Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur 139. Sitzung des Bundestages
in dieser Legislaturperiode.
Der Kollege Max Lehmer hat am 6. November seinen 65. Geburtstag gefeiert. Ich möchte ihm im Namen
des ganzen Hauses dazu auch auf diesem Wege herzlich
gratulieren und alles Gute für die nächsten 65 Jahre wünschen.
({0})
Die Kollegen Heidrun Dittrich und Andrej Hunko haben ihre Schriftführerämter niedergelegt. Als neue
Schriftführer schlägt die Fraktion Die Linke die Kollegen Ralph Lenkert und Sabine Stüber vor. Sind Sie damit einverstanden?
({1})
- Eine Vorstellung wäre denkbar, ist aber eigentlich
nicht üblich. Ich nehme auch an, dass dazu allgemeines
Einvernehmen besteht. - Das ist der Fall. Dann sind die
beiden Kollegen hiermit gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Nein zum Betreuungsgeld - Familien- und Bildungspolitik zukunftsfähig gestalten
({2})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand
umsetzen
- Drucksache 17/7610 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/7632 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas
- Drucksache 17/7612 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Präsident Dr. Norbert Lammert
Monitoring für versenkte Atommüllfässer im
Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen
weitere Strahlenexposition einleiten
- Drucksache 17/7633 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth
Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der älter werdenden Gesellschaft gerecht werden - Barrieren in Wohnungen und im Wohnumfeld abbauen
- Drucksachen 17/7188, 17/7630 Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel ({9})
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Haltung der Regierungskoalition zur Einführung eines Mindestlohns
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz
Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter Kabinenluft schützen
- Drucksache 17/7611 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})
Ausschuss für Tourismus ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({12}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,
Josef Philip Winkler, Marieluise Beck ({13}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen
- Drucksachen 17/3686, 17/5989 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe ({14})
Hartfrid Wolff ({15})
Ulla Jelpke
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausPeter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing,
Dr. Hermann Otto Solms, Björn Sänger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ratingagenturen besser regulieren
- Drucksache 17/7638 ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Neuer Anlauf zur Finanzmarktregulierung erforderlich
- Drucksache 17/7641 ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({16}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Kommission des Deutschen
Bundestages zur Regulierung der Großbanken
- Drucksachen 17/7359, 17/7665 Berichterstattung:
Abgeordnete Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann E. Ott, Viola von Cramon-Taubadel,
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
China als wichtiger Partner im Klimaschutz
- Drucksache 17/7481 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 12 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergewährung der Sonderzahlung
- Drucksache 17/7631 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Euratom-Vertrag ändern - Atomausstieg europaweit voranbringen - Atomprivileg beenden
- Drucksache 17/7670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({20})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Federführung strittig
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Schuldenfinanzierte Steuersenkungspläne der
Bundesregierung - Folgen für künftige Generationen und für die soziale Gerechtigkeit
Dabei soll, wie immer, von der Frist für den Beginn
der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 11 und 13 werden abgesetzt. Anstelle von Tagesordnungspunkt 11 soll nun der
Tagesordnungspunkt 32 beraten werden. Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor. Für den Tagesordnungspunkt 32 soll morgen
der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Wiedergewährung von Sonderzahlungen debattiert werden.
Schließlich wird der Tagesordnungspunkt 33 abgesetzt
und stattdessen der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zur Änderung des Euratom-Vertrages aufgerufen. Darf ich auch zu diesen zwischen den Fraktionen
abgestimmten Veränderungen Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall. Dann ist das hiermit so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai
Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Martin Lindner ({21}), Claudia
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Weniger Bürokratie und Belastungen für den
Mittelstand - Den Erfolgskurs fortsetzen
- Drucksache 17/7636 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({22})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({23}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand
umsetzen
- Drucksache 17/7610 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({24})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Auch dazu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann
ist das so beschlossen.
Wir beginnen mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Burgbacher, dem ich hiermit das Wort erteile.
({25})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Le
Mittelstand Allemand“ - das ist in Frankreich zu einem
Fachbegriff geworden, den die Franzosen voll Respekt
verwenden. In vielen Ländern werden wir um unsere
mittelständische Struktur beneidet.
Wir alle sind uns wahrscheinlich einig, dass der Mittelstand einen ganz wesentlichen Verdienst daran hatte,
dass wir so gut aus der Krise herausgekommen sind.
Mittelstand heißt: viele Familienunternehmer, die die
Krise auch genutzt haben, um sich neu aufzustellen, die
ihre Beschäftigten gehalten haben. Deshalb ist es angebracht, all diesen Unternehmerinnen und Unternehmern
den Dank dieses Hauses für ihre Leistung zu sagen.
({0})
60 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sind im Mittelstand. Über 99 Prozent der
deutschen Unternehmen sind kleine und mittlere Unternehmen. Über 83 Prozent der Auszubildenden werden
vom Mittelstand ausgebildet. Auch das ist etwas, um das
uns eigentlich die ganze Welt beneidet. Das heißt, wir
müssen den Mittelstand in Deutschland stärken; wir
müssen alles dafür tun, dass er gestärkt wird, weil er das
stabile Element in unserer Volkswirtschaft ist.
({1})
Meine Damen und Herren, wenn man zu Mittelständlern kommt und sie fragt, was sie von der Politik erwarten, dann heißt es häufig: Lasst uns arbeiten, gebt uns
nicht ständig neue Regelungen, gängelt uns nicht! - Ge16454
nau das ist das Markenzeichen der christlich-liberalen
Regierung: Wir geben dem Mittelstand Freiraum. Wir
entlasten den Mittelstand von Bürokratie. Wir lassen die
Unternehmer arbeiten - das ist das, was sie wollen - und
überziehen sie nicht ständig mit neuen staatlichen Vorschriften. Im Gegenteil: Wir bauen Vorschriften ab; wir
bauen Bürokratie ab. Das ist das Markenzeichen der
Mittelstandspolitik dieser christlich-liberalen Regierung.
({2})
Es ist notwendig, dass wir den ordnungspolitischen
Rahmen immer wieder überarbeiten, dass wir ihn an aktuelle Gegebenheiten anpassen. Wir können gute Erfolge
vorweisen. Noch vor fünf Jahren hatte die deutsche
Wirtschaft Bürokratielasten im Umfang von 50 Milliarden Euro zu tragen. Wir haben diese Lasten um
10,5 Milliarden Euro zurückgeführt. Ein Teil davon
wurde in der Großen Koalition erreicht. Das waren allerdings die Früchte, die niedrig hingen, die man nur zu
pflücken brauchte. Wir haben jetzt eine weitere Reduzierung um 4,5 Milliarden Euro erreicht. Ich glaube, das ist
nach zwei Jahren eine stolze Bilanz, die sich wirklich sehen lassen kann.
({3})
Ich will einige ganz konkrete Beispiele nennen; ich
beginne mit ELENA. ELENA war ein Vorhaben, das gut
gemeint war, eigentlich ein Vorhaben, um Bürokratie abzubauen. Es hat sich aber gezeigt, dass es gerade für
kleine und mittlere Unternehmen eher schwierig war, die
Vorgaben zu erfüllen, dass es bei ihnen eines gewaltigen
Aufwandes mit gewaltigen Kosten bedurfte, um diese
Vorgaben zu erfüllen. Deshalb bin ich froh, dass der
Deutsche Bundestag am 29. September beschlossen hat,
ELENA auslaufen zu lassen, und zwar schon in diesem
Jahr. Das ist ein gutes Zeichen für viele kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland,
({4})
auch wenn wir natürlich darüber reden müssen, was wir
mit den Daten machen und wie wir Dinge, die bereits geschehen sind, für die Zukunft nützen können.
Ein zweites Beispiel: das Thema Vergaberecht. Bei
öffentlichen Ausschreibungen müssen Unternehmen die
Eignung nachweisen. Was wir getan haben: Es gibt jetzt
ein deutlich vereinfachtes Verfahren für diesen Eignungsnachweis, was es gerade kleinen und mittleren Unternehmen leichter und auch kostengünstiger macht, an
öffentlichen Ausschreibungen teilzunehmen.
Ein drittes Beispiel. Wenn wir draußen im Land sind,
bekommen wir alle etwas davon mit: die Klagen über
EU-Vorgaben. Nun will ich deutlich sagen: Manchmal
ist die Kritik ein Stück weit überzogen; die EU muss für
vieles herhalten. Aber richtig ist, dass viele Bürokratielasten durch EU-Vorgaben entstehen. Deshalb haben wir
den Koalitionsvertrag umgesetzt: Wir haben im Bundeswirtschaftsministerium ein Frühwarnsystem für europäische Regelungen eingerichtet. Dieses Frühwarnsystem
wird ermöglichen, dass wir europäische Vorgaben nicht
erst dann behandeln, wenn es zu spät ist, sondern dass
wir jetzt schon im Anfangsstadium sehen, was aus Europa kommt, also rechtzeitig reagieren und handeln können. Auch das ist eine gute Nachricht für den Mittelstand.
({5})
Schließlich, meine Damen und Herren, komme ich
auf einen besonders wichtigen Punkt zu sprechen: Corporate Social Responsibility. Das unterstützen wir alle.
Aber es kann nicht sein, dass die EU kleinen Unternehmen Vorgaben für ausführliche Berichtspflichten macht.
Dann wird aus dem gut gemeinten Projekt plötzlich wieder neue Bürokratie.
Deshalb sage ich auch für diese Bundesregierung:
Wir werden das stoppen. Wir wollen Corporate Social
Responsibility, aber rein nach dem Freiwilligkeitsprinzip
und nicht durch neue bürokratische Vorschriften.
({6})
Vieles hat diese Bundesregierung in den zwei Jahren
getan. Der Mittelstand hat eine deutliche Entlastung erfahren. Der Antrag weist weitere Punkte zu der Frage
auf, was jetzt noch zu tun ist.
Wir sind bei vielen Punkten in der Vorbereitung. Wir
werden das umsetzen. Wir werden zeigen: Mittelstandspolitik ist ein Kernstück dieser christlich-liberalen Regierung. Mittelstandspolitik heißt, Unternehmerinnen
und Unternehmern endlich wieder die Luft zum Atmen
zu geben und ihnen das zu ermöglichen, was sie am
liebsten tun, nämlich etwas zu unternehmen.
Dafür hat die Politik die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Genau das machen wir.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Burgbacher, in der Sache sind wir uns einig: Natürlich müssen wir alles dafür tun, den Mittelstand von unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir sind
uns auch einig, was die Bedeutung des Mittelstands betrifft - gar keine Frage.
Aber was ist eigentlich in den letzten zwei Jahren mit
dem Regierungsprogramm Bürokratieabbau passiert?
Sie haben nicht, wie vor fünf Jahren festgelegt, das 25-Prozent-Nettoabbauziel bei den Informations- und Statistikpflichten erreicht.
Auf europäischer Ebene, die in der Tat zu 50 Prozent
für die bürokratischen Belastungen der deutschen Gesetzgebung verantwortlich ist, ist seit zwei Jahren so gut
wie gar kein Fortschritt erzielt worden.
Für den neuen Ansatz, den Erfüllungsaufwand in ausgewählten Bereichen zu verringern, wie durch das NKRGesetz im März 2011 festgelegt, haben Sie gerade einmal ein Handbuch vorgelegt. Ansonsten geht nach wie
vor die Umsetzung dieses wichtigen politischen Ziels
leider nur sehr schleppend voran. Insgesamt stagniert
also die Umsetzung des Regierungsprogramms.
Ich schaue mich um und frage mich: Was ist eigentlich mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Bürokratieabbau? Fragen Sie einmal in unserem Land, wer
Eckart von Klaeden in dieser Funktion kennt!
({0})
- Jetzt sehe ich ihn. Er sitzt auf der Regierungsbank ganz versteckt.
({1})
- Herr Hinsken, fragen Sie im Land, ob jemand den Bürokratiebeauftragten der Bundesregierung kennt!
({2})
Dann merken Sie: Fehlanzeige! Niemand kennt ihn. Keiner weiß, dass es einen Bürokratieabbaubeauftragten der
Bundesregierung gibt.
({3})
Dabei war die Große Koalition vor fünf Jahren sehr
eindrucksvoll gestartet. In sehr kurzer Zeit gelang es,
den Normenkontrollrat zu etablieren, das Standardkostenmodell einzuführen, die drei Mittelstandsentlastungsgesetze zu verabschieden und so innerhalb relativ kurzer
Zeit die Belastung der Wirtschaft durch unnötige Bürokratie um 20 Prozent abzubauen. Erreicht werden sollten
aber bis Ende 2011 25 Prozent.
({4})
Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren sind verbindliche Abbauziele. Ich frage daher die Bundesregierung
- dazu haben Sie, Herr Staatssekretär, nicht viel gesagt -:
Wie wollen Sie innerhalb der kurzen Zeit, also innerhalb
der uns verbleibenden drei Sitzungswochen, noch die
fehlenden Entlastungsmaßnahmen im Umfang von
2 Milliarden Euro im Bundestag beschließen?
({5})
Das funktioniert also nicht. Folglich können wir
schon heute kritisieren, dass Sie das versprochene Abbauziel nicht erreichen werden.
({6})
In der Tat erwartet der deutsche Mittelstand von der
Bundesregierung eine sehr schnelle Umsetzung des Abbauziels.
Wir erwarten natürlich, dass Sie nächstes Jahr eine
neue Zielmarke für Bürokratieabbau setzen. Oder wollen
Sie etwa 2012 den Bürokratieabbau ad acta legen? Auch
bei der Umsetzung des NKR-Gesetzes muss gehandelt
werden. Die Bundesregierung muss die Kosten, die
durch die Rechtsanwendung entstehen, schnell bewerten
und den Bürokratieabbau zu einem eigenständigen Politikziel entwickeln. Dazu brauchen wir ein festes quantitatives Abbauziel.
Wir stellen fest: Auf EU-Ebene ist die Kommission
nach wie vor nicht bereit, den Bürokratieabbau von einem unabhängigen Gremium bewerten zu lassen. Das ist
sehr bedauerlich; denn so wie in Deutschland Bürokratiekosten nach einheitlichen Maßstäben erfasst und in einem komplexen Prozess bewertet werden, müsste das
ebenfalls auf EU-Ebene passieren. Wir brauchen einen
europäischen Normenkontrollrat, der Regelungsvorhaben der EU schon in der Frühphase auf mögliche Bürokratiekosten hin kontrolliert.
({7})
Wie eben aufgezeigt, gibt es seit zwei Jahren einen
Stillstand beim Bürokratieabbau, und das ist fatal, gerade im Hinblick auf die wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wir müssen alles unternehmen, um unnötige Kosten zu senken, damit sich die
Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, sicherlich ist Ihnen das auch aufgefallen. Deshalb haben Sie jetzt kurz vor Toresschluss einen
Antrag formuliert. In ihm fordern Sie Ihre eigene Regierungsmannschaft endlich zum Handeln auf. Festzustellen ist aber: Dieser Antrag kommt zu spät, erst Ende
2011. Ich frage Sie: Warum nicht früher? Warum nur ein
Antrag? Warum haben Sie nicht gleich ein viertes und
ein fünftes Mittelstandsentlastungsgesetz vorgelegt?
({8})
- Bei insgesamt 24 Forderungen, Herr Hinsken, hätten
Sie doch genügend Material für einen solchen Entwurf
parat gehabt. Sie machen es vielleicht irgendwann. Aber
warum haben Sie es bis jetzt nicht getan? Sie hatten
lange genug Zeit. Zwei Jahre sind vertan worden.
({9})
In der Tat gibt es viel zu tun. Ein Blick in den aktuellen Jahresbericht des Normenkontrollrats reicht. Darin
sind ernstzunehmende Empfehlungen enthalten. Deshalb
fordern wir:
Erstens. Beenden Sie schnellstens den Stillstand beim
Bürokratieabbau! Bauen Sie das bisher erfolgreiche Regierungsprogramm besonders für kleine und mittlere
Unternehmen weiter aus, und erweitern Sie es für die
Bürgerinnen und Bürger!
Zweitens. Überprüfen Sie endlich die Bürokratiekosten von EU-Richtlinien, und entwickeln Sie gemeinsam
mit anderen EU-Ländern Strategien zum Bürokratieabbau und zu weiteren Vereinfachungen! Wirken Sie mit
Nachdruck auf die Europäische Kommission ein, und
bestehen Sie auf einer plausiblen Abschätzung der Bürokratiekosten aller Gesetzesvorschläge!
Drittens. Bringen Sie neuen Schwung in das E-Government! Achten Sie darauf, dass es zu einem Abbau unnötiger Bürokratie genutzt wird! In der Vergangenheit
führte die mangelhafte Abstimmung zwischen den
Ministerien teilweise zu mehr statt zu weniger Bürokratie. Auch die Koordinierung mit den Bundesländern
muss an dieser Stelle verbessert werden.
({10})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, wenn Sie unsere beiden Anträge nebeneinander legen, dann können Sie feststellen, dass es bei den Forderungen viel Übereinstimmung gibt. Es ist schön, dass Sie dem von uns
eingeschlagenen Weg folgen wollen. Auch beim Tempo
und bei der konsequenten Umsetzung sollten Sie sich
wieder mehr an uns orientieren. Das hat in der Großen
Koalition ganz gut funktioniert.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
legen Sie endlich ein schlüssiges, in die Zukunft gerichtetes Konzept vor! Beschließen Sie verbindliche Ziele
für die Zeit ab 2012! Setzen Sie Beschlüsse um! Ich bin
gespannt, ob diese Bundesregierung dazu überhaupt
noch in der Lage ist.
({11})
Unser Mittelstand kann sich keine weiteren Verzögerungen beim Bürokratieabbau leisten. Machen Sie endlich
Nägel mit Köpfen,
({12})
und investieren Sie in den Bürokratieabbau! Der Mittelstand und die Bürgerinnen und Bürger werden es Ihnen
danken.
Ganz herzlichen Dank.
({13})
Kai Wegner ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, dies ist ein
guter Tag, ein guter Morgen für kleine und mittelständische Unternehmen in unserem Land. Wir beraten zur
besten Zeit hier im Deutschen Bundestag, zur Kernzeit,
das Thema Bürokratieabbau.
({0})
Das zeigt, liebe Frau Wicklein, welchen Stellenwert wir
diesem Thema in dieser Koalition geben.
({1})
Liebe Frau Wicklein, hätten Sie dem Staatssekretär
Burgbacher gerade zugehört, dann hätten Sie die Rede
so, wie Sie sie gerade gehalten haben, glaube ich, nicht
halten können.
Bürokratie kostet Zeit und Geld. Beides sind entscheidende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit in unserem
Land. Die christlich-liberale Koalition hat sich zum Ziel
gesetzt, die Belastungen durch Bürokratie so weit wie
möglich abzubauen, insbesondere für den deutschen
Mittelstand.
({2})
Wenn wir über Bürokratieabbau in Deutschland sprechen, verwenden wir immer gerne Bilder. Ich vergleiche
ihn stets mit einem Marathonlauf: Am Start ist man voller Energie, und man bewältigt den größten Teil der Strecke problemlos, bis es anfängt, wehzutun. Dann darf man
nicht aufgeben. Man muss alle vorhandenen Kraftreserven nutzen, um die Ziellinie zu erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen großen Teil unserer Strecke geschafft. Wir werden diesen Weg
konsequent weitergehen. Wir müssen allerdings aufpassen - diesbezüglich haben Sie recht, Frau Wicklein -,
dass wir uns durch neue Regulierungen den Weg nicht
zusätzlich erschweren.
({3})
Noch vor fünf Jahren mussten die Unternehmen in
Deutschland rund 50 Milliarden Euro im Jahr für Bürokratiekosten aufwenden. Inzwischen sparen sie jährlich
deutlich über 10 Milliarden Euro ein. Wir werden diesen
Weg weitergehen und über die Informationspflichten hinaus auch den sogenannten Erfüllungsaufwand reduzieren. Die Zahlen beweisen es: Wir sind auf dem richtigen
Weg.
({4})
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei der
Bundesregierung und beim Bundeswirtschaftsminister
bedanken. Insbesondere möchte ich mich bei unserem
Staatsminister Eckart von Klaeden für seine beharrliche
und erfolgreiche Arbeit bedanken.
({5})
Liebe Frau Wicklein, wenn Sie von dieser erfolgreichen
Arbeit nichts mitbekommen haben, dann ist das nicht
das Problem der Koalition, sondern Ihr Problem. Wir
sind fest davon überzeugt, dass Herr von Klaeden eine
gute Arbeit leistet, die er fortsetzen wird.
Einen Dank möchte ich auch den Mitgliedern des Nationalen Normenkontrollrates aussprechen. Der Normenkontrollrat ist mit seinen Stellungnahmen und AnreKai Wegner
gungen stets ein guter und wichtiger Begleiter bei
unseren Bemühungen, Bürokratiekosten zu reduzieren.
Herrn Dr. Ludewig möchte ich an dieser Stelle ganz
herzlich danken, natürlich auch seinen Mitstreiterinnen
und Mitstreitern.
({6})
Gerade in turbulenten Zeiten von Wirtschafts- und Finanzkrisen sind wir verpflichtet, die Bedingungen für
unternehmerisches Handeln in Deutschland weiter zu
verbessern. Nur so kann die deutsche Wirtschaft in Europa die Konjunkturlokomotive bleiben. Unternehmerinnen und Unternehmer sollen sich auf ihr eigentliches
Kerngeschäft konzentrieren können. Sie sollen innovativ
sein und im wahrsten Sinne des Wortes etwas unternehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie in der Lage sind,
mehr in ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu investieren
anstatt in häufig überflüssige Bürokratie. Nur ein ausgewogenes Verhältnis von individueller Freiheit und staatlichen Rahmenvorgaben gibt zusätzliche Impulse für
kleine und mittlere Unternehmen, für das Handwerk und
den Handel und schafft somit Wachstum und Beschäftigung.
({7})
Der Bürokratieabbau hat den Charme, dass er im Gegensatz zu manch anderen Maßnahmen nichts kosten
muss - ein wahres Konjunkturprogramm zum Nulltarif.
Deshalb ist uns dieses Thema so wichtig.
({8})
Dazu soll unser Antrag einen Beitrag leisten. Wir haben in diesem Antrag einen umfangreichen Katalog an
Maßnahmen vorgeschlagen, der weniger Bürokratie und
weniger Belastung für den Mittelstand bringen soll.
Mit den ersten beiden Forderungen halten wir die
Bundesregierung an, ihr Programm „Bürokratieabbau
und bessere Rechtsetzung“ fortzuschreiben und zu intensivieren.
({9})
Wir erwarten auch Maßnahmen, damit das Thema Bürokratieabbau nach dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels
seine Dynamik behält.
Unsere Maßnahmen müssen in der Tat zu spürbaren
Entlastungen für die Wirtschaft, für die Verwaltung, für
die Bürgerinnen und Bürger führen. Niemandem ist geholfen, wenn wir stets vorrechnen, wie stark die Belastungen bereits gesunken sind, ohne dass die, die davon
profitieren sollen, diese Entlastungen spüren.
({10})
Daher fordern wir zum Beispiel, die gesetzlichen
Aufbewahrungsfristen für Unternehmen und private
Haushalte im Handels-, Steuer- und Sozialrecht zu vereinheitlichen und endlich zu verkürzen.
({11})
Zugleich sollen die steuerlichen Betriebsprüfungen zeitlich näher zum Veranlagungsjahr stattfinden, damit das
mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen harmoniert.
Diese Maßnahmen werden die Mittelständler, die
Handwerker, aber auch private Personen spüren und erfahren. Sie können dann getrost den einen oder anderen
Aktenordner und Papierstapel wegwerfen oder vernichten. Das schafft Platz im Lager und im Regal, und das
entlastet die Unternehmen spürbar. Deswegen wollen
wir da ran.
({12})
Unter den vielen weiteren wichtigen Forderungen im
Antrag zur Vereinfachung und zum Bürokratieabbau
möchte ich eine Forderung besonders erwähnen. Unternehmerinnen und Unternehmer aus Berlin haben mir
mehrfach berichtet, wie zeitraubend es ist, immer und
immer wieder die gleichen Daten und Informationen
über das eigene Unternehmen an verschiedene Verwaltungen und unterschiedlichste öffentliche Einrichtungen
melden zu müssen. Daraus entstand die Idee, in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt ein Konzept
zu erarbeiten, welches die öffentlichen Verwaltungen
verpflichtet, bereits gemeldete Daten zu nutzen, bevor
Unternehmer erneut aufgefordert werden, öffentlich zugängliche Angaben gegenüber der Verwaltung zu wiederholen. Mit einem solchen Konzept werden wir erreichen,
dass Unternehmen zukünftig nur noch einmal ihre Daten
melden müssen und die Verwaltungen diese Daten im
Bedarfsfall im Austausch nutzen. Auch damit wäre ein
großer Schritt in Richtung spürbarer Entlastung - zeitlich
und finanziell - erreicht.
Ich möchte natürlich auch kurz auf den Antrag der
SPD-Fraktion eingehen. Sie bescheinigen uns, dass wir
beim Bürokratieabbau erfolgreich sind, dass wir unsere
Ziele bisher erreicht haben und dass das sehr eindrucksvoll ist.
({13})
Es freut mich natürlich sehr, dass Sie das in Ihrem Antrag so formulieren, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD. Was allerdings Ihre Forderungen im Einzelnen betrifft, bin ich schon enttäuscht.
({14})
Ich muss wieder einmal feststellen, dass Sie dem Regierungshandeln hinterherlaufen. Sie fordern beispielsweise, in Zukunft beim Bürokratieabbau auch Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger stärker ins Auge zu
fassen. Das passiert doch bereits, zum Beispiel durch die
Projekte „Einfacher zum Studierenden-BAföG“, „Einfacher zum Wohngeld“ oder „Einfacher zum Elterngeld“.
({15})
Ein weiteres Beispiel: Sie fordern, die Methodik zur
Berechnung des Erfüllungsaufwandes in das Bürokratieabbauprogramm aufzunehmen. Dies ist mit Inkrafttreten
des Leitfadens zur Ermittlung und Darstellung des Erfüllungsaufwands in Regelungsvorhaben der Bundesregierung bereits geschehen. Sie sehen: Wir sind auf dem
richtigen Weg.
({16})
Wir bauen Bürokratie ab.
Ich komme zum Schluss meiner Rede zum Bild des
Marathonlaufs zurück. Wir sind gut gestartet, haben einen Großteil der Strecke bewältigt, sind aber noch nicht
am Ziel. Deshalb bleibt der Abbau von überflüssiger Bürokratie auch in den nächsten Jahren eine Daueraufgabe.
Wir werden insbesondere kleine und mittlere Unternehmen von Belastungen durch Bürokratie, von Einschränkungen der Handlungsfähigkeit und von unnötigen Kosten befreien.
({17})
Unser Ziel bleibt es, den Mittelstand zu entfesseln, um
damit Wachstum und Beschäftigung in unserem Land zu
schaffen.
({18})
Ich freue mich auf die weitere Debatte und danke für
Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Diether Dehm für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Kleine und mittelständische Unternehmen stellen
79 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse und 82 Prozent der Ausbildungsplätze. 99,7 Prozent aller Unternehmen in Deutschland
sind kleine und mittlere; sie generieren aber nur 39 Prozent des Umsatzes. Ein Grund dafür ist, dass SchwarzGelb zwar sonntags vom Mittelstand redet, aber werktags
an der Leine der Exportkonzerne trottet.
Wir brauchen nicht nur pauschal entbürokratisierende
Maßnahmen - keinesfalls brauchen wir eine unbürokratische Milliardenhilfe für Banken! Was wir brauchen ist:
unbürokratischen Einsatz für mehr Binnennachfrage.
({0})
Das ist das entscheidende Kraftpotenzial, das die kleinen
und mittleren Unternehmen brauchen.
Herr Wegner, auch wenn Sie sich hier gerühmt haben:
Ein weiterer Nachteil bleibt der bürokratiebedingte Aufwand der KMU. Auf Kleinunternehmen mit bis zu neun
Beschäftigten entfallen pro Beschäftigten und Jahr
64 Stunden und 4 361 Euro an rein bürokratiebedingtem
Aufwand.
({1})
Das entspricht einer Steigerung um 25 Prozent seit 1994.
Bürokratismus kommt aber nicht nur von staatlichen
Behörden wie einem Fiskus, der auch bei unverschuldeter
Insolvenz immer noch viel zu stur exekutiert, nicht nur
von der EU mit ihrer idiotischen Dienstleistungsrichtlinie, sondern diese bürokratische bzw. bürokratistische
Bevormundung liegt auch an der Macht der Konzerne,
vor allem der Banken und Versicherungskonzerne, gegenüber kleinen Unternehmen. Das fehlt im SPD-Antrag
genauso wie im Koalitionsantrag.
({2})
Schauen Sie sich einmal die verschlüsselten Versicherungsbedingungen und die unterschiedlichen, fast gegensätzlichen Einkaufs- und Verkaufsbedingungen von Konzernen an. Hier geht es nicht nur um unnötig komplizierte
formale Regelungen. Hier geht es um die Ausübung
nackter wirtschaftlicher Macht. Hier geht es darum, dass
ein Teil der Wertschöpfung kleiner Unternehmen mittels
rechtlicher Vormacht von großen Unternehmen angeeignet wird. Dagegen will die Linke eine demokratische Bürokratiekontrolle. Ich wiederhole: eine demokratische
Bürokratiekontrolle.
({3})
Wir wollen die Überwachung und Einschränkung von
allgemeinen Geschäftsbedingungen, nicht nur zum
Schutz der Verbraucher, sondern auch zum Schutz der
3,6 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, die
das Rückgrat unserer Wirtschaft sind.
Nehmen wir das Supply Chain Management in der
Automobilbranche. Das ist eine reine Abwälzung der
wesentlichen Produktionsschritte durch den auftraggebenden Großkonzern auf den mittelständischen Zulieferer, der den Druck seinerseits dann an noch kleinere Zulieferer weitergibt. Dadurch entsteht ein Preisdruck, der
an Existenzen nagt. Die Erpressung durch Konzerne, die
darin zum Ausdruck kommt, dass Zulieferer Innovationen in großem Umfang vorfinanzieren müssen, was ihre
eigene Finanzierungskraft übersteigt, gehört überwunden.
({4})
Wenn dann der Auftraggeber die Zahlungen verzögert,
geht wieder ein Zulieferer pleite.
Welche Bürokratie verlangen BMW und Daimler, bevor sie einen Reparaturbetrieb vor Ort lizenzieren! Die
Produkte, die die Konzerntore verlassen, ob Pkw oder
Monitore, sind häufig kurzlebig; ihre Lebensdauer übersteigt oft nur knapp die Garantiezeit. Die Linke will darum eine Reparaturoffensive unbürokratischer Art. Konzerne müssen gezwungen werden - das ist dann
notwendige Bürokratie -, wieder reparaturfreundlich zu
produzieren, damit jeder Handwerker unbürokratisch reparieren kann,
({5})
weniger Module weggeworfen werden, mehr Stoffe gespart und mehr Arbeitsplätze, auch in infrastrukturschwachen Regionen, geschaffen werden. Eine Reparaturoffensive ist für unser Handwerk das Gebot der
Stunde.
({6})
Das heißt: mehr Freiheit für Kleinunternehmen und weniger Freiheit für Konzerne und Banken. Das ist die
Lösung, die die Linke übrigens auch in ihrem Parteiprogramm festgeschrieben hat. Die Linke ist so mittelstandsfreundlich wie keine andere Partei und setzt sich
für kleine und mittlere Unternehmen ein.
({7})
Es wäre jetzt naheliegend, auf die Banken und ihr
Kerngeschäft zu verweisen. Wer einmal einen Kreditantrag bei einer großen privaten Bank ausgefüllt hat, weiß,
was Bürokratismus ist. Das ist entwürdigend und hat
nichts mit den Sonntagsreden zu tun, die Sie gelegentlich für KMU halten.
({8})
Sparkassen und öffentliche Banken sind halt bessere
Partner für das Handwerk und den Mittelstand - auf jeden Fall bessere Partner als die Ackermänner und die
Deutsche Bank.
({9})
Die Linke verschließt nicht die Augen vor dem Bürokratismus. Hier ist sie die einzige Partei gegen bürokratisierende Konzerne und Großbanken. Sie schiebt das alles nicht nur auf die öffentliche Hand, auf den Staat. Es
ist ja teilweise wohlfeil, wie Sie den Staat hier immer auf
die Anklagebank setzen, als ob der Staat der einzige Produzent von Bürokratismus ist, während Sie die Konzerne
und Großbanken dabei außen vor lassen.
Die Linke will eine antimonopolistische Deregulierung. Das ist die Regulierung, die wir brauchen.
({10})
Eiserne Regeln für die Ackermänner und die Finanzmärkte, weniger Druck auf die kleinen und mittleren Unternehmen, das ist das Gebot der Stunde. Das hat durchaus mit Antikapitalismus zu tun, aber auch mit starken
kleinen privaten Unternehmern, die wir wollen - übrigens auch im Sozialismus.
({11})
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Christine
Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Dehm, zur Reparaturklausel.
({0})
Ich glaube, Sie müssen noch einmal darüber nachdenken,
({1})
wie es funktionieren soll, dass die Arbeitsplätze im
Handwerk dann auch erhalten bleiben.
({2})
- Das haben wir schon verstanden.
Ich würde ganz gerne einmal etwas aufgreifen, was in
dem Antrag der CDU/CSU so schön geschrieben steht.
Ich zitiere das gerade noch einmal:
Gerade die mittelständische Wirtschaft als unverzichtbarer Wachstums- und Beschäftigungsfaktor
und Stabilitätsgarant in der globalisierten Welt sieht
sich überproportionalen bürokratischen Lasten ausgesetzt.
({3})
Deren Sinnhaftigkeit und Zeitgemäßheit stehen
vielfach zu Recht in Frage. Statt in die eigene Wettbewerbsfähigkeit müssen die Unternehmen Zeit
und Geld in häufig überflüssige Bürokratie „investieren“.
Sehr verehrte Damen und Herren von der Union, das ist
völlig richtig. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen
Sie in den letzten Jahren daraus gezogen haben.
({4})
Mit einem bestimmten zeitlichen Abstand legen Sie
immer wieder einen schönen Antrag vor. Letztens haben
Sie einen Antrag eingebracht, in dem Sie sich auch mit
der Bürokratie und dem Mittelstand beschäftigt haben.
Dieser Antrag enthielt, wenn ich mich recht erinnere,
15 Punkte. Nur 4 davon sind umgesetzt bzw. beibehalten
worden. Alles andere, was in dem Antrag stand, haben
Sie weder gesetzgeberisch noch über Verordnungen auf
den Weg gebracht. Das heißt, Anspruch und Wirklichkeit gehen bei dieser Koalition völlig auseinander.
({5})
Wir sind der Meinung, dass es nicht reicht, im Halbjahresrhythmus eine unnötige Bauchpinselei zu betreiben, wenn man eine gewissenhafte und seriöse Politik
für den Mittelstand machen will, sondern der Mittelstand
hat zu Recht den Anspruch, dass Sie als Regierung etwas
dafür tun, dass wirklich Bürokratie abgebaut wird.
({6})
Hier nutzt es auch nichts, wenn man sagt: Wir haben den
Mittelstand um 10 Milliarden Euro entlastet. - Auf dem
Papier ja, aber in der Realität nein.
({7})
Lieber Ernst Hinsken, wir sagen immer wieder: Das
muss ankommen. Es ist zum großen Teil aber nicht angekommen, weil von diesem Entlastungsprogramm im
Umfang von 10 Milliarden Euro ein ganz großer Teil
noch nicht einmal umgesetzt worden ist; das ist die
Wahrheit. Man kann deshalb nicht sagen: Das haben wir
super gemacht. - Angepeilt wurde eine Reduzierung der
Bürokratiekosten um 25 Prozent, ein großer Teil - die
Kollegin der SPD hat das auch angesprochen - ist aber
überhaupt nicht vollzogen.
Wir fragen uns, wie Sie das bis zum Jahresende schaffen wollen. Sie haben keinen einzigen Antrag in dieses
Parlament eingebracht, aus dem ersichtlich würde, dass
ein Teil dieser Vorgaben, die Sie sich selbst gesetzt haben, noch in dieser Jahresfrist angegangen wird.
({8})
Die Verbände - damit meine ich nicht nur die großen
Verbände, sondern ich rede auch von denen, die vor Ort
im Handwerksbereich oder im gewerblichen Bereich aktiv sind - sagen ganz klar, dass die versprochenen Leistungen dieser Regierung nicht bei ihnen angekommen
sind. Man kann sich die einzelnen Beispiele anschauen.
Thema ELENA. Aussagekräftig wird die Zahl von
10 Milliarden Euro an eingesparten Bürokratiekosten
erst dann, wenn man einmal das gegenrechnet, Herr
Burgbacher, was Sie aufgrund des ständigen Hickhacks
beim ELENA-Verfahren an Belastungen für die Unternehmen verursacht haben. Laut den Spitzenverbänden
sind für die Wirtschaft etwa 300 Millionen Euro an Belastungen entstanden, weil Sie dieses Hickhack verursacht haben. Ergebnis: Das Verfahren wurde zwar nicht
umgesetzt, aber die Belastung ist bei der Wirtschaft hängen geblieben. Solche Belastungen muss man berücksichtigen, wenn man über Bürokratieabbau spricht. Das
wäre eine ehrliche Aussage, aber das tun Sie leider nicht.
({9})
Sie haben durch Doppelbelastungen Kosten verursacht.
Auch das müssen Sie benennen.
Der Normenkontrollrat - er ist auch aus unserer Sicht
ein hervorragendes Gremium - sollte mit ein bisschen
mehr Power in dem Sinne ausgestattet werden, dass er
mehr Befugnisse bekommt. Der Normenkontrollrat hat
gesagt: Diese Regierung hat noch keine konsistente
IT-Strategie vorgelegt. Sie können nicht erwarten, dass
ein Normenkontrollrat eine IT-Strategie zum Thema Entbürokratisierung entwickelt, sondern es ist die Pflicht
und die Aufgabe dieser Koalition, das zu tun, damit der
Normenkontrollrat prüfen kann, ob Sie das vernünftig
umgesetzt haben.
({10})
Bedauerlich ist auch, dass das Thema Forschungsförderung für den Mittelstand im Zusammenhang mit dem
Bürokratieabbau überhaupt nicht mehr auftaucht.
({11})
Dieses Thema hat sehr viel mit Bürokratieabbau zu tun.
Wir wissen, dass die steuerliche Forschungsförderung
- das zeigen uns die Beispiele aus anderen europäischen
Ländern - für die Unternehmen mit Abstand die unbürokratischste Förderung in den Bereichen „Innovation“
und „Förderung von neuen Technologien“ ist.
Sie haben uns von Anfang an versprochen - das steht
auch im Koalitionsvertrag -, dass diese Forschungsförderung kommen wird. Aber bis heute ist sie nicht umgesetzt. Auch dieses Thema gehört in einen solchen Antrag. Aber darum haben Sie sich wieder herumgemogelt.
Sie reden ja nicht einmal mehr darüber. Hier sehen wir
ein Manko; denn diese Art von Förderung würde eine
wirkliche Entlastung bedeuten.
({12})
Stichwort Bilanzierung. Es wurde auf der europäischen Ebene lange darüber diskutiert, dass eine Befreiung von kleinen GmbHs und kleinen Personengesellschaften von der Pflicht zur Bilanzierung, ähnlich wie
das bei Einzelkaufleuten hinsichtlich der Grenzwerte
möglich ist, sehr viel helfen würde. Aber nein! Ich vermute einmal, dass sich der Steuerberaterverband an dieser Stelle wieder durchgesetzt hat. Die Unternehmen,
auch die ganz kleinen GmbHs mit wenig Umsatz, sind
also verpflichtet, eine Bilanz vorzulegen, wofür sie im
Durchschnitt 2 500 Euro zahlen. Dieses Geld würde in
den kleineren Unternehmen, in GmbHs mit geringen
Umsätzen, für Wichtigeres als für eine unnötige Bilanzierung gebraucht.
Wir wünschen uns, dass Sie hier endlich Farbe bekennen. Die EU-Kommission hat geschätzt, dass es hier um
6,3 Milliarden Euro geht. Das betrifft 5,3 Millionen Unternehmen auf der europäischen Ebene. Hier könnten Sie
tätig werden, wenn Sie wollten; denn es ist möglich,
dass Deutschland hier vorangeht. Wir müssen feststellen, dass hierzu auf der europäischen Ebene zwar Vorschläge gemacht worden sind, Sie aber dafür gesorgt haben, dass es in Europa zu einer ganz eigenartigen
Kompromisslösung gekommen ist, die uns bei diesem
Problem nicht weiterbringt.
({13})
Auch die Einführung einer Europäischen Privatgesellschaft ist ein wichtiges Thema für den exportierenden deutschen Mittelstand. Auch hierzu fehlt es in Ihrem
Antrag an Vorschlägen, ganz abgesehen vom Thema
Bürgerbeteiligung bei Planungs- und Genehmigungsverfahren, ganz abgesehen von der Frage der Entbürokratisierung bei Visumverfahren, ganz abgesehen davon, wie
aus Ihrer Sicht ein wirklicher Bürokratieabbau vonstattengehen soll.
Dafür braucht es eine Strategie. Auf diese Strategie
wartet der Mittelstand zu Recht. Auf diese Strategie wartet auch die Opposition, weil wir uns gerne damit auseinandersetzen würden, was Sie im nächsten Jahr tun.
Aber dazu braucht es nicht nur wohlfeile Worte, sondern
eine Vorlage, aus der man das erkennt.
Danke schön.
({14})
Die Kollegin Claudia Bögel erhält jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 90 Prozent der Weltbevölkerung - davon bin
ich fest überzeugt - würden gerne mit dem deutschen
Elend tauschen: Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig
wie seit 20 Jahren nicht. Die Wirtschaft ist robust, der
Umsatz stetig. Die Binnennachfrage steigt, den Menschen geht es gut.
Wir alle wissen: Das liegt an den mittelständischen
Unternehmen, die mit Fleiß, Erfindergeist und sozialverantwortlichem Handeln wesentlich zu unserem Erfolg
beitragen.
({0})
Das liegt aber auch an der Politik, die in den vergangenen Jahren die richtigen Impulse gesetzt hat.
({1})
Die kleinen und mittleren Unternehmen haben mit Risikound Leistungsbereitschaft Wachstum, Wohlstand und
Innovation in Deutschland gesichert. Der Erfolgskurs des
Mittelstandes muss gefestigt werden.
({2})
Wir halten keine Sonntagsreden;
({3})
wir handeln. Wir müssen die Unternehmen weiterhin
deutlich von Bürokratie entlasten. Stichworte dazu sind
zum Beispiel Steuervereinfachung, Beschleunigung von
Planungs- und Genehmigungsverfahren, Frühwarnsysteme für EU-Regulierung und anwenderfreundliche
elektronische Behördendienste.
Die vordringlichste Aufgabe dabei ist, die Rahmenbedingungen für unsere mittelständische Wirtschaft kontinuierlich zu verbessern und den Fokus auf die Entfaltung
von Wettbewerb zu legen, weg von bürokratischen Hindernissen, weg von ökologischer Diktatur
({4})
und weg von sozialistischer Zwangsregulierung hin zum
Dialog mit der Politik, zum Handeln und Mitarbeiten zugunsten weniger Bürokratie.
({5})
Wie besang es schon Reinhard Mey vor vielen Jahren
so schön:
Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars,
zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt, zum Behuf der Vorlage beim
zuständigen Erteilungsamt.
({6})
Gottlob, davon sind wir nun um einige Längen entfernt.
Wir sind aber noch lange nicht am Ziel.
({7})
Frau Kollegin Bögel, der Kollege Dehm würde gerne
der Sache mit dem Antragsformular nachgehen.
Nein.
({0})
Na ja, dann eben nicht.
Ein Weg dorthin ist die freiwillige Betriebsprüfung mit
nur einem Abschlussbericht - das spart Zeit und Geld oder der Abbau von Hindernissen für die elektronische
Kommunikation mit der Verwaltung. Das gesetzlich vorgesehene Ungetüm mit dem Namen „Schriftformerfordernis“ ist sicherlich kein Erfordernis, sondern eher ein Hindernis. Die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen für
Unternehmen und private Haushalte können wir vereinfachen, indem wir das Handels-, Steuer- und Sozialrecht
vereinheitlichen und verkürzen.
Die Entlastung durch Bürokratieabbau in Wirtschaft,
Verwaltung und bei den Bürgerinnen und Bürgern beläuft sich schon jetzt nachweislich auf 10 Milliarden
Euro jährlich, nicht zuletzt durch die Stärkung des Normenkontrollrates und durch bessere Rechtsetzung. Das
Ziel lautet: Reduktion der Bürokratiekosten für die Wirtschaft um 25 Prozent.
Jedes Verfassungsorgan kann seit Beschluss der Koalition seine Initiativen dem Nationalen Normenkontrollrat zuleiten. Diese Initiative wird dazu führen, dass
es demnächst zum guten Ton gehört, sich bei der Einbringung von Gesetzesinitiativen erst der Expertise des
NKR zu bedienen.
Dies sind nur einige Beispiele, bei denen Bürokratie
abgebaut und Geld gespart werden kann. Das ist Geld,
das der Mittelstand besser zu investieren weiß. Zahlreiche Maßnahmen des Programms „Bürokratieabbau und
bessere Rechtsetzung“ wurden bereits umgesetzt. Der
Mittelstand braucht von der Politik ein klares Bekenntnis
zur sozialen Marktwirtschaft, weg von sozialistischen
Zwangsregulierungen. Der Mittelstand braucht von der
Politik klare Vorgaben und nicht noch mehr Papierbögen
und Durchschläge. Der Mittelstand braucht von der Politik ein klares Bekenntnis zu einem gesunden Verhältnis
von staatlichen Rahmenvorgaben und individueller Freiheit.
Gesellschaftliche Verantwortung ist, auch wirtschaftlich gesehen, ein Erfolgsfaktor für den Mittelstand und
wird durchaus gezielt eingesetzt, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Dies muss in jedem Fall auf dem
Prinzip der Freiwilligkeit basieren.
Diese Koalition wird auch weiterhin neue Freiräume
schaffen und Chancen für Investition und Beschäftigung
eröffnen. Ein Zentralkomitee, das dem Mittelstand die
Vorgaben diktiert, das wollen wir nicht.
({0})
Der Mittelstand ist unser Garant für Leistung, Innovation und Fortschritt. Wir werden unseren Erfolgskurs somit fortsetzen und die Unternehmen durch weiteren Bürokratieabbau in ihrer Leistungskraft stärken, für noch
mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze, für noch mehr
Innovationen und für noch mehr Fortschritt und Wachstum.
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Dehm
das Wort.
Ich hätte Ihnen lieber eine Zwischenfrage gestellt;
aber Sie wollten das ja nicht zulassen.
Sie haben am Anfang Ihrer Rede sinngemäß gesagt:
Viele Mittelständler anderer Kontinente würden gerne in
dem Elend bei uns leben. Dann sprachen Sie von der
Überwindung der ökologischen Diktatur. Beides veranlasst mich dazu, Sie, erstens, zu bitten, über die Gefahr
der Inflationierung des Wortes Diktatur nachzudenken,
({0})
und, zweitens, dem Hohen Hause zu erklären, was Sie
mit „ökologischer Diktatur“ meinten und damit, dass es
sehr viele Menschen auf anderen Kontinenten gebe, die
gerne in diesem - in Anführungszeichen - „Elend“ bei
uns leben würden.
({1})
Bitte, zur Erwiderung.
Herr Dehm, ich habe nicht davon gesprochen, dass
der europäische Mittelstand oder wer auch immer hier in
unserem Elend leben möchte. Ich habe nur gesagt: Ich
bin der festen Überzeugung, dass 90 Prozent der Angehörigen der Staaten in unserer Welt mit unserem deutschen Elend - das habe ich ironisch gemeint; ich sage
das, damit es Ihnen verständlich wird - zufrieden wären.
Es wundert mich immer wieder, wenn die Opposition
hier behauptet, in welchem Elend wir hier angeblich leben; denn das kann ich absolut nicht feststellen.
({0})
- Ökologische Diktatur, das ist ein Aufzwingen anderer
Lebensweisen auf jeden Menschen in dieser Republik,
und das möchte ich nicht.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita SchwarzelührSutter für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Stichwort
Ökodiktatur: Sie haben wohl noch nie etwas von Meseberger Beschlüssen, Klimawandel und ökologischer
Wende - was hat Ihre Regierung erst in diesem Frühjahr
beschlossen? - gehört. Mir gefällt jedoch das Schlagwort von der antimonopolistischen Deregulierung. Ich
verweise auch auf das von Herrn Burgbacher angesprochene Laisser-faire.
Nach Max Weber ist eine moderne Bürokratie ein effizientes Mittel, um das Zusammenleben einer Vielzahl
von Menschen zu organisieren. Transparenz schützt vor
Willkür. Sie verhindert Korruption und Günstlingswirtschaft. Beamte halten sich natürlich an fixierte Regeln. So weit die Theorie. Bürokratie als funktionierende Verwaltung ist in einem Staatswesen somit sinnvoll und notwendig.
({0})
Bürokratismus dagegen belastet Bürgerinnen und
Bürger und vor allem Unternehmen. Jedem von uns, der
an die Steuererklärung denkt, treibt es die Schweißtropfen auf die Stirn. Für Unternehmen ist Bürokratie nicht
nur Aufwand, sondern bedeutet auch erhebliche Kosten.
Darüber hinaus bringen übermäßige Regelungen und
Vorschriften für deutsche Unternehmen Nachteile im internationalen Wettbewerb. Der Mittelstand, besonders
das Handwerk, kämpft mit der überbordenden Bürokratie. Die Betriebe wollen sich auf ihre produzierende Tätigkeit konzentrieren und sich nicht mit unproduktiven
Lasten herumschlagen.
Die knappen Personalressourcen müssen da eingesetzt werden, wo sie produktiv sind, nicht für unproduktive Bürokratie. Manchmal braucht man sogar Fachkräfte, um die Bürokratie zu bewältigen. Neben
Personalkosten entstehen auch Sachkosten, die nicht unerheblich sind. Zehntausende von Nachweis-, Dokumentations- oder Berichtspflichten müssen Unternehmen erfüllen. Bürokratismus bedroht die Rentabilität und
Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen und besonders von Handwerksbetrieben.
Auch wenn man bedenkt, dass der Aufwand für unnötige und überflüssige Bürokratie von 2006 bis jetzt um
ungefähr 10 Milliarden Euro abgebaut werden konnte,
sollten Sie das nicht schönreden. Es fehlen immer noch
einige Milliarden Euro, bis das 25-Prozent-Ziel dieser
Regierung erreicht ist. Die anfänglich beim Bürokratieabbau spürbare Dynamik hat zuletzt erkennbar nachgelassen. Typisch für diese Koalition: Sie ist kraft- und
saftlos. Ich will als ein Beispiel die E-Bilanz nennen.
Man geht in der Zwischenzeit davon aus, dass eine
Mehrbelastung von insgesamt 3,15 Milliarden Euro auf
den Mittelstand zukommt. Gut gemeint ist nicht gut gemacht.
({1})
Eine Onlineumfrage des Baden-Württembergischen
Handwerkstages von Anfang dieses Jahres hat im Übrigen ein interessantes Ergebnis hervorgebracht. Nur
27 Prozent der Handwerker, die sich an der Umfrage beteiligt haben, haben das Gefühl, dass sie tatsächlich entlastet werden.
Ich möchte auf ein aktuelles und besonders ärgerliches Exempel von grenzüberschreitendem Bürokratismus eingehen. Herr Burgbacher, ich schaue einmal in
Ihre Richtung. Sie kennen es; die Schweiz liegt nicht
weit von Ihrem Wahlkreis entfernt. In der Schweiz müssen deutsche Handwerker eine Kaution von 5 000 bis
10 000 Franken hinterlegen.
({2})
- Das hat die Schweiz entschieden, und die Bundesregierung wollte das - Herr Brüderle hat das versichert bilateral klären. Sie hat aber leider nichts zustande gebracht.
({3})
Viel versprochen, wenig realisiert.
({4})
Hier geht es den Handwerkern tatsächlich an den Kragen. Sie müssen nämlich zum einen eine Kaution hinterlegen - jetzt gibt es auch eine Bürgschaft; die muss man
natürlich bezahlen - und zum anderen bei einer Lohndifferenz von zum Beispiel nur 35 Franken, die vielleicht
anfällt, eine Strafe von 1 500 Franken bezahlen. Für
kleine und mittlere Handwerksunternehmen ist das eine
Katastrophe.
({5})
Sie feiern heute Ihre vermeintlichen Erfolge, gleichzeitig
wird an anderen Stellen ein Bürokratiemonster aufgebaut. Da hilft der Satz: „Wir lassen die Unternehmen atmen“ wenig. Nein, die Unternehmen brauchen Unterstützung und müssen wirklich entlastet werden.
({6})
Wir wollen keine Markteintrittsbarrieren, und wir
brauchen auch auf europäischer Ebene eine Entlastung.
Ein bloßes Bekenntnis, sich auch bei europäischen
Rechtsetzungsverfahren für ein geringes Maß an Bürokratie einzusetzen, ist zu wenig. Unternehmen wollen
sich auf eine einfache und qualitativ hochwertige Rechtsetzung verlassen können. Deshalb brauchen wir einen
europäischen Normenkontrollrat. Die Grundprinzipien
einer guten Gesetzgebung sind Transparenz, Verantwortlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Konsistenz und Zielerreichung. Mit der Zielerreichung hapert es bei Ihnen.
Würde sich nämlich die Bundesregierung an diese Prinzipien halten, würden nicht immer neue Bürokratien entstehen.
Die schwarz-gelbe Regierung muss nun endlich mit
dem Ernst machen, was sie hier ankündigt, um in den
verbliebenen zwei Jahren tatsächlich noch zu dem Ziel
zu kommen, das sie uns versprochen hat.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Andreas Lämmel für
die CDU/CSU-Fraktion.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der berühmte deutsche Raketentechniker Wernher
von Braun wurde einmal auf die Auswüchse der Bürokratie auf seiner Arbeitsstelle in der NASA angesprochen, und er sagte den folgenden Spruch: Wir können
die Schwerkraft mit unserer Technologie überwinden,
aber der Papierkram erdrückt uns.
Das ist das Gefühl, das auch sehr viele Unternehmer
und Bürger mit dem Thema Bürokratie verbinden. Bürokratie ist ein sehr emotional diskutiertes Thema, und in
den letzten Jahren - hierbei schaue ich in die Reihen der
Grünen; Frau Scheel hat sich vorhin so ereifert - und
insbesondere zu rot-grünen Zeiten eierte man beim
Thema Bürokratieabbau hin und her und brachte nichts
zustande. Die Grundlagen, die wir mit dem Nationalen
Normenkontrollrat gelegt haben, hatte man damals noch
nicht. Man konnte die Bürokratiekosten gar nicht richtig
beziffern. Deswegen muss man doch festhalten - und
das wird seitens der Opposition durchaus gewürdigt -,
dass wir beim Abbau der Bürokratie in Deutschland seit
2006 einen riesigen Sprung gemacht haben.
Den Bürokratieabbau an sich kann man durch Gesetz
befehlen, aber letztendlich muss ein Bewusstseinswandel eintreten. Jeder muss sich immer wieder klarmachen,
dass zusätzliche Bürokratie die Wirtschaft und die Bürger belastet. Deswegen muss jeder, der über Gesetzestexte oder Verordnungen nachdenkt, auch das Thema
Bürokratieabbau im Hinterkopf haben. Ein solcher Bewusstseinswechsel ist jedoch nicht innerhalb eines Jahres erreichbar, sondern ein mittel- und langfristiger Prozess.
Blicken wir doch einmal kurz zurück. Als wir 2006 in
der Großen Koalition mit dem Bürokratieabbau Ernst
machten, waren andere Länder schon weiter.
({0})
Zum Beispiel hatten die Holländer schon viele Erfahrungen mit dem Bürokratieabbau gesammelt, und auch in
Schweden und Großbritannien war man schon viel weiter. Aber jetzt, nach der Arbeit der letzten fünf Jahre, ist
Deutschland eindeutiger Spitzenreiter, und zwar erstens
hinsichtlich der theoretischen Grundlagen des Bürokratieabbaus und zweitens hinsichtlich dessen, was wir bisher wirklich geschafft haben. Das bescheinigt uns auch
der Nationale Normenkontrollrat in seinem fünften Jahresbericht, den er im September vorgelegt hat. Insofern
können Sie dies nicht einfach ignorieren.
10 Milliarden Euro an Bürokratiekosten sind der
deutschen Wirtschaft nachweisbar erspart worden. Es
sind zwar immer noch 40 Milliarden Euro, die auf der
Wirtschaft lasten, aber 10 Milliarden Euro Einsparungen
sind ein erstes Pfand, das wir in der Hand haben, um auf
diesem Wege weiterzugehen.
Die Europäische Union hat noch lange nicht den
Stand erreicht, den wir in Deutschland erreichen konnten. Wir haben mehrere Mittelstandsentlastungsgesetze
gemacht und damit die deutsche Wirtschaft entlastet.
({1})
Wenn man sich den Bericht anschaut, findet man sehr
interessante Zahlen: Trotz eines Abbaus von 10 Milliarden Euro an Bürokosten, sind 1 500 neue Informationspflichten über Gesetze eingeführt worden. Jetzt muss
man natürlich den Saldo berechnen; das ist ganz klar.
Der Nationale Normenkontrollrat beziffert die Entlastung auf 8,5 Milliarden Euro und die Mehrbelastung auf
1 Milliarde Euro. Somit kommt er zu ungefähr 7,5 Milliarden Euro an direkter Entlastung.
Man hat in den letzten fünf Jahren auch ziemliche
Ausschläge im Gesetzgebungsprozess erlebt. Wir haben
zum einen das Steuervereinfachungsgesetz 2011, das aus
Sicht des Nationalen Normenkontrollrats zu 4,05 Milliarden Euro Entlastung geführt hat. Zum anderen hat
beispielsweise das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz
eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro gebracht. Im
Gegenzug - und das ist hoch kritisch - hat das Gesetz
zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie eine einzige Branche mit Bürokratiekosten in Höhe von einer
halben Milliarde Euro belastet.
Man muss also immer genau hingucken, wenn man
über das Thema spricht: Was steht auf der positiven
Seite? Was steht auf der negativen Seite?
Auf der wirklich positiven Seite der letzten fünf Jahre
steht die Aussage des Nationalen Normenkontrollrats,
dass sich die Qualität der ausgearbeiteten Gesetzentwürfe deutlich verbessert hat. Meine Damen und Herren,
es ist doch schon ein Wert an sich, wenn sich die Rechtsetzung auch mithilfe der Arbeit des Nationalen Normenkontrollrats verbessert hat.
Natürlich gibt es noch Baustellen; das ist doch ganz
klar. Schließlich befinden wir uns mitten im Prozess.
Erstens. Ein Beispiel ist die Spürbarkeit des Abbaus.
Das ist ständig Thema, und wenn wir mit unseren ausländischen Freunden reden, sagen uns diese, dass es bei
ihnen nicht anders ist. Es ist nun einmal so: Wenn eine
Informationspflicht wegfällt, merkt das Unternehmen
dies nicht unbedingt. Denn das Unternehmen wartet
nicht darauf, dass das Statistikamt oder sonst irgendjemand einen Fragebogen schickt, den es auszufüllen hat,
um seiner Informationspflicht nachzukommen. Aber die
Spürbarkeit des Abbaus - das stellt der Nationale Normenkontrollrat ganz klar fest - muss noch verbessert
werden. Einige diesbezügliche Vorhaben stehen ja auch
in unserem Antrag. Wenn wir diese Vorhaben umsetzen,
dann wird auch die Spürbarkeit deutlich stärker werden.
Zweitens. Die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger
ist eine weitere Baustelle, die im Rahmen des Bürokratieabbaus jetzt auch in Angriff genommen werden muss.
Wir müssen hier für weitere Beschleunigung sorgen. Das
ist gar keine Frage. Aber die letzten 20 Prozent, wenn
man schon 80 Prozent der Themen abgeräumt hat - das
wissen auch Sie genau -, zu verwirklichen, stellt einen
wirklich großen Schritt dar.
Drittens. Wir müssen erfassen, wie der Stand der Erfüllung der Vorhaben ist.
Fassen wir einmal alles zusammen. Aus dem Bericht
des Nationalen Normenkontrollrates geht ganz klar hervor: Das System funktioniert. Die Rechtsetzung ist besser geworden. Der Bürokratieabbau ist im Fluss. Wir haben mit dem Normenkontrollrat ein hochmodernes
Instrument geschaffen, um das uns manche andere Parlamente und Regierungen beneiden.
Wir wollen deswegen auf diesem Wege weitergehen.
Ich bitte Sie ganz einfach, unseren vorliegenden Antrag
zu unterstützen.
Vielen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Johanna Voß für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der Koalition, einen schönen Titel haben Sie gewählt: „Weniger … Belastungen
für den Mittelstand“. Wunderbar!
({0})
Dafür sind wir auch; doch die Wirklichkeit sieht ganz
anders aus. Der Mittelstand und insbesondere Handwerkerinnen und Handwerker wollen, dass ihre Probleme
ernst genommen und sie tatsächlich entlastet werden.
Leider weigern Sie sich, die Probleme überhaupt zu sehen. Das ergibt sich ganz klar aus den Antworten auf die
Kleine Anfrage, die Kolleginnen und Kollegen von mir
und ich zu den Handwerkskammern gestellt haben.
Der Beweis: In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage schreiben Sie:
Die Bundesregierung sieht bei den Handwerkskammern keine Missstände.
Das kann doch wohl nicht wahr sein. Die Selbstverwaltung der Kammern ist ein hohes Gut. Das heißt aber
nicht, dass man keine Kritik üben darf. Ohne Kritik
keine Verbesserungen. Verbesserungsbedarf gibt es
zweifellos.
Ein Beispiel sind die Regelungen zu den Handwerkskammerbeiträgen: Hier herrscht ein richtiger Paragrafendschungel. Da steht: Nur Personen, die eine gewerbliche Tätigkeit nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 der
Handwerksordnung ausüben und unter § 90 Abs. 3 fallen, müssen gemäß § 113 Abs. 2 Satz 4 bis 5 200 Euro
Jahresgewinn keinen Beitrag zahlen, wenn laut § 90
Abs. 4 - folgen Sie mir noch? - die Tätigkeit erstmals
nach dem 31. Dezember 2003 angemeldet wurde. - Alles verstanden?
({1})
- Das ist es ja. - Ich mache es einmal einfach: De facto
sieht die Handwerksordnung nämlich keine Beitragsbefreiung vor, egal ob Betriebe kaum Gewinne oder gar
Verluste machen. Ganz paradox ist, dass häufig ein Betrieb, der keinen Gewinn macht, denselben Beitrag bezahlen muss wie ein Betrieb, der 20 000 Euro Jahresgewinn ausweist; denn der Grundbeitrag ist in vielen
Handwerkskammern einheitlich, während die Freigrenzen für Zusatzbeiträge meist zwischen 10 000 und
20 000 Euro liegen. Das ist ungerecht. Das geht an der
Wirklichkeit vorbei.
({2})
Wir brauchen gerechtere Beitragsordnungen, kleine und
Kleinstbetriebe müssen entlastet werden. Der Beitrag
muss an die Leistungsfähigkeit angepasst werden. Das
wäre das Minimum, was hier zu leisten wäre.
Ich komme zu einem zweiten Punkt: die Wahlordnung. Sie antworten auf unsere Anfrage:
Als Regelfall geht die … Wahlordnung aber von
der Zulassung von mehreren Wahlvorschlägen und
der Durchführung einer Briefwahl aus.
So weit, so gut. Seit 1953 - da trat die Handwerksordnung erstmals in Kraft - wird nun alle fünf Jahre in jeder
der 53 Handwerkskammern die Vollversammlung gewählt. Wissen Sie, wie oft tatsächlich mehrere Wahlvorschläge zugelassen wurden, das heißt, wie oft wirklich
eine Briefwahl stattgefunden hat? Ich kann es Ihnen sagen: im Ganzen dreimal.
({3})
Auch Sie könnten merken, dass die Handwerksordnung
in diesem Punkt den Praxistest nicht bestanden hat. Da
muss etwas geändert werden.
({4})
Wir wollen selbstverständlich Handwerkskammern,
die gut funktionieren, Kammern, die die Handwerkerinnen und Handwerker entlasten und nicht belasten. Dazu
braucht man Wahlen, bei denen jede und jeder eine
Chance hat, zu kandidieren. Bisher ist es nicht so. Bisher
müssen komplette Listen eingereicht werden, die noch
dazu einen bestimmten Proporz für die Gewerke und den
genauen Proporz für die Regionen einhalten müssen.
Das ist so aufwendig, dass nur die bestvernetzten Betriebe die Listenaufstellung überhaupt drucken können.
Die anderen bleiben außen vor. Sorgen Sie dafür, dass
sich hier etwas bessert!
Wie ernst die Lage für viele Handwerkerinnen und
Handwerker ist, zeigen zahlreiche Briefe, die meine
Fraktion bekommen hat. Zum Beispiel heißt es in einem
Newsletter von friseur-intern im September dieses Jahres: Im Gegensatz zu CDU/CSU und FDP, die sich stets
als Sprachrohr für das Handwerk sehen, greift die Linksfraktion den Unmut vieler Handwerksbetriebe auf.
({5})
Ich empfehle Ihnen: Öffnen Sie die Augen für diese
Probleme! Sie sind es doch, die in jeder Sonntagsrede
das Hohelied auf das Handwerk singen. Geben Sie Butter bei die Fische! Tun Sie etwas! Nicht die Bürokratie
insgesamt soll abgebaut werden, sondern der Bürokratismus. Wir brauchen eine Handwerksordnung. Wir brauchen eine Regelung für den Beitrag, aber bitte eine vernünftige und verständliche.
Ich danke Ihnen.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Lena Strothmann
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Voß, ich will
meine Redezeit nicht dafür verwenden, Ihnen zu antworten. Aber als Handwerkerin will ich Ihnen gerne einmal
in einer stillen Stunde erklären, wie wir Handwerker die
Vorzüge der Selbstverwaltung des Handwerks sehen.
({0})
Ein Handwerksbetrieb hat im Durchschnitt acht Mitarbeiter: den Meister, die Gesellen und die Auszubildenden. In der Regel übernimmt die Ehefrau die Buchführung, und eine Personal- und Rechtsabteilung gibt es in
unseren Betrieben nicht. Statistische Erhebungen, Meldepflichten und die vielen zusätzlichen Dinge werden
also von Mitarbeitern mit erledigt, die ansonsten Kostenvoranschläge bearbeiten oder Löhne berechnen. Jede zusätzliche Informations- und Dokumentationspflicht wird
als echte Belastung empfunden.
Nur um diese unnötigen Pflichten geht es bei dieser
Bürokratiedebatte. Viele Regelungen sind im Sinne der
sozialen Marktwirtschaft sogar notwendig. Nur geordnete Strukturen ermöglichen erfolgreiches unternehmerisches Denken und sozialen Zusammenhalt. Aber unnötige Bürokratie kostet Zeit und Geld.
Viele Rechtsgebiete sind durch ständige Veränderungen und politische Kompromisse unüberschaubar geworden. Unternehmer können Steuerrecht, Tarifrecht
und Hygieneverordnungen ohne externen Rat oft überhaupt nicht mehr überblicken.
Wir alle sind für Bürokratieabbau. Jeder beklagt sich.
Aber leider übersteigt oft - das ist meine Wahrnehmung die Angst vor Veränderung das Interesse an Erneuerung
in unserem Land. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit
zu leisten. Denn leider ist die öffentliche Wahrnehmung,
was die Abschaffung von Bürokratie angeht, sehr gering.
Es gibt viele Pflichten, die für die Unternehmen keinen
Mehrwert haben. Insgesamt übernehmen die deutschen
Unternehmen 651 Tätigkeiten, für deren Kosten sie allein aufkommen. Die Rahmenbedingungen für erfolgreiches Unternehmertum orientieren sich aber an Auftragslage, Fachkräften, Investitionen usw.
Die Wirtschaftslage in unserem Land ist im Augenblick gut, auch im Handwerk. Aber möglicherweise
kommen schwierige Zeiten auf uns zu. Deshalb ist die
Entlastung unserer Betriebe so wichtig, vor allem bei
den Dingen, die den Staat nichts kosten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten hier
aktiv auf zwei Ebenen: zum einen Abbau von Bürokratie
bei bestehenden Gesetzen und zum anderen die Vermeidung von Bürokratie bei neuen Gesetzen. Hier kommt
dem Nationalen Normenkontrollrat eine wichtige Aufgabe zu. Seine Einsetzung und die Behandlung des Themas auf höchster Ebene, nämlich direkt im Kanzleramt,
gehören meiner Meinung nach zu den Meilensteinen der
politischen Entscheidungen in den letzten Jahren.
({2})
Über das Abbauziel von 25 Prozent haben wir vor
fünf, sechs Jahren lange diskutiert. Uns war klar, dass
diese Marke sehr anspruchsvoll ist. In den vergangenen
Jahren haben wir viele Gesetze überprüft. Es gibt viele
Erfolgsnachrichten - einige sind hier schon genannt
worden -, auch für das Handwerk.
Ich will Ihnen Beispiele nennen. Im MEG III haben
wir damals die Grundlage für die Handwerkszählung geändert. Mindestens 460 000 der 1 Million Handwerksbetriebe haben davon profitiert. Das heißt, wir greifen nicht
mehr auf direkte Erhebungen in den Betrieben zurück,
sondern nutzen bereits vorliegende Verwaltungsdaten.
Die erste Handwerkszählung fand im Sommer statt, und
sie ist gut verlaufen.
Ein zweites Beispiel. Auch die Entfristung bei der Istbesteuerung ist ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Wir
haben dauerhaft und deutschlandweit die Umsatzgrenze
für die Istbesteuerung auf 500 000 Euro festgelegt. Das
schafft Rechtssicherheit für die Unternehmen und Finanzverwaltungen.
Die Forderungen in unserem Antrag umfassen auch
die Aufbewahrungsfristen. Aufbewahrt werden müssen
Handelsbücher, Inventarlisten, Jahresabschlüsse, Lageberichte, Zollanmeldungen usw. Das alles müssen Originale sein; sie müssen feuer- und wasserfest gelagert werden, und das bis zu zehn Jahren. Die zusätzliche
Lagerfläche ist mit Kosten verbunden. Die jährliche Anpassung ist aufwendig. Im Grundsatz muss alles jederzeit den Behörden zur Verfügung stehen. Hier sehen wir
großen Handlungsbedarf.
Auch die Befreiung der Kleinstunternehmer von der
Bilanzierung ist unser Anliegen und einer der Kernvorschläge auf EU-Ebene. Die EU will mit einem eigenen
Bürokratieabbauprogramm die Verwaltungskosten bis
2012 deutlich verringern. Auch hier ist das Ziel 25 ProLena Strothmann
zent; das entspricht 150 Milliarden Euro. Denn gerade
die Bedeutung der kleinen und mittleren Betriebe ist in
Europa angekommen. Think small first: Auch hier geht
der KMU-Test auf europäischer Ebene in die richtige
Richtung. Das betonen wir in unserem Antrag. Brüssel
wird immer noch als Quelle überbordender Bürokratie
wahrgenommen. Hier müssen wir sichtbarer vorankommen, um die Akzeptanz der EU in diesem Bereich zu
verbessern.
Aber auch die Wirtschaft selbst ist gefragt. Im Bereich der Normung funktioniert das bereits sehr gut.
Normen ermöglichen den Betrieben, sich schnell und
umfassend über Abläufe zu informieren. Der Austausch
von Waren und Dienstleistungen erfordert europaweit
einheitliche Vorschriften. Hier werden unzählige Einzelbestimmungen vermieden. Die Weiterentwicklung im
Bereich der Normung ist eine wichtige Zukunftsaufgabe.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir haben viel
zu tun, um Wirtschaft, Handwerk und Mittelstand von
Bürokratie zu entlasten. Dazu braucht es viel Überzeugungskraft und Mut zu Entscheidungen. Ich lade Sie ein,
daran mitzuwirken.
Herzlichen Dank.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst möchte ich einen Dank aussprechen, einen Dank an Staatsminister von Klaeden, aber
auch an Sie, Herr Brüderle, weil Sie als Bundeswirtschaftsminister dem Bürokratieabbau einen neuen Schub
gegeben haben. Sie beide zusammen haben die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir schon
heute positive Ergebnisse vorzeigen können.
({0})
Etwas anderes fällt Ihnen gar nicht ein. Sehen Sie, so
arm sind Sie an Geist.
Meine Damen und Herren, wenn Sie Mittelständler
fragen, was ihnen am meisten helfen würde, dann antworten 11 Prozent: Förderprogramme, 18 Prozent: Steuersenkungen, 20 Prozent: einfachere Kreditvergabe und
41 Prozent: Abbau von Bürokratie. - Das sagt doch alles. Die Bürokratie ist die Geißel des Mittelstandes, die
vom Staat auferlegt worden ist. Diese gilt es zurückzunehmen und so dem Problem Rechnung zu tragen.
({1})
Auf dem Sektor Bürokratie sind wir das, was wir bei
der Fußballweltmeisterschaft nicht geworden sind, nämlich Weltmeister.
({2})
Das kann nicht von der Hand gewiesen werden. In der
Bundesrepublik Deutschland gab es im Jahre 2005 6 588
Gesetze und Verordnungen. Hier haben wir angesetzt.
Heute gibt es „nur“ noch 5 991 Gesetze. Das ist immerhin ein Abbau von fast 600 Gesetzen.
({3})
Damit sind wir auf einem guten und vernünftigen
Weg, der sich durchaus sehen lassen kann. Das kann sich
vor allem deshalb sehen lassen, weil wir so dem Mittelstand weiterhelfen können, für den die Bürokratie eine
besondere Belastung ist. Ein Kleinunternehmen braucht
für die Bewältigung der Bürokratie pro Jahr durchschnittlich 60 Stunden pro Mitarbeiter, ein Großunternehmen hingegen nur 5,5 Stunden. Das muss man sich
vor Augen halten.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, ich darf daran erinnern, dass von Ihnen 1999 mit
der Initiative zum Abbau von Bürokratie viel heiße Luft
erzeugt wurde. Es kam aber wenig Konkretes dabei heraus. Sie sollten sich ein Beispiel daran nehmen, was wir
in den letzten beiden Jahren an Großartigem geleistet haben.
({4})
Wir geben dem Mittelstand endlich die Luft zum Atmen, die er braucht. Wir setzen den Rotstift an und streichen die Vorschriften, Regelungen, Ausführungsbestimmungen, Verordnungen, Gesetze und was es sonst noch
gibt, rigoros zusammen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen erwarten das dringend. Wir wollen die
Wachstumsfesseln durch Bürokratieabbau lösen. Die
unionsgeführte Bundesregierung hat den Bürokratieabbau beschleunigt und sich das Ziel gesetzt, bis Ende
2011 25 Prozent der Kosten für die Informationspflichten abzubauen.
Ein Blick zurück zeigt: Vor fünf Jahren mussten deutsche Unternehmen jährlich rund 50 Milliarden Euro für
amtliche Statistiken, Antragsformulare, Rechnungslegung etc. aufbringen. Inzwischen sind diese Kosten für
die Unternehmen bereits um 10,5 Milliarden Euro gesunken und sind damit 21 Prozent niedriger als im Jahr
2006. Das kann sich sehen lassen. Wir sind auf dem richtigen Weg. Diesen Weg müssen wir weiter gehen, und
das werden wir auch tun.
({5})
Zum ersten Mal ist es gelungen, die Belastungen der
Wirtschaft durch die Bürokratie nachzuweisen und zu
senken. Auch dieser Erfolg kann sich sehen lassen. Die
größte Entlastung ergibt sich aus der Vereinfachung der
elektronischen Rechnungsstellung. Die Herabsetzung der
Anforderungen an elektronisch übermittelte Rechnungen
und die Anerkennung von Rechnungen per E-Mail durch
das Finanzamt führen in der Wirtschaft bereits zu Entlastungen in Höhe von 4,1 Milliarden Euro im Jahr. Durch
die Änderung der Vergabeordnung sparen die Unternehmen künftig über 265 Millionen Euro jährlich. Herr
Fraktionsvorsitzender Kauder, darauf sind wir stolz. Das
haben wir auf den Weg gebracht.
({6})
Die bisher geforderten Nachweise zur Eignung der
Bieter - also Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit - können künftig in etwa 80 Prozent der betreffenden Ausschreibungen durch entsprechende Eigenerklärungen der Bieter ersetzt werden. Weitere Entlastungen
für Unternehmen sind im Steuervereinfachungsgesetz
2011 - im Umfang von 4,1 Milliarden Euro - sowie im
Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz - im Umfang von
2,5 Milliarden Euro - enthalten. Meine Damen und Herren, wir müssen das auch sagen und es nicht nur zur
Kenntnis nehmen. Denn es ist Fakt und es lässt sich Gott
sei Dank hier vermelden, dass wir das durch vernünftige
Politik, insbesondere was den Bürokratieabbau beim
Mittelstand anbelangt, erreicht haben.
Ich darf bei dieser Gelegenheit auch darauf verweisen, dass sich die EU auf dem richtigen Weg befindet.
Die Kommission mit Altministerpräsident Stoiber an der
Spitze - er war im Wirtschaftsausschuss und in verschiedenen anderen Ausschüssen - leistet hier hervorragende
Arbeit. So wurden bis Juli 2011 auf EU-Ebene mehrere
Maßnahmen verabschiedet. Dort wurden die Bürokratiekosten um 22 Prozent gesenkt; bis 2012 ist ein Abbau
um insgesamt 25 Prozent avisiert. Damit werden Unternehmen um circa 27 Milliarden Euro entlastet. Was die
Kommission ansonsten Positives bewirkt hat, steht in
meinem Redemanuskript; aber ich kann das nicht vortragen, weil es den zeitlichen Rahmen sprengen würde.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bürokratieabbau - das sollten wir alle uns voll zu Herzen nehmen ist ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Bürokratieabbau stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland, macht
ihn zukunftsfähig und muss mit Nachdruck fortgesetzt
werden. Die Vermeidung und der Abbau überflüssiger
Bürokratie sind insbesondere im Mittelstand von ähnlich
fundamentaler Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg wie Innovation, Fachkräfte, Unternehmensnachfolgen und -gründungen, Marktchancen im Ausland, Finanzierung, Rohstoffe sowie Energie- und Materialeffizienz.
Dem wollen wir Rechnung tragen.
Lassen Sie mich zum Abschluss dem Nationalen Normenkontrollrat ein großes Kompliment aussprechen:
Unter Leitung von Dr. Ludewig wurde hier Hervorragendes geleistet. Machen wir uns nichts vor: Wir werden
in dem Fall schon ein bisschen kontrolliert, denn jedes
Gesetz, das wir beschließen, muss zunächst die Zustimmung des Nationalen Normenkontrollrates erfahren;
sonst kann es nicht in Kraft treten.
Das sind vernünftige Ansätze; das ist der richtige
Weg. Wir gehen diesen Weg. Wir reden nicht nur, sondern handeln, weil die Bürokratie für den Mittelstand so
belastend ist.
Herr Kollege.
Wir werden dem auch in Zukunft Rechnung tragen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/7636 und 17/7610 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf
Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts
- Drucksache 17/773 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/7675 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({1})
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({2})
Memet Kilic
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Kai
Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Staatsangehörigkeitsrechts
- Drucksache 17/3411 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 17/7675 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({4})
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({5})
Memet Kilic
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan
Präsident Dr. Norbert Lammert
Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Ausgrenzung beenden - Einbürgerungen umfassend erleichtern
- Drucksachen 17/2351, 17/7675 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({7})
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({8})
Memet Kilic
Der Innenausschuss hat den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts auf der Drucksache 17/3411 in seine
Beschlussempfehlung einbezogen. Über diese Vorlage
soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Darf
ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist
der Fall.
Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Das heißt, wir werden die namentliche Abstimmung vermutlich irgendwann kurz vor
12 Uhr erwarten können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Ole Schröder das
Wort.
({9})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Man muss es deutlich sagen: Das, was SPD,
Grüne und Linke hier in ihren Gesetzentwürfen und im
Antrag vorschlagen, ist ein Paradigmenwechsel im
Staatsangehörigkeitsrecht.
({0})
Bisher ist es so, dass die Einbürgerung den Abschluss eines gelungenen Integrationsprozesses darstellt. Sie meinen offensichtlich, dass sich jemand allein dadurch integriert, dass Sie ihm die Staatsbürgerschaft geben.
({1})
Ihr Ziel ist eine erhebliche Absenkung der Einbürgerungsvoraussetzungen. So schlägt die SPD zum Beispiel
vor, die erforderlichen Aufenthaltszeiten auf nur noch
sieben Jahre zu verkürzen. Die Grünen wollen sogar nur
sechs Jahre.
Auf diese Frist sollen dann auch noch Zeiten angerechnet werden, in denen jemand lediglich geduldet
wurde, also keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel in
Deutschland hatte. Ebenso wollen Sie Zeiten im Asylverfahren berücksichtigen, selbst wenn das Asylverfahren am Ende erfolglos bleibt.
Die Grünen - das ist der eindeutigste Beweis dafür,
dass es Ihnen gar nicht mehr um Integration geht - wollen darüber hinaus den Einbürgerungstest abschaffen.
Auch den Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit geben Sie auf. Sie wollen die doppelte Staatsbürgerschaft sowohl beim Erwerb nach dem Geburtsortsprinzip als auch bei der Einbürgerung auf Dauer
hinnehmen.
Wir haben hierzu eine dezidiert andere Meinung. Für
uns ist die Einbürgerung Ausdruck gelungener Integration. Sie steht nicht am Anfang, sondern sie setzt bereits
eine Reihe von Integrationsleistungen voraus.
({2})
Hierzu gehören angemessene Aufenthaltszeiten, ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und ein Verständnis für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung.
Eine ganz wesentliche Voraussetzung für uns ist, dass
der Einbürgerungsbewerber und derjenige, der seine
Staatsangehörigkeit dadurch erwirbt, dass er in Deutschland geboren wurde,
({3})
seine frühere Staatsangehörigkeit aufgibt und sich ohne
Vorbehalte zu seinem neuen Staat bekennt, meine Damen und Herren.
Gerade in diesem letzten Punkt hatte es 1999 bei der
Einführung des Geburtsortsprinzips noch einen Kompromiss gegeben, der nun von Ihnen aufgekündigt wird.
Damals waren Sie bereit, mit der Entscheidung für die
Optionspflicht noch an der Vermeidung von Mehrstaatigkeit festzuhalten.
({4})
Nun sind die ersten Kinder aus der Übergangsregelung in das optionspflichtige Alter gekommen. Sie von
Rot und Grün wollen nun vom zweiten Teil des Kompromisses, nämlich dass sich jeder für eine Staatsangehörigkeit entscheiden muss, nichts mehr wissen.
({5})
Sie wollen die Regelung bereits abschaffen, obwohl
noch kein einziges Kind aus der Ius-soli-Regelung das
Ende der Optionsfrist erreicht hat.
({6})
Woher nehmen Sie eigentlich die Erkenntnis, dass das
damals von Ihnen beschlossene Optionsverfahren gescheitert ist?
({7})
Die Koalition hat in ihrer Koalitionsvereinbarung das
Thema ernst genommen. Wir haben uns darauf verstän16470
digt, die Erfahrung mit den ersten Optionsjahrgängen
auf möglichen Verbesserungsbedarf hin zu überprüfen.
Zugleich werden wir das Einbürgerungsrecht insgesamt
auf unverhältnismäßige Hemmnisse überprüfen.
({8})
Die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - das wissen Sie - führt derzeit eine
umfassende wissenschaftliche Untersuchung zur Optionsregelung und zum Einbürgerungsverhalten insgesamt durch.
({9})
Die Evaluierungsergebnisse werden in der ersten
Hälfte des nächsten Jahres vorliegen. Ich meine, dass wir
diese abwarten sollten. Denn eine sachliche Diskussion
ist nur möglich, wenn wir die Fakten kennen.
({10})
An dieser Stelle ist es mir wichtig, noch einmal die
Bedeutung der Vermeidung von Mehrstaatigkeit hervorzuheben. Sie ist letztlich der Ausdruck der Funktion von
Staatsangehörigkeit überhaupt, nämlich einen einheitlichen Staat zu bilden. Doppelte Staatsangehörigkeit kann
zu Loyalitätskonflikten führen.
({11})
Die Gefahr besteht immer dann, wenn der jeweils andere Staat versucht, die Betroffenen für seine politischen
Ziele zu instrumentalisieren. Ein anschauliches Beispiel
hierfür hatten wir beim Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan 2008 in der Kölnarena sowie jüngst
bei seinen Äußerungen anlässlich seines Besuchs in
Deutschland.
Hierbei gilt es, sich klar zu entscheiden und klar abzugrenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({12})
Mehrstaatigkeit kann zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen. Im Familien- und Erbrecht und im Bereich der konsularischen Betreuung
({13})
bestehen dann konkurrierende Regelungen, die sich
überlagern, und Ansprüche, die nicht klar sind. Mit der
Aufgabe der früheren Staatsangehörigkeit verlangen wir
nichts Unzumutbares. Sie bedeutet in keiner Weise den
Abbruch der sozialen und kulturellen Bindung zum früheren Heimatland. Die Staatsangehörigkeit soll demjenigen, der dauerhaft in einem Land lebt, die Teilnahme an
der Willensbildung und die Mitwirkung an der Ausübung der Staatsgewalt ermöglichen.
Liegt der Lebensmittelpunkt in einem neuen Land, so
verlieren die staatsbürgerlichen Rechte im alten Heimatland natürlich an Gewicht. Bundespräsident Wulff hat in
seiner Rede anlässlich der Einbürgerungsfeier im
Schloss Bellevue im September 2011 festgestellt, dass
die Einbürgerung für die Einwanderer nicht die Abkehr
von ihrer Familiengeschichte und Herkunft bedeutet.
Vielmehr legen sie ein Bekenntnis zu ihrer Zukunft in
Deutschland ab.
Es stellt sich die Frage, ob die Fixierung der Opposition auf den Aspekt der doppelten Staatsangehörigkeit
weniger der Sache als vielmehr der politischen Zuspitzung dient. Der Komplexität der einbürgerungsrechtlichen Problematik wird sie in keinem Fall gerecht; denn
sie vernachlässigt weitere wichtige Aspekte, die sich auf
das Einbürgerungsverhalten auswirken.
Betrachtet man die Zahlen, die belegen, wie sich die
Einbürgerung in den letzten Jahren entwickelt hat, dann
stellt man von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedliche Entwicklungen fest. Während in Hamburg
die Zahl der Einbürgerungen um über 40 Prozent gestiegen ist, ist sie in Berlin unter Rot-Rot um über 12 Prozent gesunken.
({14})
Bereits 2009 war die Zahl in Berlin entgegen dem Bundestrend um 8,1 Prozent zurückgegangen.
An Maßnahmen der Bundesregierung kann das wirklich nicht gelegen haben. Selbstverständlich liegt es an
Maßnahmen, die in dem jeweiligen Bundesland getroffen wurden. Es liegt daran, dass Hamburg erhebliche
Anstrengungen unternommen hat: In den Einbürgerungsbehörden ist Personal eingestellt worden, man hat
Werbung für die Einbürgerung gemacht, in einigen Bereichen wurden Informationsoffensiven gestartet. Das
zeigt: Einbürgerung wird nicht allein durch die gesetzlichen Regelungen, sondern ganz wesentlich durch die
konkrete Umsetzung und Handhabung in den jeweiligen
Verwaltungen beeinflusst. Informationen und Werbung
für die deutsche Staatsangehörigkeit bringen insofern
mehr für die Einbürgerung als wohlfeile politische Forderungen. Im Interesse der bei uns lebenden Ausländer
sollten Sie für die Einbürgerung in Deutschland werben.
Rühren Sie nicht immer nur die große Trommel der doppelten Staatsangehörigkeit.
Lassen Sie uns die Ergebnisse der Evaluierung abwarten.
({15})
Dann können wir auf gesicherter Grundlage darüber
sprechen, wo es Hemmnisse gibt und was der Grund dafür ist, dass sich viele eben nicht einbürgern lassen wollen. Interessanterweise ist es so, dass sich gerade aus der
Gruppe, für die wir eine doppelte Staatsangehörigkeit
zulassen, nämlich für diejenigen, die aus EU-Mitgliedstaaten kommen, besonders wenig Menschen einbürgern
lassen. Da stellt sich die Frage, woran das liegt.
({16})
Es hängt damit zusammen, dass der Rechtsrahmen mehr
oder weniger der gleiche ist, unabhängig davon, ob sie
sich in Deutschland lediglich aufhalten oder ob sie deutsche Staatsbürger sind. Das sollten wir berücksichtigen.
Wir glauben, dass es richtig ist, weiterhin daran festzuhalten, dass die Staatsangehörigkeit nur eine einzige
sein kann. Das hat mit Loyalität zu tun. Das ist Ausdruck
von gelungener Integration. Ich frage mich, warum Sie
daran nicht festhalten wollen. Ist es nicht vielleicht Ausdruck dessen, dass es Ihnen nicht um Integration geht, da
Sie es zulassen wollen, dass hier Menschen leben, die
sich überhaupt nicht um Integration bemühen? Das sollten Sie eindeutig zum Ausdruck bringen und nicht über
den Umweg des Staatsangehörigkeitsrechts.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Özoğuz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Staatssekretär, man könnte Ihnen mit einem Satz antworten: Wir halten die Optionspflicht
schlicht für falsch und unzeitgemäß, und wir wollen das
ändern. Ich werde das jetzt aber natürlich noch ein bisschen ausführen.
({0})
Wir Sozialdemokraten haben es gemeinsam mit den
Grünen 1999 geschafft, das Staatsangehörigkeitsrecht
von 1913 weitgehend den Realitäten unseres Landes anzupassen. Über einen unzureichend gelösten Punkt sprechen wir heute. Man sollte auch erwähnen: Es ist uns
2005 gemeinsam mit der Union gelungen - die Zustimmung der Grünen war gegeben -, endlich ein Zuwanderungsrecht zu verabschieden, in dem unter anderem die
Integrations- und Sprachkurse eine ganz wesentliche
Rolle spielen. Die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs war nicht leicht. Manch einer wird sich vielleicht
an das Schauspiel im Bundesrat erinnern. Es ist trotzdem
gelungen. Das Interessante ist: Es gibt kaum eine Partei,
die sich dafür bei allen Gelegenheiten so sehr selbst feiert, wie die damals so zögerliche Union. Meine Damen
und Herren von der Union, wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten geben Ihnen mit unserem Gesetzentwurf heute erneut die Gelegenheit, als letzte Fraktion
hier im Hause die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich
in den nächsten Jahren für die Abschaffung des Optionsmodells und für das Bekenntnis zu einer modernen und
gleichzeitig solidarischen Gesellschaft mit uns allen gemeinsam feiern zu lassen.
({1})
Es ist damals gelungen, Sie davon zu überzeugen,
dass es absurd ist, Kinder der zweiten, dritten oder vierten Generation immer weiter als Ausländer in Deutschland zu betrachten, obwohl sie hier geboren und sozialisiert wurden. Es ist auch gelungen, dafür zu sorgen, dass
Kindern mit einem ausländischen Elternteil, die in
Deutschland geboren werden, unter bestimmten Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit per Geburt
verliehen wird. Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, wann
für Sie der Integrationsprozess beginnt. Nach Ihren
Maßstäben muss er bereits im Mutterbauch beginnen.
({2})
Leider war damals nur die Optionspflicht, also der
Zwang, sich zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr
für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, als Kompromiss möglich. Mit unserem Gesetzentwurf wollen
wir dieses Optionsmodell, also den Zwang zur Aufgabe
einer Staatsbürgerschaft, abschaffen. Wir wollen ein
konsequentes Bekenntnis zur doppelten Staatsbürgerschaft hier geborener Kinder ausländischer Eltern. Auch
bei Einbürgerung soll die doppelte Staatsangehörigkeit
möglich sein. In diesem Zusammenhang - Sie haben es
zu Recht erwähnt - fordern wir in unserem Gesetzentwurf auch eine moderate Absenkung der Voraufenthaltszeiten.
Es gibt ja Hoffnung auf Einsicht, auch bei Ihnen. In
der vergangenen Sitzungswoche haben wir hier eine sehr
sachliche und angenehme Debatte über das Thema
„50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“ geführt.
Sie selbst haben von der teils mangelnden Attraktivität
Deutschlands für hier geborene, gut ausgebildete Menschen gesprochen. Sie haben auch davon gesprochen,
dass viele von ihnen unser Land verlassen, dass wir sehenden Auges auf einen Fachkräftemangel zusteuern
und dass wir das alles billigend in Kauf nehmen.
Ihre Pressemitteilung, Herr Wolff - das muss an dieser Stelle erwähnt werden -, in der steht, wir würden das
Abstammungsrecht abschaffen wollen, muss Ihrer Verzweiflung geschuldet sein, dass Sie gar nicht wissen, wie
Sie sich dazu verhalten wollen.
({3})
Ich kann das nicht nachvollziehen. Niemand möchte das
Abstammungsrecht abschaffen. Ein Kind deutscher Eltern, ob es an der Elfenbeinküste oder sonst wo geboren
wird, wird weiterhin Deutscher sein.
({4})
Das müssten Sie uns wirklich einmal genauer erläutern.
({5})
Wir wollen ein integrationspolitisches Signal setzen.
Die Betroffenen werden als Deutsche mit Rechten und
Pflichten, einschließlich des Wahlrechts, in die Gesellschaft aufgenommen, aber eben ohne dass ihnen abverlangt wird, dass sie die für sie so wichtige und symbolträchtige alte Staatsbürgerschaft aufgeben, was meist
sehr belastend ist. Weil der Optionszwang einfach nicht
in unsere Zeit und zu den realen Lebensumständen der
Menschen passt, haben von SPD und Grünen geführte
Länder im Bundesrat am 23. September dieses Jahres einen Gesetzesantrag zur Aufhebung des Optionszwangs
eingebracht. Interessant ist, dass Innenminister
Schünemann von der CDU im Bundesrat zu Protokoll
gab, dass der Optionsregelung vorgeworfen werde, sie
sei ein bürokratisches „Verwaltungsmonstrum“, und er
dem zustimme. Recht hat er.
Das Optionsmodell wirft tatsächlich integrationspolitische und verwaltungspraktische Probleme auf. Integrationspolitisch entbehrt es jeglicher Logik; das habe ich
schon ausgeführt. Ich verstehe nicht, warum wir junge
Menschen, die in Deutschland geboren, aufgewachsen
und hier zur Schule gegangen sind, die hier verwurzelt
sind und bis zur Volljährigkeit mit zwei Staatsangehörigkeiten gelebt haben, nun plötzlich zwingen wollen, sich
für eine zu entscheiden.
Verwaltungspraktisch ist es noch interessanter. Es besteht schon heute Handlungsbedarf, nicht erst in einigen
Jahren. Es gibt schon heute die seit 2008 optionspflichtigen Jugendlichen nach § 40 b Staatsangehörigkeitsgesetz. Bisher haben gut 15 000 Jugendliche - in diesem
Jahr sind es rund 4 160 - Post von der Behörde bekommen. Im 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration heißt es zu diesem Bürokratiemonstrum Optionsmodell treffend:
Der Aufwand für die Durchführung eines Optionsverfahrens bei den Staatsangehörigkeitsbehörden
ist nach den bisherigen Erfahrungen in der Praxis
mindestens so groß wie der Aufwand für ein vollständiges Einbürgerungsverfahren. … Schon bei
der heutigen Situation mit Fallzahlen von etwa
3.000 bis 4.000 Optionskindern pro Jahr bundesweit wurde von größeren ({6})
Schwierigkeiten bei der Umsetzung berichtet. Verbunden wurden diese oft mit den Befürchtungen für
die Zeit ab 2018, wenn jährlich rund 40.000 Jugendliche bundesweit optionspflichtig werden.
Nun schreibt Professor Thränhardt von der Universität Münster in seinem Gutachten für das Land Nordrhein-Westfalen: Geschieht nichts, so würde die Optionsregelung die Einbürgerungsbehörden lahmlegen,
falls nicht in großem Ausmaß neues Personal eingestellt
würde. Mit diesem Aufwand werden die Länder bzw. die
Kommunen belastet. - Das wollen Sie zulassen. Das ist
ein bürokratischer Wahnsinn, auf den unser Land zusteuert, und Sie wissen das.
({7})
Sie haben doch gerade in der vorangegangenen Debatte
über Bürokratieabbau gesprochen. Herr Hinsken hat
eben noch hier am Pult gestanden und gesagt: Bürokratieabbau stärkt den Standort Deutschland. - Ja, dann machen Sie das auch, und verabschieden Sie sich endlich
von dieser Optionspflicht.
({8})
Die zentralen Argumente gegen die Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeiten sind längst überholt, so wie
etwa - dieses Argument haben wir eben wieder gehört der Verweis auf Loyalitätskonflikte. Staatssekretär Ole
Schröder war sich noch in der Debatte am 28. Oktober
letzten Jahres nicht zu schade, zu argumentieren, dass
das im Zusammenhang mit der Wehrpflicht ein Problem
sein könnte.
({9})
Dass Sie so etwas gesagt haben, während gleichzeitig
nebenan im Verteidigungsministerium darüber nachgedacht wurde, wie die Wehrpflicht abgeschafft werden
kann, das ist nun wirklich bezeichnend für die Rückständigkeit dieser Bundesregierung in Sachen Staatsbürgerrecht.
({10})
Eines muss ich Herrn Kollegen Hartfrid Wolff noch
mitgeben. Er hat damals an die Grünen die Aussage gerichtet, sie würden „die deutsche Staatsangehörigkeit auf
dem Multikultibasar verramschen“.
({11})
Ich gebe Ihnen eine kleine Denkhilfe aus Ihrem eigenen
Parteiprogramm:
Die Integration kann jedoch auch durch doppelte
Staatsbürgerschaft gefördert werden, wie die vielen
Fälle von gut integrierten Mitbürgern mit Doppelstaatsbürgerschaft zeigen.
({12})
Also, wenn eine Partei ihre Programmatik komplett auf
dem Koalitionsbasar verramscht hat, dann, würde ich sagen, ist es die FDP.
({13})
Ein letzter Punkt. Die Realität hat Sie im Grunde
längst eingeholt. Die vielen Abweichungen vom Prinzip
„Eine Person - ein Pass“, die es heute schon gibt, führen
dazu, dass laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2010
bei 53 Prozent der Einbürgerungen Mehrstaatigkeit hingenommen wurde. Staatssekretär Schröder sprach von
einer Minderheit; da sollten Sie sich noch einmal
schlaumachen. Viel deutlicher kann eine statistische Entwicklung nicht ausfallen.
Ich hoffe, dass Sie den warmen Worten, die Sie in der
letzten Debatte von diesem Pult aus gesagt haben, Taten
folgen lassen. Es geht an der Lebensrealität der jungen
Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz
Menschen bei uns in Deutschland vollkommen vorbei,
sie vor eine derart absurde Wahl zu stellen. Stimmen Sie
mit uns heute für unseren Gesetzentwurf, und lassen Sie
sich dann in den nächsten Jahren mit dafür feiern.
Danke.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Hartfrid Wolff für
die FDP-Fraktion.
({0})
Die SPD fordert wieder einmal die Abschaffung des
Optionsmodells, das sie selbst vor zehn Jahren eingeführt hat. Es ist schon spannend, zu hören, wie Sie die
Bürokratie geißeln, Frau Kollegin.
({0})
Hätten Sie das mal früher gedacht!
({1})
Das ist bei der SPD aber nichts Neues. Erst schaffen Sie
Bürokratie, und an anderer Stelle geißeln Sie sie. Das ist
keine stringente Linie der SPD.
({2})
Vor zehn Tagen wurden wir von der SPD überrascht.
Es hieß, es gebe neue Forderungen für die Hinnahme
von Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Heute beraten wir
einen Gesetzentwurf der SPD vom Februar 2010. Es entsteht der Eindruck: Dieser Opposition fällt nichts wirklich Neues ein. Ich muss ganz ehrlich sagen: Eine so
schwache Opposition haben wir als Regierung nicht verdient.
({3})
Da nützt es auch nichts, dass der Fraktionsvorsitzende
nachher kurz vor dem SPD-Parteitag selbst das Wort ergreift. Sie sollten sich einmal neue Gedanken machen
und nicht immer wieder Ihre alten Ideen aufwärmen.
({4})
Dass sich die SPD von den Ergebnissen ihrer eigenen
Regierungszeit distanziert, haben wir schon ein paar Mal
erlebt.
({5})
Inzwischen erleben wir aber immer häufiger, dass die
deutsche Sozialdemokratie sogar ihren Kompass verliert.
({6})
Sachlich bleibt ohnehin klar: Die Abschaffung des
Optionsmodells zu fordern, ist aus meiner Sicht völlig
absurd; hier hat der Staatssekretär recht. Die Initiative ist
bei weitem nicht die erste. Alle Oppositionsparteien haben das schon gefordert, auch im Bundesrat. Auch da
gibt es also nicht Neues. Angesichts der Konkurrenz im
linken Lager - von Piraten, Grünen und Linken - wirkt
dieser Versuch der SPD, ein Thema zu besetzen, eher
hilflos, wie eine Art Überbietungswettbewerb.
Wir Liberale haben das Optionsmodell seinerzeit vorgeschlagen, um den Weg zu einer Öffnung des deutschen
Staatsangehörigkeitsrechts in Richtung auf das Jus Soli
zu ermöglichen. Es macht nach wie vor keinen Sinn, ein
Gesetz zu ändern, für dessen Wirkung es praktisch noch
keine verwertbaren Daten gibt.
({7})
Es ist einfach sinnvoll, erst einmal Erfahrungsberichte
abzuwarten - bleiben Sie ein bisschen seriös, Kollegin -,
({8})
um beurteilen zu können, wie sich diese Regelung tatsächlich auswirkt,
({9})
und danach die rechtlichen Anpassungsmöglichkeiten zu
prüfen. So ist es auch im Koalitionsvertrag vorgesehen.
Alles andere ist wohlfeiler sozialdemokratischer Aktionismus, der kein Problem löst, sondern - im Gegenteil eher neue Probleme schaffen könnte.
Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen
ist es nach Auffassung von Rot-Rot-Grün unzumutbar,
sich bei Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Linke Parteien tun sich mit der
Wahlfreiheit, der Kompetenz des Individuums, sich entscheiden zu dürfen, ja generell etwas schwerer.
Anders als Kinder deutscher Eltern sollen die Betreffenden durch Mehrfachstaatsangehörigkeit privilegiert
werden. Ausdrücklich besagt der SPD-Gesetzentwurf,
({10})
es solle fürderhin ein konsequentes Bekenntnis zur doppelten oder mehrfachen Staatsbürgerschaft geben. Vielleicht hofft die SPD auf Unterstützung durch den Wahlkämpfer Erdogan, der die Erhaltung des Türkentums in
Deutschland beschwört.
({11})
Meine Damen und Herren, die SPD frohlockte einst
über die Abschaffung des Abstammungsprinzips bei der
Staatsangehörigkeit.
({12})
Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz
Hartfrid Wolff ({13})
- Hören Sie mir zu; denn Sie haben mich vorhin
gefragt. - Sie wollten das Abstammungsprinzip abschaffen.
({14})
Aber für Migranten wollen Sie es jetzt beibehalten.
({15})
Wer die doppelte Staatsangehörigkeit fordert, stoppt die
Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts.
({16})
Galt Linken, Grünen und SPD das Abstammungsrecht bei deutschen Aussiedlern noch als reaktionäres
Rechtsprinzip,
({17})
ist es für die doppelte Staatsangehörigkeit, etwa für Araber, plötzlich wieder erwünscht.
({18})
Es ist in der Tat absurd, in dem Land, in man geboren ist
und dauerhaft leben will, Ausländer zu sein. Allerdings:
Niemand in diesem Haus will Menschen, die sich eindeutig für Deutschland entscheiden, die die deutsche
Sprache beherrschen und sich auf unsere Grundwerte
verpflichten, daran hindern, deutsche Staatsangehörige
zu werden.
({19})
Nicht die Optionsmöglichkeit, sondern die desintegrative Haltung von bestimmten Verbänden, die eine Art
von Herkunftsnationalismus beschwören, geht an der
Lebenswirklichkeit der betreffenden Menschen vorbei.
Dass sich die Oppositionsparteien vor diesen reaktionären Karren spannen lassen, ist aus meiner Sicht ein Armutszeugnis.
({20})
Fortschrittlich wäre es dagegen, das Jus Soli weiterzuentwickeln.
Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur gelingen, wenn man sich mit den gleichen Rechten und
Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche
Gesellschaft integriert.
({21})
Mit einer doppelten Staatsangehörigkeit wird die Integration erschwert, wenn Migranten mit Doppelstaatsangehörigkeit dem Irrtum verfallen, man könne gleichzeitig zwei Staaten angehören. Durch Migrantenschicksale
zeigt sich oft, dass genau dies eben nicht möglich ist.
Wer weder ganz hier noch ganz dort bleiben will, ist nirgendwo als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert ganz unabhängig vom formalrechtlichen Status.
({22})
- Herr Kollege, unabhängig davon.
Rot-Rot-Grün tut so, als ob Migration allein eine geografische Standortveränderung wäre, und damit basta.
Das ist gefährlicher Unfug. Jeder, der sich mit Migranten
auseinandergesetzt hat, weiß, dass Zuwanderung nicht
einfach durch eine Änderung des Territoriums, sondern
durch den Umzug in ein Land mit anderen Menschen,
anderer Tradition, Sprache und Kultur erfolgt. Wer das
verschweigt oder kleinreden will und das Ganze allein
geografisch sieht, der zerstört die Zukunftschancen gerade der Migranten hier in Deutschland.
({23})
Mit einer Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, wird die Akzeptanz von Migranten keinesfalls gestärkt.
({24})
Wer die Zukunft einer deutschen Nation erstrebt, in der
nicht Hautfarbe oder Abstammung, sondern allein der
Wille und die freiwillige Verpflichtung, dazuzugehören,
entscheidend für die Zugehörigkeit sind, der muss verhindern, dass Abstammungsfragen in Deutschland wieder salonfähig werden, wie das durch das Instrument der
mehrfachen Staatsangehörigkeit geschieht.
({25})
Die Koalition aus Union und FDP hat beeindruckende
Weichenstellungen in der Abkehr von rot-rot-grüner
Multikultiideologie vorgenommen.
({26})
Die FDP wird die freie Entscheidung der Individuen
und die Integrationsleistungen jedes Einzelnen weiterhin
höher schätzen als die Beschwörung von Herkunft und
ethnischen Milieus.
({27})
So gestalten wir den überfälligen Neuanfang in der Integrationspolitik auf dem Weg zu einer Kultur des Willkommens auf der Basis von Gleichberechtigung, gegenseitiger staatsbürgerlicher Loyalität und fairem Miteinander.
Vielen Dank.
({28})
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Linke will Ausgrenzung beenden und Einbürgerungen umfassend erleichtern.
({0})
Wir sagen den Menschen, die hier leben und bleiben
wollen: Willkommen, ihr gehört zu uns.
Immer weniger Menschen werden in Deutschland
eingebürgert. Warum ist das so, und warum ist die Situation zum Beispiel in Schweden, Portugal oder Polen
ganz anders?
In europäischen Ländern mit einer hohen Einbürgerungsquote ist es folgendermaßen: Einbürgerungen sind
auch dann möglich, wenn die Menschen weniger als fünf
Jahre in diesem Land leben, ein eigenständiges Einkommen muss nicht nachgewiesen werden, in diesen Ländern ist Mehrstaatigkeit generell erlaubt, und auf Einbürgerungstests wird verzichtet. Das ist eine sehr
vernünftige Regelung.
({1})
Herr Kollege Schröder, Sie haben gesagt: Wir wissen
noch gar nichts. - Das stimmt nicht. Das Gesetz ist nun
zwölf Jahre alt, die Analysen liegen auf dem Tisch. Im
Jahr 1999 haben SPD, Grüne und FDP ein Gesetz beschlossen, das sich in einem ganz wesentlichen Punkt
zum Einbürgerungsverhinderungsgesetz entwickelt hat.
Das muss heute dringend korrigiert werden.
({2})
Ich finde, wir müssen uns jetzt für die Menschen entscheiden, die seit Jahren in unserem Land leben. SPD
und Grüne haben sich mit ihren Gesetzentwürfen ebenso
wie die Linke mit ihrem Antrag eindeutig für die Einbürgerung von Menschen entschieden, die gern in unserem
Land leben und den Wunsch haben, an der Gestaltung
der Gesellschaft demokratisch mitzuwirken. Ich bin der
festen Überzeugung: Das kann für uns alle nur gut sein!
({3})
Wenn CDU/CSU und FDP die Vorlagen ablehnen,
dann schaffen sie in unserem Land neue Mauern zwischen den Menschen,
({4})
verhindern die demokratische Teilhabe von Millionen
von Menschen und befördern Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land. Das ist verantwortungslos.
({5})
Der europäische Vergleich zeigt doch, dass es anders
geht. Die Bundesregierung muss einfach nur über den eigenen Tellerrand schauen. Wir können von unseren europäischen Partnern wirklich viel lernen. Aber im Augenblick vermittelt die Bundesregierung den Eindruck,
dass alle anderen EU-Länder „deutscher“ werden müssen. Wer wirklich ein gemeinsames Europa will, der
wählt damit einen sehr schlechten Ansatz, einen Ansatz,
der scheitern muss.
({6})
Ich sage Ihnen: Wir können von Schweden, von Portugal
und von Polen lernen.
Wir haben versucht, mit unserem Antrag die europäischen Erfahrungen aufzunehmen, und gehen damit weiter als SPD und Grüne. Beide Fraktionen haben unseren
Anträgen leider nicht zugestimmt. Das finden wir
schade. Aber trotzdem werden wir den Gesetzentwürfen
von SPD und Grünen zustimmen. Ich hoffe, wir fördern
damit die Bereitschaft dieser beiden Fraktionen, in der
Frage der Einbürgerung noch europäischer zu denken.
Ich glaube, das ist nötig.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich
möchte mich jetzt besonders an Sie wenden und etwas
von Kollegen aus Ihrer Partei anführen. Ich zitiere mit
Erlaubnis des Präsidenten:
Der Umstand, dass … eine ganze Generation junger
Türken gezwungen ist, sich zu entscheiden zwischen dem Land ihrer Eltern und dem Land ihrer
Lebenswirklichkeit, muss endlich beendet werden.
An anderer Stelle heißt es:
Entscheidend ist, wo Menschen ihren Lebensmittelpunkt haben. Pässe sollten zweitrangig sein.
Dieses Zitat stammt aus einem Papier der FDP-Fraktion
im Niedersächsischen Landtag. Offensichtlich sind Ihre
Kollegen in Niedersachsen schon weiter als Sie hier in
Berlin. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Orientieren Sie
sich in dieser Frage an Ihren Kollegen aus Niedersachsen!
({8})
Die Bundesregierung spricht gerne über Integration,
baut aber immer höhere Mauern gegen die Integration
auf. Ich sage Ihnen: Wir brauchen in Deutschland bei der
Einbürgerung endlich europäische Normalität und nicht
deutsche Sonderwege. Wenn wir Menschen in unserem
Land willkommen heißen, dann ist das für uns alle besser.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
die Reden von Herrn Staatssekretär Schröder und von
Herrn Wolff hört, dann kann das schon zu Irritationen
führen. Bei Herrn Schröder denke ich: Immer wenn von
der Regierungsbank Daten des Statistischen Bundesamtes vorzulesen sind, wird Herr Schröder geschickt. Das
kommt mir so vor, als wäre heute der nationale Vorlesetag. Das ist er aber gar nicht, Herr Schröder.
({0})
Bei Herrn Wolff denke ich: Jetzt gibt es gleich einen
Vortrag über die Mendel’sche Abstammungslehre. Aber
auch das ist nicht das Thema.
({1})
Ein Thema ist hier und heute, dass wir 50 Jahre nach
dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen überlegen
müssen: Wo sind wir angekommen?
({2})
Es reicht an dieser Stelle nicht, zu feiern und sich Filme
anzuschauen, in denen gezeigt wird, woher die damaligen sogenannten Gastarbeiter kommen. Vielmehr geht
es auch darum, zu reflektieren: Was ist in den 50 Jahren
passiert? Max Frisch hat gesagt: Es wurden Arbeitskräfte eingeladen, aber es sind Menschen gekommen. Wie gehen wir denn mit diesen Menschen um? Ihre Kriterien sind für die Frage des Umgangs miteinander definitiv unbrauchbar.
({3})
Schauen Sie sich einmal Folgendes an: Heute leben
fast 8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in
Deutschland, die mehr als 8 Jahre hier sind. Der Punkt
ist: Sie erfüllen die wichtigsten Einbürgerungsvoraussetzungen. In anderen europäischen Ländern - das zeigt der
Vergleich - wären sie alle schon eingebürgert. Was ist
bei uns passiert? Bei uns werden die Kinder der Einwanderer zu Auswanderern. Wir sind ein Auswandererland,
weil gut gebildete Migranten, zum Beispiel junge Türkinnen und Türken, in Brüssel oder Istanbul ihre berufliche Karriere besser weiterverfolgen können.
Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können es nicht. Es geht
nicht um die Gnade der Einbürgerung, sondern es geht,
wie in der Europapolitik und in der Außenpolitik, auch
knallhart um deutsche Interessen, und die werden nicht
von der schwarz-gelben Koalition vertreten.
