiß und Ihrer Kraft für unser Land eingesetzt haben und Deutschland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell bereichert haben. Die Linke nimmt dieses besondere Jubiläum nun zum Anlass, einen Antrag einzubringen, der abenteuerliche Darstellungen der zuwanderungspolitischen Realitäten und absurde Forderungen enthält. So steigt die Linke gleich zu Beginn mit linker Kampfrhetorik ein und unterstellt der Bundesregierung eine Zuwanderungspolitik nach „Nützlichkeitskriterien“. Einwanderer seien demnach nur Instrumente zur „Profitmaximierung“. Die Linke hingegen würde gerne jeden zu jeder Zeit in unser Land lassen, und zwar bitte ohne lästige Voraussetzungen. Ich sage Ihnen: Das ist eine zutiefst unsoziale Haltung! Zunächst einmal ist doch völlig klar: Der Staat hat das Recht, Zuwanderung mit den ihm hierfür zur Verfügung stehenden Mitteln zu regulieren und zu kontrollieren. Und der Staat muss dieses Recht auch wahrnehmen. Denn ansonsten würde unser Sozialstaatsprinzip nicht mehr funktionieren. Unser Solidaritätsprinzip ist darauf angewiesen, dass Rechte und Pflichten die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellen. Dazu gehören auch Steuer- und Sozialabgaben. Offene Grenzen und der völlige Verzicht auf Voraussetzungen für eine Einreise oder einen dauerhaften Aufenthalt würden unserem Solidaritätsprinzip zuwiderlaufen. Ich sage an dieser Stelle übrigens auch ganz deutlich: Hier geht es nicht um den Aspekt der humanitären Zuwanderungspolitik. Die eingeschränkte Sicht der Linken zeigt sich auch an der Kritik an dem Sprachnachweis beim Ehegattennachzug. Auch diese Anforderung wird gleich als Nützlichkeitskriterium abgetan. Ich sage: Das ist sogar richZu Protokoll gegebene Reden tig. Ich halte diese Anforderung tatsächlich für nützlich, und zwar für die betroffene Person selbst. Denn die Fähigkeit, sich zumindest einfach verständigen zu können, ist eine große Hilfe in einem fremden Land. Es macht selbstbewusster und erleichtert die Integration. An dieser Stelle möchte ich noch mal betonen: Bei dem Sprachnachweis handelt es sich um die allererste Stufe, nämlich A1. Es geht hier um sehr einfache Verständigung. Das ist keine unüberwindbare Hürde, wenn man sich entscheidet, in einem anderen Land dauerhaft leben zu wollen. Gleichwohl sieht auch die FDP-Bundestagsfraktion hier Handlungsbedarf. Dabei denke ich insbesondere an die Infrastrukturen im Herkunftsland. Wenn wir einen solchen Nachweis verlangen, muss auch sichergestellt sein, dass die Betroffenen vor Ort diesen auch ohne unüberwindbare Hürden erlangen können. In vielen Ländern der Welt gibt es derzeit nur vereinzelt oder in einigen sogar gar keine Goethe-Institute. Der Erwerb des Zertifikats ist entsprechend mit einem erheblichen Zeitund Geldaufwand verbunden. Die praktische Umsetzung und Handhabung des Gesetzes stellt daher oftmals eine hohe Hürde dar. Das darf nicht sein. Ich will mich an dieser Stelle aber nicht der aktuellen Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Sprachnachweiserfordernisses beim Ehegattennachzug mit Blick auf das Assoziierungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei entziehen. Hier gibt es starke rechtliche Bedenken, die es ganz klar weiter zu prüfen gilt. Ich halte den Sprachnachweis für nachziehende Ehegatten insgesamt für eine integrationspolitisch sehr sinnvolle Maßnahme. Nachvollziehbar ist in diesem Kontext allerdings nicht, weshalb Staatsangehörige anderer Länder wie Kanada, Japan oder der Republik Korea grundsätzlich von diesen Anforderungen ausgenommen sind. Das ist eine Ungleichbehandlung, die es aus liberaler Sicht dringend zu diskutieren gilt. Die Linken sprechen in ihrem Antrag auch die Visumspolitik an. Dabei ignorieren sie die bereits bestehenden Bemühungen, insbesondere auf EU-Ebene. Im Februar wurde erfreulicherweise das Rücknahmeabkommen zwischen der EU und der Türkei unterzeichnet. Das war ein wichtiger Schritt. Die Türkei ist nun aufgefordert, das Abkommen auch umzusetzen. Gleichzeitig muss dies die unverzügliche Aufnahme eines ernsthaften Visumsdialogs mit der Türkei bedeuten. Die Türkei ist schon längst nicht mehr nur ein Touristenziel oder ein Absatzmarkt. Diese Entwicklung hat die Linke offensichtlich nicht mitbekommen. Die Türkei ist zu einem wichtigen Partner der EU und Deutschlands geworden. Das gilt geostrategisch, aber vor allem kulturell und wirtschaftlich. Das sage ich, 50 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens, auch mit Blick auf künftige Fachkräftezuwanderung. Denn Deutschland braucht qualifizierte Zuwanderer. Das ist keine Frage von Hautfarbe oder Religion. Gerade in der Türkei gibt es ein zunehmendes Fachkräftepotenzial. Unter den Ländern, die derzeit eine Mitgliedschaft in der EU anstreben, ist die Türkei das einzige Land, das über eine zahlenmäßig bedeutende junge und wachsende Bevölkerung verfügt. Das Bildungsniveau steigt stetig an. Viele gutausgebildete junge Menschen haben Beziehungen zu Deutschland, sind vielleicht sogar mit der Sprache vertraut. Diese Feststellungen haben rein gar nichts mit den propagierten Nützlichkeitskriterien der Linken zu tun. Es geht hier nicht um ein Nullsummenspiel. Es geht um einen gleichberechtigten Austausch mit der Türkei. Das halte ich politisch, wirtschaftlich und kulturell für großartig und gewinnbringend für alle Beteiligten. Die Linke offenbart in ihrem Antrag nicht nur ein realitätsfernes Bild der aktuellen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sie offenbart auch ihr Verständnis von Einwanderern im Jahr 2011. Sie traut Menschen, die Mut und Engagement aufbringen, ihr Herkunftsland zu verlassen und in einem neuen Land Fuß zu fassen, nichts zu. Dass diese Menschen nicht nach Deutschland kamen und kommen, um Almosen zu erhalten, sondern um Geld zu verdienen, ihr Glück in die eigenen Hände zu nehmen, Familien zu gründen, Sprache und Kultur kennenzulernen oder sich ehrenamtlich zu engagieren, kommt der Linken nicht in den Sinn. Rudimentäre Sprachkenntnisse zu fordern, ist für die Linke Schikane. Ob jemand seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann oder von Transferleistungen lebt, ist ihr egal. Wie viele Menschen nach Deutschland kommen und ob sie am Gemeinwesen teilhaben wollen und so das Sozialstaatsprinzip stützen, interessiert die Linke nicht. Das ist die wahre menschenverachtende und unsoziale Haltung, die nichts mit moderner Zuwanderungs- oder Integrationspolitik zu tun hat. Deshalb fällt es mir nicht schwer, diesen Antrag abzulehnen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist gerade einmal eine Woche her, dass des 50-jährigen Bestehens des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens gedacht wurde. Auch Bundeskanzlerin Merkel und der türkische Ministerpräsident Erdogan nahmen an der offiziellen Festveranstaltung teil. Zu Recht wurden dabei die Leistungen der aus der Türkei nach Deutschland gekommenen Migrantinnen und Migranten hervorgehoben und den Betroffenen dafür gedankt - und das tut auch der Ihnen vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke. Um allerdings eines vorweg klarzumachen: Es geht uns dabei überhaupt nicht exklusiv oder besonders um die Lebensleistungen der Menschen speziell aus der Türkei. Nein, unser Dank und unsere Anerkennung gelten selbstverständlich gleichermaßen allen nach Deutschland eingewanderten Menschen aus allen Ländern dieser Welt! Die Linke hält aber nichts davon, sich alle 50 Jahre anlässlich eines Festaktes bei den Menschen zu bedanken, aber sonst eine migrantenfeindliche Politik zu machen, wie es die jetzige, aber auch die vorigen Bundesregierungen fast immer getan haben. Zu Protokoll gegebene Reden Nun gibt es mindestens drei Gründe, auf die Lage der türkischen Migrantinnen und Migranten näher einzugehen als mit einem losen Danke, das nichts kostet: Zum einen die schiere Zahl: Es handelt sich bei ihnen um die größte Einzelgruppe der hier lebenden Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Zum Zweiten verdienen sie besondere Aufmerksamkeit, weil sie besonderen Anfeindungen ausgesetzt ist: Nicht erst seit Sarrazin werden insbesondere türkische - aber zum Beispiel auch arabische - Migrantinnen und Migranten als Chiffre für vermeintlich integrationsunwillige, den Staatshaushalt belastende oder gar bedrohliche Menschen angesehen. Die ausgeprägte und zunehmende Feindlichkeit gegenüber Muslimen in diesem Land spielt dabei eine unheilvolle Rolle, aber auch deren sozial besonders ausgegrenzte Lage, die ihnen als persönliches Versagen oder gar Unwilligkeit zur Last gelegt wird. Der dritte Grund, warum auf den staatlichen Umgang mit türkischen Staatsangehörigen gesondert eingegangen werden sollte und der auch Gegenstand des vorliegenden Antrags ist, ist deren Sonderstellung im Aufenthaltsrecht. Viele Menschen, auch viele Betroffene, wissen es nicht, aber das seit 1963 geltende Assoziierungs-Abkommen der EU, damals noch EWG genannt, mit der Türkei und nachfolgende Protokolle und Beschlüsse verschaffen türkischen Staatsangehörigen besondere Rechte. Diese einmal von der EU eingegangenen Verpflichtungen können auch nicht mehr im Nachhinein von den Nationalstaaten wieder zurückgenommen werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof durch zahlreiche Urteile geklärt, aber immer wieder muss er unwillige Staaten der EU an ihre vertraglichen Verpflichtungen erinnern. Dieser zunehmende Rechtsnihilismus ist skandalös. Das sogenannte Verschlechterungsverbot im Assoziationsrecht sieht verbindlich vor, dass es keine Verschlechterungen im Aufenthalts- und Beschäftigungsrecht, bei der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gegenüber türkischen Staatsangehörigen geben darf. Das gilt auch für zwischenzeitliche Erleichterungen, das gilt in Bezug auf Regelungen des Familiennachzugs und selbst in Bezug auf Regelungen zur erstmaligen Einreise. All dies hat die Bundesregierung infolge zahlreicher parlamentarischer Anfragen der Linken zu diesem Thema im Grundsatz bereits einräumen müssen - nur um stets erneut rechtliche Ausflüchte aus dem paragrafenschweren Zylinderhut des Bundesinnenministeriums zu zaubern, um diese Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs nicht umzusetzen. Auf diesen Skandal möchte die Linke mit dem vorliegenden Antrag aufmerksam machen: Die Bundesregierung weigert sich unseres Erachtens bewusst, verbindliches Assoziationsrecht und Entscheidungen des EuGH wirksam umzusetzen und verwehrt somit türkischen Staatsangehörigen gezielt ihre Rechte. Sie können die hilflosen und wenig überzeugenden Antworten der Bundesregierung auf die Anfragen der Linken zu diesem Thema nachlesen: Wer einigermaßen mit der Rechtsprechung und Fachliteratur befasst ist, weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der EuGH zahlreiche europarechtswidrige Bestimmungen des deutschen Aufenthaltsrechts kassieren wird. Die Bundesregierung spielt schäbigerweise jedoch auf Zeit und besteht darauf, dass der EuGH zu jeder einzelnen Frage stets erneut eine Entscheidung treffen soll, auch wenn deren Ergebnis angesichts der vorliegenden Rechtsprechung längst klar ist. Um nur kurz anzudeuten, worum es inhaltlich und konkret geht: Der EuGH wird bald entscheiden, dass türkischen Staatsangehörigen auch im Rahmen der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit eine visumfreie Einreise nach Deutschland erlaubt werden muss. Aus offiziellen Informationen der Bundesregierung an den Bundestag geht hervor, dass auch der Juristische Dienst der Europäischen Union davon ausgeht, dass eine solche Entscheidung des EuGH zu 95 Prozent zu erwarten ist. Auf Anfragen meiner Fraktion jedoch tut die Bundesregierung so, als sei es geradezu absurd, so etwas auch nur zu denken. In nicht allzu ferner Zeit wird auch die Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug auf türkische Staatsangehörige nicht mehr anwendbar sein. In den Niederlanden wurde erst vor kurzem letztinstanzlich entschieden, dass neue Sprach- und Integrationsanforderungen gegen das Verschlechterungsverbot des Assoziationsrechts verstoßen. Infolgedessen wird von türkischen Staatsangehörigen zum Beispiel kein Sprachtest vor der Einreise beim Familiennachzug mehr verlangt. Die vom niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders abhängige niederländische Regierung setzt diese Rechtsprechung konsequent um - die Bundesregierung hingegen ist nicht einmal dazu imstande, ihre Anwendungshinweise zum Assoziationsrecht aus dem Jahr 2002 zu aktualisieren, obwohl diese angesichts der sich fortentwickelnden Rechtsprechung des EuGH nicht nur veraltet sind, sondern geradezu als Anleitung zum Rechtsbruch bezeichnet werden müssen. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat in einer Ihnen sicherlich bekannten Ausarbeitung eine gute Zusammenfassung und Rechtsübersicht dazu erstellt, welche Regelungen im deutschen Aufenthaltsrecht mit den Verschlechterungsverboten des Assoziationsrechts unvereinbar sind. Die konkreten Forderungen in unserem Antrag beziehen sich zunächst nur auf solche Regelungen, die auch nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes als Verstoß gegen EU-Recht angesehen werden müssen. Es ist aber klar, dass ein systematischer Günstigkeitsvergleich der Rechtsentwicklung seit den 70er-Jahren weiteren Änderungsbedarf hervorbringen wird - deshalb weigert sich die Bundesregierung ja auch so hartnäckig, diesen Vergleich vorzunehmen. Wir werben deshalb bei den anderen Fraktionen des Bundestages dafür, einer Sachverständigenanhörung zur zweiten Forderung unseres Antrags zuzustimmen. Gerade weil es sich beim Assoziationsrecht um eine komplexe und weitgehend unbekannte Rechtsmaterie handelt, sollten wir uns durch unabhängige Sachverständige und nicht durch weisungsgebundene Vertreter Zu Protokoll gegebene Reden Sevim DaðdelenSevim Dağdelen der Exekutive beraten lassen, welche Rechtsänderungen im Detail erforderlich sind. Nach Ansicht der Linken - und hier komme ich zum Anfang zurück - sollten sich die notwendigen umfangreichen Erleichterungen im Aufenthaltsrecht auch nicht auf türkische Staatsangehörige beschränken, sondern alle Drittstaatsangehörigen einbeziehen. Es wäre absurd, die Zersplitterung des Aufenthaltsrechts weiter voranzutreiben: Für Unionsangehörige gilt das deutsche Aufenthaltsgesetz ohnehin nicht, für bestimmte privilegierte Staaten gelten Sonderregelungen, und was für türkische Staatsangehörige gilt, steht schon längst nicht mehr im Gesetz. Gerade weil es sich bei den türkischen Staatsangehörigen um die größte Gruppe handelt, und gerade weil zahlreiche Verschärfungen insbesondere mit Blick auf sie erlassen wurden, plädieren wir dafür, diese Verschärfungen insgesamt zurückzunehmen. Das aufgebaute Droh- und Zwangsinstrumentarium im Umgang mit Migrantinnen und Migranten ist ohnehin falsch und von fataler Wirkung, wie die zunehmende Fremden- und Islamfeindlichkeit, Vorurteile und Zerrbilder belegen. Wir appellieren an die Bundesregierung, aber auch an das Parlament, diese Änderungen, die in Bezug auf türkische Staatsangehörige rechtlich ohnehin zwingend sind, nicht erst auf Druck des EuGH, sondern bewusst und mit Überzeugung vorzunehmen. Sie sollten innerhalb der deutschen Bevölkerung um Verständnis für eine solche, auf Zwang und Drohungen weitgehend verzichtende Migrationspolitik werben, statt gefährliche, nicht nur türken- , sondern auch EU-feindliche Ressentiments zu fördern, wenn solche Änderungen zwangsweise infolge von Entscheidungen eines vermeintlich fernen EUGerichts erfolgen. Mit unserem Antrag haben Sie die Chance dazu, dieses Thema nicht Rechtspopulisten zu überlassen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es reicht nicht, sich, wie die Bundesregierung es tut, in der Jubiläumswoche des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens bei den Einwanderinnen und Einwanderern für ihre Leistungen zu bedanken, wenn man nicht gleichzeitig etwas unternimmt, damit sie endlich gleichberechtigt in Deutschland teilhaben können. Danke sagen ist einfach; aber daraus Konsequenzen zu ziehen und türkeistämmigen Einwanderern ihre Rechte aus dem Assoziationsabkommen einzuräumen, fällt der Bundesregierung offensichtlich schwer. Bewusst behandelt sie Eingewanderte als Menschen zweiter Klasse und versagt ihnen trotz langjährigen Aufenthalts die gleichen Rechte, wie sie deutsche Staatsangehörige haben. Urteile des Europäischen Gerichtshofes zugunsten der Einwanderinnen und Einwanderer ignoriert sie so lange, bis die Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren droht. Nach 50 Jahren Einwanderung aus der Türkei ist es Zeit, unser Aufenthaltsgesetz auf die Vereinbarkeit mit dem Assoziierungsrecht zu überprüfen und notwendige Änderungen vorzunehmen. Das gilt erst recht nach den kürzlich ergangenen wegweisenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes zu den Rechten von türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen aus dem Assoziierungsabkommen. Wir fordern in einem ersten Schritt die visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger nach Deutschland. Wir wollen nicht, dass Großeltern die Hochzeit ihrer Enkel in Deutschland verpassen, weil sie kein Visum erhalten, oder dass eine Mutter nicht ihr krankes Kind hier besuchen darf. Wir wollen vermeiden, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen türkischen und deutschen Unternehmen darunter leiden, dass Geschäftsleute zu bürokratische und langwierige Verfahren durchlaufen müssen, um endlich ein Visum zu erhalten. Wir wollen auch nicht, dass türkische Jugendliche von Studienreisen abgehalten werden, weil ihnen kein Visum erteilt wird. So sieht die Realität heute aber aus. Es kommt nicht selten vor, dass sich die Antragstellenden nach langwierigen erfolglosen Verfahren vor der Deutschen Botschaft ihr Einreiserecht schließlich einklagen müssen. Nach geltender Praxis können nur bestimmte türkische Personengruppen und auch nur zur Erbringung bestimmter Dienstleistungen visumfrei nach Deutschland einreisen. Menschen mit geringem Einkommen und solche ohne Familie in der Türkei haben so gut wie keine Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinnlosen und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende setzen. Wie der EuGH in seiner Soysal-Entscheidung im Februar 2009 festgestellt hat, verstößt diese Praxis gegen das Gemeinschaftsrecht. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, die Vorgaben des EuGH richtig umzusetzen und sich dafür einzusetzen, dass auf EU-Ebene die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige bei einem Kurzaufenthalt aufgehoben wird. Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit das unnötige Leid, das die restriktive und Visavergabepraxis verursacht, endlich ein Ende hat! Es gibt aber auch noch viele andere Bereiche, in denen das deutsche Aufenthaltsrecht gegen die Maßgaben des Europäischen Gerichtshofs verstößt. Insbesondere die Entscheidung zur dynamischen Wirkung des Verschlechterungsverbots in der Sache Toprak macht eine kritische Prüfung der aufenthaltsrechtlichen Regelungen seit dem Inkrafttreten des Verschlechterungsverbots notwendig. Die Bundesregierung muss die europarechtswidrige Anwendung des Assoziationsabkommens zwischen der EU und der Türkei beenden und die vielen Urteile des Europäischen Gerichtshofs umsetzen. Hierzu gehört auch, die insbesondere gegen türkische Staatsangehörige erlassenen Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre zurückzunehmen. Wir begrüßen, dass die Fraktion Die Linke den Umsetzungsbedarf erkennt und die Bundesregierung mit ihrem Antrag auffordert, das deutsche Recht mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang zu bringen. Allerdings hat die Fraktion Die Linke es sich leicht gemacht: Sie zählt Zu Protokoll gegebene Reden Sevim DaðdelenSevim Dağdelen weder konkret den Änderungsbedarf auf, noch schlägt sie Lösungen vor. Das wollen wir besser machen und bereiten daher gerade eine umfassendere Initiative zur Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Assoziationsrecht vor.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7373 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der Innenausschuss - das ist jetzt der Zusatzpunkt 7 empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5989, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3686 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linksfraktion. Enthaltungen folglich keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gutachten über die geplanten EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien beim Gerichtshof der Europäischen Union einholen - Drucksachen 17/6331, 17/7676 Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Gisela Piltz Dr. Konstantin von Notz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir diskutieren hier zum wiederholten Male über Grundrechts- und Datenschutzfragen bei den EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien. Das ist zweifelsohne wichtig. Wichtiger wäre aber vielleicht, dass die Grünen dazu einmal einen Antrag vorlegen, der dieser schwierigen Thematik angemessen ist. Es sei den Grünen unbenommen, sich für eine Überprüfung der Abkommen durch den Europäischen Gerichtshof einzusetzen. Es wäre aber auch schön gewesen, wenn die Grünen wenigstens mit einem Halbsatz erwähnt hätten, warum die Europäische Union PNR-Abkommen schließt, nämlich weil der Datenaustausch wesentliche Erkenntnisse zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität liefert. Aber im Antrag der Grünen Fehlanzeige. Und wie steht es mit dem Redebeitrag des Kollegen von Notz in der ersten Beratung des Antrags? Auch hier Fehlanzeige. Nicht einmal die Worte „Terrorismus“, „Kriminalität“ oder auch nur „Straftat“ werden erwähnt. Man kann den Eindruck gewinnen, die Grünen versuchten krampfhaft, diesem Thema aus dem Weg zu gehen. Ich frage mich aber: Wie sollen wir ernsthaft und angemessen über PNR-Abkommen und auch über die im vorliegenden Antrag kritisierten, angeblich fehlenden Nachweise der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sprechen, wenn hier nicht einmal über den Zweck des Fluggastdatenaustausches gesprochen wird? Hier müssen wir Folgendes zur Kenntnis nehmen: Erstens. Fluggastdaten geben Auskunft über Reiserouten von Tatverdächtigen und Terrorverdächtigen. Das sind Erkenntnisse, die von enormer Bedeutung sind und die in dieser Form nicht anders in Erfahrung gebracht werden können. Die Erkenntnisse aus diesen Daten tragen auch entscheidend dazu bei, Kriminelle oder Terroristen zu identifizieren, die bisher noch nicht entdeckt wurden. Zweitens. Immer mehr Staaten - darunter auch viele unserer Partner - nutzen Fluggastdaten zur Verfolgung und Abwehr von Terrorismus und schweren Straftaten wie etwa Menschenhandel oder Drogenschmuggel. Auch europäische Länder profitieren von entsprechenden Rückmeldungen für die Arbeit ihrer Sicherheitsbehörden. Drittens. EU-Staaten und unsere Partnerländer können auf Erfolge bei der Aufdeckung und Bekämpfung terroristischer und krimineller Netzwerke verweisen, für die die Fluggastdaten von großer Bedeutung waren. Deshalb ist die Verwendung von Fluggastdaten unverzichtbar, und deshalb sprechen wir im Bundestag über PNR-Abkommen und über die geplante PNR-Richtlinie der EU. Die ausgehandelten Abkommen mit den USA und Australien sind auch nichts Neues. Es gab sie schon in der Vergangenheit. Zu einem angemessenen und ernsthaften Umgang mit dem Thema PNR-Abkommen gehört deshalb auch, dass die Grünen, die sich hier wieder als Hüter der Grundrechte und des Datenschutzes gerieren, einen Blick in die Zeit werfen, in der sie Regierungsverantwortung hatten. Im Jahr 2004 wurde zwischen der EU und den USA ein PNR-Abkommen geschlossen, das mit Blick auf den Grundrechts- und Datenschutz bei weitem nicht die Standards festgeschrieben hatte, die wir in den vorliegenden Abkommen finden. Und es ist nicht schwer zu erraten, welche Bundesregierung dieses Abkommen mitgetragen hat und welche Fraktion damals keinen Antrag auf Überprüfung dieses Abkommens gestellt hat. Die Grünen waren seinerzeit mit dabei. Jetzt kritisieren dieselben Grünen die Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien, die auch auf Initiative des Bundesinnenministeriums deutliche Verbesserungen erfahren haben. So sieht grüne Glaubwürdigkeit aus. Es war wichtig, das PNR-Abkommen 2004 mit den Vereinigten Staaten zu schließen, weil wir damit eine gemeinsame europäisch-amerikanische Vereinbarung über den Umgang und die Nutzung von Fluggastdaten festgeschrieben