({4})
Es ist doch fatal: Wir erleben einen Fachkräftemangel, und Ihnen fällt dazu nichts anderes ein, als die Verdienstgrenze beim Zuzug von Fachkräften auf 48 000
Euro zu reduzieren. Dabei kriegen Leute mit Hochschulabschluss keinen Job, mit dem sie 48 000 Euro verdienen. Also kommen sie auch nicht.
In der Frage der Auswanderung von jungen Menschen, die schon lange hier leben, bieten Sie ihnen nichts
als einen Optionszwang, statt zu sagen: Ja, wir wollen,
dass sie hier bleiben. - Es ist unter dem Niveau dieses
Hauses, dass der gelernte Rechtsanwalt Herr Schröder
uns im Rahmen seines persönlichen Vorlesetages erzählt,
es gebe Interessenkonflikte. Herr Schröder, mit zwei juristischen Staatsexamen
({5})
können Sie hier nicht sagen, es gäbe später konsularische Konflikte bei der Erbschaft. Unter uns Anwältinnen
und Anwälten: So etwas lässt sich doch lösen, nicht
wahr?
({6})
Sie können mir auch nicht erzählen, dass es bei der
Verteidigung des Landes Komplikationen gäbe. Wie soll
es denn bei jemandem, der zum Beispiel die deutsche
und die türkische Staatsangehörigkeit hat, Komplikationen bei der Verteidigung des Landes oder bei Auslandseinsätzen geben, wenn es um zwei NATO-Länder geht?
Dann müssten Sie an der Stelle sagen, dass auch
McAllister einen Interessenskonflikt hat. Aber er kann
britisch und deutsch und Ministerpräsident sein.
({7})
Genau das wollen wir für die jungen türkischen Menschen, die hier aufgewachsen sind: dass auch sie einmal
Ministerpräsidentin oder Ministerpräsident werden können.
Es geht nicht darum, dass diese Personen einen Interessenkonflikt hätten. Vielmehr entspricht es deutschen
Interessen, bestehende Konflikte endlich aufzulösen: mit
einer doppelten Staatsbürgerschaft.
Was wir wollen, ist eine Art zweite deutsche Einheit.
Dabei geht es nicht um zwei Teile, sondern um alle
Schichten und Teile dieser Gesellschaft. Lassen Sie uns,
wie Prantl schreibt, eine zweite deutsche Einheit versuchen. Das heißt im Übrigen: Wir haben gemeinsame Interessen, und dann muss man logischerweise zur doppelten Staatsbürgerschaft kommen. Dann können wir alle
Probleme in einem anderen Sprachduktus miteinander
lösen.
Wir bitten um Ihre Zustimmung.
({8})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Es ist nichts Neues, dass die Opposition in regelmäßigen Abständen mit GesetzentwürStephan Mayer ({0})
fen und Anträgen um die Ecke kommt, die die Änderung
unseres Staatsangehörigkeitsrechts zum Gegenstand haben.
({1})
Aber ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren,
meine werten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass der eigentliche Grund der heutigen Debatte
ein anderer ist.
Der SPD-Parteitag naht. Sehr geehrte Frau Kollegin
Özoğuz, ich gönne es Ihnen wirklich, dass Sie designierte stellvertretende Parteivorsitzende sind.
({2})
Der eigentliche Grund der heutigen Debatte war unter
anderem, Ihnen die Plattform zu bieten, eine Bewerbungsrede für Ihre Kandidatur zur stellvertretenden Parteivorsitzenden zu halten.
({3})
Ich sage Ihnen aber ganz offen, meine verehrten Kollegen von der SPD: Unser deutsches Staatsangehörigkeitsrecht ist zu kostbar, als es nur als Profilierungsplattform
dafür zu nutzen, dass Sie, Frau Özoğuz, stellvertretende
Parteivorsitzende werden.
({4})
Meine werte Kollegin Künast, ich kann mich auch
nicht des Eindrucks erwehren, dass Sie insbesondere
deshalb heute in dieser Debatte sprechen, weil Sie nach
Ihrem schwachen Abschneiden bei der Berliner Landtagswahl in enormen innerparteilichen Schwierigkeiten
stecken. Sie sind eben nicht Regierende Bürgermeisterin
von Berlin geworden. Jetzt gibt es deutlichen Druck in
der eigenen Partei.
({5})
Ich glaube, dass auch dies ein Grund ist, warum Sie
heute so aufgekratzt und emotional argumentiert haben.
({6})
Gleiches gilt für die Kollegin Lötzsch, die, wie man
den Medien entnehmen kann, auch unter enormem
Rechtfertigungsdruck in der eigenen Partei steht. Hier
gilt aber das Gleiche: Unser deutsches Staatsangehörigkeitsrecht ist zu kostbar, als es für eine bloße und sehr
durchsichtige parteipolitische Profilierung zu nutzen.
({7})
Frau Özoğuz, Sie haben behauptet, das jetzige Optionsmodell sei ein bürokratischer Wahnsinn. Frau
Özoğuz, Sie haben es mitbeschlossen: Rot-Grün hat es
beschlossen.
({8})
Also sollten Sie jetzt keine Rede halten, in der Sie dieses
Modell als schwach und als bürokratischen Wahnsinn
diffamieren. Sie selbst haben die Verantwortung dafür zu
tragen.
Deutschland ist gut mit dem Grundprinzip in seinem
Staatsangehörigkeitsrecht gefahren, dass man Mehrstaatlichkeit vermeidet. Einbürgerung kann nur am Ende eines erfolgreich abgeschlossenen Integrationsprozesses
stehen und kann und darf nie am Anfang des Integrationsprozesses stehen.
({9})
Durch die Staatsangehörigkeit wird ein Loyalitätsband zwischen dem Staat auf der einen Seite und dem
Staatsangehörigen auf der anderen Seite geknüpft. Dieses Loyalitätsband kann und darf nie eine Einbahnstraße
sein; dieses Loyalitätsband eröffnet Rechte und Pflichten
für beide Seiten.
({10})
Deswegen muss es weiterhin ein fester Grundsatz des
deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sein, dass eine
doppelte Staatsangehörigkeit nach Möglichkeit abzulehnen und zu vermeiden ist, weil sie erhebliche rechtliche
Schwierigkeiten aufwirft: Auf der einen Seite eröffnet
sie gewisse Privilegierungstatbestände für die Doppelstaatler, zum Beispiel was das Wahlrecht anbelangt. Es
besteht die akute Gefahr der Rosinenpickerei: Man greift
sich je nachdem, was einem gerade in den Sinn kommt,
das günstigere Recht, zum Beispiel das Wahlrecht, heraus. Auf der anderen Seite gibt es offenkundig rechtliche Nachteile. Die Juristerei spricht von sogenannten
hinkenden Rechtsverhältnissen, zum Beispiel im Eheund Familienrecht und auch im Namensrecht.
({11})
Es ist sehr wohl der Fall, dass man sich von der doppelten Staatsangehörigkeit fälschlicherweise etwas verspricht, was in der Praxis nicht zu halten ist.
Frau Künast, es gibt ganz konkrete Fälle. Ich selbst
war in der letzten Legislaturperiode Mitglied des BNDUntersuchungsausschusses. Wir hatten unter anderem
den Fall Mohammed Haydar Zammar zu behandeln. Er
ist Doppelstaatler - er ist Deutscher und Syrer -, war in
syrischer Haft in einem berüchtigten Gefängnis in Damaskus. Ganz ehrlich: Die deutsche Staatsangehörigkeit
hat ihm persönlich überhaupt nichts gebracht. Konsularischer Schutz wurde ihm nämlich von der syrischen Seite
strengstens verwehrt,
Stephan Mayer ({12})
({13})
weil die Syrer die deutsche Staatsangehörigkeit nicht anerkannt haben. Also hat er keine Möglichkeit gehabt, auf
konsularischen Schutz zurückzugreifen. Ganz im Gegenteil, er wurde von den Syrern nur als Syrer angesehen.
({14})
Man macht sich manche Vorstellungen und knüpft Erwartungen an die doppelte Staatsangehörigkeit, die sich
dann in der Praxis als falsch herausstellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
wir sind gut damit gefahren, dass wir das Staatsangehörigkeitsrecht 2007 novelliert haben, dass wir darin deutliche Verbesserungen aufgenommen haben, zum Beispiel was den Nachweis ausreichender deutscher
Sprachkenntnisse und die Sicherung des Lebensunterhalts für Personen unter 23 Jahren anbelangt.
({15})
Insbesondere die Einführung des Einbürgerungstests
war ein Meilenstein in der Veränderung des deutschen
Staatsangehörigkeitsrechts.
({16})
Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Kanada, in
den USA oder auch in den Niederlanden ist es der Fall,
dass derjenige, der Staatsbürger in dem betreffenden
Land werden will, mit einem Einbürgerungstest natürlich
auch dokumentieren muss, dass er sich - in dem Fall - zu
Deutschland, zur deutschen Sprache, zur deutschen Kultur und auch zur deutschen Verfassung bekennt. Ich
glaube, das ist nicht zu viel verlangt.
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Pronold?
Sehr gerne.
Herr Kollege Mayer, Sie erinnern sich ja sicher, dass
die CSU im Europaparlament durch Otto von Habsburg
vertreten war. Er hatte meines Wissens drei Staatsbürgerschaften. Wie konnte er diese Konflikte trotzdem zum
Wohle Bayerns aushalten?
({0})
Herr Kollege Pronold, der hochmögende ehemalige
Europaabgeordnete Otto von Habsburg hat diese Konflikte nicht nur zum Wohle Bayerns ausgehalten, sondern zum Wohle Deutschlands.
({0})
Man sollte an dieser Stelle noch einmal sehr respektvoll
erwähnen, welche großen Leistungen sich Otto von
Habsburg um Deutschland, um die Wiedervereinigung,
um die Integration Europas und auch um die Vereinigung Europas erworben hat.
({1})
Natürlich gibt es Mehrstaatler in Deutschland; das ist
gar keine Frage.
({2})
Ich bitte schon, zu berücksichtigen, dass Otto von Habsburg die deutsche Staatsangehörigkeit genauso wie die
österreichische hatte; aber daraus erwachsen keine unmittelbaren Konfliktfelder.
({3})
Das zu übersehen, ist der große Trugschluss, dem Sie
unterliegen. Die doppelte Staatsangehörigkeit in den
Fällen, in denen sie in Deutschland meistens vorhanden
ist, bezieht sich auf zwei oder drei europäische Länder,
und es entstehen aufgrund der Ähnlichkeit der Rechtsordnungen dieser Länder keine Konfliktfelder.
Ich sage Ihnen ganz offen: Natürlich bestehen größere
Konfliktfelder, wenn eine Person neben der deutschen
auch die türkische Staatsangehörigkeit hat. Das muss
man in aller Deutlichkeit sagen. Weil Sie Otto von Habsburg angesprochen haben, möchte ich sehr lobend und
sehr respektvoll erwähnen, dass in Deutschland immerhin 1 Million Bürger lebt, die türkischer Abstammung
sind und mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit
haben. Ich ziehe den Hut vor diesen Menschen.
({4})
- Bitte, Herr Pronold, das gehört noch zur Beantwortung
der Frage, die Otto von Habsburg betrifft.
({5})
Otto von Habsburg war ein großer Befürworter der Verständigung zwischen Deutschland und der Türkei. Gerade die 1 Million Türkischstämmigen, die mittlerweile
die deutsche Staatsangehörigkeit haben, haben sich ganz
bewusst für die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden und ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben.
Ich glaube, gerade dieser Personenkreis zeigt, wie modern und erfolgreich das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ist.
({6})
Gleichwohl bietet unser Staatsangehörigkeitsrecht
ausreichende Möglichkeiten, Härtefällen zu begegnen.
§ 12 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bietet die MögStephan Mayer ({7})
lichkeit, wenn besondere Härten entstehen und die Aufgabe der eigenen Staatsangehörigkeit eine besondere
Schwierigkeit in vermögensrechtlicher oder anderweitiger Hinsicht darstellt, die deutsche Staatsangehörigkeit
zusätzlich zu der ursprünglichen auszureichen. Das wiederum zeigt, dass wir ein modernes und flexibles Staatsangehörigkeitsrecht haben, das durchaus allen unterschiedlichen Bedürfnissen in ausreichender Weise
gerecht wird.
({8})
Es laufen derzeit zwei Studien, die von der Forschungsgruppe am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durchgeführt werden und in denen die ersten Ergebnisse des Optionsmodells evaluiert werden. Die Ergebnisse werden aller Voraussicht nach im ersten Halbjahr
des kommenden Jahres vorliegen. Ich bitte Sie, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition:
Lassen Sie uns erst einmal diese Ergebnisse abwarten.
Die ersten Personen, die die Optionsmöglichkeit wahrnehmen können, gibt es seit dem Jahr 2008; es ist schon
erwähnt worden. Jedes Jahr kommen zwischen 3 000 und
5 000 neue Personen hinzu. Die ersten Personen, die optieren müssen, haben dafür immerhin bis Ende 2013 Zeit.
({9})
Es ist momentan viel zu früh, zu sagen, ob sich das Optionsmodell bewährt hat oder nicht, ob rechtliche
Schwierigkeiten auftauchen oder nicht. Wir sollten uns
wirklich die Zeit nehmen, die Ergebnisse der Evaluierung abzuwarten, und zu gegebener Zeit auch in diesem
Hause darüber debattieren, wie wir darauf reagieren.
Ich glaube, dass wir gerade bei dieser gesellschaftspolitisch relevanten Debatte deutlich machen müssen,
dass die Ausreichung der deutschen Staatsangehörigkeit
mehr ist, als nur einen Personalausweis, ein Legitimationspapier zu überreichen. Es geht bei der deutschen
Staatsangehörigkeit wie bei der Staatsangehörigkeit generell auch sehr stark darum, ein Bekenntnis zu einem
Staat abzugeben. Deswegen ist es mir auch so wichtig,
darauf hinzuweisen, dass wir die Debatte über eine mögliche Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht
auf dem Altar von Parteipolitik opfern sollten. Es sollte
schon Konsens hier in diesem Haus sein, dass die Verfassungstreue und das Bekenntnis zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein Grundpfeiler des
deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sind. Ich glaube,
dass man nicht umhinkann, festzuhalten, dass durchaus
die Gefahr besteht, dass Loyalitätskonflikte bei Personen
entstehen, die mehrere Staatsangehörigkeiten haben.
({10})
Vor dem Hintergrund bitte ich Sie herzlich, hier nicht
falsche Ängste zu schüren. Ich halte es für wirklich unerträglich, dass Sie, Frau Kollegin Lötzsch, uns, der christlich-liberalen Koalition, vorwerfen, der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland Vorschub zu leisten.
({11})
Ich glaube, dass dieser Vorwurf wirklich ungebührlich
ist und der Seriosität und Ernsthaftigkeit der Debatte in
keiner Weise gerecht wird.
({12})
Das ist eine Debatte, die heute zur Unzeit geführt
wird. Wir haben noch genügend Zeit, wenn die Ergebnisse der Evaluierung des Optionsmodells vorliegen, uns
darüber auszutauschen.
({13})
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat nun Frank-Walter Steinmeier für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass sowohl der Herr Minister als auch die Frau
Staatsministerin heute keine Zeit haben, nehmen wir zur
Kenntnis. Ich muss Ihnen sagen: Es wundert mich nicht.
Denn die Woche der Festakte ist schließlich vorbei.
({0})
- Ich weiß gar nicht, was Sie immer mit Parteitagen haben. Ich meine, der CDU-Parteitag ist viel näher als unserer.
({1})
Insofern müssten wir schlechte Gedanken haben, was
Ihre Tagesordnungspunkte angeht. Herr Wolff, da Sie
schon dazwischenrufen, lassen Sie mich noch eines sagen: Ich hätte nicht gedacht, dass Sie in der Lage sind,
das Diskussionsniveau Ihrer Partei doch so nachhaltig zu
unterschreiten. Das war wirklich auffällig.
({2})
Zu Ihrem Hinweis, dass es Konkurrenz innerhalb der
Opposition gebe, muss ich Ihnen eines sagen: Das
schreckt mich nicht wirklich, solange ich weiß, dass Sie
mit solchen Reden dafür sorgen, dass die FDP - jedenfalls in Zukunft - außer Konkurrenz läuft.
({3})
Ansonsten hätte ich mir gewünscht, dass wir diese
Debatte mit mehr Ernsthaftigkeit führen.
({4})
Deshalb sage ich zu Anfang: Über die doppelte Staatsangehörigkeit darf man streiten und muss man streiten vielleicht auch heute. Man sollte jedoch vielleicht damit
beginnen, dass es ein paar Gemeinsamkeiten in diesem
Hohen Hause gibt. Ich habe das jedenfalls gespürt, als
wir in der letzten Woche unterwegs waren und die vielen
Veranstaltungen zu 50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen besucht haben.
Viele auch Ihrer Redner haben darauf hingewiesen,
wie sehr diejenigen, die von weit hergekommen sind,
dieses Land bereichert haben. Die, die hergekommen
sind, haben hier - weit weg von zu Hause - gearbeitet,
ohne die Sprache dieses Landes zu verstehen, haben da
angepackt, wo die Arbeit am schwersten war, haben die
Kohle aus der Erde geholt, haben als Stahlkocher Hitze
und Dreck widerstanden, haben auf dem Bau geschuftet
und Autos zusammengeschraubt. Sie waren diejenigen,
die dafür gesorgt haben, dass die wirtschaftliche Aufholjagd in diesem Lande tatsächlich stattfinden konnte.
Es muss uns auch in einer solchen Debatte klar sein:
Das war mit den Feierveranstaltungen der letzten Woche
nicht abgeschlossen. Auch in einer solchen Debatte
muss uns klar sein, dass das deutsche Wirtschaftswunder, dieses Wachstum von beispielloser Stabilität und die
Steigerung des Wohlstandes, die hier in Deutschland für
breite Schichten der Bevölkerung - und das nur zwei
Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges möglich waren, eben auch getragen waren von der Arbeit von Zehntausenden, von Hunderttausenden von Migranten. Deshalb sage ich: Unser Erfolg ist auch deren
Erfolg, und es war in der letzten Woche Zeit, dafür endlich herzlichen Dank zu sagen.
({5})
Ich lasse jetzt die Reden beiseite, die hier gehalten
worden sind. Denn wir müssen uns die Frage stellen
- das sage ich mit großem Ernst -: Was haben die Veranstaltungen in der letzten Woche mit dem Streit heute zu
tun?
({6})
Ich glaube, folgende Frage bleibt: Haben wir damals eigentlich gewusst, was Arbeitsmigration in der Größenordnung, wie wir sie erlebt haben, wirklich bedeutete?
Haben wir gewusst, was sie in der Gesellschaft, aus der
die Arbeitsmigranten kamen, und was sie in der Gesellschaft, in die viele Neue kamen, um hier zu arbeiten,
verändert hat?
Wir in Deutschland haben doch viel zu lange geglaubt: Das alles ist ein Provisorium. Das alles ist eine
Übergangslösung. Auch der Sprachgebrauch war verräterisch: Der Gastarbeiter war eben Gast. Er blieb fremd
und war nicht vollberechtigter Teil der Gesellschaft.
Das, was für uns galt, galt aber auch für diejenigen,
die gekommen sind. Ich habe in der letzten Woche in öffentlichen Reden gesagt: Auch die türkischen Arbeitsemigranten, die kamen, lebten in demselben Provisorium. Für sie stand der Rückkehrwunsch immer fest. Nur
der Zeitpunkt hat sich verschoben - erst um Monate,
dann um Jahre. Es kam die erste Generation der Kinder,
die in Deutschland geboren war. Dann kam die zweite,
und jetzt ist es die dritte.
Das hat natürlich dazu geführt, dass das Band der Verbundenheit zu unserem Lande immer enger wurde, und
deshalb würde ich, Herr Mayer, hier nicht laufend von
Loyalitätskonflikten sprechen. Ich freue mich darüber,
dass die Verbundenheit zu unserem Lande größer geworden ist. Es bestehen Konflikte, die wir nicht durch die
Verweigerung der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts bessern oder heilen können. Vielmehr tragen die
Menschen diesen Konflikt in ihrer Person in sich. Diesen
Konflikt kann man nicht aufgrund einer einzigen Gesetzesänderung lösen. Man kann ihn aber auch nicht durch
die Verweigerung von Recht lösen, und deshalb müssen
wir anders und ernsthaft darüber sprechen.
({7})
Vielleicht können Sie den Weg mitgehen und gemeinsam mit uns überlegen, ob wir die politischen Aufgaben
bewältigt haben, die sich aus der Arbeitsmigration in den
60er- und 70er-Jahren ergeben. Vielleicht kommen wir
dann auch zu einem gemeinsamen Ergebnis und können
feststellen: Wir haben sie wahrscheinlich nicht oder
nicht ausreichend bewältigt. Darüber würden wir uns im
Zweifel noch einig sein. Mit Blick auf all das, was ich in
der letzten Woche von den Rednern der CDU, der CSU
und der FDP gehört habe,
({8})
lässt sich jedenfalls festhalten, dass eigentlich fast alle
gesagt haben: Wir sind in der Integration nicht so weit
gekommen, wie es nötig gewesen wäre und wie viele
von uns es eigentlich wollten.
Deshalb muss ich nicht in erster Linie das Hohe Haus
davon überzeugen, wie wichtig es ist, dass wir jetzt endlich das nachholen, was wir in der Vergangenheit schuldig geblieben sind. Das sind wir eben nicht nur denjenigen schuldig, die zugewandert sind, und den hier
geborenen Kindern und Kindeskindern der Zugewanderten, sondern wir sind es auch uns selbst schuldig.
({9})
Wer es nämlich zulässt - das fällt in unsere Verantwortlichkeit als Politiker -, dass in diesem Lande zu viele
Menschen zu wenige Chancen und nicht gleiche Rechte
haben, wer das in Kauf nimmt, der setzt den inneren Zusammenhalt dieser Gesellschaft aufs Spiel. Hier geht es
aber um unsere Zukunft. Die dürfen wir nicht aufs Spiel
setzen.
({10})
Wenn wir über Staatsangehörigkeit als ein Element
von Integration reden, reden wir also nicht nur über Zugewanderte und deren Kinder, sondern auch über die Zukunft dieses Landes. Deshalb sage ich Ihnen: Wer Integration wirklich ernst nimmt, der muss auch bereit sein,
über Staatsangehörigkeit zu reden. Angesichts der Reden, die wir hier vonseiten der Koalitionsfraktionen gehört haben, und mit Blick auf das, was die Regierung tut
und insbesondere nicht tut, befürchte ich: Wir tun das
genaue Gegenteil,
({11})
indem wir jungen Menschen eine Entscheidung abzwingen, die sie ganz offenbar nicht in der Lage sind zu treffen.
({12})
Jetzt sage ich Ihnen eines: Ja, wir haben diese Optionsregelung mitgetragen. Jetzt, nach zehn, elf Jahren,
stelle ich mich auch hierher und sage mit Blick auf das,
was hinter uns liegt: Sie können doch nicht, wo uns sonst
überall abverlangt wird, gelegentlich einmal zu kontrollieren, ob wir mit unserer Gesetzgebung erfolgreich gewesen sind, beim Staatsangehörigkeitsrecht sagen: Da
dürft ihr euch, bitte, nicht korrigieren.
({13})
Nein, umgekehrt verhält es sich! Ich sage mit Blick auf
die zehn, elf Jahre, die jetzt hinter uns liegen: Wir haben
damals gemeinsam einen Versuch gemacht. Wir haben
ein Angebot unterbreitet. Aber wir müssen auch zur
Kenntnis nehmen, dass dieses Angebot ausgeschlagen
wird; diese Optionsregelung funktioniert nicht. Deshalb
können wir sie nicht einfach weiter mit uns herumschleppen.
({14})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wolff?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Steinmeier, Sie haben gerade gesagt,
dass Sie Ihre Position ändern. Aber es ist doch Tatsache,
dass die Regelungen, die von Ihnen selbst eingeführt
wurden, erst seit Anfang dieses Jahres gelten.
({0})
Sie sind aber schnell dabei, Ihre Position zu ändern. Wie
stehen Sie denn dazu?
Herr Wolff, Sie sind offenbar nicht so ganz in der
Sache drin. Das habe ich an dem Vortrag, den Sie eben
gehalten haben, auch schon gesehen.
({0})
Jeder, der sich mit Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts
wirklich befasst, kann in jedem Jahr mindestens fünf
große Konferenzen und Tagungen besuchen, bei denen
regelmäßig alles erreichbare statistische Material vorgelegt wird. In diesem Rahmen könnten Sie zur Kenntnis
nehmen, ob die Bereitschaft jüngerer Zuwanderungsgenerationen besteht, von dieser Option Gebrauch zu machen, ja oder nein. Wenn Sie das nicht tun und hier lieber
so tun, als ob wir über ein Phantom reden würden, zu
dem noch kein belastbares Material vorliege, liegt das
wahrlich nicht in der Verantwortung der SPD-Fraktion.
({1})
Frau Merkel hat beim Festakt zum Jahrestag des Anwerbeabkommens gegenüber der türkischstämmigen
Mitbevölkerung gesagt:
Sie sind ein Teil von Deutschland. Sie gehören
dazu.
Das ist richtig; aber das ist natürlich zunächst einmal
leicht gesagt. Was heißt das eigentlich genau? Das entscheidende Element von Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen ist doch ganz ohne Zweifel die politische
Teilhabe, das heißt die Teilhabe als Staatsbürgerin und
Staatsbürger dieses Landes. Deshalb sage ich: Wenn das,
was Frau Merkel hier richtigerweise gesagt hat, mehr
sein soll als ein Lippenbekenntnis, dann kommen wir
nicht umhin, allen dauerhaft hier lebenden Menschen die
faire Chance zu geben, Bürgerin oder Bürger dieses Landes zu werden - mit allen Rechten und Pflichten; das gehört dazu. Aber wir müssen es machen.
({2})
Natürlich haben Sie recht, Herr Mayer, wenn Sie darauf hinweisen, dass viele bei uns lebende Menschen aus
Einwandererfamilien eingebürgert sind. Ja, das gibt es.
Natürlich ist es auch richtig, dass allen Eingewanderten
diese Option prinzipiell offensteht. Die Frage ist jedoch,
zu welchem Preis. Darum geht es doch, wenn wir uns
fragen, warum das Angebot der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlagen wird. Wir verlangen die Aufgabe
der bisherigen Staatsangehörigkeit. Offenbar ist es mit
der Identität aber nicht ganz so einfach, wie wir uns das
vor zwölf Jahren bei unseren politischen Entscheidungen
vorgestellt haben. Schwarz oder weiß, Inländer oder
Ausländer, das ist für diese Generation eben nicht mehr
die Frage; denn sie fühlt beides. Die Begründung mit
dem Loyalitätskonflikt ist der falsche Ansatz. Wir müssen uns der Realität stellen. Es sind Menschen, die diesen Identitätskonflikt in sich spüren. Aber das ist kein
Grund, ihnen die Staatsangehörigkeit zu verweigern.
Das ist die Verweigerung von Politik.
({3})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich muss zum Ende kommen. Deshalb verweise ich
auf unseren Gesetzentwurf, den wir hier unterbreitet haben. Wir bitten Sie - jenseits der Reden, die dazu in der
Vergangenheit und auch heute im Parlament gehalten
worden sind -, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Lassen Sie mich abschließend den Herrn Bundespräsidenten zitieren, der kürzlich in einer Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit gesagt hat: Der Satz „Wir
sind ein Volk“ sollte heute mehr denn je auch als Einladung an alle, die hier leben, verstanden werden, ob eingewandert oder nicht. - Lassen Sie uns Ernst machen damit!
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Serkan Tören für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Steinmeier, ich habe mich offenbar im Gegensatz
zu Ihnen mit Ihrem Gesetzentwurf beschäftigt. Sie haben
im Zusammenhang mit der doppelten Staatsangehörigkeit gesagt, man müsse in diesem Rahmen nicht über
Loyalitätskonflikte sprechen. Ich zitiere aus Ihrem Gesetzentwurf:
Zum anderen finden sich viele der betroffenen Jugendlichen in einem Loyalitätskonflikt wieder.
Insofern sollten Sie sich vielleicht mit Ihrem Gesetzentwurf beschäftigen, bevor Sie hier in Ihrer Rede nur allgemeinpolitische Ausführungen zur Integration machen, ohne auf die Sache zu kommen.
({0})
Zudem habe ich mich sehr über den Zeitpunkt gewundert. Sie haben das vor 50 Jahren geschlossene Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei angeführt. Die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit
soll in Ihren Augen eine Art Belohnung sein. Wenn Ihnen wirklich etwas an einer Belohnung liegt - oder lassen Sie mich besser sagen: an einer Anerkennung und
Wertschätzung -, dann hätten Sie heute beispielsweise
über das Anerkennungsgesetz sprechen können, das die
christlich-liberale Koalition beschlossen hat. Denn künftig hat die türkische Krankenpflegerin endlich ein Recht
auf Prüfung ihrer Qualifikationen. Künftig darf sich die
jordanische Ärztin endlich auch als solche in Deutschland niederlassen. Das, was wir als christlich-liberale
Koalition damit leisten,
({1})
ist viel mehr an Integration als das, was Sie in Ihrer Regierungszeit vorgelegt haben oder jetzt vorschlagen.
Heute geht es um gleiche Chancen. Es muss um die
Möglichkeit gehen, sein Leben in Deutschland selbst in
die Hand zu nehmen. Das ist Respekt und Wertschätzung. Die doppelte Staatsangehörigkeit hier als Belohnung anzuführen,
({2})
ist doch völlig absurd und zeigt einmal mehr: Sie sind im
Oktober 1961 stehengeblieben, mit einem patriarchalischen und gönnerhaften Blick auf Migranten.
({3})
Unser Ziel ist es, aus Migranten Bürger dieses Landes
zu machen, Bürger, die sich verantwortlich fühlen, partizipieren und Deutschland mitgestalten. Genau das
wollen auch die meisten Migranten. Wir tun doch niemandem einen Gefallen, wenn wir die doppelte Staatsangehörigkeit großzügig und karitativ als Bonus verteilen, am besten noch ohne irgendwelche Voraussetzungen.
({4})
Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht: Das Staatsangehörigkeitsrecht ist gut, wie es ist, und wir müssen
uns keine Gedanken um dessen Modernisierung machen.
Ganz im Gegenteil! Das sage ich hier ganz klar. Aber
wir müssen erst einmal die Evaluation des Optionsmodells abwarten.
({5})
Ich sage Ihnen auch, weshalb. Entgegen Ihren Ausführungen höre ich nämlich sehr Unterschiedliches von den
Einbürgerungsbehörden. Viele vermelden erfreulicherweise eine sehr klare Tendenz bei den jungen Migranten
für die deutsche Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig variieren die Rückmeldungsquoten sehr stark. Einige Behörden haben hohe Rückmeldungsquoten, andere kaum
welche. Einer der Gründe hierfür liegt in der sehr unterschiedlichen Leistungsfähigkeit und dem Dienstleistungscharakter der einzelnen Behörden. Aber das ist ein
anderes Thema. Wer also bereits jetzt für ganz Deutschland ein klares Fazit zieht und die Optionspflicht als gescheitert abtut, arbeitet nicht seriös. Deshalb sage ich:
Lassen Sie uns die Evaluation abwarten!
Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Thema Einbürgerung ist in Deutschland kein Selbstläufer. Hier haben
Einwanderer mit einer Niederlassungserlaubnis bereits
sehr weitgehende Rechte. Politische Partizipation in
Form von Wahlen hat derzeit leider keine Hochkonjunktur. Wirkliche Anreize insbesondere für gut integrierte
Einwanderer fehlen. Zudem haben einige Debatten in
vergangener Zeit nicht zur viel zitierten Willkommenskultur bzw. Anerkennungskultur beigetragen. Deshalb
gilt: Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeit
werben, ich meine nicht: für eine Urkunde, sondern für
unser wunderbares Land und unsere Gesellschaft als solche.
({6})
Machen wir uns nichts vor: Ein Einbürgerungstest oder
ein Stück Papier macht noch keinen loyalen, partizipierenden Bürger aus. Das gilt für alle Deutschen - ob mit
Zuwanderungsgeschichte oder ohne.
Wir werden diese Debatte verstärkt und engagiert
führen, die Evaluation des Optionsmodells abwarten und
Ihre Ablenkungsmanöver nicht mitmachen.
Zum Schluss eine kurze Bemerkung zu meiner Person. Ich war bis vor einigen Jahren Doppelstaatler, habe
mich dann aber entschieden, die türkische Staatsbürgerschaft abzugeben. Der Grund dafür war, dass Deutschland meine Heimat geworden ist, dass ich zu dieser Gesellschaft gehöre und ein Teil davon bin.
({7})
Eine praktische Erwägung war, dass ich keinen Militärdienst ableisten musste. Diese Frage wird auf viele zukommen. Ich bin mit meiner Entscheidung sehr glücklich.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Sevim Dağdelen für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu
begrüßen, dass der 50. Jahrestag des deutsch-türkischen
Anwerbeabkommens Anlass bietet, im Deutschen Bundestag über das Thema Einbürgerungserleichterungen
und über das Staatsangehörigkeitsrecht insgesamt zu debattieren. Aber ich muss auch sagen, Herr Steinmeier: Ihr
Dankeschön an die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter,
die vor 50 Jahren nach Deutschland gekommen sind und
ihre Familien nachgeholt haben - so war es beispielsweise auch in meiner Familie der Fall -, lässt zu wünschen übrig. Auf Ihr Dankeschön in Form von Hartz IV,
Leiharbeit,
({0})
Zerstörung der gesetzlichen Rente und einer Praxisgebühr hätten diese Millionen von Menschen verzichten
können.
({1})
Schauen Sie sich einmal die Zahlen an, die zeigen, wie
es den Menschen geht, die von Altersarmut, von einer
doppelt so hohen Arbeitslosigkeit und von einer überproportional hohen Beschäftigungsquote im Niedriglohnbereich betroffen sind. Wenn Sie diesen Menschen
auch angesichts der Tatsache, dass Sie ihnen in der Vergangenheit etwas schuldig geblieben sind, wirklich
Danke sagen wollen, dann sollten Sie erst einmal die
Fehler beseitigen, die Sie während der elf Jahre Ihrer Regierungszeit gemacht haben. Dann werden die Menschen Ihr Dankeschön ernst nehmen.
({2})
Auch bei den Einbürgerungszahlen kann die Linke
das Eigenlob - ich sage nur, dass Eigenlob stinkt - von
SPD und Grünen nicht nachvollziehen. Die Einbürgerungszahlen des letzten Jahres, also 2010, sind mit rund
100 000 immer noch niedriger als vor zehn Jahren, als
das antiquierte deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1913 galt.
({3})
Warum ist das so? Sie von der SPD haben während Ihrer
Regierungszeit, ob es in der rot-grünen Koalition oder in
der Großen Koalition war, durchweg für Verschlechterungen gesorgt. Ich nenne beispielsweise die Erhöhung
der Anforderungen an Sprachkenntnisse von A1 auf B1.
({4})
Warum ist das für die Linke ein Problem, und warum
verlangt die Linke umfassende Erleichterungen bei der
Einbürgerung? Das Bundesverfassungsgericht spricht
von einem Demokratiedefizit in Deutschland, das darin
liegt, dass Millionen von Menschen die politische Mitbestimmung durch Wahlen versagt bleibt, obwohl sie im
Durchschnitt seit fast 20 Jahren in Deutschland leben.
Wir von der Linken wollen nicht, dass immer mehr Menschen über einen längeren Zeitraum in Deutschland leben, ohne die gleichen Rechte zu haben, ohne ihren Beruf frei wählen zu können oder nach 20 Jahren festem
Aufenthalt nicht vor Ausweisung sicher zu sein. Deshalb
brauchen wir keine Sprechblasen über Willkommenskultur, sondern endlich gleiche Rechte.
({5})
Wenn Sie von der Regierungskoalition immer mit Ihrem anachronistischen Popanz von vermeintlichen Loyalitätskonflikten bei Menschen mit mehr als einem Pass
kommen, dann muss ich sagen: In der Praxis ist die
Mehrstaatigkeit doch längst Realität. Die Mehrzahl der
Einbürgerungen in Deutschland geschieht unter Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit. Mehr als 57 Prozent aller Eingebürgerten sind Doppelstaatler, das sind
mehr als 4,5 Millionen Menschen. Es wird überhaupt
nicht darüber diskutiert, ob diese Menschen Loyalitätskonflikte haben. Ebenso wenig wird darüber diskutiert,
dass in elf EU-Staaten die Situation ähnlich ist. Wenn es
nicht Ausdruck eines wirklichen Ausgrenzungswillens
wäre, wäre das Ganze zum Lachen, Herr Kollege Mayer.
({6})
Wer heute noch dem Prinzip der Einstaatigkeit anhängt,
folgt eher dem Prinzip der Einfältigkeit. Das ist bei Ihnen aber nichts Neues.
({7})
Ich bin dankbar für die neue Ehrlichkeit in der CDU/
CSU-Fraktion. Im Innenausschuss gab es gestern eine
bemerkenswerte Klarstellung des Kollegen Mayer von
der CDU/CSU-Fraktion. Er bekannte unmissverständlich, dass Mehrfachstaatsangehörigkeiten bei EU-Angehörigen ja kein Problem seien. Zum Problem würden sie
aber, wenn es um türkische Staatsangehörigkeiten gehe.
Ich kann nur sagen: Wir haben verstanden. Sie halten
Menschen, die entweder aus der Türkei eingewandert
oder die hier geboren und aufgewachsen sind und zufällig die türkische Staatsangehörigkeit haben, für eine besondere Bedrohung und potenzielle Gefahr. Wenn das
nicht rassistisch und fremdenfeindlich ist, was ist es
dann?
({8})
Zum Schluss möchte ich vorwegnehmen - meine
Kollegin Frau Lötzsch hat es schon gesagt -: Die Linke
wird den Gesetzentwürfen von der SPD und den Grünen
zustimmen, und das, obwohl sie unglaubwürdig sind.
Das gilt insbesondere für den Antrag der SPD. Sie waren
elf Jahre lang pausenlos in der Regierung und haben die
Einbürgerungszahlen, die in den letzten Jahren katastrophal niedrig sind, mit zu verantworten. Aber nicht nur
das. Sie haben vor noch nicht allzu langer Zeit hier im
Bundestag unsere Verbesserungsvorschläge zum Staatsangehörigkeitsgesetz und zu anderen Themen wie dem
kommunalen Wahlrecht für Drittstaater genauso abgelehnt, wie Sie es gestern im Innenausschuss getan haben.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. - Glaubwürdig sind Sie aber
erst dann, wenn Sie unseren Verbesserungsvorschlägen
zustimmen und solcherlei Anträge nicht nur vorlegen,
wenn Sie in der Opposition sind,
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
- sondern auch als Regierungspartei.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Christian Ströbele.
Frau Kollegin, Sie haben uns Eigenlob vorgeworfen.
Ich sage Ihnen: Wir haben Lob verdient, obwohl wir
1999 ein Gesetz auf den Weg gebracht haben, das die besagte Optionsregelung enthält, von der wir schon damals
wussten, dass sie ein Fehler war.
Ich habe dieser Regelung damals zugestimmt, und
zwar deshalb, weil nach der Hessen-Wahl im Jahr 1999
mehr einfach nicht drin war.
({0})
Ich stand vor der Frage: Soll ich diesem Gesetz nicht zustimmen und damit Hunderttausenden in Deutschland
geborenen Kindern von Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft verweigern, oder soll ich diesem Gesetz in
Kenntnis dessen zustimmen, dass es Hunderttausenden
zugutekommen wird, die damit automatisch die deutsche
Staatsbürgerschaft erwerben? Bereits damals habe ich
gesagt: Diese Regelung ist im Grunde falsch; wir müssen sie aufheben, wenn es zum Schwur kommt, also
etwa zehn Jahre später. Ich halte es nach wie vor für
richtig, dass wir damals diese Entscheidung getroffen
haben. Zwingend notwendig ist aber, dass diese Regelung jetzt korrigiert wird.
Lob haben wir verdient, weil wir damit Zehntausenden von jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermöglicht haben, durch ihre Geburt in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, und wir damit das
Dogma gebrochen haben, dass die Staatsbürgerschaft
nur über die Blutsverwandtschaft vermittelt werden
kann. Die Entscheidung damals war richtig und gut; sie
war notwendig. Heute ist es richtig, es endgültig so zu
regeln, dass es für diese Leute keinerlei Zumutungen
gibt.
({1})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile
ich Kollegen Stephan Mayer.
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben meine Äußerungen
in der gestrigen Sitzung des Innenausschusses erwähnt.
Ich möchte Sie darauf hinweisen und darf Sie bitten, zur
Kenntnis zu nehmen, dass ich türkische Staatsangehörige
nicht als „Problem“, schon gar nicht als „Bedrohung“ bezeichnet habe. Ich habe auf folgenden Umstand hingeSevim DaðdelenSevim Dağdelen
Stephan Mayer ({0})
wiesen - ich tue das auch hier in aller Deutlichkeit -: Die
doppelte Staatsangehörigkeit von EU-Staatsangehörigen
innerhalb der Europäischen Union ist deshalb kein Problem, weil es schon aufgrund des EU-Rechts heute so ist,
dass EU-Staatsangehörige in Deutschland auch dann,
wenn keine doppelte Staatsangehörigkeit besteht, fast
alle Rechte haben, die auch Deutschen zustehen. Deshalb
ist die Ausreichung der doppelten Staatsangehörigkeit
auch ohne das Gegenseitigkeitsprinzip kein Problem.
Ich habe aber mitnichten behauptet, dass türkische
Staatsangehörige eine „Bedrohung“ für unsere Gesellschaft darstellen. Ich muss mich deshalb wirklich in aller
Entschiedenheit auch insoweit gegen Ihre Äußerungen
wenden, dass Sie mir „rassistische“ Erwägungen unterstellt haben. Das muss ich in aller Deutlichkeit von mir
weisen. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen:
Ich bin dankbar und froh, wenn sich türkische Staatsangehörige in Deutschland so verwurzelt fühlen, dass sie
sich um die deutsche Staatsangehörigkeit bemühen und
darum bewerben. Mittlerweile gibt es immerhin schon
über 1 Million türkischstämmige Bürger in Deutschland.
Ich möchte betonen: Ich bin froh um jeden türkischen
Staatsangehörigen, der sich in Deutschland integriert hat
und am Ende des erfolgreichen Integrationsprozesses die
deutsche Staatsangehörigkeit annimmt.
Herzlichen Dank.
({1})
Kollegin Dağdelen, bitte schön.
Zunächst wende ich mich an den Kollegen Ströbele.
Herr Ströbele, es kann sein, dass Sie wieder einmal einen
Abwägungsprozess hatten, wie es bei der Grünen-Fraktion in den letzten Jahren - auch bei den Themen Krieg
und Frieden - oftmals der Fall war,
({0})
und Sie sich vielleicht gezwungen sahen, zwischen einem größeren und einem kleineren Übel zu entscheiden.
({1})
Das Problem ist doch Folgendes: Die Migrantinnenorganisation, in deren Geschäftsführung ich damals war und
noch heute bin, hat diese Entscheidung damals, wie viele
andere Organisationen auch, als einen faulen Kompromiss bezeichnet; aber Sie wenden nur Lob und keinerlei
Selbstkritik an. Sie haben mit Ihrem Gesetz dafür gesorgt, dass Zehntausende Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben.
({2})
Sie haben mit dafür gesorgt, dass sich junge Menschen
für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.
Die Zahlen sprechen doch eine klare Sprache: In Zeiten des alten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes
hatten wir über 140 000 Einbürgerungen im Jahr; mit Ihrem Gesetz haben Sie für einen stetigen Rückgang gesorgt. Wir haben jetzt nur noch rund 100 000 Einbürgerungen im Jahr. Sie müssen doch auch diese Realitäten
anerkennen. Sie dürfen sich nicht nur loben, sondern
müssen auch einmal Selbstkritik anwenden und sagen:
Wir haben auch Fehler gemacht. ({3})
Diese Fehler muss man aber irgendwann auch einmal
korrigieren. Wenn Sie diesen Weg gehen würden, wären
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, um einiges glaubwürdiger.
Zu Herrn Mayer muss ich sagen: Herr Mayer, jetzt
können Sie natürlich behaupten, Sie hätten es so nicht
gesagt. Aber Sie haben es eigentlich mit Ihren Aussagen
gestern im Innenausschuss so deutlich gemacht. Sie haben gesagt, dass bei den EU-Mitgliedstaatsangehörigen
die doppelte Staatsangehörigkeit sowieso erlaubt ist und
Sie da kein Problem sehen, es aber ein Problem wäre,
wenn man jetzt so vielen türkischen Staatsangehörigen
auf einmal die deutsche Staatsangehörigkeit unter Hinnahme einer mehrfachen Staatsangehörigkeit geben
würde. Insoweit lässt das natürlich die Vermutung zu,
dass Sie bei denen eine Bedrohung sehen - Ihr Popanz
von vermeintlichen Loyalitätskonflikten -, aber bei denen, die aus den EU-Mitgliedstaaten kommen, nicht.
Die Zahlen aus Ihrem Bundesland Bayern machen es
eigentlich deutlich. Ich habe mir vom Statistischen Bundesamt die Einbürgerungsquoten türkischer Staatsangehöriger, differenziert nach Bundesländern, geben lassen:
Während sie im Jahr 2010 im Bundesdurchschnitt bei
1,6 lag, betrug sie in Bayern gerade einmal 1,0. Was aber
noch viel krasser ist: Während im Bundesdurchschnitt
27,7 Prozent der türkischen Staatsangehörigen ihre alte
Staatsangehörigkeit nach der Einbürgerung behalten
konnten, waren es in Bayern lächerliche 3,7 Prozent,
also 78 Personen. Das heißt, Bayern hat eine rigide Praxis bei der Frage, was es heißt, wenn Menschen ihre alte
Staatsangehörigkeit behalten wollen - besonders bei türkischen Staatsangehörigen.
Ihre Ausführungen gestern im Innenausschuss bestätigen wieder einmal mehr, dass Sie ein Problem bei den
Türkinnen und Türken sehen.
({4})
Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
meinem Kollegen Hans-Christian Ströbele dankbar, dass
er einiges richtiggestellt hat.
Liebe Frau Dağdelen, Sie haben gesagt, dass Sie unseren Gesetzentwürfen zustimmen werden, obwohl diese
unglaubwürdig seien. Das wundert mich bei Ihrer Partei
nicht. Eine Partei, die einfache Utopien zum Parteiprogramm erklärt, kann auch Unglaubwürdigem zustimmen; das ist kein Widerspruch für Sie, Frau Dağdelen.
({0})
Mich wundert aber, dass die Regierungsfraktionen die
Frage gestellt haben, warum wir unsere Gesetzentwürfe
zur Erleichterung der Einbürgerung ausgerechnet jetzt
ins Plenum einbringen. Warum nicht? Das größte Einbürgerungspotenzial liegt bei den türkeistämmigen Einwanderern. Wir haben gerade vor einer Woche das 50-jährige
Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei
und Deutschland gewürdigt. Auch die Regierungsparteien haben sich für die Verdienste dieser Menschen, insbesondere derjenigen der ersten Generation, bedankt.
Meine Oma pflegte immer zu sagen: Was nützt mir eine
trockene Danksagung? Wenn wir uns bedanken, muss
wenigstens ein bisschen Saft dabei sein. - Meine Oma
hatte recht, meine Damen und Herren.
({1})
Herr Kauder, zur Aktualität Ihrer Inhalte beim Staatsangehörigkeitsrecht: Diese sind etwas älter als meine
Oma.
({2})
Deshalb sollten Sie überdenken, ob Sie Ihre Inhalte nicht
ändern wollen. Gerade Einwanderer der ersten Generation besitzen bekanntermaßen lückenhafte Sprachkenntnisse, und ihre Rente reicht trotz jahrzehntelanger Arbeit
oftmals nicht ganz aus. Ausgerechnet diese Menschen
faktisch von der Einbürgerung auszuschließen, ist keine
Danksagung, sondern eher eine Verhöhnung dieser Generation.
({3})
Daher wollen wir mit unserem Gesetzentwurf die Einbürgerung insbesondere für Rentnerinnen und Rentner
sowie für ältere Menschen erleichtern, indem wir uns
mit Kenntnissen der gesprochenen Sprache begnügen
und die Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter
für unschädlich erklären.
Wenn wir die Großmütter und Großväter aufgrund fehlender deutscher Sprachkenntnisse oder fehlender finanzieller Kraft von der Einbürgerung ausschließen, bürgern
wir auch die Enkelkinder emotional aus. Das ist nicht gut
für unser Land.
({4})
Wir müssen den Enkelkindern die Möglichkeit geben,
dass auch sie sagen können, ihre Großeltern seien ebenfalls deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewesen. Das ist gut für unser Land, liebe Freundinnen und
Freunde. Das müssen wir tun.
({5})
Die FDP hat gefragt, warum wir jetzt die Abschaffung des Optionszwangs fordern, obwohl für die jungen
Menschen die gesetzlichen Regelungen gerade erst relevant werden. 50 000 junge Menschen mit Ausbürgerung
zu konfrontieren und dann erst über den Sinn dieser Regelung zu entscheiden, ist keine fürsorgliche liberale
Position, liebe FDP.
({6})
Wir wollen nicht, dass sich viele junge Menschen zwischen den beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden
müssen, mit denen sie groß geworden sind. Herr Stephan
Mayer von der CSU und Herr Schröder haben im Innenausschuss angebliche Loyalitätskonflikte von Doppelstaatlern als Gegenargument vorgeschoben und meinten,
dass ein Mensch nicht Diener zweier Herren sein könne.
Dies zeugt von einem veralteten Staatsverständnis. Individuen sind keine Untertanen der Staaten, sondern stehen als freie Bürger in einem Rechtsverhältnis zu dem
Souverän - mit allen Rechten und Pflichten.
({7})
Unionsbürger können Doppelstaatler sein. Sie müssen
also erklären, warum Menschen Diener von 27 Staaten
sein können, aber nicht von zwei. Diese Erklärung sind
Sie uns schuldig.
({8})
Ich habe gestern im Innenausschuss vorsichtig davor
gewarnt, diese Argumentation auch angesichts der zahlreichen binationalen Ehen nicht zu verwenden. Mit dieser Argumentation diskreditieren sie die binationalen
Ehen und unterstellen den daraus hervorgegangenen
Kindern, dass sie gegenüber Deutschland illoyal wären.
Das ist hirnrissig und ideologisch gesehen verheerend
separatistisch.
({9})
Mehrstaatigkeit ist weder eine Ausnahme noch ein
Tabu, sie ist vielmehr eine Lebenswirklichkeit im Einwanderungsland Deutschland. Lassen Sie uns die Einwanderinnen und Einwanderer nicht ausschließen, sondern sie als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger
gewinnen.
Vielen herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Kollegen Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zur Debatte stehen heute Gesetzentwürfe von
SPD und Grünen sowie ein Antrag der Linken über eine
Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts. Um es gleich
vorweg zu sagen und damit dem Kollegen Mayer recht
zu geben: Sie kommen mit Ihren Anträgen wieder einmal zur Unzeit; denn wir haben im Koalitionsvertrag beschlossen, das Optionsmodell bzw. das Staatsangehörigkeitsrecht generell grundlegend zu überprüfen. Das
nehmen wir ernst. Wir lassen derzeit umfassende wissenschaftliche Untersuchungen dazu durchführen, deren
Ergebnisse im ersten Halbjahr des kommenden Jahres zu
erwarten sind. Damit ist klar: Sie wollen heute mit dem
Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ den Bundestag
wieder einmal zur Bühne für eine Schauveranstaltung
machen. Das machen wir nicht mit.
({0})
Den Gesetzentwürfen der SPD und der Grünen ist unter anderem gemeinsam, dass nicht nur das sogenannte
Optionsmodell abgeschafft werden soll, sondern auch
das Prinzip, mehrfache Staatsangehörigkeit zu vermeiden, aufgegeben werden soll. Auf beide Punkte werde
ich gleich eingehen.
Zuvor noch einige Worte zu dem noch viel weitergehenden Antrag der Linken: Die Linken wollen Einbürgerungen umfassend erleichtern und haben vor, die Staatsangehörigkeit geradezu mit der Gießkanne zu verteilen.
Auf ausreichende Deutschkenntnisse oder Kenntnisse
über unseren Staatsaufbau, unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung, unsere Werte oder unsere Geschichte
will die Linke verzichten und eine Einbürgerung nicht
mehr davon abhängig machen. Wesentliche Grundbedingungen, um ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen zu lassen, fehlen somit. Selbst nicht unerheblich straffälligen
Ausländern oder Ausländern, die sich jahrelang unrechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben, soll der deutsche Pass verliehen werden. Das Einzige, was die Linke
damit befördert, sind Parallelgesellschaften.
({1})
Insgesamt ist das unseres Erachtens ein integrationspolitischer Blindflug. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat für
die Linke ganz offensichtlich weder einen rechtlichen
noch einen emotionalen Wert. Ihre Forderungen offenbaren nur eines: Die Linke hat ein gestörtes Verhältnis zur
nationalen Identifikation. Eine darüber hinausgehende
Auseinandersetzung mit Ihrem Antrag können Sie daher
von uns nicht erwarten.
Ich möchte zunächst Ausführungen zur Optionspflicht
machen. 1999 wurde das Staatsangehörigkeitsrecht geändert. Seitdem kann man die deutsche Staatsangehörigkeit
nicht nur durch Abstammung oder Einbürgerung, sondern auch durch Geburt erwerben. Die damals eingeführte Optionspflicht beinhaltet, dass sich ein Kind mit
Eintritt der Volljährigkeit bis zum 23. Lebensjahr entscheiden muss, ob es die deutsche Staatsangehörigkeit
oder aber die ausländische Staatsbürgerschaft eines seiner Elternteile, die es durch Abstammung erworben hat,
behalten will. Falls es sich in diesen fünf Jahren zwischen dem vollendeten 18. und 23. Lebensjahr nicht entscheidet, geht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren,
und zwar automatisch. Kein Mensch verlangt dabei, persönliche Verbindungen zu anderen Ländern oder familiäre Wurzeln zu kappen. Vielmehr geht es bei der Optionspflicht um die Entscheidung, welchem Land man
mit all seinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten
zugehörig sein will.
Im Zuge des Optionsmodells konnten durch eine
Übergangsregelung auch Kinder, die am 1. Januar 2000
das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, auf
Antrag eingebürgert werden. 50 000 haben davon Gebrauch gemacht. Die ersten dieser Kinder wurden somit
im Jahr 2008 18 Jahre alt und müssen sich deshalb bis
spätestens 2013 entscheiden. In den kommenden Jahren
bis 2017 erreichen jährlich lediglich zwischen rund
4 000 und 6 500 Jugendliche aus der Übergangsregelung
das Optionsalter. Ab dem Jahr 2018 werden es circa
40 000 Jugendliche pro Jahr sein.
Im Koalitionsvertrag unserer christlich-liberalen Koalition haben wir festgehalten, dass wir eine nennenswerte Anzahl der ersten Optionsfälle auswerten und die
Ergebnisse anschließend sowohl in verfahrenstechnischer als auch in materieller Hinsicht auf möglichen Verbesserungsbedarf hin überprüfen wollen. Dazu brauchen
wir über die tatsächlichen Fälle Informationen, die von
den Ländern bis zum 31. Januar 2012 erbeten wurden.
Außerdem ist uns wichtig, zu erfahren, wie die Betroffenen selbst die Sache sehen und welche Entscheidung sie
im Rahmen der Optionspflicht treffen. Genau dies untersucht die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in umfassenden Studien. Die Ergebnisse der Evaluierungen und Studien werden erst in der
ersten Hälfte des Jahres 2012 vorliegen. Schon allein
deshalb sind die vorliegenden Gesetzentwürfe heute abzulehnen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Özoğuz?
Nein, in Anbetracht der vorangeschrittenen Zeit
komme ich zum Ende meiner Rede.
Parallel dazu überprüfen wir generell das Einbürgerungsrecht und das Einbürgerungsverfahren. Sehr erfreulich in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass die
Zahl der Einbürgerungen im letzten Jahr um 5,6 Prozent
im Vergleich zum Vorjahr angestiegen ist, bei einem
leichten Rückgang des Anteils der Einbürgerungen mit
fortbestehender Staatsangehörigkeit.
Wir werben dafür, dass möglichst viele, die die Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, unsere Staatsbürgerschaft annehmen - Herr Kollege Mayer hat bereits
darauf hingewiesen -; denn dadurch wird die Zugehörigkeit zu unserem Land und die wechselseitige Verantwortung seiner Bürger am stärksten ausgedrückt. Wir wollen
aber - darauf kommt es auch mir an - gut integrierte
Ausländer, die Deutschland als ihre Heimat empfinden
und sich einbürgern lassen, weil sie Deutsche werden
wollen, und nicht, weil sie unter Beibehaltung ihrer
Staatsbürgerschaft lediglich die Vorteile einer deutschen
Staatsbürgerschaft zusätzlich in Anspruch nehmen wollen. Das ist ein innerer Prozess, den der Staat fördern
muss. Das ist nicht einfach. Das ist mühsam. Wir sind
der Auffassung, dass SPD und Grüne es sich mit der generellen Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft viel
zu einfach machen. Wir meinen, dass sie integrationspolitisch damit auf dem Holzweg sind.
({0})
SPD und Grüne wollen mit ihren Entwürfen außerdem das völkerrechtlich anerkannte, im deutschen
Staatsangehörigkeitsrecht geltende Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit aufheben. Dies passt im Übrigen genau zu dem, was Ministerpräsident Erdogan bei
seinem Besuch in Deutschland vor wenigen Tagen gesagt hat. Er hat sich nämlich für die Ausweitung der doppelten Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Dazu sage ich:
Das ist mit uns, mit der Union, nicht zu machen. Auch
wenn es in der Praxis zahlreiche Ausnahmen gibt, wollen wir den Grundsatz beibehalten, mehrere Staatsangehörigkeiten zu vermeiden.
({1})
Dafür sprechen, wie bereits angesprochen, mehrere
Gründe, rechtliche, den einzelnen Menschen betreffende
und politische.
Der erste Punkt ist: Mehrere Staatsangehörigkeiten
führen natürlich zu staats- und völkerrechtlichen Problemen.
({2})
Auch wenn diese zu einem großen Teil durch internationale Übereinkommen theoretisch lösbar sind, kann es
praktisch zu Konflikten kommen, was den diplomatischen Schutz, das Steuerrecht, das Strafrecht, das internationale Privatrecht oder die Ausübung politischer
Rechte angeht. Diese Schwierigkeiten sind bei nur einer
Staatsangehörigkeit nicht vorhanden.
({3})
Weiterhin sprechen Gründe, die in der Person des
jeweils Betroffenen liegen, gegen eine generelle Zulassung der Mehrstaatigkeit. Viele Menschen haben insbesondere aus familiären Gründen persönliche Verbindungen zu unterschiedlichen Ländern. Es geht in keiner
Weise darum, diese einzuschränken. Es ist aber unbestreitbar, dass die staatsbürgerliche Zugehörigkeit eines
Menschen zu seinem Land, zu seiner Kultur und Werteordnung zu einer besonderen emotionalen Bindung
führt. Zur Vermeidung von Konflikten sollte im Grundsatz auf eine solche Bindung zu mehreren Staaten verzichtet werden.
({4})
Schließlich ist es politisch der vollkommen falsche
Ansatz, mit der Aushändigung eines Passes die Integration voranbringen zu wollen; auch das wurde schon gesagt. Das beabsichtigen die Antragsteller aber. Damit
würde das Pferd von hinten aufgezäumt; denn die Aushändigung eines Passes muss am Ende und darf nicht am
Anfang eines Integrationsprozesses stehen. Integration
entscheidet sich vielmehr im konkreten Zusammenleben
und nicht formal durch eine doppelte Staatsangehörigkeit. Das heißt, Integration kann nicht mit Papieren ausgehändigt werden. Integration ist vielmehr eine Sache
des Kopfes und des Herzens.
Worauf kommt es für eine gelungene Integration
wirklich an? Höchste Priorität muss haben - das vertreten CDU und CSU -, dass die hier lebenden Ausländer
die deutsche Sprache lernen und beherrschen. Das ist der
Schlüssel für eine gute Bildung und für eine gute Ausbildung. Dies wiederum bildet die Grundlage für berufliche
und gesellschaftliche Teilhabe. Gerade weil wir erkannt
haben, dass Sprachförderung an erster Stelle steht, haben
wir seit dem Jahr 2005 die Integrationskurse, Sprachlehrgänge, Orientierungs- und Alphabetisierungskurse
für Migranten intensiviert und dafür viel Geld in die
Hand genommen.
({5})
Generell hat die CDU/CSU-geführte Bundesregierung seit 2005 das Thema Integration zur Schlüsselaufgabe erkoren und zahlreiche konkrete Maßnahmen ergriffen. Sie alle kennen diese Maßnahmen, aber ich rufe
sie ganz kurz in Erinnerung. Es sind die Programme für
Schulverweigerer, die zusätzlichen Ausbildungsplätze
für Jugendliche mit Migrationshintergrund, eine verbesserte Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse,
die Einführung einer Integrationsbeauftragten im Bundeskanzleramt, die Schaffung eines Integrationsplans
und die Gründung der Deutschen Islam Konferenz im
Jahre 2006 durch Minister Schäuble.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe von SPD und Grünen sowie der Antrag der Linken sind ein großer Rückschritt bei den umfassenden Bemühungen um eine gelungene Integration. Deshalb lehnen wir sie entschieden
ab.
Danke schön.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält Kollege
Omid Nouripour.
Herr Kollege, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil
ich von dem, was Sie beschrieben haben, persönlich betroffen bin. Ich bin so etwas wie ein Kronjuwel der Integration.
({0})
Ich bin im Deutschen Bundestag im Verteidigungsausschuss, also für die Verteidigung des Vaterlandes zuständig. Mein Kind ist blond. Ich habe zwei Pässe. Ich habe
den iranischen Pass, den ich gar nicht abgeben kann, und
ich habe den deutschen Pass. Ich habe keinerlei Schwierigkeiten, das mit mir zu vereinbaren. Ich habe keinerlei
Schwierigkeiten, zu diesem Land loyal zu sein. Ich sitze
im Deutschen Bundestag und vertrete die Menschen in
Deutschland. Wenn ich zu Hause bin, gibt es Momente,
in denen ich eine andere Identität habe.
Ich verstehe schlicht nicht, wie Sie darauf kommen,
hier eine Loyalitätsparanoia aufzubauen.
({1})
Sie greifen ein einziges Merkmal von komplexen Persönlichkeiten auf und reduzieren die Menschen genau
darauf. Sie werden dem menschlichen Wesen damit
nicht gerecht. Sie werden dem Dienst, den auch die
Menschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten in diesem Land leisten, nicht gerecht. Sie werden vor allem
der Loyalität von Hunderten, von Tausenden von Menschen, die in diesem Land schuften, Steuern zahlen etc.
pp. nicht gerecht. Die Menschen haben die gleichen
Pflichten, sie sollten daher auch die gleichen Rechte haben.
({2})
Kollege Wellenreuther, wollen Sie reagieren? - Bitte
schön.
({0})
Herr Kollege Nouripour, ich beglückwünsche Sie sowohl zu Ihrer familiären als auch zu Ihrer staatsbürgerlichen Situation.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Staatsange-
hörigkeitsrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7675, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/773 abzulehnen.
Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlan-
gen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Ist das erfolgt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Die obligate Frage: Haben alle Mitglieder des Hauses
ihre Stimme abgegeben? - Ich höre keinen Protest. Dann
ist das offensichtlich erfolgt.
Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir sind immer noch bei Tagesordnungspunkt 4.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ände-
rung des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7675, den Gesetzentwurf der
Fraktion der Grünen auf Drucksache 17/3411 abzuleh-
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7675
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2351 mit dem Titel „Ausgrenzung been-
den - Einbürgerungen umfassend erleichtern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD
und Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 34 a bis n sowie den Zusatzpunkt 3 a bis c
auf:
34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften ({0}) und zur Änderung weiterer
Gesetze
- Drucksache 17/7576 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Februar 2007 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung des Staates Kuwait über
die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7601 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
1) Ergebnis Seite 16493 D
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Februar 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung des Staates Katar über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7602 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Kroatien über die
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten und der schweren Kriminalität
- Drucksache 17/7603 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien
über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7604 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Kosovo über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7605 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. August 2010 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und dem Ministerkabinett der Ukraine über
die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und anderer Straftaten von erheblicher Bedeutung
- Drucksache 17/7606 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einfuhr und Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten in Deutschland umfassend verbieten
- Drucksache 17/7478 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Ekin Deligöz, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bau der dritten Start- und Landebahn am
Flughafen München Erdinger Moos aussetzen Keine unumkehrbaren Tatsachen schaffen
- Drucksache 17/7479 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen Kontrollen verstärken
- Drucksache 17/7482 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej
Hunko, Dr. Diether Dehm, Thomas Nord, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Europäische Sozialcharta unverzüglich
umsetzen
- Drucksache 17/7484 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer ({12}), Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Konversion von Bundeswehrstandorten als
Entwicklungschance für Kommunen
- Drucksache 17/7504 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({13})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Die Billigkeitsrichtlinie zu den Umstellungskosten aus der Umwidmung von Frequenzen
den Realitäten anpassen
- Drucksache 17/7655 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Volker Beck ({15}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Qualität der Integrationskurse verbessern
- Drucksache 17/7639 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
ZP 3a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/7632 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({16})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas
- Drucksache 17/7612 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Monitoring für versenkte Atommüllfässer im
Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen
weitere Strahlenexposition einleiten
- Drucksache 17/7633 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/7484 - das
betrifft Tagesordnungspunkt 34 k - soll federführend
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis k sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 35 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Spanien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/7318 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({19})
- Drucksache 17/7554 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({20})
Die Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7554, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7318 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes zur Umsetzung der
Richtlinie des Europäischen Parlaments und
des Rates über den strafrechtlichen Schutz der
Umwelt
- Drucksache 17/5391 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21})
- Drucksache 17/7674 16492
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Ingo Egloff
Jörg van Essen
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7674, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5391 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD,
FDP und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes und zur Änderung des
Unterlassungsklagengesetzes
- Drucksache 17/7235 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({22})
- Drucksache 17/7672 Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Heil
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Erik Schweickert
Caren Lay
Nicole Maisch
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7672, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/7235 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({23}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,
Eberhard Gienger, Stephan Mayer ({24}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
Günther ({25}), Dr. Lutz Knopek, Gisela Piltz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klima- und Umweltschutz im und durch den
Sport stärken - Für eine verantwortungsvolle
Sportentwicklung in Deutschland
- Drucksachen 17/5779, 17/7608 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dr. Lutz Knopek
Katrin Kunert
Viola von Cramon-Taubadel
Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7608, den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/5779 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD
bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({26})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 8/11
- Drucksache 17/7668 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Rechtsanwalt Professor Dr. Marcel Kaufmann als Prozessbevollmächtigten
zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Der Tagesordnungspunkt 35 f bis k betrifft die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 331 zu Petitionen
- Drucksache 17/7492 ({28}) Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 331 ist einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 35 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 332 zu Petitionen
- Drucksache 17/7493 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 332 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 333 zu Petitionen
- Drucksache 17/7494 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 333 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 334 zu Petitionen
- Drucksache 17/7495 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 334
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 335 zu Petitionen
- Drucksache 17/7496 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 335 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen
von SPD und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 336 zu Petitionen
- Drucksache 17/7497 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 336 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({34}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth
Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der älter werdenden Gesellschaft gerecht werden - Barrieren in Wohnungen und im Wohnumfeld abbauen
- Drucksachen 17/7188, 17/7630 Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel ({35})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7630, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7188 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Bevor wir zur Aktuellen Stunde kommen, will ich das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, Drucksachen 17/773 und 17/7675, mitteilen:
abgegebene Stimmen 587. Mit Ja haben gestimmt 278,
mit Nein haben gestimmt 308, Enthaltungen 1. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 587;
davon
ja: 278
nein: 308
enthalten: 1
Ja
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({36})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({37})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({38})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Michael Hartmann
({39})
Hubertus Heil ({40})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({41})
Frank Hofmann ({42})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({43})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({44})
Dr. Karl Lauterbach
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({45})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({46})
Michael Roth ({47})
({48})
Axel Schäfer ({49})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({50})
Werner Schieder ({51})
Ulla Schmidt ({52})
Silvia Schmidt ({53})
Carsten Schneider ({54})
Swen Schulz ({55})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({56})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({57})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({58})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({59})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({60})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({61})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({62})
Manfred Behrens ({63})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({64})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({65})
Dirk Fischer ({66})
Axel E. Fischer ({67})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({68})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({69})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({70})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({71})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({72})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({73})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({74})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({75})
Anita Schäfer ({76})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({77})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({78})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({79})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({80})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({81})
Peter Weiß ({82})
Sabine Weiss ({83})
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({84})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({85})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({86})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({87})
Michael Link ({88})
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({89})
Dr. Martin Neumann
({90})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({91})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({92})
Enthalten
SPD
Hans-Ulrich Klose
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Regierungskoalition zur Einführung eines Mindestlohns
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke das Wort.
({93})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der eigentliche Skandal ist, dass wir in regelmäßigen Abständen Milliardenbeträge zur Rettung des
Euro oder der Banken beschließen und dass es seit zwei
Legislaturperioden nicht gelungen ist, Armutslöhne in
dieser Republik durch die Einführung von Mindestlöhnen zu verhindern. Das ist ein Skandal an sich!
({0})
1,2 Millionen Menschen erhalten einen Lohn von
unter 5 Euro. 1,2 Millionen! 3,6 Millionen Menschen
bekommen einen Stundenlohn von unter 7,50 Euro.
14 Prozent der unter 20-Jährigen erhalten Stundenlöhne
von bis zu 5 Euro. Insofern freut es mich natürlich, dass
sich inzwischen bei der CDU zumindest eine Debatte
entwickelt hat, die sich tatsächlich den realen Problemen
der Menschen zuzuwenden scheint. Ich sage aber: zuzuwenden scheint!
91 Prozent der Menschen sprechen sich für eine feste
Lohnuntergrenze aus. Nur 8 Prozent lehnen einen generellen Mindestlohn ab. Das hat laut dpa eine aktuelle
Stern-Umfrage vom 9. November ergeben. Es wurde
also Zeit, dass sich bei Ihnen etwas bewegt. Aber was
bewegt sich denn nun wirklich? Ich würde mich freuen,
wenn die heutige Debatte darüber Auskunft geben
würde, wohin der Weg der CDU beim Thema Mindestlohn eigentlich geht.
Es ist schon bemerkenswert, wenn auf der einen Seite
Herr Laumann, den ich noch zitieren möchte, deutlich
sagt: „Wir müssen Schmutzkonkurrenz beseitigen“, und
auf der anderen Seite Hans Michelbach von der CSU die
Position vertritt, die Festlegung einer Lohnuntergrenze
sei - ich zitiere - „ordnungspolitisch nicht vertretbar, damit können wir nicht leben“.
Wohin geht nun eigentlich die Reise in der CDU? Ich
habe den Eindruck, Sie machen Politik nach dem Motto
„Wenn ich die Menschen nicht überzeugen kann, dann
verwirre ich sie“. Das ist offensichtlich Ihre Position.
({1})
Wenn ich ins Detail gehe und mir ansehe, was Sie eigentlich wollen, dann stelle ich fest, dass ein Teil Ihrer
Fraktion eine Lohnuntergrenze irgendwo auf dem Niveau der Leiharbeit will, zwischen 7,01 Euro und
7,89 Euro. Das entspricht den unterschiedlichen Löhnen
in Ost und West. Ein anderer Teil sagt: „Das wollen wir
eigentlich nicht. Wir wollen nur dort eine Niedriglohngrenze einziehen, wo es keine Tarifverträge gibt.“ Wie
wir wissen, verdienen Friseure im Osten oft weniger als
4 Euro; dort liegen die Tariflöhne unter 4 Euro. Wollen
Sie dort, wo es Tariflöhne gibt, diese 4 Euro beibehalten? Oder wollen Sie dort auch die Untergrenze einführen? Was wollen Sie eigentlich? Das ist aus Ihrer Position in keiner Weise ersichtlich.
({2})
- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann bin
ich gerne bereit, sie zu beantworten. Ansonsten bitte ich
um etwas mehr Disziplin. Das würde Ihnen nicht schaden.
({3})
Lassen Sie uns einmal festhalten, was heute im Brandenburger Landtag beschlossen wurde. Dort wurde beschlossen, und zwar mit Mehrheit der Linken, der SPD
und der Grünen:
Der Landtag fordert die Einführung eines allgemeinen bundesweiten gesetzlichen Mindestlohns, der
für jeden Alleinstehenden bei Vollzeitarbeit existenzsichernd ist.
({4})
Ihre Fraktion hat dagegen gestimmt.
({5})
Weil Sie mich gerade so nett angucken, sage ich es Ihnen ganz persönlich: Was Sie hier betreiben, ist nichts
anderes, als Nebelkerzen zu werfen und so zu tun, als
wären Sie jetzt auch für den gesetzlichen Mindestlohn.
In Wirklichkeit sind Sie sich nicht nur nicht einig, sondern Sie wollen ihn eigentlich nicht. Das ist die Realität.
({6})
Die heutige Debatte könnte dazu beitragen, ein wenig
Licht in die Dunkelheit zu bringen, die Sie verbreiten.
Ich möchte an dieser Stelle gleich auf ein Argument eingehen. Weil Herr Kolb so nachdenklich dasitzt, möchte
ich ihn persönlich ansprechen. Ein Argument gegen einen Mindestlohn, das auch von Ihnen immer in die Welt
gesetzt wird: Ein gesetzlicher Mindestlohn würde Arbeitsplätze kosten. Die Regierung selber hat eine Studie
in Auftrag gegeben.
({7})
- Weil Sie sie nicht veröffentlichen. Denn Sie wissen,
dass das Gegenteil von dem drinsteht, was Sie erwartet
haben, Herr Kolb. Das ist die Realität.
({8})
Aus der Studie geht hervor, dass es keinen negativen
Zusammenhang zwischen der Einführung einer Lohnuntergrenze und einer negativen Beschäftigungsentwicklung gibt.
({9})
Ich habe Verständnis dafür, dass Sie das immer wieder
vertreten, weil Sie nicht wahrhaben wollen, was wahr
ist. Aber Sie haben eine Studie in Auftrag gegeben, in
der herauskommt, was inzwischen schon alle Welt weiß,
nämlich dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns schon aus einem einzigen Grund das Gebot der
Stunde wäre:
({10})
dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können müssen und dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat.
({11})
Wer das verweigert - das machen auch Sie von der
CDU, von der CSU und von der FDP -, der nimmt den
Menschen die Würde. Dagegen werden wir uns weiter
zur Wehr setzen.
({12})
Das Wort hat nun Matthias Zimmer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Ernst, über die Frage, wie wir zum Mindestlohn stehen, werden wir auf dem Parteitag demokratisch entscheiden.
({0})
Dass Sie Probleme mit demokratischer Entscheidungsfindung haben und dadurch verwirrt sind, ist mir völlig
klar.
({1})
Herr Ernst, Sie haben die Studie des Bundesarbeitsministeriums zu den Mindestlöhnen und der Arbeitsplatzverträglichkeit von Mindestlöhnen angesprochen.
Wenn es wirklich so wäre, dass sie unsere Position unterstützt, dann wären wir doch daran interessiert, dass
die Studie herauskommt.
({2})
Sie unterstellen uns irgendwelche dunklen Machenschaften, eine solche Studie nicht zu publizieren. Das ist
in hohem Maße albern.
Meine Damen und Herren, ich glaube schon, dass in
dem Redebeitrag des Kollegen Ernst der Unterschied
zwischen einem CDU-Parteitag und einem Parteitag der
Linken sehr klar geworden ist.
({3})
Wir werden auf unserem Parteitag sehr ernsthaft darüber
diskutieren, ob und inwiefern wir Familien dadurch stützen können, Familiengründungen dadurch unterstützen
können, dass wir ordnungspolitische Leitlinien in den
Arbeitsmarkt integrieren.
({4})
Sie diskutieren darüber, Drogen freizugeben, was zur
Folge hat, dass Familien kaputtgemacht werden und
Elend über die Familien gebracht wird.
({5})
Es ist natürlich schön, dass eine so große Aufmerksamkeit für dieses Thema von Anfang an - schon vor
dem Parteitag - existiert, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Das unterstreicht unsere Bedeutung als führende und gestaltende Partei in der Bundesrepublik.
({6})
Insofern ist es sinnvoll, Ihnen vorab schon die Gelegenheit zu geben, das eine oder andere zu sagen. Auch der
eine oder andere Arbeitgeberverband hat vorab schon etwas dazu gesagt. Darauf will ich ganz kurz eingehen.
Ich bin der Meinung, dass ein Arbeitgeberverband im
Wesentlichen ein Tarifpartner ist. Wenn wir bei den Arbeitgeberverbänden, etwa bei dem Arbeitgeberverband
Gesamtmetall, feststellen, dass zwischen 2005 und 2010
die Anzahl der Mitgliedschaften ohne Tarifbindung um
84 Prozent gestiegen ist, dann ist das für mich ein beunruhigendes Merkmal.
({7})
Damit wird gerade jene Tarifautonomie unterminiert, die
die Tarifpartner doch so deutlich anmahnen. Ich bin der
Meinung, dass hier auch die Arbeitgeberverbände in der
Pflicht sind; denn ein Arbeitgeberverband ist mehr als
ein Country Club mit angeschlossener Rechtsberatung.
({8})
Wir sind unserem Grundprinzip treu geblieben und
sagen: Wir sind gegen gesetzliche Mindestlöhne.
({9})
Wir sind in der Tat der Meinung, dass der Gesetzgeber
der falsche Partner dafür ist, Mindestlöhne festzulegen.
({10})
Vielmehr wollen wir uns an den Tarifpartnern orientieren. Denn ansonsten passiert genau das, was jetzt passiert ist: Es gibt einen Überbietungswettlauf in der
Frage, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein soll.
({11})
Ich kann mich erinnern: Wir fingen einmal an bei 7,50 Euro.
Die SPD ist für 8,50 Euro. Die Linken haben mittlerweile die Höhe des Mindestlohnes, die sie fordern, mit
dem Wahlergebnis synchronisiert, nämlich 10.
({12})
Ich bin mir sicher, dass es der SPD früher oder später
auch noch gelingen wird, den geforderten Mindestlohn
auf die Höhe hochzuschrauben, die ihrem Wahlergebnis
entspricht.
Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht. Wir
sind der Meinung, dass die Tarifpartner weiterhin in der
Pflicht sind, dass die Tarifpartner weiterhin die entscheidende Aufgabe haben, die Lohnuntergrenzen in
Deutschland festzulegen. Wir wollen die Tarifpartner
nicht aus der Pflicht entlassen. Das ist der wesentliche
Impetus unseres Leitantrages, den wir in Leipzig diskutieren werden. Ich bin mir sicher, dass wir zu guten Ergebnissen, vor allen Dingen zu demokratischen Ergebnissen kommen, Herr Ernst. Wir wissen nicht vorab, wie
die Mehrheit der Delegierten entscheidet. Auch das unterscheidet uns von Ihrer Partei, in der Sie das offensichtlich schon vorher genau wissen.
Danke schön.
({13})
Ich erteile das Wort Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Letzte Woche habe ich mich ehrlich gefreut.
Nach jahrelangem Ringen hört man: Die CDU kommt
der Realität einen Schritt näher. Außerdem hört man:
Eine allgemeine, verbindliche Lohnuntergrenze soll auf
dem kommenden Parteitag beschlossen werden. - Das
ist noch etwas unklar. Es reicht mir zwar noch nicht,
aber ich habe mich trotzdem gefreut, weil viele Millionen Menschen draußen, die in miesen Löhnen feststecken, das als Hoffnungssignal verstanden haben. - Das
war letzte Woche.
Diese Woche muss ich feststellen, dass das Ganze zur
Farce mutiert.
({0})
Frau Merkel, der Wackeldackel dieser Bundesregierung,
ist nämlich wieder einmal umgefallen,
({1})
und diesmal in die falsche Richtung. Es ist mittlerweile
so, dass sie eine offene Brüskierung der Sozialpolitiker
und der Arbeitsministerin, die sich prinzipiell positiv
dazu verhalten haben, in Kauf nimmt, indem sie im
Grunde die Lohnuntergrenze zum Schweizer Käse
macht. Wer nämlich behauptet, er wolle eine allgemeine,
verbindliche Lohnuntergrenze, der kann nicht gleichzeitig sagen, dass diese regionale und branchenbezogene
Abweichungen verträgt. Das ist nicht möglich. Das ist
ein Witz. Es wird deswegen mit Ihnen - leider, sage ich keinen Mindestlohn in Deutschland geben. Das ist aber
das, was wir brauchen. Wir brauchen auch keine Belehrungen über die Differenzierung im Tarifsystem. Das
Bundesarbeitsministerium kann darüber Auskunft geben. Wir haben ein hochflexibles Tarifsystem. 60 000
Tarifverträge, die auf die unterschiedlichsten Bedürfnisse eingehen, haben wir bereits.
({2})
Wir stellen trotzdem fest, dass es eine massive Tarifflucht
gibt und Tarifverträge durch sogenannte christliche Gewerkschaften massiv unterlaufen werden. Deswegen sagen wir: Wir brauchen eine Ergänzung, und das kann nur
ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro sein.
({3})
Gerne kann auch eine Mindestlohnkommission eingerichtet werden. Die hat sich zum Beispiel in Großbritannien bewährt. Deswegen gibt es in dieser Hinsicht gar
keinen Widerspruch.
Wenn Sie - das möchte ich Ihnen einmal klar sagen die Tarifautonomie hochhalten, dann sind wir damit
selbstverständlich einverstanden. Die Wahrheit ist aber,
dass die Tarifflucht das mittlerweile in ganzen Regionen,
vor allem in Ostdeutschland, zu einer wirklich leeren
Forderung macht. Sie wissen genau: Die Menschen, die
für 3 Euro oder 4 Euro pro Stunde arbeiten, brauchen
eine klare Aussage darüber, welche Rechte sie haben. Sie
brauchen kein Verwirrspiel: 25 verschiedene Lohnuntergrenzen in einem Bundesland, zum Beispiel in der Pfalz
5,60 Euro, in der Eifel, woher ich komme, 7,20 Euro. Das
kann doch in direkten Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern überhaupt nicht funktionieren.
Das Schönste am Chaos ist die Planung. Wenn Sie das
nächste Mal etwas in Sachen Lohnuntergrenze planen
und den Menschen zum Beispiel eine Verbesserung versprechen, die Menschen aber nur wieder hinter die
Fichte führen, was Sie gerade wieder planen, dann sitzen
Sie in der Opposition. Das ist die gute Nachricht. Das
verspreche ich Ihnen. Die Menschen in Deutschland haben nämlich einen Mindestlohn verdient. Sie können
nicht liefern. Wir werden das erledigen müssen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Ernst, dieser Aktuellen Stunde mit dem
schönen Titel „Haltung der Regierungskoalition zur Einführung eines Mindestlohns“ hätte es nicht bedurft.
({0})
Ein Blick in das Bundesgesetzblatt und in den Koalitionsvertrag hätte genügt. Im Bundesgesetzblatt hätten
Sie gesehen, welche Branchenmindestlöhne diese Koalition eingeführt hat, zum Beispiel in der Pflege oder im
Wach- und Sicherheitsgewerbe.
({1})
Bei der Zeitarbeit sind wir auf dem Weg. Mit einem
Blick in den Koalitionsvertrag hätten Sie sich folgenden
Satz vor Augen führen können: „Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab.“ Das ist die Vereinbarung dieser Koalition, und zu dieser Vereinbarung
stehen wir.
Nun interessiert Sie anscheinend mehr, was die in der
Regierung vertretenen Parteien denken, als das, was die
Regierungskoalition denkt. Ich will Ihnen gerne die
Position der FDP und insbesondere der FDP-Bundestagsfraktion darlegen. Die FDP will faire Löhne.
({2})
Sie will faire Löhne für Arbeitnehmer, die hart arbeiten.
Sie will faire Löhne für Unternehmer,
({3})
die Verantwortung für den Bestand und den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Unternehmen tragen. Aber sie will
auch faire Löhne für Arbeitnehmer, die einen Zugang
zum Arbeitsmarkt suchen. Deswegen lehnen wir einen
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn entschieden ab.
({4})
Hier wird immer so getan - auch Sie, Herr Kollege
Ernst, haben versucht, dieses Bild zu malen -, als ob es
in Deutschland ganz schrecklich sei. Ich lege Wert darauf, festzustellen: Der Normalfall in Deutschland ist,
dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Tarifverträgen oder auch einzelvertraglich auf Löhne einigen, die
auskömmlich und wirtschaftlich vernünftig sind und weder Arbeitsplätze vernichten noch Neueinstellungen verhindern. Das ist die Realität in Deutschland, Herr Ernst,
in der weit überwiegenden Zahl der Fälle.
({5})
Die deutsche Tarifautonomie gibt es nun einmal, und
es ist gut so, dass es sie gibt. Sie besagt, dass sich die
Politik aus der Lohnfindung heraushalten soll. Sie funktioniert und ist das Herzstück unseres Sozialstaats. Sie
ist erfolgreich. Das sieht man daran, dass es nun weniger
als 2,8 Millionen Arbeitslose gibt, nachdem wir noch vor
wenigen Jahren 5 Millionen zu verzeichnen hatten - und
das nach einer schweren, einschneidenden Krise -, und
dass wir die im europäischen Vergleich drittniedrigste
Jugendarbeitslosigkeit haben. Das ist für mich der Beweis dafür, dass die Tarifautonomie in Deutschland
funktioniert.
({6})
Ihre Kritik am Arbeitsmarkt hält einer Überprüfung
häufig nicht stand. Auch in diesem Aufschwung sind die
Tariflöhne real gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt
man, legt man die Zahlen des Statistischen Bundesamtes
zugrunde.
({7})
Der Niedriglohnsektor in Deutschland war politisch gewollt, und zwar von SPD und Grünen.
({8})
Er eröffnet vielen Menschen, gerade geringer qualifizierten, in Deutschland eine Einstiegschance.
Worauf es aber ankommt - diese Unterscheidung will
ich Ihnen hier sehr deutlich machen -, ist Folgendes: Die
weit überwiegende Anzahl der Arbeitgeber entlohnt ihre
Mitarbeiter im Sinne eines ehrbaren Kaufmanns fair. Es
geht aber nicht, dass ein Arbeitgeber einem Mitarbeiter
vor dem Hintergrund des staatlichen Transfers einen geringeren Lohn zahlt, obwohl es ihm eigentlich, gemessen
an der Produktivität seines Unternehmens, möglich
wäre, einen höheren Lohn zu zahlen; das geht nicht.
({9})
- Das sind doch extreme Ausnahmen.
Ich möchte Ihnen schildern, wie es im Moment in
Deutschland aussieht. Die Tarifbindung liegt bei 80 Prozent, 60 Prozent direkt und 20 Prozent durch Bezug16500
nahme. Dabei handelt es sich durchweg um gute, auskömmliche Löhne für die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen der Unternehmen.
({10})
Da, wo es Probleme gab, haben wir - genauso wie die
rot-grüne Koalition und die Große Koalition zuvor - in
den letzten Jahren für 4 Millionen Arbeitnehmer Branchenmindestlöhne eingeführt, die das leisten müssen,
was Sie hier fordern.
({11})
Da, wo es weiße Flecken gibt - das sind nun wirklich die
Ausnahmen -, haben wir ein doppeltes Fangnetz installiert. Es gibt zum einen ein Verbot sittenwidriger Löhne
und zum anderen das Mindestarbeitsbedingungengesetz, das zuletzt unter Ihrer Ägide, Herr Kollege Heil,
geändert wurde. Haben Sie denn damals Mist produziert? Das Gesetz ermöglicht es, genau in den angesprochenen Fällen einzugreifen. Aber die Erfahrungen der
letzten Jahre zeigen: Einen entsprechenden Bedarf gibt
es offensichtlich nicht. Die sozialen Verwerfungen, die
Sie als Voraussetzung hier genannt haben, gibt es eben
nicht.
({12})
Wir wollen keinen gesetzlichen Mindestlohn. Ich
finde es richtig, dass wir darauf achten, dass die Menschen ein ausreichendes Mindesteinkommen haben. Das
ist in der Tat der Fall: Es gibt bei 22 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten gerade einmal
11 000 Vollzeit arbeitende, alleinstehende Beschäftigte,
die aufstocken müssen.
({13})
Das zeigt, dass die Probleme eine andere Dimension haben, als Sie es uns hier weismachen wollen. Deshalb halten wir am Koalitionsvertrag und an der Linie, die wir
bei den Koalitionsverhandlungen vereinbart haben, fest.
Mit uns wird es keinen gesetzlichen flächendeckenden
Mindestlohn geben. Ein Mindestlohn schadet den Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen.
Sie müssen zum Schluss kommen.
Deswegen sollten Sie darüber nachdenken, ob Ihre
Position richtig ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kolb, nichts ist mächtiger als die Idee, deren Zeit gekommen ist,
({0})
und es sieht ganz danach aus, als würde die Zeit auf Sie
keine Rücksicht mehr nehmen. Die Zeit geht über die
FDP hinweg.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus
Ernst ({1})
Es gibt einen einzigen Fortschritt: Wir haben bislang
hier in diesem Parlament noch keine Mindestlohndiskussion geführt, in der wir nicht ausführlich begründen
mussten, warum ein Mindestlohn in Deutschland notwendig ist. Dass nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen
wird, dass wir einen Mindestlohn brauchen, dazu haben
die Gutachten, die diese Bundesregierung in Auftrag gegeben hat, einen Beitrag geleistet.
({2})
Wir haben es jetzt schwarz auf weiß, Herr Kolb, dass
Ihre Behauptung, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze
vernichten, einfach falsch ist. Das hat lange gedauert,
aber wir diskutieren heute nicht mehr über die Frage, ob
ein Mindestlohn eingeführt werden soll, sondern über
die Frage, wie der Mindestlohn ausgestaltet werden soll.
Das ist in der Tat eine ziemlich entscheidende Frage.
Was ist denn von dem Merkel-Mindestlohn nach dem
mehrmaligen Zurückrudern übrig geblieben? Ich kann
dazu nur sagen: Dabei handelt es sich um einen Scheinriesen; denn je näher Sie ihn mit der Lupe untersuchen,
desto kleiner wird er.
({3})
Er soll erstens nur für die Branchen gelten, in denen es
keine Tariflöhne gibt. Aber was heißt das konkret? Die
Friseurin in Sachsen mit einem Verdienst von 3,06 Euro
in der Stunde hat keinen Cent mehr in der Tasche. Das
Gleiche gilt für die Floristin in Thüringen. Das gilt auch
für eine hohe Zahl an Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe, beim Gartenbau und in der Landwirtschaft. Für all diejenigen ändert sich durch den MerkelMindestlohn gar nichts.
({4})
Mit anderen Worten: Beim Merkel-Mindestlohn gehen
Sie davon aus, dass Hungerlöhne dann akzeptabel sind,
wenn sie den tariflichen Segen haben. Das ist eine Einladung an die Arbeitgeber zu Dumpinglöhnen. Das werden wir nicht mitmachen.
({5})
Zweitens. Der Merkel-Mindestlohn sieht keine einheitliche Lohnuntergrenze vor. Da kann ich mit Herrn
Laumann wirklich nur sagen: Auch ich kann mir kein
Deutschland vorstellen, in dem es 500 unterschiedliche
Lohnuntergrenzen gibt. Dieser Flickenteppich wäre im
Übrigen auch eine Zumutung für die Wirtschaft. Das
werden wir nicht mitmachen.
({6})
Dann wollen wir einmal schauen, was sich eigentlich
bei Ihrer Mindestlohnkommission herauskristallisiert.
Eine Mindestlohnkommission in der Art, wie Sie sie sich
vorstellen, haben wir schon. Wir haben sie in Form des
Hauptausschusses gemäß Mindestarbeitsbedingungengesetz, und zwar seit 2009. Bislang hat dieser Hauptausschuss nicht einen einzigen Mindestlohn durchgesetzt.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie Ihrer Mindestlohnkommission
keinen anderen Geist einhauchen, dann wird sich nichts,
aber auch gar nichts im Bereich Dumpinglöhne ändern.
({7})
Ich befürchte, genau das ist Ihr Ziel. Der Mindestlohn,
den Sie diskutieren, ist nichts anderes als weiße Salbe.
Deswegen hat, wie ich befürchte, Michael Fuchs, der
Vertreter Ihres Wirtschaftsflügels, recht. Er hat nämlich
auf die Frage der Leipziger Volkszeitung, was sich durch
die von der CDU vorgesehene Lohnuntergrenze ändern
würde, gesagt: „Nichts, rein gar nichts.“ Das wollen wir
aber nicht. Wir wollen einen echten Mindestlohn, und
wir wollen, dass es zu einer echten sozialpolitischen
Kehrtwende, zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität
kommt.
({8})
Frau Merkel verfolgt wahltaktische und machtstrategische Ziele mit der Mindestlohndiskussion.
({9})
Sie will ein Wahlkampfthema vom Tisch räumen, und
sie will sich hübsch machen für andere Koalitionspartner, mit Vorliebe für eine Große Koalition.
({10})
- Das will ich einmal hoffen, Hubertus. Auf euch ist ja
nicht so viel Verlass.
({11})
Dass sie mit der FDP keinen Staat mehr machen kann,
hat sich ja bis zu ihr herumgesprochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Merkel-Mindestlohn geht es um nichts anderes als um der Kaiserin
neue Kleider. Diese neuen Kleider sollen in diesem Fall
sozialpolitischer Natur sein. Aber für die Beschäftigten
im Niedriglohnsektor geht es wahrlich um mehr. Sie stehen vor der Frage: Lohngerechtigkeit oder Weiter-so mit
Schwarz-Gelb? Wir wissen, wo wir stehen, meine Damen und Herren!
({12})
Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte geht über unsere Haltung als Regierungskoalition zum Thema Mindestlohn.
({0})
Wenn Sie, Frau Kollegin Pothmer, jedoch die ganze Zeit
von einem Merkel-Mindestlohn reden, kann ich Ihnen
nur entgegnen: Sie reden von einer Phantomsituation.
Wir führen diese Debatte nämlich erst.
({1})
Eine große Volkspartei führt eine Debatte, und wir wollen das auch in aller Breite diskutieren. In diesem Prozess befinden wir uns. Wir haben noch keinen MerkelMindestlohn festgelegt.
({2})
Es verwundert mich, dass sowohl von der Opposition,
insbesondere von den Linken, als auch in der Presse und
der Öffentlichkeit so getan wird, als ob es an der Stelle
schon einen grundlegenden Richtungswechsel gäbe. In
Deutschland wurde 1997 - Helmut Kohl war an der Regierung - zum ersten Mal ein Mindestlohn eingeführt,
und zwar in der Elektrobranche.
({3})
Da fällt mir die Werbung für ein bestimmtes Bonbon ein:
„Wer hat’s erfunden?“ - Wir haben den Mindestlohn
nicht erfunden, wohl aber in die Tat umgesetzt.
({4})
Mindestlöhne gelten inzwischen in verschiedenen Branchen, und sie leisten - so Frau von der Leyen am letzten
Sonntag - „einen großen Beitrag“ auch zu unserem Jobwunder.
({5})
Jetzt wird - je länger, desto mehr - thematisiert, dass es
noch Bereiche gibt, die ebenfalls eine solche Lohnuntergrenze brauchen. Diese Diskussion beginnt aber nicht
erst jetzt, wie Sie, Herr Ernst, vorhin gesagt haben. Nein,
wir wollen seit Monaten dieses Thema behandeln.
({6})
Wir sind dabei. Auch die CDA hat ihren Teil beigetragen
und, ebenfalls durch Frau von der Leyen, Stellung bezogen in dieser Debatte. Das ist vielleicht der Unterschied:
Wir wollen eben nicht nur von politischen Forderungen
getrieben handeln,
({7})
sondern ordentliche Arbeit abliefern. Wir wollen keinen
Überbietungswettbewerb und keinen Unterbietungswettbewerb.
({8})
Weil wir gute Arbeit machen wollen,
({9})
hat die Bundesregierung den Auftrag im Koalitionsvertrag ernst genommen und ein entsprechendes Gutachten
erstellen lassen.
({10})
Sie hat verschiedene Branchenmindestlöhne von verschiedenen Institutionen untersuchen lassen. Es geht
also nicht, wie Sie hier mutmaßen, um einen allgemeinen Mindestlohn, sondern es sind einzelne Branchenmindestlöhne untersucht worden.
({11})
Auf die Ergebnisse der Evaluation bin ich sehr gespannt.
Worum geht es uns? Sie haben mich danach gefragt,
und Sie fragen in dieser Debatte danach. Die FDP hat für
sich Stellung genommen, ich möchte das für uns tun. Die
Schnittmenge ist sehr groß. Wir wollen in einer spannenden und, wie ich finde, angemessenen Diskussion einen
Weg suchen, wie wir einer gerechten Entlohnung noch
näher kommen können.
({12})
Ich müsste Ihrer Meinung nach, Frau Nahles, brüskiert
sein als Sozialpolitiker, aber das bin ich nicht. Was ist
denn gerechter Lohn? Bezieht er sich auf, wie von Ihnen
genannt, die Friseurin in Sachsen oder auf die in Rheinland-Pfalz auf dem Land lebende Helferin im Drogeriemarkt, die mit 5,30 Euro zufrieden sein muss? Oder
muss man noch andere Gerechtigkeitsfaktoren betrachten: den Markt als solches,
({13})
die Leistung, wie sie gerade genannt wurde, die Situation - es gibt einen Unterschied zwischen dem Gehalt im
Erzgebirge und dem Gehalt in München -, den Aufwand
und den Bedarf? Es kennzeichnet den sozialen Rechtsstaat, in dem ich froh bin leben zu dürfen,
({14})
dass Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in ein menschengerechtes Verhältnis zueinander gesetzt werden.
Ich zitiere, was am vergangenen Sonntag in Chemnitz, meiner Stadt, gesagt wurde: Sprechen Sie nicht
über Mindestlöhne - wir sprechen heute nicht direkt darüber,
({15})
das ist aber der Konsens heute Morgen -, sondern über
Löhne, von denen Menschen in Würde ihr Leben gestalten können.
Prinzipiell ist es richtig, dass jeder, der vollerwerbstätig ist, ohne Unterstützung des Staates auskommen
sollte.
({16})
Aber hier gilt es zu differenzieren. Wenn ich - ich war
selber Sozialhilfeempfänger - für meine Familie Hartz IV
beantrage, dann liegt dieser Satz bei ungefähr
2 700 Euro. Der Lohn, den ich demnach verdienen
müsste, um in Würde leben zu können, liegt bei etwa
16 bis 17 Euro pro Stunde. Das könnte Anlass geben, in
dem von Ihnen betriebenen Überbietungswettbewerb
mitzuspielen. Das wollen wir aber nicht. Es gibt für uns
zwei verschiedene Kategorien von Mindestlöhnen: den
gesetzlich festgelegten Mindestlohn, flächendeckend für
alle Regionen und Branchen - den lehnen wir ab -,
({17})
und den von den Tarifpartnern ausgehandelten spezifischen, für die Branche festgelegten Mindestlohn, der
vom Gesetzgeber als allgemeinverbindlich erklärt werden kann.
({18})
Wir wollen das Erste nicht, am Zweiten arbeiten wir, und
wir wollen das erweitern.
Die Höhe darf nicht von der Politik, sondern muss
von den Tarifparteien entschieden werden, unterstützt
und ermutigt von Politik und Wissenschaft. Ein Vorschlag dafür lautet, dass wir uns an den in der Zeitarbeit
ausgehandelten Mindestlohn anlehnen.
({19})
Auch hier bin ich gespannt auf die Diskussion in den
nächsten Tagen und darauf, wie die Verhandlungen der
Tarifpartner sich entwickeln werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. - Neben dem hohen Gut der
Tarifautonomie selbst und dem oft eingeforderten
Grundsatz der Solidarität ist es ein großer Gewinn, dass
wir in der sozialen Marktwirtschaft von Subsidiarität reden: So wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig.
Herr Kollege!
Ich bin der Überzeugung - das hat auch der Staatssekretär gestern im Ausschuss gesagt -: Die Tarifparteien
können das. Wir werden sie dazu ermuntern.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, zu dieser Frage hätte
uns die Haltung der Bundesregierung interessiert. In der
gestrigen Debatte über das Betreuungsgeld war Ihre Kollegin Schröder so mutig, zu versuchen, uns ihren Standpunkt zu erklären.
({0})
Was Sie meinen, das lesen wir in der Bild am Sonntag.
Als ich Ihr Interview gelesen habe, erging es mir wie
meiner Kollegin Nahles. Ich dachte nämlich: Hossa, die
Waldfee! Da bewegt sich etwas.
Herr Kober, Sie sind von Hause aus evangelischer
Theologe. Ich bin evangelischer Christ. Daher ist folgender Satz nahe liegend: Im Himmel ist mehr Freude über
einen reuigen Sünder als über 100 Gerechte. - Zu
Deutsch: Wenn Sie sich in Sachen Mindestlohn tatsächlich unseren Vorschlägen anschließen, Frau von der
Leyen, dann würden wir das nicht kritisieren.
({1})
An dieser Stelle sage ich aber ganz klar: Die Diskussion
bei Ihnen hat sich in den letzten Tagen zerbröselt. Sie
wissen nicht nur nicht, was Sie wollen, Sie wissen auch
nicht, was Sie tun.
({2})
Es gibt da die buntesten Vorschläge. Frau von der Leyen,
ich befürchte, dass am Ende Herr Laumann recht hat, der
heute in einem Interview gesagt hat, er rechne angesichts
der Verhältnisse in seiner Partei und bei seinem Koalitionspartner nicht damit, dass sich in dieser Legislaturperiode in dieser Sache überhaupt etwas tut. Das ist die
schlechte Nachricht für die Menschen in Deutschland.
({3})
Ich sage Ihnen ganz offen: Das künstliche Auseinanderdividieren von über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffenen tarifvertraglichen Mindestlöhnen und
einer allgemeinen Lohnuntergrenze bzw. eines gesetzlichen Mindestlohnes, der diesen Namen auch verdient,
wird der Sache nicht gerecht. Sie könnten ohne Weiteres
etwas dafür tun, dass tarifvertragliche Mindestlöhne einfacher vereinbart werden können - das haben wir Ihnen
im Frühjahr vorgeschlagen -, indem Sie allen Branchen
diese Möglichkeit im Arbeitnehmer-Entsendegesetz eröffnen. Sie tun es nicht, weil sich die CDU nicht gegen
die FDP durchsetzen konnte. Das ist an dieser Stelle die
Wahrheit.
Für jede neu hinzukommende Branche müssen wir
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sozusagen anfassen.
Bisher gilt es nämlich nur für zehn Branchen. Es ist daher ein zähes Ringen um tarifvertragliche Mindestlöhne;
denn erstens muss eine neue Regelung, was den Kreis
der betroffenen Branchen angeht, in das Gesetz aufgenommen werden, und zweitens muss die Mehrheit im
Tarifausschuss entscheiden. Das zu ändern, wäre der
erste Schritt, den wir machen könnten.
Wir Sozialdemokraten wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Mindestlöhne. Darum haben wir Jahr für
Jahr gekämpft - dies mussten wir Ihnen auch in den Verhandlungen im Frühjahr Branche um Branche abringen -,
und deshalb sind wir so weit gekommen.
({4})
Wir wollen, wie gesagt, einen Vorrang der Tarifautonomie. Wir wollen aber auch die Möglichkeit für tarifvertragliche Mindestlöhne weiter ausbauen. Daneben brauchen wir eine Lohnuntergrenze, also einen allgemeinen
gesetzlichen Mindestlohn, als untere Auffanglinie.
({5})
Ich sage Ihnen auch, warum. Die Kollegin Pothmer hat
nämlich vollkommen recht: In einigen Bereichen gibt es
Tarifverträge, die diesen Namen nicht mehr verdienen.
Das liegt an der Tarifflucht auf Arbeitgeberseite und
auch an der Tatsache, dass es für Gewerkschaften in vielen Branchen außerordentlich schwierig ist, sich zu organisieren. Das ist die Wahrheit.
Der Mindestlohn ist notwendig, weil beispielsweise
ein Stundenlohn von - wenn ich mich richtig erinnere 3,12 Euro im Friseurgewerbe in Sachsen leider Gottes
Bestandteil eines Tarifvertrages ist.
({6})
Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Die Tarifautonomie hat
sich jahrzehntelang bewährt. Wer die Augen aber davor
verschließt, dass die aktuelle Entwicklung, die sich in
Hubertus Heil ({7})
der Tarifflucht und in der aktuellen Schwäche auf Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite zeigt, dazu geführt
hat, dass Lohnfindungsprozesse bei 3,12 Euro oder bei
3,06 Euro enden, der muss handeln. Deshalb sage ich Ihnen: Es ist nicht akzeptabel, dass Sie sich hier hinstellen,
rumeiern und die verschiedensten Vorschläge machen.
Für die Öffentlichkeit und für die betroffenen Menschen
ist es vollkommen uninteressant, welcher Flügel der
CDU sich in dieser Frage durchsetzt. Es zählen Taten. Es
gilt der Satz von Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
({8})
Frau Ministerin, Sie haben in der Bild am Sonntag angekündigt, dass Sie noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzesvorschlag machen wollen. Nach Ihrem
Leipziger Parteitag werde ich Sie täglich fragen, wann
Sie liefern.
({9})
Ich kann Ihnen aber nur die alte Kaufmannsweisheit entgegenhalten: Man kann nur liefern, wenn man etwas auf
Lager hat. Diese Koalition hat nichts auf Lager. Das
führt zu dem Ergebnis, dass Sie manchmal Expertisen,
die Ihnen nicht in den Kram passen, unterdrücken.
({10})
Das angesprochene Gutachten von renommierten Instituten wie IAQ, IAW, IAB und ZEW im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, mit Steuergeldern bezahlt, liegt Ihnen doch seit dem 31. August vor.
Frau Ministerin, es ist ganz interessant, dass man mit einem wissenschaftlichen Gutachten erst einmal in die
Ressortabstimmung mit FDP-Ministern eintreten muss,
um zu schauen, ob einem die Ergebnisse passen. Das ist
ein dickes Ding, das Sie sich da leisten.
({11})
Dieses Gutachten beleuchtet die Arbeitsplatzeffekte
der tarifvertraglichen Mindestlöhne in den Branchen.
Daraus ergibt sich, dass das, was die FDP seit Jahren behauptet, dass nämlich Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten würden, schlicht und ergreifend Unsinn ist.
({12})
- Wenn Sie schon nicht auf uns hören, Herr Kolb, dann
will ich Ihnen einen Rat von einem Menschen geben,
dem sie vielleicht mehr zutrauen als uns; das kann ja
sein.
({13})
Ich zitiere:
Ein Mensch muss von seiner Arbeit leben können
und sein Lohn muss wenigstens existenzsichernd
sein! Ja, er sollte in der Regel etwas höher sein. Anderenfalls wäre es nicht möglich, eine Familie zu
ernähren.
Wissen Sie, wer das schrieb, Herr Kolb?
({14})
- Nein, das ist kein Papst gewesen, sondern das war ein
gewisser Adam Smith im Jahre 1776. 235 Jahre nach
dem Urvater der liberalen Vorstellung von Marktwirtschaft haben Sie es immer noch nicht begriffen.
({15})
Ich sage Ihnen: Das werden die Menschen Ihnen nicht
mehr durchgehen lassen. Frau Merkel kann nicht länger
rumeiern. Wir werden Sie stellen; wir werden Sie auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen,
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- und wir werden unseren Gesetzentwurf einbringen,
weil es uns darum geht, dass Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben können.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Johannes
Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wird nach der
Haltung der Regierungskoalition gefragt. Sie ist im Koalitionsvertrag ganz klar niedergelegt - darauf wurde
schon hingewiesen -: Einen allgemeinen gesetzlichen
Mindestlohn wollen wir nicht. Warum denn, Herr Heil?
({0})
- Nein, Frau Kollegin Pothmer. - Warum denn? Lassen
Sie uns einmal im Detail darüber reden.
Sie haben vorhin die Realität in Deutschland beschrieben. Wir alle wollen, dass die Menschen von ihrem Lohn leben können.
({1})
Bei der Debatte müssen wir uns eines klarmachen. Es
geht um Fairness gegenüber drei Gruppen, erstens gegenüber den Arbeitnehmern, die gute Löhne wollen. Das
wollen wir alle, deswegen tun wir mehr für Qualifikation
- und zwar mehr, als Sie getan haben, liebe Kolleginnen
Johannes Vogel ({2})
und Kollegen -, gerade von beschäftigten Arbeitnehmern.
({3})
Zweitens geht es um Fairness gegenüber Arbeitgebern und Unternehmen, die die Löhne zahlen können
müssen. Drittens schließlich geht es um Fairness gegenüber denjenigen, die erst auf den Arbeitsmarkt wollen.
Das ist doch die Voraussetzung für alles Weitere. Echte
Teilhabe in der Gesellschaft ist natürlich am besten möglich, wenn man auf dem Arbeitsmarkt dabei ist. Das
müssen wir im Blick haben.
Zum deutschen Jobwunder gehört die Tarifautonomie, das heißt, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft
die Löhne von den Tarifpartnern ausgehandelt werden.
Das dürfen wir nicht gefährden. Genau das fordern Sie
aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Schauen wir uns doch einmal an, wie die Lage ist,
Herr Heil! Wie viele Menschen in Deutschland können
denn nicht von ihrem Lohn leben?
({4})
Es wird immer die Zahl von 1,4 Millionen Aufstockern
genannt. Von dieser Gruppe arbeiten 900 000 nur in Teilzeit. Hier ist nicht die Lohnhöhe das Problem, sondern
die Arbeitszeit. Warum ist das so? Weil Sie die Hinzuverdienstgrenzen bei Hartz IV so ausgestaltet haben,
dass man kaum aus diesen Grenzen herauswachsen
kann. Dieses Problem wollen wir uns im nächsten Jahr
noch einmal vornehmen.
({5})
125 000 Menschen aus dieser Gruppe sind selbstständig. Man muss untersuchen, ob diese Menschen ein gutes Geschäftsmodell als Grundlage haben und was man
für sie tun kann, um gegebenenfalls nachzubessern. Hier
geht es nicht um die Lohnhöhe.
300 000 Menschen arbeiten Vollzeit und stocken auf.
Herr Heil, die weit überwiegende Zahl dieser Menschen
stockt aber nicht auf, weil die Lohnhöhe so niedrig ist,
sondern weil sie eine große Familie haben. Das muss
man einmal sagen. Es ist eine sozialpolitische Errungenschaft in diesem Land, dass wir Familien nicht alleine
lassen, sondern ihre wirtschaftliche Lage verbessern.
({6})
Die Frage lautet: Wie gehen wir als Staat damit um,
dass wir den Vorrang für Tarifpartner wollen, dass wir
natürlich - der Kollege Kolb hat es ausgeführt - nicht
wollen, dass es einzelne schwarze Schafe unter den Unternehmen gibt, die einen niedrigeren Lohn zahlen als
sie könnten?
({7})
Wie schafft man das? Die Tarifautonomie hat sich bewährt. Daher ist wohl klar, dass man in drei Schritten
vorgeht. Für die 80 Prozent der Beschäftigten in
Deutschland, die tarifgebunden sind, funktioniert die Tarifautonomie.
({8})
Hier brauchen wir keine Lösung, weil das Ganze bei den
Tarifpartnern richtig funktioniert.
In diesem Zusammenhang werden immer die Friseure
aus Thüringen angeführt. Wenn wir ehrlich miteinander
debattieren wollen, dann gehört hier auch dazu, dass dieser Friseurtarifvertrag aus Thüringen,
({9})
eine wesentliche Umsatzbeteiligung vorsieht.
({10})
Das heißt, es ist unfair, wenn Sie nur auf die Lohnhöhe
schauen. Das können Sie gar nicht vergleichen. Die Gewerkschaften, denen Sie offenbar nicht mehr vertrauen,
Herr Heil, machen in unserem Land bei der Lohnfindung
keinen Unsinn.
Bei den Branchen, in denen es einzelne schwarze
Schafe gibt, besteht die Möglichkeit, die unterste Lohnhöhe für allgemeinverbindlich zu erklären.
({11})
Das hat diese Regierungskoalition in mehr Fällen getan
als Sie in der rot-grünen Regierungszeit.
({12})
Der Unterschied zum allgemeinen Mindestlohn, den Sie
wollen, ist eben nur: Hier liegt die Lohnfindung weiterhin in den Händen der Tarifpartner und nicht hier im
Deutschen Bundestag, in den Händen von Herrn Ernst
und anderen.
({13})
Das wollen wir so lassen.
({14})
- Nein.
Johannes Vogel ({15})
({16})
- Nein, wir reden nichts schön; wir stellen die Realität in
Deutschland dar. Dazu gehört eben, dass wir das deutsche Jobwunder haben und die Löhne in der Regel auskömmlich sind.
({17})
Das können wir nicht erhalten, indem wir uns einer Politik anschließen, die alles zurückdreht und alles verändern will, was dieses deutsche Jobwunder ausmacht. Das
wäre eine Unverschämtheit gegenüber den Menschen,
die dann arbeitslos werden, Herr Kollege Heil. Schauen
Sie sich doch einmal im europäischen Ausland um! Das
wollen wir nicht.
({18})
- Ja, Herr Ernst. Er spielt eine wesentliche Rolle bei der
Frage der hohen Arbeitslosigkeit.