haben. Nach den Terroranschlägen von 9/11 stellte sich die Situation anders dar als heute. Die USA hatte alle Fluggesellschaften, die Flüge in die oder aus den USA oder über das Gebiet der USA durchführen, verpflichtet, den amerikanischen Zollbehörden elektronischen Zugriff auf die Daten ihrer Reservierungs- und Abfertigungssysteme, die sogenannten Passenger Name Records, einzuräumen. Nachdem die EU um einen Aufschub gebeten hatte, traten die Vorschriften schließlich 2003 in Kraft. Danach räumten europäische Fluggesellschaften den amerikanischen Zollbehörden Zugang zu ihren Fluggastdatensätzen nach einseitig festgesetzten Regeln ein. Das zeigt: Wenn wir ein besseres Abkommen mit besserem Datenschutz wollen, dann erreichen wir dies nur zusammen mit unseren Partnern. Wenn wir angemessen über PNR-Abkommen diskutieren wollen, gehört also dazu, dass es sich um Verträge handelt, an denen immer mindestens zwei Seiten beteiligt sind. Hier kann nicht eine Seite der anderen den Inhalt vorschreiben. Das gilt im Übrigen auch für die einzelnen EU-Länder, die unterschiedliche Maßstäbe an die Nutzung von Fluggastdaten stellen. Auch hier muss eine interne Linie gefunden werden, die sich nicht nur nach den deutschen Vorstellungen richtet. Deshalb hat die Europäische Kommission sowohl mit den USA als auch mit Australien im Rahmen der Verhandlungsmandate, die das Europäische Parlament vorgegeben hat, aber auch mit Blick auf die Bedenken des Parlaments über die Nutzung der Fluggastdaten verhandelt. Die jetzt vorliegenden Einigungen mit beiden Ländern spiegeln eine kontinuierliche Verbesserung auch der Datenschutzbestimmungen wider. Es geht darum, zusammen mit unseren Partnern eine Balance zu finden, die dazu beiträgt, Terrorismus und Kriminalität besser bekämpfen zu können und gleichzeitig die Rechte des Einzelnen zu sichern, auch wenn es hier aus deutscher Sicht sicher noch einige offene Wünsche gibt. Das Abkommen mit Australien ist praktisch unter Dach und Fach. Es wurde im Oktober vom JI-Rat beschlossen. Auch das Europäische Parlament hat Ende Oktober in einer legislativen Entschließung dem PNRAbkommen mit Australien bereits zugestimmt. Im Dezember wird der Rat abschließend seine Zustimmung geben. Insofern hat sich der Antrag der Grünen auf Überprüfung erledigt. Das Abkommen mit Australien ist aus unserer Sicht gut ausgestaltet, auch in Datenschutzfragen. Dies hat auch der Bundesdatenschutzbeauftragte anerkannt. Mit den USA wurden seit dem Sommer im Vergleich zum Verhandlungsstand, der dem Antrag der Grünen zugrunde liegt, weitere Fortschritte erzielt, die noch in Schriftform gegossen werden. Erst dann wird man den neuen Entwurf für das PNR-Abkommen genau bewerten können. Die beiden Abkommen unterscheiden sich in vielen Punkten. Ich möchte dennoch drei zentrale Aspekte hervorheben: Erstens. In beiden Abkommen werden wir klarer und enger gefasste Definitionen des Anwendungsbereichs als bisher haben. Daran gebunden sind die Speicherfristen. Das Abkommen mit Australien sieht fünfeinhalb Jahre vor. Die jüngsten Verhandlungen mit den USA sehen jetzt eine Staffelung der Speicherfristen vor. Bei terroristischen Straftaten dürfen die Daten für fünfzehn Jahre und bei schweren Straftaten für zehn Jahre gespeichert werden. Ich hätte mir gerade mit Blick auf die USA auch kürzere Speicherfristen vorstellen können. Ehrlicherweise ist aber festzuhalten, dass die Daten nicht gespeichert werden, weil der Staat es will. Diese Daten sind alle schon heute bei den Fluggesellschaften vorhanden und werden dort auch heute schon mehrere Jahre gespeichert. Es geht also in erster Linie um die Frage, unter welchen Voraussetzungen den Sicherheitsbehörden diese Daten zur Verfügung stehen, um Anschläge zu verhindern, schwere Straftaten aufzuklären oder Verdächtige zu identifizieren. Wem die Sicherheit der Bürger etwas wert ist, der kann eine Speicherung nicht grundsätzlich ablehnen. Zweitens. Beide Abkommen sehen eine Depersonalisierung der gespeicherten Daten vor. Das heißt, nach einem bestimmten Zeitraum - für die USA ist dies nach sechs Monaten vorgesehen - werden aus den Datensätzen der Fluggäste Daten gesperrt, die eine Identifizierung der Person zulassen. Es handelt sich dabei um Daten wie Namen und Adressen. Das ist ein ganz ähnliches Verfahren, wie wir es in Deutschland mit der Anonymisierung kennen. Die vollen Datensätze werden dann nur noch unter strengen Auflagen einem sehr kleinen Personenkreis in den zuständigen Behörden zugänglich sein. Drittens. Neben unterschiedlichen Datenschutzregeln möchte ich vor allem darauf hinweisen, dass beide Abkommen die Datenübermittlung in einem Push-Verfahren vorsehen. Die Behörden in den USA wie in Australien werden also im Regelfall keinen direkten Zugriff auf die Fluggastdaten haben, sondern die Airlines werden diese Daten auf Anforderung weitergeben. Während unter rot-grüner Verantwortung die Daten auf dem Wühltisch zur Selbstbedienung bereitlagen, gibt es jetzt nur noch Daten auf Anforderung und Beleg. Wenn man sich mit dem Thema PNR-Abkommen also ernsthaft und angemessen auseinandersetzen möchte, muss man den Blick etwas weiter fassen, als dies der Antrag der Grünen tut. Nur dann kommt man zu einer fundierten Einschätzung und Bewertung der Lage. Insgesamt gilt festzuhalten, dass auf ein Instrument wie die Nutzung von PNR-Daten nicht verzichtet werden kann, wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen, wenn wir verhindern wollen, dass Passagiermaschinen zu Waffen und zu Zielen von Anschlägen werden, und wenn wir wollen, dass die Sicherheitsbehörden in der Lage sind, schwere Verbrechen aufzuklären und kriminelle Strukturen zu erkennen. Wer fordert, dass eine Warnlampe angeht, wenn ein Terrorverdächtiger ein Flugzeug besteigen will, braucht eine Speicherung und Auswertung von Passagierdatensätzen. Zu Protokoll gegebene Reden

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Abkommen über die Fluggastdaten sind nicht zum ersten Mal Thema im Deutschen Bundestag. Nachdem die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und den USA beziehungsweise Australien nun vorläufig abgeschlossen sind, bestehen noch immer erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der Abkommen mit dem EU-Primärrecht, insbesondere mit dem Schutz personenbezogener Daten gemäß Art. 8 der EU-Grundrechtecharta. Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen greift diese Bedenken auf und fordert die Bundesregierung auf, ein Gutachten beim Gerichtshof der Europäischen Union einzuholen, welcher die Vereinbarkeit der geplanten Abkommen mit EU-Primärrecht prüfen soll. Da auch die SPD-Bundestagsfraktion diese Bedenken teilt und ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs mehr Rechtssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger mit sich bringen würde, stimmen wir dem Antrag zu. Bereits im Juni 2011 habe ich darauf hingewiesen, dass mit der Weitergabe von Fluggastdaten zwar ein legitimes Ziel verfolgt wird, dabei aber grund- und menschenrechtliche Garantien beachtet werden müssen. Dies sehe ich in den geplanten EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien noch nicht ausreichend gewährleistet. So hat auch der Juristische Dienst der Kommission in seiner Stellungnahme vom 18. Mai 2011 erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Abkommens zwischen der EU und den USA mit dem Grundrecht auf Datenschutz geäußert. Ich möchte hier noch einmal betonen, dass es sich dabei um einen internen Dienst der Kommission handelt, also des EU-Organs, das für die Aushandlung der Fluggastdatenabkommen zuständig ist. Demnach gibt es auch innerhalb der Kommission Bedenken hinsichtlich der Grundrechtskonformität dieses Abkommens. Die Kritik bezieht sich insbesondere auf die Verhältnismäßigkeit des Abkommens. So sieht das geplante PNR-Abkommen mit den USA eine Dauer der Datenspeicherung von 15 Jahren vor. Der Juristische Dienst des Rates hat in seinem Gutachten zum Vorschlag einer EU-Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdaten vom 12. April 2011 bereits die Notwendigkeit einer Speicherfrist von mehr als 2 Jahren infrage gestellt. Für die Erforderlichkeit einer 15-jährigen Speicherfrist fehlt zudem jeglicher Nachweis, und somit bestehen erhebliche Zweifel, dass der mit der Speicherung der Daten verbundene Grundrechtseingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Des Weiteren soll die Verwendung von Fluggastdaten nach dem geplanten Abkommen unter anderem zu Zwecken der Verhütung und Bekämpfung von „schweren Straftaten“ zulässig sein. Über einen Verweisungsdschungel gelangt man allerdings zu dem Ergebnis, dass es sich dabei bereits um Straftaten handelt, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind. Damit umfasst diese Definition eine weitaus größere Zahl von Straftaten als beispielsweise der EU-Richtlinienvorschlag zur Weitergabe von Fluggastdaten oder auch das PNR-Abkommen mit Australien. Da somit auch Straftaten erfasst sind, die nicht als schwerwiegend angesehen werden können, stellt sich auch in diesem Zusammenhang die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Abkommens. Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf die Möglichkeit grundrechtswidriger Profilerstellungen sowie auf eine mangelnde Kontrolle durch unabhängige Datenschutzbeauftragte. Die Notwendigkeit, Fluggastdaten nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßstäben zu übermitteln, haben wir ja auch in einem eigenen Antrag - Bundestagsdrucksache 17/6293 - zum Ausdruck gebracht. Die geplanten PNR-Abkommen haben auch Auswirkungen auf den Grundrechtsschutz nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, da die betreffenden Fluggastdaten auf der Grundlage dieser Abkommen von deutschen Stellen an die USA oder Australien weitergeleitet würden. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010, 1 BvR 256/08. Hier hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ausdrücklich aufgetragen, sich auf internationaler und europäischer Ebene für die Wahrung der Datenschutzstandards des Grundgesetzes einzusetzen, BVerfG, a. a. O., Randnummer 218. Genau diesem Auftrag kann und muss die Bundesregierung nun entsprechen und das geforderte Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen Union einholen. Ein solches Gutachten könnte - sollte der EuGH darin die Unvereinbarkeit der Abkommen mit dem Grundrecht auf Datenschutz und somit EU-Primärrecht feststellen - auch die Position der Europäischen Union bei weiteren Verhandlungen über das PNR-Abkommen mit den USA stärken. Die erheblichen datenschutzrechtlichen Bedenken gegenüber dem Abkommen, die offensichtlich auch innerhalb der Kommission selbst bestehen, können nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Ein Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen Union kann Klarheit über die Vereinbarkeit der Abkommen mit den EUGrundrechten schaffen und ist aus Gründen der Rechtssicherheit unerlässlich.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Auch auf die Gefahr hin, mich zu diesem Thema zu wiederholen: Wer hat’s erfunden? Richtig, die Grünen. Der grüne Außenminister Joschka Fischer hat zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung im Rat dem Abkommen zwischen EU und USA zur Übermittlung von Fluggastdaten zugestimmt, einem Abkommen, in dem damals das Wort Datenschutz ein absolutes Fremdwort war. Die Notbremse zog dann das Europäische Parlament, während hier im Bundestag SPD und Grüne das, was sie heute kritisieren, unterstützten - mit dem Unterschied, dass die heutige schwarz-gelbe Koalition sich um den Datenschutz kümmert und dafür kämpft, das, was uns Rot-Grün hinterlassen hat, wenigstens rechtsstaatlich auszugestalten. Zu Protokoll gegebene Reden Das Verhalten der Grünen jedenfalls nennt man gemeinhin widersprüchlich. Heute so zu tun, als hätten Sie mit dem Thema nichts zu tun und könnten sich hier als vermeintliche Retter des Rechtsstaats aufzuspielen, ist schon ziemlich dreist. Die FDP-Fraktion bleibt ihrer Linie bei Fluggastdaten treu. Wir haben die Nutzung von Fluggastdaten von Anfang an kritisch begleitet. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass weder im Rat noch im Europäischen Parlament eine Mehrheit gegen Fluggastdatensammlungen vorhanden ist. Aber wir nehmen auch zur Kenntnis, dass die Sensibilität immerhin gestiegen ist für den Datenschutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte. Sogar der Juristische Dienst der Kommission hat inzwischen ein kritisches Gutachten zu dem geplanten Abkommen zur Übermittlung von Fluggastdaten in die USA erstellt; ebenso hat der Juristische Dienst des Rates sich kritisch mit dem geplanten EU-Fluggastdatensystem befasst. Diese Kritik muss ernst genommen und bei den Beratungen natürlich berücksichtigt werden. Anders als zu früheren rot-grünen Zeiten muss man das aber heute der Bundesregierung nicht extra sagen - die Bundesjustizministerin hat diese Fragen selbst im Blick und setzt sich national wie auch in der EU und international für mehr Datenschutz ein. Dass das nicht immer einfach ist, zeigt sich aktuell bei den Verhandlungen über ein neues Abkommen zwischen EU und USA. Wir wissen, dass bei aller guten transatlantischen Zusammenarbeit und Partnerschaft gerade im Hinblick auf den Datenschutz doch erhebliche Unterschiede bestehen. Davor kann man kapitulieren und wie damals Joschka Fischer einfach ohne weitere rechtsstaatliche Sicherungen den Zugriff auf Fluggastdaten und Bankdaten europäischer Bürgerinnen und Bürger gestatten. Oder man kann dafür kämpfen, dass es besser wird. Wir machen lieber Letzteres. Gemeinsam mit den Liberalen im Europaparlament und der Bundesjustizministerin setzt sich die FDP-Fraktion dafür ein, dass bei dem künftigen Abkommen mit den USA ein hohes Datenschutzniveau erreicht wird. Bei dem Abkommen zwischen EU und Australien ist das bereits gelungen. Dieses Abkommen ist - vor allem im Vergleich zu denjenigen, die wir bisher kannten, und natürlich immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eine grundsätzlich nicht unbedenkliche anlasslose Speicherung von persönlichen Daten handelt mustergültig. Das anerkennt auch der Bundesdatenschutzbeauftragte. Und ganz ehrlich: Dafür brauchen wir keinen Ratschlag von den Grünen, ganz besonders nicht von den Grünen, die bei diesem Thema eigentlich in Sack und Asche gehen müssten. Ihren Antrag lehnen wir daher ab und handeln lieber im Sinne von mehr Datenschutz und mehr Schutz der Persönlichkeitsrechte von Flugreisenden.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Versagen der schwarz-gelben Koalition, insbesondere aber die fehlende Durchsetzungsfähigkeit der Bundesjustizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von den Freien Liberalen, zwingen uns dazu, heute erneut über den Stopp des europäischen Fluggastdatenabkommens mit den USA und Australien zu debattieren. Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist für ihren neuerlichen Vorstoß, die Grundrechtskonformität des benannten Datenaustauschabkommens der Europäischen Union mit den USA und Australien zu überprüfen, zu danken. Seit nunmehr sieben Jahren bemüht sich auch die Linksfraktion darum, der transatlantischen Datensammelwut Einhalt zu gebieten. Bisher stießen nicht nur wir, sondern auch Bürgerrechtsorganisationen und Datenschützer vor allem bei der deutschen Bundesregierung damit aber auf taube Ohren. Selbst das Europäische Parlament und das Bundesverfassungsgericht haben seit einiger Zeit erhebliche Zweifel an dem Austausch von Informationen über Flugpassagiere mit den benannten Staaten. Das Europäische Parlament forderte vor anderthalb Jahren die Kommission auf, ein neues Abkommen über die Weitergabe von Passagierdaten auszuhandeln. Diese Verhandlungen sind nun abgeschlossen; ein vorläufiges Ergebnis liegt vor. Dieses kann uns nicht befriedigen. Denn - und dies beschreibt der Antrag der Grünen vortrefflich - die derzeit vorliegende Fassung des Abkommens ist mit dem Schutz der EU-Grundrechte und damit mit dem Primärrecht der Europäischen Union nicht vereinbar. Augenscheinlich zeigen sowohl Bundesregierung als auch Europäische Kommission aber wenig Interesse an den vorgebrachten Bedenken von Datenschützern und Bürgerrechtsparteien wie der Partei Die Linke. Dies verwundert nicht; schließlich schwebt hinter dem transatlantischen Abkommen die Einrichtung eines innereuropäischen Fluggastdatenmanagements. Übersetzt: Mit dem Abschluss der Verhandlungen über einen Austausch von personenbezogenen Daten von Flugpassagieren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, den USA und Australien soll der Weg bereitet werden, um zukünftig jedwede Bewegung von Personen innerhalb der EU zu registrieren, die auf das Transportmittel Flugzeug zurückgreifen. Wenn Sie, meine Damen und Herren im Bundesjustizund Bundesinnenministerium, schon nicht auf die Einwände der Oppositionsfraktionen im Bundestag, die Entschließungen des Europäischen Parlamentes oder die europäischen Datenschützer hören wollen, vielleicht, ja vielleicht schenken Sie den Argumenten Ihrer eigenen Institutionen und Behörden mehr Vertrauen. Selbst der Juristische Dienst des Rates, also jener Institution, in der auf europäischer Ebene die Staats- und Regierungschefs und Ministerinnen und Minister miteinander arbeiten, hegt erhebliche Zweifel an der Grundrechtskonformität des derzeitigen Verhandlungsstandes in Bezug auf den Austausch von Flugpassagierdaten. Vor allem der Eingriff des ausgehandelten Abkommens in Art. 8 der EU-Grundrechtecharta, also das Grundrecht auf Datenschutz, wiegt schwer. Der Juristische Dienst der Europäischen Kommission kritisiert in seiner jüngsten Stellungnahme, so wie die Linksfraktion vor Monaten bereits auch, den fehlenden Nachweis der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, die manZu Protokoll gegebene Reden gelnde Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der Grundrechtseingriffe, die überlange Speicherdauer und die mangelnde Kontrolle durch unabhängige Datenschutzbeauftragte. Auch das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom März 2010 klipp und klar aufgetragen, uns für die Wahrung der verfassungsrechtlichen Datenschutzstandards des deutschen Grundgesetzes auch in internationalen Zusammenhängen einzusetzen. Insofern stimmen wir dem Antrag der Grünen zu und fordern die Bundesregierung auf, gemäß Art. 218 Abs. 11 AEUV ein Gutachten der Europäischen Union über die Vereinbarkeit der geplanten Abkommen mit den USA und Australien über die Weitergabe von Passagierdaten mit dem europäischen Primärrecht einzuholen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