Bleiben wir aber bei dem Fall. Für die wenigen weißen Flecken gibt es in Deutschland sogar das Mindestarbeitsbedingungengesetz.
({19})
Wir können eine Lösung für diese Branchen finden.
Wenn Sie mehr wollen,
({20})
dann müssen Sie zugeben: Sie wollen einen allgemeinen
Mindestlohn; das sagen Sie auch offen.
({21})
Ich sage Ihnen: Ein allgemeiner Mindestlohn, eine allgemeine politische Lohnuntergrenze, die von Aachen bis
Cottbus und von Flensburg bis Konstanz gilt und für alle
Branchen identisch ist, wird nicht zu höheren Löhnen,
sondern zu höherer Arbeitslosigkeit führen.
({22})
Deshalb werden wir weiter differenzierte Lösungen finden, die den Menschen wirklich helfen, und die Tarifautonomie als wesentliches Element der sozialen Marktwirtschaft achten, und das ist auch gut so.
Vielen Dank.
({23})
Das war unser Kollege Johannes Vogel für die FDPFraktion. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Jutta Krellmann. Bitte schön, Frau Kollegin Jutta Krellmann.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte da anknüpfen, wo
mein Kollege Klaus Ernst aufgehört hat,
({0})
nämlich bei Art. 1 Grundgesetz - ich zitiere daraus, damit auch Sie es verstehen -: „Die Würde des Menschen
ist unantastbar.“ Zur Würde gehört auch, dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können.
({1})
Das ist seit zehn Jahren zunehmend nicht mehr der Fall:
23 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnbereich. In der Exportnation Deutschland gibt es Löhne unter 5 Euro. Das kann doch gar nicht wahr sein; das ist ein
echter Skandal.
({2})
Herr Kolb sagte, dass es 11 000 Aufstocker gibt. Damit kann er doch nur seinen Landkreis in der Nähe von
Frankfurt meinen.
({3})
Für Deutschland gilt das nicht. Das gilt vielleicht für Babenhausen. Mein Kollege Klaus Ernst hat die Antwort
der Bundesregierung auf die Frage, wie viele vollzeitbeschäftigte Aufstocker es in Deutschland gibt: 326 000,
nicht 11 000.
({4})
Insofern ist es gut, dass die CDU auf ihrem Parteitag das
Fenster für den Mindestlohn aufmachen will. Links
wirkt!
({5})
Aber was wollen Sie jetzt machen? Die Informationen werden immer diffuser und - wir haben Herbst - immer vernebelter. Die Informationen, die ich habe, sind
aus dem Text des Antrages für den CDU-Parteitag - ich
zitiere -:
Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine
allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den
Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich
festgelegter Lohn nicht existiert.
({6})
Jetzt geht das Geschacher los:
({7})
Frau Merkel spricht sich für eine Lohnuntergrenze aus.
Ja, toll. Das verbindet sie aber mit dem Ziel: keine Anbindung an die Löhne in der Leiharbeit. Abweichungen
nach unten sollen möglich sein.
({8})
Auch ich will keine Anbindung an die Löhne in der
Leiharbeit - das sage ich ganz deutlich -, nicht weil mir
das zu viel ist, sondern weil mir das eindeutig zu wenig
ist.
({9})
7,89 Euro im Westen und 7,01 Euro im Osten sind mir
einfach zu wenig. Unsere Forderung ist: 10 Euro für alle.
({10})
Frau Merkel macht einen Knicks vor der Arbeitgeberlobby.
({11})
Ich kann nicht verstehen, wieso sich die Ostfrau Merkel
nicht für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West
einsetzt, obwohl sie selbst aus dem Osten kommt.
({12})
Ich als Urwessi setze mich dafür ein, weil ich die
Schnauze voll davon habe, dass alle toll finden, dass die
Mauer weg ist, Sie aber nichts tun, damit sich die Lebensverhältnisse in irgendeiner Form angleichen nichts!
({13})
Meine Damen und Herren aus der CDU, Sie haben
mit Ihrer Diskussion Erwartungen bei den Menschen geweckt,
({14})
nämlich die Erwartungen, dass das Zimmermädchen im
Hotel, der Kellner im Restaurant, die Beschäftigten im
Callcenter, die Eisverkäuferin im Freizeitpark, der Toilettenmann auf der Autobahnraststätte endlich einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn erwarten können.
85 Prozent der Menschen haben sich nach einer aktuellen Umfrage dafür ausgesprochen.
Aber die herbstliche Vernebelung geht weiter. Aktuelle Stichpunkte aus der Debatte sind: Die Tarifvertragsparteien sollen sich am besten ohne Staat und ohne Wissenschaft auf eine Lohnuntergrenze einigen - aber nur in
Branchen, in denen es keine Tarifbindung gibt - und regionale Unterschiede zulassen.
Auf gut Deutsch heißt das: Mit der CDU wird es keinen Mindestlohn geben. Mit der CDU wird das Gerangel
um Branchenmindestlöhne weitergehen. Im Grunde haben wir bereits Branchenmindestlöhne; das wurde schon
mehrfach angesprochen. Gewerkschaften werden in die
Situation gebracht, mit Arbeitgebern über Sachen zu
verhandeln, die die Arbeitgeber eigentlich gar nicht wollen, und zu Bedingungen, die die Arbeitgeber diktieren.
Das, Kolleginnen und Kollegen, ist die Aufforderung
zum kollektiven Betteln.
({15})
Branchentarifverträge funktionieren dort, wo Gewerkschaften die Verhandlungsmacht haben dank kollektiver
Mitgliedschaft sowie der Drohung, im Zweifel das Recht
der kollektiven Arbeitsniederlegung, nämlich das Streikrecht nach Art. 9 des Grundgesetzes, wahrzunehmen.
Das Streikrecht steht in Verbindung mit Tarifverträgen. Das eine funktioniert ohne das andere nicht. Zu sagen: „Die Gewerkschaften sollen jetzt endlich einmal
verhandeln“, ist doch Blödsinn.
({16})
Wenn Gewerkschaften nicht die Möglichkeit haben, zu
Arbeitsniederlegungen aufzurufen, wird es keine Tarifverträge geben, sondern dann bleibt es beim kollektiven
Betteln.
({17})
Sie haben Erwartungen bei den Menschen geweckt.
Ich möchte Sie auffordern: Erfüllen Sie die Erwartungen!
({18})
Die Menschen erwarten einen Mindestlohn, der für alle
gilt und der nach unserer Position 10 Euro betragen soll.
Tun Sie etwas, bewegen Sie sich und machen Sie das
Fenster wieder zu, das Sie selbst geöffnet haben!
({19})
Vielen Dank.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. - Jetzt für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger.
Bitte schön, Kollege Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Frau Kollegin Krellmann, Sie haben sich gerade darüber ausgelassen, dass die Frau Bundeskanzlerin und die Bundesregierung nichts für die Angleichung der Lebensverhältnisse
im Osten und Westen tun würden.
({0})
Ich möchte zunächst feststellen: Sie von der linken
Seite waren überhaupt einmal gegen die Wiedervereinigung - vor allen Dingen Ihr Fraktionsvorsitzender, der
gerade den Saal verlässt.
({1})
Damit wären den Menschen gute Lebensverhältnisse
vorenthalten worden. Das ist letztlich der Punkt hier.
Darüber hinaus möchte ich auch daran erinnern, dass
mittlerweile viele Löhne in Ost und West zu 100 Prozent
angeglichen worden sind, zum Beispiel im Metallbereich.
({2})
Das ist mit entscheidend dafür, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen im Osten so großartig entwickeln - dies nur mit der Garantie dieser Bundesregierung. Das wäre garantiert nicht der Fall, wenn Sie
Verantwortung tragen würden.
({3})
Werte Kolleginnen und Kollegen, der Titel der Aktuellen Stunde lautet: Haltung der Regierungskoalitionen
zur Einführung eines Mindestlohns.
({4})
- Herr Kollege Heil, von den Linken wurde also offensichtlich die falsche Frage gestellt. Denn Sie haben bemängelt, dass die Bundesregierung nicht darauf antwortet.
({5})
Wir antworten als Regierungsfraktionen.
({6})
Der Kollege Kolb hat bereits darauf hingewiesen:
({7})
Wir stehen zur vollen Tarifautonomie und nicht zu einer
bevormundenden Tarifautonomie durch staatlich festgesetzte Löhne.
({8})
Darüber hinaus steht eindeutig in unserem Koalitionsvertrag, dass wir gesetzliche Mindestlöhne ablehnen.
Dabei wird es auch bleiben;
({9})
denn es ist richtig, dass wir auf Branchenmindestlöhne
setzen. Das hatte im Bereich Pflege großen Erfolg.
Herr Kollege Heil, im Übrigen wurde der erste Branchenmindestlohn unter einer CDU/CSU-FDP-Bundesregierung mit tatkräftiger Unterstützung des Kollegen
Kolb, der damals Parlamentarischer Staatssekretär war,
eingeführt.
({10})
So viel zur Geschichte.
({11})
Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung den Menschen gegenüber bewusst. Mittlerweile haben wir Branchenmindestlöhne in den Bereichen Pflege, Gebäudereinigerhandwerk, Wäschereien und Wach- und Sicherheitsdienst eingeführt.
({12})
Wenn das Gutachten vorliegt, das die Bundesregierung eingeholt hat - möglicherweise haben Sie schon etwas gelesen; das weiß ich nicht -,
({13})
wird möglicherweise deutlich, dass die Auswirkungen
nicht feststellbar sind.
({14})
Es ist nicht klar, ob sie positiv oder negativ sind. Das ist
deshalb so, weil wir die Einführung des Mindestlohnes
auf einige Branchen beschränkt haben.
Das Schlimmste, was im Bereich Arbeitsplätze passieren konnte, ist unter Rot-Grün passiert. Damals gab es
in Deutschland einen massiven Verlust an Arbeitsplätzen. Seitdem die Union wieder regiert - mittlerweile mit
der FDP -, gab es einen gewaltigen Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.
({15})
Das ist darauf zurückzuführen, dass wir eine fundierte
Wirtschaftspolitik in Gang gesetzt haben, durch die die
Menschen ein gutes Einkommen erzielen können.
({16})
Nun sind wir wieder beim Thema Mindestlohn. Damit wollen wir uns auch auseinandersetzen.
({17})
Kollege Ernst hat zum einen das Thema Arbeitsplatzverlust angesprochen. Zum anderen hat er darauf hingewiesen, dass die Menschen auch von den Löhnen leben können müssen.
({18})
Nehmen wir das Beispiel Frankreich, das von Ihnen
oft als Vorzeigeland bezeichnet wird. Dort beträgt der
gesetzliche Mindestlohn 9,10 Euro. Frau Kollegin
Nahles hat Großbritannien vorbildlich genannt. Ich
möchte feststellen: In Frankreich sind das im Monat
1 365 Euro brutto und in Großbritannien 1 086 Euro
brutto. Wissen Sie, wie hoch der niedrigste Tariflohn im
Hotel- und Gaststättengewerbe in Bayern - wohlgemerkt: der niedrigste! - ist? Er liegt bei 1 361 Euro und
nach drei Monaten Einarbeitungszeit bei 1 464 Euro.
({19})
Das sind letztlich die 8,50 Euro, die die SPD als Mindestlohn fordert.
({20})
Dabei haben das die Tarifparteien bereits vereinbart.
({21})
Deshalb bedarf es auch in dieser Hinsicht dieser Unterstützung nicht.
Man sollte sich das Beispiel Frankreich genauer anschauen. In Frankreich werden die Unternehmen, die
den Mindestlohn zu bezahlen haben, von der französischen Regierung tatkräftig unterstützt, indem die Sozialversicherungsbeiträge, die die Unternehmen zu leisten
haben, subventioniert werden. Diese Subvention betrug
im Jahr 2002 19,2 Milliarden Euro. Im Jahr 2010 ist sie
mittlerweile auf 30 Milliarden Euro angestiegen. 30 Milliarden Euro für Lohnsubventionen, um den Mindestlohn zu garantieren! Ich bin überzeugt, dass es zu vielen
Fehlleitungen kommt und dass es in den Betrieben Mitnahmeeffekte gibt. Deshalb ist die Gestaltung unserer
Sozialpolitik besser: Derjenige, der von seinem erwirtschafteten Lohn nicht leben kann, kann aufstocken und
ein menschenwürdiges Leben führen.
In diesem Sinne: Wir liegen mit unserer Einteilung
richtig. Wir brauchen dort Branchenmindestlöhne, wo
sie sinnvoll sind, wo die Tarifparteien das selbst vereinbart haben. Wenn es zum Leben nicht reicht, gibt es darüber hinaus staatliche Unterstützung.
Das ist ein guter Schlusssatz, Herr Kollege.
({0})
- Diese Frage kann in der Aktuellen Stunde nicht mehr
beantwortet werden. Der Kollege hat keine Redezeit
mehr.
Schade, dass ich die Frage nicht beantworten kann.
({0})
Vielen Dank, Kollege Straubinger. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Anette Kramme.
Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn die Regierung ein Thema für wichtig
hält, dann redet normalerweise die Spitze der Partei.
Dann redet die Bundeskanzlerin, alternativ der zuständige Fachminister oder die zuständige Fachministerin.
({0})
Hier und heute hat man den Eindruck, dass ein Sprechverbot für die obersten Chargen dieser Regierung existiert.
({1})
Das ist nachvollziehbar. Wir würden aber gerne wissen,
ob Ursula von der Leyen noch an der Seite von Herrn
Laumann steht oder mittlerweile bei Frau Merkel angelangt ist.
({2})
Herr Straubinger, Sie sagen, dass Sie sich um die
Menschen in diesem Land kümmern. Es gibt aber sehr
viele Zahlen zum Niedriglohnsektor, die mehr als erschreckend sind.
({3})
Angesichts der Zahlen müssten die Ministerpräsidenten
aller fünf neuen Bundesländer schreiend durch die Gegend laufen. Das Einkommen von mehr als 40 Prozent
der Menschen in Ostdeutschland liegt unterhalb einer
einheitlichen Niedriglohngrenze in Deutschland. Sie
verdienen also weniger als 1 800 Euro brutto. Wir können auch Zahlen des IAQ nehmen: Das IAQ hat errechnet, dass 23 Prozent aller Haupt- und Nebenbeschäftigten von einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro
profitieren würden. Wie erschreckend!
({4})
Wir können das auch noch an anderen Zahlen festmachen. Prognos hat eine Studie vorgelegt. Prognos hat uns
auch einiges über die Wirkungen eines Mindestlohns gesagt. Dabei geht es um die Würde der Arbeit. Prognos
hat aber auch belegt, wie volkswirtschaftlich sinnvoll die
Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro ist. Prognos hat belegt: 14 Milliarden Euro würden die Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich verdienen. Es wurde belegt, dass wir zusätzliche Einkommensteuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro
hätten. Es wurde belegt, dass die Sozialversicherungen
zusätzlich 2,7 Milliarden Euro einnehmen würden. Darüber hinaus ist herausgekommen, dass wir mit 80 000
zusätzlichen Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik rechnen könnten.
({5})
Frau von der Leyen, wie das Baby heißt, ob „Lohnuntergrenze“ oder „Mindestlohn“, ist uns an sich egal. Das
Paket, dass Sie an dieser Stelle schnüren wollen, ist aber
ein Nichts, ein Nullum. Das wird den Menschen in der
Bundesrepublik Deutschland nicht helfen.
({6})
Ein Grund dafür ist, dass Sie wollen, dass die Mindestlöhne nur dann greifen, wenn es an der Tarifbindung
fehlt.
({7})
- Das ist nicht Respekt vor der Tarifautonomie, sondern
im Prinzip eine Missachtung der Tarifautonomie.
({8})
- Herr Kolb, ich würde Ihnen das gerne erläutern. Es ist
so, dass wir mehrere Hundert Tarifverträge in der Bundesrepublik Deutschland haben, die Löhne unterhalb
von 8,50 Euro vorsehen.
({9})
Wenn Sie jetzt sagen, dass die Lohnuntergrenze nur dann
greifen soll, wenn eine Tarifbindung nicht vorliegt,
({10})
dann bedeutet das, dass Gewerkschaften, wenn sie ihren
Leuten etwas Gutes tun wollen, wenn sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land etwas Gutes tun wollen, künftig auf den Abschluss von Tarifverträgen verzichten müssen. Das ist ein Eingriff in die
Tarifautonomie und nicht das Gegenteil davon!
({11})
Sie sagen überdies, das Ganze solle branchenabhängig laufen und nach Regionen differenziert. Wissen Sie,
was das bedeutet? Das bedeutet, dass ganz viele Menschen in Deutschland mangels Informationen auf ihre
Rechte verzichten werden. Da ein solches Verfahren
Jahre dauern wird, wird auch sichergestellt, dass Mindestlöhne nicht kommen.
Ein weiterer Punkt: Die Kanzlerin oder ihre Regierung hat zunächst erklärt, dass man auf einen Maßstab
für eine Lohnuntergrenze nicht verzichten wolle. Die
Leiharbeit solle der Maßstab sein. Dann gab es einen Totalrückzieher.
({12})
Herr Heinrich, Sie haben davon gesprochen, dass es
künftig einen Überbietungswettbewerb in der Politik geben würde. Was Sie mit diesem Verzicht einleiten würden, ist ein Unterbietungswettbewerb.
({13})
Wir haben bis heute nicht von Ihnen gehört, wie hoch
der Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland sein
soll. Sollen es 4 Euro sein, sollen es 5 Euro sein, sollen
es 5,50 Euro sein, oder sollen es 6 Euro sein?
({14})
Dies ist offensichtlich ein Zugeständnis an den Wirtschaftsflügel Ihrer Partei.
({15})
Zum Abschluss Folgendes: Arbeit muss Würde haben, und würdige Arbeit ist existenziell für das Leben im
Alter, für eine Rente, von der man leben kann. Sie leiten
hier momentan einen Prozess ein, der zu Altersarmut im
großen Maßstab führen wird. Deshalb kann man Ihnen
nur sagen: Besinnen Sie sich und kommen Sie endlich
zur Vernunft!
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank, Frau Kollegin Anette Kramme. - Jetzt
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter
Weiß. Bitte schön, Kollege Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zum Schluss dieser Aktuellen Stunde bleibt mir nur
noch eine Feststellung: Bei der Opposition geht die
blanke Angst um.
({0})
Es ist die blanke Angst davor, dass das Thema Mindestlohn als Verunglimpfungsthema gegen die Regierungskoalition und die sie tragenden Parteien abhandenkommen könnte. Das wurde hier heute vorgeführt.
({1})
Die Behauptung, CDU, CSU und FDP seien strikt gegen Mindestlöhne, ist schon deswegen falsch,
({2})
weil - es ist schon erwähnt worden - der erste branchenbezogene Mindestlohn in Deutschland unter einer Regierung von CDU/CSU und FDP, unter Helmut Kohl und
Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vereinbart worden
ist.
({3})
Unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler ist in
Deutschland kein einziger Mindestlohn vereinbart worden.
({4})
Aber heute, mit einer christdemokratischen Bundeskanzlerin und selbst in einer Koalition mit der FDP
- dies hätten viele nicht vermutet -, gibt es in zehn Branchen in Deutschland Mindestlöhne, die die Tarifpartner
vereinbart haben und die die Frau Bundesarbeitsministerin per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklärt hat, das heißt, sie gelten für alle Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in dieser Branche, ob sie organisiert
sind oder nicht. Das ist ein großer Erfolg. Mindestlöhne
sind das Markenzeichen der CDU.
({5})
Erst gestern hat der Gemeinsame Tarifausschuss - er
besteht aus drei Vertretern der Arbeitgeber und drei Vertretern der Gewerkschaften - getagt und zum Beispiel
den Mindestlohn für die Dachdecker verlängert.
({6})
Morgen erscheint der Bundesanzeiger neu.
({7})
Darin werden Sie schwarz auf weiß die Bekanntgabe des
neuen Mindestlohns in der Zeitarbeit lesen können,
({8})
den die Bundesministerin ebenfalls für allgemein verbindlich erklären wird. Dann bekommen Zeitarbeiter
nicht mehr nur 5 Euro pro Stunde, dann müssen im Westen mindestens 7,89 Euro und im Osten 7,01 Euro gezahlt werden,
({9})
und zwar nicht, weil die Politik es so beschlossen hat,
sondern weil Gewerkschaften und Arbeitgeber diesen
Mindestlohn vereinbart haben.
({10})
Nun gibt es trotz dieses erfolgreichen Wegs Branchen, in denen voraussichtlich keine branchenbezogenen
Mindestlöhne vereinbart werden.
({11})
Das ist Anlass dafür, dass sieben Landesverbände, mehrere Vereinigungen der Partei und 21 Kreisverbände für
den CDU-Bundesparteitag, der am Montag und Dienstag
der kommenden Woche in Leipzig stattfinden wird, Anträge gestellt haben,
({12})
in denen sie vorschlagen, dass wir eine allgemeine untere Lohngrenze für all die Bereiche festlegen, in denen
branchenbezogen nichts geregelt ist, dass diese Lohngrenze von den Tarifparteien, den Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbänden, ausgehandelt wird und anschließend durch die Bundesregierung für allgemeinverbindlich erklärt werden soll, sprich: für alle gelten soll, egal
ob In- oder Ausländer, ob in der einen oder der anderen
Branche beschäftigt. All die Zeitungsmeldungen, die
hier vorgetragen worden sind, geben das, was in den Anträgen steht, nicht wieder.
({13})
Die Mühe, darauf hinzuweisen, hat sich niemand von der
Opposition gemacht.
({14})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich können
Sie heute eine Aktuelle Stunde beantragen. Aber: Die
CDU ist wie die CSU und die FDP
({15})
- ich hoffe, wie auch die anderen - eine demokratische
Partei.
({16})
Bei uns entscheidet nicht die Parteivorsitzende, nicht ein
einzelner Landesverband,
({17})
auch nicht die Fraktion oder ein Abgeordneter. Bei uns
entscheidet der Bundesparteitag in der nächsten Woche,
wie das Konzept der Union aussieht.
({18})
Mit Interesse verfolgen wir, dass auch einige Kolleginnen und Kollegen der FDP darüber nachdenken, ob
eine allgemeine Lohnuntergrenze nicht eine sinnvolle
Sache sein kann.
({19})
Der große Unterschied ist:
({20})
Wir sind der Auffassung: Deutschland hat seinen Erfolg
der Tarifautonomie zu verdanken. Die Tatsache, dass die
Tarifpartner anständige Löhne ausgehandelt haben,
({21})
hat zum Wohlstand der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland beigetragen.
({22})
Den Weg, über Tarifverträge und anschließend durch
staatliche Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu guten Löhnen in Deutschland zu kommen,
({23})
wollen wir weitergehen und weisen den Vorschlag, dies
durch staatliche Gesetzgebung zu ersetzen, entschieden
zurück.
({24})
Wir wollen den Vorrang der Tarifautonomie für gute
Löhne in Deutschland.
Vielen Dank.
({25})
Kollege Peter Weiß war der letzte Redner in unserer
Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Veronika
Bellmann, Dirk Fischer ({1}), Arnold
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
Vizepräsident Eduard Oswald
Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer
nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Groß,
Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
EU-Weißbuch Verkehr - Neuausrichtung der
integrierten Verkehrspolitik in Deutschland
und in der Europäischen Union nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen
- Drucksachen 17/7464, 17/7177, 17/5906, 17/7679 Berichterstattung:
Abgeordnete Veronika Bellmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste
unsere Kollegin Veronika Bellmann für die Fraktion der
CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin Veronika
Bellmann.
({2})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Seit den Römischen Verträgen 1958
ist die Verkehrspolitik klassisches Handlungsfeld europäischer Politik. Seit 2001 wird die Konkretisierung der
europäischen Verkehrspolitik in Weißbüchern vorgenommen. 2001 gab es das erste, 2006 das zweite, und
nunmehr, seit dem 28. März dieses Jahres, gibt es das
dritte. Es trägt den Titel „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum - Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“.
Mit der Vorlage dieses Weißbuches formuliert die Europäische Kommission die Neuausrichtung der europaweiten Verkehrspolitik bis zum Jahr 2020. Darüber hinaus entwirft sie zugleich eine Vision bis 2050. Damit
die Ziele der Nachhaltigkeit - das dritte Weißbuch verschreibt sich vor allen Dingen dem Ziel der Nachhaltigkeit -, der Sicherheit, der Weiterentwicklung des Verkehrsbinnenmarktes und des Abbaus der Abhängigkeit
vom Rohstoff Öl erreicht werden, hat die Europäische
Kommission dem Papier 40 Maßnahmen in einem Paket
bzw. einer Anlage angehängt. Sie sind ohne Zweifel sehr
ambitioniert, manchmal auch sehr visionär, aber durchaus umsetzbar.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
begrüßen die Vorlage des Weißbuches. Das Weißbuch ist
notwendig. Europa braucht eine einheitliche und umfassende Strategie zur Sicherung einer nachhaltigen Mobilität. Denn Mobilität stellt einerseits für uns persönlich ein
großes Stück Freiheit und Lebensqualität dar. Andererseits ist die Mobilitäts- und Verkehrsbranche auch eine
innovative und leistungsstarke Branche, die einen hohen
Anteil am wirtschaftlichen Wachstum und an der Schaffung von Arbeitsplätzen hat.
Gleichzeitig werden im Verkehrssektor aber eben
25 Prozent der Treibhausgasemissionen produziert. Aus
diesem Grunde bestehen auch hier die Notwendigkeit
und zugleich die Verantwortung, Ökologie und Ökonomie mit Augenmaß zu verknüpfen. Das heißt insbesondere, dass die Mobilität der Zukunft umwelt- und klimagerecht ausgestaltet sein, den Mobilitätsbedürfnissen der
Bürger entsprechen, aber bezahlbar sein muss und auch
den wirtschaftlichen Wachstums- und Entwicklungszielen Europas gerecht werden muss.
Genau diesen Gleichklang sehe ich im vorgelegten
Weißbuch nicht an jeder Stelle. Zwar enthält das Weißbuch Initiativen, die durchaus positiv zu bewerten sind,
so zum Beispiel der einheitliche Verkehrsbinnenmarkt,
die transeuropäischen Verkehrsnetze, die Einführung alternativer Kraftstoffe und Verkehrsmanagementsysteme, der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur oder die
Einführung von alternativen Finanzierungsmodellen.
Hinsichtlich der weiteren von mir bereits genannten Herausforderungen gibt es aber kaum bzw. nur ziemlich
vage Ansagen. Oder man muss schon sehr in die Verzweigungen einsteigen, wie in die kürzlich von der EUKommission vorgelegten Verordnungsentwürfe zu den
transeuropäischen Netzen und den damit in Verbindung
stehenden neuen Finanzierungsmodellen, Connecting
Europe Facility genannt.
Selbst wenn wir auch da grundsätzlich Zustimmung
signalisieren können, so verkennen wir doch nicht, dass
nicht nur finanztechnisch „gehebelt“ werden soll - das
ist ja in den jüngsten Tagen ein Modewort geworden -,
sondern auch hinsichtlich der Kompetenzen der Europäischen Union und der Personalausstattung. So soll zum
Beispiel mit den transeuropäischen Netzen wieder eine
Korridorbildung einhergehen. Für die Korridore soll es
Koordinatoren geben. Früher gab es dafür Exekutivagenturen, Sekretariate oder Beobachtungsstellen. Weil
das alles politisch nicht mehr ganz korrekt ist, nennen
sich die Agenturen heute Komitees. Hier müssen wir
also schon ganz genau hinschauen, ob das hinsichtlich
der Subsidiarität nicht ausufert.
Subsidiarität im Zusammenhang mit dem Weißbuch
mahne ich auch an, bezogen auf die Infrastrukturplanungshoheit, die nationalen Anteile der Finanzierung
von Verkehrsinfrastrukturen, die Komodalität oder auch
die Organisation städtischer Verkehre. So greift die Europäische Kommission mit ihrer Kraftstoffstrategie für
Städte in die Souveränität der Kommunen ein, da ohne
Kenntnis der lokalen Rahmenbedingungen pauschale
Vorgaben für Bürger, kommunale Dienste, Wirtschafts16514
verkehre und den ÖPNV gemacht werden. Hier muss in
jedem Falle nachjustiert werden.
({0})
Aus diesem Grund haben wir als Koalitionsfraktionen
unseren Antrag mit dem Titel „Weißbuch Verkehr - Auf
dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität“ eingebracht. Mit ihm geben wir unserer Bundesregierung einige Forderungen mit auf den Weg, um auf europäischer Ebene entsprechend zu verhandeln, damit wir
im Mobilitäts- und Verkehrssektor der Zukunft Ökologie
und Ökonomie ordentlich miteinander verzahnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegen
noch zwei andere Anträge bezogen auf das Weißbuch
Verkehr vor, nämlich einer der Grünen und einer der
SPD. Ich habe gestern in den Ausschussberatungen einmal den Versuch gemacht, die Gemeinsamkeiten in den
Anträgen hervorzuheben. Ich glaube, das ist mir an vielen Stellen gelungen. Man kann sie zumindest den
schriftlichen Anträgen deutlich entnehmen. In der Diskussion wurde es dann aber doch - insbesondere seitens
der Grünen - etwas ideologisch, als es um die Verlagerung des Luft- und Straßenverkehrs auf die Schiene und
auf Wasserstraßen ging.
Wir sind auch für Verkehrsverlagerungen, aber immer
nur dort, wo es sinnvoll ist, also nicht auf Gedeih und
Verderb. Wir sehen die im Weißbuch dargelegten Ziele
sehr kritisch: Bis 2050 sollen der Straßengüterverkehr
und auch große Teile des Personenverkehrs ab 300 Kilometer Streckenlänge auf die Schiene verlagert werden.
Gleiches gilt für den Luftverkehr unter einer Streckenlänge von 1 000 Kilometern. Das muss man sich einmal
vorstellen: Das sind alle innerdeutschen Verbindungen.
Auch das Ziel, bis 2020 einen annähernd CO2-freien
Stadtverkehr zu erreichen, muss man sehr kritisch betrachten; denn die Reduktion der Anzahl konventioneller
Fahrzeuge um 50 Prozent bis 2030 und um 100 Prozent
bis 2050 ist nicht nur ambitioniert, sondern dahinter
steckt auch ein hoher Kostenfaktor.
Darum sagen wir: Pauschale dirigistische Vorgaben
sind nicht zielführend, vor allen Dingen dann nicht,
wenn sie in Bezug auf Mengen, Zieldaten und Entfernungen gemacht werden. Solche Vorgaben müssen technologieneutral und verkehrsträgerneutral sein; denn ansonsten verhindern sie Innovationen für effizientere
Antriebe, neue Kraftstoffe, intelligente Verkehrsleitsysteme und auch Elektromobilität. Dafür bieten Sie nichts
weiter als massive Staatseingriffe und Verteuerung für
Staat und Bürger.
Ich komme jetzt auf den Antrag der SPD zu sprechen.
Dort finden sich einige Gemeinsamkeiten mit unseren
Positionen. Das liegt aber auch daran, dass die
47 Punkte, die Sie in Ihrem Forderungskatalog darlegen,
überwiegend Allgemeinplätze beinhalten. Sie fordern
die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze auch bei einem umfassenden Strukturwandel in Deutschland und Europa bleiben sollen. Das versteht sich für meine Begriffe von
selbst.
Dort, wo Sie konkreter werden, zum Beispiel bei der
Forderung, die Einnahmen aus Investitionen in Verkehrsinfrastruktur europaweit an den Einsatz in Verkehrsinfrastruktur zu binden, verstoßen Sie gegen das
Subsidiaritätsprinzip. Auch wir sind für diese Zweckbindung. Wir haben in diesem Jahr damit angefangen, die
Mauteinnahmen komplett für Maßnahmen im Zusammenhang mit der Straßenverkehrsinfrastruktur einzusetzen. Aber wir wollen diese Zweckbindung nicht auf europäischer, sondern auf nationaler Ebene.
Ich komme noch zu einem letzten Punkt, bei dem ich
durchaus Gemeinsamkeiten sehe. Unser Antrag enthält
den Passus, in dem wir uns unter anderem für die Berücksichtigung nationaler Arbeitsschutz- und Sozialstandards bei allen zur Liberalisierung anstehenden Bereichen aussprechen. Sie als SPD formulieren das in Form
von „Sozialdialogen“ und fordern einen Ausgleich im
Zusammenhang mit ökologischen, ökonomischen und
sozialen Standards. Schaut man sich das Weißbuch einmal genauer an, so stellt man fest, dass dort eine Überarbeitung der Bodenabfertigungsrichtlinie gefordert wird.
Dabei ist zu erwarten, dass mit Dumpinglöhnen gearbeitet wird, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das akzeptieren wir nicht.
({1})
- Nein.
Frau Kollegin Bellmann, Sie wissen schon, was die
Lichter vor Ihnen auf dem Pult bedeuten?
({0})
Jawohl, das weiß ich.
Der ökologische, ökonomische und - das ist der letzte
Punkt, den ich genannt habe - soziale Ausgleich ist im
Antrag der Koalitionsfraktionen enthalten. Daher ist dieser Antrag der weitgehendste von allen drei vorliegenden Anträgen. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Unterstützung für diesen Antrag hinsichtlich des Weißbuches
Verkehr der Europäischen Union.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. - Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Martin
Burkert. Bitte schön, Kollege Martin Burkert.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Tribünen!
Täglich sind Menschen in Deutschland unterwegs: beruflich, privat, in der Stadt, auf dem Land, regional und
über Landesgrenzen hinaus, gemäß dem Motto: heute
hier, morgen dort, zu Land, zu Wasser und in der Luft.
Eine gut ausgebaute Infrastruktur betrifft jeden Einzelnen. Sie ist aber auch wesentlicher Bestandteil unserer Wirtschaft. Doch weder der Individual- noch der
Handelsverkehr enden an den nationalen Grenzen. Deshalb ist es richtig, dass das Weißbuch Verkehr, über das
wir heute sprechen, den Verkehr in Europa als Ganzes
betrachtet, dass es uns einen Fahrplan, eine Richtschnur,
gibt, wie der europäische Verkehrsraum in rund 40 Jahren aussehen soll.
Die bis 2050 gesteckten Ziele für mehr Umwelt- und
mehr Klimaschutz im Verkehr sind dringend notwendig
und werden von uns begrüßt. Wie in allen anderen Bereichen muss auch der Verkehr seinen Beitrag leisten, um
energieeffizienter zu werden, damit Europa möglichst
unabhängig vom Öl wird. Das begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion selbstredend.
Wir brauchen aber kein Weißbuch, mit dem wir nur
von einem zukunftsfähigen Verkehr im Jahr 2050 träumen. Wir brauchen ein Schwarz-auf-weiß-Buch, in dem
wir festlegen, was wir ganz konkret machen, um den
Fahrplan im Weißbuch einzuhalten. Dafür bräuchte es in
Deutschland aber eine wirkliche Takterhöhung. Wir
bräuchten eine grundlegende Fahrplananpassung. Hier
haben die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Weichen in der Verkehrspolitik
falsch gestellt.
({0})
Die europäische Leitlinie ist laut Weißbuch völlig
klar: Mehr Verkehr auf die Schiene und mehr Verkehr
auf die Wasserstraße! Wie soll es aber zu einem starken
europäischen Eisenbahnverkehrsmarkt kommen, wenn
die Bundesregierung nach wie vor ausschließlich auf Asphalt setzt?
({1})
Wie soll man die Wasserstraße sinnvoll nutzen, wenn
diese jetzt auch noch bemautet werden soll? Herr Minister, heute wäre ein guter Zeitpunkt, um deutlich zu machen, ob die Kanäle zukünftig bemautet oder besteuert
werden sollen.
Mehr Verkehr auf der Schiene erreicht man auch nicht
einfach durch die Trennung von Netz und Betrieb bei der
Bahn, indem also die Infrastruktur, das Streckennetz, in
Staatshand verbleibt, die Beförderungs- und Transportsparte aber privatisiert wird. Das kann sicherlich
nicht die ultimative Lösung sein.
({2})
Andere Länder haben vorgemacht, wohin das führt.
Aber Privatisierung und Liberalisierung sollen das
Allheilmittel sein: die gute Fee, durch die jeder Wunsch
erfüllt und alles gut wird.
({3})
Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen und Bürger, ob
sie an die gute Fee aus dem Märchen glauben.
Die Struktur der Bahn sollte nicht ständig infrage gestellt werden. Ich bin der Meinung, nein. Ich zitiere mit
Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, unseren Bundesminister
Ramsauer, der am 6. Oktober 2011 zur Entscheidung
über die Neufassung des dritten Eisenbahnpaketes der
EU verlauten ließ, es sei falsch - Zitat - „aus ideologischen Gründen ein erfolgreiches Modell aufzugeben und
damit einem Mitgliedstaat unwägbare Risiken zuzumuten“. Dies könne auch „nicht im europäischen Interesse
liegen“.
({4})
Herr Minister Ramsauer, wir nehmen Sie hier beim
Wort. Ob das Ihre Koalitionsfraktionen machen, lassen
wir offen.
Die Frage ist nämlich, welche Konsequenzen sich aus
einer Trennung der Struktur der Deutschen Bahn AG ergeben würden.
({5})
Für die DB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter würde es
jedenfalls bedeuten, dass der konzernübergreifende, integrierte Arbeitsmarkt und damit auch die dort festgelegten sozialen Standards, die Mitbestimmungsrechte, die
Arbeitsbedingungen usw., passé wären.
({6})
Alleine bei DB Dienstleistungen arbeiten zurzeit über
26 000 Menschen. Der Bereich trägt 4 Milliarden Euro
zum Gesamtumsatz der DB AG bei. 4 000 Kolleginnen
und Kollegen sind aus dem Bereich JobService, dem
bahneigenen Arbeitsamt, gekommen. Sie mussten sich
nicht bei der Agentur für Arbeit arbeitslos melden. Ihre
Koalition, Herr Minister, stellt das allerdings immer wieder infrage.
Herr Ramsauer, die grenzüberschreitende Beschäftigung im Verkehrssektor ist so auszugestalten, dass Sozialdumping ausgeschlossen ist. Das ist eine der Kernaussagen im Weißbuch. Wenn es um die Tariftreue bei
öffentlichen Ausschreibungen geht, lässt sich bei einem
Blick auf unser Bundesland Bayern leider nur Negatives
berichten: Es gibt kein Tariftreuegesetz. Ein Schienenbranchentarifvertrag für den Schienenpersonennahverkehr wird nicht vorgeschrieben.
Ein Lokführer verdient nach Abschluss des Tarifvertrags der sieben großen Eisenbahnen 2 200 Euro, eine
Reinigungskraft 1 700 Euro, bei 26 Tagen Urlaubsanspruch und 4 Euro Sonntagszulage. Aber nicht einmal
diese Mindestanforderungen will man in Bayern für
Ausschreibungen im Schienenpersonennahverkehr zum
Standard machen. Das ist ein Skandal.
({7})
- Sie haben völlig recht, Herr Döring: Das entscheidet
das Land. Das ist in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz wesentlich besser geregelt.
({8})
Ich bin froh, dass ab 2013 nicht nur in der Bundesregierung wieder ein SPD-geführter Wind weht, sondern dass
wir uns auch in der bayerischen Landesregierung ab
2013 darum kümmern können.
Ich sage ganz eindeutig: Einen Wettbewerb auf dem
Rücken der Beschäftigten darf es nicht geben. Sie dürfen
nicht die Leidtragenden einer weiteren Europäisierung
sein. Nein, ihnen muss gezeigt werden, dass dieses Europa eine Chance für uns ist. Das bringt dieses Weißbuch
zum Ausdruck.
Herr Ramsauer, ich fordere Sie im Namen der Fraktion auf: Führen Sie die europäischen Sozialstandards
nicht nur ein, sondern setzen Sie sie auch so schnell wie
möglich durch. Das ist eines der Kernelemente. Das ist
Ihre Aufgabe. Dabei wünschen wir Ihnen sogar viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Burkert. - Als nächster Redner
für die Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic.
Bitte schön, Kollege Luksic.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
widmen uns heute einem der wichtigsten Bereiche Europas: der freien und grenzüberschreitenden Mobilität.
Durch sie werden die Vorteile eines vereinten Europas
im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar. Ich halte es für
besonders wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag
ausführlich mit diesem Thema befasst; denn Deutschland ist als Transitland im Herzen Europas von verkehrspolitischen Entscheidungen besonders betroffen.
Das gilt auch für das Weißbuch Verkehr der Kommission. Wir als FDP-Fraktion begrüßen ausdrücklich, dass
sich neue Verkehrskonzepte - das ist in diesem Weißbuch klar formuliert - dem Bürger nicht aufzwingen lassen. Wir brauchen hier eine Akzeptanz der Bürger und
der Wirtschaft. Wir müssen wegkommen von ideologisch motivierter Umerziehungspolitik, wie sie leider
auch im Antrag der Grünen ein Stück weit gefordert
wird. Wir als FDP unterstützen ausdrücklich den zentralen Satz im Weißbuch Verkehr, dass die Einschränkung
von Mobilität keine Option ist. Das ist auch Leitlinie liberaler Verkehrspolitik und entspricht der Haltung dieser
Koalition.
({0})
Der Verkehrssektor darf auch nicht ausschließlich als
Kohlendioxidverursacher betrachtet werden. Wir müssen uns vielmehr darum kümmern, die Herausforderungen zu bewältigen, die die Zunahme des Verkehrsaufkommens in ganz Europa und natürlich besonders in
Deutschland mit sich bringt. Wir glauben, wir brauchen
hier ein Miteinander der Verkehrsträger, Ko-Modalität,
statt erzwungener Verlagerung. Unsere Regierung steht
für Pragmatismus statt Ideologie. Deswegen begrüßen
wir, dass das im Weißbuch klar zum Ausdruck kommt.
Wir haben uns gewünscht, dass es einen roten Faden
beim Thema Ko-Modalität gibt. Stattdessen finden wir
immer wieder - Kollegin Bellmann hat es angesprochen einige dirigistische Maßnahmen, die wir kritisch bewerten, beispielsweise den Gedanken einer Citymaut, dem
wir wirklich eine Absage erteilen wollen, wie auch der
Idee, dass in einer Innenstadt kein Auto mit konventionellem Antrieb mehr fahren darf. Für uns ist das Subsidiaritätsprinzip kein Selbstzweck, sondern es garantiert die
besten Lösungen auf der richtigen Ebene. Wir meinen:
Brüssel muss sich - vielleicht noch mehr als bisher - um
grenzüberschreitende Verkehre bemühen, sich aber aus
regionalen und lokalen Verkehren heraushalten. Das
geht Brüssel nichts an.
({1})
Wir wollen stärker als bisher einen Austausch von
Best-Practice-Lösungen der Mitgliedstaaten, wo es möglich ist, statt europaweit vorgeschriebener Regeln. Wir
brauchen beispielsweise im Bereich der Bodenabfertigungsdienste - es wurde zu Recht angesprochen - keine
weitere Regulierung durch eine Verordnung. Die bestehende Richtlinie ist ausreichend. Wir sollten dort, wo
wir ein hohes Qualitätsniveau haben, Premiumlösungen,
beispielsweise im Bereich der Fahrzeugüberwachung,
herausstellen und auch in Brüssel offensiv vertreten. Es
geht hier wirklich um die Zukunftsfähigkeit des Verkehrssektors und der Mobilität in Europa. Dafür brauchen wir neue Modelle und Ideen, beispielsweise im Bereich der Infrastrukturfinanzierung.
Ohne eine verlässliche Finanzierungsgrundlage sind
auch die schönsten Projekte leider nur etwas für den
Wunschzettel. Es kommt auf die Umsetzung in der Praxis an. Hier brauchen wir in Zeiten knapper Kassen
Innovationen. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir
als Koalition trotz der schwierigen Haushaltslage auf
dem Koalitionsgipfel beschlossen haben, dass wir 1 Milliarde Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur in
Deutschland ausgeben. Das ist gut, und das ist richtig.
({2})
Wichtig ist auch, dass wir auf europäischer Ebene
eine Anrechnung der Umweltkosten erreichen. Dazu
muss die Kommission ein Gesamtkonzept für alle Verkehrsträger vorlegen. Ein Punkt, der unserer Fraktion besonders wichtig ist: Wir müssen Verkehrsprojekte zügiger und effizienter als bisher realisieren, beispielsweise
mit öffentlich-privaten Partnerschaften oder auch mit
Projektanleihen, die die Europäische Kommission zu
Recht vorgeschlagen hat, um mehr privates Kapital für
große Infrastrukturprojekte zu bewegen. Das sollte meines Erachtens auch die SPD anerkennen, statt dies rundweg abzulehnen.
Wichtig ist für uns: Wir erhalten auch bei der Entwicklung neuer Technologien Deutschland als führenden
Standort, beispielsweise in der Elektromobilität, aber
auch bei anderen Zukunftstechnologien, und wir müssen
auch unseren Spitzenplatz als Logistikweltmeister behaupten.
Im Bereich des Schienenverkehrs, der eben ausführlich angesprochen wurde, ist für uns klar: Alle Länder
müssen Hürden abbauen. Wir wollen einen fairen Wettbewerb. Welche Probleme wir in Europa immer noch haben, zeigen die Schwierigkeiten der Deutschen Bahn,
wenn sie mit ihren Zügen durch den Eurotunnel fahren
will. Wir brauchen also weitere Liberalisierungsschritte
beim Netzzugang und bei der Trennung von Netz und Betrieb. Da ist gerade Deutschland gefordert. Herr Burkert,
Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass es ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland gibt. Wir erwarten mit Spannung das Urteil des Europäischen Gerichtshofs und die weiteren Vorschläge von Kommissar Kallas
zur Öffnung der Eisenbahnmärkte. Dank Brüssel muss
sich bei der Bahnpolitik auch hierzulande etwas bewegen.
Herr Burkert, Sie haben eben die Gewerkschaftsstandpunkte vorgetragen. Man weiß manchmal nicht, für
wen Sie reden, ob für die Gewerkschaften oder für die
SPD. Auf jeden Fall ist das, was Sie von der SPD hier
vorschlagen, nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch
europarechtlich unzulässig. Das müssen Sie einfach zur
Kenntnis nehmen.
({3})
Lassen Sie mich zum Ende sagen, dass die Koalition
für ein vernünftiges Neben- und Miteinander der Verkehrsträger steht statt erzwungener Verlagerungen, wie
sie die Grünen wollen. Wir wollen eine Politik, die sich
um konkrete Verkehrsprobleme kümmert. Wir brauchen
innovative Konzepte wie Projektanleihen. Das ist unsere
Auffassung von vernünftiger Verkehrspolitik. Ich glaube,
wir müssen - das ist der Auftrag an die Bundesregierung in Brüssel so früh wie möglich proaktiv alles begleiten
und gestalten. Unser Antrag bietet dazu eine sehr gute
Grundlage. Wir haben gute Arbeit geleistet.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Luksic. - Nächster Redner für
die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Herbert
Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
werden keinen Fortschritt haben, wenn die Durchschnittstemperatur auf der Erde weiter steigt. Mehr Wohlstand
werden wir nicht erreichen, wenn der Energiebedarf im
Verkehrssektor weiterhin zu 96 Prozent durch Öl gedeckt wird. Das sind Erkenntnisse aus dem Weißbuch
Verkehr der EU. Auspuffrohre von Lastwagen und Pkw
sollen weniger von dem Klimakiller CO2 herauspusten,
Flugverkehr und Schifffahrt sollen genauso einsparen
wie die Kraftwerke, die für E-Mobilität auf Schiene und
Straße gebraucht werden. Insgesamt 60 Prozent weniger
CO2 sollen im Verkehrssektor bis zum Jahr 2050 verbraucht werden.
Der Klimawandel ist dramatisch. Trotz der schon
lange diskutierten Klimaschutzziele stellen wir fest: Der
CO2-Ausstoß der Industrieländer wächst stärker als deren Wirtschaftsleistung; es ist übrigens das erste Mal seit
zehn Jahren, dass wir das feststellen müssen. Das ist ein
gravierender Rückschritt. Das sogenannte 2-Grad-Ziel,
wonach die globale Durchschnittstemperatur gegenüber
vorindustriellen Zeiten nicht um mehr als 2 Grad steigen
soll, ist nicht mehr zu erreichen, so die Nachrichten der
vergangenen Tage. Wir müssen schon heute handeln,
und zwar entschiedener, als im Weißbuch Verkehr empfohlen wird. Schon heute müssen wir den Güter- und
Personenverkehr umbauen, wir müssen ihn vermeiden,
verlagern und verbessern, damit unsere Kinder und Enkel noch die Luft zum Atmen und die Chance auf die
Gestaltung ihrer eigenen Zukunft haben.
({0})
Wir brauchen in Europa und global eine Wirtschaftspolitik, die Verkehr vermeidet.
({1})
Jeder nicht gefahrene Kilometer bedeutet weniger Ölverbrauch und weniger CO2-Ausstoß, jeder nicht auf der
Straße gefahrene Kilometer entlastet unsere Städte und
Dörfer. Unser Leben wird sicherer, Lärm und Gestank
werden dadurch vermieden. Verkehrsvermeidung ist der
effektivste, der ökonomisch und ökologisch sinnvollste
Weg, um den Klimawandel zu stoppen.
({2})
Davon ist im Weißbuch Verkehr der EU nichts zu finden,
übrigens auch nicht in den Anträgen der Koalition,
({3})
und auch nur wenig in den Anträgen der SPD und der
Grünen.
Diesen schweren Mangel im Weißbuch wollen auch
Sie nicht ausgleichen. Im Antrag der CDU/CSU und der
FDP heißt es dagegen - es wurde eben ansatzweise erwähnt -, die Bereitstellung einer bedarfsgerechten und
leistungsfähigen Infrastruktur müsse im Fokus stehen.
({4})
Hemmnisse des Wettbewerbs im Verkehrssektor sollten
abgebaut werden. Vollständige Liberalisierung des
EU-Eisenbahnverkehrs wird gefordert. Ihr Antrag,
meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,
ist von einem bekannten Marktradikalismus durchdrungen,
({5})
wenn er auch in Teilen gute Ideen enthält. Aber diese
Ideen werden durch Ihren Ansatz plattgemacht. Diesen
Radikalismus lehnen wir ab.
({6})
Stattdessen brauchen wir ein radikales Denken,
({7})
wenn wir Verkehrspolitik nachhaltig gestalten wollen.
Das ist mit dem Programm von heute nicht mehr zu machen. Diese Politik muss ein gutes Leben und Arbeiten
als Maßstab haben und die ökologischen Herausforderungen wirklich ernst nehmen.
Die Linke will deshalb eine sozial und ökologisch
orientierte Verkehrspolitik, die Gesamtwirtschaft, die
Bedürfnisse der Menschen und die klimapolitischen
Ziele zusammen denkt. Diese Debatte müssen wir nicht
neu erfinden.
({8})
Sie findet schließlich schon statt. Die Menschen machen
sich Gedanken darüber, wie beispielsweise der Güterverkehr aus Wilhelmshaven abtransportiert werden kann.
Sie machen sich Gedanken über unsinnige, teure Großprojekte im Verkehrswesen. Stuttgart 21 und die Küstenautobahn A 22 sind nur Synonyme dafür.
Unser Verkehrskonzept stellt zuerst die Fragen: Welche Transporte sind notwendig? Welche Orte wollen die
Menschen erreichen? Wie können wir die Arbeits- und
Lebensbedingungen der Menschen verbessern? - Die
Antworten auf diese Fragen
({9})
geben die Richtung für eine nachhaltige Mobilitätspolitik vor. Die vorliegenden Anträge werden diesen Ansprüchen jedoch nicht gerecht.
({10})
Marktradikalismus ist keine Antwort auf den Klimawandel.
({11})
Wir brauchen auch in der Verkehrspolitik einen sozialökologischen Umbau, und das geht nur mit uns, der
Linksfraktion.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Kollege Herbert Behrens. - Jetzt spricht
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, Kollege Dr. Anton
Hofreiter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir wissen, dass unsere Mobilität aktuell zu
96 Prozent am Rohstoff Rohöl hängt, und wir wissen,
dass 70 Prozent des Rohöls, das wir Tag für Tag nach
Europa importieren, nur für Mobilität verbrannt werden.
Wenn wir auf eine Änderung dieser Abhängigkeit setzen, dann tun wir das nicht aus ideologischen Gründen,
sondern weil es schlichtweg umweltpolitisch geboten
und einfach nur klug ist, die Verkehrsinfrastruktur, die
Mobilitätsinfrastruktur bereits jetzt auf die Herausforderungen der Zukunft auszurichten.
({0})
Wir wissen, dass die einzelnen Verkehrsträger unterschiedlich leicht auf diese Herausforderungen auszurichten sind. Wir wissen, dass die Eisenbahn leichter auf
CO2-frei oder CO2-arm umzustellen ist als der Personenoder Gütertransport auf der Straße. Das sind die Hintergründe, warum wir auf eine Verlagerung von der Straße
auf die Schiene setzen.
({1})
Wir alle hier im Raum wissen doch, dass es von der
Planung bis zur Realisierung von großen und aufwendigen Verkehrsinfrastrukturprojekten zum Teil Jahrzehnte
dauert.
({2})
Das wissen wir alle, und wir kennen auch den Hintergrund. Der Hintergrund ist ein eklatanter Mangel an
Geld bzw. eine gigantische Anzahl von Projekten, die
unserem Ziel letztendlich nicht dienen. Sie alle kennen
die Zahlen: 47 Milliarden Euro macht der Vordringliche
Bedarf allein im Bereich der Straße aus. Wie viel Geld
steht zur Verfügung? - 1,2 Milliarden, 1,5 Milliarden
oder vielleicht 2 Milliarden Euro. Wenn einem Vordringlichen Bedarf von 47 Milliarden Euro gerade einmal
2 Milliarden Euro gegenübergestellt werden, dann - das
wissen wir alle - wird ein Großteil der Projekte nicht
rechtzeitig realisiert werden können. Bei der Schiene
schaut es mindestens genauso dramatisch aus.
({3})
Was ist deshalb nötig? Es ist nicht nötig, auf einzelne
Projekte zu setzen, die nur wenige Effekte für die MobiDr. Anton Hofreiter
lität mit sich bringen. Vielmehr ist es notwendig, endlich
dafür zu sorgen, dass wir die Verkehrsinfrastruktur, die
zum einen Engpässe tatsächlich beseitigt und uns zum
anderen fit für die Zukunft macht, ausbauen. Denn die
Herausforderungen der Zukunft sind teureres Rohöl und
der Klimawandel.
Genau das ist im Moment dringend notwendig, aber
die Verkehrspolitik dieser Koalition verhindert es. Denn
Sie setzen auf isolierte Großprojekte, wo es keinen einzigen Engpass gibt,
({4})
und Sie setzen bei der Bahn darauf, dass Ihnen die
EU-Kommission hilft. Denn Sie sind zu schwach, Ihren
eigenen Koalitionsvertrag gegenüber dem Minister und
dem Bahn-Chef durchzusetzen. Sie hoffen darauf, dass
endlich die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge aufgehoben werden, damit wir bei der Bahnpolitik
zu etwas Vernünftigem kommen.
Angesichts all dessen ist es eigentlich nur tragisch zu
nennen, wie die Verkehrspolitik von dieser Koalition gehandhabt wird. Einerseits sprechen Sie davon, dass es
ideologisch sei, wenn man fordere, die Verkehrsinfrastruktur an die Herausforderungen der Zukunft anzupassen. Andererseits passiert aber nichts. Die Gewinnabführungsund Beherrschungsverträge werden nicht aufgehoben; es
findet keine vernünftige Verkehrsinfrastrukturpolitik
statt, indem das Geld zur Beseitigung von Engpässen verwendet wird; aus der Logistikabgabe haben Sie eine reine
Straßenfinanzierungsabgabe gemacht;
({5})
bei den Wasserstraßen wurden kleine Fortschritte erzielt,
aber es wurde nicht wirklich etwas erreicht. Das heißt, in
allen drei Sektoren der Verkehrsinfrastruktur herrscht
Stillstand. Zugleich halten Sie aber große Reden und
sprechen von dem Unterschied zwischen ideologischer
und nichtideologischer Verkehrspolitik. Hier muss es
dringend zu Änderungen kommen.
({6})
Wenn hier nichts passiert, haben wir keine Chance, unsere Verkehrsinfrastruktur an die Herausforderungen der
Zukunft anzupassen.
Die Herausforderungen der Zukunft bestehen darin,
Mobilität für Menschen und Güter zu gewährleisten, den
Klimawandel zu verhindern und das Ganze ökologisch
und sozial gerecht zu gestalten.
({7})
Vielen Dank, Kollege Dr. Anton Hofreiter. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Karl
Holmeier. Bitte schön, Kollege Holmeier.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Politiker neigen gewöhnlich schnell dazu, von Meilensteinen zu sprechen. Das Weißbuch Verkehr, das die Europäische Kommission im Frühjahr vorgestellt hat, kann
jedoch mit Recht als Meilenstein für die europäische
Verkehrspolitik bezeichnet werden.
({0})
- Ja. Es hat eine wegweisende Bedeutung für die Verkehrspolitik der kommenden Jahrzehnte und kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sich der
Deutsche Bundestag heute intensiv mit diesem Thema
befasst.
Ich freue mich, dass das Weißbuch Verkehr von allen
maßgebenden Fraktionen behandelt wird. Nachdem man
die Aussagen der Vorredner gehört hat, insbesondere
was die Verkehrspolitik der Linken anbetrifft,
({1})
könnte man sich allerdings fragen, ob wir im 21. Jahrhundert oder vielleicht noch im Mittelalter leben. Ich
will aber auch nicht verhehlen, dass ich bei der Durchsicht der Anträge von SPD und Grünen an einigen Stellen wirklich den Kopf schütteln musste.
So wird zum Beispiel trotz des ohnehin schon überambitionierten Vorschlags der EU-Kommission, die
Treibhausgasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050
um 60 Prozent zu reduzieren, gefordert, hier noch etwas
draufzusatteln. Das ist aus meiner Sicht nicht seriös. Wer
das tut, hat immer noch nichts aus dem Scheitern der
Lissabon-Strategie gelernt. Man darf doch die Realität
der Gegenwart nicht aus den Augen verlieren. Der von
der Kommission vorgeschlagene Wert kann allenfalls als
Orientierungsrahmen angesehen werden.
({2})
Das machen wir im Antrag von CDU/CSU und FDP
auch ganz klar und verweisen darin auf die realistischen
Zielmarken in unserem Energiepaket.
In unserem Antrag sagen wir auf Basis dieser realistischen Zielvorgaben darüber hinaus auch ganz klar, mit
welchen Maßnahmen wir diese Ziele erreichen wollen.
Die Antworten, die in den Oppositionsanträgen auf diese
Frage gegeben werden, sind, vorsichtig formuliert, nur
unzureichend. Sie schlagen doch allen Ernstes vor, weniger Geld in den Aus- und Neubau von Straßen zu investieren. Da kann ich zu den Wählern der Grünen nur sagen: Willkommen bei der Dagegen-Partei!
Wie, bitte schön, wollen Sie angesichts verstopfter
Straßen und langer Staus eigentlich den CO2-Ausstoß reduzieren? Wie wollen Sie die Ortschaften entlasten,
wenn Sie keine Umgehungsstraßen mehr bauen wollen?
({3})
Und wie, bitte schön, wollen Sie Mobilität gewährleisten, wenn Sie dem angestauten Nachholbedarf beim
Ausbau unserer Straßen nicht endlich gerecht werden?
Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land warten
dringend - jawohl, Herr Hofreiter, dringend - auf den
notwendigen Bau von Ortsumgehungen und auf den
Ausbau von Straßen.
({4})
Vor allem aufgrund der zahlreichen Verpflichtungen,
die unter SPD-Führung bei der Bahn eingegangen wurden und nun abfinanziert werden müssen, fehlt unserem
Verkehrsminister Peter Ramsauer heute Geld für solche
wichtigen Ausbaumaßnahmen im Straßenbereich.
({5})
Deshalb danke ich - und das tun viele in unserem Land der Spitze der christlich-liberalen Koalition für die Beschlüsse, die sie letztes Wochenende gefasst hat. Die zusätzliche Milliarde für Investitionen in die Infrastruktur
löst zwar nicht alle Probleme. Es können aber einige
wichtige neue Maßnahmen auf den Weg gebracht werden. Für uns wäre es wichtig, diese Milliarde in den
nächsten Jahren dauerhaft einplanen zu können.
({6})
Ich möchte an dieser Stelle auch einmal unserem Verkehrsminister Peter Ramsauer ein großes Lob aussprechen.
({7})
Er ist um seinen Job keineswegs zu beneiden. Er muss
heute ausbügeln, was Rot und Grün in den vergangenen
Jahren angerichtet haben, und er macht das wirklich hervorragend.
({8})
Peter Ramsauer war es auch, der von Anfang an klargemacht hat, dass es sein Ziel ist, Mobilität zu ermöglichen
und nicht einzuschränken.
Dieser Ansatz findet sich nun auch im Vorschlag der
Europäischen Kommission wieder.
Herr Kollege Holmeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Florian Pronold?
Gerne.
Bitte schön, Kollege Florian Pronold.
({0})
Herr Kollege Holmeier, Ihr gerade gelobter Minister
spricht zu Recht an, dass, wie wir alle wissen, der Verkehrsetat unterfinanziert ist, und zwar um bis zu 4 Milliarden Euro pro Jahr.
({0})
Jetzt stelle ich Ihnen die Frage, wieso Sie als Koalition
angesichts dieser Erkenntnis erstens nur einmalig 1 Milliarde Euro bekommen, wie Sie es zweitens geschafft
haben, vorher den Hoteliers große Steuergeschenke zu
machen,
({1})
und wie Sie drittens am vergangenen Sonntag auch noch
6 Milliarden Euro an Steuergeldern verschenken konnten. Wie ist das angesichts des unterfinanzierten Verkehrsetats möglich?
({2})
Wir schaffen nur eine gewisse steuerliche Gerechtigkeit, die schon lange notwendig ist.
({0})
Ich habe es gesagt: Wir sind froh, dass wir diese Milliarde haben, und wir arbeiten daran, sie zu verstetigen,
um die notwendigen Projekte auf den Weg zu bringen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir brauchen in Zukunft
nicht weniger, sondern mehr Mobilität. Wir müssen darauf achten, dass Mobilität auch in Zukunft leistbar und
bezahlbar ist, auch für den kleinen Mann. Der Antrag der
christlich-liberalen Koalition macht das ganz klar. Die
SPD-Fraktion hat dies im Grundsatz auch erkannt. Die
Grünen haben es bis jetzt noch nicht erkannt; aber was
nicht ist, kann ja vielleicht noch werden.
Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht
einzuschränken, sondern zu ermöglichen und gleichzeitig bezahlbar zu halten, darf nicht von vornherein einen
bestimmten Verkehrsträger ausschließen. Ebenso darf er
nicht einen bestimmten Verkehrsträger bevorzugen. Jeder Verkehrsträger hat seine Stärken und Vorteile. Daher
muss jeder Verkehrsträger entsprechend seinen Stärken
eingesetzt werden, um das Verkehrsaufkommen optimal
bewältigen und bestmögliche Mobilität gewährleisten zu
können. Eine dirigistische und pauschale Verlagerungspolitik, wie manche sie fordern, wird dem nicht gerecht.
Wir setzen uns in unserem Antrag klar für ein ausgewogenes Verhältnis aller Verkehrsträger ein. Wir sind
auch für Verlagerung; aber die sollte es nur dort geben,
wo es wirklich sinnvoll ist. Alles andere ist kontraproduktiv, schränkt Mobilität ein und verringert die Akzeptanz der Nutzer.
Abschließend möchte ich noch auf den Vorschlag der
Kommission eingehen, bis 2050 im Stadtverkehr auf solche Pkw zu verzichten, die mit konventionellem Kraftstoff betrieben werden. Die Oppositionsanträge nehmen
diesen Vorschlag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu
Stellung zu beziehen. Wir sagen ganz klar: Eine vollständige und undifferenzierte Verbannung von Verbrennungsmotoren darf es nicht geben. Es kann doch nicht
zielführend sein, bestimmte Technologien von vornherein auszuschließen, ohne zu wissen, welche technologischen Möglichkeiten es in 40 Jahren geben wird. Die
Reduzierung des CO2-Ausstoßes muss durch einen technologieneutralen Ansatz verfolgt werden, also durch
verschiedene alternative Antriebs- und Kraftstoffarten,
nicht jedoch durch den Ausschluss einzelner Technologien.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ausführungen zeigen, welche Dimension das Weißbuch Verkehr hat. Es ist tatsächlich ein echter Meilenstein. Ein
solch wegweisendes Weißbuch erfordert aber auch eine
sehr ernsthafte Auseinandersetzung, und diese liefert allein der Antrag von CDU/CSU und FDP.
({3})
Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Karl Holmeier. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Michael Groß. Bitte schön, Kollege Michael Groß.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wundere
mich schon darüber, dass die Koalition immer wieder darauf abhebt, wie lange die rot-grüne Regierung im Amt
war. Sie sind jetzt zwei Jahre - Herr Ramsauer, Sie haben
gestern von zwei Jahren und 13 Tagen gesprochen - im
Amt. Da muss ich schon fragen: Wann übernehmen Sie
endlich Verantwortung und treffen Entscheidungen über
Dinge, die für unser Land wichtig sind? Dazu gehört die
Gestaltung der Verkehrspolitik.
({0})
Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa für die
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land immer wichtiger wird. Das wird besonders dann der Fall sein, wenn es
uns gelingt, in Europa einen einheitlichen Verkehrsraum
zu schaffen, von dem die Bürger profitieren. Die Herausforderungen liegen klar auf dem Tisch. Heutige Generationen reisen wesentlich mehr als frühere. Der Güterverkehr in Europa nimmt zu. Ungeachtet dessen haben wir
die Aufgabe, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren.
Das ist der entscheidende Punkt für den Klimaschutz.
Die EU legt mit dem Weißbuch ein Konzept vor, um
die bisherige Politik zu verändern, den Stillstand zu überwinden und eine nachhaltige Verkehrspolitik zu sichern.
Das vorliegende Konzept zielt auf einen grundlegenden
Wandel im Verkehrssektor; dieser Wandel ist notwendig.
Auch wenn die mittelfristigen Zielsetzungen noch konkreter formuliert und Finanzierungsfragen grundlegend
geklärt werden müssen, sieht die SPD-Fraktion im Weißbuch Verkehr eine große Chance. Mobilität muss auch in
Zukunft bezahlbar, sicher und umweltfreundlich sein. Sie
muss die Teilhabe am Leben sichern, Arbeitsplätze schaffen und wirtschaftliches Wachstum fördern.
Hinzu kommen Anforderungen wie: die Mobilität für
Menschen barrierefrei und verbraucherfreundlich zu gestalten und die Menschen in Europa vor steigendem Verkehrslärm zu schützen. Wichtig ist die Akzeptanz von
Infrastrukturprojekten wie dem Ausbau und Neubau von
Straße, Schiene, Wasserstraße und Luftverkehr. Diese
Akzeptanz muss durch Formen der Bürgerbeteiligung
- nicht nur bei länderübergreifenden Projekten - frühzeitig gefördert werden. Dadurch kann eine abgestimmte
Verwirklichung von Projekten, die bisher noch auf Eis
liegen, sichergestellt werden. Es ist ein gezieltes und
schnelles Handeln erforderlich, um nachhaltige Entwicklungen sowohl beim Umwelt- und Klimaschutz wie
auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu sichern. Dieser Dreiklang ist für die SPD besonders wichtig.
Ich appelliere insbesondere an Sie, Herr Ramsauer,
dass Sie endlich aus Ihrem Dornröschenschlaf erwachen
und Verkehrskonzepte auf den Tisch legen;
({1})
denn der Zeithorizont wird, je später wir mit der eigentlichen Umsetzung beginnen, immer enger. Wir warten
schon viel zu lange auf das von Ihnen angekündigte
Konzept. Für Klimaschutz und Stauprävention ist es
nicht mehr fünf vor zwölf, sondern schon nach zwölf.
Sie sperren sich zum Beispiel gegen ambitionierte
Zielsetzungen der EU, den Güterverkehr von der Straße
auf die Schiene und Wasserstraße zu verlagern. Prognosen gehen aufgrund der Zuwächse im Güterverkehr davon aus, dass in absehbarer Zeit zwei Fahrspuren auf
Hauptverkehrsachsen von Lastkraftwagen besetzt sein
werden. Die Folgen für Pkw-Reisende oder Pendler
kann sich jeder ausmalen: Dauerstau mit hohen Umweltschäden und hohen wirtschaftlichen Kosten.
Die EU schlägt Maßnahmen vor, die geeignet sind,
ein effizientes Verkehrssystem, das uns unabhängiger
vom Öl macht und die Umwelt schützt, aufzubauen. Es
sollen aber auch der europäische Wirtschaftsraum gestärkt und Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden. Kostenschätzungen für die erforderlichen Investitionen liegen bei 550 Milliarden Euro für den Zeitraum
bis 2020. Allerdings werden die Hauptlast der Finanzie16522
rung einer integrierten und zukunftsfähigen Verkehrsinfrastruktur die Mitgliedstaaten tragen müssen. Doch bereits jetzt ist der Verkehrssektor in Deutschland unterfinanziert. Die von der Koalition geplante weitere Milliarde für den Verkehrshaushalt ist mehr als begrüßenswert. Doch wird sie buchstäblich im Sande versickern,
wenn nicht klare Prioritäten gesetzt werden und entsprechende Gelder in den nächsten Jahren verlässlich zur
Verfügung stehen.
Dass eine zusätzliche Milliarde nicht ausreichen wird,
um Engpässe zu reduzieren, Knotenpunkte auszubauen
sowie Straßen und Brücken zu erhalten und zu sanieren,
hat Herr Ramsauer gestern auf einer Veranstaltung angedeutet. Allein für die notwendigen Schleusenarbeiten im
Nord-Ostsee-Kanal werden mehr als 500 Millionen Euro
benötigt. Die Leistungsfähigkeit des Nord-Ostsee-Kanals
muss deutlich erhöht werden, sonst droht ein Verkehrsinfarkt mit massiven Auswirkungen auf die Entwicklung
des Güterverkehrs.
({2})
Festzuhalten ist: In Europa wird für Infrastruktur wesentlich mehr Geld ausgegeben als bei uns. In der
Schweiz wird für die Schieneninfrastruktur bis zu sechsmal mehr pro Einwohner ausgegeben.
({3})
In der Süddeutschen Zeitung vom 8. November 2011 ist
zu lesen, dass die Landkarte fürs Geldausgeben bereits
in der Schublade des Verkehrsministeriums liegt. Aber
diesen Plan gibt es ja eigentlich nicht - zumindest wird
uns das ständig erzählt.
Wegen knapper Haushaltsmittel wurden Projekte wie
die regionale Schnellbahn in NRW - der RRX - ersatzlos gestrichen. Ebenso sollte es der Südbahn in BadenWürttemberg ergehen.
({4})
Doch hier vermelden die CDU-Kollegen - man höre - in
der Presse, dass das Projekt dank ihres Einsatzes wieder
aufgenommen wurde. Kein Verkehrskonzept, sondern
allein politische Einflussnahme spielt hier eine Rolle.
Die Menschen unserer Zeit wollen und müssen mobil
sein. Das bedeutet nicht unbedingt Mobilität mit dem eigenen Auto, wie die Entwicklungen in den Großstädten
zeigen. Viele junge Leute haben gar kein eigenes Auto
mehr. Dieser Entwicklung müssen wir gerecht werden.
({5})
Heutzutage ist es immer wichtiger, planbar und verlässlich von Haustür zu Haustür reisen zu können. Der europäische Verkehrssektor ist für die Wirtschaft und für die
Bürger von enormer Bedeutung. Dabei geht es um innereuropäische Integration und Harmonisierung.
Darüber hinaus müssen die Arbeitsplätze im Verkehrssektor auf hohem sozialen Standard gesichert werden und Mobilität für den Einzelnen bezahlbar bleiben.
Verkehrspolitik erfordert langfristige Planung, klar definierte nachvollziehbare Kriterien und zeitnahe Umsetzung und Finanzierung. Am allerwichtigsten ist: Sie
muss den Menschen dienen und die Umwelt schützen.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Michael Groß. - Jetzt spricht
für die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring.
Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man der Debatte aufmerksam gefolgt ist, stellt
man fest, dass manches zur allgemeinen nationalen Verkehrspolitik gesagt worden ist, aber nicht sehr viel zum
Weißbuch. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, das, was hier gesagt worden ist, darf nicht unkommentiert bleiben.
Ganz offensichtlich ist zumindest in Ihren Arbeitsgruppen noch nicht angekommen, dass es in Deutschland eine grundgesetzlich festgelegte Schuldenbremse
gibt. Deshalb können die Fachpolitiker aus dem Bereich
Infrastruktur nicht aus dem Vollen schöpfen, wie Sie das
selbst gerne machen würden.
({0})
Das geht schlicht nicht. Deshalb ist die 1 Milliarde
Euro, die diese Koalition am Sonntagabend an zusätzlichen Investitionsmitteln für das kommende Jahr geplant
hat, ein großer Erfolg von Peter Ramsauer und allen Beteiligten. Das darf man nicht kleinreden.
({1})
Ich will deutlich sagen, dass mich die Rede des Kollegen Burkert - der offenbar schon gehen musste - ausgesprochen fasziniert hat, denn sie hat in weiten Teilen
nichts mit der europapolitischen Realität zu tun - übrigens auch nichts mit der eisenbahnpolitischen Diskussion, die wir in der Koalition führen.
Eines aber dürfte doch auch Sozialdemokraten vermittelbar sein: Es macht keinen Sinn, dass das von der
öffentlichen Hand zur Verfügung gestellte Eigenkapital
von Infrastrukturunternehmen, das ausschließlich deshalb entsteht, weil dieses Parlament Infrastrukturprojekte finanziert, mit einer angenommenen Mindestverzinsung von 8 Prozent bewertet wird. Das müsste sogar
Sozialdemokraten vermittelbar sein.
Das ist der aktuelle Streit bei der Frage des Recast. In
diesem Punkt bin ich ganz an der Seite der Sozialistin,
die hier Hauptberichterstatterin ist und die es jedenfalls
verstanden hat, dass es nicht vernünftig ist, das Eigenkapital von Unternehmen, die von der Finanzierung von
Infrastrukturprojekten durch die öffentliche Hand leben,
mit einer Verzinsung von 8 Prozent zu bewerten. Das
sollte die Haltung des ganzen Hauses sein.
({2})
In dieser Frage lässt sich kein Keil zwischen die Koalitionsfraktionen treiben. Deshalb haben wir in diesem
Zusammenhang vereinbart, dass wir die Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland abwarten. Wenn diese Entscheidung vorliegt, dann ist der
Bund als Eigentümer gerüstet. Dessen können Sie sicher
sein.
Ich will einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen,
weil wir uns dazu alsbald in einem Gesetzgebungsverfahren befinden werden. Es geht um die Frage, wie wir
in Deutschland mit dem Fernbusverkehr umgehen wollen. Ab dem 1. Januar kommenden Jahres sind Fernbusse innerhalb der Europäischen Union voll liberalisiert. Das heißt, ein Bus im Fernverkehr kann in
Amsterdam starten und bis Warschau durch die Bundesrepublik Deutschland hindurchfahren. Währenddessen
kann er Fahrgäste aufnehmen oder absetzen.
({3})
Das ist Ergebnis des Handelns der Europäischen
Union. Hiermit hat die Bundesrepublik Deutschland
zunächst nichts zu tun. Ich halte es allerdings für eine
Aufgabe des nationalen Parlaments, dass wir den Busunternehmen in Deutschland zumindest die gleiche Möglichkeit bieten, im eigenen Land diese Verkehre zu realisieren. Wir arbeiten im Rahmen der Novelle des
Personenbeförderungsgesetzes daran, hier gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen dem niederländischen
Busunternehmer und dem niedersächsischen Busunternehmer zu schaffen, um das einmal so klar zu sagen.
({4})
Ein Letztes - es wurde vorhin in einer Randbemerkung angesprochen -: Im Antrag steht das Nötige zu den
Bodenverkehrsdiensten an Flughäfen. Solange wir Wettbewerb haben und die Eigenabfertigungsmöglichkeiten
von den Airlines nicht genutzt werden, ist eine durch Europa verordnete Ausweitung der Regulierung nicht erforderlich. Das ist die Haltung der Koalition und der
Bundesregierung; dazu stehen wir.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. - Jetzt spricht
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Alexander
Ulrich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kritik am Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommission ist in jüngster Zeit immer lauter geworden. Die Kritik bezieht sich auf verschiedene Aspekte. So haben die
Mitglieder des Verkehrsausschusses in Brüssel zu Recht
gesagt, dass der Zeithorizont - 2030 bis 2050 - viel zu
weit gefasst ist. Wenn wir die dringend notwendige Verlagerung des Güterverkehrs auf Schiene und Wasser auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, werden wir
hier nie vorankommen.
Fatal ist auch, dass das Weißbuch weiterhin rücksichtslos auf Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung setzt. Die Kommission muss endlich einsehen,
dass diese Strategie gescheitert ist. Die Liberalisierung
hat nicht zu niedrigeren Preisen geführt; die Preise sind
gestiegen. Die Liberalisierung hat auch nicht die Servicequalität verbessert; sie ist schlechter geworden.
({0})
Der dritte Kritikpunkt ist, dass die Pläne der EU-Kommission wieder einmal auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden.
Schauen wir uns die Bahn an. Auch hier setzt die
Kommission auf eine gescheiterte Strategie. Die Grünen
fordern auch noch die Trennung von Netz und Schiene
bei der Bahn.
({1})
Da kann man Ihnen nur zurufen: Wer bei der Bahn auf
britische Verhältnisse setzt, der hat wirklich gar nichts
verstanden. Dieses Modell wäre verheerend, nicht nur
für die Beschäftigten, sondern auch für die Sicherheit
der Reisenden.
Lassen Sie mich ein Thema anschneiden, das sehr eng
mit der Frage der künftigen Mobilität in Europa verknüpft ist. Am 30. November 2011 soll das sogenannte
Flughafenpaket von der EU-Kommission vorgelegt werden. Die bisher bekannt gewordenen Überlegungen werden sowohl von Flughafenbetreibern als auch von den
Gewerkschaften scharf kritisiert. Diese Kritik ist absolut
gerechtfertigt: Wieder einmal will die Kommission Maßnahmen durchbringen, die gleichbedeutend sind mit weniger Sicherheit und weniger Lohn, mit mehr Lärmbelästigung für die Anwohner und weniger sozialer Sicherheit
für die Beschäftigten.
Die europäische Verkehrspolitik muss grundlegend
verändert werden:
({2})
Die Rechte von Beschäftigten dürfen ebenso wie die Sicherheit der Kunden nicht auf dem Altar einer neoliberalen, ökologisch fragwürdigen Mobilitätspolitik geopfert
werden. Die Linke spricht sich klar gegen weitere Liberalisierungen in der Verkehrspolitik aus. Im Verkehrsbereich zählen drei Dinge: Klimaschutz, bezahlbare Mobilität für alle und gute Arbeitsbedingungen für die
Beschäftigten der Branche. Für eine solche ökologischsoziale Mobilität wird die Linke auch in Zukunft eintreten und streiten.
Hier ist auch darüber gesprochen worden, was der
Bundesverkehrsminister macht. Er ist im Prinzip ein Ankündigungsminister. Er hat Erfolge auf CSU-Parteitagen; aber wenn er hier in Berlin ankommt, wird er von
der Bundeskanzlerin ausgebremst. Das, was hier angekündigt wurde, ist in der Realität noch nicht angekommen. Aus linker Sicht muss man aber auch sagen: Zum
Glück kommt das nicht in der Realität an.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Alexander Ulrich. - Jetzt
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Stephan Kühn. Bitte schön, Kollege Stephan
Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
darüber gesprochen: Die EU-Kommission hat ambitionierte Ziele für den Verkehrssektor formuliert. Wir begrüßen diese Ziele, auch wenn es leider Langfristziele
sind. So sollen die Emissionen im Verkehrssektor bis
2050 um 60 Prozent reduziert werden. Es fehlen Zwischenschritte, sodass man Gefahr läuft, diese Sachen auf
die lange Bank zu schieben, weil 2050 noch weit weg
ist.
Ein wichtiges Ziel, das formuliert wird, ist die Minderung der Abhängigkeit vom Öl. Es ist angesprochen
worden: Der Bedarf an Öl macht 96 Prozent des gesamten Energiebedarfs des Verkehrssektors aus. Es ist nicht
nur eine umweltpolitische, sondern auch eine klar wirtschaftspolitische Herausforderung, diese Abhängigkeit
zu reduzieren.
({0})
Die Bezahlbarkeit von Mobilität ist eng mit der Frage
verbunden, wie wir die Abhängigkeit vom Öl reduzieren, weil wir nicht mehr die Zeit bekommen werden wie
in den 70er-Jahren, als das Barrel Öl 3 US-Dollar gekostet hat. Es ist auch eine volkswirtschaftliche Frage, weil
viele Unternehmen aufgrund der steigenden Kosten
durch die Energieimporte ganz große Probleme haben.
Deshalb ist es nicht nur umweltpolitisch, sondern auch
volkswirtschaftlich richtig, diese Abhängigkeit vom Öl
zu reduzieren.
({1})
Deutschland hat sich ähnliche Ziele wie die, die im
Weißbuch Verkehr formuliert sind, gesetzt. Der Trend
geht jedoch in eine völlig andere Richtung: Während der
Energieverbrauch von Industrie und Haushalten sinkt,
stagniert er in diesem Bereich in Deutschland seit Jahren. 80 Prozent des Energieverbrauchs für den Verkehr
gehen auf das Konto des Straßenverkehrs.
Nun könnte man nach dem Energiekonzept der Bundesregierung erwarten, dass diese sich mit Blick auf das
Weißbuch Verkehr an die Spitze der Bewegung stellt und
mit gutem Beispiel vorangeht. Stattdessen formuliert sie
Vorbehalte zum Weißbuch und stellt Ziele und Maßnahmen des Weißbuchs infrage, beispielsweise dass bis
2050 CO2-neutral in unseren Städten gefahren werden
soll. Das sei dirigistisch.
({2})
Ich frage mich, welche Umsetzungschancen dieses
Weißbuch Verkehr haben soll, wenn das größte und wirtschaftlich potenteste Land in Europa, nämlich Deutschland, beispielsweise über Staatssekretär Jan Mücke ausrichten lässt, das Weißbuch sei nicht unmittelbarer
Handlungsleitfaden der Bundesregierung.
Wie sieht es konkret mit der nationalen Ausformung
aus? Was wurde schon zugesagt? Von Ankündigungsminister Ramsauer hat man Anfang 2010 gehört: Wir
legen ein umfassendes Energie- und Klimaschutzkonzept für den Verkehrssektor vor.
Fragt man nach, wann das vorliegen wird, heißt es
lapidar in der Antwort, dass im Laufe des Jahres 2012,
zwei Jahre nach der Ankündigung, etwas vorgelegt wird.
Ich erinnere daran: 2013 sind Neuwahlen. Bis dahin
wollen Sie etwas geschafft haben, Herr Minister.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Denn
gerade gestern haben wir im Ausschuss eine Debatte zur
Verkehrssicherheit geführt. Man kann dazu im Weißbuch
Interessantes lesen. Darin heißt es, man wolle die Zahl
der Verkehrstoten bis 2050 „auf nahe Null“ senken.
Das ist eine Vision Zero und damit etwas völlig anderes als das, was uns gerade mit dem Entwurf eines nationalen Verkehrssicherheitskonzeptes vorgelegt wurde.
Unter diesem Minister bleibt die Bundesrepublik hinter
den im Weißbuch Verkehr formulierten Zielen zur Verkehrssicherheit zurück.
Die zwei häufigsten Unfallursachen sind das Fahren
mit nicht angepasster Geschwindigkeit und das Fahren
unter Alkoholeinfluss. Was wird dagegen unternommen? - Nichts. Es gibt weder ein einheitliches Tempolimit noch die Null-Promille-Grenze für das Fahren. Im
Weißbuch Verkehr ist formuliert, wohin es gehen könnte
und müsste.
Herr Minister, Sie sollten nicht nur etwas ankündigen,
sondern das Weißbuch als Handlungsleitfaden für Ihre
Politik nutzen. Schauen Sie regelmäßig hinein, und legen Sie entsprechende Anträge und Gesetzesvorhaben
auf, um die Vorgaben dieses Weißbuchs umzusetzen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Kühn. - Jetzt spricht für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dirk Fischer.
Bitte schön, Kollege Dirk Fischer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die gemeinschaftliche Verkehrspolitik der Europäischen
Union hat dazu beigetragen, dass in den letzten 20 Jahren nach Öffnung des Binnenmarktes für Warentransporte und Bürger vieles einfacher geworden ist. Wir sollten unseren Bürgern immer, auch bei solchen Debatten,
den positiven Nutzen der Europäischen Union vor Augen führen.
({0})
Die heutige Debatte zeigt aber auch, dass es notwendig ist, bereits erreichte Ziele dieser gemeinschaftlichen
Verkehrspolitik weiterzuentwickeln. Das Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommission gibt hierfür wesentliche Impulse, um das künftige Verkehrswachstum zu
bewältigen, ohne dabei Klima- und Umweltschutzziele
zu vernachlässigen.
Ohne Abstriche unterstütze ich folgende Aussage der
Europäischen Kommission: Die Einschränkung von Mobilität ist keine Option. - Das sollte immer wieder deutlich unterstrichen werden.
({1})
Diese Aussage muss Grundlage jeder Verkehrspolitik
sein - national wie europäisch.
Für Europa, speziell für die exportorientierte deutsche
Volkswirtschaft, müssen technische und rechtliche Hindernisse immer weiter abgebaut werden. Um dies zu verdeutlichen, benutze ich ein ganz triviales Beispiel: Welchen Ladestecker braucht man in der Zukunft, wenn man
mit dem Elektroauto von Deutschland nach Frankreich
fahren will? Entscheidend ist, dass diese Dinge harmonisch europäisch geregelt werden.
Die Wettbewerbsfähigkeit der wachsenden Mobilitäts- und Logistikbranche muss gestärkt werden. Das
sorgt für wirtschaftlichen Erfolg und zukunftssichere Arbeitsplätze gleichermaßen. Wichtig ist: Bei allen Maßnahmen, die die europäische Politik ergreift, muss das
Subsidiaritätsprinzip eingehalten werden.
({2})
Das gilt vor allem auch für den städtischen Verkehr,
Stichwort „Citymaut“. Darüber sollten getrost die Bürgerinnen und Bürger vor Ort und ihre Kommunalparlamente entscheiden und nicht Brüssel.
({3})
Da treffen wir eine ganz klare Aussage.
Der Ausbau der transeuropäischen Netze ist für das
Zusammenwachsen Europas wichtig. Allerdings dürfen
Investitionsmittel nicht allein auf grenzüberschreitende
Korridore eines Kernnetzes konzentriert werden. Das
Ziel der Europäischen Kommission, möglichst viel Verkehr auf Schiene oder Wasserstraßen zu verlagern, wird
von uns unterstützt.
({4})
Allerdings bringen dirigistische und pauschale Vorgaben
über Entfernungen, Mengen und Zieldaten überhaupt
nichts.
({5})
Die Kommission beantwortet nämlich nicht die zentrale
Frage, wie der notwendige Schienenausbau finanziert
werden soll, wenn Güterverkehr ab 300 Kilometern Entfernung auf die Schiene verlagert werden soll. Im Übrigen gilt doch auch hier das Wirtschaftlichkeitsgebot.
Solche Verkehre müssen wirtschaftlich sein, und der
Markt muss sie akzeptieren.
({6})
Ich will bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen, dass
Herr Mehdorn als Bahnchef früher dazu gesagt hat: Das
rechnet sich erst ab 400 Kilometer. Der frühere SPDVerkehrsminister Klimmt hat noch einen draufgesetzt
und gesagt: In Wahrheit rechnet es sich erst ab 500 Kilometer. Also lasst bitte die Kirche im Dorf, und vergesst
in diesem Zusammenhang nicht die Aspekte der Wirtschaftlichkeit.
({7})
Alle Verkehrsträger sind gleichwertig zu behandeln.
Eine einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung von
Verkehrsträgern lehnen wir ab. Das heißt auch: Es darf
keine Diskriminierung des Lkw zugunsten der Schiene
geben.
Zum Thema Trennung von Netz und Betrieb im
Schienenverkehr will ich Folgendes sagen: Hätte ich ein
weißes Blatt Papier vor mir liegen, würde ich darauf die
eigentumsrechtliche Trennung von staatlicher Infrastruktur und Verkehrsbetrieben im Wettbewerb schreiben. Das entspricht meiner ordnungspolitischen Grundüberzeugung.
({8})
Aber ich habe dieses weiße Blatt Papier nicht vor mir
liegen.
({9})
Wir müssen uns daher mit den vorhandenen Strukturen
auseinandersetzen.
Derzeit kann ich mit dem Holdingmodell der DB AG
leben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens. Die Bundesnetzagentur muss in ihren Rechten weiter gestärkt werden. Sie muss auch das Recht haben, Bescheide zu erlassen. Zweitens. Mit dem geplanten
Eisenbahnregulierungsgesetz müssen weitere Grundlagen für die Stärkung des Wettbewerbs gelegt werden.
Drittens. Wir müssen das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Vertragsverletzungsverfahren gegen
Deutschland abwarten und gegebenenfalls darauf reagieren.
Wettbewerb muss es auch - das wurde von einigen
Rednern angesprochen - bei den Bodenabfertigungsdiensten auf den Flughäfen geben. Dafür hat die Richt16526
Dirk Fischer ({10})
linie der EU gesorgt. Was in Brüssel jetzt geplant wird,
lehnen wir ab. Wir wollen keinen Wettbewerb zugunsten
von Dumpinglöhnen und zulasten von Sicherheit und
Qualität.
({11})
Manche Entwicklungen - wir alle in den Fraktionen
haben mit den Betriebsräten der Flughäfen gesprochen sind schon heute als eher unerfreulich zu bezeichnen. Wir
wollen keine Verschlechterung und auch keine Verteuerung von Leistungen für unsere Passagiere. Das Signal
nach Brüssel lautet: Keine Überarbeitung der Bodenabfertigungsrichtlinie mit dem Ziel einer noch weiter gehenden Marktöffnung, schon gar nicht in Form einer
Verordnung. Wir fordern, die bestehenden Regelungen
erst einmal europaweit umzusetzen, was in etlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch nicht geschehen ist.
Eine Zweckbindung verkehrsspezifischer Einnahmen
für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, wie es die
SPD in ihrem Antrag fordert, ist im Prinzip richtig, aber
nur auf nationaler Ebene. Eine Regelung auf EU-Ebene
würde die nationalen Befugnisse erheblich einschränken
und den Bundestag und die anderen nationalen Parlamente in ihrer Budgethoheit aushebeln.
Alles in allem weist das Weißbuch der EU-Kommission, wie ich denke, in die richtige Richtung. Darüber
sind sich die Fraktionen wohl weitgehend einig. Es ist
keine Frage, dass sich auch der Verkehrssektor den aktuellen Herausforderungen der Politik stellen muss - zur
Verbesserung von Qualität und Zuverlässigkeit des Verkehrssystems und der von diesem System angebotenen
Dienstleistungen, zum Schutz von Klima und Umwelt,
für praxisnahe Innovationen und natürlich auch für die
Sicherheit im Verkehr.
Einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum zum
Wohle unserer Bürger können und wollen wir weiterhin
gemeinsam mit unseren Nachbarn verwirklichen. Deswegen bitte ich um Zustimmung zum Antrag der Koalitionsfraktionen.
({12})
Vielen Dank, Kollege Dirk Fischer. - Wir sind damit
am Ende dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/7679. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/7464 mit
dem Titel „Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer
nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Fraktionen CDU/CSU und FDP. Gegenprobe! - Das sind die
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Somit ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7177 mit dem Titel „EU-Weißbuch Verkehr Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in
Deutschland und in der Europäischen Union nutzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die
Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5906 mit dem Titel „Weißbuch Verkehr für
Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Das ist die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das
ist die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({0}),
Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Widerruf der gemäß § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes erteilten Zustimmungen zu
den Anträgen der Bundesregierung vom
28. Januar 2011 und 23. März 2011
Bundeswehr aus Afghanistan abziehen
- Drucksache 17/7547 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
Wolfgang Gehrcke. - Bitte schön, Kollege Wolfgang
Gehrcke, Sie haben das Wort.
({2})
Danke sehr, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich finde es sehr bedrückend, in einer
Situation über unseren Wunsch, den Krieg in Afghanistan beenden zu wollen, diskutieren zu müssen, in der
weitere, neue Kriege drohen. Das Kriegsgetöse um den
Iran signalisiert uns, dass Krieg immer mehr wieder zum
Mittel der Politik geworden ist, was ich nicht akzeptieren will. Ich möchte, dass sich dieses Parlament für eine
atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten einsetzt, damit
dem Kriegsgetöse entgegengetreten wird. Das halte ich
für sehr wichtig.
({0})
- Wir können das gerne hineinschreiben. Wenn Sie einverstanden sind, dann beschließen wir das zusammen.
Wir haben den Antrag auf der Grundlage des Parlamentsbeteiligungsgesetzes eingebracht. Wir möchten,
dass der Bundestag erstmalig von § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes Gebrauch macht, von dem Recht,
entsandte Truppen zurückzuholen.
({1})
Wir wollen, dass die Bundeswehr zurückgeholt wird,
dass der Einsatz beendet wird. Ich will Ihnen die Gründe
dafür vortragen. Der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wäre ein deutliches Zeichen, dass der Krieg beendet werden soll. Jeder Tag, an dem der Krieg fortdauert,
kostet Menschen Leben und Gesundheit und mindert die
Chancen auf Frieden. Wir verlieren kostbare Zeit. Ohne
den Abzug der ausländischen Truppen wird es in Afghanistan keinen Frieden geben. Bislang hat der Krieg zwischen 30 000 und 100 000 Menschen das Leben gekostet. Unser Antrag ist ein Antrag für das Leben. Das
Parlament sollte endlich ein Signal für das Leben in Afghanistan aussenden.
({2})
Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht
auch das Leben von Soldatinnen und Soldaten schützen.
Wir wollen nicht, dass Soldaten, die der Bundestag nach
Afghanistan geschickt hat, traumatisiert immer wieder
den Krieg durchleben müssen. Wir wollen nicht, dass
Soldatinnen und Soldaten durch diesen Krieg verroht
werden. Ich fand es erschütternd, im Spiegel über einen
deutschen Scharfschützen zu lesen, der unzufrieden war,
weil er nicht zum Schuss gekommen ist. Er wird dort mit
den Worten zitiert: „Das ist, als wenn du einen Hund
scharfmachst und den nicht von der Leine lässt“. Ich
fand es ebenso erschütternd, in der gleichen Ausgabe des
Spiegel zu lesen, dass ein Soldat folgende Nachricht auf
seinem Handy gespeichert hat: „Kämpfe fanatisch! Du
bist ein Menschenjäger!“ Das mögen Einzelfälle sein,
aber sie zeigen, wie der Krieg Menschen verroht. Dies
sollten wir nicht fortsetzen. Wir sollten die Soldaten zurückholen.
({3})
Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht und
aus unserer Sicht dazu beitragen, dass das Geld der Steuerzahler nicht mehr für den Krieg, sondern für Entwicklung und Aufbau eingesetzt wird. Bislang haben diese
zehn Jahre Krieg Deutschland 17 Milliarden Euro gekostet. Das sind pro Kopf der afghanischen Bürgerinnen
und Bürger 3 800 Euro. Das durchschnittliche Einkommen in Afghanistan beträgt 400 bis 450 Dollar pro Jahr.
Wie viel Segensreiches könnte man in Afghanistan erreichen, wenn man das Geld nicht für den Krieg vergeuden
würde? Dem berühmten Satz: „Nichts ist gut in Afghanistan“,
({4})
ist hinzuzufügen: Vieles kann besser werden, wenn die
Gelder nicht mehr für den Krieg, sondern für den Frieden eingesetzt werden.
Ich will Ihnen sagen: Dieser Krieg wird nicht um Demokratie und Menschenrechte willen geführt. Unsere
Freiheit und unsere Sicherheit werden nicht am Hindukusch verteidigt. Auch bei diesem Krieg geht es um geostrategischen Einfluss und um Naturressourcen. Dieser
Krieg ist auch im Interesse der deutschen Rüstungsindustrie, die neue Waffen in Afghanistan testet und ihre
Notwendigkeit unter Beweis stellen muss. Ich möchte
nicht, dass wir der deutschen Rüstungsindustrie weiter
den Gefallen tun, Krieg zu führen. Deswegen erwarte
ich, dass der Deutsche Bundestag unserem Antrag, den
Einsatz zu beenden, zustimmt und von seinem Recht Gebrauch macht, die Bundeswehr sofort zurückzuholen.
Das wäre eine gute und vernünftige Entscheidung des
Bundestages.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Robert Hochbaum.
Bitte schön, Kollege Hochbaum.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte ich es nicht
versäumen, zuerst einmal all unseren Soldaten, den Polizisten und natürlich auch allen zivilen Akteuren für ihren
Dienst in Afghanistan zu danken. Ich glaube, ich darf sagen: Sie können sicher sein, dass wir mit unseren Gedanken immer auch bei Ihnen sind.
({0})
Wenn ich mich hier umschaue, bin ich mir relativ sicher, dass fast alle Anwesenden einer Meinung sind: Unsere Soldatinnen und Soldaten gehören so früh als möglich aus Afghanistan abgezogen. Doch die Geister
scheiden sich, wie der vorliegende Antrag der Linken
zeigt, bei der Frage, was „so früh als möglich“ bedeutet.
Für die Mehrheit dieses Hauses bedeutet dies: ein verantwortungsvoller Abzug mit dem klaren Bewusstsein,
die Sicherheit unseres Landes nicht zu gefährden. Die
anderen, nämlich Sie, meine Damen und Herren von den
Linken, handeln meiner Meinung nach abermals verantwortungslos und leichtfertig. Sie gefährden sogar die
Menschen bei uns hier in Deutschland.
({1})
- Hören Sie gut zu.
Warum stehen wir für Verantwortung und verantwortliches Handeln in Afghanistan? Die Sicherheit der Bürger in unserem Lande steht dabei auf jeden Fall an erster
Stelle. Das heißt, von Afghanistan darf auch in Zukunft,
auch nach dem Abzug unserer Truppen, keine Gefährdung für unsere Bevölkerung mehr ausgehen.
Kollege Hochbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage
unseres Kollegen Christian Ströbele?
Darauf freue ich mich, Herr Ströbele. Sehr gerne.
Bitte schön, Kollege Ströbele.
Danke, Herr Kollege. - Können Sie mir erklären, wie
Deutschland und deutsche Bürger in Deutschland - nicht
diejenigen, die in Afghanistan Krieg führen oder aus anderem Grunde dort sind - durch Afghanen bzw. durch
den Krieg in Afghanistan konkret gefährdet werden, vor
allen Dingen dann, wenn deutsche Truppen nicht mehr
in Afghanistan sein sollten? Es hat nach meiner Kenntnis
noch nie eine Drohung von Taliban oder anderen Aufständischen in Afghanistan gegenüber dem deutschen
Volk gegeben, sondern es wurde immer nur die Forderung „Abzug aus Afghanistan!“ erhoben.
({0})
Lieber Kollege Ströbele, wenn Sie einen Augenblick
länger Geduld gehabt hätten, hätte ich es Ihnen erklärt.
Aber ich erkläre es Ihnen auch gerne schon jetzt.
Erinnern Sie sich nur an die Bilder von Terrorausbildungscamps in Afghanistan - Sie können sich daran
vielleicht nicht mehr erinnern, ich mich aber sehr gut -,
auf denen wir vor vielen Jahren gesehen haben, wie vor
Ort in Afghanistan junge Menschen für den weltweiten
Terrorismus ausgebildet werden.
({0})
Zum Ziel des weltweiten Terrorismus gehören auch Europa und Deutschland. Es war nur eine Frage der Zeit,
bis die Menschen, die dort mit Hasstiraden ausgebildet
wurden,
({1})
auf den Rest der Welt angesetzt wurden, auch um hier in
Deutschland ihre Aktivitäten zu entfalten. Zum Glück
konnten einige dieser Aktivitäten im Vorfeld erkannt und
verhindert werden. Insofern wäre nicht von den Afghanen direkt, sondern von anderen Leuten, die eventuell in
Afghanistan tätig waren
({2})
- wir alle kennen sie -, eine direkte Gefährdung der Bevölkerung in Deutschland ausgegangen. Darum wäre es
sträflich, diesen Zustand, der ein Rückschritt wäre, wieder zuzulassen, alle Anstrengungen als vergeblich einzuordnen - wir hatten eine solche Situation in Afghanistan
schon einmal - und alle Opfer, die dort zu beklagen waren, für umsonst zu erklären. Nein, wir wollen kein Land
mehr, das den Terrorismus in die Welt und auch nach
Deutschland exportiert. Wir wollen keine Gefährdung
der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, Herr
Ströbele.
({3})
Ich sagte bereits: Manche erinnern sich noch an die
Bilder von Terrorausbildungscamps und Wüstenfestungen, die nicht zum Spaß gebaut wurden, sondern dem
Zweck dienten, den internationalen Terrorismus zu unterstützen. Darum stehen wir zu der Aussage: Erst wenn
die Sicherheitslage es zulässt und die Nachhaltigkeit des
Übergangsprozesses, Herr Ströbele, nicht gefährdet ist,
werden wir den vertretbaren Spielraum zur Truppenreduzierung nutzen.
Präsident Karzai hat für sein Land das Ziel definiert,
bis Ende 2014 die volle Souveränität zu übernehmen.
Die internationale Schutztruppe wird darum bis 2014
ihre Truppenstärke zurückführen. Das ist unser gemeinsam vereinbartes Ziel, und daran werden wir uns halten.
Die Fraktion der Linken verweist in ihrem Antrag auf
ein Zitat des Sonderbotschafters Steiner aus dem Tagesspiegel, „dass es in Afghanistan keine militärische Lösung geben kann.“ Das ist richtig.
({4})
Dem kann man nur zustimmen.
({5})
Er sagte aber ebenfalls: Ohne die militärische Komponente ist auch eine sichere Entwicklung zurzeit nicht
möglich.
({6})
Er sagte auch, dass es sträflich und unverantwortbar sei,
die Truppen sofort abzuziehen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wenn
Sie schon jemanden für sich sprechen lassen, dann sollten Sie seine gesamte Auffassung wiedergeben. Das
würde Ihren Antrag aber ad absurdum führen.
({8})
Natürlich wissen auch wir, dass es in Afghanistan
keine rein militärische Lösung geben kann. Darum ist
die militärische Komponente nur ein Teil des Konzeptes
der vernetzten Sicherheit; denn kein Akteur kann Frieden und Sicherheit in diesem Land allein gewährleisten.
Nur durch das Zusammenspiel aller Instrumente können
der Erfolg und damit die Stabilität des Landes erreicht
werden.
Verantwortungsvolles Handeln zeichnet sich auch
durch Verlässlichkeit und Langfristigkeit aus. Afghanistan wird auch über 2014 hinaus deutsche Unterstützung
brauchen und - da bin ich mir sicher - auch bekommen.
Auch wenn die Kampftruppen das Land verlassen haben, müssen die Ausbildung der Sicherheitskräfte und
natürlich auch - das ist ganz wichtig - der zivile Aufbau
weitergehen. Wir setzen in diesem Zusammenhang sehr
auf die Afghanistan-Konferenz in Bonn am 5. Dezember
2011. Dort gilt es, die Weichen für ein sicheres und stabiles Afghanistan zu stellen.
Im Fortschrittsbericht Afghanistan vom Juli dieses
Jahres wird von einer Generationenaufgabe gesprochen,
die in Afghanistan zu leisten ist. Die wirtschaftliche und
soziale Transformation ist bei noch immer schwieriger
Sicherheitslage nur mit internationaler Unterstützung zu
meistern.
Es tut mir leid, aber nun noch einmal zu Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der Linken. Mir ganz
persönlich kommt es so vor, als wollten Sie, wenn Ihre
Ziele erreicht würden, zulassen, dass dieses Land wieder
- ich habe es Herrn Ströbele erläutert - in den Terror zurückfällt, als wollten Sie der afghanischen Bevölkerung
jede Zukunftsperspektive nehmen und als wollten Sie
die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland in der Zukunft tatsächlich erneut gefährden.
Eine große Mehrheit der verantwortungsvollen Politiker dieses Hauses will das nicht. Sie stehen für Verantwortung für die afghanische Bevölkerung und für Sicherheit für die Menschen in unserem Land.
({9})
Darum ist der Abzug unserer Truppen zwar bereits am
Horizont zu sehen - wir wissen: 2014 -, aber er erfolgt
erst dann, wenn er verantwortbar ist und wenn von Afghanistan keine Gefährdung mehr für die Menschen in
unserem Land ausgeht.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Hochbaum. - Jetzt spricht für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Johannes Pflug. Bitte schön, Kollege Pflug.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit Beginn des Einsatzes unserer Bundeswehr
in Afghanistan, also seit fast genau zehn Jahren, wiederholt die Fraktion der Linkspartei fast gebetsmühlenartig
Jahr um Jahr eine Forderung: Sofort raus aus Afghanistan, Bundeswehr raus aus Afghanistan.
({0})
Kollege Gehrcke, auch Ihre Argumente sind im
Grunde genommen stets dieselben,
({1})
nämlich, militärisch löse man keine Konflikte,
({2})
die Sicherheitslage verschlechtere sich,
({3})
die Bevölkerung sei für den sofortigen Abzug, kurz gesagt: der Einsatz in Afghanistan sei gescheitert, ohne etwas erreicht zu haben.
({4})
- Nun bestätigen Sie das ausdrücklich.
Wenn Sie genau auf Ihre Worte achten würden, dann
würden Sie wahrscheinlich zu derselben Feststellung
kommen: Sie legen ein Glaubensbekenntnis ab. Damit
werden Sie der aktuellen Situation in Afghanistan aber
nicht gerecht.
({5})
Auf Ihrem Parteitag haben Sie, meine sehr verehrten
Damen und Herren von den Linken, ein Parteiprogramm
beschlossen, in dem Sie die internationale Solidarität betonen. Aus Solidarität mit dem afghanischen Volk fordern Sie nun in Ihrem Antrag das unverzügliche Ende
des Bundeswehreinsatzes
({6})
und unausgesprochen gleichzeitig natürlich auch den
Abzug der NATO-Streitkräfte aus Afghanistan.
({7})
- Sie bestätigen das. - Darüber hinaus haben Sie auf Ihrem Parteitag auch noch das Ende der Unterstützung
beim Aufbau des afghanischen Militärs und der Polizei
gefordert. Die Frage lautet nun: Was würde diese Art
von Solidarität für die Menschen in Afghanistan bedeuten? Das ist die konkrete Frage. Es geht nicht um Glaubensbekenntnisse.
({8})
Trotz der Erfolge bei der Ausbildung sind die afghanischen Sicherheitskräfte ohne Unterstützung der internationalen Truppen noch nicht in der Lage, die Sicherheit in Gesamtafghanistan zu gewährleisten, und ich
gebe gerne zu: Wir wissen nicht, wann sie es sein werden. Wie immer man diese Sicherheitslage auch beurteilt: Sie würde sich auf jeden Fall noch einmal erheblich
verschlechtern. Mehr noch: Ohne die finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft würde sich
die afghanische Armee entlang ihrer ethnischen Grenzen
in kürzester Zeit auflösen, und der nächste Bürgerkrieg
in Afghanistan wäre unausweichlich.
Dies trat im Jahr 1992 genau so ein, als Moskau seine
Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte
einstellte. Aber diese Lektion, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, weigern Sie sich zur
Kenntnis zu nehmen. Wenn internationale Truppen und
afghanische Sicherheitskräfte ausfallen: Wer soll dann
Ihrer Meinung nach die Afghanen schützen?
An die Stelle von gegenwärtig zweifellos prekärer Sicherheit würde ein vollständiges Machtvakuum treten,
das Kriegsherren, lokale Machthaber, Drogenbarone und
letztendlich auch ausländische Staaten nur allzu gern füllen würden. Die Taliban würden zumindest im Süden
und Osten des Landes wieder die Macht übernehmen
und Vergeltung an denjenigen üben, die sich im Vertrauen auf die internationale Gemeinschaft für ein modernes und stabiles Afghanistan engagiert haben. Wer ist
das? Das sind Lehrer, Frauenrechtler, Journalisten; das
sind Eltern, die ihren Töchtern eine gute Ausbildung ermöglichen wollten, um nur einige zu nennen. Mehr
Flucht und Gewalt sowie die Zerstörung der bescheidenen bisherigen Fortschritte, insbesondere im Bereich des
Bildungswesens und der medizinischen Versorgung, wären das Ergebnis.
Richtig ist, dass viele Dinge in Afghanistan nicht zum
Besten stehen. Aber am schlimmsten für das Land wäre
zweifellos ein unredlicher, überstürzter Abzug, wie Sie
ihn fordern. Dies wurde heute Morgen bei einem Gespräch mit Vertretern von NGOs, die in Afghanistan tätig sind, erneut deutlich.
Die Linke spricht vom hehren Ziel der internationalen
Solidarität, betreibt aber eine Politik des Sich-Heraushaltens. Auch die kritische öffentliche Meinung ist da
bereits weiter als Sie. Sie verweisen auf Umfragen, nach
denen - das stimmt - 66 Prozent der Deutschen einen
sofortigen Abzug der Bundeswehr wünschen.
({9})
Stellt man allerdings den Deutschen konkret die Frage:
„Meinen Sie sofortigen Abzug oder Abzug nach angemessenem Abschluss der Mission?“, dann ist das Ergebnis: Es befürworten mehr als 50 Prozent der Bevölkerung den Abzug in Verantwortung, also nicht den
sofortigen Abzug. Ihre Politik des „Ohne uns“ repräsentiert also keinesfalls eine Mehrheit der Menschen in diesem Land.
Sie sollten nicht Jahr für Jahr dieselben Forderungen
herunterbeten, die nicht weniger Gewalt, aber weniger
Sicherheit, weniger Entwicklung und weniger Souveränität für Afghanistan bedeuten. Wir laden Sie ein, sich
konstruktiv an der Debatte zu beteiligen. Es gibt mit dem
Jahr 2014 - das ist die Antwort auf Ihre Frage - nun eine
Perspektive für den endgültigen Abzug der deutschen
Kampftruppen aus Afghanistan. Allerdings wird die
Bundesregierung bis dahin noch viele Fragen zu beantworten haben, auch hier vor dem Deutschen Bundestag,
der bislang über die Pläne der Regierung entweder bewusst oder wegen Unvermögens im Dunkeln gelassen
wurde.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Schmidt, die
SPD-Fraktion fordert Sie und das Verteidigungsministerium auf: Legen Sie endlich dar, wie Sie den Abzug unserer Bundeswehr aus Afghanistan zeitlich und in welcher Größenordnung planen. Wenn sich die Sicherheitslage in Afghanistan begonnen hat, zu stabilisieren, wie
es von Ihrem Hause gesagt wird: Wieso war dann Ihrer
Meinung nach ein Truppenabzug im Jahre 2011 nicht
möglich? Welche Fortschritte gab es bei der Aufstellung
der afghanischen Sicherheitskräfte? Planen Sie, auch
über 2014 hinaus mit militärischen Ausbildern und Beratern in Afghanistan präsent zu sein? Und: Finden eine
Konsultation und eine Koordination mit unseren Verbündeten, allen voran den USA, über unseren Abzug statt?
In ihrem Antrag verweist die Linkspartei auf einen
Allgemeinplatz, der hier von jedem geteilt wird. Es ist
selbstverständlich richtig: Militärisch ist der Konflikt in
Afghanistan nicht zu lösen. Aber das ist auch keine Alternative. Beides muss praktiziert werden. Gerade deshalb sind politische Instrumente für die Lösung des Konflikts umso bedeutsamer. Aber auch hier ist die bisherige
Bilanz der Regierung relativ ernüchternd.
Frau Staatsministerin Pieper - ich hatte sie vorhin gesehen -, wie sehen die Planungen, die Forderungen und
Initiativen des Auswärtigen Amtes aus, um zu verhindern, dass die Konferenz in Bonn im Dezember dieses
Jahres zu einem reinen Showereignis verkommt? Wie
wollen Sie sicherstellen, dass die afghanische Opposition und Zivilgesellschaft ausreichend in Bonn vertreten
sein werden? Was haben Sie auf der Konferenz in Istanbul und im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im
UN-Sicherheitsrat bisher erreicht, um die Nachbarn Afghanistans konstruktiv in den Stabilisierungsprozess einzubinden? Auch in dieser Beziehung hatten Sie bisher
im Bundestag nichts vorzuweisen. Man hört überhaupt
nichts über die Konferenz in Istanbul.
Frau Staatsministerin Pieper, erklären Sie dem Deutschen Bundestag bitte, ob die Voraussetzungen für einen
Abzug unserer Bundeswehr überhaupt gegeben sind.
Verläuft die Übergabe von Provinzen und Städten an die
Afghanen planmäßig? Sind diese in der Lage, diese Gebiete zu halten und für die Sicherheit der Menschen zu
sorgen? Welche Fortschritte macht der politische Versöhnungs- und Friedensprozess in Afghanistan? Und vor
allem: Wie hat das militärische Engagement Deutschlands im letzten Jahr dazu beitragen können, diese Prozesse zu fördern?
Die SPD-Fraktion hat sich bisher immer zu einem
deutschen Engagement in Afghanistan bekannt. Diese
Zustimmung kann und wird allerdings nicht ohne Klärung der genannten und anderer offener Punkte durch die
Bundesregierung erfolgen.
Wir fordern Sie daher auf, dem Deutschen Bundestag
endlich über Ihre Pläne für den Einsatz unserer Soldaten
in Afghanistan Rede und Antwort zu stehen.
Danke.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Wolfgang Gehrcke.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Ich habe mich zu
einer Kurzintervention gemeldet, weil ich vom Kollegen
Pflug direkt angesprochen worden bin. Ich finde, wenn
man sich die Sache nüchtern vor Augen führt, muss die
erste Feststellung sein - deswegen haben wir Sonderbotschafter Steiner mit seiner Aussage bemüht, dass der
Konflikt nicht militärisch zu lösen ist -: Wenn man in
der Sackgasse ist, dann kann es kein Weiter-so oder Vorwärts geben;
({0})
dann muss man zurückgehen, das heißt die Truppen zurückziehen. Das hat seine Logik.
({1})
Zweitens ist festzustellen: Weil sehr viel Widerstand
in Afghanistan daher rührt, dass die Afghaninnen und
Afghanen ihr Land als von fremden Truppen besetzt betrachten, wird der Verbleib von fremden Truppen den
Widerstand verstärken, und es wird nicht zu einer friedlichen Lösung kommen. Die Besetzung des Landes ist ein
Argument, das die Taliban ständig anführen. Ich sage
sehr zugespitzt: Mit Ihrer Politik stärken Sie die Taliban,
statt sie zu schwächen.
({2})
Der dritte Punkt ist, dass wir endlich darüber nachdenken müssen, dass das Volk von Afghanistan Selbstbestimmung verdient hat. Das Volk von Afghanistan
muss selber entscheiden, was wirtschaftlich gemacht
wird und was in seinem Land passieren soll. Sie bevormunden, um es freundlich zu sagen, das Volk von Afghanistan. Das wird nicht zur Lösung des Konfliktes
führen.
({3})
Meine Solidarität heißt auch: Die Menschen in Afghanistan müssen endlich selber entscheiden. Es geht nicht
an, dass mit Petersberg II in Bonn wieder über sie entschieden wird.
Das sind die Probleme, denen man sich stellen muss.
Das machen wir in unserem Antrag.
Zwei Punkte haben mich begeistert. Das kann ich nur
bestätigen, Kollege Pflug. Wir sagen seit zehn Jahren im
Bundestag: Schluss mit dem Krieg! Zieht die Bundeswehr zurück! Ich bin stolz darauf, dass wir von Anfang
an diese Position gehabt und sie durchgehalten haben im Unterschied zu anderen.
({4})
Es waren bestimmte Regierungen, die diesen unsinnigen
Kurs begonnen haben.
Der zweite Punkt ist: Dass alle Kolleginnen und Kollegen des Bundestags unser Parteiprogramm lesen, reißt
mich zu Begeisterungsstürmen hin. Machen Sie weiter
so! Es ist ein gutes Programm. Besonders gut sind die
Vorschläge zur internationalen Politik.
({5})
Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Jetzt hat als Nächster in unserer Debatte unser Kollege Dr. Djir-Sarai das
Wort. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Gehrcke, auch wenn Ihr Antrag durchaus einige
richtige Aspekte beinhaltet, dürfen wir an den Realitäten
in dieser Region und vor allem an den Realitäten in Afghanistan nicht vorbeireden.
({0})
Es ist völlig richtig, Herr Kollege Gehrcke: Es wird in
Afghanistan keine militärische Lösung geben. Das ist
sonnenklar. Darin besteht auch Einigkeit.
Es ist ebenfalls richtig: Der Westen hat sich speziell in
dieser Region in der Vergangenheit häufig Illusionen
hingegeben. Ich bestreite nicht: Auch Deutschland hatte
sich unter zum Teil falschen Vorstellungen des Einsatzes
und seiner Ziele 2001 mit der Bundeswehr in diesen Einsatz begeben. Daher mussten die Erwartungen genauso
wie übrigens auch die Einsatzstrategie selbst im Laufe
der Zeit überdacht und angepasst werden.
Ich bin allerdings davon überzeugt, dass wir heute die
richtigen Ziele formuliert haben und die richtige Strategie verfolgen. Wir verfolgen heute realistische Ziele
- das ist der wesentliche Unterschied zu früher -: hinreichende Stabilität im Land und Gewährleistung von Menschenrechten, begleitet von einer Strategie der Versöhnung und Aussöhnung im ganzen Land.
Die aktuelle Strategie trägt zu einer Verbesserung der
Situation im Land bei, sodass eine Perspektive für den
Abzug der militärischen Hilfe in Aussicht bleibt. Ungeduld zahlt sich an dieser Stelle nicht aus, Herr Kollege.
Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Bei den Entscheidungen über die Zukunft des deutschen militärischen Engagements in Afghanistan geht es
nicht um Tage, sondern es geht um wichtige Weichenstellungen für die Zukunft. Entscheidend ist die Frage,
wie das Afghanistan von morgen aussehen kann. Was im
Kern nötig ist - da stimme ich Ihnen auch zu -, ist eine
politische Lösung, eine Versöhnung der Gegner. Dazu
gibt es keine Alternative.
({1})
Wichtig ist bei diesem Friedensprozess, dass alle relevanten Gruppen einbezogen werden und dass nicht Teile
der afghanischen Gesellschaft außen vor bleiben. Wie
ich oft gehört habe, sagen dies sogar Afghanen selbst.
Die Frage des inneren Aussöhnungsprozesses muss allerdings zuerst von den Afghanen selbst vorangetrieben
werden; denn Frieden in Afghanistan kann nur zwischen
den Parteien und Gruppierungen vor Ort geschlossen
werden.
({2})
Diesem Ziel dient übrigens auch die Bonner Afghanistan-Konferenz im Dezember. Herr Kollege Pflug, das
ist keine Showveranstaltung. Deutschland ist nicht nur
Gastgeber dieser Konferenz, sondern hat auch eine Führungsrolle in Afghanistan. Die Konferenz ist insofern
besonders, da sie von afghanischer Seite als Konferenz
mit einer strategischen Bedeutung gesehen wird, eine
Konferenz, welche die Zukunft Afghanistans massiv beeinflussen wird. Deshalb übergeben wir nach der klaren
roten Linie unserer Strategie - die übrigens nicht als gescheitert zu diffamieren ist - schrittweise die Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte - in guter,
vertrauensvoller Arbeit mit unseren ISAF-Partnern.
Uns allen hier im Haus ist doch klar, dass es nicht um
einen direkten Abzug geht. Es ist aber auch klar, dass
aus Afghanistan keine Hochburg der Demokratie werden
wird. Es geht darum, diesen Übergangsprozess verantwortungsvoll und ordentlich abzuschließen. Das ist
heute die Sachlage.
Genau darum wird es auch in Bonn gehen: die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen voranzubringen, den inneren Aussöhnungsprozess zu unterstützen und dem Land eine Perspektive für die Zeit
nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen
2014 aufzuzeigen. Das sind die Hauptziele, die in Bonn
diskutiert werden. Das ist keine Showveranstaltung.
In den kommenden Wochen wird uns ein neuer Fortschrittsbericht für Afghanistan vorliegen. Kurz darauf
werden wir hier im Deutschen Bundestag über eine
Mandatsverlängerung debattieren. In dieser Debatte
wird klar zum Ausdruck kommen, dass wir eine konkrete Abzugsperspektive haben und haben müssen. Dabei darf es allerdings keine Gefährdung von allem bisher
Erreichten geben. Dabei darf es auch keine Gefährdung
für unsere Soldaten in Afghanistan geben.
In dem neuen Mandat wird dann auch die Richtung
für den Abzug der deutschen Soldaten erkennbar sein.
Denn klar und möglich ist: Wir wollen bis Ende 2014 die
Verantwortung für die Sicherheit vollständig an Afghanistan übergeben und die Kampftruppen abziehen. Das
ist international in Lissabon so vereinbart worden und
auch von Präsident Karzai so bestätigt worden. Der
Fahrplan steht. Das sind realistische Ziele, für deren Erreichung wir in den nächsten Wochen und Monaten hart
arbeiten müssen. Realistisch sind für Afghanistan: eine
ausreichend gute Regierungsführung, die Wahrung der
fundamentalen Rechte und keine neue Gefährdung unserer Sicherheit hier zu Hause.
Ich traf vor einigen Tagen hier im Deutschen Bundestag eine Gruppe von afghanischen Frauenrechtlerinnen.
Diese haben bestätigt, dass allein auf diesem Gebiet
enorme Erfolge stattgefunden haben und dass diese Erfolge mit einem Schlag vernichtet würden, wenn wir unsere Truppen abziehen würden; darüber müssen wir uns
Gedanken machen. Das ist nur ein Beispiel von vielen.
In Afghanistan entwickelt sich gerade eine kraftvolle Zivilgesellschaft. Ein kopfloser Abzug unserer Soldaten
würde diese Erfolge vernichten und wäre für viele Menschen vor Ort eine Katastrophe.
({3})
Alle diese Verbesserungen wären auf einen Schlag
hinfällig, wenn wir planlos und ohne Verantwortung das
Land verließen. Deshalb steht Deutschland auch in Zukunft an der Seite der afghanischen Bevölkerung. Auch
nach dem Abzug der militärischen Hilfe wird sich
Deutschland weiter intensiv am zivilen Wiederaufbau in
Afghanistan beteiligen. Statt hier mit wüsten Abzugsplänen um uns zu werfen, sollten wir daher lieber erklären,
wie wir die Zivilgesellschaft von morgen in Afghanistan
konkret unterstützen können. Wir sollten die Botschaft
an unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten vor Ort
senden, dass wir Anerkennung zollen: Anerkennung für
diese schwere Aufgabe, Anerkennung für diesen guten
Job, den sie dort tagtäglich unter harten und gefährlichen
Bedingungen leisten.
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Dr. Djir-Sarai. - Jetzt spricht für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege HansChristan Ströbele. Bitte schön, Kollege Ströbele.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
zehn Jahren führen wir mit unserer Parlamentsarmee in
Afghanistan Krieg. Seit vier, fünf Jahren führen wir ihn
mit immer mehr Soldaten und immer schrecklicher. Das
Ergebnis dieses Krieges ist bisher desaströs: Zehntausende von Menschen sind getötet worden, eine mehrfache Zahl von Menschen ist in Afghanistan Opfer dieses
Krieges, verletzt und zu Krüppeln geworden. Trotz immer neuer Truppenverstärkungen und einer Verschärfung des Krieges ist die Sicherheitssituation für die Bevölkerung in Afghanistan jedes Jahr schlechter geworden.
So schlecht wie derzeit war sie noch nie.
Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir können
nicht einfach sagen: „Wir machen weiter so“, sondern
wir müssen neue Wege gehen. Für diese neuen Wege
gibt es Möglichkeiten, und es gibt Aussicht auf Erfolg.
Es kann nicht heißen: „Wir führen den Krieg mindestens
drei Jahre weiter“, sondern es muss heißen: Es muss eine
Kehrtwendung von dem Einsatz in Afghanistan hin zur
Beendigung des Krieges stattfinden, und zwar sofort.
- In diesem Punkt gebe ich dem Kollegen Gehrcke ausdrücklich recht. Der Krieg muss beendet werden. Im
letzten Jahr sind allein in drei Monaten von den USA
1 485 sogenannte verdeckte Operationen von Spezialkräften durchgeführt worden, bei denen 485 Menschen
getötet worden sind und durch die unendlich viel Leid
angerichtet worden ist. Das kann nicht sein. Wenn Sie
das hochrechnen, kommen Sie auf über 5 000 solcher
Angriffe in einem Jahr. Wir können nicht erwarten, dass
auf der anderen Seite nichts passiert. Diese Angriffe führen vielmehr zu einer Verschärfung des Krieges. Sie führen dazu, dass die Taliban jeden Tag stärker werden, dass
sich immer mehr Menschen aus Hass und deshalb, weil
sie Vergeltung üben wollen, dem Krieg der Aufständischen gegen die NATO anschließen. Deshalb ist ein
neuer Weg erforderlich.
Nun stimme ich dem Antrag der Linken trotzdem
nicht zu. Ich glaube, dass die immer gleiche Wiederholung in dem Antrag, sofort alle Truppen aus Afghanistan
abzuziehen, falsch ist. Dass das funktioniert, lieber Kollege Gehrcke, glaubt ihr selber nicht. Das ist nicht möglich.
({0})
Das ist im Augenblick auch nicht die erste Priorität. Die
erste Priorität muss sein, den Krieg zu beenden.
({1})
Das heißt, man muss morgen erklären, dass keine solchen Offensivmaßnahmen und keine offensiven Großoperationen mehr stattfinden; stattdessen fangen wir
zum Zeichen der Versöhnung mit dem Abzug an. Wir
sollten aber nicht das machen, was Herr Westerwelle
jetzt offenbar vorhat. Noch vor einem Jahr hat er hier im
Deutschen Bundestag erklärt, Ende des Jahres 2011 würden die ersten deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen. Davon ist keine Rede mehr. In diesem Jahr werden keine Truppen abgezogen; man vertröstet uns
vielmehr auf das nächste Jahr. Das ist der falsche Weg.
Wir müssen Zeichen setzen, und wir müssen nach der
Erklärung eines Waffenstillstandes deutlich auf die Taliban zugehen und sie in Verhandlungen einbinden. Sie
sind dazu bereit. Ich war im September in Afghanistan
und habe das von vielen dort gehört, nicht nur von ehemaligen Mitgliedern der Regierung der Taliban, sondern
auch von vielen anderen. Es kann allerdings nicht sein,
dass die Menschen, die in Verhandlungen mit der Regierung Karzai und den Alliierten eintreten, anschließend in
ihrer Wohnung von Spezialkräften der USA aufgesucht,
aus ihren Wohnungen herausgeholt, an die Wand gestellt
und ermordet werden, wie es in Afghanistan stattgefunden hat. Das führt nicht zum Frieden. Die Verhandlungen müssen vielmehr von Sicherheitsgarantien für alle
diejenigen begleitet sein, die verhandlungsbereit sind
und in Verhandlungen eintreten. Das ist der Weg aus der
Misere. Dieser Weg muss beschritten werden, und zwar
nicht erst in drei Jahren oder nächstes Jahr, sondern ab
diesem Jahr, jetzt sofort.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat unser Kollege
Dr. Rainer Stinner das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Ströbele, Ihre
Rede hat mich insofern verwirrt, als ich wirklich nicht
weiß, ob Sie hier die Meinung Ihrer Fraktion wiedergeben. Denn die Tonalität, in der Sie diese Rede vorgetragen haben, und die Inhalte, die Sie zum Teil vorgetragen
haben, weichen sehr deutlich von dem ab, was wir von
Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen
über Monate und Jahre vernommen haben. Deshalb
frage ich Sie ganz deutlich: Vertreten Sie, auch mit Ihrer
Wortwahl, hier die Meinung Ihrer Fraktion?
Zweitens. Sie haben angesprochen, dass die Bundesregierung und der Außenminister angekündigt haben,
dass wir die Anzahl der Soldaten graduell reduzieren
werden.
({0})
Herr Kollege Djir-Sarai hat darauf hingewiesen, dass wir
einen Entwicklungspfad bis 2014 haben, und Sie, Herr
Kollege Ströbele, haben das Jahr 2011 angesprochen. Ich
kann Ihnen sagen: Wir haben eine Mandatsverlängerung
im Januar 2012 - das ist nicht 2011, sondern 2012 -, und
ich kann Ihnen auch sagen - gerade läuft es über den
dpa-Ticker; insofern ist es eine öffentliche Information -,
dass die Bundesregierung laut dpa - ich will das jetzt
nicht im Einzelnen kommentieren, sondern gebe nur wieder, was ich gerade in öffentlichen Medien gelesen habe beschlossen hat, die Mandatsobergrenze schon ab Januar
2012 auf 4 900 Soldatinnen und Soldaten zu reduzieren.
Das heißt, diesem Ansinnen des graduellen Abbaus trägt
diese Bundesregierung wieder einmal in exzellenter
Weise Rechnung.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Ströbele, Sie haben die Möglichkeit zur
Antwort.
Es ist doch schön, dass ich hier zu diesem Thema einmal zu Wort komme. - Herr Kollege, ich lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister am 15. oder 16. Dezember vergangenen Jahres gesagt hat: Ende 2011 werden
wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmals reduzieren können. - So, und wann wird jetzt reduziert?
({0})
Ich sage Ihnen: Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich
glaube auch dem Außenminister nichts mehr. Denn ich
weiß, dass der Außenminister auch in der Bundesregierung ganz offensichtlich andere Auffassungen vertritt als
der Verteidigungsminister. Bisher hat sich der Verteidigungsminister ganz offensichtlich durchgesetzt. Er will
aber nicht, dass in diesem Jahr Truppen abgezogen werden,
({1})
jedenfalls nicht mehr als 90 Leute, die sowieso nicht dort
sind.
({2})
Sie führen die Öffentlichkeit in die Irre, und immer
wieder klingt durch, dass ein Einsatz auch über 2014 hinaus durchaus in Betracht kommt, sofern die Sicherheitssituation dies verlangt. Versuchen Sie also Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Dann können wir darüber
reden.
Nun zu der Frage, für wen ich rede. Ich rede für mich.
({3})
Ich habe hier für mich eine Rede gehalten, aber ich will
Sie noch einmal - das haben Sie auch im Ausschuss gehört, und das können Sie auch von mir hier und heute
noch einmal hören - auf unsere Forderung nach der Beendigung der Offensivmaßnahmen und insbesondere
dieser gezielten Tötungen hinweisen. Wissen Sie, nach
jedem Anschlag auf die Bundeswehr wird immer wieder
beklagt - dies wird völlig zu Recht beklagt, sage ich -,
wie hinterlistig und bösartig diese Angriffe sind, bei denen Bundeswehrsoldaten umkommen. Ich frage Sie
aber: Ist es etwas anderes, wenn nachts Spezialkommandos ausrücken und Personen, die vorher aufgelistet worden sind, aus ihren Wohnungen holen und kaltblütig töten? Oder ist es etwas anderes, wenn Menschen am
Mittags- oder Abendtisch von einer Drohne, die man in
der Luft gar nicht wahrnimmt, getötet werden? Ist das
nicht auch heimtückisch? Ist das nicht auch hinterlistig?
({4})
Das heißt, es findet dort ein schrecklicher Krieg statt,
und um das zu beenden - darüber war ich froh -, hat
meine Fraktion schon vor zwei Jahren die Einstellung
solcher Tötungsaktionen und der Offensivmaßnahmen
der NATO und insbesondere der US-Amerikaner gefordert. Es sind aber nicht nur die US-Amerikaner. Vielmehr verfahren auch die Deutschen inzwischen so und
helfen den Amerikanern bei solchen Kill-Aktionen, indem sie ihnen Informationen geben und Leute auflisten.
Wir sind also mit dabei, und ich glaube, die Fraktion vertritt dazu Auffassungen, die sich meinen - sage ich mal annähern.
Abschließend dazu, wie wir zu diesem Antrag stehen.
Ich werde dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Ich
werde mich der Stimme enthalten. Wie sich die Fraktion
entscheidet, werden Sie erleben.
({5})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag, den die Linken hier vorgelegen, tut schon
etwas weh. Wir wissen ja, dass Sie von der Linken
grundsätzlich gegen jeden Auslandseinsatz der Bundeswehr sind.
({0})
Aber bei einem so vielschichtigen Thema wie Afghanistan einen Antrag vorzulegen, in dem Sie in ein paar Zeilen so mir nichts, dir nichts den sofortigen Abzug der
Bundeswehr fordern und das auf einer Seite mit ein paar
allgemeinen Textbausteinen begründen, ist aus meiner
Sicht nicht angemessen.
({1})
Darüber kann sich aber jeder selbst sein Urteil bilden.
({2})
Was mich aber betroffen macht, meine Damen und
Herren von der Linken, ist, dass Sie sich in Ihrem Antrag
mit keinem Wort dazu äußern, was denn die Konsequenzen eines sofortigen Abzugs für Afghanistan wären: für
den bisher erreichten Fortschritt beim Wiederaufbau, für
die Übergabe der Verantwortung an das afghanische
Volk, für die Sicherheit der Menschen und der zivilen
Helfer dort, für die wirtschaftliche Situation im Lande.
Mit den konkreten Folgen Ihrer Forderungen beschäftigen Sie sich nicht. Wichtig ist Ihnen nur, dass die Überschriften stimmen und morgen in den Zeitungen steht:
Linke fordert sofortigen Abzug aus Afghanistan.
({3})
Meine Damen und Herren, das ist keine Basis für eine
ernsthafte Debatte über die Frage, wie langfristig Frieden und Stabilität in Afghanistan geschaffen werden
können. Die Antwort auf diese Frage umfasst ein ganzes
Bündel an politischen, diplomatischen, entwicklungspolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen, die
langfristig angelegt sein müssen und die auch nach dem
Abzug des Militärs in 2014 weiter wirken werden.
({4})
Ich finde, Deutschland spielt beim Finden einer entsprechenden Lösung eine sehr positive, konstruktive
Rolle. Am 5. Dezember werden sich Außenminister und
Vertreter aus über 90 Ländern in Bonn treffen, um dort
darüber zu beraten, wie es nach dem Abzug der Kampftruppen 2014 in Afghanistan weitergehen wird. Eben
nicht in der Weise „Augen zu und raus und nach uns die
Sintflut“, sondern vielmehr von den Überlegungen getragen: Was muss bis dahin an zivilen Maßnahmen noch
in die Wege geleitet werden? Wie kann ein langfristiges
Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan aussehen?
({5})
Wie muss der politische Prozess der Übergabe in Verantwortung ausgestaltet werden?
Dass Deutschland auf afghanischen Wunsch hin Gastgeber dieser Konferenz sein darf, ist ein Zeichen des hohen Vertrauens, das uns von diesem Land und von der internationalen Staatengemeinschaft entgegengebracht wird.
({6})
Das zeigt sich auch immer wieder in Umfragen, in denen
vom Ausland der deutsche Einfluss in der Welt sehr positiv bewertet wird.
({7})
Das ist vielleicht der größte Trumpf, den wir in unserer
Außenpolitik haben. Den dürfen wir nicht leichtfertig
verspielen. Das Vertrauen, das uns entgegengebracht
wird, gründet unter anderem darauf, dass uns kein Hegemonialdenken unterstellt wird,
({8})
und auch darauf, dass wir in der Welt als zuverlässige
und verlässliche Partner gelten.
Meine Damen und Herren, ich komme zurück auf Afghanistan und die Forderung der Linken nach einem sofortigen Abzug. An dem Einsatz beteiligen sich im Moment 49 Nationen aus der ganzen Welt. Diese teilen sich
die Aufgabe sowohl regional als auch funktional auf.
Dass man eine solche globale Aufgabe gemeinsam unter
dem Dach der Vereinten Nationen angeht, ist doch begrüßenswert. Das geht aber nur, wenn sich die Länder
untereinander auf Zusagen verlassen können und Entscheidungen wie die eines Abzuges gemeinsam treffen,
und zwar in enger Abstimmung mit dem Land, dem man
helfen möchte. Und es sind auch die Menschen vor Ort,
die sich auf uns verlassen, die mit unseren Soldaten zusammenarbeiten und deren Leben wir unter Umständen
aufs Spiel setzen würden, wenn wir uns von heute auf
morgen aus der Verantwortung verabschieden würden.
Das alles blendet die Linke aus, wenn sie heute einen sofortigen Abzug fordert. Das ist verantwortungslos.
({9})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist
gerade dabei - der Kollege Stinner hat es vorhin angesprochen -, im Vorfeld der Mandatsbeschlüsse die Voraussetzungen für eine Reduzierung zu schaffen. Ich
würde es begrüßen, wenn sich dafür eine breite Mehrheit
im Parlament finden würde.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7547 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes
- Drucksachen 17/7317, 17/7369 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 17/7671 Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Dr. Christel Happach-Kasan
Harald Ebner
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit
dem Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes
leisten wir in Deutschland unseren Beitrag dazu, die Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in
Europa zu harmonisieren. Gleichzeitig sorgen wir mit
dem Gesetz dafür, dass im Pflanzenschutzrecht die hohen Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz erhalten bleiben bzw. dass sich Europa an unseren hohen
Standards orientiert.
({0})
Bei vielen Verbrauchern stößt der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln leider immer noch auf Skepsis. Bei der
heutigen abschließenden Beratung des Entwurfs des
neuen Gesetzes möchte ich deshalb betonen:
Erstens. Die Zulassung und Anwendung von PSM
bleiben an strenge Anforderungen gebunden. In den vergangenen Jahrzehnten konnten deutliche Fortschritte bei
der Minimierung der Risiken erzielt werden. Bei den Lebensmitteluntersuchungen hierzulande werden - und das
bei immer besseren Untersuchungsmethoden - kaum
noch überhöhte Rückstände festgestellt.
Zweitens. Die Anwendung von PSM in der konventionellen Landwirtschaft, der Forstwirtschaft, dem Weinbau oder dem Obst- und Gartenbau ist und bleibt - das
können Sie gerne wörtlich nehmen - notwendig.
({1})
Sie trägt wesentlich zu höheren Erträgen bei guter Qualität und damit zu einer sicheren Versorgung unserer Bevölkerung mit bezahlbaren und gesunden Lebensmitteln
bei.
Warum ist es erforderlich, in der EU die Anwendung
und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zu harmonisieren? Auf dem europäischen Binnenmarkt bestehen
beachtliche Unterschiede. Es ist zum einen für die deutschen Landbewirtschafter ein klarer Wettbewerbsnachteil, wenn Konkurrenten in anderen EU-Staaten Pflanzenschutzmittel zur Verfügung haben, die in Deutschland nicht zugelassen sind, und es ist zum anderen irreführend und äußerst unfair für die Verbraucher, wenn
Lebensmittel in unseren Supermarktregalen stehen, die
nicht nach den gleichen bzw. strengen deutschen Umweltstandards produziert wurden.
Ein wichtiger Schritt in Richtung von mehr Harmonisierung ist zum Beispiel die gegenseitige Anerkennung
von Zulassungen. Die EU wurde in drei Zonen aufgeteilt. Ist ein PSM in einem Mitgliedstaat zugelassen, so
soll die Zulassung dieses Mittels in Mitgliedstaaten, die
der gleichen Zone angehören, innerhalb von 120 Tagen
erfolgen. Im Ergebnis ist zu erwarten, dass durch dieses
Zusammenspiel schneller bessere und möglicherweise
auch mehr Pflanzenschutzmittel zugelassen werden. Dadurch dürfte sich die Verfügbarkeit von PSM in Deutschland verbessern, was ökologisch durchaus sinnvoll ist
und auch dazu beiträgt, zunehmende Resistenzen in den
Kulturen zu verhindern.
({2})
Das kann allerdings nur dann gelingen, wenn die nationalen Zulassungsbehörden im Verfahren einheitliche Bewertungsmaßstäbe anlegen und praktikabel handhaben.
Dies fordern wir ebenso wie die Umsetzung des Nationalen Aktionsplanes in unserem gemeinsamen Entschließungsantrag.
Große Bedeutung für einen fairen Wettbewerb beim
Pflanzenschutz haben auch die Anwendungsbedingungen:
Integrierter Pflanzenschutz, Sachkundenachweis und ein
TÜV für Pflanzenschutzgeräte wurden in Deutschland bereits vor Jahren eingeführt und werden künftig EU-weit
vorgeschrieben. Wir müssen allerdings schon aufpassen,
dass die Harmonisierungsziele möglichst eins zu eins umgesetzt und nicht durch ungeschickte Regelungen durch
die Hintertür konterkariert werden. Hier ist die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern gefordert.
Überhaupt ist Praktikabilität in dem neuen Gesetz ein
wichtiges Anliegen. So haben wir, anders als vom Bundesrat gefordert, auf die Festlegung starrer Abstandsregelungen für Gewässer verzichtet. Besser ist es, wenn
diese im Rahmen der guten fachlichen Praxis nach den
örtlichen Gegebenheiten und den Anwendungsbestimmungen des konkreten Mittels ausgerichtet werden.
({3})
Für besondere Gebiete, wie beispielsweise das Alte
Land, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, unter
Wahrung des Schutzniveaus abweichende Regeln anzuwenden.
({4})
Die Entscheidung über die Ausweisung dieser sogenannten Sondergebiete wird unter Beteiligung des Umweltbundesamtes getroffen. Gleichzeitig stellen wir im Gesetz sicher, dass im Einzelfall zügige Entscheidungen
über Sondergebiete oder dann, wenn Gefahr im Verzug
ist, möglich sind. Ähnlich pragmatisch wird, falls unabdingbar, bei der Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln
mit Luftfahrzeugen im Steillagenweinbau und im Kronenbereich der Wälder verfahren.
Gegen den Handel mit gefälschten oder verbotenen
PSM werden strengere Regeln geschaffen. Dies ist gleichermaßen im Sinne von Herstellern und Verbrauchern.
Eines möchte ich zum Ende meiner Rede noch grundsätzlich festhalten: Um die Welt bei zunehmender Bevölkerung
({5})
mit Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen
versorgen zu können, brauchen wir moderne und innovative Pflanzenschutz- bzw. im gewissen Rahmen auch
Pflanzenstärkungsmittel.
({6})
Mit dem vorliegenden Gesetz wird es gelingen, den
Pflanzenschutz auch weiterhin in den Dienst einer leistungsfähigen, nachhaltigen und ökologisch ausgewogenen Landbewirtschaftung zu stellen. Damit wird nach
meiner festen Überzeugung ein weiterer wichtiger Beitrag zur Harmonisierung in Europa geleistet. Ich bitte
Sie: Stimmen Sie diesem Gesetz zu.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Gustav Herzog für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pflanzenschutzrecht ist eine sehr komplexe Materie, um die sich
überwiegend die Spezialisten in den Fraktionen kümmern.
({0})
Aber das damit verbundene Regelwerk betrifft uns alle.
Dies gilt insbesondere für die Qualität und Quantität der
uns zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel. Es wird
aber auch geregelt, wie wir am Wochenende, wenn es
unsere Zeit erlaubt, den Rasen zu Hause pflegen dürfen,
wie der Zustand unserer Gewässer ist und wie hoch das
Einkommen der Landwirte ausfällt, inwiefern sie ihre
Erträge sichern können. Ferner wird Einfluss auf die
Vielfalt von Flora und Fauna genommen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher wichtig und hat die notwendige Aufmerksamkeit verdient.
Wir regeln die Zulassung der Mittel, während es europäische Regelungen für die Wirkstoffe gibt. Wir schaffen Regelungen bezüglich der Anwendung und der Geräte. Eine wichtige Frage ist - sie wird immer mehr an
Bedeutung gewinnen -, wie wir illegale Importe und die
damit verbundenen kriminellen Machenschaften verhindern. Wir haben gemeinsam den Fokus darauf gerichtet
und die entsprechenden Sanktionen vereinbart.
Wir haben diese Neuordnung erarbeitet, weil im Jahr
2009 die EU eine entsprechende Vorgabe in Form einer
Verordnung und einer Richtlinie gemacht hat. Herr Kollege Bleser, Sie haben sich jetzt auf die Abgeordnetenbank gesetzt, ich spreche Sie aber als Vertreter des
Ministeriums an: Sie haben sich viel Zeit gelassen, dem
Deutschen Bundestag diesen Gesetzentwurf vorzulegen.
Wir hätten gerne etwas mehr Zeit gehabt, mit den Fachleuten über diesen Entwurf zu beraten. Ich glaube, es ist
im Sinne des ganzen Hauses, wenn Sie sich beim nächsten Mal etwas weniger Zeit lassen.
({1})
Die Auswirkungen dieses Gesetzes sind für Deutschland nicht gravierend. Der Entwurf beinhaltet insbesondere für Hersteller und Anwender wesentliche neue Regelungen - auch Vorteile; da stimme ich dem Kollegen
Gerig zu. Ich habe immer für die zonale Zulassung gekämpft; denn wir brauchen eine Vielfalt an Mitteln, um
Resistenzen vorzubeugen. Jedoch trägt nicht das UBA
die Schuld daran, dass für eine Reihe von Indikationen
so wenige Mittel zur Verfügung standen. Vielmehr konzentriert sich die Industrie darauf, für die großen Produkte und Kulturen entsprechende Mittel zu erforschen
und zuzulassen; die kleinen Kulturen jedoch - die seltenen Schadorganismen - bleiben außen vor. Ich kann
mich noch gut an Aufrufe im Pfälzer Bauer erinnern, in
denen geradezu um Geld zur Durchführung von entsprechenden Untersuchungen gebettelt worden ist, um Lückenindikationen schließen zu können. Von daher auch
von hier ein Aufruf an die Industrie, in diesem Bereich
etwas mehr zu tun.
({2})
Herr Gerig, Sie haben heute - wie Sie alle bei der ersten Lesung - von dem hohen Schutzniveau in Deutschland gesprochen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass
Ihre Seite in diesem Haus hierzu am allerwenigsten einen Beitrag geleistet hat.
({3})
Sie waren nicht die Lokomotive des Fortschrittes; Sie
standen eher auf der Bremse und haben plakativ Ihren
Slogan „Wettbewerbsverzerrung“ hochgehalten. Das
war Ihr Schlagwort, um eigentlich jede Weiterentwicklung zu behindern. Wenn Sie sagen, dass es bei uns einige Regelungen schon viele Jahre gibt, dann können
wir stolz darauf sein, dass wir sie eingeführt haben, und
Sie können uns dafür dankbar sein.
Der gesamte Prozess dauert schon lange an. Zur
Frage, ob das Umweltbundesamt seine Einvernehmensregelung bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln beibehält, habe ich im Deutschen Bundestag bereits mehrfach gesprochen. Wir haben uns zahlreiche Rededuelle
geliefert. Frau Kollegin Happach-Kasan, Respekt, Sie
sind bei Ihrer Position geblieben.
({4})
Ich hoffe, die Union hat inzwischen Einsichten gewonnen und ihre Meinung geändert. Die Regelung wird jedenfalls so bleiben.
({5})
Sie haben die Eins-zu-eins-Umsetzung angesprochen.
Ich bin da sehr zögerlich; denn ich halte das für ein
Stück politische Selbstkastration.
({6})
Hier hätte man schon etwas mehr machen können. Der
Bundesrat hat 56 Änderungsanträge gestellt. Sie sind der
Bundesregierung willig gefolgt, indem Sie nur die
Punkte in Ihre Änderungsanträge übernommen haben, in
denen sich Bundesrat und Bundesregierung einig waren.
Sie haben keine einzige Anregung aus der Anhörung
übernommen, die qualitativ sehr gut besetzt war. Etwas
mehr Kreativität hätte ich von den Koalitionsfraktionen
schon erwartet. Aber nach all dem, was ansonsten an
Unsinn verbreitet wird, ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung
vielleicht doch das Beste für die deutsche Landwirtschaft.
({7})
Wir sagen: Fortschritt ist möglich. Das Recht soll einfacher, ökologischer und damit besser sein. Lassen Sie
mich kurz vier Punkte ansprechen.
Erstens: Abstand zu Gewässern. In der Anhörung sind
unterschiedliche pauschale Abstände genannt worden.
Der Bundesrat wollte 1 Meter - abgelehnt durch die
Bundesregierung. Vorgeschlagen wurden auch 3 Meter,
5 Meter und 10 Meter Abstand. Wir hielten - ich sage
das bewusst - 3 Meter für opportun, um eine ganze
Reihe von Pflanzenschutzmitteln in dieses Regelwerk
aufzunehmen. Das wäre ein Beitrag zur Entbürokratisierung gewesen.
Dass das Thema „Eintrag in Gewässer“ nach wie vor
sehr wichtig ist, zeigt ein Beispiel: Im Oktober hat das
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung eine Untersuchung veröffentlicht, für die europaweit 750 000 Gewässeranalysen ausgewertet wurden. 73 chemo-organische
Verbindungen sind als potenziell prioritäre Schadstoffe
identifiziert worden, zwei Drittel davon waren Pestizide.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist für uns ein
Alarmzeichen, dass wir uns intensiv darum zu kümmern
haben.
({8})
Zweitens. Die gute fachliche Praxis darf nicht nur als
Inhalt einer schönen Broschüre des Ministeriums verteilt
werden, sondern muss als verbindliches Regelwerk, als
Verordnung festgeschrieben werden.
Dritter Punkt. Hier geht es um eine, wie ich finde,
sehr gute Anregung aus der Industrie. Sie müssen sich
vorstellen: Die Behälter, in denen sich die Pflanzenschutzmittel befinden - das sind hochgiftige, konzentrierte Substanzen -, werden nicht immer und überall dort
zurückgegeben, wo sie anständig entsorgt werden; sie
können auch einmal im Gelben Sack landen. Was heißt
das für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sortierwerken, in denen die Kunststoffe sortiert werden?
Was heißt es, wenn Reste von Pflanzenschutzmitteln an
dem Kunststoff haften bleiben und aus dem recycelten
Kunststoff zum Beispiel Kinderspielzeug hergestellt
wird? Ich sage: Bei solchen wirklich gefährlichen Substanzen ist es sinnvoll, sie sicher zu entsorgen. Sie sind
unserer Anregung nicht gefolgt. Schade!
Vierter Punkt. In der Frage der Pflanzenstärkungsmittel sind Sie uns aber gefolgt. Herr Kollege Bleser, jetzt
muss ich Sie als Staatssekretär doch einmal loben.
- Jetzt, wo ich ihn lobe, hört er nicht zu. ({9})
Herr Bleser hat eine erneute juristische Prüfung im Haus
veranlasst. Das Ministerium ist zur Einschätzung gekommen, dass es doch möglich ist, die Pflanzenstärkungsmittel weiterhin mit einer geeigneten Kennzeichnung in den Vertrieb zu bringen. Dafür möchte ich mich
bedanken. Ich glaube, das hilft einer Branche.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Nationalen
Aktionsprogramm zur nachhaltigen Anwendung von
Pflanzenschutzmitteln unterscheiden wir uns wieder.
Früher hieß es einmal „Pflanzenschutzmittelreduktionsprogramm“. Ich glaube, dieser Titel war angemessener.
Da ist noch einiges zu tun. Wir werden Ihnen kritisch auf
die Finger schauen.
Das Gesetz ist notwendig. Die Bundesregierung hat
die Vorgaben der Europäischen Union eingehalten. Sie
haben nichts kaputtgemacht. Wir können dem Gesetz
zwar nicht zustimmen, aber wir werden uns der Stimme
enthalten. Das gilt im Übrigen auch für den Entschließungsantrag der Grünen: Es gibt viel Übereinstimmung,
aber auch ein paar Punkte, bei denen wir Ihnen nicht folgen können.
({11})
Wir haben aber noch ein paar parlamentarische Debatten, in denen wir vielleicht doch noch mehr Einigkeit
herstellen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Die Kollegin Christel Happach-Kasan ist die nächste
Rednerin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Rede von Gustav Herzog war nach dem
Motto: Nicht kritisiert ist genug gelobt. Herzlichen Dank
dafür.
({0})
Wir sind da in einigen Punkten auch gar nicht sehr weit
auseinander.
({1})
Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird zwar immer wieder kritisiert. Trotzdem wissen wir alle: Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen Produkte, die frei
von Blattläusen sind, und Erdbeeren, die keinen Schimmel haben, weil sie keine Pilzvergiftung erleiden wollen.
Vor diesem Hintergrund ist uns klar, dass wir in der modernen Landwirtschaft, im Getreideanbau und im Gemüse- und Obstanbau genauso wie im Ökolandbau
Pflanzenschutzmittel brauchen; das ist unverzichtbar.
Dies möchte ich festhalten. Gleichzeitig sind wir alle in
diesem Hause uns einig, dass wir natürlich eine Minimierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln wollen, weil wir die Natur schonen und schützen wollen. Ich
glaube, auch jeder Landwirt ist sich bewusst, dass es
wichtig ist, nur einen sehr maßvollen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu betreiben, weil dieser nämlich extrem teuer ist.
Mit dem heute eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes setzen wir
zwei Verordnungen und zwei Richtlinien der EU in nationales Recht um. Diese Verordnungen und Richtlinien
stammen aus dem Jahre 2009; das Ziel ist die Harmonisierung der Zulassungen in der EU.
({2})
- Lieber Kollege Herzog, es gibt andere Richtlinien und
Verordnungen, für deren Umsetzung Rot-Grün einen
deutlich längeren Zeitraum gebraucht hat; ich glaube,
das können wir gemeinsam festhalten.
({3})
Ein Ziel ist, dabei Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Denn uns allen ist klar: Es ist nicht sehr glaubDr. Christel Happach-Kasan
würdig, wenn ein Landwirt in Niedersachsen ein Pflanzenschutzmittel nicht anwenden darf, wenn nebenan,
hinter der Grenze zu den Niederlanden, der Einsatz
durchaus erlaubt ist.
({4})
- Oder umgekehrt; das ist ein Punkt, den ich sehr gerne
aufnehme.
({5})
Wir sind uns auch darüber einig, dass neue Pflanzenschutzmittel in aller Regel besser sind als alte, dass es in
der Regel einen Entwicklungsfortschritt gibt. Insofern ist
es gut, wenn wir die Forschung und die Entwicklung
neuer Pflanzenschutzmittel unterstützen. Deswegen haben wir uns entschieden, in § 20 des Gesetzentwurfs öffentliche Labore und öffentlich zertifizierte Labore
gleichzusetzen, wenn sie eine Anzeige über den Versuch
an das BVL geben und mitteilen, welchen Versuch sie
unternehmen wollen.
Wir haben ein relativ kompliziertes Gesetz geschaffen; das muss man deutlich sagen. Die Zulassung neuer
Pflanzenschutzmittel erfolgt durch das Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Es hat
im Benehmen mit dem RKI und dem BfR und im Einvernehmen mit dem Umweltbundesamt zu handeln; Kollege Herzog hat sich dazu schon geäußert.
({6})
- Zutreffend geäußert, sehr richtig. - Im Verfahren gab
es 50 Anträge der Bundesländer. Die Hälfte haben wir
übernommen.
Kollege Herzog, hinsichtlich der Behälter sollte man
Folgendes zur Kenntnis nehmen: Neben den gesetzlichen Regelungen gibt es auch eine handelnde Zivilgesellschaft. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass einige
Pflanzenschutzunternehmen diese Behälter eingesammelt haben. Das scheint mir eine besonders sinnvolle
Regelung zu sein, damit sie nicht wieder in die Entsorgung kommen.
({7})
- Das mag so sein. Trotzdem freue ich mich, wenn Unternehmen eigenverantwortlich handeln.
({8})
Weitere Änderungen haben wir beim Parallelhandel
vorgenommen, weil wir uns beim Thema „kriminelles
Handeln“ einig sind. Wir haben hier eine Strafbewehrung geschaffen.
Lassen Sie uns auch das Thema Gewässerabstand behandeln. Man braucht sich nur anzuschauen, was beim
Alten Land los ist, um festzustellen, dass dort für die unterschiedlichen Pflanzenschutzmittel unterschiedliche
Gewässerabstände definiert sind. Da heißt es, angepasst
und angemessen mit Blick auf die standortliche Situation
zu handeln. Genau das wollen wir tun.
({9})
Wir haben bei den Pflanzenstärkungsmitteln eine geänderte Situation aufgrund des EU-Rechts. Deswegen
können wir damit nicht mehr ganz so einfach wie vorher
umgehen. Trotzdem haben wir eine Sonderregelung für
Pflanzenstärkungsmittel aufgenommen, nämlich eine einjährige Übergangsfrist.
({10})
Auch beim Import von Jungpflanzen werden wir anders handeln; denn wir können die Vorschläge des Bundesrates so nicht gesetzlich umsetzen. Vielmehr werden
wir in anderer Weise den Anliegen gerecht werden.
Ich bedaure sehr, dass es uns nicht gelungen ist, für
Landwirte eine Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Rechts
hinzubekommen.
Wir haben weiterhin eine verkürzte TÜV-Frist im
Vergleich zu anderen Ländern. Wir haben gleichzeitig
den Sachkundenachweis, der statt alle fünf Jahre alle
drei Jahre erbracht werden muss. Wir werden darauf
dringen müssen, dass die Behörden dies pragmatisch
umsetzen. Ich bedaure, dass dies nicht gelungen ist. Das
ist auf Anträge des Bundesrates hin so erfolgt.
Ich bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland einen sehr verantwortlichen Umgang mit Pflanzenschutzmitteln haben. Man kann dies gut daran sehen, dass das
Lebensmittelmonitoring in jedem Jahr einen deutlichen
Rückgang von beanstandetem Obst und Gemüse aus
deutschem Anbau zeigt. Inzwischen werden weniger als
2 Prozent beanstandet. In der letzten Untersuchung lag
der Wert bei 1,4 Prozent. Das zeigt, wie verantwortlich
damit umgegangen wird. Wir sehen es auch daran, dass
sich beispielsweise die Lebensmittelwarnungen der EU
nicht auf die Kontamination mit Pflanzenschutzmitteln
beziehen, sondern beispielsweise auf Kontaminationen
mit Pilzgiften oder mit Bakterien.
({11})
Wir erinnern uns an die Ehec-Krise, die uns deutlich vor
Augen geführt hat, welche Gefährdungen von gefährlichen Bakterien ausgehen. Wir können auch feststellen,
dass die Zahl der Schadensmeldungen der Imker in den
letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist. Ich halte das
für gut. Wir müssen daran arbeiten, dass es gar keine
Schadensmeldungen mehr gibt.
Insgesamt gesehen können wir feststellen, dass der
Umgang mit Pflanzenschutzmitteln verantwortlich ist.
Wir wollen ihn weiter verbessern. Wir wollen über den
Nationalen Aktionsplan zu einer deutlichen Minimierung kommen. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem
Gesetz auf einem guten Weg dahin sind.
Danke schön.
({12})
Alexander Süßmair ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Keiner von uns will Rückstände von chemischen Pflanzenschutzmitteln im Salat mitessen, und keiner von uns will
in einen Apfel beißen, aus dem er von einem Wurm angelächelt wird. Genau in diesem Dilemma befinden wir
uns beim Thema Pflanzenschutzmittel.
Pflanzenschutzmittel bewahren die Erträge aus Garten und Ackerbau vor Schaden. Der Einsatz von Düngeund Pflanzenschutzmitteln trägt zur betriebswirtschaftlichen Effizienz und zu höheren Erträgen der landwirtschaftlichen Produktion bei. Aber betriebswirtschaftliche Effizienz bedeutet auch die Spezialisierung auf nur
wenige Anbaukulturen und damit die Ausbreitung von
Monokulturen. Das hat zur Folge, dass viele Pflanzen
anfälliger für Schädlinge werden. Deshalb werden mehr
Pestizide gespritzt, und die Umwelt wird stärker belastet.
Genau das ist der Konflikt zwischen Ökonomie und
Ökologie, der durch den Wunsch nach ständigem
Wachstum verstärkt wird.
({0})
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Verlust an Tier- und
Pflanzenarten in der Natur und der Intensivierung der
landwirtschaftlichen Erzeugung gibt.
Die Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat alle Fehler des vorliegenden Gesetzentwurfs auf den Tisch gebracht. Mit diesem Gesetzentwurf wird es keine Verbesserung beim
Gewässerschutz geben, das steht jetzt schon fest. Hätten
Sie den Willen der EU umgesetzt, wären konkrete gesetzliche Vorgaben im Gesetz die Folge gewesen. Aber das
Gegenteil ist der Fall. In Ihrem Gesetzentwurf ist zum
Beispiel kein Mindestabstand zu Gewässern bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln enthalten. Wasserund Naturschutzgebiete hätten berücksichtigt werden
müssen. Sie werden aber nicht berücksichtigt. Das ist für
uns nicht akzeptabel.
({1})
Pestizide schädigen nicht nur Pflanzen und Tiere,
sondern auch uns Menschen. Menschen verbringen besonders viel Zeit in Gärten und sind eng mit der Natur
verbunden. Deshalb kann nicht jedes Mittel, das für den
Acker zugelassen ist, für den Schrebergarten genehmigt
werden. Besonders in diesem Bereich möchten wir Artenvielfalt bewahren. Die Menschen sollen sich sicher
erholen und Kinder gefahrlos spielen können.
({2})
Deshalb dürfen nur Mittel mit geringem Risiko ohne
Sachkundenachweis zugelassen werden. Das hätten Sie
im Gesetzentwurf regeln müssen, haben Sie aber nicht.
({3})
Wir sind der Meinung: Pflanzenschutzmittel mit hohem
Risiko gehören nicht in den Garten.
({4})
Wird der vorliegende Gesetzentwurf zum Pflanzenschutz den heutigen Anforderungen an eine nachhaltige
und umweltgerechte Agrarwirtschaft gerecht? Wir meinen, nein. Mit Ihrem Gesetzentwurf zum Pflanzenschutzrecht wird die Chance verspielt, klare Vorgaben zu
machen und einen Schritt zum Erhalt der biologischen
Vielfalt zu tun. Heute wird wieder einmal deutlich, wer
Ihnen die Feder für den vorliegenden Gesetzentwurf geführt hat, nämlich eine Lobby aus Landwirtschafts- und
Agrarindustrie. Dafür spricht auch, dass Naturschutz-,
Wasserwirtschafts- und Umweltverbände den Gesetzentwurf für ein Feigenblatt zugunsten der Agroindustrie
halten. Damit haben Sie von der Koalition wieder einmal
die Gelegenheit verpasst, eine nachhaltige Lösung im
Sinne des Schutzes von Umwelt, Natur und Mensch zu
finden.
({5})
Die Linke wird deshalb den Gesetzentwurf ablehnen.
Danke.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition haben hier und auch gestern im Ausschuss viel von
Harmonisierung, beschleunigter Zulassung und Parallelhandel gesprochen. Das hört sich für mich fast so an, als
ob der vorliegende Gesetzentwurf vor allem die Probleme der Industrie lösen soll. So kann man natürlich an
ein Gesetz herangehen - das erwarte ich schon fast von
der Koalition -, man kann aber auch die Probleme der
Menschen und der Umwelt lösen wollen. Da muss der
Blick über den Ackerrand hinausgehen.
({0})
Wir finden heute im Blut von Eisbären in der Arktis
Rückstände von Pflanzenschutzmitteln und deren Metabolite. Die WHO hat 1990 aufgehört, die Fälle der jährlichen akuten Pestizidvergiftungen von Menschen zu zählen. Damals war man bei 3,5 bis 5 Millionen Fällen pro
Jahr angelangt. Das heißt, die Stoffe gelangen in die hinHarald Ebner
tersten Winkel der Welt und entfalten auch dort ihre Wirkung, wo wir es längst nicht mehr brauchen. Das ist die
Problemlage.
Weil es eben nicht um harmlose Substanzen geht
- wir reden hier über Pestizideinsatz -, muss ein modernes Pflanzenschutzgesetz zum Ziel haben, den Einsatz
von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren und diejenigen,
die dennoch angewandt werden, vor ihrer Zulassung zuverlässig und umfassend auf ihre Risiken für Mensch
und Umwelt zu prüfen.
({1})
Dass dies gegenwärtig nicht in ausreichendem Maß der
Fall ist, zeigen die zahlreichen Fälle der erst viel zu spät
erkannten Gefährlichkeit von Pestiziden: in der Vergangenheit bei Atrazin oder aktuell bei Glyphosat und Tallowaminen. Weil in Ihrem Gesetzentwurf das Ziel der effektiven Reduktion gar nicht zu finden ist und auch das
Ziel einer wirklichen Risikovorsorge nicht zufriedenstellend angegangen wird, kann die Novelle nicht mit ein
paar Änderungen geheilt werden.
Welche Kernpunkte muss ein modernes Pflanzenschutzgesetz abdecken? Diese Punkte haben wir in unserem Entschließungsantrag aufgeführt: Das beginnt bei
einer gründlichen Zulassungsprüfung, die im Interesse
von Verbrauchern, Landwirtschaft und Umwelt auf den
Ergebnissen einer unabhängigen Risikoforschung basieren muss. Das Gegenteil ist heute der Fall. Es darf nicht
weiter so sein, dass sämtliche Daten für die Zulassung
von Pestiziden von den Herstellern dieser Mittel selber
stammen.
({2})
Gerade hier gilt: „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ und
nicht umgekehrt. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt sogar
eine verbindliche Definition der guten fachlichen Praxis;
das hat Herr Herzog schon dargestellt. Es fehlen Angaben über die Abstände zu Gewässern. Wir wollen einen
Mindestabstand von 5 Metern und spezifische Risikominderungsmaßnahmen. Die Haus- und Kleingärten
wurden vom Kollegen Süßmair schon angesprochen;
hier sind wir ganz auf einer Linie.
Die Ökobauern wollen ihre Pflanzen stärken, statt
Schädlinge und Nützlinge zu vergiften. Deshalb brauchen wir längere Übergangsfristen bei der Zulassung
von Pflanzenstärkungsmitteln. Ja, Herr Kollege Gerig,
da haben Sie völlig recht, aber Sie haben sich im Gesetzentwurf nicht zu einer richtigen Lösung durchringen
können. Aber was will man von dieser Bundesregierung
schon erwarten, wenn Staatssekretär Bleser schon beim
Wort „Ökolandbau“ eine „Stimmhemmung“ hat, wie
gestern nach eigenem Bekunden im Ausschuss geschehen.
({3})
Ich komme langsam zum Schluss. Wir waren schon
einmal wesentlich weiter auf dem Weg zu einer umweltverträglichen und nachhaltigen Landwirtschaft. Nach
2005 kam leider ein Rollback. Aus dem Reduktionsprogramm Pflanzenschutz wurde ein unverbindlicher Aktionsplan. Der vorliegende Gesetzentwurf verfestigt diesen Rollback zum Dauerzustand. Damit verabschiedet
sich die Bundesregierung leider von dem Ziel der EU,
die Abhängigkeit vom Pestizideinsatz zu verringern.
Frankreich geht einen anderen Weg. Dort sagt man: Wir
wollen den Pestizideinsatz um 50 Prozent verringern. Das könnte man sich zum Vorbild nehmen.
({4})
Sie legen zum wiederholten Male einen Gesetzentwurf vor, der zwar vorgibt, dass im Sinne von Verbrauchern und Umwelt gehandelt wird, in Wahrheit folgt
man aber den Interessen einer Lobbygruppe. Die Frage
ist doch, welche Landwirtschaft wir wollen: Eine billigere oder eine bessere?
({5})
Wir wollen eine nachhaltige, zukunftsorientierte
Landwirtschaft, die Umwelt und biologische Vielfalt,
also unsere Lebensgrundlagen, auf Dauer schützt und erhält, statt sie zu vergiften. Dafür müssen wir immer weniger Pestizide einsetzen, und das immer sicherer. Diese
Zielsetzung fehlt in Ihrem Gesetzentwurf leider vollkommen.
Danke schön.
({6})
Lieber Kollege Ebner, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
({0})
Nun hat der Kollege Max Lehmer das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Danke. - Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich begrüße
wie Sie alle und wie meine Vorredner die Ziele des vorliegenden Gesetzentwurfs, welcher der Umsetzung des
EU-Pflanzenschutzpaktes dient. Ich unterstütze, auch als
Praktiker, ausdrücklich die weitere Harmonisierung der
Pflanzenschutzmittelzulassungen und der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus in der gesamten Europäischen Union.
Bei der Umsetzung des Gesetzes in die Praxis muss
aber noch auf einige unbürokratische Lösungen für unsere Landwirte geachtet werden. Herr Herzog, da haben
wir sicher noch einige Hausaufgaben zu machen. So besteht zum Beispiel bei der Frage der TÜV-Fristen, also
bei der technischen Prüfung von Spritzgeräten, noch
Handlungsbedarf.
({0})
- Nein. Darüber reden wir separat noch einmal. Darüber
können wir gerne diskutieren.
Allgemein ist zu sagen, dass die Regelungen in
Deutschland ein hohes Niveau haben und die EU-Vorgaben übertreffen, was der Sicherheit der Verbraucher, aber
auch der Umwelt und der Wettbewerbsfähigkeit unserer
Landwirtschaft dient. Gleiches gilt für die hohe Sachkunde unserer Anwender.
Ich kann es mir nicht verkneifen, eines an die Adresse
einiger meiner Vorredner zu richten: Sie müssen sich
dringend einmal mit den zehnjährigen Zulassungsprüfungen für ein Präparat befassen.
({1})
Sie müssen einmal sehen - ich wende mich insbesondere
an meinen Vorredner -, welche Prüfungen in ökotoxikologischer, toxikologischer, human- und umwelttoxikologischer Hinsicht und zur Wassergängigkeit durchgeführt
werden müssen. So ein Prozess dauert zehn Jahre und
kostet 250 Millionen Euro. Ich sage Ihnen das nur.
Alles, was Sie erst bei der Anwendung verlangen,
wird schon vorher in weiten Bereichen - Herr Herzog
weiß das - geprüft. Dass trotzdem - das gilt im Straßenverkehr genauso wie bei allen Anwendungen von Präparaten und Produkten - bei Anwendungen Unregelmäßigkeiten auftreten und Fehler passieren, die nachhaltig zu
vermeiden sind, ist unstrittig. Aber Sie können uns nicht
vorwerfen, man sei zugunsten der Agrarlobby und der
Industrie bei der Zulassung von Präparaten großzügig.
Das ist doch Unsinn pur.
({2})
Erlauben Sie mir, bei dieser Gelegenheit auf einige
grundsätzliche Aussagen zu Pflanzenschutzmitteln einzugehen. In der Tat, Herr Herzog, geht Pflanzenschutz
uns alle an; das ist aber leider nicht allen bewusst. Darum möchte ich auf ein paar Punkte zu sprechen kommen, die vor allen Dingen den Verbraucher angehen.
Pflanzenschutz ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil
moderner Produktionstechnik; daran gibt es für mich in
der Landwirtschaft keine Zweifel. Eines darf man uns
nicht vorwerfen: Wir sind längst über das Prinzip „Viel
hilft viel“ hinaus. Ich bin jetzt seit 50 Jahren gelernter
Landwirt. Am Anfang konnte man die Mittel vielleicht
nicht so genau dosieren; dies lag auch an der Technik.
Schon seit vielen Jahren werden anspruchsvolle Prognose- und Diagnosemodelle als Entscheidungsgrundlage für Pflanzenschutzmaßnahmen in der Praxis vielfach genutzt.
Für nahezu alle Anwendungssegmente werden sogenannte Schadschwellen definiert, wodurch sichergestellt
wird, dass Pflanzenschutzmittel erst dann ausgebracht
werden, wenn Gefahr im Verzug ist und ein entsprechender Schaden prognostiziert werden kann. Diese anspruchsvollen Anwendungsgrundlagen dienen sowohl
dem Landwirt für einen kostengünstigen Pflanzenschutzeinsatz - ein Landwirt wird nicht beliebig viel, sondern
möglichst wenig einsetzen; denn die Mittel sind sehr
teuer; das muss klar sein ({3})
als auch der Umwelt, indem nur die unbedingt notwendige Menge an Präparaten eingesetzt wird. Ein derart
fachkundiger Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, wie er
in der Praxis gängig ist, hat auch dazu geführt, dass nur
noch in Ausnahmefällen Rückstände in Ernteprodukten
aus deutscher Produktion gefunden werden, die aber in
aller Regel keine toxikologische Relevanz erreichen.
Pflanzenschutz - das bedauere ich sehr - wird in der
öffentlichen Wahrnehmung allgemein mit großer Skepsis
begegnet. Gespräche mit Bürgern bestätigen eine sehr kritische Einstellung gegenüber dem chemischen Pflanzenschutz - das muss man konstatieren -, welche meiner
Auffassung nach - ich bin in der Diskussion immer an der
Front - einem verbreiteten Informationsdefizit geschuldet ist. Dies liegt meines Erachtens unter anderem auch
daran, dass viele Kritiker des Pflanzenschutzes - auch
das haben wir heute wieder gehört - Begriffe wie „Pestizide“ und bösartige Worte, die negative Assoziationen
hervorrufen sollen, verwenden.
({4})
Sie nehmen woanders auch nicht englische Begriffe. Wir
sollten über Pflanzenschutzmittel sprechen.
({5})
Der Begriff „Pflanzenschutzmittel“ kommt der Sache
viel näher als „Pestizid“.
({6})
Pflanzenschutzmittel haben die Aufgabe, Pflanzen vor
Schädlingen, Krankheiten und Konkurrenzpflanzen zu
schützen; sonst wären weder Ertrag noch Menge noch
Qualität erreichbar. Sie werden zum Schutz gegen
Krankheiten und Schädlinge eingesetzt.
({7})
- Ach, Frau Kollegin, Sie sind doch auch Agrarexpertin!
({8})
Letztlich geht es beim Pflanzenschutz darum, Ernteerträge zu sichern und die zum Teil erheblichen Ertragsverluste durch Pilzerkrankungen und Schädlinge zu verDr. Max Lehmer
meiden. Es geht nicht immer darum, Erträge zu steigern,
sondern darum, Schäden und Verluste zu minimieren.
Herr Kollege.
Pflanzenschutzmittel leisten daher einen wichtigen
Beitrag zur Ernährungssicherung und durch die Erzeugung gesunder und befallsfreier Ernteprodukte auch zur
gesunden Ernährung.
Wichtig ist ein Fall, den ich Ihnen schildern möchte.
Nein, Herr Kollege, das wird jetzt nicht mehr gehen,
weil wir schon deutlich über die vorgesehene Zeit sind.
({0})
Ich bin gleich fertig. Ein Beispiel sei mir noch erlaubt, Herr Präsident. - Es geht auch um die Bekämpfung humantoxischer Stoffe, wie sie zum Beispiel durch
Fusarien, also Schimmelpilze, im Getreide gebildet werden. Schließlich haben wir durch eine MykotoxinHöchstmengenverordnung dazu beigetragen, die Menschen vor Schaden durch dieses natürliche Gift zu schützen. Dies zeigt, dass auch natürliche Gifte erhebliche
Probleme mit sich bringen. Ein geordneter Pflanzenschutz, der Ökologie, Ökonomie und den Menschen
schützt, ist unabdingbar.
Vielen Dank.
({0})
Ja. Das war in der Tat der Zuschlag, den ich auch anderen Kollegen einmal im Leben aus Anlass des 65. Geburtstages hiermit förmlich in Aussicht stelle.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der
Drucksache 17/7671 ({1}), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/7317 und 17/7369
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der
Koalition angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 17/7671 ({2}) empfiehlt der Ausschuss,
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit erkennbarer Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7680. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jetzt Voraussetzungen für die Einführung
eines Mindestlohns schaffen
- Drucksache 17/7483 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
({4})
- Dafür werden die Pflanzenschutzexperten offenkundig
nicht alle benötigt. Vielleicht können wir den Personalwechsel zügig durchführen.
({5})
- Nein, es schadet überhaupt nicht. Im Gegenteil: Gerade der Blick aus einer anderen Perspektive tut dem
Finden sachgerechter Lösungen meistens gut.
({6})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu gibt
es offenkundig keine Meinungsverschiedenheit. Dann
können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
uns entschieden, diesen Antrag hier und heute ins Plenum einzubringen, weil wir davon überzeugt sind, dass
es nicht nur in der Gesellschaft eine riesengroße Mehr16544
heit für einen Mindestlohn gibt, sondern dass es diese
Mehrheit in Wahrheit auch in diesem Parlament gibt. Es
gibt eine Mehrheit dafür, Lohndumping zu stoppen und
faire Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen.
Wir haben ganz bewusst darauf verzichtet, in diesen
Antrag Maximalforderungen zu schreiben. Wir betonen
nicht das Trennende. Wir betonen die Gemeinsamkeiten,
die sich herauskristallisiert haben. Wir haben deswegen
auch darauf verzichtet, in unserem Antrag bereits die
Höhe des Mindestlohnes festzulegen. Wir wollen, dass die
Höhe des Mindestlohns von einer Mindestlohnkommission festgesetzt wird und dass diese Mindestlohnkommission bei der Festsetzung der Höhe des Mindestlohns auch
die sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen berücksichtigt.
Meine Damen und Herren von der Unionsfraktion,
wenn ich Ihre Anträge für den Bundesparteitag, Ihre
Stellungnahmen der letzten Tage und Wochen und das
berücksichtige, was hier heute gesagt worden ist, dann
komme ich zu dem Schluss, dass wir selbst Sie mit unserem Antrag nicht überfordern.
({0})
Wo ist eigentlich Herr Weiß? Herr Weiß hat heute hier
im Rahmen der Aktuellen Stunde nämlich gesagt, die
CDU sei die Partei des Mindestlohnes.
({1})
Herr Weiß, jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen.
({2})
Sie können das unter Beweis stellen und zeigen, dass Sie
nicht nur große Reden halten können, sondern dass Sie
auch in der Lage sind, diesen Reden Taten folgen zu lassen und das in Ihrer Partei und Ihrer Fraktion auch
durchzusetzen.
({3})
Ich sage Ihnen: Sie müssen sich jetzt einmal entscheiden,
({4})
ob Sie weiterhin wollen, dass 3,4 Millionen Menschen
nach getaner Arbeit mit weniger als 7 Euro pro Stunde
nach Hause gehen. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie
Lohngerechtigkeit wirklich wollen, und zwar für alle,
unabhängig davon, ob sie für Hungerlöhne aufgrund eines Tarifvertrages oder für Hungerlöhne außerhalb von
Tarifverträgen arbeiten. Sie müssen sich entscheiden, ob
Sie weiterhin Lohndumping zulassen oder faire Wettbewerbsbedingungen durchsetzen wollen.
Alle Umfragen zeigen, dass Sie von der Union unter
einem erheblichen Beweisdruck stehen. Die Bevölkerung nimmt Ihnen Ihren Kursschwenk in Sachen Mindestlohn nämlich nicht ab. Sie müssen jetzt zeigen und
können jetzt unter Beweis stellen, dass es Ihnen nicht
einfach nur darum geht, politische Geländegewinne zu
erzielen - mit der Zustimmung zu unserem Antrag können Sie diese Zweifel ausräumen -, sondern dass Sie
auch die Menschen, die für Hungerlöhne arbeiten, im
Blick haben.
Ich danke Ihnen.
({5})
Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion ist der
nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Es ist nach der Aktuellen Stunde das zweite Mal
am heutigen Tage, dass wir über das Thema Mindestlohn
sprechen.
({0})
Sie müssen damit leben: Wir halten uns an demokratische Spielregeln. Es ist normalerweise so, dass man erst
auf einem Parteitag diskutiert und dann in ein Parlament
geht, um dort Entscheidungen zu treffen. Vielleicht ist
das bei Ihnen anders, aber wir machen das so, und wir
freuen uns natürlich, dass die innerparteilichen Debatten
in der Union bei Ihnen auf ein so großes Interesse stoßen.
({1})
Ich muss Sie allerdings ein bisschen aufklären. Vielleicht beschäftigen Sie sich nicht intensiv genug mit
dem, was die Union bei diesem Thema umtreibt. Ein
Blick in unser Grundsatzprogramm hilft. Ich möchte Ihnen gerne zwei Abschnitte daraus vorlesen, die ich Ihnen
extra mitgebracht habe.
({2})
Der erste Abschnitt lautet:
Unser Leitbild für Deutschland ist die Chancengesellschaft, in der die Bürger frei und sicher leben.
({3})
Sie steht für Respekt vor Leistung und Erfolg. Und
wir wollen die soziale Verankerung in die gesellschaftliche Mitte auch für jene, die bisher davon
ausgeschlossen sind.
({4})
Jetzt können Sie aufschreien und sagen: Super, genau
deswegen muss die Union jetzt ja für einen gesetzlichen
Mindestlohn sein.
({5})
So einfach ist es nicht. Sie werden es nicht erleben, dass
die Union in einen Bieterwettstreit um den möglichst
höchsten gesetzlichen Mindestlohn eintritt, nach dem
Motto: Immer zweimal mehr als du.
({6})
Das ist keine Lösung für die Probleme.
Dass wir das so sehen, liegt an einem weiteren Satz,
den Sie so wahrscheinlich in der Tat nur in unserem Parteiprogramm und nicht in Ihrem finden. Er lautet:
Die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen bewahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren,
und zeigt uns die Grenzen der Politik auf.
Genau das tun Sie beim Thema Mindestlohn natürlich
seit langer, langer Zeit. Sie ideologisieren
({7})
und verschieben die Grenzen der Politik in einen Bereich, in dem wir uns tunlichst zurückhalten sollten;
denn auch das ist eben eine Lehre aus den ersten 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland: Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft ist maßgeblich auf der Grundlage
der Tarifautonomie aufgebaut worden. Da hat sich die
Politik aus dem einen oder anderen herauszuhalten.
({8})
Ludwig Erhard hat recht. Er hat einmal den schönen
Satz gesagt: Die Sozialdemokraten habe ich schon 1948
als Nachtwächter bezeichnet. Sie sind es bis zum heutigen Tage geblieben. - Das gilt unverändert fort, denn
nachdem 1987 - hören Sie gut zu; ich glaube, das hat Ihnen der Kollege Weiß heute auch schon erklärt - der
erste branchenspezifische Mindestlohn eingeführt worden ist, sind seitdem zehn weitere Branchen gefolgt. Und
man höre und staune: Jedes Mal war ein Christdemokrat
Bundeskanzler. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
Deswegen brauchen wir da keine Nachhilfe.
({9})
Jetzt kann man fragen: Was haben Sie eigentlich gemacht? Auch Sie haben einmal regiert.
({10})
- Auch mit uns zusammen. - Dabei haben wir mit einer
christdemokratischen Kanzlerin den einen oder anderen
branchenspezifischen Mindestlohn eingeführt.
({11})
Sie haben in Ihrer Regierungszeit andere Dinge gemacht. Sie haben auch ohne Mindestlohn 5 Millionen
Arbeitslose erreicht. Sie haben Griechenland in die
Euro-Gruppe aufgenommen. Sie haben die MaastrichtKriterien verletzt. Sie haben ein Körperschaftsteuergesetz geschaffen, bei dem die Konzerne Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen in Brasilien oder in
Großkrotzenburg hatten.
({12})
Sie haben am Ende ein Finanzmarktförderungsgesetz beschlossen, anstatt sich um das zu kümmern, was Sie jetzt
einfordern.
Ich möchte einmal das vorlesen, was Franz
Müntefering damals gesagt hat. Er hat zum Beispiel erklärt, es sei darauf zu achten, dass unnötige Belastungen
für die Unternehmen der Finanzdienstleistungsindustrie
vermieden werden. Regulierung sei kein Selbstzweck.
Die Bundesregierung solle weitere Maßnahmen zur
Schaffung eines leistungsfähigeren, international wettbewerbsfähigen Verbriefungsmarktes prüfen. Und Sie haben Derivate, Hedgefonds etc. zugelassen.
({13})
Dass Sie bei diesen politischen Entscheidungen keine
Zeit hatten, einen branchenspezifischen oder gar einen
gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, das mag Ihnen
nachgesehen werden. Sie hatten in der Tat ein volles Arbeitsprogramm. Aber uns hier vorzuwerfen, wir seien
untätig gewesen, das schlägt dem Fass den Boden aus.
({14})
- Nein, das sind wir eben nicht. - Wir haben elf branchenspezifische Mindestlöhne eingeführt. Wir reden
jetzt darüber, eine Lohnuntergrenze dort einzuführen, wo
es keinen tariflichen Lohn gibt.
({15})
- Für Sie reicht es intellektuell immer noch, Frau Kollegin. Ganz ehrlich: Diese Bemerkung kann ich mir nach
diesem Zwischenruf nicht verkneifen.
({16})
- Herr Heil, auch da gilt das, was ich Ihrer Kollegin gestern gesagt habe: Wer schreit, hat unrecht.
({17})
Sie können sich zu einer Zwischenfrage melden. Sie
können weiter toben. Aber trotzdem werde ich mich
nicht auf Ihr Niveau in der Debatte herablassen. Da können Sie ruhig weiterschreien.
({18})
Es bleibt dabei: Wir haben elf branchenspezifische
Mindestlöhne eingeführt. Wir streiten für eine Lohnuntergrenze, die genau dies leisten soll. Dass sich die Tarif16546
partner, also starke Gewerkschaften gemeinsam mit Unternehmern, die sozialverantwortlich handeln, darauf
verständigen, das ist soziale Marktwirtschaft.
({19})
Wir brauchen beide Seiten: starke Gewerkschaften und
sozialverantwortlich handelnde Unternehmer.
Das hat in der Vergangenheit gut funktioniert. Diese
gesellschaftlichen Kräfte müssen wir stärken. Wir dürfen
nicht glauben, dass wir das in einem Bieterwettbewerb
in der Politik besser machen. Dabei bleibt es. Das werden Sie am Montag und am Dienstag auf dem Bundesparteitag der Union mitverfolgen können.
({20})
Ich lade Sie dazu herzlich ein. Der Lerneffekt kommt
manchmal bei der Wiederholung.
({21})
Insofern ist es gut, dass Sie zugehört haben.
Herzlichen Dank.
({22})
Gabriele Lösekrug-Möller ist die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Viele im Bundestag kennen
das Struck’sche Gesetz. Das heißt: Kein Gesetz verlässt
das Parlament so, wie es eingebracht wurde. Dieses Gesetz zeigt, wie kraftvoll ein Parlament ist.
Kennen Sie das Merkel’sche Gesetz? Es lautet: Je vehementer etwas abgelehnt wird, desto sicherer kommt es
dann. Das haben wir beim Atomausstieg gesehen. Das
haben wir bei der Abschaffung der Wehrpflicht erlebt.
Auch beim Schuldenschnitt für Griechenland kam dieses
Gesetz zum Tragen.
({0})
Ich frage Sie: Wie lange müssen wir jetzt warten, bis das
Merkel’sche Gesetz in Sachen Mindestlohn kommt?
Ich sage Ihnen: Jeder Tag, der untätig vergeht, ist ein
verlorener Tag für 1,6 Millionen Menschen, die hart arbeiten, vollschichtig erwerbstätig sind und trotzdem am
Ende nicht von ihrer Hände Arbeit leben können. Sie
finden nicht, dass es ein Witz ist, wenn der Kollege Weiß
heute sagt: „Mindestlöhne sind das Markenzeichen der
CDU.“ Herr Kollege Weiß, darüber mögen Sie lachen
können und sich freuen. Die Menschen, die am Ende des
Monats nicht genug Geld haben, empören sich darüber.
Denn sie fühlen sich in ihrer Lebenssituation nicht verstanden.
({1})
Sie haben die Hoffnung, dass ihnen bei dem Schauspiel,
das gerade anfängt, in der nächsten Woche in Leipzig
Hilfe zuteilwird. Wir können ihnen heute schon sagen:
Vorsicht an der Bahnsteigkante! Aller Wahrscheinlichkeit kommt nichts dabei heraus.
Herr Tauber, hatten nicht auch Sie kürzlich Post vom
DGB? Ich habe einen Brief vom DGB bekommen mit
der herzlichen Bitte, ganz dringend für einen gesetzlichen Mindestlohn zu sorgen. Das sieht nicht nur der
DGB so, sondern auch die Einzelgewerkschaften sehen
es so. Sie halten das für unverzichtbar und sagen: Es hilft
unserer Tarifpolitik, wenn es den gesetzlichen Mindestlohn gibt.
Wenn Sie meinen, dass Sie an der Seite der Tarifvertragsparteien stehen, sollten Sie aufpassen, dass Sie nicht
in Kürze ganz allein dastehen. Das sieht nämlich gar
nicht gut aus, und es hilft auch den Menschen nicht.
({2})
Frau Lösekrug-Möller, darf der Kollege Weiß Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Immer gern.
Frau Kollegin Lösekrug-Möller, es gibt zwei Arten
von Politik: Bei der einen redet man einfach viel,
({0})
und bei der anderen handelt man. Können Sie mir bestätigen, dass wir in Deutschland auf Vorschlag der Tarifpartner mittlerweile in zehn Branchen Mindestlohnregelungen haben,
({1})
dass diese zehn Mindestlöhne für über 4 Millionen Beschäftigte in Deutschland allesamt unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl und Angela Merkel in Kraft gesetzt worden sind und dass unter der Kanzlerschaft von
Gerhard Schröder kein einziger Mindestlohn in Kraft gesetzt worden ist und somit in der Kanzlerschaft eines sozialdemokratischen Kanzlers, um mit Ihren Worten zu
sprechen, eine besondere Zuneigung zu Menschen im
Niedriglohnbereich offensichtlich nicht geherrscht hat?
({2})
Darauf antworte ich Ihnen besonders gerne, Herr Kollege Weiß. Denn wir haben viel gemeinsame Zeit im
Fachausschuss verbracht, und meine Antwort lautet: Es
gibt nur eine gute Politik, und zwar die, bei der Wort und
Tat zusammenfallen. Das vermisse ich bei der CDU/
CSU.
({0})
Wir haben all diese Lösungen organisiert - hören Sie
mir schön zu! -, weil es mit Ihnen nicht möglich war, einen gesetzlichen Mindestlohn durchzubringen.
({1})
Zur Wahrheit gehört doch, dass Sie sich über Jahre hinweg hinterher die Zähne geputzt haben, wenn Sie das
Wort „Mindestlohn“ in den Mund nehmen mussten. Wir
sind zum Glück ein Stückchen weiter und sagen: Ja, wir
wollen jede Hilfe geben, die möglich ist.
Mehr war nicht drin. Wir sagen: Das reicht uns nicht.
Auch die Gewerkschaften sagen: Das war in Ordnung,
aber wir wollen mehr. Das wollen wir mit der Mehrheit
in Deutschland.
Ich bin fertig mit der Beantwortung der Frage.
({2})
- Falsch. Sie haben die Chance, das im Protokoll nachzulesen. Dann werden Sie sehen, dass ich Ihnen sehr
korrekt geantwortet habe.
Ich wünsche mir, dass auch bei Ihnen Handeln und
Reden zusammenfallen. Denn das haben die vielen Menschen, die immer noch auf einen ordentlichen Lohn warten, verdient. Es reicht nicht aus, wenn man Tarifabschlüsse mit Löhnen hat, die unter dem liegen, was zum
Leben reicht. Wir haben heute Morgen lange darüber
diskutiert. Auch diesen Menschen wollen wir helfen. Sie
würden nämlich nicht mit der Lösung klarkommen, die
Sie vorschlagen.
({3})
Sie müssen bei der Wahrheit bleiben: Am Ende wäre
Ihr Vorschlag ein Flickenteppich. Damit könnte man
noch leben, auch wenn Herr Laumann sagt, 500 Lohnuntergrenzen seien ein bisschen viel. Ich stehe sehr an seiner Seite. Aber das Allerschlimmste ist: Der Flickenteppich hätte riesengroße Löcher. Das wollen wir in der Tat
nicht hinnehmen.
Es ist erwiesen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn gut
für Deutschland insgesamt ist. Deshalb finden wir den
Antrag der Grünen, den wir jetzt diskutieren, ausgezeichnet. Das ist errechnet worden. Frau Kramme hat
das heute Morgen im Plenum belegt. Es ist interessant,
dass das Ministerium seit August auf Evaluierungsergebnissen zu jenen Mindestlöhnen hockt, die wir immerhin zustande gebracht haben; denn das waren nicht Sie
allein, Herr Weiß, und auch nicht die CDU/CSU allein.
Das Ergebnis dieser Evaluierung ist: Mindestlohn ist
grundsätzlich richtig.
Interessant ist, dass diese Ergebnisse uns als Parlament bis heute nicht vorliegen. Es gab ein unglaubliches
Geeiere vom Staatssekretär Brauksiepe, der gerade diesen Saal betritt. Wir haben eine Ausschusssitzung erlebt,
in der es wirklich bitter zuging, nach dem Motto: Die
Endfassung muss noch bearbeitet werden. - Wahrscheinlich bekommen wir das Ergebnis nach dem Bundesparteitag der CDU. Wir würden uns gar nicht wundern,
wenn das Ganze auf einmal zusammenpasst.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute Beschlüsse
in Leipzig und den Menschen in Deutschland endlich einen gesetzlichen Mindestlohn.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Pothmer, auch ich danke Ihnen, dass wir
dieselbe Debatte am gleichen Tag jetzt das zweite Mal
führen dürfen.
({0})
Das ist eine ganz gute Gelegenheit, sich einmal anzuschauen, wie Sie sich das vorstellen. Vielleicht erkennt
man dann auch, dass die Befürchtungen, die wir haben,
gerechtfertigt sind.
Ich will erst einmal an die Grundlage dieser Debatte
erinnern; denn sie geht bei den Diskussionen unter den
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikern immer unter. Wir reden gerne über das deutsche Jobwunder. Darüber freuen
Sie sich hoffentlich genauso wie wir: unter 3 Millionen
Arbeitslose, eine extrem niedrige Jugendarbeitslosigkeit.
Die Frage ist ja: Kommt das von allein zustande, oder
hat das Gründe?
({1})
- Nein. - Das hat natürlich Gründe, und zwar drei: Klar,
wir haben enorme, innovative, wettbewerbsfähige Unternehmen in Deutschland.
Ja, wir haben einen flexiblen Arbeitsmarkt. Bei vielen
anderen Debatten wird deutlich: Sie wollen gerne zurückdrehen, was Sie einmal erreicht haben. Darüber
streiten wir gerne: über Befristungen, über andere Möglichkeiten der Flexibilisierung. Wenn Sie etwa die Zeitarbeitsregelungen kaputtmachen wollen, dann wollen
Sie das kaputtmachen, was durch mehr Flexibilität erreicht worden ist.
Aber zum Erfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt gehört eben auch die Tarifautonomie. Dazu gehört eben
auch, dass in Deutschland Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Löhne vereinbaren. Und das ist gut so. Wenn
man die Tarifautonomie achtet, dann kann man, glaube
ich, in Anerkennung, dass es in einzelnen Branchen und
in einzelnen Unternehmen natürlich Lohnprobleme gibt,
Johannes Vogel ({2})
die auch wir nicht wollen, nur zu dem Ergebnis kommen: Wir gehen dreistufig vor.
Der Regelfall ist: Die Tarifpartner bringen die Lohnfestsetzung ganz gut ohne die Politik zustande. Wenn die
Tarifpartner einer Branche zu dem Ergebnis kommen,
sie wollen einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich
erklärt haben, dann ist das möglich. Der Kollege Weiß
führt das immer wieder gerne aus - der Kollege Kolb hat
daran schon in den 90er-Jahren mitgewirkt -: Dann werden Branchentarifverträge in der untersten Lohngruppe
für allgemeinverbindlich erklärt.
({3})
Dies haben wir in dieser Legislaturperiode schon in vielen Branchen gemacht. Nächster Schritt: Selbst wenn es
dann noch Probleme geben sollte, gibt es die letzte Auffanglinie - das Mindestarbeitsbedingungengesetz. Das
heißt, in Summe gibt es keinen Grund, diese Betrachtung, die im Kern heißt: „Die Lohnfindung liegt in der
Hand der Tarifpartner und nicht hier im Deutschen Bundestag“, zu verlassen.
({4})
- Ich gehe auf Ihren Antrag gleich noch ein, Frau Kollegin Pothmer.
Hier wird immer wieder auf die Evaluation der Branchenmindestlöhne verwiesen.
({5})
Ich will noch einmal festhalten: Diese Evaluation muss
von der Bundesregierung nicht vorgelegt werden; vielmehr haben die Koalitionsfraktionen die Regierung aufgefordert, sie vorzulegen.
({6})
Deswegen gibt es auch keine Frist, bis zu der sie erscheint. Wir werden sie in den nächsten Wochen noch
ausführlich diskutieren.
Sie zitieren immer wieder aus den vorläufigen Ergebnissen, die in der Presse schon kursieren. Selbst bei diesen vorläufigen Ergebnissen ist eines klar - das erwarte
ich auch -: Es ist überraschenderweise nicht alles
schlecht, was wir gemacht haben. Noch etwas ist klar:
Die Ergebnisse werden differenziert sein. Dann müssen
aber auch die Lösungen differenziert sein. Warum Sie
aus einer Evaluation von Branchenmindestlöhnen - die
Tarifpartner haben die Lohnhöhe festgelegt - ableiten,
wir könnten jetzt eine allgemeine Lohnuntergrenze für
ganz Deutschland, für alle Branchen, für alle Altersgruppen festlegen, das werden Sie mir noch erklären müssen.
({7})
Den Grund kann ich nicht erkennen. Ich glaube, das wird
auch aus den Ergebnissen nicht abzuleiten sein. Aber
warten wir ab, bis sie vorliegen; dann können wir sie in
Ruhe diskutieren.
Sie wollen aber eine allgemeine Grenze; das schreiben Sie auch ganz offen. Weil darüber nicht der Bundestag entscheiden soll, verkünden Sie seit, glaube ich, zwei
Jahren die Umwegkonstruktion, das Ganze werde in einer unabhängigen Kommission behandelt.
({8})
- Herr Kurth, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen: sehr gerne.
Gut. - Bitte schön, Herr Kurth. Sie dürfen eine Zwischenfrage stellen.
Ich habe kurz auf meine Redezeit gesehen. Es ist mir
daher sogar sehr lieb, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Herr Vogel, Sie sagen, Sie könnten den Sinn einer allgemeinen Lohnuntergrenze nicht erkennen. Stimmen Sie
mir zu, dass die Einschätzung Ihres Parteikollegen
Pascal Kober, der auch hier sitzt, zutrifft, der - so wird er
zumindest in der Welt von heute zitiert - sagte:
Unternehmen zahlen Niedrigstlöhne und wälzen
ihre Kosten so auf Steuer- und Beitragszahler ab.
Meinen Sie nicht, dass das ein hinreichender Grund ist,
eine allgemeine Untergrenze einzuführen?
({0})
Herr Kurth, sowohl der Kollege Kolb als auch ich haben Ihnen heute Morgen schon gesagt: Was wir nicht
wollen, ist, dass Unternehmer niedrigere Löhne zahlen
als sie könnten. Niemand von uns wünscht sich niedrige
Löhne. Nur, zur Wahrheit, Herr Kurth, gehört - auch das
haben wir heute Morgen nicht zum ersten Mal hinlänglich diskutiert -: Zu niedrige Löhne, also Löhne, von denen die Menschen nicht leben können, müssen ja Löhne
sein, zu denen die Menschen ergänzende Hartz-IV-Leistungen bekommen. Das betrifft in Deutschland 300 000
Menschen, die Vollzeit arbeiten. Die weit überwiegende
Zahl dieser Menschen stockt doch nicht wegen der Lohnhöhe auf, sondern weil sie eine große Familie haben. Wir
können das gerne hundertmal diskutieren. Wir glauben,
dass es eine sozialpolitische Errungenschaft ist, dass Familien unterstützt werden. Sie machen daraus ein Problem der Lohnhöhe. Das ist es aber nicht.
Es gibt nur wenige schwarze Schafe unter den Unternehmern, die zu niedrige Löhne zahlen. Dafür müssen
wir eine Lösung finden.
Johannes Vogel ({0})
({1})
Das ist genau das, was ich eben beschrieben habe. Nur,
es muss doch eine Lösung sein, mit der das Kind nicht
mit dem Bade ausgeschüttet wird und gleich die ganzen
Grundlagen der deutschen Tarifautonomie aufgegeben
werden.
({2})
Deswegen kann es nur die dreistufige Lösung geben.
Wenn die Tarifpartner das selber hinbekommen, besteht
kein Handlungsbedarf. Wenn die Tarifpartner keine Einigung erzielen, können wir Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären - das haben wir in großer Zahl getan -, und als letzte Möglichkeit haben wir das
Mindestarbeitsbedingungengesetz.
Die Frage ist, warum es, wie Sie sagen, etwas darüber
hinaus geben muss. Damit sind wir bei einer allgemeinen Lohnuntergrenze. Ich kann aus Ihren Anträgen der
letzten Jahre nur schließen, dass Sie selber erkennen,
dass dann, wenn die Politik das in der Hand hätte, wir
ganz schnell einen Überbietungswettbewerb bezüglich
der Lohnhöhe hätten. Dann wären wir ganz schnell in
der Situation wie in anderen Ländern, in denen die
Löhne so hoch sind, dass sie die Chancen der Menschen,
einen Arbeitsplatz zu bekommen oder den Arbeitsplatz
zu behalten, zerstören. Genau das wollen wir nicht.
Ich erkenne an, Frau Kollegin Pothmer, dass Sie sich
für eine unabhängige Kommission aussprechen.
({3})
Das habe ich gelesen. Wir sollten immer lesen, was wir
uns gegenseitig vorschlagen. Nur, seit zwei Jahren schlagen alle drei Fraktionen, die für den Mindestlohn sind,
die Einrichtung einer unabhängigen Kommission vor.
({4})
- Damals war ich noch nicht dabei. Ich erkenne gerne
an: die Grünen schon seit fünf Jahren. - Das Problem ist:
Sie wollen, dass diese von der Politik unabhängige
Kommission bei der Festlegung der Mindestlohnhöhe
eine bestimmte Grenze nicht unterschreitet. Sie von den
Grünen nennen als Betrag 7,50 Euro,
({5})
Sie von der SPD aktuell 8,50 Euro und Sie von den Linken 10 Euro. Eine Kommission, der von der Politik vorgegeben wird, wie hoch der Lohn zu sein hat, ist alles
andere als unabhängig.
({6})
Herr Kollege, möchten Sie eine weitere Zwischenfrage beantworten, und zwar vom Kollegen Birkwald?
Gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Vogel, dass Sie die Frage
zulassen. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die drei Oppositionsfraktionen den Vorschlag gemacht haben, eine unabhängige Kommission für die
Festlegung der Steigerungsraten des Mindestlohns einzusetzen, dass dieses Verfahren genauso in Großbritannien eingeführt worden ist, wo die Low Pay Commission
einen Vorschlag für die Steigerungen vorlegt, und dass
die Einführung des Mindestlohns selbst aber politisch
festgesetzt worden ist?
Ich kenne das Modell in Großbritannien gut. Darauf
beziehen Sie sich in der Tat immer wieder. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass die Kommission in
Großbritannien nicht nur die Steigerungen festlegt, sondern auch die Einstiegshöhe. Der Mindestlohn in Großbritannien gilt übrigens nicht für junge Menschen, ganz bewusst nicht. Also, es gibt dort keine allgemeine, alles
übergreifende Lohnuntergrenze. Der Mindestlohn in
Großbritannien ist zudem in der wirtschaftlichen Boomphase eingeführt worden und erlebt jetzt die erste Krise,
interessanterweise ist die Arbeitslosigkeit in Großbritannien heute deutlich höher als in Deutschland; das wünschen wir uns wohl nicht. Großbritannien hat zudem keine
vergleichbare Tradition bei der Tarifautonomie. Großbritannien hat zudem viel weniger starke Tarifpartner, die
Flächentarifverträge festlegen. Die Frage ist doch - das
habe ich bereits in der Aktuellen Stunde ausgeführt -:
Wollen wir diese Tradition der Tarifpartner beibehalten
oder nicht?
({0})
Wenn Sie den Tarifpartnern die Lohnfindung entziehen,
wenn Sie sagen, dass die Lohnfindung nicht mehr in erster Linie die Aufgabe der Tarifpartner ist, dann werden
Sie die Tradition der deutschen Tarifautonomie schwächen. Davon bin ich fest überzeugt.
Frau Kollegin Pothmer, ich erkenne natürlich an, dass
Sie das alles jetzt weggelassen haben. Ich muss allerdings dazusagen, dass das nicht besonders glaubwürdig
ist. Sie legen uns seit zwei Jahren Anträge zur Höhe des
Mindestlohns vor und verlieren nun kein Wort darüber.
In der Begründung verweisen Sie aber auf Ihren eigenen
Gesetzentwurf, der einen Mindestlohn in Höhe von
7,50 Euro vorsieht, sowie auf die Gesetzentwürfe der anderen Oppositionsfraktionen, die andere Lohnvorgaben
machen. Darüber hinaus schreiben Sie, dass Sie einen
mehrheitsfähigen Gesetzentwurf der Bundesregierung
verlangen, auch was die Lohnhöhe angeht.
Johannes Vogel ({1})
({2})
Liebe Frau Pothmer, damit haben Sie sich von dem Gedanken, dass die Politik bestimmen soll, welcher Lohn
akzeptabel ist und welcher nicht, noch gar nicht verabschiedet. Das zeigt, dass mit Ihnen - selbst dann, wenn
man es wollte - kein überparteilicher Konsens über eine
unabhängige Kommission zu erzielen wäre. Vielmehr
wäre die Lohnfindung wieder da, wohin sie nicht gehört,
nämlich hier im Deutschen Bundestag, also auch bei Ihnen und bei den Kollegen von der Linken. Da wollen wir
sie im Interesse der arbeitenden und arbeitsuchenden
Menschen in diesem Land nicht haben.
({3})
Deswegen - und weil Sie die Tarifautonomie damit
kaputtmachen - kommt für die Koalitionsfraktionen in
Summe eine Zustimmung zu Ihrem Antrag leider nicht
infrage.
Vielen Dank.
({4})
Michael Schlecht ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Gewerkschaften und die Linke wollen den Mindestlohn
mit einem festen Betrag per Gesetz einführen. Die Gewerkschaften wollen 8,50 Euro. Meine Gewerkschaft
Verdi sagt mittlerweile dazu, dass in schnellen Schritten
10 Euro kommen sollen,
({0})
und 10 Euro sind auch der Betrag, den die Linke als gesetzlichen Mindestlohn möglichst unverzüglich in diesem Lande politisch festsetzen will.
({1})
Jetzt erleben wir plötzlich seit ein oder zwei Wochen,
dass die CDU und - seit dem Antrag, der hier zur Debatte steht - auch die Grünen in trauter Eintracht diese
Startmarke nicht mehr selbstständig hier im Parlament
politisch setzen wollen, sondern dass für die Ermittlung
eines Startmindestlohns eine Kommission eingesetzt
werden soll.
({2})
Nach Auffassung von Gewerkschaften und uns sollte
eine solche Kommission nach einem politisch festgesetzten Startmindestlohn nur Vorschläge für weitere Steigerungen machen. Diese Kommission wird nun in Ihrem
Konzept missbraucht, den Startmindestlohn festzusetzen. In dieser Kommission sollen die Tarifvertragsparteien das Ganze aushandeln.
({3})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: So etwas kann sich nur jemand ausdenken, der von der Tarifwirklichkeit keine
Ahnung hat oder der die Öffentlichkeit über seine Vorhaben bewusst täuschen will.
({4})
Mit der Agenda 2010, die SPD und Grüne 2003 unter
Applaus der rechten Seite beschlossen haben, ist der Tarifautonomie ein schwerer Schlag versetzt worden; zum
Teil ist sie sogar zerstört worden. Wenn immer mehr
Menschen befristet arbeiten und um die Verlängerung
zittern, wenn immer mehr Menschen nur einen Leiharbeitsjob haben, wenn vor allem immer mehr Frauen in
Minijobs die Arbeitswelt nur noch in einer zerstückelten
Weise erleben, dann ist das eine Situation, in der es für
die betroffenen Menschen sehr schwierig ist, sich zu
wehren und gewerkschaftlich zu organisieren. Das verdeutlicht, dass die anderen vier Parteien, diese ganz
große Koalition, im letzten Jahrzehnt die gewerkschaftliche Handlungsmacht für die Durchsetzung gerechter Arbeitsbedingungen und gerechter Löhne durch die
Agenda 2010 massiv beschädigt und zerstört haben. Das
ist der Sachverhalt.
({5})
Hinzu kommt die allgegenwärtige Angst vor dem Absturz in Hartz IV, die wie eine disziplinierende Peitsche
über den Köpfen vieler kreist und die die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zusätzlich eingeschränkt
hat.
Vor diesem Hintergrund ist es wirklich schon eine Infamie, zu sagen: Jetzt sollen doch die Tarifvertragsparteien den Startmindestlohn festsetzen. - Den Schwarzen
Peter den Tarifvertragsparteien zuzuschieben, ist bildlich
gesprochen so, als würde man jemandem die Beine brechen und dann von ihm verlangen, 100 Meter in 10 Sekunden zu laufen. Das ist natürlich vollkommen abenteuerlich und zeigt nur Ihre Geisteshaltung: Sie wollen
im Grunde genommen gar keinen Mindestlohn bzw. eine
Lohnuntergrenze.
({6})
- Sie kennen die Wirklichkeit nicht. Das ist das Problem.
({7})
Wenn CDU und Grüne jetzt Krokodilstränen ob des
Schicksals der Hunger- und Niedriglöhner vergießen
und die Einrichtung einer Kommission fordern,
({8})
dann ist das im Grunde genommen nichts anderes als ein
fauler Trick, mit dem man den Eindruck zu erwecken
versucht, man wolle eine Lohnuntergrenze, man wolle
einen Mindestlohn durchsetzen; aber in Wirklichkeit
wird hier nur eine riesengroße Nebelkerze geworfen.
Dass in Anbetracht der Not der Menschen - diese ist ja
in diesem Hause heute weidlich dargestellt worden - mit
einer solchen Nebelkerze operiert wird, ist wirklich eine
Schweinerei. Damit werden die Menschen, die unter
Hungerlöhnen und den Verhältnissen leiden, auch noch
verhöhnt.
Danke schön.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mindestlohn, die Zweite - so könnte man das heute nennen. Ich habe mich gefragt, welchen Erkenntnisgewinn
wir heute Nachmittag erzielen werden. Mich erinnert das
hier so ein bisschen an eine nachmittägliche Schulstunde
zur Wiederholung. Sie, Herr Schlecht, nehme ich allerdings aus; denn das, was Sie da gerade vorgebracht haben, war einfach unterirdisch.
({0})
Da muss ich sogar der Kollegin Pothmer zur Seite springen. Ich habe den Antrag der Grünen gelesen. Man kann
da sicherlich über vieles diskutieren. Aber dass wir jetzt
gemeinsam in einen Topf geworfen werden, finde ich
wirklich bemerkenswert. Das schafft wirklich nur die
Linke.
({1})
Ja, die Grünen haben sich von ihrem ursprünglichen
Plan, einen staatlichen Mindestlohn festzulegen, ein wenig wegbewegt und sich dem System einer Lohnuntergrenze genähert. Ich nehme einmal an, dass Sie eine Anleihe bei § 5 Tarifvertragsgesetz gemacht haben und
diesen analog anwenden wollen, um hier irgendwo Boden zu finden.
Ich möchte zunächst festhalten, nachdem vorhin etwas hart diskutiert wurde, dass es die Union war, die die
Branchenmindestlöhne äußerst erfolgreich eingeführt
hat. Wort und Tat haben bei der Union - da muss ich
dem Kollegen Weiß recht geben - über die Jahrzehnte
sozialer Marktwirtschaft zusammengepasst.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Nachhilfe in diesem Bereich brauchen wir von Ihnen nicht.
Wir haben von Rot-Grün einen Scherbenhaufen in Form
von 5 Millionen Arbeitslosen übernommen. Seitdem die
christlich-liberale Koalition unter Angela Merkel regiert,
reparieren wir eine arbeitsrechtliche bzw. arbeitsmarktpolitische Baustelle nach der anderen. Ich nenne als Beispiel für den Themenkomplex Zeitarbeit nur den Fall
Schlecker mit dem Drehtüreffekt. All die Missstände,
die die Koalition zu beseitigen versprochen hat, hat diese
Koalition in den letzten zwei Jahren angepackt und alles
solide, auf verfassungsmäßiger Grundlage zu einem guten und seriösen Ende gebracht. Das bitte ich in der jetzigen Diskussion um Einführung einer Lohnuntergrenze in
die Überlegungen einzubeziehen.
({3})
Ich will nicht zum fünften Mal auf die Agenda 2010
eingehen. Ich bleibe allerdings dabei: Sie war in vielen
Punkten nicht falsch, auch wenn Sie heute davon nichts
mehr hören wollen. Aber den Mindestlohn, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, haben Sie damals
nicht eingeführt.
Dass wir - auch darauf ist heute schon mehrfach eingegangen worden - seit Ludwig Erhard die soziale
Marktwirtschaft stringent fortentwickelt haben, möchte
ich am Beispiel eines Gesetzes deutlich machen. Wieso leuchtet der Präsident?
Weil der Kollege Schlecht Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen möchte und ich Sie fragen muss, ob
Sie diese zulassen wollen.
Das machen wir danach.
Was heißt „danach“?
Ich muss meine Redezeit heute nicht unnötig verlängern. Wenn er danach intervenieren will, kann er das tun.
Dann antworte ich oder auch nicht; jetzt mache ich weiter.
({0})
Gut.
Wir haben heute lange genug über das Thema gesprochen.
1952 wurde unter Ludwig Erhard das Mindestarbeitsbedingungengesetz eingeführt, und seitdem haben wir
die soziale Marktwirtschaft stringent weiterentwickelt.
Heute diskutieren wir über Lösungen in tariffernen Bereichen, weil auch wir natürlich erkennen, dass es Tarifflucht gibt, dass es Branchen gibt, in denen die Tarifpartnerschaft nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen.
Das heißt aber nicht - das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen -, dass wir den Grundsatz der Tarifautonomie
auch nur im Geringsten aufzuweichen oder gar aufzugeben gedenken.
Die Allgemeinverbindlichkeit - das ist auch vom
Kollegen Vogel schon angesprochen worden - war bisher ein sehr gutes und sehr schlüssiges Mittel, Mindestlöhne und tarifliche Bedingungen festzuschreiben. Ich
erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es überwiegend
christlich-liberale Regierungen waren, die Tarifverträge
für allgemeinverbindlich erklärt haben. Also tun wir
bitte heute nicht so, als ob das alles neu und quasi eine
Erfindung aus irgendeiner Richtung wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Union wird
eine ernste und an den Werten unserer sozialen Marktwirtschaft orientierte Debatte geführt, die berücksichtigt
und berücksichtigen muss, dass zum Beispiel ein flexibler Arbeitsmarkt als Motor und als wesentliches Erfolgsrezept unseres Jobwunders, unseres Wirtschaftswunders
erhalten bleiben muss. Geringe Jugendarbeitslosigkeit
und weniger als 3 Millionen Arbeitslose insgesamt - das
sind Erfolge, die wir nicht durch fahrlässige Diskussionen in Gefahr bringen dürfen. Unnötige staatliche Eingriffe in die Lohnfindung gefährden die Tarifautonomie.
Politik darf Löhne nicht diktieren. Die Lohnfindung ist
zunächst Aufgabe der Tarifpartner. Nur dort, wo eine
Nachjustierung notwendig ist, soll und darf die Politik
eingreifen.
Ich sage ganz deutlich: Wir werden nicht mitmachen
bei einer billigen Mindestlohnwahldemokratie nach dem
Motto „Wer bietet mehr?“.
({0})
Wir sind für soziale Marktwirtschaft mit fairen Löhnen.
Das ist wirklich christlich-sozial.
Danke schön.
({1})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht
das Wort.
Danke. - Sie haben sich unverständig gezeigt, warum
ich die Grünen plötzlich an Ihrer Seite sehe. Haben Sie
den Antrag der Grünen denn nicht gelesen? Dort heißt
es:
Die Mindestlohnhöhe wird durch eine unabhängige
Kommission festgelegt.
Das ist im Prinzip O-Ton mindestens der Sozialausschüsse.
Die Kommission setzt sich aus Vertreterinnen und
Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und
der Wissenschaft zusammen.
Da erkenne ich höchstens die Differenz, dass hier auch
die Wissenschaft vertreten sein soll, was bei der CDU/
CSU nicht der Fall ist. Aber das ist, glaube ich, eine zu
vernachlässigende Größe.
Im vierten Punkt wird ausgeführt, dass der von der
Kommission beschlossene Mindestlohn durch eine von
der Bundesregierung zu erlassende Rechtsverordnung
wirksam wird. Auch das ist Originalton der Sozialausschüsse. Zudem verweigert man sich im Antrag der Grünen genau wie bei Ihnen generell, irgendeine Zahl und
einen Mindestlohnbetrag als Startmarke zu nennen. Von
daher verstehe ich nicht, weshalb Sie so unverständig
sind, wenn ich sage, dass die Grünen an Ihre Seite getreten sind.
({0})
Herr Kollege Schlecht, diese Frage hätten Sie vielleicht besser der Kollegin Pothmer gestellt. Was wir immer gesagt haben - dazu steht diese Koalition weiterhin -, ist, dass es keine staatlich festgesetzten Mindestlöhne in einer bestimmten Höhe geben wird. Punkt 4 des
Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, den Sie gerade zitiert haben, beinhaltet im Endeffekt nichts anderes als
das, was ich angesprochen habe. Diese Formulierung
lehnt sich an § 5 des Tarifvertragsgesetzes, also an die
Allgemeinverbindlichkeit, an. Daher, Herr Kollege
Schlecht, kann man sagen, dass diese Forderung zum
größten Teil schon heute durch das Gesetz erfüllt wird.
Danke schön.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe selten eine Debatte erlebt, in der so viel geheuchelt
worden ist wie in dieser Debatte.
({0})
Es geht los bei der FDP, die sich jetzt zum Sachwalter
der Tarifautonomie aufspielt.
({1})
Das ist schon eine groteske Veranstaltung.
({2})
Ich sehe, dass Ihr früherer Parteivorsitzender, Herr
Westerwelle, anwesend ist, der vor wenigen Jahren die
Gewerkschaften als die größte Plage der Bundesrepublik
bezeichnet hat.
({3})
Jetzt erklären Sie sich zum Sachwalter der Tarifautonomie.
({4})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Gewerkschaften unisono einen allgemeinen Mindestlohn, eine
Lohnuntergrenze fordern. Die Gewerkschaften weisen in
diesem Zusammenhang darauf hin, dass der gegenwärtige Zustand das gesamte Tarifgefüge quer durch alle
Bereiche erschüttert. Sie wissen, dass wir etwa mit dem
Bundesurlaubsgesetz und dem Bundesarbeitszeitgesetz
Regelungsfelder haben, in denen der Gesetzgeber Rahmenbedingungen formuliert, die nicht unterschritten
werden dürfen und die durch die Tarifparteien ausgefüllt
werden sollen. Das funktioniert in Deutschland seit Jahrzehnten ganz hervorragend. Warum soll dies ausgerechnet bei den Tarifen nicht funktionieren, wo es doch in
anderen Regelungsfeldern, wie gesagt, gute Ergebnisse
gezeitigt hat?
Die zweite Bemerkung geht an die Adresse des Kollegen Weiß. Der Kollege Weiß hat heute eine Formulierung
gebraucht, die mich fast umhaut. Er hat nämlich gesagt,
dass das Markenzeichen der Union der Mindestlohn ist.
({5})
Das hat er wirklich gesagt. Herr Kollege Weiß, nicht der
Mindestlohn ist das Markenzeichen der Union, sondern
platteste Geschichtsfälschung ist das Markenzeichen der
Union.
({6})
Warum, das will ich Ihnen in aller Kürze erklären.
Sie haben auf die Einführung der branchenbezogenen
Mindestlöhne während der Zeit der Großen Koalition
hingewiesen.
({7})
In der Großen Koalition sind alle branchenbezogenen
Mindestlöhne - es waren deren acht - vom sozialdemokratisch geführten Bundesarbeitsministerium gegen den
teilweise erbitterten Widerstand der Union durchgesetzt
worden. Das ist die Wahrheit.
({8})
Sie wissen gar nicht mehr, was in Ihren Wahlprogrammen steht, Herr Kollege Weiß. In Ihrem Wahlprogramm 2005 ist folgende Formulierung enthalten:
Für die Arbeitnehmer sichern wir durch eine ausgewogene Kombination aus Arbeitslohn und ergänzender Sozialleistung ein angemessenes Auskommen.
({9})
Das heißt, Armuts- und Hungerlöhne sollen durch staatliche Leistungen aufgestockt werden, damit die Menschen in irgendeiner Weise leben können. Das war Ihre
Linie über Jahre hinweg.
({10})
Jetzt zu behaupten, Mindestlöhne seien der Markenkern
der Union, ist geradezu eine Verarsche auf gut Deutsch
gesagt. Das kann man Ihnen wirklich nicht durchgehen
lassen, Herr Kollege Weiß. Das ist des Guten eindeutig
zu viel.
({11})
Herr Kollege Schreiner.
Herr Präsident, mir ist klar, dass der gerade von mir
benutzte Ausdruck nicht sehr parlamentarisch war. Aber
„Wat mutt, dat mutt!“ hat ein anderer immer gesagt.
Gut. Aber deswegen habe ich Sie gar nicht unterbrochen, zumal die Einsicht Sie schnell eingeholt hat.
({0})
Ich habe Sie fragen wollen, ob Sie sich vorstellen können, eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger zu
beantworten.
Er ist schon in Lauerstellung. Bitte.
Herr Kollege Schreiner, Sie haben gerade der Äußerung des Kollegen Weiß widersprochen, dass die Union
die Hüterin des Branchenmindestlohns ist. Sie haben
auch lobend gesagt, dass die meisten dieser Löhne von
einem SPD-Minister eingeführt worden sind. Deshalb
frage ich Sie: Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass
dies unter Bundeskanzlerin Angela Merkel geschehen
ist, die zugleich CDU-Vorsitzende ist?
({0})
In diesem Sinne hat der Kollege Weiß mit seiner Aussage durchaus recht.
({1})
Die Frau Bundeskanzlerin musste sich wohl der Vernunft der Zwänge beugen. Anders ist das gar nicht zu erklären.
({0})
Auch in der Großen Koalition mussten Kompromisse
gemacht werden. Die CDU/CSU wollte ausweislich ihres Wahlprogramms Kombilöhne,
({1})
das heißt die Hinnahme von Armutslöhnen, die durch
staatliche steuerfinanzierte Leistungen aufgestockt werden. Das war Ihre Ausgangsposition.
Die Ausgangsposition der SPD im Jahr 2005 - lesen
Sie die Wahlprogramme! - war die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn. In den Bereichen, in denen das nicht durchsetzbar sein sollte, sollten dann branchenbezogene Mindestlöhne eingeführt werden. Das war
exakt der Kompromiss zwischen dem klaren Nein der
Union und dem ebenso klaren Ja der SPD zum gesetzlichen Mindestlohn. Dieser Kompromiss konnte auf
Druck der sozialdemokratischen Abteilung in der Großen Koalition herbeigeführt werden.
({2})
Wenn Sie das nun bestreiten wollen, dann wird es hier
allmählich finster, was die Wahrheit anbelangt. - Bitte
bleiben Sie noch einen Moment stehen, Herr
Straubinger, dann gewinne ich noch ein paar Sekunden.
Auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Mai 2010 hat Frau Merkel - bezogen
auf den Mindestlohn - gesagt: Ich glaube, dass das nicht
die richtige Antwort der Politik ist. - Das waren die
Worte von Frau Merkel zum Mindestlohn noch im Mai
2010.
Die berüchtigte Frau Kollegin Connemann, die heute
bedauerlicherweise nicht hier sein kann, hat im April des
Jahres 2010 gesagt: Ein Mindestlohn in Deutschland
hätte nur ein Ergebnis: Jobvernichtung.
Der ehemalige Ministerpräsident von BadenWürttemberg hat gesagt: Von einem flächendeckenden
Mindestlohn halte ich gar nichts.
Der Vorsitzende der CDU in Nordrhein-Westfalen,
Herr Röttgen, hat gesagt: Ich bin gegen eine Politisierung der Lohnfindung. Die Lohnhöhe richtet sich nach
Angebot und Nachfrage. Der Markt definiert den Lohn.
Ich könnte diese Aussagen beliebig fortführen. Sie
alle zeugen von einem: Wenn Sie sagen, dass es in Sachen Mindestlohn irgendeinen Markenkern der Union
gibt, dann ist das die platteste Geschichtsfälschung. Das
ist die Wahrheit.
({3})
Werfen wir einen Blick auf die Ausgangslage für Ihren Parteitag: Einige von Ihnen fordern jetzt flächendeckende Mindestlöhne. Hier hat sich der Kollege
Laumann ohne jeden Zweifel Verdienste erworben. Das
ist sehr zu unterstützen, und wir beobachten das mit viel
Respekt.
Herr Kollege Weiß, im Übrigen geht bei uns nicht die
blanke Angst um, dass uns etwa ein Thema abhandenkäme. Vielmehr geht es uns darum, dass Millionen von
Menschen ein Stück menschlicher Würde zurückgegeben wird.
({4})
Wenn jemand für seine Arbeit mit 2, 3, 4 oder 5 Euro in
der Stunde entlohnt wird, dann ist das ein grober Verstoß
gegen die menschliche Würde. Es ist ein Angriff auf das
Selbstwertgefühl der Menschen. Was ist ihre Arbeit eigentlich wert? Das hat nichts mit vermeintlich blanker
Angst vor dem Verlust eines Themas zu tun. Es hat aber
sehr wohl etwas damit zu tun, dass wir dazu beitragen
wollen, dass Menschen ihre Würde in der Arbeitswelt
zurückgewinnen. Ich fordere Sie dazu auf, hierzu einen
vernünftigen Beitrag zu leisten; das würde ich sehr begrüßen.
Als letzte Bemerkung möchte ich Ihnen das Gleichnis
vom verlorenen Schaf aus Lukas, Kapitel 15, mit auf den
Weg geben. Herr Kollege Weiß, dort lesen wir:
Also wird auch Freude im Himmel sein über einen
- reuigen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.
Hier sitzen eine Menge Leute, die der Buße nicht bedürfen. Wenn Sie am Montag oder Dienstag auf Ihrem
Parteitag entsprechende Beschlüsse fassen, dann können
Sie, Herr Kollege Weiß, davon ausgehen, dass ich Ihnen
das Gleichnis vom verlorenen Schaf eingerahmt schenken werde.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7483 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung
des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der
Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier
Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage
der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 ({0}) und Folgeresolutionen
- Drucksache 17/7577 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Guido
Westerwelle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Interesse
an der Stabilisierung von Bosnien und Herzegowina ist
unverändert groß. Unser Ziel bleibt ein friedliches, demokratisches, rechtsstaatliches Bosnien und Herzegowina, das aus eigener Kraft in der Lage ist, den Weg der
EU-Integration erfolgreich zu beschreiten.