„Wir dürfen hier nicht sehenden Auges eine Situation entstehen lassen, in dem die EU grundrechtswidrige Abkommen abschließt.“ Mit diesem Satz habe ich Sie in der ersten Lesung im Juni 2011 bereits um Zustimmung zu unserem Antrag gebeten. Mit diesem Satz bitte ich Sie noch einmal um Unterstützung unseres Antrags, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die geplanten Abkommen über die Weitergabe von Passagierdaten, PNR, an die USA und Australien dem EuGH zur Prüfung vorzulegen. Meine Damen und Herren von der Koalition, liebe Frau Piltz, lieber Herr Binninger, was haben Sie denn für ein Selbstverständnis als Parlamentarier in der Regierungskoalition? Die Bundesregierung enthält sich - als einzige EU-Regierung - bei der Abstimmung über das PNR-Abkommen mit Australien im Rat der Stimme, und zwar aufgrund erheblicher Datenschutzbedenken. Und was machen Sie? Sie lehnen eine Vorlage dieses Abkommens und des PNR-Abkommens mit den USA zum EuGH mit der schlichten Begründung ab, Terrorbekämpfung sei nötig und es hätte schon einmal schlechtere Abkommen gegeben. Was, meine Damen und Herren von der Koalition, haben Sie für ein Verständnis von Demokratie und Gewaltenteilung? Die Bundesregierung hat im Rat erhebliche Bedenken gegen die PNR-Abkommen wegen Zweifeln an der Rechtsgrundlage geäußert. Das heißt übersetzt: Die Bundesregierung ist der Ansicht, dass die PNR-Abkommen mit den USA und Australien von den nationalen Parlamenten, also auch vom Deutschen Bundestag, ratifiziert werden müssten. Die Bundesregierung konnte sich mit dieser Auffassung im Rat aber nicht durchsetzen. Was machen Sie? Sie akzeptieren brav wie die Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, dass dem Bundestag hier möglicherweise Rechte vorenthalten werden, statt sich dafür einzusetzen, dass auch diese Frage vom EuGH in einem Gutachten geklärt wird. Jetzt aber noch einmal zu den Inhalten, dem Kern der Besorgnis der Grünen als Bürgerrechtspartei: Auch wenn im Laufe der Verhandlungen mit den USA und Australien einzelne Verbesserungen erreicht wurden, eine ganze Reihe von Experten und Institutionen haben massive Zweifel an der Vereinbarkeit der geplanten PNR-Abkommen mit den EU-Grundrechten, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem deutschen Grundgesetz. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen, die Einzelheiten wurden vielfach vorgebracht und wir haben über sie hier auch diskutiert. Die berechtigten Datenschutzbedenken gegen die geplanten PNR-Abkommen lassen sich aber einfach nicht wegdiskutieren, wie man ja unschwer auch am Abstimmungsverhalten der Bundesregierung erkennen kann. Frau Piltz, Zweckbindung, Ausschluss grundrechtswidrigen Profilings und die Weiterleitung von Daten in Unrechtsstaaten, unabhängige Datenschutzkontrolle das sind Ihre Themen, und das sind die zentralen Kritikpunkte an den PNR-Abkommen mit den USA und Australien, geäußert nicht nur vom Juristischen Dienst der Europäischen Kommission, sondern auch vom Europäischen Datenschutzbeauftragten und führenden Experten. Im Juni dieses Jahres haben Sie an dieser Stelle gesagt, was die Fluggastdaten angeht, müsse im Sinne des Rechtsstaates gerettet werden, was noch zu retten ist. Ihre Parteikollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger wird in der Regierung hart gekämpft haben um die Enthaltung beim PNR-Abkommen mit Australien. Jetzt sind wirklich einmal Sie dran mit dem Retten - und ich meine damit nicht das Retten der Koalition -: Setzen Sie sich innerhalb der Koalition durch, und nutzen Sie damit die Möglichkeit, die der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union uns gibt; die Möglichkeit, diese eklatant grundrechtswidrigen Abkommen dem EuGH zur Prüfung vorzulegen, bevor sie in Kraft treten. Zu Ihnen, Herr Binninger: Sie haben im Innenausschuss gesagt, dass Parlamentarier nach Mehrheiten entscheiden und nicht nach Gerichtsentscheidungen und dass Sie deswegen einer Grundrechtskontrolle durch den EuGH nicht zustimmen können. Da bleibt mir ja fast die Spucke weg, wenn das Ihr Verständnis von Gewaltenteilung sein sollte: Was grundrechtswidrig ist, bestimmt allein das Parlament, und wenn es dann doch schiefgeht und die Sache irgendwie vor dem Bundesverfassungsgericht landet, dann bringen wir die deutschen Grundrechtshüter vom Verfassungsgericht halt in die europapolitische Bredouille, indem wir sie vor die Entscheidung stellen, sich entweder für Europa oder für die Grundrechte zu entscheiden? Umgekehrt wird ein Schuh draus. In seinem Urteil zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber unmissverständlich dazu aufgefordert, sich für die Wahrung verfassungsrechtlicher Datenschutzstandards auf europäischer und internationaler Ebene einzusetzen. Wenn also allenthalben und sogar innerhalb Ihrer Regierungskoalition Zweifel an der Grundrechtskonformität bestehen, ist es Ihre Pflicht, dem nachzugehen und alle verfügbaren Mittel zu ergreifen, um das Inkrafttreten grundrechtswidriger Abkommen zu vermeiden. Noch ist es nicht zu spät: Stimmen Sie unserem Antrag zu, fordern Sie die Bundesregierung auf, die geplanten PNR-Abkommen mit Australien und den USA Zu Protokoll gegebene Reden dem EuGH vorzulegen. Nach der Enthaltung der Bundesregierung beim Abkommen mit Australien wäre dieser Schritt nur konsequent.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7676, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6331 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Sie werden es nicht für möglich halten, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, aber es ist so: Wir sind am Ende unserer heutigen Tagesordnung. ({0}) Wir wollen dennoch weiterarbeiten, aber nicht mehr heute, sondern morgen. Ich berufe somit die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. November 2011 - ein besonderer Tag -, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.