Bei aller Vorsicht und aller zurückhaltenden Bewertung können wir heute sagen, dass die militärischen Sicherungsaufgaben der Operation zum gegenwärtigen
Zeitpunkt erfüllt sind. Die Sicherheitslage ist stabil. Das
zeigt, wie viel wir erreicht haben. Gerade weil wir in diesem Hause sehr oft kontrovers diskutieren - zum Beispiel gerade eben mit Leidenschaft und fast mit Atemlosigkeit der Redner -, ist es wichtig, darauf hinzuweisen,
dass hier seit vielen, vielen Jahren eine große Übereinstimmung in diesem Hause besteht. Ich denke, ich spreche im Namen aller Anwesenden, wenn ich hier den
Frauen und Männern der Bundeswehr, die vor Ort ihren
verantwortungsvollen Dienst tun, unseren Dank zum
Ausdruck bringe.
({0})
Meine Damen und Herren, das militärische Engagement der Europäischen Union bleibt aber weiter nötig.
Es muss insbesondere noch mehr getan werden, um die
Kompetenz und Professionalität der bosnischen Streitkräfte weiter zu stärken. Der Rat für Außenbeziehungen
der Europäischen Union hat daher am 10. Oktober
beschlossen, dass der Schwerpunkt der Operation
ALTHEA, für die ich jetzt hier das Mandat einbringe,
künftig auf Ausbildung und Training liegen soll. Unsere
Bundeswehr beteiligt sich an dieser Ausbildung und am
Personal des Hauptquartiers in Sarajevo. Ansonsten sind
keine deutschen Soldatinnen und Soldaten mehr in Bosnien und Herzegowina eingesetzt. Damit konnte das umgesetzt werden, was ich hier vor einem Jahr, bei der letzten Einbringung des Mandates, in Aussicht gestellt und
formuliert habe.
Im letzten Jahr konnten wir die Personalobergrenze
des Mandates von 2 400 auf 900 absenken. Auch jetzt
können wir eine Senkung der Personalobergrenze vornehmen, und zwar von 900 auf 800. Gemessen an der
Zahl der tatsächlich vor Ort eingesetzten Soldaten, bleibt
eine hohe Personalobergrenze des Mandates, denn wie
bislang wird für die Operation ein Reservebataillon bereitgehalten. Deutschland stellt den Löwenanteil an diesem Bataillon, das im Falle einer Lageverschlechterung
kurzfristig in das Einsatzgebiet verlegt werden kann. Im
Kosovo hat sich bedauerlicherweise gerade gezeigt, wie
wichtig eine solche Vorsorge ist; denn auch wenn wir
hier gemeinsam eine sehr erfreuliche Entwicklung feststellen können, so wissen wir doch, dass die Unwägbarkeiten noch lange nicht überwunden sind. Dementsprechend ist es notwendig, dass wir diesen Weg weiter
vorsichtig und verantwortungsvoll beschreiten.
Ebenso hält die Bundeswehr eine größere Zahl von
Kräften bereit, die zur vorübergehenden logistischen und
technischen Unterstützung der Mission entsandt werden
können. Beides zusammengenommen erklärt die Personalobergrenze des Mandates; beides ist Ausdruck unseres fortgesetzten Engagements und unserer Solidarität
mit unseren Partnern.
Für die Bundesregierung bitte ich um Zustimmung
zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der EU-geführten militärischen Operation ALTHEA zur weiteren
Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und
Herzegowina. Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen von ALTHEA erfolgt unverändert auf Grundlage
der Resolution 1575 aus dem Jahre 2004 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und ihrer Folgeresolutionen; er ist also völkerrechtlich eindeutig abgedeckt.
Ich denke, viele wissen nicht mehr, warum seinerzeit
dieser Einsatz begonnen worden ist, warum das Engagement überhaupt notwendig war. Wer sich noch an die
90er-Jahre erinnern kann, an das, was in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattgefunden hat, der wird zu
dem Ergebnis kommen, dass es auch sehr erfolgreiche
Friedenseinsätze der Frauen und Männer unserer Bundeswehr gibt. Wenngleich alles immer kritisch beäugt
werden muss - das ist erste Bürgerpflicht in der Demokratie -, so kann man, denke ich, doch feststellen: Es ist
schon eine sehr beeindruckende Erfolgsgeschichte. Dass
wir Deutsche einen Beitrag zu Frieden und Stabilität geleistet haben, das gereicht unserem Land zur Ehre.
({1})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die stabile Sicherheitslage ist das eine; die innenpolitische Lage birgt jedoch nach wie vor Risiken. Fast ein
Jahr nach den Wahlen konnte noch immer keine neue
Regierung auf Gesamtstaatsebene gebildet werden. Ich
kann dies nicht aussparen, weil auch das natürlich zu einer umfassenden Lagebetrachtung gehört.
Diese Lähmung des Landes verhindert, dass die auf
dem Weg nach Europa dringend notwendigen Reformen
angegangen werden. Diese politische Stagnation muss
unbedingt überwunden werden.
Deshalb macht die Bundesregierung das in all ihren
Gesprächen mit den Verantwortlichen immer wieder
deutlich. Wir bieten eine europäische Perspektive. Wir
wissen um die positive Dynamik, die der Annäherungsprozess an die Europäische Union im Land entfalten
kann. Wir erwarten aber, dass die notwendigen Schritte
vor Ort gegangen werden.
Die auf die Europäische Union bezogenen Reformen
müssen eindeutig Priorität erhalten. Ethnische Einzelinteressen müssen dahinter zurückgestellt werden.
Die EU soll in Bosnien und Herzegowina zentraler
Akteur sein. Es ist deshalb gut, dass die Trennung der
Funktion des Hohen Repräsentanten von dem Amt des
EU-Sonderbeauftragten vollzogen ist. Der Amtsantritt
des neuen eigenständigen EU-Sonderbeauftragten ist
Ausdruck der Neuaufstellung der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina. Auch dies
zeigt, dass wir einen entsprechenden Fortschritt verzeichnen können.
Es bleibt das Ziel der Bundesregierung, ALTHEA
mittelfristig zu einer nichtexekutiven Beratungs- und
Unterstützungsmission weiterzuentwickeln. Dazu ist
noch weitere Abstimmung mit unseren Partnern erforderlich. Bis es so weit ist, bleiben wir in Loyalität und
Verlässlichkeit gegenüber unseren Partnern und in unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Bosnien
und Herzegowina diesem Mandat verpflichtet.
Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Zustimmung zu diesem Mandat.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
24. November des vergangenen Jahres haben wir hier
über die damalige Mandatsverlängerung für ALTHEA
diskutiert. An dieser Stelle habe ich meiner Hoffnung
und vielleicht auch meinem Wunsch Ausdruck verliehen, dass sich Dinge in Bosnien-Herzegowina zum Besseren wenden werden.
Ich hatte das damit begründet, dass die dortigen Wahlen am 3. Oktober vergangenen Jahres die moderaten
Kräfte ausdrücklich deshalb gestärkt haben, weil diese
moderaten Kräfte nicht Nationalismus, sondern soziale
Aspekte und Themen des Landes in den Vordergrund des
Wahlkampfs gestellt hatten.
Ich hatte auch die Hoffnung, dass die Regierungsbildung eine neue Chance eröffnet, die dringend notwendigen Verfassungsreformen in Gang zu setzen, die das
Land auf dem Weg nach Europa braucht; der Außenminister hat darauf hingewiesen.
Ich hatte mir erhofft, dass die Visaliberalisierung auch
ein Zeichen dafür ist, dass wir Bosnien auf seinem Weg
nach Europa unterstützen.
Heute, ein Jahr später, kann ich nicht verhehlen, dass
ich von den politischen Eliten in Bosnien-Herzegowina
sehr enttäuscht bin, die bis jetzt das Ziel ihrer Verantwortung, eine stabile Regierung zu bilden und die notwendigen Verfassungsreformen auf den Weg zu bringen,
eindeutig verfehlt haben.
Ich habe den Verdacht, dass sich ein Großteil der politischen Eliten in Bosnien-Herzegowina sehr gut in der
derzeitigen Situation eingerichtet hat, die der DaytonRahmen gibt, sich gegenseitig zu blockieren. Das bringt
das Land nicht voran, aber das scheint dem einen oder
anderen zu genügen, um seine Claims abzustecken.
Mit diesen Fehlern verspielen die dort Verantwortung
Tragenden die Zukunft ihrer Bürgerinnen und Bürger,
die sie bei den letzten Wahlen schon deshalb gewählt haben, damit sie genau diese Zukunft positiv gestalten.
Die Frage ist, welche Schlussfolgerung wir aus diesem unwürdigen Spiel ziehen, das wir dort sehen. Ich
sage Ihnen sehr deutlich: Die Schlussfolgerung kann
nicht sein, das Mandat jetzt einfach zu beenden. Denn
das würde gerade für die Menschen, die dort Veränderungen zum Guten haben wollen, das Zeichen in sich tragen, dass wir uns abwenden und unserer Verantwortung
nicht nachkommen.
({0})
Ich finde es auch richtig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt - der Europäische Rat hat das am
10. Oktober beschlossen -, das Mandat zu modifizieren,
von einem exekutiven Mandat hin zu einer Beratungsund Unterstützungsmission für die Streitkräfte BosnienHerzegowinas, die eine der Klammern sind, in denen
eben nicht nach Ethnien getrennt Verantwortung übernommen werden soll.
Ich finde weiter, dass wir die Bundesregierung bei ihrem Ansinnen unterstützen sollen, die Zahl der stationierten Soldatinnen und Soldaten auf insgesamt 200 zu
reduzieren, um deutlich zu machen, dass es nicht mehr
um eine exekutive Mission geht, sondern um eine Unterstützungsmission. Aber Sie alle wissen: Das reicht nicht
aus. Wir müssen deutlich machen, dass wir uns sowohl
in Bosnien-Herzegowina als auch in der gesamten Region noch stärker politisch engagieren wollen. In diesem
Zusammenhang danke ich der Bundesregierung ausdrücklich dafür, dass sie sich bemüht hat, bei der Regierungsbildung in Bosnien-Herzegowina eine konstruktive, vermittelnde Rolle zu spielen.
Für die Reformkräfte, die es gerade in der jungen Generation in Bosnien-Herzegowina gibt, ist es deshalb
wichtig, dass wir die Beitrittsperspektive verlässlich erneuern, die wir mit dem Versprechen von Thessaloniki
allen Staaten in der Region gegeben haben. Ich will auch
darauf hinweisen, dass wir überlegen müssen, welche
Möglichkeiten wir haben, durch ein möglichst geschlossenes Auftreten der Europäischen Union den Druck auf
die sogenannten politischen Führer bestimmter Ethnien
zu erhöhen. Sie sollen ihrer Verantwortung gerecht werden, nicht nur bei der Regierungsbildung, sondern auch
bei der notwendigen Verfassungsreform, die eine wirkliche Demokratie bringt und nicht nur ein Vetosystem und
eine pervertierte Form der Fixierung auf die ethnische
Herkunft.
Nicht nur die EU, sondern auch die Nachbarn müssen
sich stärker engagieren. Unsere Freunde in Kroatien
müssen ihre Möglichkeiten nutzen, die HDZ in BosnienHerzegowina davon zu überzeugen, dass sie bei den GeDietmar Nietan
sprächen zur Regierungsbildung ihren Alleinvertretungsanspruch für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina aufgeben muss. Serbien muss seinen Druck dahin gehend
erhöhen, dass Herr Dodik endlich zu einer konstruktiven
Politik zurückkehrt, weg vom Nationalismus.
({1})
Deshalb ist es gut, dass Kroatien hoffentlich bald Mitglied der Europäischen Union ist. Es ist auch gut, dass
wir im Fortschrittsbericht der Europäischen Union nachlesen konnten, dass Serbien auf dem Weg nach Europa
große Fortschritte gemacht hat. Ich würde mir deshalb
wünschen, dass der Europäische Rat im Dezember ein
klares Zeichen in Richtung Serbien setzt und Serbien
den Kandidatenstatus, so wie von der Kommission vorgeschlagen, einräumen wird. Ich finde, dass Präsident
Tadic, der für seine Reformpolitik nicht nur ein hohes
politisches, sondern auch ein hohes persönliches Risiko
eingeht, unser aller Unterstützung verdient hat. Ich würde
mich freuen, wenn die Bundesregierung schon vor dem
Europäischen Rat das klare öffentliche Signal geben
würde, dass die Bundesregierung den Vorschlag der
Kommission, Serbien den Kandidatenstatus einzuräumen, mit aller Kraft unterstützt. Bisher vermisse ich dieses öffentliche Signal.
Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger Europa. - Das hat Polens Ministerpräsident Tusk in einer
bemerkenswerten Rede zum Antritt der EU-Ratspräsidentschaft Polens vor dem Europäischen Parlament gesagt. Ich finde, diese Maxime darf nicht nur bei der Rettung unserer gemeinsamen Währung gelten, sondern sie
muss auch gelten, wenn es jetzt darum geht, auf dem
Westbalkan, mitten in Europa - das will ich betonen -,
endlich die Folgen des schrecklichen Bürgerkrieges zu
überwinden. Aus dieser Verantwortung können wir uns
nicht stehlen.
Als der Bürgerkrieg in den 90er-Jahren ausbrach, war
das Handeln der Europäer - das wissen Sie - kein Ruhmesblatt. Wir haben dort versagt und sind unserer politischen Verantwortung nicht gerecht geworden. Deshalb
will ich noch einmal betonen, was ich schon im letzten
Jahr gesagt habe: Es geht nicht nur um eine Mandatsverlängerung, sondern es geht darum, dass wir deutlich machen: Die Bundesrepublik Deutschland will sich gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Union
stärker engagieren. Es wird nach Kroatien kein Ende der
Erweiterungsfähigkeit und der Offenheit für Erweiterung geben. Die, die die Reformen erfüllen, die die Region in eine Region des Friedens und der Demokratie
verwandeln wollen, haben unsere Unterstützung und
können der Europäischen Union beitreten. In diesem
Sinne würde ich mir wünschen, dass wir über die Diskussion des Mandats hinaus unsere Anstrengungen verstärken, damit diese Region mitten in Europa Frieden
findet und die Menschen dort eine wirkliche Perspektive
bekommen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Kossendey.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
16 Jahren, am 6. Dezember 1995, stimmte der Bundestag in einer sehr bedeutsamen Debatte erstmals der Entsendung deutscher Streitkräfte nach Bosnien und Herzegowina zu. Die Zustimmung erfolgte damals unter dem
Eindruck der schockierenden Ereignisse, unter anderem
in Srebrenica. Heute beraten wir die erneute Verlängerung dieses Mandats. Zwar hat die Führung dieses Mandats gewechselt - die Mission steht heute unter europäischer Verantwortung -, die Ziele jedoch sind unverändert.
Deutschland kommt seiner Verantwortung für die Stabilisierung in Bosnien und Herzegowina nunmehr seit
1995 nach, zunächst im Rahmen der NATO-Operation
IFOR - das war von 1995 bis 1996 -, dann im Rahmen
von SFOR - von 1996 bis 2004 - und seit Dezember
2004 im Rahmen der EU-geführten Operation ALTHEA
und des NATO-Hauptquartiers in Sarajevo. Das zeigt:
Deutschland ist ein verlässlicher Partner und steht zu seiner Verantwortung - in Bosnien-Herzegowina wie auch
an den anderen Einsatzorten. Das heißt: Verantwortung
für den Einsatz von Soldaten, wenn es notwendig ist,
und Verantwortung für den zivilen Übergang, sobald das
möglich ist.
ALTHEA umfasst derzeit noch insgesamt 1 300 Soldatinnen und Soldaten in Bosnien und Herzegowina. Zusätzlich werden zwei Bataillone als operative Reserve
für den Balkan bereitgehalten, um auf Lageverschärfungen schnell reagieren zu können. Wie wichtig und wie
unverzichtbar so eine Vorsorge ist, haben die jüngsten
Entwicklungen im Kosovo sehr deutlich gezeigt. Deshalb sind und bleiben Reservekräfte für KFOR und für
ALTHEA ein wichtiger Bestandteil unserer Planungen.
Insgesamt hat Deutschland seit 1995 mit mehr als
50 000 Soldaten in Bosnien und Herzegowina gearbeitet
und damit wesentlich zum Erreichen des Friedens beigetragen. Aktuell beteiligen wir uns im Rahmen des
ALTHEA-Mandats nur noch mit fünf Soldaten in den
Stäben. Wir stellen gemeinsam mit Österreich eines der
beiden genannten Reservebataillone. Aktuell ist dieses
Bataillon im Kosovo stationiert. Dort wird es wegen der
nicht ganz sicheren Lage voraussichtlich bis zum Jahresende bleiben.
Ich will die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle den
Soldatinnen und Soldaten, die nun aus der Reserve in
Deutschland in den Einsatz auf dem Balkan gerufen
wurden, wie auch den Soldaten in den anderen Einsätzen
ausdrücklich zu danken. Sie leisten einen wichtigen Bei16558
trag zur Stabilisierung des Friedens und damit letztendlich für den zivilen Übergang.
({0})
Nachdem wir bereits 100 deutsche Soldatinnen und
Soldaten aus Bosnien und Herzegowina abziehen konnten, geht es nun um die Fortsetzung des Einsatzes mit inhaltlich unverändertem Mandat, allerdings unter Absenkung der personellen Obergrenze von 900 auf 800 Soldaten. Diese Zahl bietet uns die Möglichkeit, flexibel zu
reagieren. Sie beinhaltet einen Anteil von ungefähr
500 Soldaten in dem Reservebataillon. Das gibt uns
Spielraum, um gegebenenfalls, bei Verstärkungsnotwendigkeiten, im logistischen Bereich nachzusteuern.
Wenn wir uns die Entwicklung der Gesamtzahlen bei
dieser Operation anschauen - von mehr als 50 000
NATO-Soldaten im Jahr 1996 zu 1 300 Soldaten im Rahmen von EUFOR -, dann wird deutlich, dass sich die Sicherheitslage dramatisch verbessert hat. Bosnien und
Herzegowina macht im Augenblick sogar den ersten
Schritt, um selber internationale Verantwortung zu übernehmen. Das Land beteiligt sich im Augenblick mit
54 Soldaten am Einsatz in Afghanistan, entlastet damit
die Verbündeten, auch uns.
Dennoch hat Bosnien und Herzegowina ein gutes
Stück des Weges noch vor sich; der Außenminister hat
darauf hingewiesen. Wir müssen auch im Interesse der
Menschen vor Ort weiter politischen Druck ausüben. Es
fehlt noch immer an den notwendigen Reformen, einschließlich einer Verfassungsreform. Es fehlt vor allen
Dingen auch an dem Willen zur Bildung einer gesamtstaatlichen Regierung. Ich bekräftige deswegen ausdrücklich den Appell des Außenministers: Ja, die Zukunft dieses Landes liegt langfristig in der NATO und in
der Europäischen Union, aber dafür bedarf es der Kompromissbereitschaft und letztendlich auch des Dialoges
zwischen den Volksgruppen, und es bedarf des gemeinsamen Willens zur Gestaltung einer gemeinsamen
Zukunft. Deswegen sind die aktuellen Aufträge von
ALTHEA neben Ausbildungs- und Trainingsaufgaben
auch weiterhin exekutive Aufgaben zum Erhalt eines sicheren Umfeldes und zur Unterstützung der bosnischherzegowinischen Autoritäten.
Außerdem gewährleistet ALTHEA die Unterstützung für den EU-Sonderbeauftragten und für den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien sowie - auch darauf sind wir vorbereitet gegebenenfalls die Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft. Auch das
ist Teil unserer Verantwortung, die nicht mit dem Abzug
der Soldaten endet und letztendlich nicht an den Einsatz
von Streitkräften gebunden ist.
Dieses exekutive Mandat der Operation wird mit reduzierter Präsenz in Bosnien und Herzegowina zunächst
einmal fortgesetzt werden. Ab 2012 wird sich die Operation vornehmlich auf die Unterstützung der Ausbildung
und die Entwicklung der Fähigkeiten der bosnisch-herzegowinischen Streitkräfte konzentrieren. Der Einsatz
von EUFOR/ALTHEA bleibt somit ebenso wichtig wie
richtig, auch wenn er nicht im Fokus der öffentlichen
Wahrnehmung steht.
Ich bitte Sie deswegen um eine breite Unterstützung
für das Mandat, für unsere Frauen und Männer von der
Bundeswehr, die dort ihren wichtigen Dienst tun.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Höger von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Land
Bosnien-Herzegowina ist eine moderne Kolonie. - Dieser Satz stammt nicht von mir. Er stammt von Ismet
Bajramovic, dem Vorsitzenden des Bundes unabhängiger Gewerkschaften im bosnisch-kroatischen Landesteil
Bosnien-Herzegowinas. Herr Bajramovic ist nicht der
Einzige, der das vor Ort so sieht. Ich war im Juni dieses
Jahres dort und habe mich mit den Menschen in Sarajevo
und Srebrenica unterhalten. Dabei habe ich festgestellt,
dass es eine tiefe Kluft gibt zwischen der lokalen Bevölkerung und denen, die nicht gern Besatzer genannt werden wollen, aber als solche wahrgenommen werden.
In den Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern
der NATO und der EU hatte ich den Eindruck, dieses
Land würde längst in Schutt und Asche liegen, wenn es
nicht selbsternannte Helferinnen und Helfer aus den reichen Ländern gäbe, die hier mit Militär und Investitionen für Ordnung sorgen. Bei Gesprächen mit Bosnierinnen und Bosniern hörte sich alles ganz anders an. Die
EUFOR-Truppen werden mit Befremden wahrgenommen, nicht nur wegen der nächtlichen Truppenübungen,
mit denen sie in Wohngebieten in Sarajevo für Unmut
sorgen. Schüsse und Kriegslärm kennen die Leute dort
aus den schlimmen Zeiten der 90er-Jahre nur zu gut. Die
EUFOR verbessert die unerträgliche Situation im Lande
nicht; vielmehr zementieren die Truppen diese Situation.
Auch deshalb fordert die Linke immer wieder den Abzug der Bundeswehr aus Bosnien.
({0})
Banken aus dem Ausland, vorrangig aus Österreich
und Deutschland, kaufen einen Großteil des Landes auf.
Fabriken werden nach den Vorgaben von EU und IWF
privatisiert. Die Arbeitslosigkeit steigt. Nicht nur die
7 Millionen Euro, die dieser Einsatz im nächsten Jahr
kosten wird, sind an der falschen Stelle ausgegeben,
auch ein Teil der knapp 100 Millionen Euro im zivilen
Bereich richtet Schaden an; denn dieses Geld dient auch
als Druckmittel für neoliberale Wirtschaftsreformen.
Wer Privatisierungen, Sozialabbau und die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes auf dem Balkan durchInge Höger
drückt, der hat nichts, aber auch gar nichts von den Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise verstanden. Es ist
mehr als fragwürdig, in Bosnien die gleiche Politik
durchzusetzen, die Griechenland und Italien gerade in
den Ruin treibt.
({1})
Im Übrigen sehen die Menschen auf dem Balkan am
Beispiel Griechenlands, was ihnen blüht, wenn die von
Minister Westerwelle propagierte euro-atlantische Integration kommt. Sie sollten zumindest so mutig sein, den
Leuten nicht länger Sand in die Augen zu streuen.
Auch gemessen an den Maßstäben der Bundesregierung ist dieser Einsatz völlig unnötig. 16 Jahre nach
Kriegsende brauchen die Bosnier keine militärischen
Bewacher. Die Vorstellung, dass sich Mitglieder der einen Ethnie sicherer vor den Mitgliedern der anderen Ethnie fühlen, weil die Bundeswehr dort stationiert ist, entbehrt jeder realen Grundlage.
({2})
- Ich war vor kurzem in Bosnien; das habe ich Ihnen gerade gesagt.
({3})
Genau das haben sie gesagt: Die Militärpräsenz verstärkt
den Eindruck, Bosnien-Herzegowina werde von der EU
fremdbeherrscht. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch.
EUFOR bildet die bosnische Armee aus, damit sich
diese in Afghanistan an einem neuen Krieg beteiligen
und neue Probleme schaffen kann. Diese Spirale von
Militarisierung und Krieg muss endlich durchbrochen
werden.
({4})
Auch die EU-geführte Polizeitrainingsmission dient
letztlich dem Aufbau einer Polizei, die Proteste niederschlägt und somit den Ausverkauf des Landes unterstützt.
({5})
So wurden zum Beispiel im vergangenen Jahr Demonstrationen gegen Kürzungen im Gesundheitswesen von
der Polizei brutal niedergeschlagen. Damit muss endlich
Schluss sein.
({6})
Das Geld, das für den Bosnien-Einsatz ausgegeben
wird, könnte viel nützlicher für Aufbauprogramme ausgegeben werden. Gut angelegt wäre das Geld unter anderem bei der Minenräumung. Minen sind in Bosnien
ein echtes Problem, und es ist gut, dass sich auch Minenräumerinnen und Minenräumer aus Deutschland hier engagieren. Den Einsatz deutscher Minenfachleute befürworten wir. Den Einsatz der Bundeswehr in Bosnien
lehnt die Linke jedoch entschieden ab.
({7})
Ziehen Sie die Soldaten ab! Die Menschen in BosnienHerzegowina werden es Ihnen danken.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Keul vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundeswehr ist in Bosnien-Herzegowina
mit gerade noch zwölf Soldaten vor Ort. Wir hoffen alle
gemeinsam, dass der Militäreinsatz nach 16 Jahren irgendwann sein Ende finden wird. Einige EU-Staaten haben ihre Soldatinnen und Soldaten bereits vollständig
abgezogen.
Allerdings findet dieser Rückzug gleichzeitig mit einer sich ständig verschärfenden politischen Krise statt.
Der diesjährige EU-Fortschrittsbericht zeichnet ein düsteres Bild. Seit den letzten Wahlen im Oktober 2010
konnten sich die Parteien nicht auf die Bildung einer gesamtstaatlichen Regierung einigen. Die Spaltung zwischen den drei ethnischen Entitäten hat sich weiter verschärft. Vermittlungsversuche, ob vonseiten der EU oder
vonseiten der Bundesregierung, sind allesamt gescheitert. Nun haben auch die Kroaten innerhalb der Föderation im April dieses Jahres ihre eigene Nationalversammlung gegründet - ein verheerendes Signal für die
Einheit des Staates.
Der Präsident der Republik Srpska unterstützte offen
die Absetzbewegung der kroatischen Bosnier und drohte,
im serbischen Teilstaat ein Referendum abhalten zu lassen. Dabei ging es ihm um den Ausstieg aus dem gemeinsamen Justizsystem - eine der wenigen gesamtstaatlichen
Strukturen überhaupt. Catherine Ashton reiste im letzten
Moment nach Banja Luka und musste Dodik für die Absage des Referendums auch noch Zugeständnisse machen. Nicht auszudenken, was ein solches Referendum
für die Existenz des Staates Bosnien-Herzegowina hätte
bedeuten können!
In Anbetracht dieser Spannungen ist es nach wie vor
angemessen, für den Krisenfall 500 Einsatzkräfte in einem Reservebataillon bereitzuhalten. Die Höchstgrenze
laut Mandat beträgt vor diesem Hintergrund immer noch
800 Soldatinnen und Soldaten, und das akzeptieren wir.
Klar ist aber auch, dass die Konflikte nur auf politischem Wege gelöst werden können. Kanzlerin Merkel
hat sich persönlich Anfang des Jahres engagiert, allerdings ohne Erfolg. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass bisher eine konsistente politische Strategie
fehlt, die den ganzen Raum des westlichen Balkans umfasst. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich
auf, sich in der EU für ein solches Konzept starkzumachen.
({0})
Ganz vorne muss dabei weiterhin die Reform der
Staatsverfassung stehen. Die im Vertrag von Dayton
festgeschriebene Verfassung hat das Land nicht befriedet, sondern die Aufteilung in Volksgruppen befördert.
Dadurch verhindert sie eine integrierte nationale Regierung. Leider müssen wir konstatieren, dass die EU durch
ihre nichtkonsistente Politik ein gutes Stück Verantwortung dafür trägt, dass sich die Kluft zwischen den Volksgruppen immer mehr vertieft hat.
Wir müssen uns dieser Verantwortung stellen und den
Bosniern signalisieren, dass ihnen weiterhin eine Beitrittsperspektive offensteht. Deshalb war es richtig und
wichtig, dass Ende letzten Jahres die Visumfreiheit auch
für Bosnien eingeführt wurde.
Weiterhin müssen wir die Bosnier beim Kampf gegen
das organisierte Verbrechen und die Korruption wirksam
unterstützen. Denn diese kriminellen Strukturen nutzen
die bestehenden Konflikte aus, um aus der Instabilität
Profit zu schlagen, und leider stehen sie oft in enger Verbindung zur Politik.
An diesem Punkt ist es wichtig, dass die EU ihre Unterstützung fortsetzt, auch wenn EUPM, die Polizeimission, bis Mitte nächsten Jahres eingestellt wird. Wir fordern die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass
die EU neue Projekte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit
und der Strafverfolgung auf den Weg bringt. Es darf in
Bosnien nicht der Eindruck entstehen, dass sich die Europäische Union angesichts der Krise resigniert zurückzieht. Dies wäre eine fatale Ermutigung für all jene
Kräfte, die darauf hinarbeiten, dass das Land auseinanderbricht.
Die Bundesregierung sollte im nächsten Jahr endlich
ein starkes politisches Signal setzen und den Westbalkan
in das Zentrum ihrer Außenpolitik rücken. Hier kann sie
mit ihrem politischen Gewicht wirklich etwas bewegen.
Dabei muss sie auch wagen, Druck auf die politischen
Kräfte auszuüben. Die EU darf sich nicht mehr von
plumpen Drohungen der Rassisten und Separatisten beeindrucken lassen.
({1})
Das führt zu fragwürdigen Kompromissen, die nur die
Instabilität verstärken.
Seit den Balkankriegen wissen wir wieder, dass der
Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Diese
Erkenntnis sollte auch 16 Jahre nach Kriegsende Ansporn sein, uns weiter für Frieden und Stabilität auf dem
westlichen Balkan einzusetzen.
Vielen Dank.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Florian Hahn von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn uns in bewegten Zeiten wie diesen nicht
jeden Tag Nachrichten aus Bosnien und Herzegowina erreichen, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass wir
dort ein wichtiges Mandat erfüllen. Gerade in diesem
Zusammenhang dürfen wir vor allem nicht den Einsatz
unserer Soldatinnen und Soldaten, der zivilen Helfer und
der Polizisten vergessen. Sie alle sind mit dafür verantwortlich, dass die Region als weitestgehend stabil eingestuft werden kann. Sie bündeln die zivil-militärische Zusammenarbeit vor Ort und leisten somit einen wichtigen
Beitrag zum Friedenserhalt.
({0})
Das haben Sie, Herr Bundesminister Westerwelle, noch
einmal deutlich gemacht. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken.
Ein stabiles Bosnien-Herzegowina liegt in unserem
wie auch im elementaren Interesse der Europäischen
Union. Daher müssen und wollen wir das Land auch
weiterhin auf dem Weg zu einem demokratischen
Rechtsstaat begleiten. Unser Ziel muss dabei auch in Zukunft sein, dass dort ein Staat entsteht, in dem alle Ethnien - Bosniaken, Serben und Kroaten - in Frieden miteinander leben können. Die Region muss hierfür durch
bi- und multilaterale Hilfe langfristig und nachhaltig stabilisiert werden. Nur so können sich Zukunftsperspektiven, Wohlstand und Demokratie entwickeln. Das ist die
Voraussetzung dafür, dass irgendwann ethnische Auseinandersetzungen für immer der Vergangenheit angehören können.
Deutschland engagiert sich seit 1995 im Friedensprozess. Wir unterstützen dabei nachhaltig die zivilen und
politischen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft. So können wir heute über eine Aufnahme in die
NATO und auch in die Europäische Union zumindest ansatzweise nachdenken. Ich stehe auch dazu, dass es für
den gesamten westlichen Balkan eine EU-Perspektive
geben muss.
Doch trotz aller Erfolge ist es bis dahin noch ein weiter Weg; denn Bosnien und Herzegowina ist nach wie
vor ein großes Sorgenkind auf dem Balkan. So wurde
dort am 3. Oktober 2010 gewählt, doch gibt es seit über
400 Tagen keine Regierung, und eine Einigung ist bisher
auch nicht in Sicht.
Beim Dialog zu Fragen der Justizreform wollen führende Politiker möglichst wenig Rechtsprechung auf der
Ebene Bosnien-Herzegowinas akzeptieren. Dies stellt in
meinen Augen einen deutlichen Rückschritt auf dem
Weg hin zu einem demokratischen Rechtsstaat dar.
Wenn Rechtsstaatlichkeit nicht im Interesse der Verantwortlichen dort liegt,
({1})
so liegt ein EU-Beitritt auch nicht in unserem Interesse.
Ein glaubhaftes Bemühen, Mitglied der Europäischen
Union zu werden, beinhaltet deshalb für mich eine solide
Regierungsbildung, das Bearbeiten der längst überfälligen Verfassungsreform sowie die wirtschaftliche Integration nach den Regeln der EU.
Bei der Verfassungsreform muss beispielsweise die
menschenrechtswidrige Praxis, dass Minderheiten nicht
gewählt werden können, umgehend geändert werden.
Bei der wirtschaftlichen Integration in den EU-Binnenmarkt gilt es, das Beihilfeverbot der EU einzuhalten.
Hierzu ist eine Aufsichtsbehörde notwendig, die das
auch nachvollziehbar überwachen kann.
Da sich in Bosnien und Herzegowina aber noch große
Teile der Wirtschaft in öffentlicher Hand befinden, verlaufen Auftragsvergaben nicht immer zweifelsfrei. Im
Gegenzug sind öffentliche Unternehmen eine Versorgungseinrichtung für bestimmte Cliquen. Auch hier
braucht es mehr Transparenz, hier sind entsprechende
Gesetze notwendig. Vetternwirtschaft und Korruption
muss Einhalt geboten werden; denn auf Korruption kann
man keinen modernen Staat aufbauen.
({2})
Als weiterer Punkt ist für mich die Durchführung eines Haushaltszensus von großer Wichtigkeit. Der letzte
Zensus wurde 1991 durchgeführt. Die damals erhobenen
Daten sind obsolet und können keine Basis für die Gegenwart und die Zukunft sein. Gerechtigkeit in der Verteilung und beim Mitspracherecht kann so niemals hergestellt werden. Technisch ist die Durchführung eines
Zensus kein Problem. Das Problem liegt allein im politischen Willen.
Meine Damen und Herren, Bosnien und Herzegowina
braucht für eine chancenreiche Zukunft dringend weitere
Erfolge. Mit einer Mandatsverlängerung werden wir
auch künftig dazu beitragen, dass das Land diese Erfolge
realisieren kann. Wir wissen, dass Bosnien und Herzegowina die internationale Präsenz selbst wünscht. Die
Menschen haben den Wunsch, dass im Notfall eine Reserve da ist, die für sie und ihre Sicherheit sorgt.
Wir haben das Ziel, die exekutive Operation ALTHEA
zu beenden und in eine nichtexekutive Ausbildungs- und
Unterstützungsmission umzuwandeln. Die Reduzierung
der Mandatsobergrenze ist dafür ein Indikator. Ich werbe
für die Verlängerung dieses Mandats. Unseren Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten und zivilen Helfern
wünsche ich auf diesem Weg viel Erfolg und Gottes Segen.
Danke sehr.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
Sönke Rix, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rechtsextremistische Einstellungen im Sport
konsequent bekämpfen - Toleranz und Demokratie nachhaltig fördern
- Drucksachen 17/5045, 17/7597 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dr. Lutz Knopek
Katrin Kunert
Viola von Cramon-Taubadel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl
ich aufgefordert bin, hier für die Bundesregierung Stellung zu nehmen, sei es mir gestattet, ein Beispiel aus der
Vereinspraxis anzuführen.
Mein eigener Sportverein hat auf seiner letzten Delegiertenversammlung eine Satzungsänderung beschlossen. Die Satzung lautet - ich darf zitieren -: Unser Verein
ist offen für alle sportinteressierten Bürger, unabhängig von ihrer Religion, Weltanschauung, Parteizugehörigkeit und gesellschaftlichen Stellung.
So weit war das schon bisher Satzungstext. Nun kommt
hinzu:
Er wendet sich entschieden gegen jede Form von
Rassismus, Chauvinismus, Extremismus und politischer Willkür.
Die Satzungsänderung, die wir in unserem Verein beschlossen haben, hat einen Hintergrund. Wir haben aus
den Erfahrungen gelernt, die ein anderer Verein unseres
Bundeslandes machen musste, als ein Trainer und
Übungsleiter, der Mitglied der NPD war, seine Vereinsmitarbeit für Werbung im extremistischen Sinne ({0})
- im rechtsextremistischen Sinne - genutzt hatte und der
Verein große Schwierigkeiten hatte, sich von diesem
Trainer und Übungsleiter auf der Basis der bestehenden
Satzung zu trennen.
Ich nenne dieses Beispiel, um deutlich zu machen,
dass die Sportvereine und -verbände im Rahmen ihrer
gesamtgesellschaftlichen Verantwortung hier vor besonderen Herausforderungen stehen, dass also das Anliegen,
das mit dem Antrag der SPD-Fraktion zum Ausdruck gebracht wurde, durchaus als berechtigt gelten kann.
Aber allein diese Feststellung sollte uns bei der Bewertung und der Behandlung dieses Antrages nicht genügen. Denn was aus meiner Sicht im Antrag unzureichend zum Ausdruck kommt, ist die Anknüpfung an
entsprechende Bemühungen. Ich nenne insbesondere die
Kampagne „Sport und Politik verein({1}) gegen Rechtsextremismus“,
({2})
die nicht allein, wie der Antragsteller sagt, eine Kampagne der Bundesregierung ist. Kampagnenträger sind neben dem Bundesinnenministerium und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
die Bundeszentrale für politische Bildung, die Deutsche
Sportjugend im Auftrag des DOSB, der Deutsche Fußball-Bund, die Sportministerkonferenz, die kommunalen
Spitzenverbände und die Landessportbünde.
Sie alle - das wird bei der weiteren Beratung des Antrags noch bedeutsam werden - wirken bei der Umsetzung der Empfehlungen des Handlungskonzepts mit, das
der Kampagne zugrunde liegt. Dabei steht die Bekämpfung von Rechtsextremismus zwar im Vordergrund, aber
der Initiative geht es um viel mehr: Sie richtet sich auch
gegen jegliche Form von Diskriminierung im Umfeld
des Sports und legt deshalb einen besonderen Schwerpunkt auf die Prävention.
Ich will nur kurz auf die drei wichtigsten Punkte der
Kampagne verweisen. Es geht darum, die Vereine für
rechtsextremistische Einflussnahmen, die subtil erfolgen,
zu sensibilisieren, sie zu motivieren, konsequent gegen
rechtsextremistische Erscheinungsformen und Diskriminierung vorzugehen, sich entsprechend fortzubilden und
gegen Rechtsextremismus zu positionieren und durch
eine Bündelung von Informationen und Vernetzung von
externen Unterstützungsangeboten Vereinen eine entsprechende Hilfestellung zu geben.
({3})
Ich verweise mit Blick auf die neuen Bundesländer
darauf, dass es dem Bundesinnenministerium ein wichtiges Anliegen war, das Programm „Zusammenhalt durch
Teilhabe“ zu einem Programm zu machen, das die Landessportbünde bei der Bekämpfung extremistischer Einflussnahmen und Bestrebungen im Sport unterstützt.
So wichtig das Anliegen ist, so sehr ist zu bemängeln,
dass sich die Antragsteller nicht über den Stand der Arbeit hinreichend informiert bzw. nicht daran angeknüpft
haben. Im Lichte der bereits bestehenden Kampagne ist
manche der Forderungen, die im Antrag erhoben werden, als wenig zielführend zu bewerten.
Das gilt zunächst einmal für die Forderung, zeitnah
einen Bericht über verfassungsfeindliche extremistische
Bestrebungen im Sport, mit konkreten Fallzahlen nach
Bundesländern und Sportarten, vorzulegen. Die Umsetzung dieser Forderung bedeutet nicht mehr und nicht
weniger als die Einführung eines verbindlichen Meldesystems für die Vereine, bei dem bereits unterhalb der
Strafbarkeitsschwelle entsprechende Meldungen zu machen sind. Sie alle, jedenfalls die Mitglieder des Sportausschusses, stecken tief im Thema Vereinsverantwortung und Vereinsarbeit und wissen, was das für den
einzelnen Verein und die ehrenamtlichen Leitungen bedeutet.
Die zweite Forderung, die Aufnahme eines Kapitels
„Extremismus und Sport“ in künftigen Sportberichten,
ist mit dem 12. Sportbericht bereits erfüllt. Wir werden
bei der Diskussion des nächsten Sportberichts die Gelegenheit haben, festzustellen, ob die Forderungen entsprechend umfänglich und vollständig umgesetzt wurden.
({4})
Ich erwähne schließlich eine ganze Reihe von Forderungen, die auf eine finanzielle Unterstützung der Vereine abzielen. Ich muss an diesen Forderungen zum einen kritisieren, dass sie haushaltsrelevant sind. Sie
sollten an anderer Stelle und weniger pauschal gestellt
werden. Zum anderen muss ich aber vor allen Dingen
kritisieren, dass sie die Zuständigkeits- und Kompetenzfragen außer Acht lassen, die für die jeweiligen Finanzierungsmodelle nicht ohne Bedeutung sind.
Es gibt eine Anzahl von Forderungen, die ich als auf
dem Wege, wenn auch nicht als erfüllt betrachte. Die Einführung eines Gütesiegels ist Teil der Handlungsempfehlungen. Die geforderten Ansprechpartner im LSB gibt es
bereits. Fortbildungsveranstaltungen mit LSB-Vertretern
sind schon im Herbst dieses Jahres durch die Deutsche
Sportjugend entsprechend terminiert.
Ich will noch einmal deutlich machen: Ich glaube, es
gibt gegen das Anliegen des Antrags keinerlei Einwände. Im Gegenteil, wir wissen, dass wir es mit einem
wichtigen Anliegen zu tun haben.
({5})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das ist der letzte Satz, Herr Präsident.
Gut. Bitte.
Ich möchte an dieser Stelle an Sie alle appellieren, dafür zu sorgen, dass wir die in der Kampagne verfolgten
Ziele nicht durch ein vordergründiges Einfordern von
Erfolgsmeldungen, nicht erfüllbaren Beitragspflichten
oder unpräzise formulierten Finanzierungsmaßnahmen
konterkarieren, sondern dass wir die Maßnahmen dieser
gemeinsamen Kampagne, die von der Bundesregierung
nur zu einem Teil betrieben wird, gemeinsam unterstützen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Gestern war der 9. November - ein ganz besonderer Tag,
in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Tag in der
deutschen Geschichte. Mit Blick auf die Reichspogromnacht ist dieser Tag für uns natürlich eine immerwährende Mahnung, entschlossen gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, kurz: gegen Menschenfeindlichkeit mit
all ihren Erscheinungsformen einzutreten und klarzumachen: Nein, so etwas nie wieder!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über
Sport sprechen, dann beschwören wir oft die Fähigkeit
des Sports, Menschen zusammenzubringen, Vorurteile
abzubauen und an ihrer Stelle Fairness und Toleranz zu
fördern. Viel weniger sprechen wir über die Gefahren,
die damit verbunden sind, wenn Sport missbraucht wird:
Dann kann das exakte Gegenteil von dem entstehen, was
wir uns vom Sport wünschen. Seit Jahren ist bekannt,
dass Rechtsextremisten gezielt versuchen, den Sport vor
ihren ideologischen Karren zu spannen, und die ehrenamtliche Tätigkeit im Sportverein nutzen, um ganz nebenbei ihre rechtsextreme Propaganda zu verbreiten.
Sportstätten sehen sie als Bühne, um zu provozieren, um
rassistische und antisemitische Inszenierungen irgendwie zustande zu bringen. Die Politik darf dabei nicht
wegsehen. Politik muss handeln und muss Vorschub
leisten, damit das nicht weiter um sich greifen kann.
({1})
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es geschafft, solche Aktivitäten zuweilen aus den großen
Sportarenen zu verbannen. Aber die Frage ist ja: Wie ist
es uns gelungen? Hier muss man ganz klar sagen: Das ist
das Verdienst all derjenigen, die sich in den Fanprojekten engagieren, die engagierte Arbeit an der Basis leisten
und andererseits oftmals nicht die notwendige Unterstützung aus der Politik erfahren, weil es noch immer viel zu
viele Kommunen gibt, die nicht erkennen, welcher Wert
dahintersteckt, weil es noch immer viel zu viele Bundesländer gibt, die sich letztendlich schwertun, sich hierbei
zu engagieren.
Ich will nur das Beispiel Baden-Württemberg nennen:
Die schwarz-gelbe Landesregierung hat ganz lange gebraucht, um endlich einzusehen, wie wichtig Fanprojekte an dieser Stelle sind. Die neue Landesregierung aus
Grünen und SPD hat es im Koalitionsvertrag festgeklopft: Fanprojekte sind ein ganz wichtiger Bestandteil
ihrer Politik. Das ist so, und das wird auch so bleiben in
Baden-Württemberg.
({2})
Seit Jahren fordern wir, die Aufbauarbeit der Koordinationsstelle Fanprojekte, KOS, in Frankfurt stärker zu
unterstützen.
Unverständlich für uns ist, dass diese Woche in der
Presse zu lesen war, dass Bundesinnenminister Friedrich
die Finanzierung dieser Projekte infrage stellt. Wir wissen nicht, ob zutrifft, was dort berichtet wurde. Aber ich
hätte mir schon gewünscht, Herr Staatssekretär
Dr. Bergner, dass Sie die heutige Debatte genutzt hätten,
um klarzustellen, dass eine Reduzierung der Mittel nicht
angestrebt wird. Schade! Eine verpasste Chance an dieser Stelle.
Wir finden, dass es irgendwie unglaubwürdig ist,
wenn einerseits im Januar der Vorgänger des jetzigen
Bundesinnenministers, Herr Thomas de Maizière, und
die Familienministerin Frau Schröder sich bei einer großen Veranstaltung feiern lassen, wenn sie bei diesem
Event viel ankündigen, wir aber andererseits jetzt in den
Zeitungen lesen: Die Finanzierung wird infrage gestellt.
Schade! Vielleicht wird das einer der folgenden Redner
noch klarstellen. Wir haben jedenfalls nicht vergessen,
dass vor zehn Monaten zwei Minister in Berlin die Initiative „Verein({3}) gegen Rechtsextremismus“ mit einem
großen Bahnhof vorgestellt haben, und stellen fest, dass
bis jetzt eigentlich noch gar nichts passiert ist. Ich
glaube, hier wird etwas verwechselt. Ankündigung ist
noch nicht gleich Handeln.
({4})
Wenn in der Diskussion im Sportausschuss gesagt
wird, der Antrag der SPD-Fraktion habe sich durch Handeln erledigt, dann muss ich sagen, dass das einfach
nicht zutrifft; denn schon vor über zehn Monaten wurde
zum Beispiel angekündigt, dass ein Gütesiegel für Vereine eingeführt wird. Bislang ist noch nichts passiert.
Wir haben im Sportausschuss bei den Vertretern des
Ministeriums nachgefragt. Da hieß es, in den nächsten
Wochen wolle man sich so langsam zusammensetzen
und überlegen, wie man das irgendwie hinbekommen
könne. Dazu muss ich sagen: Es dauert ganz schön
lange, bis irgendetwas auf die Reihe gebracht wird. Die
Regierung kündigt viel an, aber es passiert letztendlich
viel zu wenig. Das kritisieren wir. Deswegen haben wir
den Antrag eingebracht. Wir sagen nicht, dass alles
falsch ist, was im Januar angekündigt wurde, aber mit
der Umsetzung hapert es gewaltig.
Im Übrigen muss man ganz klar sagen: Sie könnten
eigentlich jetzt mit gutem Beispiel vorangehen, wenn es
darum geht, Demokratie und Wertevermittlung voranzubringen, indem Sie uns zugestehen, dass wir auch im
Sportausschuss wieder öffentlich über ein solches
Thema diskutieren.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Lutz Knopek von der
FDP-Fraktion.
({0})
Könnten Sie das Pult hochdrehen?
Das müssen Sie selber machen.
Mein Vorredner und ich, wir unterscheiden uns in der
Größe, aber nicht in unserem Engagement für den Sport.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße es, dass die SPD mit ihrem Antrag auf die ernstzunehmende Gefahr hinweist, dass
Rechtsextremisten Sportvereine gezielt zur Verbreitung
ihres rassistischen, antidemokratischen und menschenverachtenden Gedankenguts nutzen, sei es als aktiver
Sportler, Trainer, Vorstandsmitglied oder Sponsor. Es
freut mich daher, dass dieses wichtige Thema heute
Nachmittag im Plenum öffentliches Gehör finden kann.
({0})
Gerade der Sport, der Menschen verschiedenster Kulturen miteinander verbindet, innerhalb der Gesellschaft
die Integration fördert und Werte wie Toleranz, Respekt
und Fairness vermittelt, muss unbedingt vor antidemokratischem und rassistischem Gedankengut geschützt
werden. Immer wieder blicken wir hier als Erstes auf
den Fußball. Ich möchte aber auch darauf hinweisen,
dass Rechtsextremismus im Sport kein reines Problem
des Fußballs ist. Rechtsextremisten fokussieren sich auf
diesen Sport, da der Fußball in unserer Gesellschaft besonders stark wahrgenommen wird und sie ein Höchstmaß an Öffentlichkeit suchen. Aber auch Kampfsportvereine und die Kraftsportszene können beispielsweise
betroffen sein.
Die Gefahr wurde von den Sportverbänden und der
Bundesregierung erkannt, und gute Maßnahmen wurden
bereits getroffen. So hat das Innenministerium Anfang
dieses Jahres mit der Auftaktveranstaltung „Foul von
Rechtsaußen - Sport und Politik verein({1}) für Toleranz,
Respekt und Menschenwürde“ eine Initiative gestartet.
Gemeinsam mit dem organisierten Sport hat die Bundesregierung tragfähige Handlungskonzepte vorgelegt, um
rechtsextremistische Tendenzen im Sport abzuwehren.
Auch hat das Innenministerium gegenüber den Landessportbünden, wie im Antrag der SPD gefordert, bereits die Empfehlung ausgesprochen, Ansprechpartner
und Hilfe zur Verfügung zu stellen, was diese teilweise
auch schon umgesetzt haben. Insbesondere der Fußball
zeigt sich auf der Ebene der Landesverbände für diese
Problematik sensibilisiert.
Auch die klassischen Fanprojekte leisten auf diesem
Feld bereits hervorragende Arbeit. Des Weiteren gibt es
inzwischen zahlreiche Faninitiativen wie die „Bunte
Kurve“ oder „Fare Network“, die sich gezielt gegen Rassismus und Diskriminierung im Allgemeinen wehren;
denn auch Homophobie stellt ein großes Problem im
Sport dar.
Die Europäische Kommission vergibt Zuschüsse an
zwölf transnationale Initiativen - neun davon in
Deutschland - zur Bekämpfung von Gewalt und Intoleranz im Sport, insbesondere auf der Basisebene. Zusätzlich gibt es eine europaweite Aktionswoche gegen Rassismus, und Vereine und Spieler positionieren sich
öffentlich gegen Rassismus und nutzen ihre Möglichkeiten, in ihren Stadien gegen Rassismus vorzugehen.
Die von der SPD im Antrag geforderten Initiativen
seitens der Regierung, Verbände, Vereine und Fanclubs
existieren also bereits: organisationsübergreifend und
sogar konkreter und zielgerichteter als nun gefordert und
sind bis zum haushaltsrechtlich zulässigen Maß umgesetzt. Ich denke nicht, dass es bei einer so großen und
breiten gesellschaftlichen Gegenbewegung Aufgabe des
Bundes ist, hier noch weitere Modellprojekte oder Gütesiegel zu schaffen. Eher sehe ich hier die Länder und
Kommunen in der Pflicht, die die Gegebenheiten und
Gefahren vor Ort viel besser kennen, antiextremistische
Initiativen zu unterstützen, zu fördern und eng mit ihnen
zusammenzuarbeiten. In diesem Punkt kann ich dem
Antrag zustimmen, und ich begrüße es ausdrücklich
- anders als die Linke -, dass die SPD an dieser Stelle einen geweiteten Blick auf andere Formen des Extremismus lenkt.
Natürlich liegt im Bereich der Vereine der Schwerpunkt klar beim Rechtsextremismus. Allerdings darf
man vor anderen Formen des gewaltbereiten Extremismus, wie Linksextremismus und Islamismus, grundsätzlich nicht die Augen verschließen.
({2})
Wir hoffen sehr, dass die heutige Debatte alle, also
Politik, Verbände, aber auch die Vereine selbst mit ihren
Vereinsmitgliedern stärker für die Problematik des
Rechtsextremismus im Sport sensibilisiert und zum Handeln motiviert. Wir brauchen noch stärker eine Kultur
des Hinsehens und der Zivilcourage. Je mehr Menschen
von den Kampagnen und Maßnahmen sowie den Anlaufstellen bei Betroffenheit erfahren, umso stärker können wir alle gemeinsam Rechtsextremismus im Sport
vorbeugen und bekämpfen.
Mit Blick auf ihren Antrag muss sich die SPD allerdings die Frage gefallen lassen, ob sie der Bundesregierung unterstellt, hier etwas versäumt zu haben. Dabei ist
das Gegenteil der Fall. Das ist unfair und unsportlich.
Meine Fraktion wird diesen Antrag daher leider ablehnen.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die
Zahlen sind erschreckend: In den letzten 20 Jahren haben 137 Menschen ihr Leben durch rechtsextremistische
Straftaten verloren. Sie wurden Opfer antisemitischer,
fremdenfeindlicher und rassistischer Gesinnungstäter.
Derartige Einstellungen finden sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen - leider auch im Sport. Sie stellen eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Darum müssen wir uns immer wieder damit auseinandersetzen auch hier und heute im Deutschen Bundestag.
Die Zusammenarbeit von Politik und zivilgesellschaftlichen Strukturen ist hier ein erfolgreiches Agieren
gegen die Gefahr von rechts außen und ohne Alternative.
Ein Beispiel dafür ist die thüringische Kreisstadt Hildburghausen. Dort hatte ein bekennender Neonazi einen
Fußballverein gegründet, der als rechtes Sammelbecken
diente. Durch zivilgesellschaftliches Engagement ist es
gelungen, den Verein von der Bildfläche zu verbannen.
Die Stadt Hildburghausen - übrigens mit einem linken
Bürgermeister an der Spitze - hat dem Verein den Zugang zu Sportanlagen untersagt. Der Kreissportbund hat
dem Zusammenschluss die Anerkennung als Verein verwehrt, und das örtliche Bündnis gegen Rechtsextremismus, in dem unter anderem Vertreter von Kirchen, Parteien und Gewerkschafter organisiert sind, hat vorbildliche zivilgesellschaftliche Aufklärungsarbeit geleistet.
Rechtsextremismus im Sport ist ein sehr ernstzunehmendes Phänomen. Das zeigt eine endlose Kette von
Vorfällen insbesondere im Umfeld des Fußballs; Kollege
Knopek, Sie hatten es bereits erwähnt. Meine Fraktion
begrüßt darum den Antrag der SPD als Schritt in die
richtige Richtung. Umso bedauerlicher ist es allerdings,
dass Union und FDP selbst diesen kleinen Schritt mit fadenscheinigen Begründungen ablehnen. Anstatt mit konkreten Maßnahmen dem Rechtsextremismus im Sport
Paroli zu bieten, belässt es die Koalition leider bei Lippenbekenntnissen.
„An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren
Worten“, heißt es sinngemäß bei Matthäus.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das
Feld überlasse ich Ihnen gerne. Auch die heutige Politik
muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Die Linke
wird darum dem Antrag der SPD zustimmen. Die Forderung, dauerhafte Förderstrukturen für Verbände und Vereine zu schaffen, unterstützen wir. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag, auch wenn der Antrag in der Wahl der
Begriffe nicht ganz konsistent ist.
Ich erinnere an dieser Stelle an die Erkenntnisse, die
der Sportausschuss bereits im Jahre 2008 gewonnen hat.
Damals erklärte der Sachverständige Martin Endemann
vom Bündnis Aktiver Fußballfans in der Anhörung zu
Extremismus im Sport: Mir ist nicht bekannt, dass es in
Deutschland ein großartiges Problem mit linksextremistischen Fußballfans gebe. Insofern halte ich den Titel
dieser Veranstaltung für falsch; es sei denn, man macht
den Fehler, antirassistisches Engagement in irgendeiner
Weise mit linksextremistischer Politik verknüpfen zu
wollen. - Übrigens hat sich der DFB-Präsident Theo
Zwanziger diese Position in der gleichen Sitzung zu eigen gemacht.
Im Bereich Fußball bestehen sicherlich die größten
Probleme, aber Rassismus und Diskriminierung gibt es
auch in anderen Sportarten, manchmal offensichtlich,
manchmal aber auch im Verborgenen. Bedingungsloser
Einsatz gegen den Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft muss über Konzepte auf geduldigem Papier hinausgehen. Ich empfehle darum Union und FDP, einmal
beim Bürgermeister in Hildburghausen zu hospitieren.
Ich setze mich gerne dafür ein, dass Sie dort kurzfristig
einen Termin bekommen, und bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wurde schon gesagt: Neonazismus und Rechtsextremismus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, das immer wieder auch im Sport vorkommt. Deshalb bin ich
den Kolleginnen und Kollegen der SPD dankbar, dass
sie diesen Antrag eingebracht haben.
({0})
Sie haben den Ball aufgenommen, den wir ihnen in der
letzten Wahlperiode mit unserem Antrag zugespielt haben.
({1})
Unseren damaligen Antrag „Alle Formen von Diskriminierungen thematisieren“ hatten Sie leider abgelehnt. Allerdings sehen wir mit Freude, dass Sie in Ihrem jetzt
vorgelegten Antrag durchaus viele unserer damaligen
Forderungen teilen.
Der Sport hat einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft - da sind wir uns wahrscheinlich alle einig. Allerdings ist der Sport nicht automatisch tolerant und integrativ. Wir müssen uns da immer wieder engagieren. Ich
persönlich habe schon häufig erlebt, wie Initiativen, die
sich für Toleranz im Sport einsetzen, von anderen Vereinen oder Verbänden argwöhnisch beäugt werden. Sie
werden sehr schnell als Nestbeschmutzer beschimpft,
oder es wird gesagt, sie würden unnötigerweise die Politik in den Sport hineintragen. Deshalb möchte auch ich
auf das Engagement von Theo Zwanziger verweisen, der
sich diesbezüglich immer sehr explizit äußert: ob in der
Anhörung des Sportausschusses oder auch sonst bei vielen anderen Gelegenheiten. Diese Appelle müssen insbesondere im Breitensport gehört und umgesetzt werden.
Viel zu häufig wird vor Ort gesagt, das schaffe man nicht,
es wird auf das Prinzip der Subsidiarität verwiesen oder
auf die Überlastung des Ehrenamtes hingewiesen.
Politik ist bei dieser Thematik ebenso gefragt. Die
Initiative „Verein({2}) gegen Rechtsextremismus“ wurde ja
schon von verschiedenen Vorrednern angesprochen.
Auch ich kann allerdings nur sagen: Außer markigen
Worten ist bis jetzt leider nichts weiter erfolgt.
({3})
Der Präsident des DOSB, Thomas Bach, schilderte, dass
man gegen rechtsextreme Einstellungen im Sport konsequent vorgehe. Der DOSB hätte - ich zitiere - „diesen
Tendenzen bereits vor Jahren den Krieg erklärt“. Das
waren klare Worte, doch nach fast einem Jahr müssen
wir konstatieren: Es waren wohl eher, um im Jargon zu
bleiben, leere Patronenhülsen. Das Programm mag noch
so schön zu lesen sein; wir würden im Bundestag gerne
mehr über die Umsetzung erfahren. Wenn die entsprechenden Ministerien der Bundesregierung mehr wissen,
könnte man uns ja in den Ausschüssen dahin gehend informieren.
Wir haben in den vergangenen Jahren insbesondere
auch bei den Fanprojekten sehr viel gemacht, mittlerweile in allen Bundesländern. In Sachsen hat es wie in
Baden-Württemberg - Letzteres wurde ja schon angesprochen - lange Jahre gedauert, bis etwas unternommen
wurde. Es musste erst etwas Schlimmes passieren, bis
sich die sächsische Landesregierung dazu durchgerungen hat. Von daher sind die geplanten Kürzungen bei der
KOS in keiner Weise nachvollziehbar. Es kann einfach
nicht sein, dass man sagt, hier werde Geld verschwendet.
Hier wird gute Arbeit geleistet. Wir brauchen eher mehr
davon als weniger. Von daher ist insbesondere die sozialpädagogische Arbeit in diesen Bereichen auszuweiten.
Hier darf es keine Kürzungen geben.
({4})
Das Förderprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ ist ebenfalls schon angesprochen worden. Die dazugehörigen Modellprojekte unterstützen wir. Allerdings
ist auch bei diesem Programm zu kritisieren, dass der
unklare, unwissenschaftliche Extremismusbegriff immer
wieder verwendet wird. Dieser Umstand erschwert die
ohnehin schwierige praktische Arbeit. Ebenso ist zu kritisieren, dass die Dauer des Programms nur befristet ist.
Das ist ein generelles Problem. Ich erinnere nur an das
ausgelaufene Modellprojekt „Am Ball bleiben“. Dort
wurden tolle Sachen gemacht, aber das Programm läuft
aus; alles wird abgeheftet, und es folgt leider nichts.
Wir müssen nicht jedes Mal das Rad neu erfinden;
aber wir sollten uns endlich alle zusammensetzen und
nachhaltige Konzepte entwickeln, inklusive Finanzierung.
Ganz zum Schluss an all diejenigen, die den Antrag
heute ablehnen werden: Ihnen empfehle ich die Lektüre
des Buches „Angriff von Rechtsaußen - Wie Neonazis
den Fußball missbrauchen“ von Ronny Blaschke. Dort
können Sie alle möglichen Beispiele noch einmal nachlesen, zum Beispiel den von Herrn Bergner erwähnten
Fall Battke und den Fall in Hildburghausen, den der Kollege Petermann genannt hat. Es gibt auch ein großes Kapitel zum Thema Leipzig, wo es in der Auseinandersetzung große Probleme gibt. Lesen bildet! Wenn Sie heute
nicht zustimmen, kommen wir vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt zu einer gemeinsamen Position.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Frank Steffel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir begrüßen es, um das gleich vorneweg zu sagen,
dass es seit Anfang dieses Jahres das gemeinsame Programm „Verein({0}) gegen Rechtsextremismus“ gibt - ein
Programm der Bundesregierung, mehrerer Ministerien,
der Sportminister der 16 Bundesländer, der Landessportbünde, des DOSB, des DFB, der Deutschen Sportjugend,
der kommunalen Spitzenverbände und vieler anderer.
Unabhängig davon, was wir im Detail kritisieren können
- das mag ja zum Teil sogar einen -, sind wir dankbar,
dass sie alle sich darauf verständigt haben, diesem wichtigen Thema die Bedeutung beizumessen, die wir ihm
heute zu Recht auch im Deutschen Bundestag zuerkennen.
Es gibt Themen, die sich wenig für parteipolitischen
Dissens eignen. Deswegen haben wir Ihren Antrag, Herr
Gerster, im Sportausschuss sehr ausführlich beraten. Wir
sind in der Tat in einigen der acht Punkte, die Sie ergänzend vorschlagen, nicht Ihrer Auffassung und werden
den Antrag heute ablehnen müssen, weil das nun einmal
das parlamentarische Verfahren ist. Wir lassen uns deswegen aber nicht unterstellen, wir würden das Thema
nicht ernst nehmen oder gar uns nicht ernsthaft darum
bemühen, unseren Vereinen dabei zu helfen, sich vor
Rechtsradikalen und Rechtsextremen zu schützen.
Denn, meine Damen und Herren, darum geht es im
Wesentlichen. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken,
der deutsche Sport, gar der deutsche Vereinssport oder
wesentliche Teile der Ehrenamtlichen, die im deutschen
Vereinssport tätig sind, seien rechtsradikal oder hätten
verdeckt rechtsradikale Empfindungen.
({1})
- Ich will das nur klarstellen, Frau Kollegin. Ich habe da
überhaupt keinen Dissens gehört. Aber viele Hunderttausend Menschen hören heute zu oder erfahren das, was
wir hier besprechen, auf anderem Wege. Insofern will
ich deutlich machen: In den Vereinen sind zu 99,9 Prozent Menschen tätig, die für Toleranz, für Menschenrechte, für Respekt, für Fairness und für all das werben,
was uns auch hier verbindet.
({2})
Nun gibt es offensichtlich ein Problem. Viele junge
Menschen engagieren sich sehr stark in Vereinen;
50 Prozent unserer Jugendlichen sind in Sportvereinen.
Diese jungen Menschen sind natürlich ein guter Nährboden für politische Strömungen, die versuchen, Menschen
in die Irre zu führen, die mit Fremdenfeindlichkeit, mit
Ausgrenzung, mit all den Dingen, die wir in unserem demokratischen Spektrum eben nicht wollen, versuchen,
diesen Menschen einfache Antworten zu geben und damit vielleicht auch von Alltagsproblemen abzulenken.
Insofern sind wir gut beraten, den Vereinen zu helfen
- die Bundesregierung und die Initiative tun das - und
sie übrigens auch zu ermutigen - auch diesen Aspekt
möchte ich herausarbeiten -, sich dazu zu bekennen,
wenn sie ein solches Problem in ihrer ehrenamtlichen
Trainer- oder Betreuerschaft haben. Das ist doch ein
wirkliches Problem bei diesem Thema. Wenn ein Verein
sagt, er habe bei einem Jugendtrainer festgestellt, dass er
beispielsweise Mitglied der NPD ist und dass er mit jungen Menschen nicht so arbeitet, wie der Verein sich das
vorstellt, dann führt das zu einer medialen Ächtung und,
möchte man fast sagen, zu einer gesellschaftspolitischen
Hinrichtung des Vorstandes des Vereins und der anderen
ehrenamtlichen Trainer. Es entsteht außerdem der Eindruck, der gesamte Verein habe jahrelang bewusst weggeschaut, was dazu führt, dass Eltern ihre Kinder aus
dem Verein herausnehmen. So dürfen wir uns nicht wundern, dass die Vereine sagen: Wenn das die Konsequenz
ist, dann vertuschen wir diese Vorkommnisse und
schweigen das Thema lieber tot. - Daher möchte ich
heute meine Rede dazu nutzen, nicht nur allgemeine Bekenntnisse abzugeben, sondern an uns und an die Medien zu appellieren, die Vereine, die den Mut haben, ein
solches Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, zu unterstützen. Das ist ein wichtiger Aspekt dieser Debatte.
({3})
Ich möchte noch einen Punkt aufgreifen, bei dem ich
manchmal das Gefühl habe, wir laufen ein wenig in die
falsche Richtung. Wir haben in den Vereinen Ehrenamtliche, die sich mit vielen Dingen hoffentlich gut auskennen: mit den Regeln, mit Trainingsmethoden und damit,
wie man die Vereinskasse ordentlich führt. Wir sollten
uns aber alle gemeinsam davor hüten, diesen Ehrenamtlichen, die für unsere Gesellschaft eine wichtige Arbeit
leisten, durch immer neue Auflagen, durch immer neue
Prüfungen und durch immer neue Bürokratie die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erschweren.
Ich empfehle, sehr genau hinzuschauen sowie für Toleranz, Fairness und Respekt zu werben. Wir müssen die
integrierende Bedeutung des Sports für unsere Gesellschaft betonen und die Initiative, auf die der Herr Staatssekretär schon hingewiesen hat, unterstützen. Wo es Probleme gibt, müssen wir sie gezielt in Zusammenarbeit
mit den Landessportbünden und den Fachverbänden angehen.
Sie haben es vielleicht mitbekommen, dass während
eines Auswärtsspiels von Tennis Borussia, einem Berliner Fußballverein mit jüdischen Wurzeln, das am vorletzten Wochenende stattfand, Leute auf den Platz gelaufen sind, rechtsradikale Parolen geschrien und Gewalt
ausgeübt haben. Diese waren übrigens nicht Mitglieder
des gastgebenden Vereins. Deswegen dürfen wir nicht
den Eindruck erwecken - ich nenne deshalb den Namen
des betroffenen Vereins nicht -, dass der Verein, der
Gastgeber dieser Veranstaltung war, für irgendetwas,
was auf dem Sportplatz passiert ist, verantwortlich ist.
Der Sport und die Sportvereine werden missbraucht;
ihnen wird Schaden zugefügt. Wir müssen gemeinsam
schauen, wie wir den Vereinen helfen können. Es handelt
sich um ein bedauerliches gesellschaftliches Phänomen.
Wenn die Berichte des Bundesinnenministeriums zutreffen, können wir feststellen, dass der Rechtsradikalismus
in Deutschland insgesamt deutlich abgenommen hat.
Das ist gut so. Aber in den Vereinen müssen wir die Jugendlichen vor diesen Gefahren schützen. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung und die Verbände bei
ihrer Arbeit.
Wir halten es für angezeigt, dass wir über dieses
Thema nicht streitig diskutieren. Wir müssen vielmehr
deutlich machen, dass wir gemeinsam alles dafür tun,
dass sich unsere Vereine gegen diese Menschen, die
keine Toleranz, keine Fairness und keinen Sportsgeist
zeigen, aktiv wehren können. Ich habe den Eindruck,
dass wir da auf einem besseren Wege sind als in den letzten Jahren.
Herzlichen Dank.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Sönke Rix von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal möchte ich feststellen, dass es heute nicht
darum geht, dass Fußballfans - teilweise handelt es sich
um Hooligans - bei Bundesligaspielen Spieler mit Migrationshintergrund beleidigen, wie wir es öfter im Fernsehen beobachten können. Es geht vielmehr darum, wie
gerade bei den kleinen Vereinen vor Ort mit dem Thema
Menschenverachtung, Rassismus und Rechtsextremismus umgegangen wird. Dass das im Sport genauso wie
in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen ein wichtiges Thema ist, muss uns allen bewusst sein.
Herr Bergner und Herr Steffel, Sie haben auf die guten Ansätze, die mit den Projekten verbunden sind, hingewiesen. Sie haben das Programm „Zusammenhalt
durch Teilhabe“ und die Fanprojekte gelobt. Sie sprechen von einer guten Arbeit vor Ort. Dem schließen wir
uns an und danken den Ehrenamtlichen herzlich für ihre
Arbeit.
({0})
Ich sage auch einen herzlichen Dank dafür, dass wir
diese Arbeit hier gemeinsam unterstützen. Wir sind uns
darin einig, dass es sich um eine Aufgabe handelt, der
wir uns ständig stellen müssen. Aber weil wir uns dieser
Aufgabe ständig stellen müssen, ist unser Antrag ein
Beitrag dazu, neue Impulse zu setzen. Diese vermisse
ich aber auf der Seite der schwarz-gelben Koalition. Hier
hätten Sie doch sagen können: Wunderbar, die Sozialdemokraten haben einen Antrag eingebracht. In der Bewertung der Lage sind wir uns einig und auch darüber, dass
wir gute Projekte haben. Wie aber machen wir gemeinsam weiter? - Das fehlt auf der schwarz-gelben Seite.
Hierzu hätte ich heute etwas mehr von Ihnen erwartet.
({1})
Die Frage, wie wir für Menschlichkeit und Toleranz
werben können, ist nicht nur im Sport wichtig, sondern
insbesondere auch in der Jugendpolitik. Das ist ein sehr
wichtiges Thema. Ich vermisse in der Debatte über diese
Frage aber noch ein Zweites, nämlich die Gesamtstrategie der Bundesregierung dazu. In den einzelnen Häusern
gibt es viele unterschiedliche und gute Ansätze, was
meistens in den Haushaltstiteln zum Ausdruck kommt.
Wie aber die Gesamtstrategie der Bundesregierung für
diesen Bereich aussieht, ist auch heute wieder nicht
deutlich geworden. Ich bitte Sie, hier noch einmal nachzuarbeiten. Dann freuen wir uns auf die weitere Diskussion.
({2})
Schließlich ist heute noch einmal deutlich geworden,
dass den Projekten die Nachhaltigkeit fehlt.
({3})
Nicht umsonst wollen wir die neuen Impulse starten und
erneut über das Thema reden; denn es passiert immer
wieder, dass gute Projekte auslaufen und leider nicht
weitergeführt werden. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen
Sie unserem Antrag zu. Machen Sie mit. Arbeiten Sie
diese Punkte gemeinsam mit uns ab, wenn sie doch so
schlecht gar nicht sind. Dann können wir ein gemeinsames Zeichen gegen Rechtsextremismus im Sport setzen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Rechtsextremistische Einstellungen im Sport konsequent bekämpfen - Toleranz und Demokratie nachhaltig fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7597, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5045 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - ({0})
- Wollen Sie Ihr Abstimmungsvotum ändern? - Ich wiederhole die Abstimmung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkt 15 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Somit rufe ich den Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/7682 -
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/7682, die Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausgleich für Radargeschädigte der Bun-
deswehr und der ehemaligen NVA
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c.
Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Ausgleich für Radargeschädigte der Bun-
deswehr und der ehemaligen NVA voran-
bringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Umfassende Entschädigung für Radar-
strahlenopfer der Bundeswehr und der
ehemaligen NVA
- Drucksachen 17/7354, 17/5365, 17/5373, 17/7553 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Strenz
Burkhardt Müller-Sönksen
Agnes Malczak
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer ({4}), Kathrin Vogler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen
NVA und ziviler Einrichtungen
- Drucksachen 17/5233, 17/6556 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Strenz
Burkhardt Müller-Sönksen
Paul Schäfer ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem
Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian
Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Mein Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte des gemeinsamen Antrags der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen ist eine wichtige Debatte. Die Bundesregierung
begrüßt ausdrücklich das Ergebnis der vorangegangenen
Beratungen in den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages unter Federführung des Verteidigungsausschusses, mit der sie aufgefordert wird, zu prüfen, ob zur
umfassenden Wahrung der Fürsorgepflicht für alle Bundeswehrangehörigen - aber auch für die ehemaligen Angehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR - eine
Stiftung oder ein Fonds eingerichtet werden kann, um in
besonderen Härtefällen auch außerhalb des geltenden
Rechts finanzielle Unterstützung leisten zu können.
Nach Auffassung der Bundesregierung sollten mit
dem beabsichtigten Ausgleich auch Härtefälle erfasst
werden, die außerhalb der Radarproblematik in Ausübung des Dienstes in der Bundeswehr entstanden sind
und vermutlich bedauerlicherweise entstehen werden.
Ich denke hier vor allem an Schädigungen, die im Rahmen der Auslandseinsätze der Bundeswehr entstanden
sind, hier vor allem an diejenigen, die unter psychischen
Erkrankungen wie zum Beispiel einer Posttraumatischen
Belastungsstörung leiden. Ich darf bei dieser Gelegenheit stellvertretend für alle Mitglieder des Hauses der sicherheitspolitischen Sprecherin der FDP-Fraktion, Frau
Hoff, danken, die sich beim Thema PTBS sehr intensiv
eingebracht hat.
({0})
Um eine solche Unterstützung bei individuellen Härtefällen zu ermöglichen, ist die Errichtung einer Stiftung
geplant. Das Soldatenhilfswerk der Bundeswehr, eine
bekannte guttätige Einrichtung, hat sich in Vorgesprächen grundsätzlich bereit erklärt, bei Vorliegen der Voraussetzungen eine solche Stiftung unter seinem Dach
und in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung zu errichten. Hierfür spreche ich
dem Soldatenhilfswerk an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank aus.
({1})
Eine solche Tätigkeit ist nicht ganz einfach, weil erhebliche finanzielle Volumina bewegt und Entscheidungen
im Einzelfall getroffen werden müssen, die von erheblicher Tragweite für die Betroffenen sind.
Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
hat in seiner Sitzung vom 27. Oktober dieses Jahres
empfohlen, im Haushalt des Jahres 2012, in unserem
Einzelplan 14, eine Summe von 7 Millionen Euro für
eine mögliche Stiftungslösung vorzusehen. Ich komme
gerade von der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses und durfte die frohe Nachricht mitnehmen, dass
zwischenzeitlich die letzten Hürden genommen worden
sind.
({2})
Kollegin Hoff, es ist ein Zufall, dass diese Bereinigungssitzung vor unserer Debatte stattgefunden hat und ich
dem Hauptberichterstatter Ihrer Fraktion, Herrn
Koppelin, sowie den Kolleginnen und Kollegen der
Fraktionen der Koalition, aber auch der Opposition für
die Unterstützung danken darf. Ich möchte sowieso sagen: Bei diesem Thema, das sich seit 12 oder 13 Jahren
in der politischen Diskussion befindet, stehen wir alle in
einer Verantwortung, sei es eine parlamentarische Verantwortung oder eine Regierungsverantwortung; wir haben mit erheblichem Engagement und Maß versucht, uns
den entsprechenden Fragen zu stellen.
Die Diskussionen sind nun zu einem gewissen Abschluss gekommen; das ist erfreulich. Wir werden nicht
nur die Empfehlungen der Radarkommission eins zu
eins umsetzen; es kommt ein weiteres Instrument hinzu,
das mit Blick auf die Fürsorge angewendet werden kann.
Die entsprechenden Gelder müssen sicherlich mit Augenmaß und verantwortungsbewusst verteilt werden; sie
müssen ihre Wirkung entfalten können. Wir werden über
eine reine Stiftungslösung hinausgehende Vorschläge
zur Verbesserung der Situation von Radargeschädigten
sorgfältig prüfen. Ohne das Ergebnis vorwegnehmen zu
wollen, möchte ich zu der Aufforderung, eine finanzielle
Beteiligung der Gerätehersteller an solch einer Stiftung
zu erreichen, jedoch sagen, dass dies zwar angestrebt
und gefordert wird, wir uns aber, wie ich meine, nicht
von unserem Weg abbringen lassen dürfen, indem wir
Bedingungen aufstellen, die ein baldiges Wirken der
Stiftung verhindern würden.
Hinsichtlich der Empfehlungen aus dem Bericht der
Radarkommission kann ich versichern, dass wir diese
eins zu eins umsetzen. Wir haben eine erhebliche Zahl
von Fällen, die bereits verbeschieden sind. Darüber hinaus kann ich versichern, dass wir Entscheidungsspielräume, beispielsweise bei Doppelkausalitäten, im Sinne
der Betroffenen nutzen, ohne im Einzelfall nachzuprüfen, ob wirklich eine Kausalität besteht. Das ist eine
Frage, die sich über das soziale Entschädigungsrecht hinaus entwickelt. Das müssen wir wissen.
Genauso gehört dazu, dass sich der jetzige Sachverständigenbeirat „Versorgungsmedizin“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales fortentwickelt und
dort neue Prüfungen von über das evidenzbasierte Wissen hinausgehenden Vorgaben erforderlich sind, um beispielsweise bei der CLL, der chronischen lymphatischen
Leukämie, oder bei benignen Tumoren zu möglicherweise neuen Bewertungen zu kommen. Diese werden
dann selbstverständlich einfließen.
Ich hoffe, dass wir aus dem Bereich Radar nicht weitere neue Fälle von Soldatinnen und Soldaten dazubekommen, die Schäden davongetragen haben. Ich meine,
dass das Instrument einer Stiftung für die Fürsorge, die
wir unseren Soldatinnen und Soldaten angedeihen lassen
müssen, eine ganz wichtige Errungenschaft ist.
Dafür möchte ich mich noch einmal bei allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern sowie beim Haus für
die Unterstützung und die Aufforderungen bedanken.
({3})
Das Wort hat der Kollege Ullrich Meßmer von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
innerhalb kürzester Zeit jetzt zum zweiten Mal Gelegenheit, eine parlamentarische Initiative auf den Weg zu
bringen, die den Menschen nützt.
Nach dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz
bringen wir jetzt eine Initiative auf den Weg, die weiteren Menschen, die vielleicht nicht im Auslandseinsatz
waren - Herr Staatssekretär, das reicht zum Teil weiter
zurück -, helfen soll, ihre Ansprüche zu befriedigen.
Seit über elf Jahren beschäftigen sich die Fraktionen
dieses Hauses mit einem Ausgleich für radargeschädigte
Soldatinnen und Soldaten der ehemaligen NVA und der
Bundeswehr. 2003 veröffentlichte die Radarkommission
ihren Bericht, entwickelte dazu Kriterien und Vorschläge
und zeigte Wege auf.
Problematisch gestaltete sich, wie mir als Parlamentsneuling berichtet worden ist, allerdings nicht die Frage
des Willens, sondern, wie es so oft der Fall ist, der Umsetzung. Besonders gut wissen das unsere Kolleginnen
und Kollegen aus dem Petitionsausschuss. Immer wieder
schreiben ehemalige Soldatinnen und Soldaten, wie
schwierig und vor allem wie langwierig es ist, eine
Wehrdienstbeschädigung nachzuweisen oder anerkennen zu lassen.
Deshalb gibt es eine Erwartungshaltung der Geschädigten an uns - ich finde: zu Recht. Sie verweist auf unsere Fürsorgepflicht. Ich zitiere aus unserem vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag:
Der politische Wille, den auf Grund ihrer Strahlenexposition Erkrankten möglichst zügig und unbürokratisch zu helfen, ist fraktionsübergreifend vorhanden.
Ich sage deutlich: Jeder fraktionsübergreifende Antrag, meine Damen und Herren, ist ein Kompromiss,
aber auch ein fraktionsübergreifender Konsens. Ich
glaube, dass er auch ein Stück weit in die Zukunft gerichtet ist. Angesichts der schon angesprochenen Zeitknappheit war dies ein notwendiger Weg.
({0})
Vor uns liegen klare Verbesserungen der jetzigen Situation:
Erstens. Die Möglichkeit, dass bereits abgelehnte
Fälle als Härtefälle positiv im Sinne der Antragsteller
beschieden werden können.
Zweitens. Eine mögliche Beteiligung der Gerätehersteller an einem Ausgleich.
Drittens. Eine klare Aufforderung auch an die Verwaltung, die Umsetzungspraxis weiter im Interesse der
Betroffenen zu verbessern.
Viertens. Die Absicht, auch weiterhin neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Anerkennungspraxis zu
berücksichtigen.
Fünftens. Die Aufforderung, ein Expertengremium
für Zweifelsfälle einzurichten, das auch vermitteln kann.
Sechstens. Eine jährliche Berichtspflicht der Bundesregierung zur Kontrolle der Fortschritte.
Was bedeutet das konkret? Erstens. Bereits abgelehnte Anträge - ich hatte bereits darauf hingewiesen erhalten erneut eine Chance. Hier fordert der Antrag eindeutig, dass im Zweifelsfall großzügig verfahren werden
soll - ich zitiere -,
um in besonderen Härtefällen, die auf Grund der
Ausübung der dienstlichen Pflichten entstanden
sein könnten, eine gewisse Unterstützung - auch
außerhalb des geltenden Versorgungsrechts - ermöglichen zu können.
Sie haben auf die Problematik hingewiesen.
Zweitens ermöglicht der Antrag ungeachtet rechtlicher Verpflichtungen eine Beteiligung der Gerätehersteller an einer solchen Stiftung oder einem Fonds, der dann
notwendig wäre. Ich weiß auch - ich will das so deutlich
sagen -, dass das sicherlich einer der schwierigsten Teile
ist. Niemand wird sich jubelnd darauf stürzen. Aber ich
denke, es ist es durchaus wert und Aufgabe der Bundesregierung, ein Stück weit auf die Gerätehersteller einzuwirken, dass auch sie als Produzenten eine Verantwortung für die durch Strahlung geschädigten Opfer haben.
Drittens. Besonders wichtig ist es mir, festzuhalten,
dass der Wille, den Opfern zu helfen, im Vordergrund
steht, und zwar möglichst unbürokratisch und möglichst
zügig. Ich gebe zu, das wir uns als SPD bei diesen Formulierungen ein bisschen mehr Biss gewünscht hätten.
Aber wir sind uns einig, es gilt die Feststellung: Es mangelt in diesem Haus nicht am politischen Willen. Die
Umsetzung ist vielleicht - hier hilft der Antrag - noch
verbesserungsfähig.
Viertens. Es ist wichtig, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Das ist im Interesse der Betroffenen; denn manche
Krankheitsbilder werden möglicherweise erst in den
nächsten Jahren so weit untersucht sein, dass man ionisierende Strahlung als Auslöser ansehen oder sicher ausschließen kann. Deshalb müssen auch weitere Untersuchungen erfolgen. Radioaktive Leuchtfarbe wird im
Antrag explizit genannt. Es geht um Klarheit für ehemalige Bordmechaniker und Wartungspersonal, die Leuchtfarben ohne Schutzvorrichtungen erneuert haben.
Fünftens. Bei strittigen Fällen sollen unabhängige Experten zurate gezogen werden. Dadurch können Verfahrensdauern verkürzt werden; denn die Zeit wird knapp.
All diese Vorschläge wurden fraktionsübergreifend
- ich will das so deutlich sagen - erarbeitet. Das war
eine positive Erfahrung für mich, deshalb möchte ich
mich bei allen Beteiligten der Fraktionen für die sehr
kollegiale und zielorientierte Zusammenarbeit herzlich
bedanken. Mein Dank geht auch in Richtung der Interessenverbände der Opfer und des Deutschen BundeswehrVerbandes. Ihrem unablässigen Wirken - das muss man
so ehrlich sagen - ist es zu verdanken, dass das Thema
Radarschädigung nicht vergessen, sondern auf der politischen Tagesordnung gehalten wurde.
({1})
Ich weiß, dass in dem Antrag nicht alle Wünsche bis
zum Letzten erfüllt worden sind, zum Beispiel in der
Frage der Beweislastumkehr bzw. der Erleichterung von
Anerkennung weiterer Krankheitsbilder oder der Ausweitung der Gruppe der Betroffenen. Ich will hinzufügen: Es ist nicht alles eins zu eins umsetzbar. Man muss
sich fragen: Entscheide ich mich für den schönsten Antrag im Interesse der Verbände, der aber keine Mehrheit
im Parlament findet, oder entscheide ich mich für einen
Antrag im Sinne der Opfer, der die Mehrheit im Parlament findet? Ich denke, wir haben uns richtig entschieden.
Ich weiß, dass viele Dinge problematisch sind. Man
könnte in Abwandlung des deutschen Sprichwortes von
Spatz und Taube die irische Variante nehmen, die da lautet: Ein Vogel in der Hand ist ungefähr so viel wert wie
zwei Vögel im Busch. Dieser Antrag ebnet den Weg zu
etwas besseren Lösungen. Die derzeitige Entschädigungspraxis wird verbessert.
({2})
- Ja, das war nur die Abwandlung des Sprichwortes von
Spatz und Taube. Die Iren haben da eine etwas andere
Formulierung, vielleicht eher landschaftlich verhaftet.
Herr Staatssekretär, Sie kommen gerade aus der abschließenden Konsolidierungssitzung. Ich denke, man
muss über die 7 Millionen Euro, je nachdem, wie die
Entschädigungspraxis ausfällt, nachdenken; denn gute
Absichten können bei unzureichender finanzieller Unterfütterung - das ist mir sehr wichtig - sehr schnell in das
Gegenteil umschlagen, weil alle sagen: Ihr habt etwas
Schönes gemacht, aber ihr gebt kein Geld dazu, damit
das umgesetzt werden kann. Mein Appell geht an die
Haushälter aller Fraktionen: Es ist noch einmal zu überlegen, ob man nicht gerade in der Anfangsphase, in der
der Druck sehr groß ist, doch noch Verbesserungen erreichen kann. Ich glaube, dass hier einiges möglich ist.
Wir sind uns darüber einig, dass wir zügig und unbürokratisch helfen wollen. Die Praxis wird zeigen, ob es
tatsächlich gelingt, hier etwas auf den Weg zu bringen.
Wenn aus der Absicht Realität wird, waren wir mit unserem Antrag sehr erfolgreich. In diesem Sinne betone ich:
In den weiteren Beratungen bis zur Abstimmung geht es
darum, das Ganze umzusetzen. An die Arbeit, die Zeit
drängt!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhardt MüllerSönksen von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Meßmer, im Anschluss an Ihre Rede
möchte ich zwei Dinge ansprechen.
Erstens. Sie haben von der Beweislastumkehr gesprochen. Dieser Antrag stellt in gewisser Weise juristisch
eine Beweislastumkehr dar. Ja, wir wollen den Betroffenen helfen. Das ist richtig und gut so. Bisher mussten die
Soldaten beweisen, dass sie eine Schädigung davongetragen haben. Das haben wir mit diesem Antrag beseitigt. Insofern ist das ausgeräumt.
Ich möchte gleich mit einem zweiten Punkt aufräumen: Für mich sind die 7 Millionen Euro, die wir angesetzt haben, das Ergebnis einer realistischen Abschätzung dessen, was wir finanziell zu wuppen haben. Das
ist seriös gerechnet. Diese Summe ist im Haushaltsentwurf bereits enthalten; das ist wichtig und zu betonen.
Ich möchte aber auch klar sagen, dass eine Evaluierung
stattfinden wird. Es gibt keinen Deckel. Wir müssen seriös arbeiten und schauen, ob das reicht.
({0})
Wir als Parlament haben Wort gehalten. Mit dem
heute vorliegenden Antrag haben wir die Grundlage für
einen fairen und unbürokratischen Ausgleich für die Radargeschädigten gefunden. Darüber werden wir gleich
abstimmen. Mich freut besonders, dass wir keinen Unterschied machen, ob die Soldatinnen und Soldaten bei
der Bundeswehr oder bei der NVA gewesen sind.
Der heute vorliegende Antrag geht auf die gemeinsame Initiative einer breiten Mehrheit der Fraktionen
hier im Haus zurück. Daher gilt mein besonderer Dank
meinen Berichterstatterkolleginnen, Karin Strenz und
Agnes Malczak, sowie meinem Berichterstatterkollegen,
Herrn Meßmer. Wir haben im Interesse der Sache und im
Interesse der Soldatinnen und Soldaten sehr gut zusammengearbeitet.
({1})
Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist, einen solchen Konsens im Sinne der Sache zu finden.
Mein Dank gilt auch dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian Schmidt, der das Anliegen des Parlaments von Anfang an positiv begleitet hat.
({2})
Mein Dank gilt aber auch den Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss. Sie haben trotz der großen
Herausforderung Bundeswehrreform eine Möglichkeit
gefunden, im Verteidigungshaushalt eine angemessene
Entschädigung für die Radaropfer einzustellen. Ganz besonders möchte ich mich bei den Opferverbänden bedanken. Sie haben uns Parlamentariern in vielen Gesprächen, in vielen Stunden immer wieder die Lücken im
bisherigen Entschädigungsverfahren aufgezeigt. Ihr jahrelanges Engagement ist ein Grund dafür, dass wir heute
den ersten Schritt in die richtige Richtung, in Richtung
einer umfassenden Entschädigung gehen werden.
Wir als FDP-Fraktion setzen uns seit mehr als zehn
Jahren für einen fairen Ausgleich für die Radargeschädigten ein. Viele Jahre lang - der Kollege sagte das eben
schon - scheiterte die Umsetzung, scheiterte eine Lösung immer wieder an Teilen der jeweils wechselnden
Koalitionsfraktionen. Deswegen freut es mich ganz besonders, dass jetzt mit der liberalen Regierungsbeteiligung und zugleich auf Basis eines solch breiten Konsenses hier im Parlament der Ausgleich für die Radargeschädigten auf den Weg gebracht wird.
Das ist ganz besonders wichtig: Es bleibt nicht bei einer folgenlosen Absichtserklärung, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit dem Radarbericht 2003
- das war gut gemeint - in diesem Parlament besprochen
worden ist. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass die
notwendigen Mittel für die finanzielle Entschädigung im
Verteidigungsetat bereitgestellt werden. Der Staat übernimmt hier endlich konkret Verantwortung für die gesundheitlichen Folgeschäden der Soldaten, die für Deutschland ihren Dienst geleistet haben. Der breite Konsens,
von dem der Antrag getragen wird, zeigt, dass die Fürsorge für unsere Soldatinnen und Soldaten ein Anliegen
aller Fraktionen des Deutschen Bundestages ist. Wie
schon beim Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz
senden wir ein gemeinsames Signal für unsere Soldaten.
Die Veteranen - darauf möchte ich zum Abschluss
gern zu sprechen kommen - sind viel zu lange sowohl
von der Politik als auch von der Bundeswehr vernachlässigt worden. Für die Mehrheit der Veteranen steht nicht
nur die finanzielle Entschädigung im Mittelpunkt, sie
wünschen sich vielmehr Anerkennung für ihre Leistungen und für ihren Einsatz. Sie verdienen endlich mehr
öffentliche Aufmerksamkeit und eine faire und unbürokratische Behandlung ihrer Anliegen. Überall dort, wo
sich noch Lücken auftun - ich verweise gern auf die
Ausführungen des Kollegen Meßmer -, müssen wir
sorgfältig schauen, ob wir diese Lücken bereits durch
unseren Antrag schließen oder noch weiter tätig werden
müssen. Damit dienen wir nicht nur den aktiven, sondern
gleichermaßen auch den früheren Soldaten der Bundeswehr und der NVA. Jeder Soldat, der Dienst für unser
Land geleistet hat, muss sich der Fürsorge des Dienstherrn sicher sein.
Auch wenn es sich bei den Radargeschädigten nur um
eine vermeintlich kleine Gruppe handelt, müssen wir im
Umgang mit ihnen beweisen, dass wir es mit der Fürsorgeverpflichtung ernst meinen, die wir als Parlament gegenüber unserer Parlamentsarmee eingegangen sind.
Nun liegt es an der Bundesregierung, zeitnah einen
passenden Vorschlag vorzulegen, wie die unbürokratische Entschädigung am besten gestaltet werden kann.
Die Signale, die im Vorfeld von Staatssekretär Schmidt
zu vernehmen waren, waren ausgesprochen positiv.
Schon bald - darauf freue ich mich - werden wir im Verteidigungsausschuss und im Plenum darüber sprechen
können, wie das konkrete Modell einer Stiftung oder eines Fonds ausgestaltet wird. Dann können in der ersten
Hälfte des kommenden Jahres die ersten EntschädigunBurkhardt Müller-Sönksen
gen geleistet werden. Damit, dass wir hier heute beginnen, setzen wir ein Zeichen. Ich bitte daher alle um ihre
Zustimmung zu diesem interfraktionellen Antrag. Ich
glaube, dass diese breite Mehrheit hier eine klare Aussage in Richtung der Radargeschädigten ist: Wir haben
euch nicht vergessen, und wir setzen uns weiterhin für
euch ein.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Harald Koch.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten führen viele ehemalige Bundeswehr- und NVA-Angehörige einen engagierten, aber erfolglosen Kampf um Anerkennung und Entschädigung
für ihre unwissentlich durch die Arbeit an ungeschützten
Radargeräten erworbenen Krankheiten. Um diesen Menschen endlich zu ihrem Recht zu verhelfen, gibt es seit
mehr als einem Jahr interfraktionelle Gespräche, die
maßgeblich von der Linken initiiert wurden.
({0})
Dabei wurde von allen Fraktionen immer wieder der
Wille bekundet, den Betroffenen möglichst zeitnah und
umfassend Hilfe zuteil werden zu lassen. Dass dies offenbar nur leere Floskeln waren, zeigt sich nun in dem
Antrag, den Sie heute zwar interfraktionell, aber ohne
die Linke vorlegen.
Ich möchte hier Folgendes betonen - das erwarten Sie
wahrscheinlich gar nicht -: Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Berichterstatterkolleginnen und -kollegen
für die Zusammenarbeit. Es war eine sehr sachliche Zusammenarbeit, aber leider wurden wir als Linke dann
aus diesem Antrag ausgeschlossen. Ich bedauere das
sehr. Ich hoffe, dass das in Zukunft anders wird.
Sie fordern in Ihrem Antrag, die Bundesregierung
solle prüfen, ob eine gewisse Unterstützung durch eine
Stiftung oder einen Fonds denkbar ist. Das ist zu wenig;
das ist zu unverbindlich. Sie prüfen seit zehn Jahren. In
den letzten zehn Jahren ist bei dieser Prüfung nichts
Sinnvolles für die Betroffenen herausgekommen. Das
sage ich aus der Sicht der Betroffenen. Wie wir das sehen, sei dahingestellt. Soll es jetzt noch weitere zehn
Jahre so gehen? Dafür haben die Betroffenen keine Zeit
mehr. Aufgrund ihres oft schon hohen Lebensalters sterben sie, bevor die Bundesregierung zu Ende geprüft hat.
Das kann ja wohl nicht Ihre Lösungsstrategie sein. Das
Spiel auf Zeit zulasten der Betroffenen ist zynisch und
muss endlich ein Ende haben.
({1})
Des Weiteren sind wir sehr verwundert, dass Sie sich
jetzt auf die Stiftungslösung versteift haben, obwohl uns
die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages - sie sind hoch geschätzt - in der Antwort auf eine
interfraktionelle Anfrage genau davon abgeraten haben.
Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr kompliziert, und die
eigentlich angestrebte unbürokratische und schnelle
Hilfe kann damit kaum gewährleistet werden. Die Linke
wird daher sehr genau prüfen und beobachten, ob diese
Stiftung wirklich Abhilfe schafft. Aber nicht nur wir sind
verwundert und enttäuscht. Auch die Betroffenenverbände fühlen sich wieder einmal von der Politik allein
gelassen. Sie - damit meine ich alle vier Fraktionen, die
diesen Antrag eingebracht haben - hätten die Chance gehabt, eine klare politische Botschaft im Sinne der Betroffenen an die Regierung zu senden.
({2})
Stattdessen fehlt Ihnen wieder einmal der Mut, und Sie
bringen einen Antrag ein, der vom Bundesministerium
der Verteidigung geschrieben wurde. So ist Parlamentarismus aus meiner Sicht nicht zu verstehen.
Noch einen Satz an die SPD und die Grünen. Warum
lassen Sie sich an dieser Stelle eigentlich vor den Karren
der Regierung spannen? Vor ein paar Monaten standen
wir kurz davor, einen gemeinsamen und viel weiter gehenden Antrag einzubringen, der von Ihnen maßgeblich
mitgeschrieben wurde. Warum jetzt dieser Rückzieher?
Zufrieden sein können Sie mit dem jetzigen Ergebnis jedenfalls nicht. Dass Sie es nicht sind, zeigen Sie, indem
Sie neben dem Regierungsantrag eigene - zum Teil mit
uns gemeinsam erarbeitete - Anträge vorlegen.
Die Linke jedenfalls bleibt dabei: Der vorliegende interfraktionelle Antrag besagt nicht viel mehr als „Weiter
so wie bisher“. Da machen wir nicht mit. Wir fordern ein
Radarstrahlenopfergesetz, welches die Anerkennungsund Entschädigungsverfahren schnell und unbürokratisch im Sinne der Geschädigten voranbringt,
({3})
Geschädigte der ehemaligen NVA und der Bundeswehr
gleich behandelt und auch zivile Radargeschädigte berücksichtigt.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat die Kollegin Agnes Malczak von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut
und richtig, dass dieser interfraktionelle Antrag heute
vorliegt. Sicherlich kann er nur ein Kompromiss sein.
Deshalb, Herr Kollege Koch, haben wir unsere ursprünglichen Anträge für erledigt erklärt, um das an dieser Stelle klarzustellen.
Wir konnten uns in unserem interfraktionellen Antrag
auf wichtige gemeinsame Forderungen an die Bundesre16574
gierung einigen. Dazu gehört vor allem der Prüfauftrag
zur Einrichtung einer Stiftung zur Unterstützung der radargeschädigten ehemaligen Soldaten und eines unabhängigen Expertengremiums für Streitfälle.
Einig sind wir uns aber nicht in der Bewertung der
bisherigen Entschädigungspraxis. Wir haben eine besondere Verantwortung für die Parlamentsarmee. Diese besteht auch in der Verpflichtung zur Fürsorge für die Soldatinnen und Soldaten. Das gilt nicht nur für die
Gegenwart und die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit.
({0})
Die durch Radarstrahlen geschädigten Soldaten haben
diese Fürsorge bisher nur unzureichend erfahren. Dies
gilt auch für die ehemaligen Soldaten der NVA. Hier
müssen wir dringend Abhilfe schaffen. Es war schon einige Überzeugungskraft notwendig, um die Koalitionsfraktionen von diesem Handlungsbedarf zu überzeugen.
Das Verfahren ist an der einen oder anderen Stelle leider
unnötigerweise ins Stocken geraten. Erst nachdem die
Oppositionsfraktionen jeweils Anträge eingereicht haben, haben sie sich bewegt. Allein in dieser Legislaturperiode haben wir nun zwei Jahre gebraucht, um diesen
Kompromiss zu erzielen. Insgesamt wurde auf diese Art
und Weise zu viel Zeit vertan, Zeit, in der sich die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und der NVA und ihre
Angehörigen von Dienstherr und Politik alleine gelassen
gefühlt haben.
({1})
Es ist zehn Jahre her, dass sich der Verteidigungsausschuss erstmals intensiv mit dem sogenannten Radarproblem auseinandergesetzt hat. Ehemalige Soldaten der
Bundeswehr, aber auch der NVA waren bis in die 80erJahre hinein unzureichend geschützt an Geräten eingesetzt, von denen eine gesundheitsschädliche Strahlung
ausging. Die tragischen Folgen für die Soldaten zeigten
sich in der Regel erst wesentlich später. Die Betroffenen
erkrankten schwer - nicht selten mit tödlichem Ausgang -,
sie konnten keine Kinder zeugen, oder ihre Kinder kamen
mit massiven Erbgutschäden zur Welt.
Da die Ursache ihrer Erkrankung im Dienst bei der
Bundeswehr lag, sollten sich die Betroffenen eigentlich
auf die Fürsorge und Unterstützung ihres ehemaligen
Dienstherrn verlassen können. Es war eine äußerst
schmerzhafte Erfahrung für die Betroffenen, dass der
Dienstherr eine Verantwortung zuerst verweigerte. Doch
sie gaben nicht auf und konnten schließlich erreichen,
dass sich das Parlament mit ihrer Situation auseinandersetzte. Experten untersuchten damals im Auftrag des
Verteidigungsministeriums die Zusammenhänge und
empfahlen schließlich eine wohlwollende Entschädigungspraxis. Das ist acht Jahre her.
Es ist traurig, dass dieser Antrag nach diesem langen
Zeitraum heute noch notwendig ist. In dieser Zeit ist es
eben nicht gelungen, die Entschädigungspraxis so zu gestalten, dass allen Betroffenen geholfen werden kann.
Die Folge ist, dass Menschen, die um ihr Leben kämpfen, oder auch die Hinterbliebenen Kraft in einen mühsamen Rechtsstreit stecken müssen. Es ist richtig, dass wir
hier von schwierigen Fragen des Entschädigungsrechts
sprechen, doch kann eben nicht die Rede davon sein,
dass bisher alle erdenklichen Spielräume immer schnell
und entschlossen ausgeschöpft worden sind.
({2})
Das Verteidigungsministerium ist jetzt in der Pflicht,
den Auftrag, den das Parlament ihm heute hier erteilen
will, zügig umzusetzen. Insbesondere in die Stiftungslösung setzen viele Betroffene große Hoffnungen, und die
dürfen wir nicht enttäuschen.
In den Debatten und in der heute diskutierten Einigung haben wir uns auf die ehemaligen Soldaten konzentriert. Was wir nicht vergessen sollten: Auch die
zweite Generation, die Kinder der Soldaten, ist durch
Erbgutschäden von dieser Problematik betroffen. Auch
für sie ist die Entschädigungsfrage noch nicht beantwortet. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie bei
der Umsetzung dieses Antrages auch die Kinder der betroffenen Soldaten nicht außer Acht lässt.
({3})
Die Weigerung, ein Problem im Fürsorgebereich anzuerkennen und schnell und entschlossen nach einer Lösung zu suchen, finde ich im Übrigen ausgesprochen bedenklich. Radargeschädigte sind für diese Haltung nur
ein Beispiel. Auch die an einer posttraumatischen Belastungsstörung Erkrankten mussten viel zu lange um die
Anerkennung ihrer Probleme und um Unterstützung
kämpfen. Ich kann den Minister nur eindringlich dazu
auffordern, die Neuausrichtung der Bundeswehr auch als
Chance zu nutzen, hier an einem Einstellungswandel zu
arbeiten.
Vielen Dank.
({4})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Karin Strenz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Bürgern mahlen die Mühlen unserer parlamentarischen Demokratie zu langsam. Seien wir ehrlich: Auch
wir als Abgeordnete müssen bisweilen erfahren, dass sie
nicht schneller mahlen, selbst dann nicht, wenn wir noch
so viel Wind drum machen. Aber unser Mühlen mahlen
eben.
Ich freue mich, dass wir uns mit dem Antrag heute
abermals um jene Männer kümmern, die einst bei NVA
und Bundeswehr bis in die 80er-Jahre hinein ohne Wissen gesundheitliche Schäden durch Radarstrahlen erlitten haben. Wir tun dies nicht zum ersten Mal.
Es war der Verteidigungsausschuss, der vor allerdings
fast zehn Jahren eine unabhängige Radarkommission erkämpft hatte. In ihrem Abschlussbericht kam sie 2003
zwar zu dem Ergebnis, dass es keinen konkreten Zusammenhang zwischen der Arbeit am Radargerät und späteren Erkrankungen gebe, gleichwohl war dies kein Vorwand, um finanzielle Hilfen zu verweigern; denn die
Kommission schlug vereinfachte Kriterien vor, um Versorgungsanträge anzuerkennen.
Nun baut unser Rechtsstaat - übrigens aus gutem
Grund - manche Hürde zwischen Helfen-Wollen und
Helfen-Dürfen. Der Rechtsstaat will nämlich genau wissen, ob jemand Ansprüche hat, ob ihm geholfen werden
darf oder gar geholfen werden muss. Das ist für den Betroffenen natürlich nicht immer leicht; denn die Hilfe,
die der Staat gewährt, trägt der Steuerzahler.
Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt
wurden, bisweilen ungerecht behandelt fühlen, ist
menschlich absolut nachvollziehbar. Ich nehme aber
ausdrücklich auch die Beamten in Schutz, die diese Verfahren begleitet haben und auch weiter begleiten werden.
Ich habe in jüngster Zeit immer wieder mit einem
Vorstandsmitglied des Bundes zur Unterstützung Radargeschädigter persönliche Gespräche geführt und auch
sehr lange telefoniert - so auch heute. Der Mann hat
Ausdauer, und er verfolgt, wie viele seine Mitstreiter,
unsere Arbeit sehr, sehr aufmerksam. Der eine oder andere Kollege kann das ganz sicher bestätigen.
({0})
Vielen Radargeschädigten sind wir natürlich nicht
schnell genug, und ich kann das gut verstehen. Es tickt
da - die Betroffenen nennen das selbst so - eine biologische Uhr. Wir haben es mit Männern zu tun, die in den
60er- und 70er-Jahren gedient haben. Das ist schon eine
Weile her. Die meisten Männer sind nur noch auf alten
Fotos jung. Sie wollen und können nicht mehr warten.
Jeder fünfte Antrag auf Entschädigung ist im Laufe
der Jahre anerkannt worden. Dies mag auf den ersten
Blick wenig erscheinen. Mehr als zwei Drittel wurden
nicht bewilligt. Man hat dennoch großzügig geprüft, immer mit dem Wissen, wie schwierig der Nachweis sein
kann, dass eine heutige Erkrankung mit der Arbeit an
Radargeräten vor Jahrzehnten zusammenhängt.
Vergessen wir nicht: Dass heute manches so kompliziert ist, liegt auch daran, dass von damals so wenig dokumentiert ist. Es fehlte letztlich das Bewusstsein im
Umgang mit Strahlen, zumal sich die Folgen nicht sofort
zeigten, sondern oft erst Jahre oder Jahrzehnte später.
Das Soldatenbild hat sich seit der Gründung der Bundeswehr gewandelt - zum Glück. Ich kann mir vorstellen, dass Schmerzen früher nicht ins Bild passten. Man
hat sich weniger Gedanken um das Wohlergehen der
Soldaten und auch um ihre Gesundheit gemacht. Wie
schwer der Kampf für die Rechte ist, auch davon können
die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit ihren
Forderungen, um das einmal vorsichtig zu sagen, bei der
Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer offene
Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück geändert.
Die Anerkennungskriterien sind vielfach weit ausgedehnt worden: im Zweifel für das Opfer. So wurden etwa
trotz eines festgestellten Konkurrenzrisikos - starkes
Rauchen ist beispielsweise eines - Ansprüche anerkannt.
Als Gesetzgeber haben wir eine besondere Fürsorgepflicht für alle Soldaten, nicht nur für die noch aktiven.
Wir haben sie auch für die ehemaligen Angehörigen der
Bundeswehr und, anders als es hier steht, auch der NVA.
Auch sie haben gedient. Auch sie hätten im Ernstfall ihre
Heimat, ihr Vaterland und seine Menschen verteidigen
müssen. Ich meine, wir sind es ihnen schuldig, sorgfältig
zu prüfen, ob die bisherigen Hilfen ausreichen.
({1})
Die gesundheitlichen Probleme im Alltag bleiben
häufig. Und mehr noch: Sie verändern sich mit den Jahren und dem Alter, leider nicht zum Besseren. Es hat
mich sehr bedrückt, in Gesprächen zu hören, wie enttäuscht viele Radaropfer heute sind. Ich bedaure es, dass
diese Männer keine guten Erinnerungen an ihre Armeeoder Bundeswehrzeit haben, weil das heute viel von dem
trübt, was sie damals erlebt und geleistet haben. Aber ich
bin noch optimistisch, dass wir mit diesem interfraktionellen Antrag wieder einen Beitrag zur Versöhnung erbringen können. Daran hat das Verteidigungsministerium, vor allem aber der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt, einen großen Anteil. Dafür herzlichen Dank!
({2})
Der Dank geht natürlich ebenso an die Berichterstatterkollegen, mit denen wir vielfach zusammengesessen haben und heute hoffentlich ein tolles Abstimmungsergebnis erzielen werden.
Jedem Opfer werden wir es wahrscheinlich nicht
recht machen können. Wer von der Politik - das ist immer so - absolute Gerechtigkeit und die Zufriedenheit
aller Betroffenen verlangt, ist und bleibt blauäugig. Das
ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit unterschiedlichen, sehr persönlichen Schicksalen zu tun haben und eben nicht mit einer Art Standarderkrankung.
Aber wenn wir hier und dort Leid lindern, ist das ein gutes Ergebnis. Dann hätte sich alles gelohnt: das Ringen
um einen gemeinsamen Antrag, die Suche nach einem
Kompromiss, kurz: unsere gesamte Arbeit.
Geholfen hat uns auch in schwierigen Augenblicken,
wenn die Verhandlungen einmal ins Stocken gerieten,
ein gemeinsamer Wille: Helfen - schnell und unbürokratisch; denn das Ticken der biologischen Uhr kann verdammt laut sein.
In Härtefällen soll der Dienstherr auch seiner Fürsorgepflicht nachkommen dürfen, wo das Versorgungsrecht
eben nicht weiterhilft. Das ist ein wichtiges Ergebnis.
Wir wollen erreichen, dass noch nicht abgeschlossene
Fälle sorgfältig behandelt werden. Die Bundesregierung
widmet sich also nicht nur der Ausfinanzierung, sie
schaut auch, ob die Gerätehersteller beteiligt werden
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind mit diesem
Antrag auf einem guten Weg. Das behaupte nicht nur
ich. Das hat mir auch der Vorstandsmann vom Bund zur
Unterstützung der Radargeschädigten bestätigt. Unser
letztes Telefongespräch wird es mit Sicherheit trotzdem
nicht gewesen sein. Die Mühlen mahlen weiter.
Danke.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 17/7553. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7354 mit dem Titel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr
und der ehemaligen NVA“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
({0})
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5365 mit
dem Titel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA voranbringen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5373 mit
dem Titel „Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“ für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Stimmverhältnissen wie die vorherige angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 b: Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Umfassende Entschädigung
für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen
NVA und ziviler Einrichtungen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/6556, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5233 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Graf ({1}), Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Glücksspielsucht bekämpfen
- Drucksache 17/6338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen im Saal
so vorzunehmen, dass wir die Aussprache eröffnen können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Laut dem Endbericht des sogenannten PAGE-Projektes
gibt es in Deutschland hochgerechnet circa 500 000 pathologische Glücksspieler und rund 800 000 problematische Spieler. Rund 3 Millionen Menschen haben ein
oder zwei Kriterien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt.
Glücksspiel wird vor allem von der Hoffnung auf einen
großen Gewinn gespeist oder der Hoffnung, durch das
Spielen aus einer schwierigen finanziellen Situation herauszukommen. Bei Süchtigen kommt die Hoffnung
dazu, verlorenes Geld durch nochmaliges Spielen wieder
zurückzugewinnen. Diese Hoffnung wird jedoch in der
Regel nicht erfüllt. Im Gegenteil: Glücksspielsucht hat
für Betroffene und deren Familien dramatische psychische und materielle Folgen wie Verschuldung, Kriminalität oder im schlimmsten Fall auch Selbstmord.
In unserem Antrag schlagen wir ein Gesamtkonzept
zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht
vor. Das ist nur in Zusammenarbeit von Bund und Ländern möglich. Wir sehen es daher sehr kritisch, dass die
Bundesregierung noch immer keine abgestimmten Vorschläge für die dringend notwendige Novelle der Spielverordnung vorgelegt hat.
({0})
Angelika Graf ({1})
Der Europäische Gerichtshof hat ein kohärentes System der Prävention und Bekämpfung der Glücksspielsucht zur Voraussetzung für das Glücksspielmonopol der
Länder gemacht. Dieses kohärente System liegt in
Deutschland nicht vor, wenn der Bund bei den Geldspielautomaten, von denen eine besonders hohe Suchtgefahr ausgeht, beide Augen zudrückt. Erschreckende
52 Prozent der Spieler in Spielhallen sagen laut dem Abschlussbericht des Instituts für Therapieforschung, welches eine allgemeine, öffentlich anerkannte Untersuchung durchgeführt hat, dass sie die Kontrolle über das
Spiel an den Automaten verloren haben.
Die Suchtgefahr ist seit der Lockerung der Spielverordnung im Jahre 2005 unter dem damaligen Wirtschaftsminister Michael Glos - diese Lockerung war
ohne Zweifel ein Fehler; das sage ich ganz selbstkritisch,
weil auch wir damals mit an der Regierung waren - gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt die Ende 2010 vorgelegte Evaluation des IFT, auf die ich schon hingewiesen habe und auf die wir mit unserem Antrag reagieren.
Gleichzeitig gibt es in manchen Gegenden eine regelrechte Flut von neuen Spielhallen.
Diesen Trend, meine ich, müssen wir dringend stoppen, indem wir die Geldspielautomaten wieder stärker
zum Unterhaltungsspiel zurückführen und die Prävention stärken.
({2})
Es geht uns dabei um die Entschärfung und Entschleunigung der Geldspielautomaten, die Reduzierung der Anzahl der Automaten sowohl in Spielhallen als auch in
Imbissbuden, mehr Transparenz für die Spieler hinsichtlich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau von
suchtfördernden Funktionen der Automaten.
Auch den Einfluss der Kommunen auf die Standorte
von Spielhallen wollen wir ausbauen. Wir schlagen zudem ein Identifikationssystem für die Spieler als Voraussetzung für einen besseren Jugendschutz und die Möglichkeit der Sperrung Süchtiger vor. Die von der
Bundesregierung diskutierte elektronische Spielerkarte
mit Geldkartenfunktion und der Möglichkeit zur Spielmanipulation ist dagegen aus unserer Sicht gefährlich
und dient gerade nicht der Suchtprävention.
({3})
Als Gegengewicht zu der zweifellos mächtigen
Glücksspiellobby - man muss da immer nur die Zeitungen lesen - brauchen wir ein Korrektiv auf Bundesebene. Wir denken, dass bei der Drogenbeauftragten
- oder dem Drogenbeauftragen - der Bundesregierung
ein unabhängiger Beirat einzusetzen ist, der analog zum
bestehenden Fachbeirat Glücksspielsucht der Länder
eine kohärente Suchtpolitik durch die Zusammenarbeit
mit den Ländern stärken soll.
({4})
Wir fordern Sie dazu auf, der Lobby nicht auf den
Leim zu gehen und das Problem der Glücksspielsucht
nicht mit ein paar Placebos zu ignorieren und zu verharmlosen. Ich denke, die Fortbildung der Mitarbeiter in
Spielhallen ist eine Selbstverständlichkeit und sollte
nicht als ein großer Erfolg gefeiert werden. Minimale
Veränderungen der Spielverordnung reichen auch nicht
aus. Das wissen Sie auch ganz genau.
({5})
Wir brauchen ein Gesamtkonzept zur Prävention und
Bekämpfung von Glücksspielsucht, und wir brauchen
das staatliche Monopol als Voraussetzung für den bestmöglichen Spielerschutz. Die von den Ländern auf
Druck der FDP vorgesehene Aufgabe des Monopols ausgerechnet bei den suchtgefährlichen Sportwetten bedauere ich daher ausdrücklich.
({6})
Die Länder laufen damit nämlich Gefahr, dass das Monopol insgesamt verzockt wird.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schutzauftrag
des Staates muss höher bewertet werden als das Interesse
der Profitmaximierung. Deswegen werbe ich für unseren
Antrag.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Graf, Ihnen geht es darum, die Glücksspielsucht zu bekämpfen; so lautet zumindest Ihr Antrag. Ich
glaube, bevor wir hier wieder sehr breit streuen, lohnt es
sich jetzt einfach einmal, das Ganze systematisch aufzuarbeiten.
Sie haben recht: Das Glücksspiel ist weit verbreitet.
({0})
14 Prozent der Deutschen haben bereits einmal eine
Spielbank aufgesucht und dort an den Spieltischen und
Spielautomaten gespielt. 25 Prozent der Bevölkerung
haben bereits an Geldspielautomaten in Spielhallen und
Gaststätten gespielt. Nicht zuletzt spielen rund 70 Prozent der Deutschen Lotto. Wie überall kommt es auch
beim Spielen und bei der Spielsucht auf das richtige Maß
und vor allen Dingen auf die richtigen Ansätze an.
In der Tat ist es besorgniserregend - da haben Sie
recht -, dass mittlerweile rund 1,1 Prozent der bundes16578
deutschen Bevölkerung zwischen 16 und 65 ein problematisches Spielverhalten aufweisen.
Absolut sind es rund 600 000 Menschen. Der Anteil
der pathologischen Spieler beträgt je nach Ergebnis der
repräsentativen Umfragen zwischen 0,2 und 0,6 Prozent.
Insofern ist die Grundüberlegung Ihres Antrags richtig.
Pathologisches Glücksspiel ist als eigenständige psychische Erkrankung anerkannt. Man darf sich nicht wundern,
dass es die Spieler an den Geldautomaten sind, die die
größte Gruppe innerhalb der pathologischen Spieler darstellen. Automatenspiele - übrigens unabhängig vom
Standort, ob in Spielbanken oder in Gaststätten und
Hallen - haben nach allen Untersuchungen das höchste
Suchtpotenzial. Das ist einleuchtend; denn zum einen erlebt der Spieler, der die schnelle Spielfrequenz mag, mit
der bislang erlaubten Mehrfachbespielung und der
Schnelle den Verlust deutlich weniger. Er hat gar keine
Zeit, zu realisieren, dass er in dem Augenblick, in dem er
die Taste neu drückt, schon Geld verloren hat. Zum anderen wird der Anreiz, mehr Geld einzusetzen, um damit einen höheren Verlust auszugleichen, größer. Natürlich sind
diese Automatenspiele auch außerhalb der Kasinos in den
Hallen und Gaststätten verfügbar.
Aber - jetzt kommt das große Aber, Frau Graf - erstens ist der Antrag, wenn Sie ihn an die Bundesregierung
richten, überwiegend an die falsche Adresse gerichtet.
Das merkt man übrigens auch an Ihren Formulierungen.
So solle die Bundesregierung auf die Länder einwirken
und an die Länder appellieren. Mit der Föderalismusreform 2006 ist die Kompetenz für die Hallen auf die Länder übergegangen.
({1})
Die Ministerpräsidenten werden den Staatsvertrag irgendwann im Dezember unterzeichnen. Also: falscher
Adressat.
({2})
Zweitens. Sie verlangen eine strengere Regulierung
der Automaten in Spielhallen, ohne den technisch weitgehend nicht regulierten Markt in den Spielbanken überhaupt zu hinterfragen. Geldspielgeräte in den Spielbanken erfahren keinerlei technische Vorgaben in der
Gerätekonstruktion. Da gibt es kein Verlustlimit und
keine Laufzeitbeschränkung. Es wird einzig über den
Zutritt in die Kasinos gesteuert. Diese einseitige Sicht ist
schon deshalb ein Versäumnis, weil der EuGH anmahnt,
dass das staatliche Glücksspielmonopol nur vor dem
Hintergrund haltbar ist, dass die Spielsucht in allen
Glücksspielbereichen konsequent verfolgt werden muss.
Drittens. Sie holen zum Rundumschlag gegen alle
Automaten aus. Sie ignorieren - das finde ich eigentlich
schade -, dass die Automatenwirtschaft, die Sie so sehr
als Lobby hingestellt haben,
({3})
im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung bereits
einiges erreicht hat und dass sie vor allem selbst das Interesse hat, die schwarzen Schafe, die es ohne Zweifel
gibt - das gestehe ich Ihnen ohne Weiteres zu -, zu benennen und auszuschalten. Unsere Politik unterscheidet
sich grundsätzlich in dieser Hinsicht. Wir sagen: Eine
Politik gegen diejenigen, die betroffen sind, hat noch nie
gefruchtet. Wir müssen auch die mitnehmen.
({4})
- Ich bin durch die Stadt gelaufen, Herr Kollege.
({5})
Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich will ausdrücklich
zugestehen, dass wir die schwarzen Schafe bekämpfen
werden. Aber ich bin von einer Tatsache extrem überzeugt: Wir werden weiterhin diese Form der schnellen
Spiele haben. Mir ist es sehr viel lieber, dass diese in den
kontrollierten Spielhallen stattfinden und dass die Menschen in diesen Spielhallen bleiben,
({6})
in denen zum Beispiel Alkohol verboten ist und in denen
Broschüren über Sucht ausliegen müssen, als dass sich
diese Szene in das Internet verlagert, wo man keinerlei
Zugangsmöglichkeit zu ihnen hat, um das Suchtthema
anzugehen.
({7})
Ich habe mit den Vertretern der Branche gesprochen
und mir Spielhallen angeschaut. Ich konnte mich selbst
davon überzeugen, dass die sogenannten Guten durchaus
bereit sind, mitzuwirken.
({8})
- Liebe Frau Bätzing, ich habe noch etwas und kann
noch nachlegen und sagen, was wir machen wollen. Jetzt
warten Sie einfach einmal ab.
({9})
Für mich ist es sehr wichtig, dass das Element der freiwilligen Selbstkontrolle, das ich für ein gutes Element
halte,
({10})
bleibt und dass wir erst dann, wenn dieses nicht funktioniert, mit der staatlichen Keule kommen. Aus all diesen
Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt regen Sie sich
ein bisschen weniger auf. Ich bin ja noch nicht am Ende.
({12})
Das heißt nicht, dass wir Prävention vernachlässigen
und dass wir uns außerhalb der technischen Regulierung
nicht auch um die Suchthilfe kümmern. Ich möchte nur
darauf hinweisen, dass es seit 2007 Modellprojekte des
BMG gibt. Zum Beispiel wird das Projekt „Frühe Intervention bei pathologischem Glücksspiel“ mit 1,1 Millionen Euro gefördert. Es steht bereits jetzt fest, dass die
Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit
diesem Modellprojekt gelungen ist. Des Weiteren ist die
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - das
wissen Sie - umfassend tätig.
({13})
Wenn Sie Ihren Fokus heute ausschließlich auf die
Geldspielgeräte richten wollen, so kann ich Ihnen sagen,
dass dieser Bereich in Spiel- und Gaststätten bereits
heute streng reguliert ist.
Darüber hinaus mahnten Sie den Einsatz auf europäischer Ebene an. Ich kann Sie beruhigen: Auch dort ist
Deutschland sehr präsent. Es geht dabei insbesondere
um den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der
Spielsucht und den Schutz vor Folge- und Begleitkriminalität.
Sie rufen stets nach Änderungen der Baunutzungsverordnung. Auch hier empfehle ich - wie sonst auch - ein
differenziertes Vorgehen. Die Städte und Gemeinden haben heute schon die Instrumente, um den Spielhallenaufwuchs zu steuern. Das setzt vor allem die Verabschiedung der entsprechenden Bebauungspläne voraus. Ich
nenne aus meiner Region Ludwigsburg und Esslingen.
Daneben gehen die Städte jetzt dazu über, illegale und
nicht angemeldete Geräte in den Gaststätten zu bekämpfen. Das finde ich vorzüglich.
Kollegin Maag, gestatten Sie eine Frage oder Erklärung des Kollegen Ströbele?
({0})
Bitte, Herr Ströbele.
Danke, Frau Kollegin. - Ich frage mich die ganze
Zeit, während ich hier sitze, wie häufig Sie schon in
Spielhallen gewesen sind. Wir könnten einmal hier um
die Ecke gehen; das ist gar nicht weit weg. Ich bin vor
wenigen Tagen über die Stromstraße geradelt und habe
die Spielhallen gezählt. Dort befindet sich eine Spielhalle neben der anderen. Insgesamt sind es 17 Spielhallen, und alle haben verdunkelte Fenster.
({0})
Gehen Sie einmal in eine hinein. Dann sehen Sie, welches Milieu dort verkehrt. Es ist die Frage, ob Sie weiterhin sagen werden: Wie gut, dass alles kontrolliert ist.
Vor allen Dingen - deshalb habe ich mich gemeldet möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zum zuständigen
Bezirksamt zu gehen und denen zu sagen, wie die lokalen Behörden dagegen vorgehen können?
({1})
Aber gerne, Herr Ströbele.
Würden Sie denen einmal sagen, wie das möglich
wäre? Die bemühen sich nämlich seit vielen Jahren,
nicht nur auf der Stromstraße, sondern auch auf der
Turmstraße - die befinden sich hier in Moabit - dagegen
vorzugehen, aber leider fehlt ihnen die notwendige
Handhabe.
Lieber Herr Ströbele, ich bin gerne bereit, mit Ihnen
gemeinsam einmal da hinzugehen.
({0})
Ich kann Ihnen sagen, dass es in den Gemeinden Ludwigsburg und Esslingen keine Spielhallen mehr gibt,
weil diese die entsprechenden Bebauungspläne erstellt
haben. Ich bin gerne bereit, dem Land Berlin die Adressen zu nennen, bei denen man erfahren kann, wie so etwas geht.
({1})
Bei aller Kritik am Antrag: Natürlich verlangt die
Evaluation der Spielverordnung - das haben wir auch im
Ausschuss gesehen - ein Nachsteuern. Die früheren Unterhaltungsspiele, bei denen man das Geld einsetzte, um
die Unterhaltungsautomaten - beispielsweise FlipperAutomaten - in Gang zu setzen, gibt es nicht mehr. Der
Unterhaltungsaspekt ist im Laufe der Zeit zugunsten des
Gewinnaspektes in den Hintergrund getreten, und gerade
durch die letzte Novellierung der Spielverordnung
wurde die Ereignisfrequenz, diese Illusion der Beeinflussbarkeit von Einsatz und Gewinn, erhöht.
Die Evaluation hat auch ergeben, dass der damals,
2006, mit den Änderungen beabsichtigte Schutz zum
Beispiel mit dem Verbot der Fungames erreicht wurde.
Illegale Praktiken, Frau Graf, gibt es; das gestehe ich
Ihnen ohne Weiteres zu. Das ist zum Beispiel das Vormünzen. Diese illegalen Praktiken konnte man nicht ausreichend verhindern, und daher müssen wir jetzt nachsteuern.
Für mich ist allerdings zentral wichtig, dass Spielerschutz auch heißt, dass wir vor allem die Spieler und
nicht die Geräte in den Blick nehmen müssen. Die Geräte sind zweitrangig. Um diese kümmern wir uns auch.
Aber wichtiger ist, dass wir den Spieler schützen. Die
Suchtpolitik der christlich-liberalen Koalition nimmt
stets Bezug auf den einzelnen Menschen und seinen Lebenshintergrund.
({2})
Insofern will ich da auch einen Schwerpunkt setzen.
({3})
- Ich glaube nicht, dass das zum Lachen ist.
({4})
- Ich glaube, Frau Kollegin, dass wir, wenn wir uns darüber unterhalten, wer von uns wie viele Spielhallen besucht hat, wer mit wie vielen betroffenen Menschen geredet hat,
({5})
feststellen werden, dass ich Ihnen zumindest da in nichts
nachstehe.
Das Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie
hierzu ausdrücklich festgestellt, nicht das Spielangebot
sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in der
Spielerpersönlichkeit. Das heißt, wenn eine bestimmte
Spielform erschwert oder verboten wird, hört der Spieler
logischerweise nicht auf, zu spielen, sondern wendet
sich anderen Formen zu. Es macht deshalb auch wenig
Sinn, einzelne Formen zu verbieten oder einfach nicht
mehr zuzulassen. Wir vertreiben die Menschen damit
nur aus den Hallen und treiben sie ins Internet.
({6})
Ich setze mich deshalb für Maßnahmen ein, wie sie in
der Evaluation vorgesehen sind:
Hier wird einmal die Einführung einer sogenannten
Spielerkarte vorgeschlagen, um illegale Spielpraktiken
zu verhindern. Diese Karte soll nur für einen Tag und für
eine Spielstätte gelten. Sie kann nur an einem Gerät eingesetzt werden. Damit verhindert man Mehrfachbespielungen. Die Karte soll auch eine maximale Obergrenze
für mögliche Einzahlungen beinhalten. Gewinne werden
nicht auf der Karte gespeichert, sondern müssen ebenso
wie möglicherweise verbleibende Restbeträge am Ende
des Tages ausbezahlt werden.
Dann ist es mir tatsächlich auch wichtig, Frau Graf,
dass die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den
Spieler- und Jugendschutz verbessert werden, dass eine
Sachkundeprüfung zur Voraussetzung für die Erteilung
einer Spielhallenerlaubnis gemacht wird und der Betreiber und die Mitarbeiter diese Prüfung in regelmäßigen
Abständen wiederholen müssen. Das ist ein zentrales
Anliegen.
Jetzt kommen wir zu dem technischen Bereich, der
Ihnen ja so wichtig ist. Selbstverständlich müssen wir
die Begrenzungen für Gewinne und Verluste pro Stunde
überdenken - da sind wir bei Ihnen -, gegebenenfalls ergänzt durch die Einführung einer weiteren Grenze für
absolute Tagesgewinne oder -verluste.
Man kann mit mir auch über die Verlängerung der
Laufzeit pro Spieleinheit sprechen. Sie sagen ja in Ihrem
Antrag, dass die derzeit geltenden 5 Sekunden zu kurz
seien. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn man gleichzeitig auch die Laufzeit der Geräte in den Spielkasinos
verlängert. Das Suchtpotenzial ist nämlich in beiden Fällen absolut dasselbe.
Schließlich müssen wir auch über Repression reden.
Zurzeit wird die Nichteinhaltung einiger suchtpolitisch
relevanter Vorgaben wie beispielsweise das Auslegen
von Informationsbroschüren über die Risiken übermäßigen Spielens nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet. Darüber kann man reden. Hier müsste man neue
Tatbestände schaffen. Auch über die Höhe der Bußgelder kann man mit mir reden. Ich gehe davon aus, das
BMWi wird genügend Kreativität entwickeln, um die
schwarzen Schafe auszumerzen. Wir werden selbstverständlich auch unseren Teil dazu beitragen, dass es einen
„kohärenten“, wie Sie so schön formuliert haben, Spielerschutz gibt, und zwar, ohne unsere Pflichten aus
Art. 12 Grundgesetz zu vernachlässigen. Diesen Einschub erlaube ich mir im Hinblick auf die derzeitige Fassung des Entwurfs des Staatsvertrags der Länder.
Zusammenfassend sage ich: Wir lehnen Ihren Antrag
ab.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir haben eben von Frau Graf gehört und
können es auch dem SPD-Antrag entnehmen, dass wir in
Deutschland rund 500 000 pathologische Glücksspieler
und rund 800 000 problematische Spieler haben. Denken
Sie, wenn wir über das Thema reden, ganz kurz daran,
was das für den Einzelnen, aber auch dessen Familie bedeutet. Wir müssen also schon über die Glücksspielsucht
insgesamt reden und dürfen nicht nur auf die Kompetenzen von Bund und Ländern abstellen. Die Bundesregierung kann nämlich durchaus auch Einfluss auf die Länder nehmen.
({0})
Der Europäische Gerichtshof fordert ja die Reformierung des Glücksspielvertrages der Bundesländer, wenn
das staatliche Glücksspielmonopol aufrechterhalten werden soll; denn staatliche Werbung für Lotterien auf der
einen Seite und der Auftrag der Suchtprävention auf der
anderen Seite ist mit dem staatlichen Monopol auf das
Glücksspiel unvereinbar. Wer also ehrlich mit dem
Thema Glücksspiel umgehen will, muss zuerst eine
Frage beantworten: Wollen wir eine funktionierende
Suchtprävention, die die Gefahren des Glücksspiels einschränkt, oder sollen mit dem Glücksspiel Mehreinnahmen erzielt werden, die den Betreibern und auch dem
Staat zufallen?
Ein Beispiel: Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein
scheint sich für die Einnahmeseite entschieden zu haben.
Dort lässt man jetzt Poker-Portale und Wettangebote jeglicher Art ohne Begrenzung der Zahl der kommerziellen
Anbieter zu. Schleswig-Holstein ist so auf dem besten
Weg zu einem Las Vegas an der Waterkant.
Tobias Koch von der CDU Schleswig-Holstein hat
schon Euro-Zeichen in den Augen. Er rechnet mit 40 bis
60 Millionen Euro Mehreinnahmen für die Landeskasse.
Im Klartext heißt das aber: Mehr Markt gleich mehr
Spiel gleich mehr Spielsucht.
({1})
Das ist verantwortungslos, und das wird mit der Linken
nicht gehen.
({2})
Die anderen Bundesländer gehen mit der Einnahmeorientierung nicht ganz so weit. Hier soll auf der einen
Seite das staatliche Lottomonopol erhalten bleiben, auf
der anderen Seite aber auch der Markt für Sportwetten
geöffnet werden. Es soll 20 statt der geplanten 7 kommerziellen Sportwettenanbieter geben, und die Steuerbelastung für Spieleinsätze soll von 16,6 Prozent auf 5 Prozent gesenkt werden. Die Ministerpräsidenten haben
also keine neue Regelung im Bereich der Suchtprävention gesucht, sondern es vorgezogen, der Glücksspiellobby durch Öffnung des Marktes entgegenzukommen.
({3})
Es sagt doch alles, wenn der Chef des Anbieters Bet
and Win die neue Regelung als wichtigen Schritt auf
dem Weg zu einer zeitgemäßen Glücksspielregelung bezeichnet und damit sozusagen lobt. Gleichzeitig findet er
die Regelung in Schleswig-Holstein zukunftsweisend.
Hier spricht einer, der noch mehr Einnahmen auf sich
zukommen sieht und am liebsten noch mehr Spielraum
hätte. Auch dazu sagt die Linke: So geht es nicht.
({4})
Dass es für diese Problematik eine hohe Sensibilität
gibt, zeigt die SPD mit ihrem hier vorliegenden Antrag.
In ihm wird vor allem die Suchtgefahr beim Automatenglücksspiel thematisiert. Konkret wird unter anderem
gefordert: Entschleunigung der Geldspielautomaten, Senkung des maximalen Verlustes pro Stunde, ein verpflichtendes Identifikationssystem. Das alles sind geeignete
präventive Lösungsansätze. Die Linke findet, dass die
SPD mit ihrem Antrag in eine gute Richtung geht, und
deshalb wollen wir ihn mittragen.
({5})
Aber darüber hinaus ist es wichtig, weitere Fragen zu
stellen. Daran können wir, wie Sie sicher zugestehen
werden, arbeiten. Zu fragen ist, ob es sinnvoll ist, das
Automatenspiel überhaupt außerhalb von Spielkasinos
zu ermöglichen. Zudem ist zu fragen, wie Sanktionsmaßnahmen gegen Betreiber bei Verstößen kontrolliert
werden sollen. Sollen das die Polizei oder die Ordnungsämter nun auch noch bewältigen? Wie und von welchem
Geld sollen diese Kontrollen bezahlt werden? Das sind
Probleme, die gelöst werden müssen. Zudem stellt sich
die Frage: Wie können wir den Jugendschutz weiter verbessern?
Sie sehen, dass die Diskussion noch lange nicht am
Ende ist. Aber 500 000 Glücksspielsüchtige und 800 000
problematische Spieler sollten uns allen zu denken geben. Wenn wir es mit der Bekämpfung der Spielsucht
ernst meinen, müssen wir neue Wege der Prävention und
nicht neue Wege der Marktöffnung gehen.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Christine
Aschenberg-Dugnus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Thema. Wer
auf Dauer länger spielt oder mehr Geld einsetzt, als er
sich leisten kann oder will, für den kann das Spielen zu
einer schweren Belastung werden. Doch so ernst dieses
Thema auch ist, es gibt auch Anlass für positive Botschaften.
Ich bin froh, Ihnen mitteilen zu können, dass 99 Prozent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 65 Jahren insgesamt kein pathologisches Glücksspielverhalten aufweisen. Das ist auch eine Botschaft unserer heutigen Debatte. Im Umkehrschluss heißt das, dass insgesamt nur
1 Prozent der Bevölkerung problematisches Glücksspielverhalten aufweist.
({0})
Das sind nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bundesweit 540 000 Betroffene zu viele; da gebe ich Ihnen recht. Im Jahr 2009 waren es
übrigens noch 590 000 Betroffene. Wir haben also schon
einen Rückgang um 50 000 zu verzeichnen.
({1})
Wir sprechen hier also von 1 Prozent mit missbräuchlichem Verhalten.
({2})
Bei allem Respekt vor diesen Menschen, denen wir
ganz sicher helfen müssen und auch helfen wollen: Es ist
schlicht nur 1 Prozent. Für die überwältigende Mehrheit
ist Glücksspiel ein emotionaler Freizeitspaß. Die martialische Dramatik, die Sie in Ihrem Antrag an den Tag legen, ist daher vollkommen unangebracht. Sie tun gerade
so - das haben wir heute schon mehrfach festgestellt -,
als ob ein ganzes Volk durch Glücksspiel von massiver
Verschuldung oder Kriminalität bedroht wäre. Sie tun so,
als wenn wir hier in einem völlig unkontrollierten Las
Vegas wären, in dem vernünftige Menschen dazu animiert werden, ihre Existenz zu verspielen und Frau und
Kind im Elend zurückzulassen.
({3})
Meine Damen und Herren, das ist nicht der Fall.
({4})
Denn es gibt bereits klare gesetzliche Vorgaben und sehr
begrüßenswerte freiwillige Maßnahmen, auch und gerade - auch wenn Sie das kritisieren - von der Automatenindustrie, und zwar ohne staatlichen Dirigismus. So
setzen die Konzepte der Automatenindustrie einen
Schwerpunkt auf Information und Prävention. Die Ansätze hierbei sind: erstens Mitarbeiterschulung zur Früherkennung und Prävention,
({5})
zweitens Informationsflyer über kostenfreie und anonyme Beratungsmöglichkeiten sowie drittens Hinweise
auf die Beratungshotline der BZgA. Außerdem besteht
- die Kollegin Maag hat es schon angesprochen - seit
1985 in vielen Spielotheken ein absolutes Alkoholverbot
- das finde ich sehr richtig -, um einen klaren Kopf bei
den Spielgästen zu garantieren.
({6})
Dennoch ist jeder Fall von Glücksspielsucht einer zu
viel. Deshalb helfen wir diesen Menschen. Doch jede
noch so gut gemeinte Hilfestellung muss dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit standhalten.
({7})
Ich lehne es grundsätzlich ab, die große Mehrheit derer,
die mit einer Sache verantwortungsvoll umgehen, vollkommen überzogen zu bestrafen, und das nur, weil eine
Minderheit nicht damit umgehen kann. Beim Glücksspiel sprechen wir von solch einer Sachlage. Es gilt, mit
Augenmaß und Gespür für die Menschen an die Problematik heranzugehen, und genau das tun wir.
({8})
Liebe Sozialdemokraten, in Ihrem Antrag formulieren
Sie einige wichtige Forderungen, die ich hier gar nicht
ablehnen will. Aber Sie bleiben auch wichtige Antworten schuldig. Ein Beispiel ist Ihr Mantra des staatlichen
Glücksspielmonopols. Warum soll nun ausgerechnet ein
staatliches Monopol den besten Schutz vor Sucht bewirken? Erklären können Sie das nicht.
({9})
Allein Ihr unerschütterlicher Glaube an den Staatsdirigismus wird deutlich. Bei Sportwetten und beim Lotto
ist das ganz besonders offensichtlich. Dass ein vom Staat
organisiertes und beworbenes Glücksspiel weniger abhängig macht als eines von privaten Anbietern, war
schon immer ein Irrglaube. Das können Sie auch niemandem erklären. Das ist nicht unser Weg.
({10})
Unser Weg setzt beim aufgeklärten, mündigen Bürger
an. Genau deswegen setzen wir auf Prävention.
({11})
In diesem Punkt kann ich Ihrem Antrag auch folgen.
Eine Intensivierung von Aufklärungskampagnen ist absolut begrüßenswert und wird von uns unterstützt. Die
Fortführung bewährter und die Entwicklung neuer, und
zwar zielgruppenspezifischer, Präventionsmaßnahmen
stehen ganz oben auf unserer Agenda. Die BZgA macht
hier eine ganz hervorragende Arbeit. Wir debattieren
auch - da bin ich mit Karin Maag einig - über die Einführung einer Spielerkarte, um die Suchtspirale der Automatenmehrfachbespielung zu durchbrechen. Ganz besonders im Hinblick auf den Jugendschutz muss
natürlich auch das Personal in seiner Kompetenz gestärkt werden; denn es muss ohne Wenn und Aber dafür
Sorge tragen, dass Minderjährige nicht an Automaten
spielen. Ansonsten muss der Verstoß gegen gesetzliche
Vorgaben natürlich strikt sanktioniert werden.
Herr Ströbele, es gibt übrigens auch einige grüne Bezirksstadträte, die lieber die Einhaltung des Heizpilzverbots kontrollieren als die Einhaltung des Jugendschutzes. An diesem Punkt könnten wir auch einmal ansetzen.
Wir haben nämlich ein Vollzugsdefizit und kein Gesetzesdefizit. Das sage ich, um das Ganze richtig einzuordnen.
Die Sachkenntnis von Automatenaufstellern hinsichtlich des pathologischen Glücksspielverhaltens kann und
muss noch verbessert werden. Doch bevor wir es Gastronomen verbieten, in ihrer Kneipe einen Automaten aufzustellen, sollten wir lieber die Einhaltung der Gesetze
kontrollieren und Verstöße hart bestrafen. In der Summe
müssen wir die Beteiligten stärken, statt sie zu bevormunden: Wir müssen erstens die Spieler in ihrer aufgeklärten Eigenverantwortung und zweitens die Betreiber
in ihrer Verantwortung, Missbrauch zu erkennen, zu vermeiden und zu unterbinden, stärken. Das kann und sollte
auch durch technische Maßnahmen flankiert werden.
Wir sollten beispielsweise über eine Verringerung der
Ereignisfrequenz und eine Verringerung des maximalen
Verlustes bzw. Gewinns ergebnisoffen diskutieren. Dazu
gehört ebenso die Einführung einer Spielerkarte. Einen
mit erhobenem Zeigefinger versehenen Rundumschlag
lehne ich jedoch ab; denn die meisten Menschen haben
keine Probleme mit dem Glücksspiel. Diejenigen, die sie
haben, werden wir davor schützen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Kollegin
Aschenberg-Dugnus - an dieser Stelle könnte ich auch
Frau Maag erwähnen - an Verharmlosung geboten hat,
ist kaum erträglich.
({0})
Dass wir dann auch noch hören mussten, dass der Automatenindustrie in diesem Lande der Charakter von Samaritern zugeschrieben wird,
({1})
ist wirklich so daneben, wie man sich das nur vorstellen
kann. Die übliche Floskel: „Das liegt in der Suchtstruktur der Spieler begründet“, bedeutet eine klare Ablehnung von Verhältnisprävention. Auch das ist überhaupt
nicht zu verstehen.
({2})
Das Thema Glücksspiel ist ein anschauliches Beispiel
dafür, welche Folgen eine falsche Suchtpolitik haben
kann.
({3})
Bei der Behandlung illegaler Drogen haben die Ideologen das Sagen, die die Abhängigen kriminalisieren.
Beim Thema Glücksspielsucht bestimmt maßgeblich die
Industrie den Kurs der Bundesregierung.
({4})
Den Preis dafür zahlt immer die gesamte Gesellschaft.
Bezüglich des Automatenspiels heißt das: Privatisierung
der Gewinne - 7 Milliarden Euro für die Automatenindustrie - und Sozialisierung der Suchtfolgen. Das kann
das Parlament doch nicht tolerieren.
({5})
Insofern ist jede Initiative zu begrüßen, die hier Abhilfe schaffen will. So zumindest verstehe ich den Antrag der SPD. Auch meine Fraktion hatte in der Vergangenheit diesbezüglich mehrfach Vorstöße unternommen,
zuletzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss.
Ich schlage Ihnen vor, einmal in den Zusammenfassungen die Ausschussergebnisse nachzulesen; daraus kann
man einiges lernen. Es gilt festzuhalten, dass Prävention
nicht nur Suchtschicksale verhindert, sondern auch notwendige Voraussetzung ist, um den Bestand von Monopolstaatsverträgen gerichtsfest zu sichern - wenn man es
denn will. Wir wollen das.
({6})
Viele Forderungen im Antrag der SPD werden von
uns unterstützt, insbesondere die strengen Rahmenvorgaben für Geldspielgeräte. Das setzt allerdings voraus
- da schließe ich mich dem Kollegen Tempel an -, dass
man die Kommunen finanziell und personell in die Lage
versetzt, die Einhaltung der Vorgaben auch zu kontrollieren. Die Ergebnisse der Modellversuche und der Studien
zur Evaluation der Spielerverordnung sind ernüchternd.
Man kann mitnichten sagen, da sei alles in Butter. Vielmehr berichten die Kolleginnen und Kollegen vor Ort
von einer derart mangelnden Kooperation der Betreiber,
dass einem die Haare zu Berge stehen. Das muss hier
einmal festgehalten werden.
Wir begrüßen den Ansatz der SPD, über die Baunutzungsverordnung der Spielhallenflut in den Kommunen
Herr zu werden, und freuen uns darüber, dass Sie inzwischen selbst einen entsprechenden Antrag umsetzen wollen, nachdem Sie zuvor unserem Antrag nicht zustimmen konnten.
Es gibt aber auch Forderungen, die man kritisch hinterfragen muss. Beispielsweise bin ich skeptisch, was die
Einführung einer Spielerkarte in Spielhallen angeht. Erfahrungen aus Australien haben gezeigt, dass solche
Karten wirkungslos sind und zu nichts führen. Dass eine
solche Einführung ausgerechnet von der Automatenindustrie befürwortet wird, nährt doch den Verdacht, damit
quasi als Alibi wirksame Einschränkungen zu verhindern oder Kundenprofiling zu betreiben, möglicherweise
sogar beides. Wir sind der Überzeugung, dass solche
Automaten in Kneipen und Imbissbuden nichts zu suchen haben. Viele Studien haben gezeigt, dass junge
Menschen dort angefixt werden, zumal dort wirksame
Kontrollen des Jugendschutzes nicht möglich sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam Fehlentwicklungen und Probleme, die nach der
letzten Novelle zur Spielerverordnung aus dem Jahr
2006 aufgetreten sind, beseitigen.
Meine letzte Anregung ist, uns auch auf Länderebene
für die Stärkung der Monopolstaatsverträge einzusetzen
und dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Aushöhlung
kommt. Die Länder muss man zumindest dafür loben,
dass sie mehr Bereitschaft zeigen als der Bund, Spielautomaten strenger zu reglementieren, weil ihnen die Probleme vor Ort offenbar stärker auf den Nägeln brennen.
Kollege Terpe, achten Sie bitte auf das Signal.
Ein solches Engagement würde ich mir natürlich auch
vom Bund wünschen. Das ist aber von einem FDP-ge16584
führten Bundeswirtschaftsministerium weniger zu erwarten, obwohl der Minister eigentlich etwas von Suchtgefährdung verstehen müsste.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Oscar Wilde hat gesagt, allem könne er widerstehen, nur der Versuchung nicht. Was uns vielleicht
zum Schmunzeln bringt, ist für viele Menschen leider
schmerzhafte Realität: Sie können einer Versuchung
nicht widerstehen; sie sind süchtig. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, Eigenverantwortung allein hilft an dieser
Stelle nicht weiter.
({0})
Mit unserem Antrag wollen wir nicht das Glücksspiel
verbieten. Mit unserem Antrag wollen wir nicht das prosaische letzte bisschen Freiheit, das so oft beschworen
wird, eingrenzen. Nein, es geht uns ausschließlich darum, süchtigen Menschen zu helfen; denn Sucht ist nicht
Freiheit; Sucht ist das Gegenteil.
({1})
Ich möchte auf einen anderen Aspekt hinweisen. Mit
dem Entwurf eines neuen Glücksspielstaatsvertrags sind
vor einigen Wochen negative Fakten geschaffen worden,
etwa durch die Aufgabe des Sportwettenmonopols. Warum negativ? Mit dem Glücksspielmonopol wurde bisher nicht nur die Prävention sichergestellt; das Glücksspielmonopol hat auch - das gehört dazu - massiv zur
Förderung und Finanzierung des Breitensports beigetragen, weil die staatliche Lotterie eine Konzessionsabgabe
von 16 2/3 Prozent des Einsatzes gezahlt hat, die dem
Breitensport insgesamt zugeflossen ist. So kamen durch
Lotto und Oddset jedes Jahr 500 Millionen Euro für den
Breitensport zusammen.
({2})
Mit diesem Geld wurde mehr gemacht, als Torpfosten
einzugraben und Tischtennisplatten aufzustellen. Mit
diesem Geld wurden Jugendarbeit und ehrenamtliches
Engagement gefördert.
In diesem Bereich wird es durch die Aufgabe des
Monopols extreme Einschnitte geben. Denn es gibt erhebliche Zweifel, ob eine 5-prozentige Abgabe auf Wetteinsätze, die von 20 bisher rein potenziellen Konzessionsnehmern gezahlt werden soll, den Wegfall der
bisherigen Einnahmen aus der Zweckabgabe im Rahmen
des Wettmonopols ausgleichen wird.
({3})
Selbst der Deutsche Olympische Sportbund, seit langem
ein Verfechter der Marktöffnung im Sportwettenbereich,
hat die Erwartungen hinsichtlich eines potenziellen
Geldsegens mittlerweile zurückgeschraubt, wie wir in
der gestrigen Sportausschusssitzung erfahren haben. Von
den oft vom DOSB veranschlagten 80 Millionen Euro
für den Sport ist nur noch eine vage Option auf ein Drittel der Abgaben für den Sport übrig geblieben, was im
Staatsvertrag allerdings nirgendwo festgehalten ist.
({4})
Es bleibt offen, was das in Euro und Cent für den Breitensport bedeutet.
Das bedeutet: Nur wenn einerseits das Volumen des
Glücksspielmarktes an sich steigt und andererseits mehr
Menschen als bisher spielen und mehr Geld als bisher
verspielen, wird der Breitensport annähernd die gleiche
Förderung wie bisher erhalten. Das aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde zu einer erhöhten Zahl der
Spielsüchtigen führen.
({5})
Das ist kein Schreckgespenst; das sind Fakten: In Großbritannien ist die Zahl der Spielsüchtigen in den ersten
drei Jahren der Kommerzialisierung des Glücksspielmarktes um 50 Prozent gestiegen. Es kann von uns nicht
gewollt sein, eine dahin gehende Liberalisierung durchzuführen.
Die Ausrede, dieser Staatsvertrag sei Angelegenheit
der Länder, lassen wir einfach nicht gelten. An anderer
Stelle sind Sie auch nicht so zurückhaltend und versuchen vielmehr, auf die Länder einzuwirken.
({6})
Insofern möchte ich Sie noch einmal bitten, auf der einen Seite die Spielsüchtigen und ihre Angehörigen und
Familien nicht alleinzulassen und in die Prävention zu
investieren und auf der anderen Seite sicherzustellen,
dass dem Breitensport wenigstens durch die staatliche
Abgabe eine angemessene Finanzierung zur Verfügung
gestellt wird.
({7})
Es tut mir leid, Kollege Kauder, aber Sie waren mit
Ihrer Initiative, mit der Kollegin Bätzing ins Gespräch
zu kommen, zu spät. Sie hatte ihre Redezeit schon über-
schritten.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6338 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Vizepräsidentin Petra Pau
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats über
die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfol-
genabschätzung und die Optimierung des Ver-
fahrens
- Drucksache 17/6680 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung
Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
- Drucksachen 17/5295, 17/7678 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute zwei Themen, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben: die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung und die Fortschreibung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie. Auf den
ersten Blick sind dies scheinbar zwei unterschiedliche
Aspekte, die aber deutlich mehr miteinander zu tun haben. Es geht nämlich immer um die Frage: Wie wird
Politik nachhaltiger?
Wenn es um die Sicherung von Nachhaltigkeitszielen
in der Gesetzgebung geht, stehen wir in der Politik eigentlich immer vor einem Dilemma. Die Gesetzgebung
orientiert sich zumeist an einer Legislaturperiode. Sie
möchte innerhalb dieser Zeit Ergebnisse vorweisen.
Auch die Bürgerinnen und Bürger erwarten zumeist relativ schnell und kurzfristig Ergebnisse. Sie sind oftmals
nicht bereit, mit uns den Weg einer langfristigen Perspektive zu gehen. Es soll immer recht schnell etwas herauskommen. Unsere honorige Aufgabe als Beirat ist es
nun - das ist auch Aufgabe der Nachhaltigkeitsprüfung -,
genau dem entgegenzuwirken und die Aufmerksamkeit
im politischen Betrieb darauf zu lenken, wie Politik, Gesetzentwürfe und Verordnungen nachhaltiger werden
können.
Wir haben unsere sogenannte Nachhaltigkeitsprüfung an den Anfang gestellt. Ihr müssen sich alle Gesetzentwürfe und Verordnungen der Bundesregierung unterwerfen. Das heißt: In allen Gesetzentwürfen und
Verordnungen, die von der Regierung kommen, müssen
Aussagen sowohl zu den in unserer Nachhaltigkeitsstrategie niedergelegten Managementregeln enthalten sein
({0})
als auch zu den Zielvorgaben der 21 Indikatoren.
Es geht nicht zwingend darum, immer exakt bezifferbare Aussagen zu machen. Dazu ist auch niemand bei jedem Gesetzentwurf und jeder Verordnung in der Lage.
Es geht schlicht und ergreifend immer darum, möglichst
sorgfältig und möglichst intensiv zu den Auswirkungen
auf die Vorgaben dieser Managementregeln und der Indikatoren Stellung zu nehmen. Das heißt: Es müssen sowohl positive als auch negative Auswirkungen dargestellt werden. Eine gute Nachhaltigkeitsprüfung kommt
fast nicht ohne diese beiden Aspekte aus; denn es kann
durchaus einmal eine negative Auswirkung bei einem
Indikator geben, die sich aber letztlich positiv auf das
Gesamtbild des Gesetzentwurfs auswirkt. Diese Gegenüberstellung von positiven und negativen Aspekten hilft
uns, in unseren Ausschussberatungen vielleicht eine
noch breitere Entscheidungsgrundlage zu finden.
Ich gebe gern zu: Als wir mit unserer Bewertungsarbeit, lieber Andreas Jung, im Beirat angefangen haben,
mussten wir bei manchen Nachhaltigkeitsprüfungen, sofern sie überhaupt vorhanden waren, manchmal ziemlich
großzügig sein, um festzustellen: Es hat zumindest eine
Prüfung stattgefunden. Ob das richtig intensiv war oder
nur aus einem hinzugefügten Textbaustein bestand, sei
einmal dahingestellt. Liebe Kollegin Arndt-Brauer, wir
haben viele Sachen herausgezogen, mussten aber auch
feststellen: Wir haben im Prinzip mit dieser Nachhaltigkeitsprüfung eine Operation am offenen Herzen begonnen; denn vor uns hat das niemand so wirklich praktiziert. Die Bundesregierung wurde ins kalte Wasser
geworfen, wir als Beirat letztlich auch. Wir haben uns
die ambitionierte Aufgabe gestellt, wirklich von Anfang
an strikt durchzuprüfen: Wird zur Generationengerechtigkeit Stellung genommen? Wird zum Umweltschutz,
zur nachhaltigen Landwirtschaft usw. Stellung genommen? Ich glaube, dass wir uns im Beirat seit Beginn der
Legislaturperiode ordentlich gesteigert haben, sowohl
was die Intensität unserer Arbeit als auch was die Arbeit
der Bundesregierung im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsprüfung betrifft. Die Nachhaltigkeitsprüfung ist
nichts anderes als lebenslanges Lernen. Wir lernen bei
jedem Gesetzentwurf und bei jeder Verordnung dazu.
Dass Fehler passiert sind und immer noch passieren,
ist bedauerlich. Sie werden aber verzeihbar, wenn wir
bei unserem nächsten Anlauf merken, dass Korrekturen
stattfinden und dass man uns ein klein wenig verinnerlicht hat. Ich hoffe, für den einen oder anderen von uns
zu sprechen, wenn ich sage: Es ist besser geworden,
liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank, aber das ist noch deutlich steigerungsfähig.
Das ist das eine Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen und für das ich sehr werbe, auch unter den
Kollegen, die nicht im Beirat sitzen. Ich empfehle, sich
dieses Themas fraktionsübergreifend sensibler anzunehmen. Ich glaube, jeder findet in seiner Fraktion den einen
oder anderen Ansprechpartner, der einen mit großen Augen anschaut, wenn man die Themen Gesetzesfolgenabschätzung und Nachhaltigkeitsprüfung in einem Satz erwähnt. Wir alle haben noch Lieferbedarf, Hol- und
Bringschuld gleichermaßen. Wir haben uns in der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion vorgenommen, dieses Thema massiv anzugehen.
Gestatten Sie mir zum Abschluss noch wenige Worte
zum Thema Europäische Nachhaltigkeitsstrategie, das
wir an diese Debatte angedockt haben. Es ist aus Sicht
des Beirats - Sie merken, wir versuchen immer sehr
konsensual zu arbeiten; das gelingt uns nicht immer,
aber sehr häufig - absolut inakzeptabel, wenn die Europäische Kommission den Standpunkt vertritt, eine Fortschreibung der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie
sei nicht erforderlich, weil die Nachhaltigkeitsstrategie
in die Strategie Europa 2020 aufgehe. So wird kein
Schuh draus. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
muss immer der große Rahmen für alle anderen Strategien auf europäischer Ebene sein, zum Beispiel die Lissabon-Strategie. Ich bin sehr froh, dass wir einen gemeinsamen Entschließungsantrag zustande gebracht
haben, in dem die Bundesregierung einvernehmlich aufgefordert wird, auf europäischer Ebene genau in diese
Richtung hinzuwirken und dieses Thema in Brüssel intensiv anzubringen.
Im Großen und Ganzen sind wir national wie europäisch auf einem ausgesprochen guten Weg. Lassen Sie
uns diesen Weg weitergehen. Lassen Sie uns immer besser werden.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist am
17. Dezember 2009 zum dritten Mal eingesetzt worden.
Es ist unser Problem, dass wir in jeder Legislaturperiode
neu eingesetzt werden müssen. Wir gehören noch nicht
ganz normal dazu. Wir haben auch keinen Minister, der
für uns zuständig ist. Wir müssen immer über den Umweltausschuss hier im Plenum reden. Wir sind bisher
also etwas stiefmütterlich behandelt worden.
Aber wir haben Aufgaben. Diese Aufgaben beinhalten seit dieser Legislaturperiode unter anderem die Gesetzesfolgenabschätzung. Das heißt, wir haben die Aufgabe, zu überprüfen, ob die Bundesregierung, wenn sie
einen Gesetzentwurf eingebracht hat, auf das Thema
Nachhaltigkeit geachtet hat. Wir prüfen das sehr formal.
Wir haben Managementregeln, wir haben ein Konzept,
das dahintersteht, und wir haben 21 Indikatoren, mit deren Hilfe wir überprüfen, ob irgendetwas davon berücksichtigt worden ist, als ein Gesetz auf den Weg geschickt
worden ist.
Hier beginnt unser Problem. Wir prüfen sehr formal.
Für die Oppositionsfraktionen darf ich sagen: Wir würden gerne auch inhaltlich prüfen. Wir würden gerne prüfen, ob ein Gesetz, das auf den Weg gebracht worden ist
- von welchem Minister auch immer -, inhaltlich wirklich auf Generationengerechtigkeit ausgerichtet worden
ist; denn wir haben da manchmal unsere Zweifel. Wir
versuchen immer, wie meine Vorrednerin schon angedeutet hat, am Ende einen Konsens hinzubekommen.
Deswegen steht das Thema inhaltliche Prüfung im Moment noch ein bisschen hintan. Ich würde mir wünschen,
dass wir das im Konsens ein bisschen verändern.
Wir prüfen in vier Nachhaltigkeitsbereichen: Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung. Es hat sich herausgestellt - das ist Folge des Umstands, dass wir es
hier mit einem völlig neuen Thema zu tun haben -, dass
das Ganze verbesserungswürdig ist. Unsere Prüfungen
sind immer noch sehr aufwendig. Ich möchte das Verfahren einmal denen erklären, die nicht dabei sind: Es
prüfen jeweils ein Koalitionspolitiker und ein Oppositionspolitiker, ähnlich wie im Petitionsausschuss. Die
Prüfungen verlaufen manchmal einvernehmlich, manchmal strittig. Wenn strittig geprüft worden ist, wird anschließend im Beirat abgestimmt. Zu diesem Zeitpunkt
sind dann alle Politiker der Koalition anwesend. Ansonsten haben wir das Gefühl, dass die Koalition nicht so
sehr an diesem Thema hängt wie die Opposition. Dieser
Eindruck drängt sich manchmal auf, wenn nur ein Vertreter der CDU dasitzt, obwohl neun dort sitzen könnten.
Auch da sind Verbesserungen möglich.
({0})
- Quantität gegen Qualität. Gut. Bei uns geht es mit
Qualität und Quantität. Das sollten Sie eigentlich auch
anstreben.
({1})
Schwierig ist die Vernetzung mit der europäischen
Nachhaltigkeitsstrategie; das wurde schon angedeutet.
Die praktische Umsetzung ist sehr problematisch, weil
Eurostat zwar viele Daten erhebt, die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie für die Bundesregierung in Bezug
auf ihr Verhalten aber eigentlich keine Rolle spielt. Wir
würden uns schon etwas anderes wünschen. Wir wünschen uns entweder eine stärkere inhaltliche Verzahnung
oder dass man das eine zur Grundlage des anderen
macht. Ich finde, es ist sehr wichtig, dass wir, wenn es
um Generationengerechtigkeit geht, wenn es wirklich
um die Verantwortung für nachfolgende Generationen
geht, auf europäischer und nationaler Ebene in eine
Richtung laufen.
Auf europäischer Ebene werden ganz andere Dinge
geprüft und ganz andere Daten erhoben. Man hat das
Gefühl, dass zwei Stränge vollkommen parallel nebeneinander verlaufen. Das ist unbedingt zu verändern. Ich
denke, wir müssen die Bundesregierung immer wieder
auffordern, ihren Einfluss in Europa geltend zu machen.
Vielleicht müssen wir so weit gehen, dass wir sagen:
Okay, wir passen unsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie an die europäische an. Im Moment haben wir aber
den Eindruck, dass das Thema Nachhaltigkeit in Europa
nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es werden zwar
viele Daten erhoben und Leitlinien entwickelt, man hat
aber das Gefühl, dass Überlegungen zur Nachhaltigkeit
auf die Europäische Politik in Wirklichkeit kaum Einfluss haben. Wir haben versucht, mit Parlamentariern in
Kontakt zu kommen. Das ist bisher aber nicht besonders
werthaltig gewesen.
Ich möchte die Kollegen auffordern, in ihrem täglichen Leben und in ihrer Politik Nachhaltigkeitsüberlegungen stärker zu verankern. Ich möchte aber ausdrücklich auch die Regierung, die heute nur sehr marginal
vertreten ist - da gilt vermutlich auch: Qualität vor
Quantität -,
({2})
auffordern, das Thema Nachhaltigkeit stärker in den Fokus zu rücken und dafür zu sorgen, dass wir das Thema
Generationengerechtigkeit nicht immer nur in Reden
hochhalten, sondern Generationengerechtigkeit als Ziel
der Politik ausdrücklich anstreben.
({3})
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns im Beirat
sehr bemühen, die Dinge im Konsens zu verabschieden.
Auf dem Weg dorthin wird manchmal recht strittig diskutiert. Das wird im Rahmen der Obleuteberatungen
aber meistens abgeräumt. Ich fände es gut, wenn wir einmal gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen
könnten, bei dem alle Fraktionen im Titel erscheinen.
Vielleicht können einige einmal über ihren Schatten
springen.
({4})
Ich würde es begrüßen, wenn wir das erreichen könnten
und auf lange Sicht Anträge im Parlament einvernehmlich verabschieden könnten. Vielleicht ist das auch zu einer anderen Tageszeit möglich, sodass uns auf den Rängen und im Fernsehen mehr zuhören und zuschauen
können.
Das Thema Nachhaltigkeit sollte nicht nur in Regierungserklärungen erwähnt werden, sondern auch im täglichen Leben eine Rolle spielen. Dazu möchte ich alle
auffordern. Ansonsten wünsche ich uns weiterhin eine
erfolgreiche Arbeit beim Thema Nachhaltigkeit. Die Gesetzesfolgenabschätzung sollte nicht das Endziel sein.
Das Endziel sollte sein: mehr nachhaltige Gesetzgebung.
Ich hoffe, da kommen wir irgendwann hin.
Danke schön.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael
Kauch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
befinden uns in einer Finanz- und Schuldenkrise. Wir
haben sowohl im Bereich des Klimaschutzes als auch im
Bereich der Biodiversität massive ökologische Probleme. Wir stehen vor einer großen UN-Konferenz.
20 Jahre nach der UN-Konferenz von Rio soll die Welt
erneut das Thema Nachhaltigkeit diskutieren. Was macht
die Europäische Kommission? Die Europäische Kommission sagt angesichts all dieser Nachhaltigkeitsprobleme, vor denen wir stehen: Wir brauchen keine Nachhaltigkeitsstrategie. - Das ist eine abwegige Haltung der
Europäischen Kommission, die der Deutsche Bundestag
so nicht teilt.
({0})
Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt in den Gesprächen
mit dem Parlamentarischen Beirat deutlich gemacht haben, dass die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie für
die Bundesrepublik Deutschland weiterhin eine wesentliche Strategie ist und dass sie eben nicht durch die Strategie „Europa 2020“ abgelöst wird. Nachhaltigkeitsstrategien brauchen einen längeren Atem als nur für die
nächsten neun Jahre. Sie brauchen auch ein weiteres
Spektrum als das, was in der Strategie „Europa 2020“
genannt ist. Die Strategie „Europa 2020“ ist wichtig,
aber sie deckt nicht alle Bereiche ab, die für eine nachhaltige Entwicklung, für Generationengerechtigkeit auf
unserem Kontinent erforderlich sind.
({1})
Ich habe etwas zur Europäischen Kommission gesagt.
Im Europäischen Parlament läuft dies nicht besser. Wir
vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung haben die zuständigen Kollegen im Europäischen
Parlament besucht. Wir haben leise angeregt, dass ein
solches Gremium wie das im Deutschen Bundestag, das
fraktionsübergreifend arbeitet und sich mit den langen
Linien von Politik abseits der Tagesdebatten beschäftigt,
eine gute Idee auch für das Europäische Parlament wäre.
Die fraktionsübergreifende Antwort war: Alles, was das
Europäische Parlament macht, ist so nachhaltig, dass wir
ein solches Gremium nicht brauchen.
({2})
Ich glaube, dass manche Kolleginnen und Kollegen
auch im Europäischen Parlament vielleicht ein bisschen
von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union lernen
könnten, zum Beispiel von Deutschland, Skandinavien,
Großbritannien und auch einigen der südeuropäischen
Länder, die inzwischen eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie haben. Bei uns besteht eine Nachhaltigkeitsstrategie nicht nur aus Blabla, wir stellen nicht nur
ein paar Ziele auf und machen dann eine statistische
Auswertung. Das deutsche System und das von Großbritannien und anderen Ländern hat vielmehr eine klare
Managementorientierung und beinhaltet Strategien,
Ziele, Indikatoren und dann auch eine Überprüfung und
Rückkopplung, in deren Folge neue Ziele aufgestellt
werden. Das ist aus meiner Sicht für die Europäische
Union längst überfällig.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Nachhaltigkeit ist in und ein Lieblingswort der Bundesregierung. Als Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung überprüfen wir, ob es die Bundesregierung mit der
Nachhaltigkeit wirklich ernst meint. Nachhaltigkeit beschreibt eine Gesellschaft, die Wasser und andere Ressourcen nur in der Menge verbraucht, wie sie im Kreislauf erneut verfügbar sind, und welche die Natur erhält,
eine freie und gerechte Gesellschaft, die Wohlstand für
alle erreicht. Das unterstützt die Linke. Aber müssen wir
der Nachhaltigkeitsstrategie der Regierung deshalb zustimmen?
Bevor ich fortfahre, sei eine kurze wichtige Frage erlaubt: Woher kommt eigentlich das viel bemühte Wort
„Nachhaltigkeit“? Warum haben Bürgerinnen und Bürger, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Regierung
und Opposition, oder auch Manager deutscher DAX-Unternehmen das Wort dauernd im Mund? Das Wort enthält den Wunsch, Entscheidungen und Produkte seien
haltbar wie ägyptische Pyramiden nach ihrem Bau, also
nachhaltig. Deshalb vermittelt die Verwendung des Attributes „nachhaltig“ zusammen mit Vorhaben und Gesetzen das gute Gefühl von Ewigkeit. Herrlich!
Aber das Streben nach ständigem Wachstum, so wie
es der aktuellen Wirtschaftspolitik entspricht, ist nicht
nachhaltig. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,
Unternehmerinnen und Unternehmer, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt haben vor den katastrophalen Folgen
unserer Art des Wirtschaftens gewarnt: vor der Überfischung und Verschmutzung der Meere, der Verpestung
des Klimas, der hemmungslosen Rohstoffausbeutung
und der rücksichtslosen Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung. Dies alles macht die Reichen reicher und die
Armen ärmer.
({0})
Das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und
Reich fördert nachhaltig die Zerstörung der Demokratie,
und die wachstumsgetriebene Wirtschaft vernichtet die
Natur dauerhaft. Das alles nimmt das Kanzleramt in
Kauf. Sie folgen nur den Interessen der Konzerne und
deren Profitstreben. Sinkenden Reallöhnen und Altersbezügen, der Rente mit 67, Hartz IV, aber auch dem Flächenverbrauch, der Verlagerung schmutziger Industrien
in Entwicklungsländer und dem weltweit ausufernden
Lohndumping verpasst die Regierung ein Prädikat
„nachhaltig“. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({1})
In Wahrheit ist es so, dass die Bundesregierung die
Nachhaltigkeitsidee als Deckmantel ihrer Lobbypolitik
missbraucht. Dadurch wird echte Nachhaltigkeit diskreditiert. In der Praxis sieht es so aus: Der Beirat bewertet,
ob Gesetze auf Nachhaltigkeit geprüft wurden. Ob der
Inhalt nachhaltig wirkt, spielt keine Rolle. Vorschläge im
Parlamentarischen Beirat, die Wirkung von Gesetzen auf
echte Nachhaltigkeit zu untersuchen, verhindern Sie.
Deshalb kann die Regierung sogar Gesetzen, die Panzerverkäufe nach Saudi-Arabien erlauben, schlechte Regelungen für die kommunale Abfallentsorgung enthalten
und Riester-Rente und Vorratsdatenspeicherung ermöglichen, einen Nachhaltigkeitsstempel verpassen. Diese
Gesetze sind unmöglich nachhaltig.
Um ein aktuelles Beispiel, was als nachhaltig durchgeht, zu nennen, zitiere ich Punkt 6, Nachhaltigkeitsprüfung, des Gesetzentwurfes zum Euro-Rettungsschirm:
Die Wirkungen des Gesetzes entsprechen den Vorgaben zur Nachhaltigkeit. Die Notmaßnahmen der
EFSF erhöhen zwar zunächst anteilig den Schuldenstand Deutschlands. In dem Maße, in dem es zu
Rückzahlungen kommt, vermindert sich der nationale Schuldenstand allerdings wieder. Da Notmaßnahmen der EFSF unter strengen Auflagen …
erfolgen, … ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht
mit einer Inanspruchnahme der Bundesrepublik
Deutschland aus den ausgegebenen Garantien zu
rechnen.
Wollen Sie uns veralbern? Sagen wir unseren Kindern
doch offen: Diese Finanzpolitik verursacht nachhaltige
Schuldenberge, und die müsst ihr Kinder abtragen.
Wenn Ostern, Weihnachten und der Kanzlerin Geburtstag auf einen Tag fallen, dann wird Ihre Politik nachhaltig.
({2})
Die Arbeit des Parlamentarischen Beirates ist derzeit
eher ein Alibi. Meistens gleicht sie dem Schicksal eines
einsamen Rufers in der Wüste: Keiner nimmt sie wahr.
Die Linke will erreichen, dass der Beirat die Interessen
der Menschen und der Natur gegen Finanzhaie und Profithamster durchsetzt, und zwar durch Überprüfung der
Gesetze. Das wäre nachhaltig.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser sehr emotionalen Rede des Kollegen Lenkert möchte ich den Blick
wieder auf das Thema europäische Nachhaltigkeitsstrategie lenken;
({0})
schauen wir einmal, wie wir da weiterkommen. Die
Nachhaltigkeitsprüfung möchte ich nur ganz kurz ansprechen; denn meine Redezeit als Vertreterin der kleinsten Fraktion ist sehr kurz bemessen.
Darüber, wie die Nachhaltigkeitsprüfung abläuft, haben meine Vorrednerinnen, Frau Arndt-Brauer und Frau
Ludwig, schon eine ganze Menge berichtet. Das Verfahren ist jetzt etabliert. Nach einer zähen Anfangsphase
verlässt kaum noch ein Gesetzentwurf ohne diese Prüfung das Kabinett; so weit sind wir immerhin schon.
Auch wenn da nur platt steht: „Der Gesetzentwurf ist
nachhaltig“, haben wir schon gewisse Verbesserungen
erzielt. Es könnte allerdings noch ein bisschen mehr
sein.
({1})
Sicherlich werden wir Probleme bekommen, wenn es
darum geht, in eine umfassende inhaltliche Prüfung einzusteigen; schauen wir einmal. Aber auch hier werden
sich vielleicht noch Türen öffnen.
Wir sollten insgesamt ehrlich sein: Ist unsere Republik nachhaltiger geworden, seitdem diese Prüfung
durchgeführt wird? Der Beschluss zur Energiewende
war sicherlich kein Ergebnis einer Initiative im Rahmen
der Nachhaltigkeitsprüfung; er war essenziell notwendig. Hier hat die Nachhaltigkeitsprüfung also nichts gebracht.
Mit dem Euro-Rettungsschirm laufen wir der Nachhaltigkeit stets nur hinterher. Mit einer nachhaltigen, also
einer vorsorgenden und vorausschauenden Haushaltspolitik und Finanzmarktregulierung wäre er wahrscheinlich nicht erforderlich geworden. Für eine nachhaltige
Politik brauchen wir nicht nur eine Nachhaltigkeitsprüfung, sondern auch stringente und konsequente Konzepte, mit denen wir auf diesem langen Weg, den Kollege Kauch angesprochen hat und der absolut richtig ist
- wir dürfen uns nicht immer nur im Vierjahresrhythmus
treiben lassen, sondern wir müssen hier etwas Längerfristiges entwickeln -, weiterkommen.
Jetzt komme ich zur europäischen Nachhaltigkeitsstrategie. Sie könnte ein solches Konzept sein. Aber was
ist in der Praxis? Sie existiert seit nunmehr zehn Jahren.
Für 2011 hat der Europäische Rat eine Überprüfung und
Überarbeitung angesetzt. Es ist also an der Zeit, sich mit
der Strategie zu beschäftigen - das haben wir im Beirat
getan - und Bilanz zu ziehen, und zwar mithilfe des Monitoring-Berichtes 2009 des Europäischen Statistikamtes. Wir haben uns hier durch 100 Indikatoren gewühlt.
Das war eine interessante Arbeit. Es hat schon etwas gedauert, sich hier einen Überblick zu verschaffen, aber
wir sind fündig geworden. Es hat sich wirklich für uns
gelohnt. Kollege Kauch hat das schon angesprochen.
Im Ergebnis kann man sagen, dass wir in Deutschland
mit unserer damals von Rot-Grün eingeleiteten Nachhaltigkeitsstrategie, die von allen nachfolgenden Regierungen fortgeschrieben wurde, sehr weit gekommen sind. In
Europa ist dies noch lange nicht der Fall. Dort läuft das
alles auseinander. Der vorliegende Bericht zeigt: Es
bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, wie
stark sie sich für die nachhaltige Entwicklung engagieren. Das spricht nicht wirklich für das Vorhandensein einer Strategie.
Es kommt aber noch viel schlimmer. Wir waren in
Brüssel zu einem Gespräch mit den Verantwortlichen.
Dort hat sich gezeigt, dass die Kommission die Strategie
einfach nicht für erforderlich hält. Sie redet nur von ihrer
Strategie „Europa 2020“, durch die die Welt glücklich
wird. Die langen Linien hat sie partout nicht im Auge.
({2})
Die Krönung waren die Abgeordneten. Unsere lieben
Kolleginnen und Kollegen in Brüssel hatten diesen Begriff teilweise überhaupt noch nicht gehört.
Es lohnt sich, das Thema Nachhaltigkeit ernsthaft zu
verfolgen. Wir als rohstoffarmes Land haben hier einen
entsprechenden Bedarf, und wir müssen unsere Intelligenz für die Sicherstellung der Nachhaltigkeit einsetzen.
Hier sind wir in Deutschland relativ gut dabei, aber es
wäre auch sinnvoll, wenn aus Europa ein solcher Wink
kommen würde, gerade im Hinblick auf die Vorbereitung des neuen Erdgipfels nach 20 Jahren Rio.
Was brauchen wir? Durch die europäische Nachhaltigkeitsstrategie könnte deutlich mehr geboten werden.
Bei der anstehenden Überprüfung und Überarbeitung
müssen wir aber mehr Verbindlichkeit einfordern.
({3})
Damit es dazu kommt, müssen wir das nicht nur in der
Europäischen Kommission behandeln, sondern wir müssen auch die Parlamente beteiligen: das Europäische Parlament und auch die nationalen Parlamente. Die ganzen
Indikatoren und Ziele müssen auch parlamentarisch abgesichert sein.
In diesem Sinne sollten wir weitermachen. Vielleicht
gelingt es uns ja auch, das dicke Brett Europa irgendwann einmal zu durchbohren.
({4})
Der Kollege Andreas Jung hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem vorliegenden Bericht zeigt sich, dass wir bei
der Implementierung des Nachhaltigkeitsgedankens in
den politischen Prozess in den letzten Jahren entscheidende Schritte vorangekommen sind.
Ich will mit der Neuerung auf Initiative des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in der
letzten Legislaturperiode beginnen. Schon damals ist es
gelungen, dass die Bundesregierung in die Gemeinsame
Geschäftsordnung der Bundesministerien neu aufgenommen hat, dass bei jedem einzelnen Gesetzentwurf
eine Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen ist, dass also
nicht nur gesagt werden muss, welche Kosten entstehen
und welcher Aufwand an Bürokratie entsteht, sondern
dass in jedem einzelnen Gesetzentwurf auch gesagt werden muss, welches die Auswirkungen auf nachhaltige
Entwicklung sind. Das war ein wichtiger Punkt.
({0})
Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass der Parlamentarische Beirat wiederum auch in dieser Legislaturperiode und somit zum dritten Mal vom Deutschen Bundestag eingesetzt wurde und damit zu einem nicht mehr
wegzudenkenden Gremium im Deutschen Bundestag geworden ist. Auch ist der Parlamentarische Beirat nun beauftragt worden, die Nachhaltigkeitsprüfung der Bundesregierung zu bewerten.
Das war ein wichtiger Schritt. Davor war der Beirat
ein Gremium, das sich allgemein mit Nachhaltigkeitsfragen auseinandergesetzt hat, das Stellungnahmen abgegeben hat, das aber vom parlamentarischen Alltag losgelöst war. Jetzt haben wir harte Rechte. Wir haben
Möglichkeiten, die sogar über die der Fachausschüsse
hinausgehen, weil wir uns mit jedem einzelnen Gesetzentwurf befassen können und bei jedem einzelnen Gesetzentwurf sagen können: Hier stellen wir auf Rot, hier
sehen wir Probleme, hier führen wir Kritikpunkte an.
Das war ein wichtiger Schritt. Es ist schon gesagt
worden: Damit leisten wir Pionierarbeit. Ich finde es bemerkenswert, dass es in den allermeisten Fällen gelingt,
nicht nur fraktionsübergreifend zu diskutieren, sondern
am Ende auch fraktionsübergreifend Stellungnahmen
abzugeben. Es ist zum Beispiel von Frau Arndt-Brauer
angeführt worden, dass das oftmals ein Ringen ist und
dass das auch nicht in jedem Einzelfall gelingt. Aber wir
sagen dann: Fraktionsübergreifend nehmen wir uns dieses Themas an, fraktionsübergreifend werden wir aktiv. Das ist ein Beispiel für lebendigen und hart an der Sache
orientierten Parlamentarismus. Ich finde, auf diesem
Wege sollten wir weitergehen.
({1})
Wir stellen fest, dass das, was im Deutschen Bundestag gemacht wird, durchaus beispielgebend ist, auch
über Deutschland hinaus. In unseren Länderparlamenten, aber auch in anderen europäischen Staaten gibt es
ein solches Verfahren oder ein solches Gremium nicht.
Das Europäische Parlament ist angesprochen worden.
Ich will all das unterstreichen, was die Kollegen gesagt
haben. Es ist nicht in Ordnung, wie auf europäischer
Ebene mit den Nachhaltigkeitsstrategien, den Nachhaltigkeitsindikatoren und den Nachhaltigkeitsinstrumenten
umgegangen wird. Da braucht es deutliche Impulse. Ich
bin froh, dass wir diese fraktionsübergreifend geben
können. Wir wünschen uns, dass in Europa Nachhaltigkeit eine größere Rolle spielt und eine wichtigere Bedeutung erhält.
({2})
Wenn ich vorher gesagt habe, dass man einerseits die
Fortschritte sieht, die gemacht werden, dann müssen wir
andererseits zur Kenntnis nehmen, dass das wie bei allen
Innovationen ist: Es geht nicht von einem Tag auf den
anderen. Deshalb gab es Anlaufschwierigkeiten und gibt
es auch jetzt noch Verbesserungsbedarf. Die Anlaufschwierigkeiten sind genannt worden.
Wir haben zu Anfang unserer Prüfungen festgestellt,
dass in vielen Gesetzentwürfen der Bundesregierung
dem selbst auferlegten Erfordernis nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen wurde. Wir haben Stellungnahmen abgegeben und haben dann auch das Gespräch mit den Vertretern von Bundeskanzleramt und
den Ministerien gesucht. Wir haben mittlerweile festgestellt, dass sich das eingespielt hat und dass in den allermeisten Gesetzentwürfen entsprechende Ausführungen
enthalten sind. Wahr ist - das ist auch schon gesagt worden -, dass hinsichtlich der Qualität der Ausführungen
teilweise immer noch Spielraum nach oben besteht.
Aber wir stellen fest, dass sich hier eine ganz deutliche
Verbesserung eingestellt hat.
Ein anderer Punkt, über den wir hier im Plenum diskutieren sollten, wo viele Kolleginnen und Kollegen dabei sind, die nicht dem Parlamentarischen Beirat angehören, betrifft uns selber. Es geht um die Frage: Wie
gehen wir selbst, wie gehen die jeweils federführenden
Fachausschüsse, denen wir unsere Stellungnahmen überweisen, mit diesen Stellungnahmen um? Hier erkennen
wir ganz deutliche Defizite. Das geht auch aus dem Bericht hervor.
Wir haben in insgesamt 16 Fällen, in denen eklatant
gegen das Erfordernis einer guten Nachhaltigkeitsprüfung
verstoßen wurde, dem federführenden Fachausschuss
Andreas Jung ({3})
eine Stellungnahme zukommen lassen und darum gebeten, in den jeweiligen Beratungen darauf einzugehen.
Das entspricht auch dem Erfordernis, das der Deutsche
Bundestag in seinem Einsetzungsbeschluss postuliert
hat, nämlich dass der federführende Ausschuss über die
Stellungnahmen zu diskutieren und diese zu bewerten
hat. Wir haben festgestellt, dass das nur in fünf Fällen
tatsächlich passiert ist, in neun aber nicht.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle aus Anlass dieser
Debatte noch einmal an alle Ausschüsse und Ausschussvorsitzende appellieren: Hier müssen wir gemeinsam
besser werden. Wir wünschen uns, dass dem, was nicht
nur wir uns vorstellen, sondern was der Deutsche Bundestag gemeinsam beschlossen hat, Rechnung getragen
wird. Darauf wollen wir in Gesprächen hinweisen.
Wir sind aber auch der Meinung, es braucht noch einen weiteren Schritt. Dieses Verfahren muss mit der
konkreten Vorgehensweise, mit konkreten Anforderungen in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages verankert werden.
({4})
Das ist die logische Konsequenz aus unserer gemeinsamen Auffassung, dass Nachhaltigkeit eine besondere Bedeutung über alle Bereiche hinweg hat und kein Modethema, sondern eine Daueraufgabe ist. Deshalb gehört es
auch formalisiert in unsere Geschäftsordnung.
Herzlichen Dank.
({5})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Jung hat es gerade zu Recht gesagt: Die Implementierung der Nachhaltigkeitsprüfung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien war
sicherlich ein Meilenstein für den Parlamentarischen
Beirat. Damit es nicht bei einem Lippenbekenntnis der
Ministerien bleibt, haben wir als Parlamentarischer Beirat ein Verfahren entwickelt, mit dem wir den Ministerien auf die Finger schauen, wenn es darum geht, wie die
Nachhaltigkeitsprüfung umgesetzt wird.
Mit dem vorliegenden Bericht versuchen wir nun, die
Verfahren, die wir entwickelt haben, praxistauglicher zu
machen und ein Stück weit zu verbessern. Obgleich ich
allen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar dafür bin,
wie konstruktiv die Beratungen zu diesen Verbesserungen waren, will ich nicht konkret auf die Verbesserungen
eingehen, sondern noch einmal etwas Grundsätzliches
sagen, was mir auch in den Beratungen mit den Berichterstattern wichtig war.
So wichtig und sinnvoll solche Verfahrensverbesserungen sind, vergrößern sie ein Spannungsverhältnis, das
wir als Parlamentarischer Beirat durchaus ernst nehmen
müssen. Natürlich ist es richtig, dass wir versuchen, unsere Verfahren effizienter zu machen, sie zu professionalisieren und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es
ist im Übrigen auch gut, dass der Parlamentarische Beirat mittlerweile eine eigene Sprache gefunden hat, wie er
Dinge ausdrückt und sich über Nachhaltigkeit verständigt.
Das alles darf aber nicht dazu führen, dass wir uns
beim Thema Nachhaltigkeit in einer Art Elfenbeinturm
einbauen. Nachhaltigkeit muss Grundsatz jeder politischen Entscheidung sein. Nachhaltigkeit muss im Querschnitt aller Themen verlaufen und darf nie zu einer Delikatesse für den Parlamentarischen Beirat werden.
({0})
Deswegen reicht es nicht, wenn wir als Parlamentarischer Beirat nur bessere und professionellere Verfahren
finden. Wir müssen auch unsere Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg nehmen. Ich behaupte, uns ist das
bisher nicht ganz so gut gelungen. Sie können heute
Abend in der Parlamentarischen Gesellschaft ausprobieren, wie gut wir unsere Kollegen beim Thema Nachhaltigkeitsprüfung schon mit auf den Weg genommen haben, und sie fragen, was sie zur Diskussion um den
Indikator 15 sagen, ob sie das auch aufregt, dass man damit nichts Vernünftiges abbilden kann, oder ob sie bei
der aktuellen verkehrspolitischen Ausrichtung das Gefühl haben, dass wir die Indikatoren 4 und 11 c vernünftig abbilden.
Ich glaube, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann
werden unsere Kolleginnen und Kollegen uns nicht verstehen. Das muss man als Parlamentarischer Beirat ernst
nehmen.
Ich wage noch eine These. Ich glaube, viele Kolleginnen und Kollegen konzentrieren das Thema Nachhaltigkeit nach wie vor auf die Umweltpolitik und vernachlässigen damit die wichtigen anderen Dimensionen von
Nachhaltigkeit.
({1})
Deswegen freue ich mich über den klaren Handlungsauftrag, den wir in der Einleitung zum Bericht gegeben
haben. Darin heißt es:
Es gilt daher, alle Mitglieder des Bundestages für
die Nachhaltigkeitsprüfung und deren Bewertung
zu sensibilisieren.
Es ist richtig und wichtig, dass wir uns weiter auf den
Weg machen, unsere Verfahren zu verbessern. Aber auch
diesen Handlungsauftrag müssen wir ernst nehmen. Wir
müssen die Kollegen für ein sehr scharfes Schwert in der
Diskussion begeistern, nämlich die Nachhaltigkeit. Das
gilt für die Opposition wie für die Regierungsfraktionen.
Ich glaube, wenn uns das gelungen ist, dann erleben wir
nicht nur im Parlamentarischen Beirat spannende Debat16592
ten über Nachhaltigkeit, sondern in allen unseren Fachausschüssen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6680 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Bei-
rat für nachhaltige Entwicklung mit dem Titel „Europäi-
sche Nachhaltigkeitsstrategie“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7678,
in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 17/5295
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten Kormoranmanagement einführen
- Drucksachen 17/5378, 17/5955 Berichterstattung:
Abgeordnete Carola Stauche
Holger Ortel
Dr. Kirsten Tackmann
Undine Kurth ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Franz-Josef
Holzenkamp, Peter Altmaier, Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Christel HappachKasan, Rainer Erdel, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fischartenschutz voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für ein Kormoranmanagement
- Drucksachen 17/7352, 17/7673 Berichterstattung:
Abgeordnete Cajus Caesar
Holger Ortel
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Cajus Caesar für die Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kormoranmanagement ist für uns ein ausgewogener Artenschutz.
Wir setzen nicht auf eine Art, sondern wir setzen auf das
Gleichgewicht in der Natur, und wir setzen auf die Artenvielfalt. Das ist uns wichtig. Es geht darum, langfristig die Artenvielfalt zu sichern und zu entwickeln.
({0})
Es ist ganz wichtig, dass wir - ob wir über Ökologie
oder über den Umwelt- und Klimaschutz reden - diesen
Gleichklang, dieses Voranbringen in der Gesamtheit sehen und uns hier nicht in Details verlieren. Die Union jedenfalls will sich dieser Herausforderung stellen. Wir
setzen auf Kooperation und nicht auf Konfrontation. Das
ist uns in diesem Zusammenhang besonders wichtig.
({1})
Ich glaube, es ist wichtig, dass man nicht die Augen verschließt, sondern dass man schaut, was da passiert, und
diese Problematik zur Kenntnis nimmt.
Richtig ist, dass der Kormoran ein prominenter Vogel
ist. In der Tat, der Naturschutzbund hat ihn zum Vogel
des Jahres ausgerufen, und der Kormoran hat es auch
verdient. Jahrzehntelang hatten wir nur wenige Brutpaare, und es lag uns am Herzen, die Population zu entwickeln. Aber wenn diese Population aus dem Ruder
läuft, muss man auch den Mut aufbringen, Maßnahmen
zu ergreifen und sich diesen Herausforderungen zu stellen. Deshalb sagt die Union all denjenigen Nein, die sagen: Lass es so laufen; lass es so weitergehen! Das ist
nicht unsere Vorgehensweise. Wir wollen eine erfolgreiche Erhaltung von Biodiversität.
Zwei Jahrzehnte, besonders intensiv in den letzten
Jahren, haben sich Wissenschaftler mit der Bestandsentwicklung der Kormorane beschäftigt, und sie sind jetzt
zu dem Ergebnis gekommen: Die Population ist überhöht, und sie ist insgesamt, wenn man die Artenvielfalt
sieht, so nicht hinnehmbar und so nicht gesund. Diese
Wissenschaftler kommen sogar zu dem Ergebnis: Wenn
wir mehr FFH-Gebiete ausweisen und den Naturschutz
voranbringen wollen, dann geht das nicht mit der PopuCajus Caesar
lation, die wir jetzt haben, und deshalb müssen wir handeln.
({2})
Wir als Union jedenfalls wollen diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen. Deshalb ist es
uns wichtig, hier ein Kormoranmanagement auf den
Weg zu bringen, das die Dinge insgesamt betrachtet und
das erfolgreich handelt. Der Kormoran selbst ist ein
Fischfresser, er ist schnell, er ist hartnäckig, und er kann
bis zu 40 Meter tief tauchen. In größeren Gewässern
treibt er sogar die Fischbestände zusammen - das beherrscht er hervorragend - und jagt sie so lange, bis nicht
mehr viel übrig bleibt.
({3})
- Das sagen Sie zu Recht. Deshalb hoffe ich, dass Sie
unserem Antrag zustimmen. - Es gibt da eine große Problematik, die wir als Union aufgreifen wollen. Wir sehen
die Problematik im Zusammenhang mit denjenigen, die
Familienbetriebe haben, von denen sie leben müssen,
und denjenigen, die Lebensqualität im ländlichen Raum
bewahren wollen. Auf der einen Seite geht es also darum, die wirtschaftliche Entwicklung zu sichern. Auf der
anderen Seite wollen wir den Fischbesatz und die Artenvielfalt dort, wo wir eine intakte Natur und gesunde
Bachläufe haben, erhalten und entwickeln.
Schauen Sie sich die Entwicklung an. 1980 gab es in
Deutschland 800 Brutpaare, heute haben wir es mit
130 000 Vögeln zu tun. Daran sieht man, welche Entwicklung die Kormoranpopulation genommen hat. An
1 000 Brutpaaren allein in Nordrhein-Westfalen sieht
man, wie rasant diese Entwicklung gewesen ist. Sie ist
aber nicht positiv rasant gewesen, sondern negativ rasant.
Deshalb kommen zu Recht Beschwerden wie die folgende aus der Bevölkerung: Lieber Unionsabgeordneter
meines Wahlkreises, du musst dich kümmern. - FranzJosef Holzenkamp hat mir vor wenigen Tagen gesagt:
Cajus, wir müssen etwas tun. Setz dich ein. Wir gemeinsam schaffen das. - Ich denke, die Bundesregierung und
insbesondere unser Staatssekretär Peter Bleser sowie wir
Unionsabgeordnete werden das schaffen. Ich bin davon
überzeugt, dass unsere Bemühungen erfolgreich sein
werden.
({4})
Wir müssen feststellen, dass gerade im süddeutschen
Raum die Bestände der Zugvögel stark zunehmen und es
deshalb auch dort Handlungsbedarf gibt. Wir wollen Nationalparks und gesunde Gewässer erhalten und müssen
deshalb tätig werden.
Ein Kormoran ist etwa 80 bis 100 Zentimeter groß. Er
wiegt 2 bis 3 Kilogramm.
({5})
Was will ich damit sagen? Er verzehrt, um dieses Gewicht zu halten, 400 bis 500 Gramm am Tag. Das ergibt
pro Vogel und Jahr rund 160 Kilogramm. Wenn man alle
Kormorane berücksichtigt, dann kommt man auf rund
20 000 Tonnen täglich in Deutschland. Somit kommt
einiges zusammen. Man darf sich nicht vorstellen, dass
der Kormoran nur ganz große Fische frisst, also beispielsweise Forellen, die wir Menschen verzehren; er
fängt insbesondere Jungfische und greift somit sehr stark
in den Besatz ein. Das ist für die Artenvielfalt, aber auch
für diejenigen, die von der gewerblichen Fischzucht leben, problematisch.
Wir jedenfalls wollen effektive und langfristige Lösungen. Deshalb ist es uns wichtig, das Ganze im Dialog
zu betreiben.
({6})
Wir wollen nicht bestimmte Gruppen an die Seite drängen. Uns liegen Gewässerqualität und Artenschutz in ihrer Gesamtheit am Herzen. Es ist wichtig, dass wir den
Bestand der einheimischen Fischarten, der als gefährdet
gilt, wie Lachs, Äsche, Zander, Hecht, Karpfen, Meeresforelle, aber auch den Aal, erhalten.
({7})
Sie alle wissen, dass das Bundesamt für Naturschutz
- wenn jemand für den Naturschutz eintritt, dann ist es
dieses Bundesamt - festgestellt hat, dass 74 Prozent der
heimischen Rundmäuler und Fischarten als gefährdet
oder sogar ausgestorben gelten. Daraus können wir
schließen, dass es Handlungsbedarf gibt und wir eingreifen müssen. Das geht ganz eindeutig daraus hervor.
({8})
Wir als Union wollen, dass ein Räuber nicht mehr Spielraum bekommt,
({9})
sondern wir wollen in der Tat vernünftigen Ressourcenschutz betreiben und uns für Nachhaltigkeit einsetzen.
Wenn wir das tun, sind wir auf dem richtigen Weg.
Es ist festzustellen, dass die Fischpopulation, ob es
sich um die in freien Gewässern oder um die in heimischen Bachläufen handelt, durch den Kormoran großen
Schaden nimmt. Deshalb müssen wir das Gleichgewicht
herstellen. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Dinge konsequent anzugehen
({10})
- wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie es - und den
massiven Bestandszuwachs zurückzudrängen. Wir
orientieren uns an dem, was Wissenschaftler und Exper16594
ten festgestellt haben. Wir nehmen die Populationszunahme sehr wohl zur Kenntnis, im Gegensatz zu Ihnen.
({11})
Jedenfalls ziehen wir daraus entsprechende Schlüsse,
und das ist wichtig.
Ich denke, jeder kennt in seinem Wahlkreis Gegenden
mit idyllischen Bachläufen und gesunder Gewässerqualität, und dort können wir uns über den Fischreichtum
und insbesondere über seltene Fische freuen. Wir als
Union wollen den Artenschutz erhalten und entwickeln.
({12})
Es ist in der Tat wichtig, dass man nicht nur die Aspekte
von Umwelt- und Naturschutz, sondern auch die Interessen derjenigen berücksichtigt, die ihre wirtschaftliche
Existenz sichern müssen. Wir wollen die Familienbetriebe nicht im Stich lassen. Wir denken auch an die vor
Ort arbeitenden und lebenden Menschen und wollen sie
einbeziehen.
Bisher sind Schutzmaßnahmen wie das Abspannen
und Überspannen von Wasserflächen relativ erfolglos
geblieben, und deshalb muss man über andere Maßnahmen nachdenken. Die Union hat sich auch in den Ländern schon sehr früh damit beschäftigt. Sie hat in Schleswig-Holstein eine Kormoranverordnung erlassen. Wir
können dank unserer Bundesministerin für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, auch
auf europäischer Ebene einige Aktivitäten vorweisen. Es
ist zudem wichtig, dass die im Rahmen der Agrarministerkonferenz eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe
„Kormoran“ vorankommt.
Wir haben bereits Maßnahmen zur Abwehr fischereiwirtschaftlicher Schäden ergriffen. Allerdings müssen
diese durch entsprechende politische Maßnahmen flankiert werden, die über die Bundesländer hinaus abgestimmt werden müssen.
({13})
Ich glaube, es macht wenig Sinn, wenn auf der einen
Seite eines Bachlaufs, die zu Niedersachsen gehört, etwas anderes passiert als auf der anderen Seite, die zu
Nordrhein-Westfalen gehört. Es macht daher mehr Sinn,
wenn die Bundesregierung flankierende Maßnahmen auf
den Weg bringt. Dazu gehören auch konkrete und umsetzbare Maßnahmen für ein effektives Kormoranmanagement.
Wir jedenfalls wollen klare Lösungen, ein zügiges
Verfahren und eine effektive Umsetzung. Wir wollen
einen erfolgreichen Vogelschutz ebenso wie einen effektiven und erfolgreichen Fischschutz. Wir wollen eine
ausgewogene Artenvielfalt. Wir wollen die Fischereiwirtschaft nicht im Stich lassen. Wir wollen nicht nur
über Regelungen reden, sondern auch handeln. Ich bin
froh, dass wir als Union im Dialog sowohl mit den Fischereiverbänden als auch mit den Fischereivereinen
und den vielen Ehrenamtlichen stehen und im Austausch
mit den Naturschutzverbänden alles zusammenführen
können.
({14})
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, die Koalition und
die Bundesregierung, auf einem erfolgversprechenden
Weg sind.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ute Vogt
das Wort.
({0})
Lieber Herr Kollege Caesar, was Sie geschafft haben
mit Ihrem Antrag, ist in der Tat eine bemerkenswerte Allianz aus Regierungskoalition und Linksfraktion. Es ist
eine Allianz, die mit vereinten Kräften den Anglern und
Fischern Sand in die Augen streut und auf ziemlich
plumpe Weise den Schutz von Fischarten gegen den
Vogelschutz ausspielt.
({0})
Sie verfallen mit Ihren Anträgen zurück in ein ziemlich
schlichtes Denken von vorgestern. Sie teilen Arten
einerseits in nützlich, also schützenswert, und andererseits in Nahrungskonkurrenten, also nicht schützenswert,
ein. Diese Einteilung ist in der Tat schon lange überholt.
Sie widerspricht nicht nur einem modernen Natur- und
Artenschutzdenken, sondern auch der europäischen und
unserer eigenen nationalen Gesetzgebung.
({1})
Alle Arten, ob Vögel oder Fische, sind erst einmal
grundsätzlich in ihrem Bestand zu erhalten, und ihre Lebensräume sind entsprechend zu schützen. Weder das
Bundesnaturschutzgesetz noch die FFH-Richtlinie noch
die Vogelschutzrichtlinie räumen einer wirtschaftlich bedeutenderen Art gegenüber einer anderen Art eine gewisse Vorzugsbehandlung ein. Diese Idee, die in Ihren
Anträgen zum Ausdruck kommt, stammt allein von Ihnen.
({2})
Die Wirtschaftlichkeit ist im Zusammenhang mit dem
Artenschutz schlicht kein Kriterium. Schon gar nicht
wird die europaweite Reduktion des Kormoranbestandes
um 25 Prozent, also um ein ganzes Viertel, in irgendeiner Form auf europäischer Ebene gefordert oder unterstützt, auch nicht, wenn Sie diese Idee euphemistisch
verbrämen und als Kormoranmanagement tarnen. Es
geht ja tatsächlich darum, eine Art zu reduzieren.
({3})
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, fressen
Kormorane Fische.
({4})
Es ist auch nachzuvollziehen, dass sich Angler und
Fischer darüber ärgern und dadurch gestört fühlen. Aus
individueller Sicht kann man all das verstehen. Aber es
gibt bereits entsprechende Möglichkeiten. Es gibt sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene
Ausnahmeregelungen,
({5})
nach denen Kormorane an Fischteichen vergrämt oder
gegebenenfalls sogar abgeschossen werden dürfen.
Diese Ausnahmeregelungen gibt es heute schon.
({6})
Die Bundesländer, zumindest die meisten, machen auch
Gebrauch von solchen Ausnahmeregelungen. Es besteht
also keinerlei Bedarf, auf Bundesebene eine weiter gehende Regelung einzuführen.
Ich will Ihnen noch einmal die Zahlen vor Augen führen. Nach der Analyse des von Ihnen geführten Landwirtschaftsministeriums wurden im letzten Jahr in zwölf
Bundesländern knapp 27 000 Kormorane abgeschossen.
Das ist ja eine beträchtliche Anzahl. In Deutschland befinden sich etwa 21 000 Brutpaare. Der Bestand der Kormorane, die sich im Winter in Deutschland befinden,
nämlich 51 000, wurde durch diese 27 000 Abschüsse in
etwa halbiert. Ich finde, aufgrund dieser hohen Abschusszahlen und auch aufgrund der Entschädigungszahlungen, die sehr viele Bundesländer leisten, wenn es zu
Schäden durch Kormorane kommt, besteht kein weiterer
Regelungsbedarf. Vor allen Dingen gibt es auch keine
weitere Regelungsmöglichkeit. Die von Ihnen hier vorgelegten Anträge sind Schaufensteranträge; denn es gibt
in der Europäischen Union keine Mehrheit für Ihr sogenanntes Kormoranmanagement.
({7})
Eine entsprechende Vorlage wurde nämlich schon mehrfach abgelehnt.
({8})
Kolleginnen und Kollegen, die SPD ist gerne bei Ihnen, wenn es darum geht, Fischarten zu schützen.
({9})
Da sind wir gerne an Ihrer Seite. Der Weg dahin - ich
sage es Ihnen gerne noch einmal - darf aber nicht in der
Weise beschritten werden, dass man eine andere Vogelart an die Seite drängt, sondern der Weg des Fischschutzes führt über die Verbesserung der Gewässerqualität
und über die Verbesserung der Durchgängigkeit von
Fließgewässern.
({10})
Wenn Sie es wirklich ernst meinten mit dem Fischschutz, dann müssten Sie doch Ihre Energie darauf konzentrieren, auf europäischer Ebene auf die Umsetzung
der Wasserrahmenrichtlinie hinzuarbeiten,
({11})
statt im nationalen Alleingang etwas gegen die Kormorane zu unternehmen.
Ich jedenfalls kann für die SPD-Fraktion sagen: Wir
halten es für unfair,
({12})
wenn von Menschen gemachte Probleme beim Fischbestand und bei der Artenvielfalt von Fischen nun einzig
und allein den Kormoranen angelastet werden. Deshalb
wird die SPD-Fraktion die vorliegenden Anträge mit
großer Mehrheit ablehnen.
({13})
Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat für die
FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, heute Abend
hier zum Thema Kormoran sprechen zu dürfen; denn es
ist mir ein Anliegen, dass wir gerade bei diesem Thema,
dem Kormoran, zu einem sachverständigen Naturschutz
kommen. Ich freue mich auch sehr darüber, dass ich in
der gestrigen Ausschussberatung von einer Seite Zustimmung bekommen habe, von der ich sie gar nicht erwartet
hätte,
({0})
nämlich nicht nur von der CDU/CSU, sondern auch von
der Linken sowie vom Fischereiexperten der SPD-Bundestagsfraktion sowie des Deutschen Bundestages,
Herrn Holger Ortel,
({1})
und von Dr. Wilhelm Priesmeier. Ich bedanke mich ganz
herzlich für die Zustimmung zu dem Antrag.
({2})
Der Kormoran ist das Beispiel in Deutschland für erfolgreichen Naturschutz. Frau Kollegin Vogt, eine Vogelart mit fast 2 Millionen Exemplaren durch ein Management zu reduzieren, ist völlig unmöglich.
({3})
Sie haben eine absolut eingeschränkte Sicht. Vor 20 Jahren war der Kormoran stark gefährdet. Heute ist er eine
Allerweltsvogelart. Die EU-Vogelschutzrichtlinie führt
ihn in ihren Anhängen gar nicht mehr auf. Wir haben
neun Forderungen für eine nachhaltige Bestandsregulierung
({4})
aufgestellt, die offensichtlich mehrheitlich Zustimmung
findet.
Es ist bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es trotz eines sehr eindeutigen Votums in der
Bevölkerung Naturschützer gibt, die sich mit diesem Erfolg des Naturschutzes nicht zufriedengeben, sondern
den Vogel weiterhin auch dort schützen wollen, wo dadurch andere Arten, beispielweise Fischarten, gefährdet
werden.
({5})
Wir leben in einer Kulturlandschaft. Es ist völlig unstrittig, dass zum Schutz der Wälder Rehwild geschossen
wird, dass wir ein Management für Rotwild haben. Es ist
völlig unstrittig, dass wir in unserer Kulturlandschaft
Wildschweine bejagen. Allein bei mir im Wahlkreis hat
es eine Verzehnfachung des Wildschweinbestandes innerhalb der letzten 30 Jahre gegeben, und natürlich werden sie bejagt. Genauso unstrittig sollte es sein, dass der
Kormoran dort, wo er zu Schäden an autochthonen
Fischbeständen führt, ebenfalls reguliert wird.
({6})
Der Schutz autochthoner Bestände ist unser Anliegen,
genauso wie der Artenschutz unter der Wasseroberfläche. Wir wollen den Erhalt von Teichwirtschaften, gerade in FFH-Gebieten. Jeder, der ein bisschen Ahnung
von unserer Kulturlandschaft hat, weiß, dass wir die
Fischbestände dort nicht durch Überspannung der Teiche
schützen können; das geht überhaupt nicht. Sie sind zu
groß. Ich will als Schleswig-Holsteinerin natürlich die
Fischerei am Großen Plöner See erhalten. Auch dort ist
es nicht möglich, die Fischbestände durch Überspannen
zu schützen.
Wer einmal mit Sabine Schwarten, der einzigen deutschen Fischereimeisterin, gesprochen hat, der weiß, wie
sehr die Fischerei unter dem Kormoran leidet. Sie hat
Vögel geschossen und hinterher 40 cm lange Zander aus
dem Bauch herauspräpariert. Das ist ein sehr deutliches
Beispiel dafür, wie sehr der Fischbestand durch den Kormoran gefährdet ist.
({7})
Wir wollen - das will ich ganz deutlich sagen - mit unserem Antrag auch Anerkennung gegenüber den Anglerinnen und Anglern zum Ausdruck bringen, die in ihrem
anerkannten Naturschutzverband herausragende Arbeit
zum Schutz der Gewässer und in der Umweltbildung leisten.
Schauen wir doch einmal in die Presse. In der MainPost lesen wir unter der Überschrift „Kormoran frisst
den Main leer“, was Willi Wingenfeld, Fischereiverbandsbeauftragter, dazu sagt:
Die reinen, selbst ernannten Vogelschützer haben
kein Verständnis. Für die sind Fische Vogelfutter.
- Genauso wie für Sie, Frau Vogt. ({8})
Nach dem Motto: Solange es Fischstäbchen gibt,
brauchen wir keine Fische draußen.
Das ist bemerkenswert. - In Franken sagt ein Mitarbeiter
der unteren Naturschutzbehörde, ein Biologe, er stelle
sich hinter die Teichwirte in seinem Land. Im Zusammenhang mit der Karpfenernte in der Lewitz berichtet
der NDR, dass der Fischer Hermann Stahl die Verluste
auf 30 Prozent senken konnte, seit er intensiver gegen
den größten Fischräuber, den Kormoran, vorgehen kann.
Früher betrugen die Verluste bis zu 75 Prozent.
Das Bundesamt für Naturschutz führt in der Roten
Liste der Süßwasserfische und Neunaugen aus: Eine befriedigende Lösung des Kormoranproblems ist bisher
nicht in Sicht, und zu der Frage, wie der Äsche geholfen
werden kann, gibt es erheblichen Forschungsbedarf.
({9})
Die fachliche Meinung des Bundesnaturschutzamtes
sollte ernst genommen werden. Es reicht nicht, zu sagen,
dass es Umweltverbände gibt, die nicht wollen, dass etwas unternommen wird.
({10})
Wenn wir uns eine entsprechende Veröffentlichung
des Bundesumweltministeriums aus dem Oktober 2011
anschauen, sehen wir, dass auch darin der Kormoran als
Fraßräuber benannt wurde. Ich glaube, es ist an der Zeit,
dass wir beim Kormoran zu einem Umdenken kommen.
({11})
Liebe Kollegin Kurth, ich fand es schon bemerkenswert, dass Sie gestern im Ausschuss erstmalig davon gesprochen haben, dass wir einen Interessenkonflikt beim
Thema Kormoran haben. Frau Kollegin Behm hat in der
ersten Rede zum Kormoranantrag ausgeführt, dass es
durchaus Gewässerabschnitte geben kann, in denen tatsächlich Bedarf an einem Management für bestimmte
Arten besteht.
({12})
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Kormoran
in den küstenfernen Regionen Deutschlands, also in
Süddeutschland, eine invasive Art ist.
({13})
Er hat Brutbestände dort aufgebaut, wo er früher einmal
allenfalls als Irrgast vorgekommen ist. Es ist auch klar,
dass wir bestimmte Fischarten haben, die sich der neuen
Situation nicht angepasst haben. Insbesondere gilt dies
für die Äsche, aber auch für andere Fischarten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind aufgefordert, die Akzeptanz für den Naturschutz zu erhalten.
Dazu gehört auch, dass wir ein Management organisieren, wenn sich eine Art, wie es beim Kormoran der Fall
ist, so stark vermehrt, dass andere Arten in ihrem Bestand gefährdet sind. Es ist richtig, was der Fischereiverband von Brandenburg sagt: Auch Fische brauchen
Schutz. - In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich, meinem
Antrag zuzustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat ergibt sich bei dieser Debatte eine etwas ungewöhnliche Konstellation. Das hat mit der Tatsache zu
tun, dass sich offenbar in mehreren Fraktionen Sachkenner mit dieser Materie auseinandergesetzt haben und
dementsprechend sinnvolle Anträge eingebracht haben.
({0})
Die Linke hat bereits im April zum Kormoranmanagement einen Antrag eingebracht. Die Koalitionsfraktionen haben dann im Oktober nachgelegt und die wesentlichen Punkten unseres Antrages erfreulicherweise
bei uns abgeschrieben und übernommen. Das ist in Ordnung; denn der Antrag, den wir eingebracht haben, ist
ein sehr kluger Antrag.
({1})
Weil Sie es fertigbringen, mit keinem Wort den Antrag der Linken zu erwähnen, der nun wirklich sehr differenziert und sachlich ist, will ich diese Anmerkung
machen:
({2})
Zumindest bei dieser K-Frage hätten Sie einmal ausnahmsweise sachlich und nicht ideologisch mit uns diskutieren und dem Antrag einfach zustimmen können.
Dann wären wir schon ein gutes Stück weiter.
({3})
Nun aber zu den Fakten. Bis auf die Grünen und bis
auf Ute Vogt wissen alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, dass der Kormoran ein großes Problem darstellt. 1990 gab es 5 000 Brutpaare. 2010 gab es schon
24 000 Brutpaare. Das ist in der Tat - darüber können
wir uns alle freuen - ein Erfolg für den Artenschutz. Das
ist auch erst einmal in Ordnung. Aber - darüber diskutieren wir hier zu Recht - der Artenschutz endet eben nicht
an der Wasseroberfläche, liebe Kollegen von den Grünen. Um dieses Problem geht es heute.
({4})
Ich habe mir die Reden, die damals zu Protokoll gegeben wurden, angeschaut. Den Grünen und in diesem
Falle auch Ute Vogt sei gesagt: Was Sie in dieser Debatte
nicht begriffen haben, ist, dass Artenschutz eben nicht
nur für kleine, niedliche Tierchen mit Knopfaugen gilt
- das ist Ihre Position -, sondern beispielsweise auch für
den Aal und für die Äsche.
({5})
Nun weiter zu den Fakten. Erstens. In einer Studie des
Thüringer Umweltministeriums zur Kormoranüberwinterung an Fließgewässern in Thüringen heißt es abschließend - das ist das Fazit der Wissenschaftler -: Der daraus resultierende Fraßdruck auf die Äschenpopulation
kann nicht mehr kompensiert werden.
Zweitens. Der Kormoran frisst pro Tag - das besagen
alle wissenschaftlichen Untersuchungen - zwischen 300
und 500 Gramm Fisch. Das macht pro Jahr insgesamt
zwischen 15 000 und 25 000 Tonnen. Das ist übrigens
mehr, als die gesamte deutsche Binnenfischerei produziert.
Drittens. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine
Anfrage der Linken frisst der Kormoran pro Jahr rund
340 Tonnen des europäischen Aals, einer Art, die mittlerweile fast vollkommen ausgestorben ist.
Viertens ein Beispiel aus Brandenburg, das schon zu
Recht angesprochen wurde: Die dort existierenden kleinen Teichwirtschaften in Form von Familienbetrieben
- das müsste die Kollegin Behm doch wissen - hatten im
letzten Jahr einen Verlust von 1 Million Euro bei einem
Gesamtumsatz von 3,6 Millionen Euro. Da kann man
doch nicht einfach sagen: „Das ist uns egal“, insbesondere wenn man sich die regionale Wirtschaft auf die
Fahnen schreibt. In dieser Frage sind Sie schlicht unglaubwürdig.
({6})
Deswegen - in dem Punkt ist unser Antrag wirklich
besser - fordern wir, wie es bereits in Dänemark erfolgreich praktiziert wurde, dass man Naturschützer, Fischer
und Angler in diesen Prozess einbezieht. Wir fordern die
Bundesregierung auf, nachhaltig dafür zu sorgen, diese
Gruppen einzubinden.
({7})
Die Kollegin Tackmann hat hierzu heute eine sehr fachkundige Erklärung zur Abstimmung vorgelegt.
Ich will Ihnen eines sagen - auch das ist bereits angesprochen worden -: Der Dank sollte heute in der Tat allen Naturschützern und Artenschützern gelten, aber eben
auch den Anglern, ohne deren Besatzmaßnahmen es beispielsweise den europäischen Aal in unseren Gewässern
gar nicht mehr geben würde. Insofern gilt ihnen der ausdrückliche Dank des Bundestages.
({8})
Es ist schon bemerkenswert, dass all diese Fakten Sie
nicht überzeugen können. Zum Schluss möchte ich aber
doch noch eine Anmerkung zu CDU/CSU und FDP machen. Im Gegensatz zu Ihnen entscheidet die Linke
grundsätzlich nach Sacherwägungen.
({9})
Wir lesen, was in dem Antrag steht. Sie aber schauen nur
darauf, wer den Antrag eingebracht hat. Das heißt, Sie
sind ideologisch, und wir sind unideologisch.
({10})
Das ist die Wahrheit, und weil wir das nicht nur postulieren, sondern auch machen, werden wir heute Ihrem
Antrag selbstverständlich zustimmen, genauso wie wir
hoffen, dass Sie - ebenfalls unideologisch und an der Sache orientiert - unserem Antrag zustimmen werden.
({11})
Dafür möchte ich gerne werben. Das wäre dann in der
Tat ein gutes Zeichen für einen ganzheitlichen Artenschutz, der in diesem Bereich dringend erforderlich ist.
({12})
Letzte Rednerin in dieser grundsätzlichen und leidenschaftlichen Debatte ist die Kollegin Undine Kurth für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für das Wort. Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste auf der
Tribüne! Das Ganze klingt ziemlich heiter; dabei ist es
eigentlich ein relativ ernstes Thema.
({0})
Ich frage mich, wie oft wir hier noch über dieses
Thema reden müssen, ehe Sie endlich einmal bereit sind,
die Rechtslage zu akzeptieren
({1})
und sich damit auseinanderzusetzen, dass wir uns über
deutsches und europäisches Naturschutzrecht unterhalten. Sie hingegen tragen emotional zum Fischartenschutz
vor, meinen aber eigentlich wirtschaftliche Interessen.
({2})
- Doch.
({3})
Natürlich stört der Artenschutz, wenn es eigentlich um
wirtschaftliche Interessen geht. Der steht im Wege; den
kann man nicht brauchen. Wir sollten uns endlich einmal
klarmachen, dass man nicht jeden Konflikt zwischen
wirtschaftlichen Interessen und dem Arten- und Naturschutz mit dem Gewehr lösen kann. Das führt zu keinem
Ergebnis.
({4})
Um es gleich vorwegzunehmen: Wir werden keinem
der beiden Anträge - weder dem der Linken noch dem
der Koalition - zustimmen.
({5})
- Gott sei Dank? Sie scheinen ja selber nicht viel von Ihrem Antrag zu halten, wenn Sie sagen, wir sollten ihm
nicht zustimmen.
({6})
Weil ich nur relativ wenig Zeit habe, werde ich mich
nur auf wenige Punkte konzentrieren.
({7})
- Das glaube ich nicht; Sie sollten besser zuhören.
Undine Kurth ({8})
Erstens. Sie tragen immer wieder die allseits beliebte
Forderung vor, man müsse den Fischartenschutz mit
dem Vogelschutz gleichstellen.
({9})
Ute Vogt ist darauf schon eingegangen. Sie sollten zur
Kenntnis nehmen: Es gibt im Artenschutz gar keine Vorrangregelung.
({10})
Das deutsche und das europäische Naturschutzrecht bestimmen nach Daten und Fakten Schutzkategorien. An
die haben sich alle verbindlich zu halten. Ihnen geht es
aber gar nicht - das behaupte ich - um mehr Fischartenschutz, sondern um die Ertragslage der Fischer.
({11})
Das ist völlig in Ordnung. Darum muss man sich auch
kümmern. Man muss dann aber die Instrumente einsetzen, die wirklich eine Verbesserung bringen.
({12})
- Sie kennen das. Sie wissen, dass wir für die Gewässer
wesentlich mehr tun müssen. Dort, wo Fischer wirklich
unter extremem Druck leiden, können wir mit Ausgleichsmaßnahmen ansetzen oder Sonderregelungen
zum Tragen bringen.
({13})
- Zu denen komme ich gleich noch.
Ihnen ist berichtet worden, dass es Eingriffsmöglichkeiten gibt. Es liegt nämlich nicht - das ist das einzig
Entscheidende - im Belieben irgendeines Mitgliedstaates, festzulegen, an welche Artenschutzregelungen er
sich gerade halten will und welche ihm gerade nicht passen. Das Recht ist verbindlich. Wenn Sie der Meinung
sind, dass der Kormoran inzwischen eine Allerweltsvogelart ist,
({14})
wobei ich ja eher den Eindruck hatte, es sei der böse
Wolf, dann stellen Sie doch bitte den entsprechenden
Antrag und bringen empirische Belege, die einem solchen Antrag, nämlich den Kormoran artenschutzrechtlich neu einzugruppieren, als Grundlage dienen können.
Das wäre doch eine Variante.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte, Frau Happach-Kasan.
Frau Kollegin Christel Happach-Kasan, bitte schön.
Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage. - Sicherlich haben Sie festgestellt,
dass die Grünen in Rheinland-Pfalz inzwischen die Umweltministerin stellen und damit an einer entscheidenden
Stelle mitwirken. Sicherlich haben Sie auch festgestellt,
dass diese Umweltministerin erst kürzlich darauf hingewiesen hat, dass die Fischbestände an den Nebenflüssen
von Rhein und Mosel erstmalig existenziell gefährdet
seien. Außerdem hat sie festgestellt, dass die Zahl der
Brutplätze für den Kormoran um ein Drittel zugenommen hat. Dies hat sie als bedenklich bewertet.
({0})
Sie hat außerdem die gestiegenen Bruterfolge als alarmierende Hinweise bezeichnet. Ist Ihnen dieses bekannt? Wie beurteilen Sie die Bemerkungen von Frau
Ministerin Höfken?
({1})
- Sie war bei uns im Ausschuss!
Die Frau Ministerin wird sicherlich im nächsten
Schritt überlegen, welche der möglichen Ausnahmeregelungen, die das Naturschutz- und Artenschutzrecht vorsehen, zur Anwendung kommen sollen, wenn sich jetzt
ein kausaler Zusammenhang offenbaren würde. Ganz
einfache Antwort!
Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Das, was Sie
von der Koalition und von der Linken in Ihren Anträgen
vortragen, ist zum Teil wirklich abenteuerlich und fordert zum Rechtsbruch auf.
({0})
Machen Sie sich bitte bewusst: Der Kormoran ist nach
Art. 2, 5, 6 und 4 Abs. 2 der europäischen Vogelschutzrichtlinie geschützt.
({1})
Daraus ergeben sich erhebliche Zugriffsverbote und ein
prinzipielles und generelles Jagdverbot.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Wir können das heute Abend gerne so weiterführen.
Von wem diesmal, bitte?
Vom Kollegen Jan Korte.
Ja.
({0})
- Na ja, diese Allianz gibt’s doch gerade!
Bitte schön.
Liebe Kollegin Kurth, Sie haben gerade die EU-Vogelschutzrichtlinie angesprochen. Lassen Sie mich kurz
daraus zitieren. Dort heißt es in Art. 2:
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder
auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den
ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen
Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.
Wie konstruieren Sie damit bitte einen Gegensatz
zwischen den vorliegenden Anträgen und der geltenden
EU-Vogelschutzrichtlinie? Das verstehe ich nicht.
({0})
Jetzt hat der Angler gesprochen. - Ich wollte des Weiteren sagen: Alle Maßnahmen, die zu einer Eingrenzung
oder Beeinflussung der Population führen sollten, sind
nach § 38 Bundesnaturschutzgesetz als Eingriff zu bewerten. - Darauf haben Sie gerade auch abgehoben. Ein
Eingriff, wenn es darum geht, Veränderungen vorzunehmen, kann einer Verträglichkeitsprüfung unterzogen
werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch die geplante Maßnahme eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensräume des Kormorans zu erwarten ist oder der günstige
Erhaltungszustand der Bestände gefährdet wird.
({0})
- Herr Döring, mit dieser Haltung werden Sie im Naturschutz und im Artenschutz natürlich besonders weit
kommen. Sie stellen sehr deutlich klar, in welche Richtung Ihr Denken geht, in welche Richtung Ihr Verhältnis
zum Natur- und Artenschutz geht.
({1})
Wenn Sie meinen, ein scharfer Schuss zur rechten Zeit
sei das Richtige, dann ist damit auch geklärt, was das bedeutet, was in Ihrem Antrag steht.
({2})
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im März dieses Jahres
eine solche Vergrämungsaktion, wie sie in der Gegend
von Radolfzell durchgeführt worden ist, für unrechtmäßig erklärt hat. Es wird zukünftig nicht mehr zu solchen
Aktionen kommen. Es wäre gut, wenn Sie endlich einmal die Rechtslage und die Rechtsprechung zur Kenntnis nähmen.
({3})
Wie gesagt: Es ist kein Geheimnis, dass der Kormoran gerne und gut Fisch isst. Das weiß jeder; das haben
wir, Frau Happach-Kasan, übrigens noch nie geleugnet.
Wir verkennen auch nicht das Problem, das es mit Populationen gibt, wenn sich große Kolonien bilden. Aber
dort müssen spezifische Lösungen gefunden werden;
man kann sie auch finden, denn das Artenschutzrecht
gibt bereits jetzt Ausnahmemöglichkeiten her, aber eben
keine generellen, sondern nur im in der Sache geprüften
Einzelfall.
Es ist doch geradezu aberwitzig, wenn wir uns hier
hinstellen und sagen: Wir haben zwar europäisches Naturschutz- und Artenschutzrecht, aber wir müssen uns
gerade einmal nicht daran halten. Wieso glauben Sie eigentlich, dass dieser Rechtsbereich der individuellen
Entscheidung unterliegt, während man sich an andere
Rechtsvorschriften zu halten hat? Das ist doch nicht beliebig.
({4})
Wir haben geltendes Recht, und das ist verbindlich für
alle.
({5})
- Doch, er widerspricht geltendem Recht, denn Managementpläne sind gar nicht möglich.
Wir machen dann Schluss.
({0})
Das ist wahrscheinlich auch besser, denn wir müssen
noch oft üben, ehe Sie offensichtlich bereit sind, zu begreifen, was Naturschutzrecht bedeutet.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Undine Kurth.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ökosysteme schützen,
Artenvielfalt erhalten - Kormoranmanagement einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5955, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5378 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der größte Teil der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Linksfraktion und einige Stimmen aus der sozialdemokratischen Fraktion. Enthaltungen? - Keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Fischartenschutz voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für ein
Kormoranmanagement“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7673,
den Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 17/7352
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Linksfraktion und einige Stimmen aus der sozialdemokratischen Fraktion.
({0})
- Ich korrigiere mich: zwei Stimmen. - Gegenprobe! -
Das sind der größte Teil der Fraktion der Sozialdemokra-
ten sowie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthal-
tungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Ich darf noch darauf hinweisen, dass Frau Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann eine Erklärung zur Abstimmung
abgegeben hat.1)
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung und zum Betrieb eines bundesweiten
Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ ({2})
- Drucksache 17/7238 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
({4})
1) Anlage 2
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit der ersten Rednerin zum neuen Thema
schenken würden, wäre das schön; denn es ist für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank für das Wort. - Nach dieser sicherlich sehr
wichtigen Debatte um das Kormoranmanagement wenden wir uns nun einem vielleicht auch nicht ganz unwichtigen, einem sicherlich wichtigen gesellschaftlichen
Thema zu, nämlich der Gewalt gegen Frauen, und der
Frage, was wir dagegen tun können.
Das Hilfetelefon, um das es heute geht, ist ein zentrales Vorhaben der Gleichstellungspolitik in dieser Legislaturperiode. Ich bin sehr froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf, den die Frauenministerin vorgelegt hat, nun
einen entscheidenden Schritt weitergehen, auch wenn
wir noch nicht ganz auf der Ziellinie sind. Noch einiges
ist in der Umsetzung und Planung zu machen.
Mit dem Hilfetelefon erfüllen wir eine internationale
Verpflichtung. Das Übereinkommen des Europarats zur
Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
und häuslicher Gewalt hat Deutschland im Frühjahr als
eines der ersten Länder unterschrieben. Wir nehmen einen wesentlichen Punkt heraus und setzen die Konvention um.
Zugleich erfüllen wir hiermit ein Versprechen aus
dem Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen,
mit der Einrichtung der bundesweiten Notrufnummer ein
Hilfesystem im Bereich Gewalt gegen Frauen zu etablieren. Außerdem erstellen wir einen Bericht zur Lage der
Frauenhäuser, an dem das Frauenministerium ebenfalls
arbeitet.
({0})
- Soviel ich weiß, wird er bald vorgelegt. Es wäre nicht
schlecht gewesen, ihn vorher zu haben, aber er wird
nachgeliefert. - Das Wichtigste ist aber nicht, dass wir
irgendwelche Versprechen erfüllen und abstrakte Regelungen beschließen, sondern dass wir ein konkretes Hilfeprojekt etablieren, das Frauen in besonders gewaltbehafteten Lebenssituationen konkret hilft.
Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in Deutschland wird zumeist unterschätzt. Wenn es nicht die Studie
des Frauenministeriums gäbe, würde man nicht für möglich halten, dass bereits 40 Prozent aller Frauen einmal
in ihrem Leben mit Gewalt konfrontiert gewesen sind,
und zwar in unterschiedlichen Formen: angefangen bei
der häuslichen Gewalt bis hin zur sexuellen Belästigung
am Arbeitsplatz. Stalking, Genitalverstümmelung und
Zwangsverheiratung sind weitere Arten der Gewalt.
25 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben in
einer früheren oder in ihrer aktuellen Partnerschaft Ge16602
walt erfahren. Es ist also ein wirklich wichtiges Thema,
um das wir uns heute kümmern.
({1})
Diesem Problem steht eine breite Hilfestruktur gegenüber. Es gibt 360 Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen, an die 500 Beratungsstellen und Notrufe sowie besondere Beratungsstellen für besondere Problemlagen,
für Opfer von häuslicher Gewalt oder Opfer von Frauenhandel. Viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, aber auch
viele Profis arbeiten in diesem Bereich. Sie engagieren
sich besonders und tun nicht nur das, was sie vom Arbeitsvertrag her zu leisten hätten, also zum Beispiel
38,5 Stunden arbeiten, sondern sie setzen sich in der Regel auch darüber hinaus ein. Ich finde es in diesem Zusammenhang wichtig, den Mitarbeiterinnen in den Beratungsstellen und Frauenhäusern unseren Dank auszusprechen.
({2})
Die schon angesprochene Studie zeigt - und das ist
erschreckend -, dass in einer konkreten Notsituation nur
20 Prozent der Frauen das Hilfeangebot überhaupt wahrnehmen können. 80 Prozent, also die weitaus größte
Zahl der betroffenen Frauen, findet das nötige Angebot
in einer solchen Situation nicht. Das ist auch kein Wunder; denn Frauenhäuser sind in der Öffentlichkeit bewusst nicht präsent. Wenn man sich in einer Gewaltsituation befindet, hat man nicht die Zeit, das
Telefonbuch zu wälzen oder sich zu erkundigen. Es geht
deswegen darum, die Nummer zu kennen und zu wissen,
an wen man sich wenden kann. Ziel des neuen Angebots
ist es, Bedarf und Angebot auf einfache Weise besser zusammenzubringen, damit ein Weg offensteht, wenn es
nötig ist. Daraus ergeben sich bestimmte Merkmale und
Anforderungen, die wir an diese Helpline stellen.
Es geht um eine Lotsenfunktion. Es geht nicht darum,
in Konkurrenz zu treten oder selbst ein Angebot zu unterbreiten, sondern es geht darum, zu vermitteln. Wir setzen dazu qualifizierte Kräfte ein, die aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage sind, mit den Frauen in der konkreten Situation zu kommunizieren, auf sie einzugehen
und ihnen zu erklären, was für sie in der jeweiligen Situation am besten ist. Wir müssen für ein mehrsprachiges Angebot sorgen, um Frauen unterschiedlicher Herkunft beraten zu können. Es muss anonym, vertraulich,
kostenlos und - ganz wichtig - 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche zur Verfügung stehen, also rund um
die Uhr.
Wir lassen uns das einiges kosten. Die Prognose, auch
aufgrund der Erfahrung anderer Länder, ist: Wir brauchen dafür ungefähr 80 bis 90 Kräfte. Wenn das Ganze
läuft, wird das jedes Jahr etwa 6 Millionen Euro kosten.
Das Angebot steht allen betroffenen Frauen zur Verfügung, aber auch dem Umfeld, zum Beispiel der Nachbarin, die Geräusche hört, der Freundin, die blaue Flecken sieht, oder dem Mitarbeiter im Jugendzentrum, der
Anhaltspunkte dafür hat, dass ein junges Mädchen in
den Ferien im Heimatland seiner Eltern zwangsverheiratet wird. Auch diesen Menschen hilft die Helpline, auch
sie sollen sich an die Helpline wenden. Mit diesem Gesetz wird der Appell verbunden, das Hilfetelefon zu nutzen, nicht wegzuschauen, sondern zu helfen.
Ganz wichtig ist aber auch, dass das Angebot ausreicht, dass ein gesichertes Angebot vorhanden ist. Wir
müssen damit rechnen, dass der Bedarf steigt, sobald Bedarf und Angebot besser zusammengebracht werden.
Das müssen wir im Auge behalten. Vielleicht kann das
Hilfetelefon dazu beitragen, den Bedarf transparenter zu
machen. Wenn die Beraterinnen keine Angebote mehr
aufzuweisen haben, an die sie die Frauen vermitteln können, dann wird die politische Diskussion darüber, ob das
Angebot ausgeweitet werden muss oder ob es ausreicht,
auf Basis dieser Fakten geführt werden können.
({3})
Die Helpline ist ein wichtiges Signal. Sie wird helfen,
in den Fällen den Weg aus der Gewalt zu finden, in denen er bisher nicht gesehen wird. Es ist Zeit, dass wir das
schaffen. Die Ministerin hat dabei unsere volle Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin
Rupprecht.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines
Hilfetelefons vorliegen. Dieser Gesetzentwurf ist notwendig, wichtig und richtig.
({0})
Wir setzen damit internationale Vorgaben um. Wir haben
uns verpflichtet, diese Vorgaben umzusetzen. Europa
fordert uns auf - die Kollegin Winkelmeier-Becker hat
das schon gesagt -, ein Hilfetelefon einzurichten und dafür zu sorgen, dass die Nummer europaweit bekannt
wird. Mit den Telefonnummern 110 und 112 verbinden
wir etwas. Bei dieser neuen Telefonnummer sollte das
ebenfalls so sein.
Wir in Europa sollten klar sagen: Wir schützen Frauen
vor Gewalt, vor allem vor häuslicher Gewalt. Gewalt im
familiären Umfeld akzeptieren die Gesellschaften Europas nicht.
Der Europarat - ich bin Mitglied der Parlamentarischen Versammlung - hat in langen, manchmal schwierigen Verhandlungen ein Übereinkommen dazu erarbeitet, das in Istanbul gezeichnet wurde, auch von
Deutschland. Ich hoffe, es gelingt uns möglichst bald, es
zu ratifizieren. Das Übereinkommen enthält viele MaßMarlene Rupprecht ({1})
nahmen, die wir umzusetzen haben. An manchen Stellen
brauchen wir gar nichts zu machen, weil wir schon seit
vielen Jahren Aktionspläne haben und bereits Gesetze
verabschiedet haben. Das heißt: Wir haben schon sehr
viel.
An dieser Stelle möchte ich, was man als Oppositionspolitikerin selten oder eigentlich gar nicht tut, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die in diesem
Bereich im Ministerium seit vielen Jahren gut und ordentlich arbeiten. Sie sind auch im Ausland als Sachverständige für diesen Bereich anerkannt.
({2})
Im Vorfeld dieses Gesetzentwurfs bin ich etliche Male
angesprochen worden mit dem Tenor: Nehmt doch das
Geld und gebt es den regionalen Netzwerken! Gebt es
denen, die schon etwas tun! Dazu sage ich: Wenn man
sich das nur kurz anschaut, kann man auf die Idee kommen, dass das eine Möglichkeit wäre. Dieses Hilfetelefon ist aber keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung
des bereits bestehenden Hilfeangebots. Das halte ich für
richtig.
Was uns fehlt, ist natürlich nach wie vor eine strukturierte Finanzierung all der Angebote vor Ort. Wir sollten
nicht auf Spenden angewiesen sein und nicht jedes Jahr
betteln müssen. Angesichts der Haushaltslage der Kommunen werden die Mittel für die Frauenhäuser und die
Notrufe gekürzt. Das Leistungs- und Hilfeangebot wird
reduziert. Einen Ausgleich dafür kann dieses Hilfetelefon nicht darstellen. Deshalb appelliere ich hier noch
einmal an die Regierung, an den Staatssekretär, der die
Regierung hier vertritt: Wir müssen möglichst schnell
gemeinsam eine Länderfinanzierung hinbekommen.
Hierbei muss der Bund den Hut aufhaben.
Heute Mittag habe ich mir als Nichtjuristin extra noch
einmal einen Kommentar zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz - öffentliche Fürsorge - angesehen. Da heißt es:
Hilfsmaßnahmen sind anzubieten, nicht nur bei wirtschaftlichen Notlagen, sondern auch bei Notlagen in
neuen Lebenssachverhalten. Ich denke, da müssen wir in
die Gänge kommen, egal wo, ob auf Bundesebene, auf
Landesebene oder sonst wo. Nach weit über 30 Jahren
Frauenhäusern kann es nicht sein, dass diese als freiwillige Leistung angesehen werden. Ich finde, das ist einfach unerträglich.
({3})
Deshalb brauchen wir die Finanzierung dieser örtlichen Netzwerke und Angebote. Ich habe 20 Jahre lang
ein Frauenhaus geleitet. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe
manchmal nicht gewusst, wie wir es das nächste Jahr finanzieren, obwohl ich da sehr fantasievoll bin. Diese
Gelder zu besorgen, mit wem man sich auseinandersetzen muss, damit man Geld bekommt, das kann man
schon fast mit Prostitution vergleichen; so habe ich das
manchmal empfunden. Für mich selbst als Person würde
ich dies nie tun, aber für das Frauenhaus bin ich zu verschiedenen Firmen gegangen und habe um Geld gebeten. Ich habe das Geld immer zusammenbekommen.
Aber so kann es doch nicht laufen.
Es gehört zum Regelangebot der sozialen Daseinsvorsorge der Kommunen, der Länder und des Bundes. Diese
gemeinsame Verantwortung müssen wir wahrnehmen.
Wir können nicht immer fragen, was grundgesetzlich ist.
Ich finde, unser Grundgesetz besagt eindeutig, dass wir
das vorhalten müssen, dass wir unsere Verantwortung
für die öffentliche Fürsorge wahrnehmen und Hilfsmaßnahmen anbieten müssen. Deshalb lautet mein dringender Appell: Kommen Sie damit in die Gänge! Es täte mir
leid, wenn dies noch einmal um eine Legislaturperiode
verzögert würde.
({4})
Ich habe eine weitere Bitte, diesmal an dieses Parlament. Der Europarat hat eine Kampagne zum Schutz der
Frauen vor häuslicher Gewalt gestartet. Als Mitglied der
Parlamentarischen Versammlung des Europarats bin ich
Koordinatorin bei dieser Kampagne. Es wäre schön,
wenn dieses Parlament sagte: Ja, wir machen mit, und
wir sind auch bereit, hier eine Veranstaltung durchzuführen für den Europarat, für die Länder, die erst jetzt begreifen, dass es notwendig ist, so etwas in ihrem Land
vorzuhalten. Wir haben etwas vorzuweisen. Wir haben
uns schon vor langem auf den Weg gemacht. Vielleicht
gelingt es uns, nächstes Jahr hier in Berlin so eine gemeinsame Veranstaltung durchzuführen.
Ich kann Ihnen eines sagen: Es ist den Parlamentariern aus anderen Staaten ziemlich egal, wer einen Gesetzentwurf geschrieben oder einen Aktionsplan aufgelegt
hat. Sie wollen sehen, was dieses Land auf den Weg gebracht hat. Ich bin stolz, dass wir etwas geschafft haben,
auch wenn es mühsam war. Der gravierendste Kritikpunkt, den der Europarat uns gegenüber geäußert hat,
war, dass unsere Frauenhausplätze nicht sicher und nicht
in genügender Zahl vorhanden sind. Dies müsste sich
beheben lassen. In allen anderen Punkten wurden wir gelobt. Deshalb freue ich mich, dass auch das Hilfetelefon
nun eingeführt wird. Es ist schön, dass dessen Nutzung
ausgewertet werden soll und dass eine Datenbank erstellt
werden soll. Ich hoffe, dass alle kooperieren.
In diesem Sinne sage ich Dankeschön und wünsche
Ihnen einen schönen Abend.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Marlene Rupprecht. Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Sibylle
Laurischk. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vereinten Nationen haben im CEDAW-Übereinkommen die
Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der
Frau verlangt. Dem widmen wir uns. Das sehen wir als
eine Aufgabe, die wir auch auf europäischer Ebene formuliert haben. So hat beispielsweise der Rat der Europäischen Union in seinen Schlussfolgerungen „Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in der Europäischen
Union“ vom 8. März 2010 die Einrichtung einer kostenlosen und einheitlichen Telefonnummer für von Gewalt
betroffene Frauen gefordert. Es ist also durchaus eine internationale Aufgabenstellung.
Insofern war es für uns nur folgerichtig, diese Aufgabenstellung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Da
es im Koalitionsvertrag steht, wird es vor allem von den
Frauen in der Koalitionsfraktionen gefordert. Ich erinnere mich gut an die Beratung, in der wir das vereinbart
haben; Herr Kues, auch Sie erinnern sich sicherlich daran, auch wenn Sie gerade nicht zuhören. Wir haben gesagt: Wir wollen ein Hilfetelefon. - Ich bin froh, dass es
tatsächlich auf den Weg gebracht wird und dass uns
heute der Gesetzentwurf vorliegt; denn das ist ein wichtiges Signal.
Wir wollen etwas gegen die häusliche bzw. familiäre
Gewalt, besonders gegen die Gewalt, die Frauen immer
wieder erleben, unternehmen. Dabei geht es um eine Situation, die wir uns, glaube ich, kaum vorstellen können.
Frauen, die geschlagen, misshandelt oder vergewaltigt
werden, die sich in großer Not nicht zu helfen wissen
und sich voller Scham kaum jemandem öffnen, sollten
ein Gesprächsangebot bekommen: einfach, niederschwellig, anonym, aber mit der klaren Aussage, wo sie
Hilfe finden können, wenn sie sie in Anspruch nehmen
wollen. Das brauchen wir.
Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich im Rahmen
einer Frauenhausinitiative den Wochenenddienst übernommen habe. Gerade am Wochenende, wenn die Familie beisammen ist, ist die familiäre Gewalt besonders
heftig. Die Kinder erleben sie mit, die Frauen wissen
sich nicht zu helfen. Wenn sie dann eine Ansprachemöglichkeit haben, ist das ein erster Schritt, der aus der Gewaltspirale hinausführt.
Wir brauchen ein vielsprachiges Angebot; denn Migrantinnen, die isoliert sind und oftmals zu geringe
Sprachkenntnisse haben, wissen sich sonst nicht zu helfen. Es ist sehr wichtig, dass sie in ihrer Muttersprache
nach Hilfe fragen können. Das ist ein notwendiges Angebot, gerade vor dem Hintergrund, dass wir die
Zwangsverheiratung unter Strafe gestellt haben. Wir
müssen die flankierenden Maßnahmen ernsthaft anbieten. Dies ist ein erster Schritt.
Dass wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben können,
ist völlig klar. Wie Sie wissen, setze ich mich sehr dafür
ein, dass die Finanzierung von Frauenhäusern stabilisiert
und bundesweit einheitlich geregelt wird. Da sind wir
noch nicht so weit wie beim Hilfetelefon. Wir müssen
Schritt für Schritt vorgehen. Die flankierenden Maßnahmen sind dabei notwendig. Ich bin froh, dass wir uns
hier verständigen und einen breiten Konsens finden
konnten.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Laurischk. - Jetzt für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Cornelia Möhring.
Bitte schön, Frau Kollegin Möhring.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Auch die Fraktion Die Linke begrüßt die
Einrichtung eines zentralen Hilfetelefons. Eine einheitliche Nummer - darüber sind wir uns alle im Klaren -, die
kostenfrei zur Verfügung gestellt wird und unter der 24
Stunden am Tag jemand erreichbar ist, übernimmt eine
sehr wichtige Lotsenfunktion. Nach Aussage der Bundesregierung können bisher immerhin 80 Prozent der
von Gewalt betroffenen Frauen nicht in unser bestehendes Hilfesystem vermittelt werden. Ich finde, das ist eine
unglaublich hohe Zahl von Frauen, die, obwohl sie dringend Hilfe brauchen, keine Hilfe erhalten.
Ich möchte daran erinnern - Frau Laurischk und die
anderen Vorrednerinnen haben das eindrücklich geschildert -: Von Gewalt betroffen sind Frauen aller gesellschaftlichen Schichten: die Professorin genauso wie die
Verkäuferin im Supermarkt, die Hamburgerin genauso
wie die Migrantin. Das geht quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Berufe. Wir haben die Zahl schon
gehört: 40 Prozent der Frauen und Mädchen machen im
Laufe ihres Lebens Gewalterfahrungen. Das ist eine gigantische Größenordnung und macht den Handlungsbedarf im Hinblick auf einen umfangreichen Schutz der
von Gewalt betroffenen Mädchen und Frauen deutlich.
Die Bundesregierung rechnet im Zusammenhang mit
der Einführung des bundesweiten Hilfetelefons mit 700
Anrufen täglich. Das sind - ich habe es ausgerechnet;
ich könnte das jetzt nicht so schnell im Kopf - 255 500
Anrufe jährlich. Wir sollten uns immer wieder deutlich
machen, was für ein wichtiger Schritt es ist, wenn eine
Betroffene tatsächlich zum Telefon greift und sagt: Ich
brauche Hilfe. - Wir müssen uns darüber im Klaren sein:
Sie muss dann auch schnell Hilfe vor Ort bekommen.
Der bundesweite Notruf kann dafür natürlich nur der
erste Anstoß sein.
Das Ausmaß der erwarteten Anrufe macht schon
deutlich, dass die personelle und finanzielle Ausstattung
der bestehenden Schutzeinrichtungen und die Zahl der
Plätze bei weitem noch nicht ausreichen. In SchleswigHolstein werden zurzeit aufgrund von Kürzungen und
Kahlschlägen Frauenhäuser und Beratungseinrichtungen
plattgemacht. Ich möchte auch hier deutlich sagen: Ich
finde es zwar gut, dass die Bundesregierung die Vorgabe, die wir von der EU bekommen haben, jetzt umsetzt, aber in Schleswig-Holstein und in anderen Bundesländern müssen Frauenhäuser und Beratungsstellen
schließen. Das Frauenhaus in Wedel zum Beispiel, obwohl immer voll ausgelastet, steht vor dem Aus. Auch
der Mädchentreff in Husum, an den sich betroffene Mädchen wenden konnten und wo sie bisher immer Hilfe beCornelia Möhring
kommen haben, steht vor dem Aus und kann sich nur
noch über Spenden aufrechterhalten. In anderen Ländern
sieht es ähnlich aus. Ich finde, das darf nicht sein.
({0})
Noch einmal zurück zum Hilfetelefon. Ich möchte
noch ein wichtiges Anliegen der örtlichen Beratungsstellen und Nottelefone anbringen, das bei der Umsetzung
des Gesetzes unbedingt beachtet werden muss. Sie planen zwar einen jährlichen Sachstandsbericht, aber die
erste umfassende Evaluation soll erst nach fünf Jahren
erfolgen. Ich finde, das ist viel zu spät.
({1})
Bei Fragen an das Ministerium - nicht wahr, Herr
Dr. Kues - hören wir immer wieder: Das haben wir noch
nicht geprüft, da haben wir noch keine Ergebnisse, dazu
können wir noch nichts sagen. - Ich finde, wir sollten in
dieser Sache weder Herrn Dr. Kues noch uns solche
Bandschleifen weiter zumuten. Die Evaluation muss von
Anfang an erfolgen.
Der noch nicht erstellte Bericht zur Lage der Frauenund Kinderschutzhäuser ist schon genannt worden. Ich
finde, zwei Jahre nachdem die Vorlage dieses Berichts
im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, wird es tatsächlich einmal Zeit dafür.
({2})
Eine Evaluierung erst nach fünf Jahren ist aber auch
fachlich völlig unlogisch. Projekte dieser Art, die ja völlig sinnig und richtig sind, müssen im Verlauf, im ständigen Prozess evaluiert werden, und zwar gemeinsam mit
den Akteurinnen vor Ort. Damit wird, wie Sie gesagt haben, Frau Winkelmeier-Becker, Transparenz hinsichtlich
der Frage hergestellt, wo weiterer Bedarf besteht. Denn
durch die vorliegenden Zahlen wird deutlich: Es wird
weiteren Bedarf geben.
Ich fordere Sie also ausdrücklich auf: Machen Sie aus
dieser guten Idee eines zentralen Hilfetelefons auch tatsächlich eine richtig gute Sache. Sorgen Sie dafür, dass
es für die vielen Schutzbedürftigen dann auch wirklich
Schutz und Unterstützung geben wird. Wir sind dabei an
Ihrer Seite.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Möhring. - Jetzt für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Monika Lazar. Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Gewalt ist für viele Frauen immer noch
eine bittere Realität, und zwar, wie einige Vorrednerinnen schon gesagt haben, quer durch die gesamte Gesellschaft.
Konfliktsituationen wie Trennung und Scheidung erhöhen die Gefahr für Frauen, Opfer von Stalking, von
körperlicher oder sexueller Gewalt zu werden. Frauen
mit Behinderung sind übrigens besonders gefährdet, besonders dann, wenn sie durch Pflege oder Assistenz in
Abhängigkeitsstrukturen leben. Gewalt ist ein patriarchalisch geprägtes Phänomen, für das wir als Sozialstaat
eine Lösung anbieten müssen.
Mit dem Hilfetelefongesetz setzt Deutschland die internationalen und europäischen Verpflichtungen zum
Schutz von von Gewalt betroffenen Frauen um. Wir begrüßen es, dass die Regierung jetzt so weit ist und das
Hilfetelefongesetz auf den Weg bringt.
({0})
Allerdings bleiben noch immer Fragen offen. Im Gesetzentwurf steht - Zitat -:
Die Einrichtung und der Betrieb des Hilfetelefons
verursachen Ausgaben zu Lasten des Bundeshaushalts. … Für die Länder und Kommunen entstehen
unmittelbar keine Kosten.
Ich finde es richtig, dass der Bund hier in Vorleistung
geht, allerdings muss natürlich auch geschaut werden,
welche Folgeleistungen hier von den Kommunen und
den Ländern zu übernehmen sind.
Die Koalition will dieses Angebot schaffen, da die
Untersuchungen gezeigt haben, dass circa 80 Prozent der
von Gewalt betroffenen Frauen noch nicht erreicht werden. Ein Grund dafür ist unter anderem die unzureichende Ausstattung des bestehenden Hilfesystems. Daran wird auch das Hilfetelefon erst einmal nichts ändern.
Was machen nämlich diese 80 Prozent der Frauen, die
sich dann nicht nur an das Hilfetelefon wenden, sondern
auch an die örtlichen Hilfsstellen überwiesen werden
sollen, wenn diese gar nicht existieren bzw. nicht ausgebaut werden? Deshalb ist es wichtig, dass lokale Strukturen erhalten bleiben und nicht Kürzungszwängen zum
Opfer fallen.
({1})
Deswegen sind insbesondere auch die Länder und Kommunen angehalten, ebenfalls Finanzmittel zur Verfügung
zu stellen.
Neben der Finanzierung ist auch das Problem der
Frauenhäuser schon angesprochen worden. Ich hoffe,
dass wir Anfang nächsten Jahres den Bericht dazu endlich diskutieren können und dass wir noch in dieser
Wahlperiode zügig eine gemeinsame Lösung finden;
denn in den Beratungen sowohl im Plenum als auch im
Ausschuss gab es einen ziemlich großen Konsens. Wir
alle würden uns freuen, wenn wir mit guten Schritten vorankämen; denn wir als Bund müssen die Linie vorgeben
und selbstverständlich auch die Kommunen und Länder
mit ins Boot holen. Aber für uns - das hat auch Kollegin
Rupprecht gesagt - ist das einfach eine grundgesetzliche
Verpflichtung.
({2})
Das Hilfetelefon soll eine Erstberatung anbieten.
Dann soll an die örtlichen Strukturen vermittelt werden.
Diese Lotsenfunktion setzt allerdings eine Datenbank
voraus, die es bis jetzt noch nicht gibt. Bei deren Erstellung müssen Qualitätsstandards eingehalten werden. Es
ist insbesondere wichtig, dass die vorhandene Expertise
von den Frauen und den Beratungsstellen in den Ländern
genutzt wird. Deshalb unser Aufruf: Richten Sie jetzt einen Beirat ein, mit dem Sie gemeinsam dieses Problem
beheben.
Laut Gesetzentwurf ist für das Hilfetelefon ein Arbeitskräftebedarf von 80 bis 90 Personen vorgesehen.
Qualifizierte weibliche Fachkräfte werden gesucht.
Wichtig ist allerdings auch, dass diese Fachkräfte weiterhin geschult werden. Bei einem Anfall von täglich circa
700 Anrufen ist es wichtig, dass auch Supervision angeboten wird; die Mittel dafür müssen spätestens in den
Haushaltsplan 2013 eingestellt werden. Ansonsten sind
die Fachkräfte sehr schnell ausgebrannt und fallen entsprechend aus.
Die mit dem Hilfetelefon angesprochene Zielgruppe
ist sehr weitreichend, da die Erscheinungsformen von
Gewalt sehr breit gefächert sind. Es geht um sexualisierte und häusliche Gewalt, Stalking, Genitalverstümmelung und um Gewalt im Rahmen von Prostitution und
Zwangsverheiratung. Zum letzten Thema wurde gerade
erst eine Studie erstellt, aus der hervorgeht, wie schwierig dieser Bereich ist.
Die Einrichtung eines Hilfetelefons ist wichtig, aber
bitte in Zusammenarbeit mit den Fachfrauen. Es muss
für dieses Telefon, wenn es dann so weit ist, mit einer
Kampagne geworben werden, damit die Frauen wissen,
dass es dieses niedrigschwellige Angebot gibt und wohin
sie sich wenden müssen.
Insgesamt: Wir sollten uns in den nächsten Monaten
alle gemeinsam zusammensetzen und insbesondere für
die betroffenen Frauen eine Lösung finden; denn wir
machen diese Sache nicht für uns, sondern für die
Frauen, die uns dankbar sind, wenn sie nicht nur das Hilfetelefon in Anspruch nehmen können, sondern auch die
örtlichen Strukturen.
Danke.
({3})
Wir haben zu danken. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Norbert Geis. Bitte
schön, Kollege Norbert Geis.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Widerstand gegen Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deswegen ist es vielleicht
nicht verkehrt, dass hier auch einmal ein Mann das Wort
ergreift.
({0})
Ich freue mich, dass ich zu einem Thema reden darf, das
auf Konsens trifft, und dass es nicht immer zu einer
streitigen Auseinandersetzung kommen muss.
Wenn man der Statistik glauben kann, dann leben wir
in einem ganz sicheren Land, jedenfalls in einem relativ
sicheren Land mit Blick auf andere Länder. Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Es ist richtig, dass beispielsweise die Jugendgewalt in unserem Land zurückgeht. Aber wir erleben seit 10 bis 15 Jahren, dass die
Gewalttäter brutaler werden. Die Gewalttaten nehmen
an Brutalität zu. Das ist eine gefährliche Tendenz. Gegen
diese Tendenz muss es einen gesellschaftlichen Widerstand geben. Deswegen ist auch diese Diskussion von
großer Bedeutung.
Natürlich ist dieser gesellschaftliche Konsens insbesondere bei Gewalt gegen Frauen angebracht. Wir haben
es vorhin schon gehört: 40 Prozent - man soll es nicht
glauben - der in Deutschland lebenden Frauen sind bereits Opfer einer körperlichen oder sexuellen Gewalt geworden. Das ist eine unvorstellbar hohe Zahl. Sie ist
auch im europäischen Vergleich außerordentlich hoch.
Das können wir so nicht mehr länger hinnehmen.
Es gibt natürlich Gruppen von Frauen, die der Gewalt
besonders ausgesetzt sind. Der Weiße Ring hat festgestellt,
dass es sich dabei um Migrantinnen handelt - das ist hier
schon zur Sprache gekommen -, um Frauen, die in Asylbewerberwohnheimen leben, und um Prostituierte.
Auch gibt es in Deutschland Gewalt gegen Frauen,
die voll und ganz in die Gesellschaft integriert sind. Das
ist meistens Gewalt in der Privatheit der Wohnung. Es ist
Gewalt, die in der Regel vom Partner ausgeht und im
Grunde genommen aus einer intimen Beziehung heraus
entstanden ist. Sie trifft die Frauen in einer ganz besonderen Weise.
Diese Frauen wenden sich aber nicht an die zuständigen Stellen. Sie suchen keine Hilfe, obgleich zwei Drittel dieser Vorfälle, vor allen Dingen häusliche Gewalt, so
viele und so schwere Verletzungen verursachen, dass
manchmal sogar lebensbedrohliche Verletzungen festgestellt werden. Das ist ein gefährlicher Umstand. Davor
kann man nicht die Augen verschließen.
Deswegen müssen wir einen Weg finden, wie wir diesen Frauen klarmachen, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Aber da es sich um einen sehr intimen Bereich, nämlich die eigene Wohnung, handelt und die
Gewalt von Personen ausgeübt wird, mit denen man zunächst einmal in einer intimen Beziehung gelebt hat, haben diese Frauen oft Scham. Sie wagen sich nicht an die
Öffentlichkeit oder wollen nicht, dass ihr Fall irgendwo
bekannt wird. Deswegen sind sie auch nicht bereit, eine
entsprechende Stelle aufzusuchen.
Oft sind auch keine Nachbarn da, die das mitbekommen würden. Die eigenen Kinder bekommen es vielleicht nicht mit. So leben diese Frauen in einem Teufelskreis aus Privatheit, Abhängigkeit und Gewalt, aus dem
sie nicht mehr allein herausfinden. Da ist Hilfe von außen notwendig, zumindest die Möglichkeit, Hilfe zu bekommen.
Ich meine, das bundesweite Hilfetelefon ist eine gute
und vernünftige Einrichtung. Es wurde schon angesprochen, dass es in den europäischen Ländern längst verbreitet ist und dass wir noch ein wenig nachhinken. Es
ist höchste Zeit, dass eine solche Einrichtung bei uns geschaffen wird.
({1})
Dieses Hilfetelefon muss natürlich, wie schon gesagt
wurde, barrierefrei sein. Es muss schnell erreichbar sein.
Wenn eine Frau anruft und wieder auflegt, weil niemand
am Ende der Leitung ist, dann hat sie nicht den Mut,
gleich wieder anzurufen. Sie hat schon gar nicht den
Mut, am nächsten Morgen anzurufen. Deshalb muss am
anderen Ende der Leitung eine wache, gut ausgebildete,
kompetente Person sein. Es muss in der Regel eine Frau
sein, weil sich Frauen in einer solchen Situation nicht
gerne Männern anvertrauen.
Es muss darauf geachtet werden, dass wir kompetente
Personen einsetzen, die auch andere Sprachen sprechen.
Auch eine türkische Frau muss beim Hilfetelefon anrufen können und eine Antwort auf Türkisch bekommen,
wenn sie die deutsche Sprache nicht versteht. Die technische Ausstattung muss hervorragend sein, und am Telefon müssen hervorragend ausgebildete Personen sein.
Das muss man mit berücksichtigen.
({2})
Ich will einen weiteren Gedanken ansprechen, der
noch nicht richtig zur Geltung gekommen ist. Nicht nur
die Betroffenen, sondern auch andere Personen können
dieses Hilfetelefon in Anspruch nehmen. Das können
Kinder oder Nachbarn sein. Jeder, der entdeckt, dass gegen eine Frau Gewalt ausgeübt wird, soll und kann dieses Telefon in Anspruch nehmen. Dafür muss natürlich
die Nummer bekannt sein. Es muss also eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit geben, damit die bundesweite Telefonnummer weithin bekannt wird und genutzt
werden kann.
Ich meine, dass der Gesetzentwurf eine sehr gute Initiative der Bundesregierung bzw. der Bundesministerin
ist. Ich kann sie nur unterstützen.
Ich möchte zum Schluss noch einen Gedanken ansprechen. Es ist richtig, dass wir solche Möglichkeiten
haben. Aber wir müssen in einem stärkeren Maße in unserer Gesellschaft eine Ächtung jeglicher Gewalt herbeiführen.
({3})
Der Gewalttäter muss merken, dass er auf geschlossenen
Widerstand stößt. Dieser Widerstand muss auch einmal,
wenn es notwendig ist, handfest werden. Darauf muss
sich der Gewalttäter ebenfalls einrichten. Ich will nun
nicht die Gewalt auf der anderen Seite predigen - das
will ich tatsächlich nicht -; aber der Gewalttäter muss
wissen: Ich stoße auf Widerstand. Das muss gesellschaftsweit in das Bewusstsein der Bevölkerung eingepflanzt werden. Ich meine, dass wir vielleicht tatsächlich
zu einer größeren Freiheit von Gewalt innerhalb der gesamten Gesellschaft kommen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Auch der Präsident hätte geklatscht, wenn ihm dies möglich gewesen
wäre.
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist die Frau Kollegin Nicole Bracht-Bendt für die Fraktion der FDP.
Bitte schön.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal freut es mich, dass wir heute Abend hier füreinander klatschen und so stimmig miteinander sind. Ich
wünsche mir, dass das hier häufiger vorkommt.
Etwa jede vierte Frau in Deutschland ist mindestens
einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch
derzeitige oder frühere Partner geworden. Gewalt gegen
Frauen findet alltäglich und mitten unter uns statt, und
zwar nicht nur im sozial kritischen Milieu, sondern überall. Opfer von Gewalt gegen Frauen sind häufig auch deren Kinder. Für alle Betroffenen bedeutet Gewalt meistens erhebliche psychische und gesundheitliche Folgen.
Die Bekämpfung von Gewalt ist ein vordringliches Ziel
der Koalition. Wir sind uns alle einig, dass hier hoher
Handlungsbedarf besteht. Deshalb handeln wir.
Nachdem der Bundesrat im September dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einrichtung und zum
Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen
Frauen“ zugestimmt hat, ist der Weg frei für eine kostenlose bundesweite Hotline - eine Nummer, die Frauen
rund um die Uhr wählen können, wenn sie in Not sind.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich maßgeblich für
diese Hotline starkgemacht. In Deutschland existiert bereits ein Netz von Anlaufstellen für betroffene Frauen.
Untersuchungen haben aber gezeigt, dass circa 80 Prozent der Opfer von den bestehenden Hilfsstrukturen
nicht oder nicht früh genug erreicht werden. Eine Frau,
die Opfer einer Gewalttat wird, braucht sofort und nicht
zu bestimmten Öffnungszeiten unbürokratische Hilfe.
({0})
Die Wirksamkeit der Hotline unter Federführung des
Familienministeriums hängt allerdings davon ab, ob sie
auch bekannt ist. Das A und O ist deshalb eine nachhaltige Öffentlichkeitsarbeit. Opfer von Gewalt müssen
wissen, wo sie rund um die Uhr Hilfe von Experten bekommen können. Es handelt sich um ein bewusst
niedrigschwelliges, barrierefreies Hilfsangebot, das
Frauen jederzeit und auch anonym in Anspruch nehmen
können. Die Experten am Telefon sind eng vernetzt und
nennen Adressen, an die sich Frauen wenden können.
Damit fällt die Hemmschwelle für viele Frauen weg.
Das ist ein wichtiger Punkt. Gerade in kleineren Städten
scheuen sich Frauen häufig, Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie sich schämen. Sie wollen nicht, dass in ihrem Umfeld bekannt wird, was sich hinter ihrer Wohnungstür abspielt, und versuchen lange, damit allein
fertigzuwerden. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die
bundesweit einheitliche Nummer einen höheren Bekanntheitsgrad erreicht als bisherige Einzelmaßnahmen.
Mit dem Hilfetelefongesetz setzt die Bundesregierung
ein weiteres Ziel des Koalitionsvertrages um.
Ganz herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. - Wir ha-
ben keine weiteren Wortmeldungen mehr. So schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/7238 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 16 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu
Lasten des Strahlenschutzes - Zwischenlage-
rung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungs-
abfälle verursachergerecht neu gestalten
- Drucksachen 17/7465, 17/7677 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Angelika Brunkhorst
Sylvia Kotting-Uhl
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothée Menzner, Johanna Voß, Eva BullingSchröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
CASTOR-Transport 2011 nach Gorleben stoppen
- Drucksache 17/7634 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere
Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön, Frau
Kollegin Maria Flachsbarth.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute Abend über zwei Anträge, einen der
Grünen und einen der Linken, bezüglich der Ende des
Monats geplanten Castortransporte von La Hague nach
Gorleben, die die Forderung enthalten, diese Transporte
zu stoppen. Anlass dazu sind Strahlenmessungen des
Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft,
Küsten- und Naturschutz, der am 15. August und am
21. August dem niedersächsischen Umweltministerium
mitgeteilt hat, dass der Grenzwert am Zaun des Transportbehälterlagers in Gorleben in diesem Jahr möglicherweise überschritten werden könnte. Das niedersächsische Ministerium hat daraufhin den Niedersächsischen
Landtag unterrichtet und ein fachaufsichtliches Gespräch mit der Gesellschaft für Nuklear-Service als Betreiberin der Anlage geführt. Die GNS wurde aufgefordert, vorsorglich Maßnahmen vorzuschlagen, die eine
Einhaltung des genehmigten Wertes gewährleisten. Es
wurden Prüfungen der Messungen durch den TÜV Nord
initiiert und weitere Messungen durch die PhysikalischTechnische Bundesanstalt durchgeführt. All diese Überprüfungen ergaben, dass die zunächst befürchtete Überschreitung des Genehmigungswertes, auch bei Einlagerung der Castoren aus La Hague, wohl nicht zu erwarten
ist.
Das wurde vom niedersächsischen Ministerium dem
Umweltausschuss des Niedersächsischen Landtags und
im Rahmen eines bundesaufsichtlichen Gesprächs dem
Bundesumweltministerium mitgeteilt. Anschließend
sind wir im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages am 28. September und am 9. November durch Vertreter des niedersächsischen Ministeriums und des Bundesumweltministeriums über diesen Sachverhalt
umfassend informiert worden. Darüber hinaus kann man
das Ganze in den Antworten der Bundesregierung auf
zwei Kleine Anfragen zu dieser Thematik nachlesen.
Nun heute Abend den Eindruck zu erwecken, wie es
bei den Anträgen der Grünen und der Linken der Fall ist,
dass bei diesem Castortransport nach Gorleben Sicherheitsbestimmungen außer Acht gelassen oder GrenzDr. Maria Flachsbarth
werte gröblich verletzt würden, ist einfach grob unredlich.
({0})
Im Gegenteil: Aufgrund der geltenden Gesetzeslage,
also wegen der nach dem Atomgesetz vorgenommenen
Berechnungen und Messungen sowie aufgrund des völkerrechtlichen Vertrags zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Frankreich über die
Rücknahme der wiederaufgearbeiteten Abfälle bis zum
31. Dezember 2011, ist gar keine andere Entscheidung
möglich als die, die der niedersächsische Umweltminister letztendlich getroffen hat, nämlich die Genehmigung
für die Einlagerung zu erteilen. Allerdings - auch das
will ich sagen - sollte man bezüglich der Rücknahme
von Abfällen aus Sellafield ab 2014 - denn aus La
Hague kommen jetzt keine Abfälle mehr - neu nachdenken, insbesondere was die Frage des Standorts betrifft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Niedersachsen
nimmt seine Verantwortung bezüglich der Zwischenund Endlagerung radioaktiver Abfälle wahr, nicht zuletzt
aufgrund der Geologie seines Untergrunds. Aber wir reißen uns nicht darum, dass radioaktive Abfälle nach Niedersachsen kommen.
({1})
Ich bin davon überzeugt, dass die Zwischenlagerung der
Castoren in einem anderen Bundesland den Dialogprozess, den die Bundesregierung bezüglich der Weiterführung der ergebnisoffenen Erkundung in Gorleben initiiert hat, intensivieren könnte. Ich will es ganz deutlich
hier sagen: Gerade nach dem Ausstieg Deutschlands aus
der Kernenergie ist die Suche nach einem sicheren Endlager dringlicher denn je.
({2})
Sie ist eine nationale und gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich der Bund und alle Bundesländer - nicht
nur ein Bundesland - stellen müssen. Sie stehen gemeinsam in der Verantwortung.
Deshalb begrüße ich die Initiative des Bundesumweltministers, in Vorbereitung auf das im Rahmen des
Atomausstiegs angekündigte Entsorgungsgesetz Gespräche mit allen Ländern zu führen.
Schade finde ich es, dass nur zwei von 16 Ministerpräsidenten teilnehmen, und schade finde ich es, dass
aus den Reihen der Opposition versucht wird, schon im
Vorfeld das Gespräch zu diskreditieren.
({3})
Der Minister sei mit der Vorlage des Gesetzes ins
Hintertreffen geraten, wird gesagt. Ich will Ihnen eines
sagen: Wenn der Minister ein Gesetz vorgelegt hätte,
dann würde genau aus dieser Richtung des Hauses der
Vorwurf ertönen, dass der Minister Fakten schaffen will,
bevor solche Gespräche stattgefunden haben.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ziemlich
leicht, einen solch schwierigen Dialogprozess zu torpedieren, und es braucht ziemlich viel Mut, sich in ihn hineinzubegeben und die Schützengräben der Vergangenheit zu verlassen.
({5})
Der Bundesumweltminister und die beiden Ministerpräsidenten aus Niedersachsen und aus Baden-Württemberg
haben diesen Mut, und ich bitte Sie, dass auch der Deutsche Bundestag, also wir Abgeordnete und die Fraktionen dieses Hauses, den Mut haben, die politischen
Schaukämpfe beiseite zu lassen und wirklich gemeinsam
diese dringliche nationale Frage
({6})
der Endlagerung anzugehen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth. - Jetzt
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
Kollegin Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin
Lühmann.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörenden! Ganz besonders begrüße ich die
Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis Uelzen,
({0})
die bis zur Behandlung dieses wichtigen Themas, das sie
natürlich auch betrifft, ausgeharrt hat.
({1})
Zitat:
Eine Absage des geplanten Castor-Transports nach
Gorleben würde das Land Niedersachsen Millionen
kosten. „Wir mussten die Transportbehälter bereits
anmieten und müssten sie auch bei einer Absage
bezahlen“, sagte Niedersachsens Innenminister
Uwe Schünemann ({2}).
Das war die Antwort auf die Forderung der Deutschen Polizeigewerkschaft, den Castortransport in diesem Jahr aus sachlichen Gründen abzusagen. Wenn das
die Antwort des Innenministers ist, hat man natürlich
den Verdacht, dass bei der Genehmigung dieses Transports nicht wissenschaftlich begründete Sicherheitskriterien ausschlaggebend waren, sondern wirtschaftliche
Kostenkriterien den maßgeblichen Anlass dazu gaben,
die Genehmigung zu erteilen, und das, liebe Herren und
Damen, ist einfach inakzeptabel.
({3})
Worum geht es? - Wir haben ein Zwischenlager, das
eine Genehmigung für eine maximale Strahlendosis hat,
die am ungünstigsten Messpunkt 0,3 Millisievert im Jahr
nicht überschreiten darf. Wir haben Messungen, die Folgendes aussagen: Wenn wir zusätzliche Castoren einlagern, dann droht diese Zahl überschritten zu werden.
Frau Flachsbarth, es ist eben nicht unbestritten, dass
diese Messungen stimmen. Sie haben von neuen Messungen geredet.
({4})
Ich würde viel lieber über neue Berechnungsmodelle reden, aufgrund derer andere Zahlen herauskommen.
Die Frage, die sich stellt, ist: Was tut die Regierung
angesichts dieser Zahlen?
({5})
Als Erstes beruhigt sie die Bevölkerung. Ich zitiere
wieder:
Die von Greenpeace dargestellten Zusammenhänge entbehren jeder technischen und naturwissenschaftlichen Grundlage, sind somit unhaltbar …
Als Nächstes haben Sie Transparenz angekündigt. Ich
zitiere:
Man sei froh, dass Greenpeace die Einwände jetzt
formuliert hätte, „da die Entscheidung über den
Castor-Transport noch nicht gefallen ist“,
sagte eine Sprecherin der niedersächsischen Umweltministeriums der Berliner Zeitung. Sie würden nun geprüft.
Aber was ist dann passiert? - Bei einer öffentlichen
Veranstaltung im Wendland hat sich die niedersächsische Regierung geweigert, eingeladene Experten dort
hinzuschicken. Die hätten Transparenz herstellen können.
Als eine Gruppe Bundestagsabgeordneter nach telefonischer Anmeldung und der Zusage, dass sie in das Zwischenlager hineingehen könne, vor Ort war, wurde ihr
mitgeteilt, man könne sie leider nicht hineinlassen, weil
die Zeit für die Sicherheitsüberprüfung ihrer Personen
nicht ausgereicht habe.
({6})
Ich möchte nur kurz erwähnen, dass der Deutsche
Bundestag 48 Stunden braucht, um die Sicherheitsprüfung durchzuführen. Ich habe es jedoch auch schon erlebt, dass er es in sechs Stunden geschafft hat. Wenn man
so etwas weiß, dann weiß man auch, dass die Begründung der Betreibergesellschaft an den Haaren herbeigezogen ist, meine Herren und Damen.
({7})
Es ist unter diesen Voraussetzungen natürlich schwierig
für uns, zu glauben, dass nichts zu verbergen ist und dass
Transparenz hergestellt werden soll.
Für den Fall, dass die heute vorliegenden Anträge hier
eventuell nicht die nötige Mehrheit bekommen und es einen Castortransport geben wird, lade ich Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, herzlich ein. Die SPD wird wieder ein
Castorcamp machen, in dem sich Polizistinnen und Polizisten mit heißem Kaffee aufwärmen können, in dem
sich die Bevölkerung an einer Suppe laben kann. Da
können Sie einmal schauen, woher denn dieses Misstrauen kommt und was Ihre Politik vor Ort bewirkt,
meine Herren und Damen.
({8})
Was mich auch verwundert, ist die Tatsache, dass die
Betriebserlaubnis für das Zwischenlager für 40 Jahre
und für 420 Castorbehälter erteilt wurde. Wir haben bisher noch nicht einmal die Hälfte der genehmigten Betriebszeit erreicht, und es ist nur ein Viertel der vorgesehenen Transportbehälter eingelagert. Aber schon haben
wir Probleme mit dem festgelegten Grenzwert. Angesichts der Tatsache, dass dieser Grenzwert für die vierfache Menge an Müll ausgelegt war, frage ich mich doch:
Ist 1995 falsch gerechnet worden, oder sind die Werte
schöngerechnet worden? Beides ist auf alle Fälle inakzeptabel.
({9})
Ich hatte in meiner Heimatgemeinde eine Diskothek
gehabt. In der Genehmigung war ein Lärmrichtwert enthalten. Wir alle wissen, auch Lärm macht ab einer gewissen Stärke krank. Als Messungen ergaben, nachdem sich
die Bevölkerung beschwert hatte, dass dieser LärmgrenzKirsten Lühmann
wert überschritten war, musste die Diskothek schließen.
Es wurden Auflagen erlassen; es mussten bauliche Veränderungen vorgenommen werden. Nachdem sichergestellt worden war, dass der Lärm das zulässige Maß nicht
überschreitet, durfte die Diskothek wieder öffnen. Ich
frage Sie jetzt: Wieso ist das, was bei einer Diskothek in
Bezug auf das Problem Lärm selbstverständlich ist, bei
einem Zwischenlager in Bezug auf das Problem Strahlung ganz anders? Das kann ich nicht verstehen.
({10})
Darum wird die SPD dem Antrag der Grünen, die unter
anderem fordern, den Castortransport für dieses Jahr
auszusetzen, zustimmen.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, wie die
Planungen für diesen Castortransport in diesem Jahr gelaufen sind. Der ursprüngliche Termin Anfang November konnte nicht eingehalten werden, weil die französische Polizei angab, sie könne den Transport auf
französischer Seite nicht schützen, weil sie aufgrund der
Belastungen durch den G-20-Gipfel erst ausreichende
Ruhezeiten brauche, bevor sie in den neuen Großeinsatz
gehen könne. Dann gab es diverse Diskussionen. Jetzt ist
der erste Advent als Transporttermin vorgesehen. Jede
Person in diesem Land weiß: Erster Advent heißt Weihnachtsmärkte. Einige wissen: Erster Advent ist das Wochenende mit mehreren problematischen Fußballspielen
der Ersten bis Dritten Liga. Viele in diesem Land wissen
inzwischen: Es gibt Probleme mit Grenzwerten. Daher
haben beide Polizeigewerkschaften, die DPolG und die
GdP, die berechtigte Forderung gestellt, den Castortransport zu diesem Zeitpunkt auszusetzen.
({11})
Wenn Sie sagen, diese Bedenken seien nicht gerechtfertigt, möchte ich Ihnen kurz die Situation bei einem
normalen Castortransport schildern. Einige Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen tragen persönliche Strahlenmessgeräte. Aufgrund verschiedener technischer Probleme zeigen die aber erst Werte an, die deutlich über
den Grenzwerten liegen. Darum gibt es auch eine Anweisung über maximale Aufenthaltszeiten im Nahbereich des Castors oder des Zwischenlagers. Wir haben es
aber oft erlebt, dass die Einsatzlage es nicht zulässt,
diese Zeiten einzuhalten. Ich persönlich habe erlebt, dass
Kollegen die dreifache Zeit in unmittelbarer Nähe des
Castortransportes verbringen mussten, weil eine Ablösung nicht möglich war. Jetzt haben wir Hinweise auf
mögliche zusätzliche Belastung. Ich verstehe die Forderungen der Gewerkschaften. Eigentlich sollte es unser
aller Anliegen sein, dass wir den transportbegleitenden
Polizeibeamten nur die unvermeidbare Belastung zumuten und nicht noch zusätzliche.
({12})
Präsident Sarkozy hat sich schützend vor seine Polizei gestellt und ihr ausreichend Erholungszeiten ermöglicht. Ich finde, es würde Frau Merkel gut anstehen,
wenn sie bei der Frage möglicher zusätzlicher Belastungen für die Gesundheit der Bevölkerung und der Polizei
sich genauso fürsorglich verhalten würde wie ihr französischer Kollege und den Castortransport 2011 verschieben würde.
({13})
Ich befürchte allerdings, dass ich dieses Zeichen von
Kraft und Entscheidungsfähigkeit in dieser Regierung
nicht nur bei der Kanzlerin vergeblich suche.
Danke schön.
({14})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. - Jetzt für die
Fraktion der FDP unsere Kollegin Angelika Brunkhorst.
Bitte schön, Frau Kollegin Brunkhorst.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wie in jedem Jahr geht es darum, radioaktive Abfälle zurückzunehmen, die die Franzosen in La Hague aus abgebrannten Kernbrennstäben aus deutschen Kernkraftwerken aufbereitet haben. Das Entsorgungskonzept vorangegangener Bundesregierungen sah vor, den noch nutzbaren Kernbrennstoff aus den abgebrannten Brennelementen wiederaufzuarbeiten und nur das zurückbleibende Abfallgebinde in den Castoren zentral in einem
Zwischenlager, dem sogenannten Transportbehälterlager
in Gorleben, zu lagern.
Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde die
Wiederaufarbeitung verboten und die dezentrale Zwischenlagerung der abgebrannten Brennstäbe an den
Kernkraftwerksstandorten vorgeschrieben. Anstelle von
zwei bzw. drei zentralen Lagern haben wir nunmehr 15
dezentrale Zwischenlager. Aber einzig und allein das
Transportbehälterlager in Gorleben hat eine Genehmigung, die Abfälle aus der Wiederaufbereitungsanlage in
La Hague überhaupt aufzunehmen.
Der Castortransport Ende November nach Gorleben
ist erforderlich; denn wir sind zur Rücknahme des deutschen Atommülls rechtlich, aber vor allen Dingen auch
moralisch verpflichtet.
({0})
Ich kann das Gejammer, insbesondere der GrünenFraktion, hier nicht so ganz nachvollziehen; denn diese
besondere Genehmigungssituation ist Ihnen längst bekannt. Sie haben sie auch nicht geändert. Auch Herr
Trittin hat sie nicht geändert. Also, sorry.
Nach dem Willen der Grünen und der Linken soll der
anstehende Castortransport nach Gorleben dennoch abgeblasen werden, weil der sogenannte Eingreifwert von
0,27 Millisievert pro Jahr möglicherweise überschritten
wird. Sie werfen den zuständigen Ministerien und Behörden einen laxen Umgang mit den Strahlenwerten am
Zwischenlager vor.
Meine Kollegin Frau Flachsbarth hat schon ausreichend erläutert, dass hier einiges getan wurde, um mit
zusätzlichen Messungen sicherzustellen, dass dieser Eingreifwert gar nicht erst erreicht wird.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen doch
selbst - spätestens seit den Beratungen im Umweltausschuss -, dass der Betreiber bei Erreichen des sogenannten Eingreifwerts die Einlagerungsmaßnahmen unterbrechen muss oder auf jeden Fall Maßnahmen ergreifen
muss, um die Einhaltung des geltenden Grenzwerts von
0,3 Millisievert im Jahr zu gewährleisten.
Ich möchte hier, weil auch Frau Lühmann sehr viel
über Grenzwerte erzählt hat, eine Klarstellung zu den
Grenzwerten vornehmen. Der Grenzwert für das zentrale
Zwischenlager in Gorleben beträgt 0,3 Millisievert pro
Jahr. Umweltminister Trittin hat ja, wie schon gesagt, die
dezentralen Zwischenlager eingerichtet. Für Zwischenlager, die sich dezentral an den Kernkraftwerken befinden, gilt demgegenüber ein Grenzwert von 1 Millisievert
pro Jahr. Das ist also das Dreifache.
({2})
- Hört, hört; so ist das. 1 Millisievert gilt demnach auch
für das Zwischenlager im Kernkraftwerk Philippsburg.
Es wurde von Greenpeace durchaus als Option vorgeschlagen, die Castoren dorthin zu verbringen. Ich frage
mich wirklich, wo die vielen Greenpeace-Atomexperten
waren, als Herr Trittin die Regelung getroffen hat, die einen Grenzwert von 1 Millisievert vorsieht.
Damit Sie einmal ein Gefühl für die Werte entwickeln
können: Die natürliche Strahlendosis, der wir ausgesetzt
sind, beträgt im Jahr durchschnittlich 2,1 Millisievert.
Das ist also das Siebenfache. Da kann man doch sagen,
dass der Grenzwert von 0,3 Millisievert ein sehr ambitionierter Wert ist. Ich denke, das Eingreifen des liberalen Umweltministers in Niedersachsen war genau richtig. Ich habe auch großes Vertrauen zu den Beamten,
({3})
die dargelegt haben, was sie alles getan haben, um zu gewährleisten, dass dieser Wert auch eingehalten wird.
Zum Schluss möchte ich noch sagen: Die Behauptung, dass jeder zusätzliche eingelagerte Castor im
Atomzwischenlager in Gorleben eine Manifestierung ist,
kann ich nicht untermauern. Ich bin der Meinung: Nicht
die Zahl der dort befindlichen Castoren ist ausschlaggebend, sondern die Frage, ob wir eine Schadensvorsorge
nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik
gewährleisten können. Das wird unser Maßstab für die
Zukunft sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Brunkhorst. - Jetzt
spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Dorothée Menzner. Bitte schön, Frau Kollegin Menzner.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
sind jetzt 102 von 420 genehmigten Castoren im Zwischenlager in Gorleben. Bereits jetzt wird hin- und hergeschoben, weil die Strahlendosiswerte im Grenzbereich
des Zulässigen liegen. Wenn eine Badewanne überläuft,
muss man das Wasser abstellen und nicht die Hähne neu
anordnen.
({0})
Die gesetzlich festgelegten Grenzwerte sind nicht
dazu da, sie zu ignorieren. Sie sollen die Werte der
künstlichen Strahlendosen aus Atomanlagen auf einem
akzeptablen Niveau halten. Das ist eigentlich gar nicht
möglich. Denn es gibt kein akzeptables Niveau für
künstliche Strahlendosen. Die Grenzwerte sind höchstens eine Obergrenze einer wachsenden Unverantwortlichkeit. Auf welcher Höhe diese festzulegen sind, ist
eine ethische Frage.
Wir alle wissen und haben es erlebt, dass im Falle eines Falles Grenzwerte auch veränderbar sind. In Fukushima wurden sie sukzessive hochgesetzt, und zwar aus
zwei Gründen: Erstens klingt es immer harmloser, wenn
man formuliert, dass sich die Werte innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen bewegen. Zweitens übertrifft der
radioaktive Ausstoß immer wieder alle Erwartungen der
Atombefürworter, mit denen man die Gesellschaft seit
Beginn der Nutzung der Atomkraft versucht hat zu beruhigen.
Das alles ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Aber mit
der permanenten Unbelehrbarkeit und mit dem kapitalträchtigen Lobbyismus, den wir Tag für Tag und Jahr für
Jahr erleben, wird ein unausräumbarer Widerspruch geschaffen, der täglich größer wird.
({1})
Sie vergrößern diesen Widerspruch, indem Sie nicht sofort aus der Atomkraft aussteigen, indem Sie die Castortransporte nach Gorleben nicht stoppen und indem Sie
nicht bereit sind, sich auf einen gesellschaftlichen Dialog wirklich einzulassen, bei dem die Bevölkerung mitreden darf, wie es mit der Atommüllverwahrung weitergehen soll.
({2})
Ich will Ihnen auch sagen, warum Sie nicht bereit
sind, diese gesellschaftlich dringend notwendige Debatte
zu führen. Sie haben Angst, und Sie wissen, dass es eigentlich keine Lösung gibt. Dieser Widerspruch ist nicht
auflösbar. Das Vertrauen der Menschen ist grundlegend
verspielt.
Nein, mit den Akteuren in der Atomindustrie, aber
auch in den Parlamenten, die seit Jahrzehnten dieses Desaster angerichtet haben, wird es nicht möglich sein, mit
dieser Problematik verantwortungsvoll umzugehen. Sie
sind an sinnvollen Lösungen offensichtlich nicht interessiert, sondern hören nach wie vor auf das Deutsche
Atomforum, auf den BDI und auf die anderen Verbände.
Wir haben derzeit kein Zwischenlager für die Castorbehälter aus der Wiederaufarbeitung. Das ist Ihr Verschulden. Deutschland ist momentan nicht in der Lage,
diesen strahlenden Müll aus Frankreich aufzunehmen.
Das Zwischenlager Gorleben ist das einzige Lager, das
über eine entsprechende Genehmigung verfügt. Dort
sind die Grenzwerte aber erreicht. Das Lager ist damit
voll.
Es wurde versäumt, sich rechtzeitig nach Alternativen
umzuschauen. Die Konsequenz für das französische
Volk ist unzumutbar: Die Genehmigung für den Castortransport ist zu widerrufen. Das Zeug muss offensichtlich noch Jahre in La Hague bleiben, was für die Franzosen, wie gesagt, unzumutbar ist. Wir wissen aber alle,
dass es Jahre dauern wird, bis die Genehmigung für ein
weiteres Zwischenlager erteilt wird. Welchem Landstrich wollen wir dieses Lager bitte schön aufbürden?
Ich sehe nicht, dass es eine Lösung wäre, einen der
Standorte der Atomkraftwerke als Atommülllager auszuweisen.
({3})
Ich komme zu den Konsequenzen. Erstens. Den
Castortransport untersagen.
({4})
Zweitens. Die Atomkraftwerke abschalten. Drittens. In
der Vergangenheit gemachte Fehler eingestehen. Viertens. Gorleben und Schacht Konrad als Endlager aufgeben. Fünftens. Einen gesellschaftlichen Dialog beginnen. Dieser Dialog muss Menschen einbeziehen und
Vertrauen schaffen. Dann kann in der Gesellschaft darüber diskutiert werden, wie wir dieses in 50 Jahren entstandene Problem lösen können. Wie können wir diese
Probleme gemeinsam lösen? Das funktioniert nur mit einem Dialog auf Augenhöhe, und nicht mit Durchknüppeln, mit Erlassen oder der Einschränkung von Demokratierechten.
({5})
Von daher wird die Linke am ersten Adventswochenende wieder mit vielen Menschen bunt und vielfältig im
Wendland unterwegs sein.
Ich danke Ihnen.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Menzner. - Jetzt spricht
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Sylvia Kotting-Uhl. Bitte schön, Frau Kollegin KottingUhl.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Wie mehrere der Rednerinnen und Redner bei dieser Debatte bin ich erst vorhin aus dem Untersuchungsausschuss Gorleben gekommen. Wenn man sich mit der Geschichte von Gorleben befasst, dann trifft man auf das
Prinzip: Was nicht passt, wird passend gemacht.
({0})
Das bezieht sich auf das Endlagerbergwerk, an dem dort
gearbeitet wird. Man kann heute hinzufügen: Oder es
wird so lange gemessen, bis es passt. Das bezieht sich
auf das Zwischenlager.
({1})
Was passt nicht? Es passt nicht, dass der zuständige
Landesbetrieb NLWKN eine Neutronenstrahlung von
bereits 0,41 Millisievert gemessen und hochgerechnet
hat, dass nach Einlagerung weiterer elf Castoren, die im
November erwartet werden, der Eingreifwert voraussichtlich überschritten wird.
Was ist seitdem passiert? Es wurden Behälter umgestellt, die PTB hat gemessen, der TÜV hat gerechnet. Einige Abgeordnete - ich selbst war eine dieser Abgeordneten - haben versucht, ihre Kontrollfunktion
wahrzunehmen und in dem Transportbehälterlager einmal zu prüfen, was dort an sogenannten Optimierungsmaßnahmen vorgenommen wurde. Das wurde uns jedoch verwehrt.
({2})
Trotz des Wustes von Hintergrundwerten, Messunsicherheiten, Tageswerten und jeder Menge offene Fragen ist für das NMU eines klar: Es gibt keine Bedenken
gegen die Einlagerung der Castoren. Der Transport kann
rollen. Umweltminister Sander ist hier genauso widersprüchlich wie die Messungen; denn er spricht sich gegen weitere Castortransporte aus. Er ist aber derjenige,
der diesmal den Schlüssel in der Hand hat, den Castortransport zu verhindern. Er hat die Entscheidung in der
Hand, und er kneift vor dieser Entscheidung,
({3})
und zwar möglicherweise aus Gründen, die Sie, Frau
Lühmann, uns dargelegt haben.
Dahinter steckt ein Problem, das - wie so oft bei der
Atomkraft - unschön und schwer lösbar ist. In Deutschland gibt es keinen anderen genehmigten Ort für die
Rücknahme des atomaren Wiederaufarbeitungsmülls als
dieses Zwischenlager in Gorleben. Abhilfe schafft aber
nicht eine Spielwiese, auf der man einfach einmal mit
den bestehenden Grenzwerten, den Eingreifwerten und
dem Strahlenminimierungsgebot herumjongliert. Abhilfe schafft man nur, wenn man die AKW-Betreiber gemäß dem Verursacherprinzip dazu auffordert, Genehmigungsanträge für die Aufbewahrung des Mülls in den
standortnahen Zwischenlagern zu stellen.
Zu den Grenzwerten will ich Ihnen einmal etwas sagen, Frau Brunkhorst: Grenzwerte sind gesetzliche Regelungen, die zumeist ihren Grund haben. Grenzwerte
sind immer Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem
gesundheitlich Notwendigen und dem, was wirtschaftlich als notwendig erachtet wird. Deswegen haben
Grenzwerte für unterschiedliche Müllsorten an unterschiedlichen Standorten auch unterschiedliche Höhen.
({4})
Das müssten Sie in der - immer noch - vermeintlichen
Wirtschaftsfraktion eigentlich wissen.
({5})
Wir haben jetzt die Möglichkeit, gemeinsam eine entsprechende Forderung an die Atomkraftwerksbetreiber
zu stellen. Dazu fordere ich Sie auf. Das muss umgehend
geschehen, damit die Zeit des Verbleibs der Castoren in
La Hague so kurz wie möglich ist; denn für die Franzosen ist es unzumutbar, sie noch länger in ihrer Obhut zu
haben. Diese Aufforderung können wir gemeinsam stellen, wenn Sie unserem Antrag zustimmen.
Die Widersprüche von Herrn Sander zeigen, dass er
offensichtlich bundesaufsichtliche Hilfe braucht. Deshalb
würde ich an dieser Stelle gern Herrn Röttgen - wenn er
denn da wäre, aber vielleicht liest er ja meinen Antrag auffordern, damit aufzuhören, den Kopf in den Sand zu
stecken, sich wegzuducken und die Dinge laufen zu lassen. Es ist Zeit für eine bundesaufsichtliche Weisung.
Herr Röttgen sollte seiner Aufgabe jetzt gerecht werden.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Zu einer Kurzintervention hat unsere Kollegin Frau Skudelny das Wort. Bitte
schön, Frau Kollegin Skudelny.
Ich weiß, es ist nicht die Uhrzeit dafür, aber ich mache es ganz kurz. - In Baden-Württemberg stellen die
Grünen nicht nur den Ministerpräsidenten, sondern auch
den Umweltminister. Von Greenpeace wurde vorgeschlagen, die Anlage in Philippsburg als Zwischenlager
- so wie Sie es sagen - zu nutzen. Die EnBW gehört
etwa zur Hälfte dem Land Baden-Württemberg. Ich
frage mich, warum Sie die Schleife über den Bund drehen, wenn Ihr Landesumweltminister eigentlich das eigene Unternehmen dazu auffordern könnte. Das wäre
doch der erste Schritt, bevor man die große Schleife über
die Bundesregierung dreht.
({0})
Zur Antwort, Frau Kollegin Kotting-Uhl.
Ich werde jetzt ganz sachlich auf das antworten, was
Sie hier vorgetragen haben,
({0})
obwohl es da noch viele andere Dinge zu sagen gäbe. Greenpeace hat gefordert, diese Castorbehälter ausschließlich zum standortnahen Zwischenlager in Philippsburg zu bringen. Hätten Sie mir zugehört, den Antrag gelesen oder dem Umweltminister von BadenWürttemberg zugehört, dann wüssten Sie, dass sowohl
der Umweltminister von Baden-Württemberg wie auch
ich dafür sind, diesen Transport abzusagen und diese
Castoren zu den verschiedenen standortnahen Zwischenlagern in Deutschland zu bringen, nicht nur zu dem
standortnahen Zwischenlager in Philippsburg. Ich will
Ihnen auch sagen, warum: Nachdem Baden-Württemberg jetzt, und zwar wohlweislich nach dem Regierungswechsel, das erste Land war, das gesagt hat: „Wir werden unserer Verantwortung für die Lagerung des
Atommülls gerecht und öffnen uns für eine Endlagersuche“, kann es nicht sein, dass man zum Dank dafür einem einzigen Zwischenlager in diesem Land just den
ganzen anstehenden Müll vor die Füße wirft.
({1})
Baden-Württemberg ist für 20 Prozent des Mülls zuständig, der jetzt zurückkommt. Für diese 20 Prozent soll
Baden-Württemberg nach der Vorstellung des badenwürttembergischen Umweltministers und meiner Fraktion die Verantwortung übernehmen. Die Aufgabe liegt
im Moment darin, dass die AKW-Betreiber die Genehmigungsanträge stellen. Es ist deren Sache, wie sie sich
auf eine Verteilung der Transporte einigen und wie sie
das ausrechnen. Es sind noch einige Transporte zu erwarten: Es ist nicht der letzte Transport aus La Hague; es
wird noch schwach- und mittelradioaktiver Müll aus La
Hague kommen. Es kommen auch noch 22 Castoren aus
Sellafield.
Wir in Baden-Württemberg sind im Gegensatz zu vielen anderen Ländern bereit, Verantwortung zu übernehmen, übrigens auch im Gegensatz zur früheren schwarzgelben Regierung in Baden-Württemberg; Gott sei Dank
ist diese Zeit vorbei. Die schwarz-gelbe Regierung hat
immer nur gesagt: Nicht bei uns! Not in my backyard! Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei; BadenWürttemberg übernimmt seine Verantwortung.
({2})
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege
Dr. Georg Nüßlein.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Nach
der Rücknahme der Laufzeitverlängerungen und einer
Präzisierung, insbesondere einer zeitlichen Klarstellung,
zum Ausstieg aus der Kernenergie bleibt bei mir immer
noch die Hoffnung, dass es diesem Haus gelingen mag,
solche Themen wie das heutige mit großer Sachlichkeit
und Verantwortung für das, was noch vor uns liegt, anzugehen. Andererseits ärgert es mich natürlich, wenn von
einer Seite immer wieder Panikmache und Betroffenheitsrhetorik kommen.
Liebe Frau Kollegin Menzner, es ist nun einmal hanebüchen, uns den Vorschlag, die Untersuchungen in Gorleben und gleich auch noch den Schacht Konrad aufzugeben, als Lösung der Endlagerfrage zu präsentieren;
das muss man einmal ganz deutlich sagen.
({0})
Ich will klipp und klar festhalten, dass für uns beim
Thema Kerntechnologie und Strahlenschutz Sicherheit
das oberste Gebot ist; ich gestehe es allen anderen Fraktionen zu, dass sie es genauso sehen. Vor diesem Hintergrund möchte ich eindeutig klarstellen, dass die Messungen, über die wir hier diskutieren, in § 6 Atomgesetz, der
Strahlenschutzverordnung, der Aufbewahrungsgenehmigung des Bundesamtes für Strahlenschutz, der Richtlinie
zur Emissions- und Immissionsüberwachung kerntechnischer Anlagen sowie den Messanleitungen für die Überwachung radioaktiver Stoffe in der Umwelt und externer
Strahlung so festgehalten sind.
({1})
Das ist richtig und wichtig. Die Messungen sind auf dieser Grundlage erfolgt.
({2})
Sobald es auf dieser Basis einen Handlungs- und Eingriffsbedarf gibt, hat dieser Eingriff unmittelbar und sofort zu erfolgen, und zwar ohne Wenn und Aber; das
sage ich klipp und klar.
({3})
Ich sage dann aber auch klar: Ich bin zunächst einmal
absolut darüber erleichtert, dass uns in der Umweltausschusssitzung vom 9. November vom Bundesumweltministerium noch einmal ausführlich erläutert wurde, dass
der genehmigte Jahreswert nicht überschritten wird ganz klipp und klar.
({4})
Ich bin - vermutlich wie auch Sie - unglücklich über
die Kommunikation in der letzten Woche. Aber in der
gestrigen Umweltausschusssitzung wurde das Thema
noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei wurde
ausführlichst erläutert, wie die unterschiedlichen Messwerte des Niedersächsischen Landesbetriebes für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt sowie des TÜV Nord
zustande kamen. Das haben die meisten der hier anwesenden Ausschussmitglieder mitbekommen.
Im Übrigen gibt es dazu eine schriftliche Abhandlung, nämlich die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Heinen-Esser, nachzulesen in der Drucksache
17/7239.
Herr Kollege Nüßlein, geben Sie der Frau Kollegin
Kotting-Uhl die Chance für eine Zwischenfrage?
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen sind nicht begeistert;
ich bin es um 22.31 Uhr auch nicht übermäßig. Aber
wenn Sie meinen, Sie müssten noch einmal zwischenfragen, tun Sie es doch.
({0})
Sie haben versprochen, sich kurzzufassen.
Ich will mich nur auf das „klipp und klar“ beziehen.
Der TÜV hat klipp und klar ausgerechnet, dass man bei
0,254 mSv landen wird. Dabei ist eine Prognose von
plus/minus 10 Prozent. Wenn Sie die 10 Prozent addieren, sind Sie bei über 0,27 mSv. Das ist genau der Ein16616
greifwert. Das heißt, nach dem Strahlenminimierungsgebot muss man eingreifen.
Man liegt unter dem Eingriffswert.
({0})
- Es heißt: „plus/minus 10 Prozent“. Sie haben Werte
zwischen 0,238 mSv und 0,254 mSv plus/minus 10 Prozent.
({1})
Also liegt man aus meiner Sicht, jedenfalls wenn man
diese Werte begutachtet, unter dem Eingriffswert. Damit
ist man ganz eindeutig in einer Situation, in der das in
dieser Art und Weise jedenfalls nicht geboten ist.
Die Frage ist, was Sie damit erreichen wollen. Sie
müssen natürlich dann auch erklären, liebe Frau Kollegin, wie Sie mit dieser Thematik umgehen wollen, wie
Sie den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die wir erfüllen müssen, nachkommen wollen, wie Sie den Franzosen
erklären wollen, weshalb Sie die Castoren, die von dort
zu Recht wieder zurück nach Deutschland gebracht werden müssen, jetzt nicht in diesem Land annehmen können. Diese Fragen müssen sie aus meiner Sicht beantworten.
Fest steht, dass in Gorleben derzeit 102 Castorbehälter liegen. Die Lagergenehmigung ist auf über 400 dieser
Behälter ausgerichtet.
Eigentlich wollte ich nicht konfrontativ vorgehen.
Aber weil Sie mich gefragt haben, möchte ich Folgendes
zur Sicherheit und den Castortransporten sagen: Dazu
können Sie einen entscheidenden Beitrag leisten. Ich erinnere mich gut an die Aktion im Herbst letzten Jahres.
Damals sind elf Castorbehälter von Nordfrankreich nach
Gorleben transportiert worden.
({2})
Dabei wurde ein neuer Begriff geprägt, nämlich der Begriff des Schotterns. Das wurde von verschiedenen Seiten - ich schaue bewusst niemanden an - ganz massiv
protegiert.
({3})
Das wurde auch von Ihnen in dem Wissen, dass mit
solch einem Eingriff in den Schienenverkehr am Ende
auch Risiken für Menschen verbunden sind, unterstützt.
({4})
Das ist nicht nur ein unzulässiges Eingreifen in Eigentumsrechte. Das muss ich deutlich sagen.
({5})
Von Ihrer Seite ist schon die übliche Folklore angekündigt worden. Sie haben schon gesagt, was Sie in den
nächsten Wochen vorhaben und wie Sie demonstrieren
wollen.
({6})
Meine Damen und Herren, nichts gegen das Demonstrationsrecht.
({7})
Das ist ein hohes Rechtsgut. Aber was Sie persönlich betreiben und vormachen, geht weiter über das Demonstrieren hinaus. Das ist ein Eingriff ins Eigentum und
({8})
gefährdet Sicherheit. Das muss man in dieser Klarheit
sagen. Ich hoffe, dass Sie damit anders umgehen.
({9})
Ich sage das auch an Herrn Trittin und an Herrn Gysi
gerichtet, die jetzt wieder zu Demonstrationen aufrufen.
({10})
Während seiner Amtszeit hat Herr Trittin Castortransporte genehmigt. Ich erinnere mich noch gut an die Aussagen von Herrn Trittin.
({11})
Er hat sich hingestellt und gesagt: Gegen die Castortransporte - die guten, von den Grünen genehmigten ({12})
dürften die Grünen weder singend, tanzend noch sonst
irgendwie demonstrieren. Aber gegen die, die von uns
genehmigt werden müssen, muss man natürlich demonstrieren.
({13})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. - Es wäre gut gewesen, wenn Sie diese Doppelzüngigkeit eingestellt hätten. Es hätte mich gefreut,
wenn Sie bei Ihren Redebeiträgen außer der angekündigten Folklore etwas dazu gesagt hätten, dass es verantwortlich wäre, zu Zurückhaltung aufzurufen.
({0})
Das hätte ich von Ihnen erwartet, aber anscheinend kann
man so viel von Ihnen nicht erwarten.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu
Lasten des Strahlenschutzes - Zwischenlagerung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungsabfälle verursachergerecht neu gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7677, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD sowie Teile
der Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die übrige
Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/7634 mit dem Titel „CASTORTransport 2011 nach Gorleben stoppen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Das sind die Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Besetzung der Großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung
- Drucksachen 17/6905, 17/7276 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/7669 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Christoph Strässer
Jens Petermann
Jerzy Montag
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sie
sind alle damit einverstanden? - Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Ich ver-
zichte auf die Verlesung.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Be-
setzung der Großen Straf- und Jugendkammern in der
Hauptverhandlung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7669,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 17/6905 und 17/7276 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Wer stimmt dagegen? - Das sind die Sozialdemokraten
1) Anlage 3
und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({1}) Nr. 211/2011
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative
- Drucksache 17/7575 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Petitionsausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
dient dazu, für das Institut der Europäischen Bürgerinitiative, das mit Art. 11 Abs. 4 des Vertrags über die
Europäische Union neu geschaffen wurde, nationale Zuständigkeiten zuzuweisen und Verfahren festzulegen.
Da es sich bei der Europäischen Bürgerinitiative um
ein neuartiges Instrument direkter Demokratie handelt,
das den Unionsbürgern ab 1. April 2012 zur Verfügung
steht und ihnen erstmals die Möglichkeit verschafft, direkt und nicht vermittelt über Wahlen oder eine Petition
an der europäischen Gesetzgebung mitzuwirken, möchte
ich zunächst einige wichtige Voraussetzungen und Verfahrensschritte dafür kurz darstellen.
Inhalt einer solchen Bürgerinitiative muss die Aufforderung an die Europäische Kommission sein, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen
zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um
die europäischen Verträge umzusetzen. Da die Kommission in fast allen Politikbereichen, die in den Kompetenzbereich der Union fallen, das Initiativrecht hat, sind
die Initiatoren einer Bürgerinitiative thematisch kaum
eingeschränkt. Der vorgeschlagene Rechtsakt darf aber
höherrangigem europäischem Recht nicht widersprechen und die Grundrechte der Union nicht verletzen.
Eine Änderung des Primärrechts, also der grundlegenden Verträge der EU, ist ebenfalls ausgeschlossen.
Nachdem die Europäische Kommission die Bürgerinitiative auf einer Website registriert hat, können die
Organisatoren der Initiative innerhalb eines Jahres Unterstützungsbekundungen sammeln. Neben der Papierform können auch online Unterstützungsbekundungen
gesammelt werden, wofür die Europäische Kommission
eine kostenfreie Open-Source-Software bereitstellt.
Für eine gültige Bürgerinitiative bedarf es der Unterzeichnung durch 1 Million Unionsbürger, die nach dem
jeweiligen nationalen Recht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wahlberechtigt sind. Die Zahl der
Unterzeichner entspricht 0,2 Prozent der Unionsbürger
und ist damit sehr niedrig angesetzt.
Um sicherzustellen, dass die Angelegenheit von europaweitem Interesse ist, müssen die Unterstützer aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten, derzeit also
aus sieben Mitgliedstaaten, kommen. Erforderlich ist
auch eine jeweilige Mindestzahl aus diesen Staaten. Aus
Deutschland müssen es mindestens 74 250 Unterzeichner sein.
Liegen alle Voraussetzungen vor und ist eine Bürgerinitiative danach zulässig, prüft die Europäische Kommission diese und legt innerhalb von drei Monaten ihr
beabsichtigtes Vorgehen und die Gründe dafür dar. Falls
sie nicht beabsichtigt, Maßnahmen zu ergreifen, erläutert sie die Gründe dafür ebenfalls. Den Organisatoren
wird zuvor die Möglichkeit gegeben, ihre Bürgerinitiative innerhalb einer öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament vorzustellen.
Die EU-Verordnung über die Bürgerinitiative verlangt nationale Zuständigkeitszuweisungen und Verfahrensfestlegungen, die mit dem vorliegenden Gesetz erfolgen sollen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um
folgende Regelungen:
Das Bundesversicherungsamt wird als zuständige Behörde für die Überprüfung der Unterstützungsbekundungen sowie das Ausstellen von Bescheinigungen über
die Zahl der gültigen Bekundungen in Deutschland benannt.
Um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, wird
von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Zulässigkeit der gesammelten Unterstützungsbekundungen stichprobenartig zu überprüfen. Zudem soll die Überprüfung
von Unterstützungsbekundungen durch einen automatisierten Datenaustausch zwischen Bundesversicherungsamt und Meldebehörden erleichtert werden. Zu diesem
Zweck wird die Bundesmeldedatenübermittlungsverordnung ergänzt.
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik wird als die zuständige Behörde benannt, die bescheinigt, ob ein Onlinesammelsystem mit den technischen und sicherheitsrelevanten Anforderungen der EUVerordnung über die Bürgerinitiative vereinbar ist.
Außerdem werden Bußgeldvorschriften erlassen, die
Verstöße der Organisatoren einer Bürgerinitiative gegen
die EU-Verordnung sanktionieren.
Da ein Demokratiedefizit auf der europäischen Ebene
offensichtlich ist und dies auch von einer großen Zahl
der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland beklagt
wird, begrüßen wir die Europäische Bürgerinitiative
und die dazu erforderlichen nationalen Umsetzungsregelungen, die mit dem vorliegenden Gesetz erfolgen
sollen. Das Instrument kann ein Schritt sein, dieses Defizit abzubauen.
Allerdings dürfen die positiven Wirkungen der Europäischen Bürgerinitiative auch nicht überschätzt werden. Denn die gestalterischen Möglichkeiten, die den
Unionsbürgern mit diesem Instrument gesetzt wurden,
sind eingeschränkt: Die Europäische Kommission kann
das Begehren der Bürgerinitiative mit Gründen zurückweisen und von konkreten Umsetzungsmaßnahmen absehen. Im Falle der Ablehnung der Bürgerinitiative ist
auch keine Volksabstimmung vorgesehen.
Dennoch sehen wir die Europäische Bürgerinitiative
positiv, verbindet sich damit doch die Hoffnung, dass
sich mit der unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeit die
Kenntnis und das Verständnis über die europäische Politik und das dortige Gesetzgebungsverfahren erhöhen.
Das Interesse an Europa soll gesteigert werden und für
Europa-Kritiker soll es schwieriger werden, zu argumentieren, dass ausschließlich ferne EU-Bürokraten
über machtlose Unionsbürger entscheiden. Aufgrund
der Tatsache, dass die Unterstützer aus mindestens sieben Mitgliedstaaten kommen müssen, ist eine Vernetzung von nationalen Bewegungen und Organisationen
erforderlich, wodurch ein transnationales, europäisches
Bewusstsein vertieft werden soll.
Ein Fokus liegt auf Europa, und das leider nicht nur
positiv. Die Zeitungen sind voll von Europa. Es geht um
die Finanzkrise, es geht um Milliardenrettungspakete, es
geht um drohenden Staatsbankrott und tiefe Einschnitte
in die Lebensumstände der Bürger. Im Kern aber geht es
um den Zusammenhalt Europas und seine Legitimation
gegenüber seinen Bürgern, die zunehmend den Eindruck
haben, dass anonyme Zirkel und Mächte über ihre Köpfe
hinweg über ihre Zukunft und die ihrer Kinder entscheiden.
Die Einführung einer Europäischen Bürgerinitiative
stellt vor diesem Hintergrund eine enorme Chance dar.
Sie kann den Menschen die Möglichkeit und das Gefühl
geben, Europapolitik nicht ausgeliefert zu sein, sondern
diese aktiv mitgestalten zu können.
Bürgerwille und Protest sind bereits jetzt ein wichtiges Korrektiv zu politischen Entscheidungen. So ist es
dem stetigen Beharren vieler engagierter Menschen zu
verdanken, dass die Bundesregierung in ihrer Energiepolitik nach Fukushima eine Kehrtwende vollzogen und
die erst 2010 beschlossenen Laufzeitverlängerungen
von Atomkraftwerken zurückgenommen hat.
Die neuen Medien und sozialen Netzwerke eröffnen
uns zugleich die Möglichkeit, jenseits traditioneller Medienhoheit Themen über nationale Grenzen hinweg zu
kommunizieren und sich politisch zu organisieren. Ein
gutes Beispiel ist die „occupy-Bewegung“, egal wie man
inhaltlich dazu stehen mag.
Wer den Bürger in Europa aber lediglich auf die
Straße als Artikulationsmöglichkeit verweist, wird ihn
Zu Protokoll gegebene Reden
auf Dauer gegen die europäische Idee mobilisieren und
nicht für sie gewinnen. Will Europa von den Bürgern als
ihres begriffen werden, so muss es ihnen jenseits der
sehr indirekten Strukturen von Rats-, Kommissions- und
Parlamentsentscheidungen direktere demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich von Anfang an
für die Europäische Bürgerinitiative ausgesprochen und
den Prozess begleitet. Da gibt es deutliche Erfolge zu
verzeichnen! Die notwendige Unterstützeranzahl einer
solchen Initiative wurde von 160 000 Bürgerinnen und
Bürger auf 72 000 reduziert.
Die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen
die Unterstützer kommen müssen, wurde von neun auf
sieben gesenkt. Das ist erfreulich, denn Bürgerinnen und
Bürger aus einem Viertel der Mitgliedstaaten können bereits sicherstellen, dass es um Fragen von europaweitem
und nicht nur nationalem Interesse geht.
Bedauerlich ist, dass der Zeitraum für die Sammlung
von Unterstützungsbekundungen nicht von zwölf Monaten auf achtzehn Monate erhöht wurde. Wir haben damals schon gesagt, dass es einen enorm hohen Aufwand
bedeutet, Menschen aus so vielen EU-Mitgliedstaaten
miteinander zu vernetzen und dass das angemessen bei
der Zeitraumbestimmung berücksichtigt werden sollte.
Trotz allem ist es jetzt dringend geboten, die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in Europa zügig Realität
werden zu lassen.
Die EU-Verordnung zur Europäischen Bürgerinitiative soll im April 2012 in Kraft treten. Bis dahin müssen
die nationalen Regelungen angepasst sein. Es mag der
Tatsache geschuldet sein, dass es hier um die Anpassung
deutschen Rechts an eine ohnehin unmittelbar geltende
EU-Verordnung ging, was insoweit kaum eigenständigen Regelungsgehalt aufweist. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dennoch erfreut zur Kenntnis genommen,
dass die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen,
einen Gesetzentwurf zur Durchführung der EU-Verordnung vorzulegen, ausnahmsweise frühzeitig ergriffen
hat.
Wenn die Regierungen Europas es nicht schaffen,
eine Finanztransaktionsteuer in Europa durchzusetzen,
dann werden mit der Europäischen Bürgerinitiative künftig die Bürgerinnen und Bürger Europas dazu die Gelegenheit haben.
Die Menschen in Europa haben bis heute wenige
reale Möglichkeiten, aktiv am europäischen Willensbildungsprozess teilzunehmen. Europa muss dringend nach
grenzübergreifenden Beteiligungsformen über die Wahl
des Europäischen Parlaments hinaus suchen. Gerade
jetzt, in Zeiten der europäischen Krise und der „Wutbürger“, die sich nicht so einfach mit politischen Entscheidungen abfinden wollen, sollten die Menschen stets in
Politikprozesse einbezogen werden. Sie müssen die
Chance erhalten, ihre Anliegen zu artikulieren, Argumente auszutauschen und angehört zu werden.
Mit der Europäischen Bürgerinitiative erhalten Menschen in Europa endlich ein direktdemokratisches Instrument, mit dem die Europäische Kommission gezwungen werden kann, in einem bestimmten Bereich initiativ
zu werden. Zurzeit wird die europäische Politik von den
Bürgerinnen und Bürgern der EU oft als bürgerfern und
technokratisch empfunden. Dem muss entgegengewirkt
werden. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein erster
Schritt für mehr direkte Teilnahme an europäischen politischen Prozessen für mehr Akzeptanz für die Idee vom
vereinten Europa. Sie trägt zu mehr europäischer Solidarität bei, weil sie den Bürgerinnen und Bürgern der
Mitgliedstaaten die Kraft gibt, etwas bewirken zu können. Gerade in Zeiten starker finanzieller Turbulenzen
und von Zweifeln an dem europäischen Zusammenhalt
ist Solidarität unabdingbar.
Die Europäische Bürgerinitiative bietet neue, nie da
gewesene grenzüberschreitende Partizipationsmöglichkeiten. Sie ist dazu da, um europaübergreifend über politische Fragen zu diskutieren. Sie bietet die Chance,
neue, aktuelle Themen unmittelbar in die europäische
Politik einzubringen. Sie ermöglicht Initiativen und die
Übermittlung politischer Vorschläge direkt an die Europäische Kommission.
Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Bürgerinitiative zum Element eines politischen Frühwarnsystems wird, das Defizite auf der EU-Ebene verdeutlicht. Sie kann aufzeigen, in welche Richtung sich die
politischen Wünsche und Hoffnungen der Bürgerinnen
und Bürger der EU entwickeln, so wie das zurzeit in
Deutschland über Petitionen, insbesondere die öffentlichen Petitionen, passiert. Petitionen sind das einzige
Element der direkten Demokratie auf Bundesebene.
Eine klug genutzte und unbürokratisch umgesetzte
Bürgerinitiative kann ein Schrittmacher für mehr Bürgernähe und Demokratie sein. Sie kann auch eine Waffe
gegen die Politikverdrossenheit sein. Ich hoffe sehr, dass
die Bürgerinnen und Bürger Europas die Chancen für
mehr Beteiligung über die Bürgerinitiative nutzen.
Die Politik ist gut beraten, wenn sie die Europäische
Bürgerinitiative nicht nur schnellstens und unbürokratisch umsetzt, sondern die Bürgerinitiative und ihre
Breitenwirkung auch aufmerksam verfolgt, nutzt und gebührend berücksichtigt. Beschämend ist allerdings, dass
es demnächst direktdemokratische Elemente in den
Kommunen, Ländern und der EU gibt, und auf der Bundesebene direkte Beteiligung nur über das Petitionsrecht
möglich ist.
Meine letzte Rede zur Europäischen Bürgerinitiative,
EBI, vom 10. Juni 2010 ist schon einige Zeit her. In der
Zwischenzeit ist viel passiert. Die EU-Verordnung
Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative
wurde verabschiedet. Die Bundesregierung hat ihren
Gesetzentwurf zur Umsetzung dieser Verordnung nun
vorgelegt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich freue mich sehr, dass die EBI durch diesen Gesetzentwurf immer greifbarer wird. Aus der Idee, eine
europäische Möglichkeit, sich zu beteiligen, zu etablieren, ist ein konkreter Gesetzentwurf geworden, der das
Verfahren zur Umsetzung einer EBI regelt. Die Idee wird
also zunehmend lebendiger.
Wichtig ist es, Bürgerinnen und Bürger zu einer Bürgerinitiative zu ermutigen und zu motivieren - sie mitzunehmen. Gerade deshalb ist es entscheidend, die Verfahren so benutzerfreundlich und einfach wie nur möglich
zu gestalten. Das Verfahren entscheidet schließlich auch
über die Häufigkeit der Anwendung einer EBI. Gleichzeitig muss natürlich auch der Datenschutz gewahrt
bleiben.
In meiner ersten Rede zu diesem Thema habe ich gefordert, dass der Schutz der Unterstützerdaten durch die
Organisatoren und die zuständigen Behörden sichergestellt werden muss. Damals wie heute erachte ich es als
besonders wichtig, dass die Möglichkeit der Sammlung
von Unterschriften über das Internet möglich ist. Dies
wird in Art. 6 der EU-Verordnung extra geregelt. Als
erster Schritt zur Umsetzung einer EBI soll in Deutschland durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, eine Bescheinigung ausgestellt werden, die den Organisatoren einer EBI die Erfüllung der
Anforderungen zum Onlinesammelsystem gemäß dieses
Art. 6 Abs. 4 bestätigt. Das BSI überprüft also erst einmal das Sammelsystem der Organisatoren auf die festgelegten Datenschutz- und Sicherheitsbestimmungen.
Gibt das BSI das Okay, können die Organisatoren sammeln.
In der EU-Verordnung heißt es nämlich, die Onlinesammelsysteme müssen über angemessene Sicherheitsmerkmale und technische Merkmale verfügen. Dies ist
zunächst natürlich sehr zu begrüßen. Der Datenschutz
ist ein wichtiger Aspekt, der garantiert werden muss. Bis
zum 1. Januar 2012 will die Kommission nun noch technische Spezifikationen für die Umsetzung verabschieden. Diese werde ich dann genau betrachten und analysieren.
Neben der Sammlung der Daten müssen diese dann
auch in einem professionellen Verfahren überprüft werden. Das fällt in die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsamtes. Die Organisatoren übermitteln also die Daten an das Amt. Dieses wird stichprobenartig die
Gültigkeit der Daten überprüfen und arbeitet dafür mit
den Meldebehörden zusammen. Um Missbrauch zu vermeiden ist dies ein wichtiger und richtiger Ansatz. Voraussetzung für eine EBI muss natürlich ihre Legitimität
sein, die so bestätigt wird.
Allerdings möchte ich die Vorgehensweise hier nicht
ganz unkritisch stehen lassen. In § 3 Abs. 3 ist festgeschrieben, welche Daten mit den Melderegistern abgeglichen werden können. Darunter fallen auch frühere
Anschriften und frühere Namen. In der Begründung
steht, dass zunächst nur die erforderlichen Daten für
den Abgleich genutzt würden, und später erst weitere
wie frühere Adressen zum Tragen kämen:
Das BVA beschränkt den Datenabgleich auf das zu
diesem Zweck Erforderliche, beispielsweise indem
es die Überprüfung zunächst nur anhand von Familienname, Vorname, Geburtstag und Anschrift
durchführt und nur, wenn anhand dieser Daten
keine eindeutige Identifizierung möglich ist, den
Datensatz um die frühere Anschrift oder weitere
Daten erweitert.
Diese Abschichtung ist im Gesetzentwurf leider nicht
angelegt. Hier würde ich mir eine konkretere Festlegung
der Vorgehensweise wünschen.
Insgesamt sollten wir uns jedoch freuen, dass wir einen Schritt weiterkommen bei der Umsetzung von mehr
Mitspracherechten für alle Europäerinnen und Europäer. Gerade jetzt brauchen wir das umso mehr. Wir diskutieren über die Situation Griechenlands und die beste
Lösung für ein zusammenwachsendes Europa. Allerdings bietet die Debatte auch Raum für Euro-Skeptiker
und Euro-Kritiker.
Ich bin davon überzeugt, dass wir durch mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger
das Gemeinschaftsgefühl für unser Europa weiter stärken können. Die EBI ist eine Methode, die Europäische
Union bürgernäher zu gestalten. Hier müssen wir alle
über weitere Möglichkeiten nachdenken, die europäische Politik für die Bürgerinnen und Bürger transparenter und verständlicher zu machen.
Ich habe mir jetzt erst einmal den 1. April 2012 als
Geburtstag der EBI im Kalender markiert, den ich gerne
mit allen Europäerinnen und Europäern gemeinsam feiern möchte. Ich hoffe, dass besonders aus Deutschland
viele interessante Initiativen kommen werden.
Wir beraten heute ein Gesetz zur Durchführung einer
europäischen Verordnung, die keinen großen Wurf darstellt, sondern nur ein kleiner Schritt in Richtung Beteiligungsdemokratie ist. Die EU-Verordnung 211/2011 ermöglicht ab April 2012, dass mindestens 1 Million
Staatsangehörige aus mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten die Europäische Kommission auffordern, eine
Gesetzesinitiative zu ergreifen. Wir sollen nun die entsprechenden gesetzlichen Bedingungen dafür schaffen,
dass diese Verordnung umgesetzt werden kann.
Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht mehr als
ein Massenpetitionsrecht, und es fehlt ihr an Verbindlichkeit. Mit dieser Unverbindlichkeit wird ein grundlegendes Defizit fortgeschrieben, das der Vertrag von
Lissabon postulierte und das die Linke kritisiert. Er verweigert seinen Bürgerinnen und Bürgern direktdemokratische Partizipation. Auch mit der Europäischen Bürgerinitiative bekommen sie nichts an die Hand, das es
ihnen ermöglicht, direkten Einfluss auf die Politik der
Europäischen Union zu nehmen.
Meine Fraktion hat im Juni vergangenen Jahres den
Antrag „Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlich
gestalten“ ins Parlament eingebracht, mit dem der Versuch unternommen wurde, aus dem halbherzigen Angebot zumindest noch das Bestmögliche im Sinne der BürZu Protokoll gegebene Reden
gerinnen und Bürger zu machen. Wir haben goutiert,
dass die Europäische Bürgerinitiative ein Instrument
sein kann, grenzüberschreitende Debatten anzustoßen
und zum Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen. Wir haben aber auch gesagt, einen Schritt zur
unmittelbaren Volksgesetzgebung stelle sie indes nicht
dar. Aber, wie wir - im Zusammenhang mit der Frage
nach Volksabstimmungen zu europäischen Fragen - erst
wieder in den vergangenen Tagen seitens der CDU hören konnten: Es ist auch gar nicht gewünscht, dass die
Menschen in diesem und allen anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union mehr Beteiligungsmöglichkeiten haben und größeren Einfluss auf politische
Entscheidungen nehmen können. Bundestagspräsident
Norbert Lammert hat es deutlich gemacht, indem er
sagte: „Das Hauptproblem der Leute scheint mir nicht
zu sein, dass sie sich von Entscheidungen ausgeschlossen fühlen, die sie selbst fällen möchten. Im Gegenteil:
Die meisten fühlen sich von diesen Fragen zwar betroffen, aber auch überfordert. Sie wollen doch nicht ernsthaft die Entscheidung anstelle der gewählten Gremien
treffen.“ Diese Art des Paternalismus ist es, die den
Geist des Vertrages von Lissabon ausmacht und die verhindert, dass wir in Deutschland und in der EU auch nur
ein Stück vorankommen in Richtung direkter Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung. Eine ehrliche Antwort aller
Bundestagsabgeordneten auf die Frage, ob sie vollständig verstehen, worüber sie beim dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM abstimmen, oder sich überfordert fühlen, überraschte uns sicher.
Gut ist, dass die Bundesregierung mit dem vorliegenden Entwurf zur Europäischen Bürgerinitiative zumindest von ihrem ursprünglichen Plan, die Kosten, die bei
Onlinebürgerinitiativen entstehen, teilweise an die Organisatoren durchzureichen, absieht. Es wäre auch einer Verhöhnung der Menschen gleichgekommen, die initiativ werden und sich im Sinne der Fortentwicklung
unserer Demokratie engagieren.
Die EBI ist keine bedeutende Neuerung in Richtung
„Europa für Bürgerinnen und Bürger“. Sie bietet zwar
vernetzten Organisationen die Möglichkeit, initiativ zu
werden; für alle anderen aber ist sie zu elitär. Die EBI
hat kein wirkliches Initiativrecht und bietet keine Möglichkeit, die Politik tatsächlich zu beeinflussen. So entsteht kein europäisches Bewusstsein, das sich daraus
nährt, auf politische Prozesse einwirken, sie mitgestalten zu können. Sie ist nur ein bisschen mehr als Kosmetik
und hat mit wirklicher europäischer Bürgerbeteiligung
wenig zu tun. Sie wird das strukturelle Demokratiedefizit
der Europäischen Union nicht aufheben, auch weil es
die Mitgliedstaaten der Union sind, die ein europäisches
Bewusstsein zu verhindern suchen. Wir fordern die Bundesregierung auf, auf europäischer Ebene die Initiative
für mehr direkte demokratische Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung zu ergreifen.
Das Jahr 2012 wird für Europa und die europäische
Idee ein gutes Jahr. Ab dem 1. April 2012 wird es für
jede Europäerin und jeden Europäer möglich sein, eine
Europäische Bürgerinitiative einzuleiten. Adressat der
Initiative ist die EU-Kommission. Sie soll geeignete
Handlungsvorschläge zu Themen unterbreiten, die der
Umsetzung der europäischen Verträge dienen.
In Zeiten, in denen sich Europa in einer tiefen Krise
befindet wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ist die Europäische Bürgerinitiative Balsam für die Seele eines jeden überzeugten Europäers. Die europäische Integration kommt damit unmittelbar bei den Bürgerinnen und
Bürgern an. Jetzt können die Bürgerinnen und Bürger
der Europäischen Union direkt die Politik der Europäischen Union mitgestalten, zusätzlich zu den alle fünf
Jahre stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Die Europäische Union etabliert mit der Europäischen Bürgerinitiative das erste staatenübergreifende
Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit. Die damit einhergehende Ausstrahlungskraft dürfte auch über die
Grenzen Europas hinaus wahrgenommen werden.
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Verordnung über die Bürgerinitiative gibt dieser Bundesregierung gleichwohl keinen Grund, sich auf die Schulter zu
klopfen. Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht auf
engagiertes Betreiben der Bundesregierung oder der
Regierungsfraktionen entstanden. Das deckt sich im Übrigen auch mit Ihrem mäßigen Engagement für direkte
Demokratie und Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. An
der Wiege der Europäischen Bürgerinitiative standen
die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union
und ihre Initiativen. Wir Grünen haben diesen Prozess
von Anfang an intensiv begleitet und uns bereits im Europäischen Konvent, später im Europäischen Parlament
und auch hier im Bundestag für eine bürgerfreundliche
Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative eingesetzt.
Die Bundesregierung unterdessen versuchte in ihrem
ersten Entwurf zur Umsetzung der EU-Verordnung, die
Bürgerinitiative gen null zu führen. Wie sonst lässt sich
erklären, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger für
die Wahrnehmung ihres demokratischen Rechts zur
Kasse gebeten werden sollten? Die Bundesregierung
hatte allen Ernstes vor, die Kostenlast zur Zertifizierung
von Onlinesammelsystemen auf die Organisatorinnen
und Organisatoren der Bürgerinitiativen abzuwälzen.
Unser Protest vom 18. Juli dieses Jahres hat dazu beigetragen, diese von der Bundesregierung beabsichtigte
Hürde gegen mehr direkte Demokratie zu verhindern.
Damit sind die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die
sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben, nun ausreichend gewahrt. Gemeinsam können wir daher feststellen, dass die kostenfreie Nutzung der Europäischen Bürgerinitiative ein Erfolg ist.
Es ist auch ein Erfolg, dass die Hürden, die die Europäische Kommission zunächst in die Ausgestaltung der
Bürgerinitiative eingebaut hatte, nun abgebaut sind. Wir
Grünen haben daran intensiv mitgearbeitet. Im Einzelnen: Die Anzahl der Mitgliedstaaten, in denen Unterschriften für die Initiative gesammelt werden müssen, ist
auf ein Viertel, also auf jetzt sieben Mitgliedstaaten, abgesenkt worden. Die Zulässigkeitsprüfung findet gleich
am Anfang - und nicht erst nach dem Sammeln von über
300 000 Unterschriften - statt. Die Initiatoren zulässiZu Protokoll gegebene Reden
ger Bürgerinitiativen haben ein Recht auf Anhörung bei
der EU. Die Kommission und das Europäische Parlament stellen sicher, dass diese Anhörung im Europäischen Parlament stattfindet, dass gegebenenfalls andere
Organe und Einrichtungen der Union an der Anhörung
teilnehmen und dass die Kommission auf geeigneter
Ebene vertreten ist. Bürgerinnen und Bürger können damit nicht mehr nur mit einem Brief der EU-Kommission
abgespeist werden. Es wird eine Open-source-Software
für die Onlineunterschriftensammlung geben. Die Europäische Kommission wird eine Kontaktstelle für Beratungen und Nachfragen einrichten.
Die Europäische Bürgerinitiative ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Aber sie ist nur ein erster Schritt. Wir
Grüne wollen mehr. Wir wollen, dass sich die EU-Kommission nicht nur mit dem Anliegen der Initiative befassen muss, um dann eventuell nach Belieben einen entsprechenden Gesetzesvorschlag zu erarbeiten. Wir wollen
mehr direkte Entscheidungsmöglichkeiten, die über die
bloße Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der
politischen Agenda hinausgehen. Europa sollte seinen
Bürgerinnen und Bürgern mehr zutrauen. Wir tun es und
fordern auch die Bundesregierung und die Regierungskoalition dazu auf. Vertrauen Sie den Menschen, und öffnen Sie die Türen für mehr Demokratie in der Europäischen Union!
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7575 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Nachhaltige Entwicklung in Subsahara-Afrika
durch die Stärkung der Menschenrechte fördern
- Drucksache 17/7370 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. -
Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7370 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 4
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über Verkündung und Bekanntmachungen
- Drucksache 17/6610 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/7560 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Mechthild Dyckmans
Ingrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Art. 82 GG verlangt, dass die nach den Vorschriften
dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze im
Bundesgesetzblatt verkündet werden. Das vorliegende
Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Verkündung
und Bekanntmachungen setzt an dieser grundgesetzlichen Regelung an und geht einen fortschrittlichen Weg,
indem es die nicht mehr zeitgemäße Form der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt durch eine elektronische
Form der Veröffentlichung im Bundesanzeiger ersetzt.
Der Bundesanzeiger wird nun ausschließlich in elektronischer Form erscheinen, da das Nebeneinander von
Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger
nicht mehr erforderlich und zudem unwirtschaftlich ist.
Wie die bisherige gedruckte Fassung des Bundesanzeigers enthält auch die elektronische Form zwei Teile;
einen amtlichen Teil und einen Teil für beispielsweise
gerichtliche Bekanntmachungen, Bekanntmachungen
der Kommunen und gesellschaftsrechtliche Bekanntmachungen.
Die beschriebenen Bekanntmachungen und Verkündungen erhalten ihre rechtsverbindliche Fassung mit
der Einstellung in das Internet. Personen ohne Internetzugang erhalten Ausdrucke des Bundesanzeigers oder
bestimmter Teile des Bundesanzeigers gegen ein Entgelt.
Drei Aspekte sprechen für die ausschließliche Veröffentlichung in elektronischer Form:
Zuerst ist hier zu nennen, dass der Zugang der Bevölkerung zu den Gesetzestexten deutlich vereinfacht wird.
Gleichzeitig erhält der Informationssuchende die Möglichkeit, die Suchfunktionen der elektronischen Fassung
zu nutzen und einen umfassenden Einblick in die jeweiligen Ausgaben des Bundesanzeigers zu erhalten. Somit
gewinnt der Informationssuchende Zeit bei der Recherche, und die Zurverfügungstellung der zu verkündenden
Texte erfolgt ebenfalls ohne Zeitverzug.
Weiter wird der Zugang aus dem Ausland erst durch
die elektronische Veröffentlichung ermöglicht. Durch
die elektronische Veröffentlichung erhält somit nicht nur
jeder in Deutschland wohnende Interessierte Zugang,
sondern auch jede Person, die im Ausland wohnt und Interesse an den in Deutschland verkündeten Texten hat.
Im europäischen Kontext wird so ein Zusammenwachsen
gefördert.
Letztlich können durch die Umstellung auf die elektronische Verkündung bei Druck und Vertrieb Kosteneinsparungen realisiert werden. Diese Einsparungen
kommen der Wirtschaft zugute. Dies ist dem Umstand
geschuldet, dass nach dem Vertrag mit der Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft Kostensenkungen weiterzugeben sind.
Mit dem heute zu beschließenden Gesetz zur Änderung von Verkündung und Bekanntmachungen wird aber
gleichzeitig eine Korrektur des Gesetzes zur Reform der
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung vom
29. Juli 2009, Bundesgesetzblatt I, Seite 2258, beschlossen. Die entsprechenden Korrekturen und Änderungen
sind im Wesentlichen die grundlegende Neukonzeption
der Vermögensverzeichnisse und der Schuldner-verzeichnisse. Die Vermögensverzeichnisse und die Schuldnerverzeichnisse werden derzeit in Papierform geführt
und lokal bei den einzelnen Vollstreckungsgerichten verwaltet. Dies beeinträchtigt die Effektivität von Vollstreckungsmaßnahmen des Gläubigers erheblich.
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung am 1. Januar 2013 werden die Vermögensverzeichnisse künftig in
jedem Land zentral an einem Vollstreckungsgericht verwaltet. Die Schuldnerverzeichnisse werden zentral an
diesem Vollstreckungsgericht geführt. Beides erfolgt
künftig in elektronischer Form.
Im Zuge der Ausarbeitung der Verordnung über das
Vermögensverzeichnis hat sich Anpassungsbedarf bei
den gesetzlichen Grundlagen für den Erlass der Verordnungen ergeben. Die Änderungen sind für den Erlass einer widerspruchsfreien Verordnung, die auf die praktischen Bedürfnisse der Länder abgestimmt ist, zwingend
notwendig.
Das Gesetz über Änderungen von Vorschriften über
Verkündungen und Bekanntmachungen, das einerseits
eine elektronische Form des Bundesanzeigers festlegt
und gleichzeitig einige notwendige Korrekturen an dem
Gesetz zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung vornimmt, stellt für den interessierten
Bürger eine Erleichterung in zeitlicher Hinsicht dar und
schafft eine zeitnähere Informationsmöglichkeit des
Bürgers. Gleichzeitig führt die Einführung des elektronischen Bundesanzeigers zur Einsparung von Druck- und
Vertriebskosten, ohne solche Kosten ungerechtfertigter
Weise umzuverteilen.
Auch im Hinblick auf die Entwicklungen in der Europäischen Union ist die Einführung des elektronischen
Bundesanzeigers notwendig. Das Amtsblatt der Europäischen Union wird nun elektronisch veröffentlicht.
Das entsprechende Gesetz wurde am 27. Oktober 2011
in zweiter und dritter Lesung beraten und angenommen.
Damit nun der deutsche Standard der Veröffentlichung
des Bundesanzeigers nicht hinter dem europäischen
Standard zurückbleibt, ist die Einführung des elektronischen Bundesanzeigers unabdingbar.
Der Einwand, dass nicht jedem der Zugang zum Bundesanzeiger möglich sei, da Ausdrucke nur gegen Entgelt erhalten werden können, schlägt fehl. § 6 Abs. 2 des
Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über Verkündungen und Bekanntmachungen schreibt fest, dass Veröffentlichungen im amtlichen Teil des Bundesanzeigers
von jedermann unentgeltlich ausgedruckt und gespeichert werden können. Lediglich der Bezug einzelner Veröffentlichungen ist entgeltpflichtig. Jeder hat mithin die
Möglichkeit, den amtlichen Teil des Bundesanzeigers
entgeltfrei einzusehen.
Da das vorliegende Gesetz mithin bei Schaffung vieler Vorteile für den interessierten Bürger und sogar finanzieller Einsparmöglichkeiten keinerlei Nachteile
birgt, darf ich um die Zustimmung zu diesem Gesetz werben.
Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass die christlichliberale Koalition selbst bei so praktischen Vorhaben
wie der elektronischen Veröffentlichung des Bundesanzeigers gleichzeitig fortschrittliche und an den Interessen der Bürger orientierte politische Entscheidungen
fällt.
Der Bundesanzeiger soll künftig ausschließlich elektronisch geführt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Verkündungs- und Bekanntmachungswesen des Bundes für den Bereich der Verkündungen
und Bekanntmachungen im Bundesanzeiger nur noch
elektronisch erfolgen.
Die Rechtsnormen sind der Öffentlichkeit in einer
Weise förmlich zugänglich zu machen, dass die Betroffenen sich verlässlich Kenntnis von ihrem Inhalt verschaffen können. Nach Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes
zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten
nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Rechtsverordnungen des Bundes
werden nach Art. 82 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes
von der Stelle, die sie erlässt, ausgefertigt und grundsätzlich ebenfalls im Bundesgesetzblatt verkündet.
Rechtsverordnungen können alternativ gemäß Art. 82
Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit den Regelungen des
Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen,
RVVerkG, auch im Bundesanzeiger verkündet werden.
In elektronischer Form sollen Verkündungen und Bekanntmachungen im Bundesanzeiger künftig unproblematisch bereitgestellt werden. Die Bezeichnung „Bundesanzeiger“ wird weitergeführt. Das nutzt dem Bekanntheitsgrad
des Organs und unterstreicht die grundgesetzlich geforderte
Verlässlichkeit.
Ein wichtiges Argument für die ausschließliche Einführung des elektronischen Bundesanzeigers ist die erhebliche Kosteneinsparung. Druck und Vertrieb des
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesanzeigers verursachen hohe Kosten. Der Aufwand für die Herstellung einer Papierausgabe für Informationen, wie etwa Tarife oder technische Regeln, die
nur von einem vergleichsweise kleinen Kreis von Spezialisten nachgefragt werden, ist unverhältnismäßig. Der
Gesetzentwurf führt zu Recht aus, dass mit dem elektronischen Bundesanzeiger inzwischen eine funktionsfähige elektronische Veröffentlichungsmöglichkeit besteht,
die dem bisherigen gedruckten Bundesanzeiger überlegen ist.
Durch die Veröffentlichung im elektronischen Bundesanzeiger werden die Rechtsnormen der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Der gedruckte Bundesanzeiger
wurde nur noch von etwa 1 700 Abonnenten bezogen.
Die elektronische Fassung bietet über das Internet eine
sehr gute Verbreitungsmöglichkeit. Zu Recht wird im
Gesetzentwurf festgestellt, dass ein Nebeneinander von
Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger damit nicht mehr erforderlich und unwirtschaftlich ist.
Durch eine Zusammenführung der verschiedenen
Verkündungen im elektronischen Medium können die
Anforderungen an eine ordentliche Verkündung auf Vollständigkeit einerseits und einfache Handhabbarkeit sowie zügige Veröffentlichung andererseits ideal erfüllt
werden.
Bei der Bekanntmachung muss aber auch die Identität des Textes selbst sichergestellt werden. Dies betrifft
zum einen die „Authentizität“, die inhaltliche Übereinstimmung mit der Originalvorlage. Das hat auch mit
„Amtlichkeit“ zu tun. Die Bürgerinnen und Bürger vertrauten darauf, dass fehlerhafte oder gar falsche Texte
schnell erkannt und publik gemacht werden. Dieses Vertrauen, das vor allem auch mit der greifbaren Verfügbarkeit der Hefte verbunden ist, fehlt dem elektronischen
Dokument. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Erscheinungsbild eines Gesetzblattes imitiert wird und gezielt Fälschungen in Umlauf gebracht werden. In den
Begründungen zu den einzelnen Paragrafen des Gesetzentwurfs ist zur Umsetzung des § 7 die Verwendung und
Beifügung einer qualifizierten elektronischen Signatur
entsprechend dem Signaturgesetz vorgesehen.
Die Überprüfung sollte aber für den Anwender direkt
möglich sein, das heißt, die Überprüfung muss direkt auf
der Webseite des Bundesanzeigers angeboten werden.
Es darf nicht sein, dass die Anwender eine Software von
Drittanbietern erst auswählen, dann downloaden und
installieren müssen.
Zum anderen betrifft dies die Formatierung der Inhalte. Die Sicherungsanforderungen des § 7 Abs. 2 sehen vor, dass ein Dokument in einem ständig und dauerhaft verfügbaren und lesbaren Format bereitgestellt
wird. Durch technische Vorkehrungen muss sichergestellt sein, dass nachträgliche inhaltliche Veränderungen eines Dokuments zuverlässig erkennbar sind.
Dies kann nach unserer Auffassung und bestätigt
durch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für
Recht und Informatik e. V., die DGRI, das PDF-Format
gewährleisten. Das Portable Document Format ist ein
ständig und dauerhaft verfügbares Format, das den ISOStandards entspricht.
Der Änderungsantrag der Regierungsfraktionen betrifft fast ausschließlich unwesentliche redaktionelle Änderungen. Außerdem soll durch Änderung des § 802 k
Abs. 1 ZPO ({0}) künftig ermöglicht werden,
dass die Länder eine zentrale und länderübergreifende
Datensammlung einrichten und per Internet verfügbar
halten können, unter der eine Einsichtnahme in die Vermögensverzeichnisse möglich ist. Diese soll allerdings
erst im Jahr 2013 in Kraft treten.
Vermögensverzeichnisse müssen angelegt werden im
Rahmen der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung
nach der Abgabenordung wegen Steuerschulden und im
Rahmen einer Vermögensauskunft, die vom Gerichtsvollzieher bei der Vollstreckung von Geldforderungen
abverlangt werden kann.
Die Einsichtnahme ist möglich für Gerichtsvollzieher,
Vollstreckungsgerichte, Insolvenzgerichte, Registergerichte und Strafverfolgungsbehörden. Bisher gibt es eine
solche bundesweite Datensammlung nach § 882 b ZPO
nur für das Schuldnerverzeichnis, in das Name, Adresse,
Geburtsdatum und Aktenzeichen von Schuldnern eingetragen werden, wenn die Eintragung im Rahmen der
Zwangsvollstreckung, der Eintreibung einer Steuerschuld oder im Rahmen eines Insolvenzverfahrens angeordnet wird.
Die zentrale bundesweite Sammlung von Vermögensverzeichnissen ist ein großer Datensammelschritt, aber
richtig. Ohne diese Sammlung müssten die Behörden
und Gerichte erst das bundesweite Schuldnerverzeichnis
einsehen und dann in den Ländern nachforschen, ob es
dort Vermögensverzeichnisse gibt.
Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Verkündung und Bekanntmachungen hat zum einen das
Ziel, den Bundesanzeiger künftig ausschließlich elektronisch über das Internet herauszugeben.
Darüber hinaus werden weitere Änderungen der ZPO
und der Abgabenordnung vorgenommen, die im Wesentlichen Korrekturen hinsichtlich der Vorschriften über
die Vermögensverzeichnisse enthalten.
Diese unterschiedlichen Regelungsmaterien bedingen auch eine Anpassung des Titels des Gesetzes.
Der Bundesanzeiger wird künftig ausschließlich elektronisch über das Internet herausgegeben werden. Damit wird das Nebeneinander von Bundesanzeiger und
elektronischem Bundesanzeiger, das seit Inbetriebnahme der elektronischen Veröffentlichung im Jahr
2002 besteht, aufgegeben. Der gedruckte Bundesanzeiger, dessen Druck und Vertrieb hohe Kosten verursachen, wurde zuletzt nur noch von etwa 1 200 entgeltpflichtigen Abonnenten in einer Stückzahl von 1 700
Exemplaren bezogen, während die Verbreitungsmöglichkeit über das Internet wesentlich mehr Interessenten
erreicht. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, über den eigenen Internetanschluss, ein Internetcafe oder eine öfZu Protokoll gegebene Reden
fentliche Bibliothek Einsicht in den elektronischen Bundesanzeiger zu nehmen. Daneben erhalten Personen, die
mit dem Internet nicht umgehen wollen oder können, die
Möglichkeit, Ausdrucke des Bundesanzeigers oder bestimmter Teile davon gegen Entgelt zu beziehen. Die
elektronische Veröffentlichung wird inzwischen aufgrund spezieller Ermächtigungen in verschiedenen Gesetzen sicher und erfolgreich auch für die Verkündung
von Rechtsverordnungen genutzt. Damit liegen ausreichende Erfahrungen mit diesem Medium vor, und ein
Nebeneinander von gedruckter Fassung und elektronischem Bundesanzeiger ist nicht mehr erforderlich und
darüber hinaus auch unwirtschaftlich.
Durch die neue Form der Veröffentlichung wird der
Zugang der Bevölkerung zu den Gesetzestexten wesentlich verbessert. Die Gesetze werden schneller und leichter auffindbar und auch die jederzeitige Einsicht vom
Ausland her wird erst durch die elektronische Verkündung möglich.
Wichtig ist, dass die Funktion des Bundesanzeigers
als Bekanntmachungs- und Verkündungsorgan erhalten
bleibt, und ebenso wichtig ist, dass ein sicheres Verfahren entwickelt wurde, das Authentizität und Dauerhaftigkeit der veröffentlichten Texte gewährleistet.
Mit der Umstellung auf die alleinige elektronische
Verkündung und Bekanntmachung des Bundesanzeigers
können auch praktische Erfahrungen gesammelt werden
auf dem Weg zu einem einheitlichen elektronischen
Rechtsinformationssystem.
Der zweite Hauptgegenstand des Gesetzentwurfs betrifft im Wesentlichen Korrekturänderungen des Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung, das zum 1. Januar
2013 in Kraft tritt und eine Vielzahl von Verbesserungen
bei der Informationsgewinnung bei der Durchführung
der Zwangsvollstreckung mit sich bringt. Schuldnerund Vermögensverzeichnis werden künftig zentral verwaltet und in elektronischer Form geführt, wobei die
Einzelheiten betreffend Verwaltung und Löschung der
Verzeichnisse durch Rechtsverordnung geregelt werden.
Im Rahmen der Ausarbeitung der Verordnungen hat sich
ein Korrekturbedarf bei den gesetzlichen Grundlagen
für ihren Erlass ergeben, der zeitnah vorgenommen werden muss, damit die Länder ausreichend Gelegenheit
haben, die elektronische Führung der Verzeichnisse einzuführen. Dabei befürworten die Länder ausdrücklich
einen einheitlichen bundesweiten Abruf der Vermögensverzeichnisse über eine Adresse im Internet. Dies soll
durch § 802 k Abs. 1 ZPO ermöglicht werden.
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zeigt
der Gesetzgeber, dass er die moderne Informations- und
Kommunikationstechnologie auch in Gesetzgebung und
öffentlicher Verwaltung verantwortungsbewusst einsetzt.
Der Bundesanzeiger wird seit Jahrzehnten in Papierform durch das Bundesministerium für Justiz veröffentlicht. Daneben wurde am 30. August 2002 der elektronische Bundesanzeiger eingerichtet. Beide werden mittlerweile für gesellschaftliche und amtliche Bekanntmachungen sowie für die Verkündung von Rechtsverordnungen genutzt.
Im Zuge der Entwicklung hin zu einer papierlosen
bzw. papierarmen Verwaltung begrüßt die Linke die ausschließlich elektronische Herausgabe des Bundesanzeigers über das Internet. Zudem ist nach Ausführungen
des Statistischen Bundesamtes die Bedeutung der kostenintensiven Papierform stark zurückgegangen. Alles
in allem ein Schritt in die richtige Richtung.
Doch nun kommt das obligatorische Aber der Linken:
Der umfangreiche Änderungsantrag der Koalition zu ihrem eigenen Gesetzentwurf beseitigt fast ausschließlich
Fehler, die redaktioneller Natur sind. Aber: Ganz am
Ende taucht auf einmal ein neuer Artikel zur Zivilprozessordnung auf. Und was regelt dieser? Absolut gar
nichts, was mit dem elektronischen Bundesanzeiger zu
tun hat. Nein, laut Begründung werden vermeintliche
Fehler, die mit dem Gesetz zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung gemacht wurden, ausgebügelt. Das heißt, in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren zu einer speziellen Sachmaterie wird eine
vollkommen neue Sachmaterie ohne Bezug zum ursprünglichen Gesetz behandelt. Und um dem ganzen
Vorgang noch eine Krone aufzusetzen, hat die Koalition
versucht, das gesamte Verfahren ohne Debatte in einer
ersten, zweiten und dritten Lesung durch den Bundestag
zu schleusen. Aber nicht mit uns! Die Vorgehensweise,
einfach einem Gesetzentwurf durch einen Änderungsantrag eine völlig fremde Materie ohne Sachzusammenhang anzuhängen, in der Hoffnung, dass es niemand bemerken wird, ist unseres Erachtens eine unzulässige
Umgehung der formellen Vorschriften zum Gesetzgebungsverfahren. Auf diese Weise wird die erste Lesung
der neuen Sachmaterie übergangen, sodass sich der
Bundestag nicht in verfassungskonformer Weise mit der
Materie beschäftigen konnte. Meine Damen und Herren
der Koalition, es hat schon seinen Sinn, jede Gesetzesänderung in drei Lesungen im Bundestag zu verhandeln.
Finden Sie nicht?
Da die Koalition diese Verfahrensweise häufiger
wählt, habe ich beim Wissenschaftlichen Dienst des
Deutschen Bundestages ein Gutachten in Auftrag gegeben. Dieses hatte die Frage zu klären, ob dieses Omnibusverfahren mit Art. 76 Abs. 1 Grundgesetz vereinbar
ist.
Darin heißt es: Eine Veränderung eines Gesetzentwurfs durch Änderungsbeschlüsse des federführenden
Ausschusses würde verfassungsrechtlich dann problematisch, wenn sie auf ein dem Ausschuss nicht zustehendes Gesetzesinitiativrecht hinauslaufen würde. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages regelt, dass
die Ausschüsse dem Bundestag bestimmte Beschlüsse
nur empfehlen dürfen, wenn sie sich auf die in ihren Vorlagen oder mit diesen in unmittelbaren Sachzusammenhang stehenden Fragen beziehen. Ein eigenes Initiativrecht gegenüber dem Plenum steht den Ausschüssen
nicht zu - § 62 Abs. 1 Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Geschäftsordnungsausschuss hat in seiner Auslegungsentscheidung vom 15. November 1984 Folgendes
festgelegt: Ausschussmitglieder dürfen bei der Beratung
eines Gesetzentwurfs Anträge zu seiner Änderung oder
Ergänzung einbringen, die in unmittelbarem Sachzusammenhang zu der Vorlage stehen. Ein unmittelbarer
Sachzusammenhang ist anzuerkennen, wenn die Ergänzungen am Gesetzgebungsgrund oder an den Gesetzgebungszielen der ursprünglichen Vorlage anknüpfen.
Da im vorliegenden Fall durch den Änderungsantrag
Vorschriften zur Zwangsvollstreckung aufgenommen
wurden, die mitnichten mit dem Gesetzgebungsgrund
oder auch den Gesetzgebungszielen, den elektronischen
Bundesanzeiger festzuschreiben, verknüpfbar sind, ist
der erforderliche Sachzusammenhang nicht gegeben.
Durch Annahme dieses Änderungsantrages und Vorlage
zum Plenum verstößt der Rechtsausschuss gegen seine
Pflicht aus § 62 Geschäftsordnung des Bundestages und
maßt sich das Gesetzgebungsinitiativrecht des Art. 76
Abs. 1 Grundgesetz an. Das ist nicht hinnehmbar.
Die Linke kann nicht sehenden Auges einem nicht
verfassungsgemäß entstandenen Gesetzentwurf die Zustimmung erteilen und muss demnach unabhängig von
den inhaltlichen Erwägungen leider mit Ablehnung votieren.
Das Internet und andere elektronische Medien gewin-
nen in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung.
Über das Internet können wir auf eine unendliche Fülle
von Dokumenten zugreifen. Die Informationsbeschaf-
fung ist auf diese Weise leichter und vor allem schneller
geworden. Im Laufe der Zeit haben wir uns immer wie-
der neuen technischen Herausforderungen gestellt und
haben unser Leben daran angepasst. E-Mails haben bin-
nen kürzester Zeit dem Briefverkehr den Rang abgelau-
fen. Eine komplett neue Infrastruktur der Kommunika-
tion hat sich eröffnet. Wer kann sich heute noch eine
Welt ohne elektronische Medien vorstellen?
Auch die deutsche Verwaltung und Justiz haben sich
den Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation
gegenüber aufgeschlossen gezeigt. Eine klare Tendenz
zur verstärkten Nutzung elektronischer Kommunika-
tionsformen ist erkennbar. Nicht umsonst entstehen neu-
deutsche Begriffe wie „E-Justice“, die elektronische
Justiz. Als erfolgreiches Beispiel der elektronischen Jus-
tiz möchte ich hier das EGVP nennen - das Elektroni-
sche Gerichts- und Verwaltungspostfach. Das EGVP ist
eine Software, die es Verfahrensbeteiligten ermöglicht,
mit Gerichten, Behörden und untereinander elektroni-
sche Nachrichten schnell und sicher auszutauschen.
Zum einen macht dies eine effizientere Bearbeitung bei
den Gerichten und Behörden möglich. Zum anderen er-
leichtert es den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu
Gericht und Behörden. Mitte dieses Jahres waren bereits
45 000 Nutzer des EGVP registriert, wie dem Internet zu
entnehmen ist.
Die elektronische Fassung des Bundesanzeigers ist
bereits heute jedem Internetnutzer frei zugänglich. Die
Onlineversion erleichtert nicht nur den Zugriff auf den
Bundesanzeiger, sondern vereinfacht auch die Recher-
che. Jede und jeder Internetnutzer kann jederzeit gezielt
Informationen zu bestimmten Rubriken oder mittels Voll-
textsuche erlangen. Wird die Druckversion des Bundes-
anzeigers abgeschafft, wie mit dem Entwurf, den wir
heute diskutieren, geplant, verringern sich Verwaltungs-
aufwand und Bürokratiekosten. Die Verkündung wird
beschleunigt. Deutschland kann so auch im internatio-
nalen Trend hin zur verstärkten Elektronisierung mithal-
ten. Die Europäische Union plant übrigens gerade, die
elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen
Union als rechtsverbindliche Version einzuführen.
Bei allen Vorteilen dürfen wir aber nicht außer Acht
lassen, dass nicht alle Bürger am technischen Fort-
schritt gleichermaßen teilhaben. Deshalb müssen wir
gewährleisten, dass auch Nichtinternetnutzern der Zu-
griff auf den Bundesanzeiger möglich bleibt. Niemand
darf aufgrund technischer Barrieren vom Informations-
zugang ausgeschlossen werden oder Nachteile erleiden.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht hierzu
vor, dass Ausdrucke einzelner Veröffentlichungen des
Bundesanzeigers gegen ein angemessenes Entgelt beim
Betreiber des Bundesanzeigers bezogen werden können.
Der Zugang zur elektronischen Version ist demgegen-
über kostenfrei. Menschen ohne Internetzugang sind in
der Regel ältere Personen oder Personen, die in sehr
ländlichen Gegenden leben. Für diese ist häufig auch
der Zugang zu einer Bibliothek nicht ohne Weiteres mög-
lich. Wir müssen darauf achten, dass das verlangte Ent-
gelt für einen Ausdruck des Bundesanzeigers tatsächlich
„angemessen“ ist. Kosten, die über Bearbeitungsgebüh-
ren und Porto hinaus gehen, sind nach meiner Ansicht
eine unzulässige Diskriminierung der Menschen, die
keinen Internetzugang haben. Dem müssen wir vorbeu-
gen.
Mit dem Gesetzentwurf haben wir die Möglichkeit,
Erfahrungen mit Onlineveröffentlichungen zu sammeln.
Diese Erfahrungen können wir auch dazu nutzen,
Onlineveröffentlichungen weiterer amtlicher Blätter,
wie zum Beispiel des Bundesgesetzblattes, anzustoßen.
Die Elektronisierung von Dokumenten ist zwar keine
neue Idee, jedoch kann sie für die elektronische Veröf-
fentlichung von Bundesblättern ein Pilotprojekt bilden.
Wir sollten zukunftsgerichtet denken und uns neuen
Möglichkeiten nicht verschließen. Gleichzeitig sollten
wir uns vom technischen Fortschritt nicht unter Druck
setzen lassen. Ein Vorgehen Schritt für Schritt halte ich
an dieser Stelle für den richtigen Weg.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/7560, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/6610 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer
stimmt dagegen? - Das ist die Linksfraktion. Vorsichts-
Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? -
Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der
Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Agnes Malczak, Volker
Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gegen eine Aufweichung des Verbots von
Streumunition
- Drucksache 17/7637 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Streumunition nicht wieder zulassen - Gegen
ein Protokoll über Streumunition zum CCW
- Drucksache 17/7635 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Uta Zapf. - Bitte schön, Frau Kollegin Uta Zapf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben uns in diesem Jahr schon mehrfach mit dem Thema
Streumunition beschäftigt. Im Mai und im September
haben wir ein Round-Table-Gespräch mit Vertretern von
Nichtregierungsorganisationen zum Thema Investitionsverbot in Firmen, die Streumunition herstellen,
durchgeführt. Am 20. Oktober dieses Jahres haben wir
die Reden zu diesem Antrag zu Protokoll gegeben. Heute
reden wir zwar zu später Stunde darüber, aber ich glaube,
es ist gut, dass wir die Reden heute nicht zu Protokoll geben; denn dieses Thema ist von großer Wichtigkeit.
({0})
Ein Aspekt im Zusammenhang mit Streumunition ist
in der heutigen Debatte von ganz besonderer Brisanz:
Der Inhalt und der Geist des von uns allen hochgelobten
Oslo-Abkommens zum Verbot von Streumunition steht
auf dem Spiel. Die Convention on Cluster Munition,
CCM, wurde von uns, vom Deutschen Bundestag, eindringlich gefordert. Wir waren alle froh, dass die Bundesregierung die Konvention von Oslo sehr schnell gezeichnet hat und wir sie im Jahr 2009 ratifiziert haben.
Wir sind alle sehr froh darüber, dass wir vorfristig mit
der Vernichtung dieser grausamen Munition fertig sein
können.
In dem Protokoll, über das ich hier rede, geht es auch
um Streubomben. Man muss sagen: „immer noch“; denn
bereits 2008 wurde deutlich, dass ein Verbot von Streumunition nicht in die UN-Waffenkonvention aufgenommen würde. Daraufhin hat die norwegische Regierung
den sogenannten Oslo-Prozess initiiert. Es entstand ein
Übereinkommen zum Verbot von Streumunition außerhalb der Genfer Abrüstungskonferenz. Ich zitiere den
Außenminister. Minister Westerwelle nannte diese Konvention einen „Meilenstein hin zu einer weltweiten Ächtung dieser unmenschlichen Waffen“. Jetzt will ebendieser Außenminister der Konvention jegliche Wirkung
rauben, indem er bei der anstehenden vierten Revisionskonferenz vom 14. bis 25. November dieses Jahres in
Genf einem zahnlosen Protokoll zustimmen will. Mir
will die Logik eines solchen Verhaltens einfach nicht in
den Kopf.
({1})
Das von uns ratifizierte Abkommen von Oslo beinhaltet ein umfassendes Verbot dieser grausamen
Waffe, die Zivilisten, Kinder, Alte und Junge ohne Unterschied tötet, und dies noch Jahre nach Abwurf. Immerhin 111 Staaten haben die Konvention unterzeichnet;
viele EU- und NATO-Staaten sind dabei. Nur die ganz
großen Staaten und Besitzer dieser Waffen, vor allen
Dingen die USA, Russland und China, aber auch Indien,
Pakistan und einige andere - sie produzieren und verkaufen diese Munition und wenden diese an -, sind nicht
dabei. Sie sind es, die auf eine Miniversion des Verbots
im UN-Kontext drängen. Durch dieses Protokoll würde
ihre Weigerung, auf diese inhumane Waffe zu verzichten, legitimiert. Ich glaube, das können wir nicht wollen.
({2})
Die Oslo-Konvention hat in hohem Maße zur Delegitimierung und Stigmatisierung von Streumunition beigetragen. China und Russland nehmen zum Beispiel als
Beobachter an den Konventionskonferenzen teil. Beide
sind nicht Vertragsstaaten und haben hohe Bestände an
Streumunition. Die USA verzichten seit geraumer Zeit
auf den Einsatz dieser Waffen.
In dieser Situation soll im November im Rahmen der
Convention on Certain Conventional Weapons, CCW,
über Streumunition verhandelt werden. Das erst 2011,
also kürzlich erneuerte Mandat soll sich - ich zitiere „mit der humanitären Problematik durch Streumunition
… befassen und dabei eine Balance zwischen militärischen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten …
wahren“. Schon dieser Satz ist eine Ungeheuerlichkeit.
Das, was vorgeschlagen wird, ist noch ungeheuerlicher. Künftig wäre wieder erlaubt, was von der OsloKonferenz verboten wurde. Nur wenige Einschränkun16628
gen werden auferlegt. Produktion und Transfer bleiben
erlaubt. Nur Streumunition, die vor 1980 hergestellt worden ist, wird verboten; alles andere bleibt erlaubt. Die
Munition, die vor 1980 hergestellt wurde, hat eine Übergangsfrist von zwölf Jahren. Dies ist ein Nullverbot, weil
derart überalterte Munition heute ohnehin nicht mehr eingesetzt wird. Der Text des Entwurfes erlaubt darüber hinaus die Nutzung für weitere zwölf Jahre. Sollte dies beschlossen werden, werden alle der Oslo-Konvention
nicht beigetretenen Länder leichten Gewissens wieder
Streumunition verwenden.
Streumunition mit einer Fehlerquote von bis zu 1 Prozent mit integriertem Sicherheitsmechanismus wäre erlaubt. Aber Fehlerquoten sind im Test realistisch nicht
feststellbar. Im Libanon wurde 2006 die M 85 eingesetzt,
die eine Fehlerquote von unter 1 Prozent haben sollte;
tatsächlich kam es bei ihrem Einsatz zu 15 Prozent
Blindgängern.
Ein solches Protokoll ist in der Tat eine Nulllösung.
Die humanitäre Frage wird nicht gelöst. Im Gegenteil:
Es gibt keine konkrete Verpflichtung zur Opferunterstützung, zur Munitionsbeseitigung, zur Lagerbestandsauflösung usw. Mit diesem Protokoll wird also alles, was
in Oslo beschlossen wurde, wieder rückgängig gemacht.
Es ist richtig - dieses Argument wird jetzt natürlich genannt werden -: Deutschland bleibt selbstverständlich an
die hohen Standards von Oslo gebunden. Deutschland
gäbe aber den USA, China, Russland, Pakistan, Israel
und noch einigen anderen, die ein Zusatzprotokoll über
Streumunition abgelehnt haben, einen Freibrief, ohne
schlechtes Gewissen in die Steinzeit der Streumunition
zurückzufallen.
({3})
Die Argumentation, man hole diese Staaten näher an
die Oslo-Standards heran, kann ich angesichts dieses
mickrigen Entwurfs nun wirklich nicht teilen. Ich zitiere
aus dem Abrüstungsbericht: Die Bundesregierung glaubt,
„substanzielle Verpflichtungen der großen Herstellerländer und einen deutlichen humanitären Mehrwert“ zu erzielen, der „die weltweite Streumunitionssituation entscheidend verbessern“ wird. Das glaube ich nicht. Das ist
auch nicht zu erwarten. Der Vertreter eines Landes, das
über große Bestände verfügt, nämlich der russische UNBotschafter Antonov, hat zu diesem Entwurf - er nennt
ihn „Verbotsvertrag“ - gesagt, dieser Verbotsvertrag
dürfe Russlands Verteidigungsfähigkeit in Bezug auf den
Einsatz von Streumunition nicht beeinträchtigen und
keine finanziellen Konsequenzen für sein Land haben,
und alle technischen Vorschriften des Verbotsvertrages
müssten unverbindlich formuliert sein.
Ich fordere die Bundesregierung auf, über einen solchen Entwurf nicht zu verhandeln, sich dem zu verweigern und damit die Oslo-Kriterien, die wir erkämpft und
unterschrieben haben, zu schützen und beizubehalten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Zapf. - Nächster Redner
ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Erich
Fritz. Bitte schön, Kollege Erich Fritz.
({0})
Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Abrüstungsschritte und die Ächtung von bestimmten Waffen auf unterschiedlichen Feldern waren in
den letzten Jahren weltweite Erfolge; da sind wir uns einig. Wir sind uns auch darin einig, dass es keinen Einsatz von Streumunition mehr geben soll und dass wir mit
aller Entschiedenheit für die Beseitigung dieser Waffen
kämpfen wollen. Das sind Waffen, die von der Welt verschwinden müssen.
Diese eindeutige Position Deutschlands wird nicht allein daran deutlich, dass hierzulande keine Produktion
solch inhumaner Waffen stattfindet. Tatsache ist auch,
dass Deutschland einen erheblichen Beitrag dazu geleistet hat, dass wir mit dem CCM-Protokoll bzw. der OsloKonvention vorankommen. Dieser völkerrechtliche Vertrag beinhaltet das Verbot des Einsatzes, der Herstellung
und der Weitergabe bestimmter Typen von konventioneller Streumunition und ist am 1. August 2010, wie Frau
Kollegin Zapf schon gesagt hat, in Kraft getreten - ein
wichtiger Schritt, den man nicht hoch genug einschätzen
kann.
Wünschenswert wäre nun, dass die weltweite Staatengemeinschaft den CCM-Vertrag ratifiziert. Das ist nach
unserer Auffassung das Ideal. Auch mit noch so viel Idealismus ist an dieser Stelle aber leider eine eindeutige
Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen: Gegenwärtig erfasst das Übereinkommen nur 10 bis 20 Prozent der
weltweiten Streumunitionsbestände. Deshalb frage ich:
Was muss man angesichts der Gewissheit, dass einige
Staaten das CCM-Übereinkommen nicht, zumindest
nicht kurz- oder mittelfristig, ratifizieren werden, tun?
Was der Vertreter eines dieser Länder in aller Offenheit
gesagt hat, haben wir gerade gehört.
Hier wird im Prinzip die Schwäche plurilateraler Abkommen sichtbar. Häufig sind die Gutwilligen die Vertragspartner, aber die, auf die es besonders ankäme, stehen, weil sie scheinbar bedeutende Interessen wahren
wollen, abseits.
({0})
Wie soll man das überbrücken? Das ist die Kunst.
Das Protokoll VI zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen über bestimmte konventionelle Waffen, CCW,
bleibt hinter den restriktiven Festlegungen des Vertrags
von Oslo zurück. Hier gibt es keine Fehldeutung; das ist
eine Tatsache. Dennoch ist die Umsetzung dieses Protokolls nach unserer Auffassung wünschenswert, da es den
einzigen zurzeit möglichen Einstieg in ein weltweites
und mit der Autorität eines UN-Abkommens ausgestattetes Streumunitionsregime darstellt. Ein solches mit
dieser Bedeutung gibt es bisher nicht. Es wäre nicht allumfassend - klar - und erreichte nicht das Niveau des
Oslo-Abkommens, aber erstmals wäre die Teilnahme
und Zustimmung von Russland und den Vereinigten
Staaten möglich.
({1})
Ein multilateraler Ansatz unter Einbindung der Großmächte - das wäre ein solcher - brächte uns also einen
Schritt in die richtige Richtung. Multilaterale Regeln
würden die Politik gegen Streumunition auf eine neue,
qualitativ höhere Stufe stellen.
Erstens wird ein sofortiges Verbot von Streumunition,
die vor 1980 hergestellt wurde, erreicht. Sie ist zu zerstören. Das kann man bagatellisieren, und darüber kann
man auch gut diskutieren, aber das ist ein Zugeständnis,
das nicht zu erwarten war und mit dem wir uns zunächst
einmal doch zufrieden zeigen können.
Zweitens gibt es ein Verbot jeder nach 1980 hergestellten Streumunition ohne Sicherheitsmechanismus.
Da wir eine bestimmte Einschätzung dieser Waffen haben, tröstet uns das nicht sehr. Staaten, die diese Bedingungen nicht sofort erfüllen können, werden für nach
1980 produzierte Streumunition Übergangsfristen ermöglicht. Sie haben gleich die höchstmögliche angeführt. Eigentlich sollen es für Gebrauch, Lagerung und
Rückbehalt acht Jahre sein - einmalig um vier Jahre verlängerbar. Für eine Weitergabe von Streumunition, also
den Transfer, den Sie angesprochen haben, Frau Zapf,
sowie für deren Beschaffung und Produktion sind Übergangsfristen dagegen nicht vorgesehen. Hier müssen Sie
noch einmal hinschauen.
Nicht zu verachten ist, dass die quantitative Wirkung
des Protokolls von Anfang an deutlich höher wäre als die
des gesamten Oslo-Übereinkommens. Eben dies ist der
entscheidende Punkt. Wichtig ist im Ergebnis doch nicht
die Anzahl der Staaten, die mitmachen, sondern die
Menge an Munition, die keine Gefährdung mehr darstellen kann.
({2})
- Auch das, ja, klar.
Der potenzielle Einsatz der ältesten und unzuverlässigsten Streumunitionstypen sowie deren Weiterverbreitung würde zumindest stark begrenzt. Das kann einem
zu wenig sein und ist uns allen zu wenig. Wenn diese
Möglichkeit aber besteht, dann ist es doch allein aus humanitären Aspekten geboten, sie auch zu nutzen.
({3})
Die hier eingebrachten Anträge sind hingegen Statusquo-orientiert und somit leider wenig konstruktiv. Ich
meine sogar, sie mindern die Durchsetzungsfähigkeit des
Verbots von Streumunition, indem sie das VN-Protokoll VI
blockieren. Dabei führt dieses Protokoll dazu, dass Staaten, die das CCM-Übereinkommen noch nicht unterzeichnet haben, zumindest gewisse Limitierungen und
Reglements beachten.
({4})
Mir wäre es auch lieber, die anderen Staaten hätten
das Oslo-Übereinkommen ratifiziert. Ich glaube, niemand hier hat eine andere Vorstellung. Genau deshalb
hat die Bundesregierung seit 2008 viele diplomatische
Versuche unternommen, mehr Staaten von der Ratifizierung des CCM zu überzeugen. Aber Sie wissen, wer mit
welchen Interessen und aus welchen mehr oder weniger
nachvollziehbaren Gründen das nicht getan hat.
Wenn wir jetzt auf die Rolle Deutschlands innerhalb
der Vereinten Nationen eingehen, dann ist es vielleicht
wichtig, zu erwähnen, dass angesichts unserer derzeitigen Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat und des deutschen Bestrebens, in den VN mehr Verantwortung zu
übernehmen, auch ein besonderes deutsches Interesse an
der Stärkung der Vereinten Nationen und seiner Institutionen besteht.
({5})
Ein Scheitern der Verhandlungen im November, das
durch die Anträge in Kauf genommen oder sogar gefördert wird, würde nicht nur eine Abwertung der Vereinten
Nationen im Allgemeinen, sondern auch des CCW, also
des UN-Protokolls, als wichtigem Forum der Vereinten
Nationen im Besonderen nach sich ziehen. Das gilt es
auf jeden Fall abzuwenden. Im Gegenteil müssen wir
versuchen, dieses Protokoll mit einer höchstmöglichen
Autorität auszustatten. Durch das VN-Protokoll werden
erstmals auch Verbotsstandards für die großen Hersteller
geschaffen.
Jetzt wird es vielleicht ein bisschen technisch: Eine
klar definierte Bemühensklausel würde diese großen
Hersteller dazu verpflichten, sich in Zukunft auf stärkere
Verbote einzulassen. Sie wissen doch selbst, auf welche
Prozesse man sich einlassen muss und dass man geduldig sein muss, um solche Ziele zu erreichen. Alleine die
Forderung, man müsse sich auf das einlassen, was wir
für richtig halten, ist ja leider kein besonders guter Beitrag zur Lösung dieser Probleme. Ich plädiere deshalb
dafür, dass Deutschland in den Verhandlungen den Fokus auf eine Verschärfung der aktuellen Bemühensklausel legt. Es war Deutschland, das diese für meine Begriffe schon starke Brücke zwischen CCM und CCW in
die Verhandlungen eingebracht hat.
Man bedenke, dass alleine die USA 300 Millionen
Stück Submunition zerstören müssten. Das ist mehr als
doppelt so viel Streumunition, wie alle Oslo-Vertragsstaaten zusammen zerstören müssen.
({6})
Das ist doch eine Hausnummer.
({7})
- Sie gehen ja davon aus, dass mit einem solchen Protokoll der ganze moralische Druck sozusagen weggenommen wird. Das bestreite ich.
({8})
Wir dürfen über dem Wünschenswerten nicht das
Mögliche aus den Augen verlieren. Insofern liegt es in
unserem Interesse, wenigstens einen Großteil der Streumunitionsbestände so schnell wie möglich zu vernichten
und die bestehende Lücke jenseits der Oslo-Zeichner zu
schließen. Die legitime Forderung nach universeller
Übernahme der CCM-Standards ist weiterhin unser Bestreben. Daran halten wir fest. Meines Erachtens steht
das aber nicht im Widerspruch zu den Verhandlungen
über ein VN-Protokoll.
Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass mit der Annahme des VN-Protokolls eine verminderte Stigmatisierungswirkung einhergehen würde.
({9})
Ganz im Gegenteil belegt das Nebeneinander von AP II
und Ottawa-Konvention in der ähnlich gelagerten Frage
des Verbots von Antipersonenminen, dass auf einer
solch zweigleisigen Strecke Fortschritte möglich sind.
Rechtlich - so entnehme ich einer juristischen Experteneinschätzung - schließen sich das VN-Protokoll und
die CCM-Standards nicht aus. Ich war nicht bei der Anhörung, sondern habe das nur nachgelesen. Dabei hat
mich die Darstellung von Frau Dr. Jana Hertwig vom
Bochumer Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht überzeugt. Sie erklärte: Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge aus
dem Jahre 1969 hält für den Fall, dass Staaten Vertragsparteien aufeinander folgender Verträge über denselben
Gegenstand sind, eine entsprechende Regelung in
Art. 30 Abs. 2 bereit. Dort heißt es:
Bestimmt ein Vertrag, dass er einem früher … geschlossenen Vertrag untergeordnet ist …, so hat der
andere Vertrag Vorrang.
Der VN-Protokollentwurf enthält ausdrücklich eine
solche Bestimmung, in welchem Verhältnis das Protokoll zum Oslo-Übereinkommen stehen soll. In Art. 1
Ziff. 3 heißt es, dass das Protokoll die Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten des Oslo-Übereinkommens nicht
beeinträchtigt. Oslo geht vor!
({10})
Das ist wichtig. Deshalb ist es keine Relativierung, sondern der Versuch der Einbeziehung derer, die bis jetzt
abseits gestanden haben und die wir durch kein Mittel
der Welt außer über den Schritt eines gemeinsamen Protokolls mit der Autorität der UNO in dieses System
hineinbekommen.
Das Oslo-Übereinkommen hat für die Vertragsstaaten
also weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Ein künftiges Protokoll VI würde diesen früheren Normenstandard
des CCM nicht unterminieren. Ich wünsche mir, dass zumindest dies als gemeinsame Einschätzung festgehalten
werden kann.
Ferner heißt es in dieser Einschätzung: Die spätere
Annahme eines schwächeren Vertrages kann die progressive Weiterentwicklung rechtlicher Standards durchaus bedingen. Der VN-Protokollentwurf ist hierfür ein
gutes Beispiel; denn nur mit den darin enthaltenen Zugeständnissen wird es gelingen, Staaten, die zu den wichtigsten Herstellern, Exporteuren und Besitzern von
Streumunition gehören, zur Ratifizierung des Protokolls
zu bewegen. - Anders als bei der Mehrzahl der OsloStaaten hätten wir es hier mit genau den Staaten zu tun,
die über erhebliche Mengen an Streumunition verfügen.
Das VN-Protokoll setzt zwar schwächere, aber neue Anreize für die Staaten, die große Bestände an Streumunition haben.
Ich glaube, dass der eigentliche Wert des CCM-Abkommens ein hoher moralischer Anspruch an diejenigen
ist, die nicht beteiligt sind, und ein Appell, sich zu bewegen. Dies wird durch eine Weiterbehandlung in diesem
UN-Protokoll eher verstärkt als verringert. Unser gemeinsames Ziel bleibt, dass ein vollständiges Verbot von
Streumunition am Ende des Prozesses steht. Für uns ist
das UN-Protokoll dazu ein wichtiger Schritt, den wir unterstützen.
Danke schön.
({11})
Vielen Dank, Kollege Erich Fritz. - Jetzt für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Inge Höger. Bitte
schön, Frau Kollegin Inge Höger.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Streumunition macht ganze Regionen unbewohnbar. Dies gilt im
Krieg und lange danach. Nicht explodierte Reste von
Streumunition zerfetzen Bauern bei der Feldarbeit und
verstümmeln Kinder beim Spielen.
In diesem Sommer habe ich Minenräumer in Sarajevo
besucht. Ich konnte mich mit eigenen Augen davon
überzeugen, wie kompliziert, wie opferreich und wie
teuer die Beseitigung von Geschossresten ist. Deutschland hat angekündigt, auch in Libyen Minen räumen zu
wollen. Das ist gut. Aber viel besser ist es, dafür zu sorgen, dass solche Waffen gar nicht erst zum Einsatz kommen.
({0})
Streumunition tötet unterschiedslos Soldaten und Angehörige der Zivilbevölkerung. Die meisten Opfer sind
Zivilisten, häufig Kinder. Solche Waffen und solche Formen der Kriegsführung verbietet das humanitäre Völkerrecht eindeutig.
Deswegen war es überfällig, dass im April 2009 auch
der Bundestag einstimmig beschloss, die Ächtung von
Streumunition durch die Ratifizierung der Oslo-Konvention umzusetzen. Für die Linke habe ich damals erklärt,
dass wir diesen Schritt ausdrücklich unterstützen. Wir
haben aber auch darauf hingewiesen, dass es für die Zukunft gilt, noch einige Lücken, die in der Konvention
enthalten sind, zu schließen und Ausnahmeregelungen
ebenfalls zu verbieten.
Doch nun wird auf UN-Ebene mit Unterstützung
Deutschlands über Regelungen verhandelt, die komplett
in die falsche Richtung gehen. Ich spreche vom Protokoll VI zum Übereinkommen über bestimmte konventionelle Waffen. Um es klar zu sagen: Was nächste Woche
beschlossen werden soll, würde Streumunition wieder
legalisieren. Das steht im Widerspruch zum Völkerrecht.
Das sogenannte CCW-Protokoll würde lediglich veraltete Typen von Streumunition verbieten, und selbst
diese würden wegen langer Übergangsfristen nicht sofort aus den Arsenalen der Militärs verschwinden. Profitieren würde von dieser Regelung die Rüstungsindustrie.
Sie könnte sich über Aufträge für neue Generationen von
Streumunition freuen. Das ist doch perfide.
Bis jetzt war die Oslo-Konvention zum Verbot von
Streumunition ein großer Erfolg. 111 Staaten sind ihr bereits beigetreten. Andere Staaten wie USA, China, Russland, Israel und Indien haben dies zwar noch nicht getan,
doch der internationale Druck auf diese Staaten und der
Druck von Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb dieser
Staaten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.
Dieser Druck, internationales Recht und humanitäre
Standards einzuhalten, ist ein wichtiges Instrument zur
Erreichung politischer Fortschritte. Das CCW-Protokoll
würde diesen politischen Druck verringern. Es relativiert
völkerrechtliche Standards und suggeriert, der Einsatz
bestimmter Arten von Streumunition wäre völkerrechtskonform. Das ist er nicht. Der Einsatz von Streumunition
ist und bleibt ein Verbrechen.
({1})
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf: Bitte
unterlassen Sie alles, was ein Ende der Ächtung von
Streumunition bedeuten könnte!
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch etwas zum
Agieren der anderen Fraktionen im Bundestag anmerken. Die Regierungsfraktionen haben offenbar vergessen, dass Deutschland sich mit der Ratifizierung der
Oslo-Konvention verpflichtet hat, andere Staaten nicht
dabei zu unterstützen, etwas zu unternehmen, was durch
die Oslo-Konvention verboten ist.
({2})
Durch die Zustimmung zum CCW-Zusatzprotokoll
machen Sie aber genau dies. Die FDP hätte sich an ihrer
Schwesterpartei in der Schweiz orientieren können, deren Antrag wir hier fast wortgleich einbringen. Die
Linke ist daran interessiert, den großen Konsens zur
Ächtung von Streumunition aus dem Jahr 2009 auch
weiter aufrechtzuerhalten.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Stimmen Sie nächste Woche gegen das CCW-Zusatzprotokoll!
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Höger. - Jetzt für die
Fraktion der FDP unser Kollege Christoph Schnurr. Bitte
schön, Kollege Christoph Schnurr.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit einem Rückblick in eine Zeit beginnen, in
der ein Krieg herrscht. In diesem Krieg kommt eine
Waffe zum Einsatz, deren Folgen dramatisch sind. In ihrer Wirkung unterscheidet die Waffe nicht zwischen Zivilisten und Soldaten. Sie tötet unterschiedslos. Auch
Jahre nach ihrem Einsatz bleiben die betroffenen Gebiete weitgehend unbewohnbar.
Die Folgen sind so erschütternd, dass sich die Weltgemeinschaft zum Handeln gezwungen sieht. Die große
Mehrheit der Staaten verpflichtet sich dazu, solche Waffen niemals mehr zu entwickeln, zu erwerben und schon
gar nicht einzusetzen.
Ein paar wenige Staaten sind aber nicht bereit, auf
diese Waffenkategorie zu verzichten. Auch sie möchten
die Waffen nicht unbedingt einsetzen. Die Option für
den Ernstfall wollen sie sich trotzdem offenhalten. Einige Jahre später einigen sich die größten Besitzerstaaten
auf einen Kompromiss. Zwar wollen sie die Waffen
nicht sofort aufgeben, sie verpflichten sich aber, ihre Bestände deutlich zu reduzieren. Politik, Wissenschaft,
Nichtregierungsorganisationen und die Medien sind sich
weitestgehend darüber einig: Das ist - bei aller verbleibenden und berechtigten Kritik - ein Fortschritt.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben es sicherlich bemerkt: Ich spreche nicht von Streumunition,
sondern ich spreche über Kernwaffen. Was aber hätte ich
ändern müssen, wenn ich über Streumunition gesprochen hätte? Nicht besonders viel! Es gibt noch keinen
Kompromiss der größten Streumunitionsbesitzer, wie
der Kollege Fritz es völlig zu Recht erwähnt hatte. Vor
allem aber: Allein die Möglichkeit eines solchen Kompromisses ruft bereits heute Abend hier bei der Opposition und einigen anderen Empörung hervor. Diese Haltung haben Sie in diese beiden Anträge gegossen, die wir
heute diskutieren. Sie fordern darin zum Beispiel, die
Bundesregierung solle sich - so wörtlich - entschieden
jedem Abkommen zu Streumunition entgegenstellen,
welches einen Rückschritt gegenüber der CCM darstellt.
({0})
Ein Rückschritt wäre es aus Ihrer Sicht wahrscheinlich auch, wenn das Protokoll nicht identisch mit der
CCM wäre. Dass es zu einem mit der CCM identischen
Protokoll kommt, ist aber von der Realität weit entfernt
und nahezu absurd. Da frage ich mich: Warum wurden
die Verhandlungen in der CCW dann überhaupt aufgenommen? Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratie, hätten das 2007 und 2008 verhindern können, als es noch einen sozialdemokratischen
Außenminister gab. Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, keinesfalls. Aber damals wie auch heute ist die
CCW nicht nur ein Forum und ein Instrument, um das
Thema Streumunition auf der internationalen Agenda zu
halten, sondern eben auch ein Instrument, um Druck auf
die Streumunitionsbesitzer auszuüben. Die Verhandlungen über ein Protokoll sollen auch ganz konkret auf die
weltweite, rechtlich verbindliche Ächtung von Streumunition hinwirken. In den Vorbereitungssitzungen zur
CCW-Überprüfungskonferenz wurde ein Protokollentwurf diskutiert, demzufolge Streumunition, die vor 1980
produziert wurde, verboten werden soll. Aus meiner
Sicht ist das allein nicht ausreichend.
Trotzdem muss man sich auch die Dimension dieses
Vorschlages einmal vergegenwärtigen. Allein die Vereinigten Staaten müssten circa 40 Prozent oder, in absoluten Zahlen, 300 Millionen Stück ihrer Submunition vernichten. Das wäre fast die doppelte Menge dessen, was
von den Oslo-Staaten zerstört werden muss. Dazu kommen andere Verpflichtungen wie die zur Opferfürsorge
und zur Räumung von Kampfmittelrückständen. Wenn
der Protokolltext noch verbessert werden wird, kann es
also durchaus einen humanitären Mehrwert geben.
Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen, warum ein
Streumunitionsprotokoll nicht die Katastrophe wäre, als
die Sie es gerne darstellen: die Abkommen zu Antipersonenminen. Auf der einen Seite haben wir die OttawaKonvention, auf der anderen Seite das Protokoll II zur
CCW. Obwohl hier zwei unterschiedlich starke Regelungen nebeneinanderstehen, wirkt die Stigmatisierung
durch das stärkere Abkommen, nämlich die OttawaKonvention, fort. So könnte es auch im Fall der Streumunition funktionieren.
Ich kenne natürlich Ihre Einwände: Im Gegensatz zur
Regelung bei Antipersonenminen würde bei der Streumunition das schwächere dem stärkeren Abkommen folgen. Sie folgern daraus, dass die Stigmatisierung von
Oslo verloren ginge. Zu dieser Einschätzung kann man
kommen, ja; belegen lässt sie sich allerdings nicht.
Ich komme deshalb zu einer anderen Bewertung - die
Gründe dafür habe ich gerade dargelegt -: Ein Streumunitionsprotokoll in Genf kann - ich sage ausdrücklich:
kann - ein Zwischenschritt hin zu einem universellen
Verbot dieser Waffenkategorie sein. Der Protokollentwurf für das letzte Vorbereitungstreffen im August - das
sage ich ebenfalls ganz deutlich an dieser Stelle - gibt
das noch nicht her. Hier muss es noch substanzielle Verbesserungen geben, vor allem bei der Definition, welche
Munition verboten wird.
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist am Ende
doch das gleiche: Wir wollen, dass Streumunition weltweit geächtet wird. Auch die Bundesregierung hat sich
immer wieder zu diesem Ziel bekannt. Der Bundesaußenminister wurde zu Recht mit seinen sehr intelligenten und klugen Äußerungen in dieser Hinsicht schon zitiert. Aber wir müssen auch die Realität anerkennen. Wir
müssen fähig zu Kompromissen sein und sollten uns
nicht schon im Vorfeld den Weg zu einem solchen Kompromiss verbauen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt spricht für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau
Agnes Malczak. Bitte schön, Frau Kollegin Malczak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Frühjahr 2009 hat sich der Deutsche Bundestag einstimmig
zu einem umfassenden Verbot von Streumunition bekannt, und das aus gutem Grund. Die Oslo-Konvention
ist ein Meilenstein hin zu einer weltweiten Ächtung dieser unmenschlichen Waffe, die fast ausschließlich zivile
Opfer fordert, darunter vor allem Kinder. Die Oslo-Konvention hat bereits jetzt maßgeblich zu einer internationalen Stigmatisierung von Streumunition beigetragen,
und zwar weit über den Kreis der Vertragsstaaten hinaus.
({0})
Auch große Anwenderländer, die der Konvention nicht
beigetreten sind, wie die USA, China oder Russland,
verzichten mittlerweile auf den Einsatz. Das ist ein Beleg dafür, dass das Oslo-Übereinkommen wirkt.
({1})
Was wirkt, bewirkt jedoch oft Widerstand bei jenen,
die sich an der Wirkung stoßen. Gerade weil das OsloÜbereinkommen wirksam ist, ist es bedroht. Wenn wir
wollen, dass die völkerrechtlichen Standards, für die wir
lange gekämpft haben, erhalten bleiben, müssen wir sie
immer wieder gegen Widerstände verteidigen.
({2})
Die großen Hersteller- und Besitzerstaaten sind nun darum bemüht, die Wirkung Oslos auf sie selbst auszuhebeln. Wie man das am besten macht, lässt sich zurzeit in
Genf bei den Verhandlungen zum VN-Waffenübereinkommen beobachten. Dort setzen sich einige Nichtvertragsstaaten für neue Standards ein, die das umfassende
Verbot von Streumunition untergraben würden. Um sich
dem Wirkungsradius von Oslo zu entziehen, soll ein
zweiter, laxer völkerrechtlicher Referenzrahmen geschaffen werden, in den Nichtvertragsstaaten dann entweichen können. Herr Kollege Fritz, Herr Kollege
Schnurr, es ist eben nicht so, dass eine weitere völkerrechtliche Norm zu Streumunition schon deshalb wünschenswert sein soll, weil sich ihr mehr Staaten anschließen; denn entscheidend sind doch die Qualität und die
Wirkung der Norm.
({3})
Hier würde eine von mehr Staaten durchgesetzte
schlechtere Regelung eine von weniger Staaten getragene bessere Regelung verdrängen.
({4})
Insbesondere die USA - auch darüber kann man einmal nachdenken ({5})
bemühen sich in Genf um ein Protokoll VI zu Streumunition, das nur ein Teilverbot von Munition vorsieht, die
vor 1980 produziert wurde. Ein umfassendes Produktionsverbot, Zerstörungsfristen für vorhandene Bestände oder Verpflichtungen zur Opferhilfe und Minenräumung sucht man vergeblich. Sollte dieses Protokoll
so verabschiedet werden - es ist naiv, zu glauben, dass
sich da noch viel verändern wird, Herr Schnurr -,
({6})
hätten wir neue, schwächere Standards und eine Relegitimierung neuerer Typen von Streumunition. De facto
würde ein großer Teil dieser Waffen somit wieder für legal erklärt.
({7})
Zwar wären Deutschland und andere Vertragsstaaten
weiter an Oslo gebunden - Sie haben recht, Herr Kollege
Fritz; das hat auch niemand bestritten -, anderen Staaten
aber, die außerhalb des Vertragsregimes stehen wie die
USA, Russland, China, Israel oder Indien, wären die
Produktion und der Einsatz von Streumunition auf einmal völkerrechtlich erlaubt. Das würde nicht nur der USRegierung ermöglichen, ihr Streumunitionsarsenal auch
noch mit Hinweis auf das Völkerrecht zu modernisieren.
Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz völlig
zu Recht feststellt, würde damit ein Präzedenzfall im humanitären Völkerrecht geschaffen. Dann würde eine
schwächere Norm zu einem Waffentyp vereinbart, für
den es bereits höhere Standards gibt. Bisher gab es einen
solchen Rückschritt nicht, und ich glaube, den kann man
sich auch nicht wünschen.
({8})
Ich kann nur hoffen, dass der dringende Appell aus
der Zivilgesellschaft von der Bundesregierung erhört
wird, einem solchen Protokoll nicht zuzustimmen. Bisher hat sich die Bundesregierung in dieser Frage nämlich
leider nicht als eiserne Verfechterin der Oslo-Konvention hervorgetan. Im Gegenteil: Sie setzt sich weiter für
ein Protokoll zu Streumunition ein. Damit nimmt sie
eine Aufweichung des Verbots von Streumunition billigend in Kauf
({9})
und verspielt leichtfertig die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik. Damit nehmen Sie jeglichen Druck von anderen Staaten, dieser Konvention beizutreten.
({10})
Es ist daher nun am Deutschen Bundestag, sich gegen
eine Aufweichung des Verbots von Streumunition auszusprechen. Die grüne Bundestagsfraktion hat hierfür einen Antrag erarbeitet, den wir gemeinsam mit der SPD
zur Abstimmung stellen. Wir bitten um Ihre Stimme für
diesen Antrag und damit um Ihre Stimme gegen eine Zustimmung Deutschlands zu einem verheerenden Protokoll zu Streumunition.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Malczak.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7637 mit dem Titel „Gegen eine
Aufweichung des Verbots von Streumunition“. Wer für
diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPDFraktion und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine.
Der Antrag ist abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/7635 mit dem Titel „Streumunition
nicht wieder zulassen - Gegen ein Protokoll über Streumunition zum CCW“. Wer stimmt für diesen Antrag? Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 24:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0}) zu dem Antrag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde
- Drucksachen 17/5493, 17/7596 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Lars Lindemann
Claudia Roth ({1})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Unter der NS-Schreckensdiktatur wurden auch Hunderttausende Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in ganz Europa systematisch
erfasst, für medizinische Experimente missbraucht,
zwangssterilisiert und zu Zehntausenden ermordet. Eines von leider vielen dunklen Kapiteln unserer jüngeren
Geschichte, das uns Nachgeborene erschauern lässt,
fassungslos macht ob der Abgründe des Menschlichen.
Die Verpflichtung, die Aufarbeitung des NS-Terrors
und der späteren SED-Diktatur in der ehemaligen DDR
im Gedenkstättenkonzept des Bundes nicht nur fortzusetzen, sondern zu verstärken, war integraler Bestandteil
der Koalitionsverhandlungen der christlich-liberalen
Koalition zu Beginn dieser Wahlperiode.
Die Morde an behinderten Menschen, insbesondere
Patienten, die besonderen Schutzes bedurft hätten, dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Der Opfer zu gedenken, ist Aufgabe von nationaler Bedeutung und gesamtstaatlicher Verantwortung.
Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt die
Euthanasieopfer daher ausdrücklich in unser nationales
Gedenken ein. Bestandteil der Beschlussfassung 1999
über die Errichtung des Denkmals für die ermordeten
Juden Europas war daher auch die Verpflichtung, der
anderen Opfer des Nationalsozialismus würdig zu gedenken.
Unser Antrag steht entsprechend auf breiten, übergreifenden Füßen der demokratischen Fraktionen des
Hauses. Das beweist, dass sich das Parlament in diesem
wichtigen Punkt seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist und dafür Sorge tragen will, die Erinnerung im kollektiven Gedächtnis zu behalten.
Der Antrag ist nicht nur als ein wichtiges Signal gegen das Vergessen an die Hinterbliebenen und Angehörigen zu verstehen. Er ist auch bedeutender Beitrag für
die Erinnerung und Aufklärung der Nachgeborenen.
Wir wollen die Aufwertung des gegenwärtigen Gedenkortes in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Wenngleich das Gebäude am historischen Standort der Planung und Organisation dem Ort der Täter, an dem am
Schreibtisch über Leben und Tod von Menschen entschieden wurde, nicht mehr steht, so ist doch das Kürzel
T4 zum Begriff für diese Mordaktion geworden. Historischer Anknüpfungspunkt für das Erinnerungszeichen ist
daher der Platz um die Berliner Philharmonie.
Wir setzen auf die Ergebnisse des durch das Land
Berlin auszuschreibenden Ideenwettbewerbs zur künstlerischen Umgestaltung des Geländekomplexes am Kulturforum. Unsere Hauptstadt würdigt damit ihren besonderen Stellenwert in der Erinnerungskultur und kommt
mit der anteiligen Übernahme der erforderlichen Mittel
ihrer Verantwortung in kulturpolitischer Hinsicht ebenso
wie der Bund nach. Angesichts der bestehenden Nutzung des Areals an der Berliner Philharmonie und der
nicht mehr vorhandenen Baulichkeiten sind einer Aufwertung jedoch natürliche Grenzen gesetzt. Neben einem Erinnerungszeichen am historischen Ort wollen wir
gleichwohl die Thematik weiter bearbeiten. Über die Erinnerung hinaus sollen Information und Aufarbeitung
gestärkt werden.
Wir wollen dafür einen angemessenen Rahmen schaffen und dafür Sorge tragen, dass das Verbrechen und
seine Dimension stärker dokumentiert wird, dass die
Opfer, aber auch die Täter und ihre „Motive“ dargestellt werden. Dies soll ein wichtiger Bestandteil der Ergänzung des vorhandenen Mahnmals in Zusammenarbeit mit der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden
Europas“ unter Einbeziehung der Stiftung „Topographie des Terrors“ werden. Wir begeben uns also in unmittelbarer Nähe der Tiergartenstraße in die Tiefe.
„Ewig einstehen gegen das Vergessen!“ Dies forderte
Bundespräsident Christian Wulff im Januar dieses Jahres bei seinem Besuch im früheren Konzentrationslager
Auschwitz. Dieser Forderung kommen wir heute nach.
Während der NS-Herrschaft wurden in Deutschland
und den von Deutschland während des Zweiten Weltkrieges besetzten Gebieten Schätzungen zufolge bis zu
300 000 Menschen mit Behinderungen und psychisch
Kranke getötet. Auch Kinder, die in dieser Zeit mit
Behinderungen geboren wurden, wurden systematisch
ermordet. Für die Nationalsozialisten waren diese Menschen „lebensunwert“. Die menschenverachtende nationalsozialistische Rassenideologie forderte die Erfassung, Verfolgung und Ermordung dieser Menschen zur
angeblichen „Reinigung“ der Nation. Auch in meiner
Heimatregion, in der Gemeinde Kropp bei Schleswig, hat
das menschenverachtende System der Nationalsozialisten in einer großen christlichen Behinderteneinrichtung
tiefe Spuren hinterlassen.
Die NS-„Euthanasie“ gehört zu den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte. Auch und gerade an diese Teile
der Vergangenheit unseres Landes müssen wir uns erinnern - zum Gedenken an die Opfer und ihr unermessliches Leid sowie zur Vergegenwärtigung der Tatsache,
dass Menschen zu solchen Taten fähig sein können und
dass deshalb alles unternommen werden muss, um solche Verbrechen in Zukunft unmöglich zu machen.
„Die nationalsozialistischen Morde an behinderten
Menschen bzw. Patienten gehören in das kollektive Gedächtnis unserer Nation“, heißt es in unserem Antrag.
Ich bin froh, dass es darüber fraktionsübergreifend eine
Übereinstimmung im Deutschen Bundestag gibt und ein
gemeinsamer Antrag der Koalition mit SPD und den
Grünen zustande gekommen ist. Auch besteht Einigkeit
in der Frage der Bundeszuständigkeit. Die Erinnerung
an die NS-„Euthanasie“-Morde ist auch eine Aufgabe
von gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt diese Opfergruppe
auch ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Deshalb haben wir uns auf Bundesebene einvernehmlich
dazu entschieden, einen zentralen Gedenkort zu schaffen.
Zur Thematik der NS-„Euthanasie“ fördert die Bundesrepublik Deutschland die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein in Sachsen. Außerdem wurden Projekte der GeZu Protokoll gegebene Reden
Wolfgang Börnsen ({0})
denkstätten Grafeneck in Baden-Württemberg und
Hadamar in Hessen unterstützt. In einer weiteren ehemaligen Tötungsanstalt in Brandenburg an der Havel
wird auch mit Mitteln aus der Gedenkstättenkonzeption
des Bundes eine weitere Gedenkstätte aufgebaut. Doch
auch Berlin muss Standort eines Gedenkortes sein. Als
Hauptstadt der Bundesrepublik sowie als kultureller Anziehungspunkt für Menschen aus Deutschland und der
ganzen Welt nimmt Berlin einen zentralen Platz in der
Erinnerungsarbeit des Bundes ein. Hier in Berlin - in
der Tiergartenstraße 4 - wurde die sogenannte Aktion T4
systematisch und zentral geplant. Hier war der Sitz der
koordinierenden Dienststelle. Deshalb sollte auch hier
- am historischen Ort der Planung der Verbrechen - ein
sichtbares Zeichen gesetzt werden und sollten hier die
Opfer gewürdigt werden. An einem düsteren Herbsttag
in diesem Jahr war ich zuletzt an der besagten Stelle und
war zutiefst betroffen bei dem Gedanken daran, was hier
vor über 70 Jahren beschlossen worden war. Dabei
wurde mir von Neuem deutlich, dass die derzeitige in
den Boden eingelassene und leider kaum beachtete Gedenktafel sowie die umgewidmete Plastik von Richard
Serra nicht ausreichend sind, um an das Grauen, das
von diesem Ort ausgegangen war, zu erinnern.
Auch das für die Umsetzung zuständige Land Berlin
steht in der Pflicht, alles zu tun, um den Verbrechen, die
in dieser Stadt stattfanden, in angemessener Form Rechnung zu tragen. Wir erwarten, dass Bund und Berlin gemeinsam das bereits bestehende Denkmal aufwerten und
gemeinsam die Opfer am historischen Ort würdigen.
Zum Schluss ist es mir ein Anliegen, den verschiedenen bürgerschaftlichen Initiativen ausdrücklich für ihren langjährigen geduldigen, aber auch hartnäckigen
Einsatz zu danken. Stellvertretend für viele weitere seien
hier der Runde Tisch zu T4, die Deutsche Gesellschaft
für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
sowie der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation
genannt. Vor allem ihnen ist es zu verdanken, dass die
Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde nicht in Vergessenheit geraten sind, bleibende Mahnmale und Dokumentationen daran erinnern, dass wir alle aufgerufen sind, unsere Demokratie zu stärken, Extremisten abzuwehren,
damit es nie wieder zu diktatorisch-autoritären Regierungen in unserem Land kommt, die Bürger- und Menschenrechte mit Füßen treten.
Daran, wie ein Gemeinwesen mit seinen Kranken umgeht, lässt sich erkennen, wie human es ist. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden Kranke ermordet.
Die euphemistische Umschreibung für den systematischen, bürokratisch exakt organisierten Massenmord an
körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen lautete Euthanasie - das griechische Wort für den „leichten“, den „schönen Tod“. Der Tod, der im Gebäude der
Berliner Tiergartenstraße 4 koordiniert wurde, war alles
andere als leicht und schön. Ab 1939 und während des
gesamten Zweiten Weltkrieges wurden Hunderttausende
Menschen in Hospitälern und Heilanstalten vergast,
vergiftet oder durch Vernachlässigung und Verhungern
dem Tod preisgegeben.
Das Gebäude Tiergartenstraße 4 steht nicht mehr.
Heute erinnern ein kaum beachtetes Kunstwerk, eine Informations- und eine Gedenktafel neben der Berliner
Philharmonie an das Geschehen. Die Dimension des
Verbrechens, sein ideologischer Kontext, das konkrete
Handeln der Täter, die Lebensgeschichten der Opfer all dies wird derzeit vor Ort nicht ausreichend vermittelt.
Mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag wollen
wir das ändern. Wir sind der Auffassung, dass eine Aufwertung des Gedenkortes erfolgen muss. Das grausame
Kapitel der „Euthanasie“-Morde bedarf stärkerer Beachtung.
Im Rahmen eines Ideenwettbewerbs setzt sich das
Land Berlin für das Vorhaben ein. Der Bund wird die
Umsetzung unterstützen. Für das Haushaltsjahr 2012
hat der Beauftragte für Kultur und Medien 500 000 Euro
eingestellt, eine Summe, bei der sich - ich formuliere
das vorsichtig - noch herausstellen muss, ob sie ausreichen wird, um eine angemessene und würdige Gestaltung zu realisieren.
Dass der Antrag zustande kam, haben wir eindrucksvollem bürgerschaftlichen Engagement zu verdanken.
Wissenschaftler, Vereine und Verbände setzen sich seit
vielen Jahren für die Neugestaltung des historischen Ortes T4 ein.
Umso ärgerlicher ist, dass sich die Koalitionsfraktionen einer Expertenanhörung im Ausschuss verweigert
haben! Die SPD-Fraktion hat sich wiederholt für ein
Fachgespräch eingesetzt. Nun soll nach Verabschiedung
des Antrages ein Fachgespräch erfolgen: Ein ärgerliches Verfahren. Als wäre die Zustimmung von SchwarzGelb zum Antrag lediglich ein ängstliches Zugeständnis.
Sie geben ein äußerst zwiespältiges Bild ab.
Die SPD steht zu diesem Antrag! Ich will es noch einmal ausdrücklich betonen: Einsatz und Beharrlichkeit
der Initiativen sind kaum hoch genug zu schätzen! Sie
hätten es verdient, im Deutschen Bundestag gehört zu
werden!
Dass sich vor knapp einem Jahr die Deutsche Gesellschaft der Psychiater, Psychotherapeuten und Nervenheilkundler zu der Schuld ihrer Berufskollegen in der
Zeit des Nationalsozialismus bekannt hat, begrüße ich auch wenn die öffentliche Stellungnahme sehr spät erfolgte. Dass die Gesellschaft das Handeln der an den
„Euthanasie“-Morden und weiteren Medizinverbrechen
beteiligten Fachärzte untersuchen lässt, ist ein richtiger
Schritt. Die Ergebnisse sollen in einer Ausstellung präsentiert werden. Ich kann mir gut vorstellen und würde
es unterstützen, diese Ausstellung hier im Bundestag zu
zeigen.
Der Antragstext ist - das kann bei einem interfraktionellen Antrag kaum verwundern - an verschiedenen
Stellen unscharf formuliert. Lassen Sie mich deshalb
zwei Punkte präzisieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Klarheit ist erstens darüber zu schaffen, wie weit die
geplante Aufwertung des Gedenkortes gehen soll. Die
Linke hätte am liebsten ein neues Dokumentationszentrum und trägt unseren Antrag deshalb nicht mit. Die
Koalitionsfraktionen unterstützen die Neugestaltung
zwar, tendieren aber zum anderen Extrem und wünschen
sich nur minimale Veränderungen. Dies ist zu wenig.
Damit zukünftige Besucher die Qualität des historischen Ortes erfassen können, bedarf es grundlegender
Informationen. Drei Aspekte halte ich dabei für besonders wichtig: Die Opfer sind zu würdigen. Die Täter sind
zu benennen. Der Ort sollte für Besucher kenntlich werden, beispielsweise durch Kennzeichnen der Umrisse
des einstigen T4-Gebäudes. Auch Hinweise auf die bestehenden Gedenk- und Informationsstätten in Deutschland und Europa sind erforderlich. Die dezentrale Umsetzung und die schiere Dimension der „Euthanasie“Verbrechen müssen deutlich werden.
Zweitens ist zu klären, welche Einrichtung geeignet
wäre, sich der Thematik der „Euthanasie“-Morde dauerhaft anzunehmen. Dabei muss der weitere Kontext nationalsozialistischer Erbgesundheitspolitik, Eugenik
und der sogenannten Rassenhygiene beleuchtet werden.
Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden
Europas“ wird hier eine wichtige Rolle spielen. Dem
Charakter des Ortes entsprechend halte ich aber die
Stiftung „Topographie des Terrors“ für besonders geeignet, die Aufgaben der Dokumentation und der pädagogischen Arbeit zum Thema zu übernehmen. Ich plädiere dafür, dass die Stiftung „Topographie des Terrors“
dem Thema einen dauerhaften Platz in ihrer Ausstellung
einräumt.
Über diese Präzisierungen wird noch zu sprechen
sein. Verehrte Kollegen der Koalitionsfraktionen: Schieben Sie das Fachgespräch nicht auf die lange Bank!
Es steht außer Frage: Wir tragen als Deutsche besondere Verantwortung, um der Opfer der NS-Terrorherrschaft zu gedenken, um die heutige und zukünftige
Generation zu mahnen und zu informieren. Teil des nationalsozialistischen Rassenwahns war die Erfassung,
Verfolgung und Ermordung „lebensunwerten Lebens“,
die Verfolgung und Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychisch Kranken.
Von September 1939 bis April 1940 fielen mehr als
10 000 psychiatrische Patienten aus Pommern, Westpreußen und dem Wartheland den Krankenmorden auf
dem damaligen besetzten Gebiet Polens zum Opfer. Von
Januar 1940 bis August 1941 wurde die sogenannte Aktion T4 durchgeführt, bei der in eigens eingerichteten
Gasmordanstalten mehr als 70 000 Psychiatriepatienten
und -patientinnen systematisch und zentral geplant ermordet wurden. Die Aktion T4 wurde benannt nach dem
Sitz der koordinierenden Dienststelle in der Tiergartenstraße 4.
Wir sind uns fraktionsübergreifend einig: Dieser Ort
benötigt ein würdiges Gedenken. Heute erinnert nur
eine im Boden eingelassene Gedenktafel, eine nachträglich den Opfern der Aktion T4 gewidmete Plastik von
Richard Serra und eine Informationstafel zur Aktion T4
an die dort geplanten Morde.
Alle Fraktionen sind sich einig: Die derzeitige Form
der Erinnerung und Information an diesem Ort reichen
nicht aus, um einem Vergessen angemessen entgegenwirken zu können. Aus diesem Grund haben die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
einvernehmlich beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, sich in Zusammenarbeit mit dem Land Berlin
dafür einzusetzen, dass das bereits bestehende Denkmal
eine angemessene Würdigung am historischen Ort der
Planung Aktion T4 erhält und dass an einem solchen Ort
die Information über die „Euthanasie“-Morde und die
damit zusammenhängenden NS-Verbrechen nicht fehlen
dürfen.
Ich bedauere es sehr, dass die Fraktion Die Linke sich
dieser Initiative durch Zustimmung bisher nicht anschließen konnte. Die Fraktion Die Linke hat im Ausschuss für Kultur und Medien einen Änderungsantrag
eingereicht, in dem ein Dokumentations- und Informationszentrum gefordert wird. Dieser Antrag wurde von
der Mehrheit des Ausschusses abgelehnt.
Es ist unrichtig, in der Öffentlichkeit zu behaupten,
dass durch die Bundesregierung eine Informationsstätte
zur Aktion T4 nicht gewollt sei. Ganz im Gegenteil: Es
gibt bereits vier Gedenkstätten, die der Bund in erheblichem Maße mit unterstützt. So fördert der Bund zusammen mit dem Freistaat Sachsen die Gedenkstätte PirnaSonnenstein, wo sich eine der Tötungsanstalten befand.
Aus Mitteln der Gedenkstättenkonzeption des Bundes
wurden der Aufbau der Gedenkstätten Grafeneck, Baden-Württemberg, und Hadamar, Hessen, ermöglicht.
Ein weiteres Projekt des Bundes betrifft den Aufbau einer Gedenkstätte in Brandenburg an der Havel.
Mit unserem Antrag entsteht nun ein Ort in der Mitte
Berlins, an dem eine angemessene Würdigung am historischen Standort der Planung und Organisation der
Aktion T4 möglich sein wird. Der Bund wird dazu im
Rahmen des Haushaltes des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gemeinsam mit dem
Land Berlin Gelder zur Verfügung stellen. Information
und Dokumentation zur Aktion T4 sind jedoch nicht ausgeschlossen, sondern in der Nachbarschaft - in der Stiftung Topographie des Terrors - möglich.
Unter den zahlreichen Erinnerungsorten, Denkmalen
und Museen, mit denen heute in Berlin an die Zeit des
Nationalsozialismus erinnert wird, nimmt die Stiftung
Topographie des Terrors als „Ort der Täter“ eine besondere Stellung ein. Die Aktion T4 findet dort mit ihren
600 000 Besuchern pro Jahr sehr viel mehr Aufmerksamkeit als durch ein neues Informationszentrum in der
Tiergartenstraße 4.
Der durch das Land Berlin angekündigte Ideenwettbewerb zur künstlerischen Umgestaltung des Geländes
steht aus. Dieser Ideenwettbewerb ist Voraussetzung für
die Einbringung der Bundesregierung und Umsetzung
unseres Antrages. Das Land Berlin ist aufgefordert,
schnellstmöglich den angedachten Ideenwettbewerb
Zu Protokoll gegebene Reden
auszuloben. Wir sind gespannt auf diesen Wettbewerb
zur Umgestaltung des Areals Tiergartenstraße 4, in den
Betroffene und Verbände in adäquater Weise eingebunden werden.
Rückdatiert auf den Überfall Deutschlands auf Polen,
den Kriegsbeginn am 1. September 1939, befahl Adolf
Hitler die sogenannte „Euthanasie“-Aktion. Zum medizinischen Leiter dieser - später T4 genannten - Aktion
wurde der Psychiater und Neurologe Professor Werner
Heyde bestimmt. Der Aktion T4 und den nach ihrer offiziellen Beendigung sich anschließenden weiteren Phasen der Krankentötungen sollten bis zum Kriegsende
- und noch einige Wochen darüber hinaus - mindestens
250 000 bis 300 000 psychisch, geistig und körperlich
kranke Menschen zum Opfer fallen.
Am Ort der ehemaligen Zentraldienststelle in der
Tiergartenstraße 4 befinden sich heute nur eine unscheinbare, in den Boden eingelassene Gedenktafel für
die „Euthanasie“-Opfer und eine erst nachträglich den
Opfern gewidmete Plastik. Einen zentralen, nationalen
Gedenkort für die Opfer der sogenannten „Euthanasie“
gibt es bisher nicht. Dies soll nun geändert werden. Mit
ihrem Antrag „Gedenkort für die Opfer der NS-Euthanasie-Morde“, 17/5493, wollen CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen sich für eine Aufwertung des bestehenden Denkmals und eine angemessene Würdigung
der Opfer am historischen Ort der Planung und Organisation der Aktion T4 in der Tiergartenstraße 4 einsetzen.
Die Linke hat dieses Ansinnen von Beginn an auf
Bundes- und Landesebene unterstützt. Die nationalsozialistischen Morde an behinderten Menschen bzw. Patienten gehören in das kollektive Gedächtnis unserer
Nation. Die Erinnerung daran ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung und gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt
diese Opfergruppe ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Es steht für uns außer Frage, dass der Bund
zu seiner Verantwortung stehen sollte und in diesem Fall
gibt es auch einen parteiübergreifenden Willen, dies zu
tun.
Leider wurden wir erneut von der Erarbeitung eines
interfraktionellen Antrages ausgegrenzt und konnten so
Einwände und Änderungsvorschläge am vorliegenden
Antrag nicht geltend machen. Um diesen unserer Auffassung nach wichtigen Ergänzungen Gehör zu verschaffen, haben wir einen entsprechenden Änderungsantrag
eingebracht, in dem wir nicht allein einen Gedenk-, sondern auch einen entsprechenden Informationsort sowie
darüber hinaus die finanziellen Mittel für eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas fordern. Wir
reagieren damit auch auf Anregungen der in dieser Thematik engagierten Initiativen und Institutionen, stellvertretend für eine größere Gruppe ist hier die Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, DGPPN, die Stiftung „Denkmal für die
ermordeten Juden Europas“ und die Stiftung „Topographie des Terrors“ zu nennen. Trotz zweijähriger Beratungen zum Thema gelang es nicht, die von ihnen vorgebrachten Vorschläge und Einwände in dem vorliegenden
Antrag angemessen zu berücksichtigen. Da die Planung
und Umsetzung des geplanten Gedenkortes im Antrag
aber explizit unter dem Dach der vom Bund getragenen
Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
und unter Einbeziehung der Stiftung „Topographie des
Terrors“ stattfinden soll, sollte unserer Meinung nach
den vorgebrachten Bedenken Rechnung getragen werden. Vor allem die Gewichtung von Gedenkort und Informations- und Erinnerungsort bedarf dringend einer
Überarbeitung.
Bei der Neugestaltung des bereits bestehenden Denkmals für die Opfer der „Euthanasie“-Morde am historischen Ort in der Tiergartenstraße 4 geht es darum, keinen reinen Gedenkort zu etablieren, sondern das
Erinnern mit einer grundlegenden Information zu verbinden. Dies ist deswegen so wichtig, weil dieser Ort
ausschließlich ein Täterort war, den nie ein Opfer betreten hat. Die Angehörigen der Opfer bzw. jene vor allem
zwangssterilisierten Menschen, die die Verfolgung überlebt haben, finden hier keine direkt mit dem persönlichen Leiden ihrer Nächsten bzw. mit den eigenen Erfahrungen verbundene Relikte, auch nicht in symbolischer
Hinsicht. Eine örtliche Auslagerung der Information in
die Nachbarschaft der „Topographie des Terrors“, wie
sie die antragsstellenden Fraktionen vorschlagen, entspricht diesem Zweck in keiner Weise.
Ich schließe mich an dieser Stelle der Verwunderung
von Dr. Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a. D., an,
dass weder dem Wunsch der an den Beratungen beteiligten Initiativen und Institutionen nach einem im Bundestag stattfindenden Fachgespräch entsprochen wurde
noch die äußerst konstruktiven Vorschläge, wie ein neu
entstehender Gedenk- und Informationsort in der Tiergartenstraße 4 aussehen könnte, in den vorliegenden
Antrag aufgenommen wurden.
Nicht nur hat die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ schon seit längerem ein Grundkonzept für eine historische Dokumentation erstellt, welche
detailliert und wissenschaftlich fundiert die Aktion T4
darstellt und einen besonderen Schwerpunkt auf exemplarische Opferbiografien legt, die die Bandbreite des
Mordens und der Opfergruppen zwischen 1939 und
1945 widerspiegeln, auch die Deutsche Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde hat
ganz konkrete Vorschläge für eine Neugestaltung des
bisherigen Denkmals vorgelegt, welche explizit die
Wichtigkeit eines Dokumentationszentrums hervorheben. Hier soll im Rahmen einer wissenschaftlich fundierten Ausstellung über die Entstehungsgeschichte der
nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, ihre Einbettung in eine rassenhygienisch aufgeladene Gesundheits- und Bildungspolitik und auch die unzureichende
juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen aufgeklärt werden. Die Opfer sollen gewürdigt
werden, und nicht zuletzt sollte auch an die weitgehend
fehlende bzw. unangemessen geringe Entschädigung der
Opfer und ihrer Angehörigen erinnert werden. Ich erinnere daran, dass der Bundestag erst im Januar dieses
Jahres einen Beschluss über eine Angleichung der moZu Protokoll gegebene Reden
natlichen Entschädigungen an die für andere aus rassistischen Gründen verfolgten Opfer gefasst hat - im Jahre
2011!
Warum die an dem Antrag beteiligten Fraktionen
nicht auf die Angebote gerade der DGPPN eingegangen
sind, welche von der Erstellung einer Ausstellung über
einen finanziellen Zuschuss zu einem Dokumentationszentrum bis hin zur Finanzierung einer wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle für die Dauer von zehn Jahren
gehen, bleibt unverständlich.
Vielleicht lassen sich in einem „verspätet“ stattfindenden Fachgespräch diese Defizite beseitigen. Uns
wäre sehr daran gelegen, soll es doch hier nicht um parteipolitische Interessen, sondern nach mehr als 60 Jahren um eine angemessene Würdigung der Opfer und ihrer Angehörigen gehen.
Wir freuen uns, dass der Bundestag den interfraktionellen Antrag zum Gedenken an die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde breit unterstützen will. Wir bedanken
uns ausdrücklich für die Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung und Diskussion des Antrags und auch dafür,
dass hier mit großer Offenheit eine Initiative unserer
Fraktion aufgegriffen und nun gemeinsam umgesetzt
wird.
Die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“-Opfer, an
Zwangssterilisationen und weitere grausame Verbrechen an dieser Opfergruppe ist ein wichtiger Teil in der
Gedenkpolitik und Erinnerungskultur. Für die gesellschaftliche Wahrnehmung der Täter und ihrer schrecklichen Taten und für das Gedenken an die Opfer ist eine
Dokumentation an dem Ort, von dem die Verbrechen
ausgingen, der Berliner Tiergartenstraße 4, wichtig und
von nationaler Bedeutung.
Bei den Gesprächen zur Ausarbeitung des Antrags
haben wir an einem Punkt etwas länger debattiert, und
zwar bei der Frage, wie sich der Informationsaspekt und
der Gedenkaspekt in diesem Projekt zueinander verhalten sollten. Wir Grüne haben uns sehr dafür eingesetzt,
dass der Informationsaspekt zusammen mit dem Gedenkaspekt deutlich herauskommt.
Es gab einige Bedenken, ob eine Herausstellung des
Informationsaspekts etwa bedeuten würde, am Ort von
T4 ein Museum neu zu bauen - mit allen auch finanziellen Konsequenzen. Eine zweite Frage war, ob es nicht zu
einer Inflationierung von entsprechenden Informationsorten in Berlin käme, die sich möglicherweise gegenseitig entwerten würden.
Wir glauben, dass man hier keine künstlichen Gegensätze zwischen Gedenken und Informieren aufmachen
sollte. Wir brauchen beides, und es ist gut, dass wir im
Antrag gemeinsam die Aufgabe der Information auch
am Ort T4 deutlich gemacht haben. Denn es geht ja ganz
wesentlich auch um Information - zum Ablauf der Verbrechen, um die Aufarbeitung auch individueller Lebensgeschichten von Opfern, um Forschungen zur Beteiligung von Ärzten und Pflegepersonal und politisch
und administrativ Verantwortlichen.
Die Bedeutung der Information heben auch Wissenschaftler und Initiativen aus der Zivilgesellschaft hervor,
die sich sehr konstruktiv in die Debatte eingebracht haben. So trifft sich in den Räumen der „Topographie des
Terrors“ seit geraumer Zeit ein Runder Tisch „T4“, der
am Thema arbeitet und auch die weitere Arbeit hier in
Berlin begleiten wird. Im Internet ist eine Seite „Gedenkort T4“ eingerichtet worden, die jetzt schon wichtige Informationsarbeit leistet. Und auch die DGPPN, die
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie
und Nervenheilkunde, wird die Aufarbeitung des Themas unterstützen und auch für zehn Jahre eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle zur Forschung und Information über die T4-Verbrechen finanzieren.
Das Land Berlin hat angekündigt, einen Ideenwettbewerb für die künstlerische Um- und Weitergestaltung
dieses T4-Geländes auszuloben - zusätzlich zu der in
den Boden eingelassenen Platte und der Skulptur von
Richard Senna, die sich bereits dort befinden. Diesen
Wettbewerb möchten wir aufmerksam verfolgen und begleiten. Wir rechnen fest mit der Kreativität von Künstlern und der Fachkompetenz von Wissenschaftlern, damit das Projekt in einer guten und angemessenen Form
zur Ausführung kommt.
Es ist gut, dass sich nun auch der Bund bei T4 verpflichtet. Das ist ein wichtiger Baustein für unsere Erinnerungskultur - auch angesichts von demokratiefeindlichen rechtsextremen Tendenzen, die besorgniserregend
sind.
Vielen Dank noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7596, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5493 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die antragstellenden Fraktionen. Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016 verlängern
- Drucksache 17/7486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Eduard Oswald
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor.
Die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus
DDR-Zeiten läuft zum Jahresende 2011 ab. In dem Antrag der Fraktion Die Linke, über den wir heute beraten,
wird die Bundesregierung dazu aufgefordert, die Aufbewahrungsfrist von Unterlagen über Löhne und Arbeitszeiten in DDR-Betrieben über den 31. Dezember 2011
hinaus bis zum 31. Dezember 2016 zu verlängern. Diese
Unterlagen sind vor allem für die korrekte Rentenberechnung wichtig, da sie zur Klärung des Versicherungskontos notwendig sind. Im Rahmen der sogenannten
Kontoklärung wird das Versicherungskonto mit allen
versicherungsrechtlich relevanten und rentenrelevanten
Daten vervollständigt.
Zur Sicherstellung der vollständigen Kontenklärung
und Vormerkung aller rentenanwartschaftsbegründenden Beschäftigungszeiten und Arbeitsentgelte der betroffenen Versicherten beschloss der Bundestag im Oktober 2006, die zum Jahresende 2006 auslaufende
Aufbewahrungspflicht um fünf Jahre zu verlängern. Das
heißt also, dass die Betriebe rund 20 Jahre lang im Interesse der Versicherten und der Deutschen Rentenversicherung die Lohnunterlagen aufbewahrt haben. Und
das zusätzlich zu den jeweils aktuell zu speichernden
Daten. Eine solche Aufbewahrung ist vor allem mit hohen Lager- und Verwaltungskosten sowie mit großem
Aufwand für die Betriebe verbunden. Es ist auch zu bemerken, dass viele dieser DDR-Betriebe mittlerweile
nicht mehr existieren. Das bedeutet, dass ihre Rechtsnachfolger oder auch private Firmen, wie zum Beispiel
die Rhenus Office Systems GmbH in Großbeeren, sich
um die Aufbewahrung der alten Lohnunterlagen kümmern.
Die Kollegen aus der Partei Die Linke haben zutreffend bemerkt, dass es noch nicht gelungen sei, alle Konten aufzuklären. Ich glaube jedoch, dass 20 Jahre lang
genug sind, um Kontoklärungen veranlassen zu können.
Es steht auch nicht fest, ob zur Klärung der übrigen
Konten tatsächlich im Einzelfall auf Lohnunterlagen der
DDR-Betriebe zugegriffen werden muss. Die Belastung
der Arbeitgeber ist meiner Meinung nach in diesem Fall
unverhältnismäßig, vor allem, wenn man bedenkt, dass
die Versäumnisse bei der Kontoklärung hauptsächlich
darauf zurückzuführen sind, dass die Versicherten ihrer
Mitwirkungspflicht nicht nachgehen. Ohne aktives Mitwirken der Versicherten selbst ist die Beschaffung von
fehlenden Unterlagen durch den Rentenversicherungsträger kaum möglich. Es geht hier also um eigene Verantwortung und Selbstständigkeit der Versicherten.
Die Medien haben insbesondere in den letzten Monaten viel darüber berichtet, dass die Aufbewahrungsfrist
zum Jahresende 2011 abläuft. Auch die Rentenversicherungsträger haben mehrmals zur Kontenklärung aufgerufen. Am Beispiel von meiner Stadt Chemnitz kann ich
bestätigen, dass die Information für Bürger zugänglich
gemacht wurde und auf verständlicherweise zu allen Interessenten gebracht wurde, und das nicht nur übers Internet. An der Aufklärung mangelt es also nicht. Eine
weitere Verlängerung der Frist würde nicht nur hohe
Kosten verursachen, sondern kann auch den Eindruck
erwecken, dass es unendlich so weitergeht. Das trägt
nicht unbedingt zur Förderung der eigenen Selbstverantwortung von Versicherten bei.
Für Lohnunterlagen, die am 31. Dezember 1991 im
Beitrittsgebiet vorhanden waren, ist im SGB IV eine besondere Aufbewahrungsfrist geregelt. Mit dem Auslaufen dieser Frist zum 31. Dezember 2011 entfällt eine zusätzliche Belastung für ostdeutsche Unternehmen.
Die Dokumente mussten aufbewahrt werden. Mit den
Lohnunterlagen werden Beschäftigungszeiten und Verdienste nachgewiesen. Aber auch Zeiten von Krankheit
und sonstigen Ausfällen sind darin enthalten. Allerdings
sollte die Aufbewahrungsfrist ursprünglich schon vor
Jahren auslaufen. Wir haben den Termin zuletzt im Jahr
2006 um weitere fünf Jahre verlängert, obwohl wir damals schon der Ansicht waren, dass eine Übergangsfrist
von 15 Jahren zur Klärung der Konten ausreichen
müsste. Damit wurde der Zugriff auf die Lohndaten für
weitere fünf Jahre gesichert. Das gab den Menschen
ausreichend Möglichkeit zur Klärung ihrer persönlichen
Rentenkonten.
Bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Rentenversicherungskonten
sind bezogen auf Personen mit Wohnsitz in den neuen
Bundesländern derzeit noch rund 286 000 Konten nicht
vollständig geklärt. Dies entspricht 12 Prozent. Zahlen
für die gesamte Rentenversicherung liegen nicht vor.
Dabei ist ein geklärtes Versicherungskonto nicht nur
wichtig für die spätere Rentenberechnung, sondern ist
bei politisch Verfolgten ein Indiz für eine berufliche Verfolgung - insbesondere, wenn der Antragsteller keine
Unterlagen mehr über seine Beschäftigung hat. Änderungen in den Einkommensverhältnissen wie abrupte
Minderverdienste können auf eine politische Verfolgung
im Beruf hindeuten. Die Zahl potenzieller Betroffener
dürfte aber geringer sein als häufig angenommen. In
den letzten Jahren wurden pro Jahr circa 1 800 Neuanträge auf berufliche Rehabilitierung gestellt. Die Antragsfrist läuft am 31. Dezember 2019 aus.
Eine Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung der
Unterlagen von ehemals in der DDR Beschäftigten ist
nach unserer Auffassung nicht nötig. In den 21 Jahren
seit der Wiedervereinigung wurden die Betroffenen
mehrfach aufgefordert, ihre Rentenkonten zu klären. Die
ungeklärten Konten sind auf die fehlende Mitwirkung
der Betroffenen zurückzuführen. Es ist nicht absehbar,
dass sich daran künftig etwas ändern wird. Die Versicherten erhalten jährlich Renteninformationen. Außerdem bekamen sie Briefe, in denen sie über die Notwendigkeit der Kontenklärung und über den Fristablauf
aufgeklärt wurden.
Wenn 21 Jahre zur Klärung der Rentenkonten nicht
ausgereicht haben, berechtig das zu der Annahme, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
auch in den nächsten fünf Jahren keine wesentliche Veränderung des Sachverhalts zu erwarten sein wird.
Vor diesem Hintergrund halten wir es für richtig, dass
die Unternehmen und der Bund als Rechtsnachfolger
ehemaliger DDR-Betriebe die Kosten für die Aufbewahrung der Unterlagen nicht noch für weitere fünf Jahre
übernehmen sollen, nur weil etliche Bürgerinnen und
Bürger sich nicht um die Klärung ihres Rentenkontos
kümmern.
Diesen Bürgerinnen und Bürgern kann man nur raten, sich um die Klärung ihres Rentenkontos zu bemühen. Wenn Versicherte aus der ehemaligen DDR ihre
Beschäftigungszeiten möglichst genau im Kontenklärungsantrag angeben, kann darauf gestützt die Deutsche
Rentenversicherung den ehemaligen Arbeitgeber bzw.
dessen Rechtsnachfolger ermitteln und eine Bestätigung
der Daten erhalten. Alternativ können sich Antragsteller
bis Ende dieses Jahres auch an die privaten Archivierungsgesellschaften wenden, die alte Lohnunterlagen liquidierter DDR-Betriebe aufbewahren. Zudem können
fehlende Versicherungszeiten durch eigene Dokumente
sowie auch mittels Zeugenerklärungen belegt werden.
Betroffene sollten sich spätestens jetzt Kopien aller
persönlichen DDR-Lohnunterlagen besorgen. Wenn der
damalige Betrieb oder dessen Rechtsnachfolger nicht
mehr existieren, kann der Rentenversicherungsträger
helfen.
Wenn die Aufbewahrungsfrist dann zum Jahresende
abgelaufen sein wird, bedeutet das aber nicht, dass die
Unterlagen weggeworfen werden. Die noch bei Behörden, Arbeitgebern und Rechtsnachfolgern von DDR-Betrieben liegenden Dokumente werden Landes- und
Staatsarchiven bzw. dem Bundesarchiv angeboten. Die
Betroffenen können sich also ab kommendem Jahr an
diese Stellen wenden.
Auch potenziellen Antragstellern auf berufliche Rehabilitierung wird mit dem Auslaufen der Aufbewahrungsfrist für die Lohnunterlagen keinesfalls die Möglichkeit der Antragstellung nach dem Beruflichen
Rehabilitierungsgesetz abgeschnitten. Es gibt auch Beweiserleichterungen: Es reicht aus, wenn der Betroffene
seine Angaben zur Verfolgteneigenschaft und zur Verfolgungszeit glaubhaft machen kann.
Deshalb gibt es keinen Grund, die Aufbewahrungszeit
von Unterlagen erneut zu verlängern.
Lohnunterlagen müssen vom Arbeitgeber generell für
eine Frist von sechs Jahren aufbewahrt werden. Hiervon
abweichend, sind nach geltendem Recht gemäß § 28 f
Abs. 5 Satz 1 SGB IV die am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet vorhandenen Lohnunterlagen mindestens bis
zum 31. Dezember 2011 vom Arbeitgeber aufzubewahren.
Diese Pflicht zur Aufbewahrung der Lohnunterlagen
von DDR-Betrieben läuft wegen Untätigkeit der Regierungskoalition zum Ende des Jahres aus. Eine vorhergehende Verlängerung hatten wir am 20. Oktober 2006 mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linkspartei beschließen können. Dies haben wir zum damaligen Zeitpunkt für dringend nötig erachtet, weil die Lohnunterlagen für die Klärung von gesetzlichen Rentenansprüchen
zwingend erforderlich sind. Damals waren noch immer
mehr als 1,3 Millionen Versicherungskonten von Versicherten in der ehemaligen DDR ungeklärt. Den Betroffenen hätten Rentenkürzungen gedroht, wenn sie keinen
Nachweis über ihre Beschäftigungszeiten in DDR-Betrieben hätten vorlegen können. Eine umfassende und
alle Versicherungszeiten berücksichtigende Rentenberechnung durch die Rentenversicherungsträger ist nämlich nur dann möglich, wenn das Versicherungskonto
vollständig ist.
Auch nach nunmehr 20 Jahren ist noch immer eine
große Anzahl der Versichertenkonten hinsichtlich der
Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR nicht geklärt. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung
Bund sind Versicherte der Geburtsjahrgänge 1946 bis
1974, die Beitragszeiten in der DDR zurückgelegt haben
können, betroffen. Allein bei den 2,3 Millionen bei der
Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versicherungskonten sind noch circa 286 000 Konten nicht
vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von
rund 12 Prozent.
Deshalb muss die Aufbewahrungsfrist um weitere
fünf Jahre, also bis zum 31. Dezember 2016, verlängert
werden. Durch diese verlängerte Aufbewahrungsfrist
soll gewährleistet werden, dass die für die Rentenversicherung erforderlichen Daten der Beschäftigten vor
dem Beitritt gesichert werden.
In dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion wird
die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, der sicherstellt, dass die Frist über den
31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016
verlängert wird. Der Antrag ist in der Sache zwar richtig, aber die Aufforderung zur Vorlage eines Gesetzentwurfs ist zu weit gegriffen. Es gibt folgende Möglichkeit:
Mit dem Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und
anderer Gesetze, Drucksache 17/6764, welches zurzeit
im Deutschen Bundestag beraten wird, soll eine Vielzahl
von sozialrechtlichen Einzelregelungen geändert werden. Die Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen in
DDR-Betrieben ist Regelungsbestandteil des SGB IV.
Das ist aktuell der richtige Anknüpfungspunkt. Daher
hat meine Fraktion im Rahmen der Beratungen zum
Vierten SGB-IV-Änderungsgesetz einen Änderungsantrag mit dem Ziel, die genannte Aufbewahrungsfrist
durch die Änderung des § 28 f Abs. 5 Satz 1 um fünf
Jahre zu verlängern, eingebracht.
Die SPD-Bundestagsfraktion will die Verlängerung
der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen in Ostdeutschland und fordert die Bundesregierung auf, unseren diesbezüglichen Änderungsantrag im Rahmen des
Gesetzgebungsverfahrens zum Vierten SGB-IV-Änderungsgesetz mit zu berücksichtigen.
Zu Protokoll gegebene Reden
In dem vorliegenden Antrag fordert die Linke, einen
Gesetzentwurf zur Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben vorzulegen, der sicherstellt,
dass die Frist über den 31. Dezember 2011 hinaus bis
zum 31. Dezember 2016 verlängert wird.
Worum geht es hier im Detail? Zum Ende dieses Jahres - also am 31. Dezember 2011 - läuft die Frist zur
Aufbewahrung von Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 5
Satz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch aus. Es handelt sich um eine Sonderregelung für die Aufbewahrung
von Lohnunterlagen für abhängig Beschäftigte aus der
ehemaligen DDR. Diese Regelung umfasst Lohnunterlagen, die am 31. Dezember 1991 in den neuen Bundesländern vorhanden gewesen sind. Grundsätzlich müssen
Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 1 SGB IV in Verbindung mit § 28 p SGB IV für fünf Jahre aufbewahrt werden, um den Rentenversicherungsträgern zu ermöglichen, die Arbeitgeber im Hinblick auf ihre Meldepflicht
und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV zu überprüfen.
Für abhängig Beschäftigte in der ehemaligen DDR
dienen diese Lohnunterlagen zur Klärung ihres Rentenversicherungskontos. Erschwerend ist bei diesem Personenkreis hinzugekommen, dass sie oftmals keine ausreichenden eigenen Nachweise über ihre Beschäftigung
erbringen konnten. Die Klärung des Versicherungskontos erfolgt auf Antrag des Betroffenen bei der Deutschen
Rentenversicherung. Die Betroffenen wurden in den vergangenen 20 Jahren mehrfach persönlich angeschrieben und über Pressemitteilungen in den gängigen Medien von den Rentenversicherungsträgern für die
Problematik sensibilisiert, die nötigen Anträge vor
Fristablauf einzureichen. Eine vollständige Rentenberechnung setzt ein vollständiges Versicherungskonto
voraus. Die ursprüngliche Aufbewahrungsfrist ist im
Jahr 2006 ausgelaufen. Mit Rücksicht auf die hohe Anzahl Beschäftigter, die noch keinen Antrag auf Kontenklärung eingereicht hatten, wurde die Frist bis zum
31. Dezember 2011 verlängert.
Bezogen auf den Antrag der Linken bedeutet das für
uns als FDP-Fraktion, dass wir keinen Grund für eine
erneute Fristverlängerung sehen. Schon die Verlängerung der Frist im Jahre 2006 war für uns in vielerlei
Hinsicht strittig. So müssen zum Beispiel Arbeitgeber
bzw. der Bund als Rechtsnachfolger der abgewickelten
DDR-Staatsunternehmen die Lohnunterlagen mit erheblichen Kosten aufbewahren - nach den aktuellen Vorgaben 15 Jahre über die „reguläre“ Zeit von fünf Jahren
hinaus. Sämtliche Jahrgänge mit Wohnsitz oder Zeiten
im Beitrittsgebiet sind in den Jahren 2005 bis 2007 aufgerufen worden, einen Antrag auf Kontenklärung zu
stellen. Im Jahr 2006 wurden alle Betroffenen auf die
Notwendigkeit einer Kontenklärung bezüglich der Zeiten in der früheren DDR hingewiesen. Auch im Zuge der
jährlich wiederkehrenden Versendung der Renteninformation sind alle Versicherten erneut persönlich auf das
Erfordernis einer Kontenklärung hingewiesen worden.
Ein Großteil der Betroffenen ist dem bislang auch nachgekommen. Darüber hinaus hat auch in diesem Jahr die
Deutsche Rentenversicherung Bund noch einmal auf den
Fristablauf öffentlich hingewiesen.
Der aktuelle Stand sieht folgendermaßen aus: Zum
Ablauf der Aufbewahrungsfristen am 31. Dezember
2011 werden die Bestände den regional zuständigen
Landes- und Staatsarchiven zur Übernahme angeboten.
Bei zentralen staatlichen Behörden und Einrichtungen
werden die Unterlagen dem Bundesarchiv angeboten.
Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung
sind bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versicherungskonten in den
neuen Bundesländern noch circa 286 000 Konten nicht
vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von
rund 12 Prozent. Die Aktenlagerung hat vom 1. Juli
2007 bis zum 31. Oktober 2011 bereits 12,5 Millionen
Euro gekostet, bis zum Ablauf der Frist am 31. Dezember 2012 rechnet man mit weiteren 1,4 Millionen Euro.
Eine wie von der Linken geforderte Fristverlängerung
würde entsprechende Kosten nach sich ziehen. Die Akten werden bei der Rhenus Office GmbH gelagert - die
Kosten tragen Bund und Länder. Die Administration erfolgt durch die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte
Sonderaufgaben.
Insofern wäre an dieser Stelle interessant zu erfahren,
welche konkreten Zahlen die Linke zur Begründung ihres Antrags vorweisen kann. Oder noch besser: Die
Linke möge einen eigenen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
DDR-Betrieben einreichen und darstellen, in welchem
Umfang Kosten für die Fristverlängerung zu erwarten
sind - außerdem, inwiefern zu erwarten ist, dass diejenigen Betroffenen, die noch keine Kontenklärung beantragt haben, dies in Zukunft tun werden und wie die zu
erwartenden Kosten zu rechtfertigen sind. Solange die
Linke dies unterlässt, werden wir als FDP-Fraktion diesen Antrag ablehnen.
Zeitungen schreiben darüber, im Radio und im Fernsehen gibt es Hinweise, Kommunen machen darauf aufmerksam, Gewerkschaften und Sozialverbände informieren.
Auch Sozialministerien und die Deutsche Rentenversicherung äußern sich inzwischen zum bevorstehenden Ablauf
der Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen aus DDRZeiten.
Dabei hatte die Bundesregierung mir im April auf
eine diesbezügliche Frage noch wie folgt geantwortet:
„Handlungsbedarf für eine gesonderte Information der
Öffentlichkeit über den endgültigen Ablauf der Aufbewahrungsfrist wird zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesehen, da der Fristablauf lange genug bekannt ist.“ Zum
Glück haben sich damals dennoch einige Zeitungen dieses Themas angenommen, das inzwischen solche Aufmerksamkeit findet - und das zu Recht, denn die Lohnunterlagen, die unter anderem Auskunft über die Höhe
der Einkommen und über Beschäftigungszeiten geben,
sind unverzichtbar für die Sicherung von Rentenansprüchen. Fehlende Lohnunterlagen können dazu führen,
dass Rentenansprüche gemindert werden oder im
schlimmsten Falle ganz verloren gehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung,
DRV, Bund sowie der DRV Berlin-Brandenburg, der
DRV Mitteldeutschland und der DRV Nord gibt es rund
648 000 ungeklärte Rentenkonten von Versicherten in
den ostdeutschen Bundesländern. Nicht erfasst sind in
diesen Zahlen diejenigen, die nach Herstellung der Einheit von Ost nach West gingen. Laut Statistischem Bundesamt waren das allein bis 2008 mehr als 2,7 Millionen
Menschen. Es ist leider nicht davon auszugehen, dass
alle ihre Rentenangelegenheiten geklärt haben.
Natürlich resultieren nicht alle Lücken in Rentenkonten aus Zeiten der Berufstätigkeit in der DDR. Aber die
Deutsche Rentenversicherung Nord zum Beispiel schätzt
für Mecklenburg-Vorpommern, dass von den 57 900 offenen Konten etwa 45 000 wegen fehlender Unterlagen
aus DDR-Zeiten noch nicht abschließend geklärt werden konnten. Das sind mehr als drei Viertel.
Noch einige Worte zu zwei speziellen Gründen, die
Lohnunterlagen zugänglich zu halten. Erstens geht es
um diejenigen, die sich in Klageverfahren befinden. Sie
müssen erfahrungsgemäß häufig weitere Belege beibringen. Zweitens gibt es den Personenkreis, der nach eventuellen gesetzlichen Korrekturen mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Originaldokumente vorlegen muss.
Beide Gruppen brauchen zur Wahrnehmung ihrer
Rechte den weiteren Zugang zu den Lohnunterlagen.
Die Bundesregierung hat mich auf die Glaubhaftmachung nach SGB VI verwiesen. „Hierdurch werden
Nachteile in der Rentenhöhe abgemildert, wenn der
Nachweis von Versicherungszeiten nicht gelingt“, hieß
es in einer Antwort. Konkret ist eine Glaubhaftmachung
mit einem Verlust von einem Sechstel des eigentlichen
Anspruchs verbunden. Das wäre eine Belastung vor allem für diejenigen, die längere Zeiten von Arbeitslosigkeit hinnehmen mussten und deren Renten ohnehin
schmal ausfallen dürften.
Im Übrigen gibt es Menschen, für die selbst eine
Glaubhaftmachung schwer, wenn nicht gar unmöglich
ist, zum Beispiel Menschen, die in die Bundesrepublik
geflüchtet waren - nachvollziehbarerweise ohne alle
Unterlagen - und die heute nur noch vage Erinnerung
an genaue Beschäftigungszeiten und an das Einkommen
haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, entschließen Sie sich wie schon im Jahr 2006 zu
einer Gesetzesänderung, um die Frist nochmals zu verlängern! Ändern Sie wie damals den § 28 f Abs. 5 des
SGB IV! Ersetzen Sie das darin enthaltene Datum
„31. Dezember 2011“ durch den „31. Dezember 2016“.
So einfach wäre die Gesetzesänderung! Sie wäre nicht
nur für zahlreiche Versicherte, sondern auch für die
Deutsche Rentenversicherung gut, denn deren Aufwand
zur Feststellung von Rentenansprüchen würde sich ohne
den weiteren Zugang zu den Lohnunterlagen massiv erhöhen.
Altersarmut droht besonders in Ostdeutschland. Dort
drohen nach Berechnungen des DIW aufgrund der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und der Absenkung des
Rentenniveaus die Altersbezüge für künftige Rentnerinnen und Rentner massiv zu sinken. Weil jeder Euro zählt,
ist es wichtig, dass wir die Aufbewahrungsfrist der
Lohnunterlagen von DDR-Betrieben über den 31. Dezember dieses Jahres hinaus um mindestens fünf weitere
Jahre verlängern.
Die verlängerte Aufbewahrungsfrist soll gewährleisten, dass die für die Rentenversicherung erforderlichen
Daten der Beschäftigten vor dem Beitritt gesichert werden, da gegenwärtig allein bei den 2,3 Millionen bei der
Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versicherungskonten noch circa 286 000 Konten nicht vollständig geklärt sind. Dabei kann noch ein Monat offen
sein, aber es können auch mehrere Jahre ungeklärt sein.
286 000 Rentenversicherte, das entspricht einem Anteil
von circa 12 Prozent. Eine stattliche Zahl. Wenn wir
nicht handeln, läuft den Versicherten der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1974, also allen, die noch Berufsjahre in
der DDR zurückgelegt haben, langsam die Zeit davon.
In sechs Wochen schon, nach dem 31. Dezember, können
alle Arbeitgeber und Rechtsnachfolger von DDR-Betrieben, die zuvor gesetzlich verpflichtet waren, die alten
Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten aufzuheben, diese nun
vernichten. Im Ergebnis wären Verdienstnachweise aus
den Jahren vor 1992 dann nicht mehr zu beschaffen und
könnten bei der Rentenberechnung nicht mehr berücksichtigt werden. Wenn das Konto Lücken in der Versicherungsbiografie aufweist oder Nachweise unvollständig sind oder ganz fehlen, kann das bei der späteren
Rente zu finanziellen Einbußen führen.
Wir alle wissen doch: Jede Lücke im Versicherungskonto ist bares Geld. Da ist es nicht nur nicht zielführend,
ständig darauf hinzuweisen, die Betroffenen seien in den
vergangenen 16 Jahren mehrfach aufgefordert worden,
ihre Rentenkonten zu klären, und wer nichts tue, sei selber Schuld. Das ist hochgradig zynisch. Noch mal: Jede
Lücke im Versicherungskonto ist bares Geld wert, und
zwar für den Einzelnen, der oder die bei der Rente Einbußen wegen Versicherungslücken hinzunehmen hat,
aber auch für die Gemeinschaft, der allen Zahlen zufolge auch ohne diese einheitsbedingten Lücken in den
Erwerbsbiografien ein immenser Anstieg an Grundsicherungsbezugsbeziehenden ins Haus steht. Wir können
uns das schlicht nicht erlauben.
Natürlich reicht eine Verlängerung der Aufbewahrungszeiten für die Lohnunterlagen als Maßnahme
gegen Altersarmut nicht aus, sondern wir brauchen insbesondere für den Osten eine Garantierente, die über
dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau liegt.
Die Garantierente kann und soll aber eigene Ansprüche
nicht ersetzen. Deswegen gilt es jetzt sicherzustellen,
dass die am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet vorhandenen Entgeltunterlagen mindestens bis zum 31. Dezember 2016 vom Arbeitgeber aufbewahrt werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7486 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit
einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
das so beschlossen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 25 sowie den
Zusatzpunkt 6:
25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kontaminierte Kabinenluft in Flugzeugen unterbinden
- Drucksache 17/7480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Tourismus ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz
Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter Kabinenluft schützen
- Drucksache 17/7611 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Ausschuss für Tourismus ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor.
Lassen Sie mich zunächst die vorliegenden Anträge
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPDFraktion und die diesbezügliche Debatte nutzen, um klar
zu verdeutlichen, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung im Bereich des Luftverkehrs nachkommt.
Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, seien
sie Beschäftigte bei Fluggesellschaften oder Passagiere
an Bord von Luftfahrzeugen, werden mit einer verantwortungsbewussten und nachhaltigen Luftverkehrspolitik begleitet. Als Grundlage aller gesetzlichen Rahmenbedingungen genießen dabei die Sicherheit des
Luftverkehrs und der Ausschluss gesundheitlicher Gefährdungen vor allen anderen Belangen die mit Abstand
höchste Priorität.
Nicht nur vor diesem Hintergrund betrachte ich es als
überaus bedauerlich, dass die heute im Plenum zur Debatte stehende Thematik der Geruchsbelästigung und
Kontamination von Kabinenluft in Flugzeugen durch
Ölrückstände in den vergangenen Wochen überaus einseitig und unverhältnismäßig diskutiert wurde. Höhepunkt dieser überspitzten Darstellung des Sachverhaltes
sind die nun vorliegenden Anträge, in welchen von einer
Verdichtung von Fällen kontaminierter Kabinenluft in
der jüngsten Vergangenheit die Rede ist und der Bundesregierung und den nachgeordneten Behörden in diesem
Zusammenhang Untätigkeit vorgeworfen wird.
Zunächst gilt deutlich herauszustellen, dass die
Gründe für Geruchsbelästigungen in einer Flugzeugkabine unterschiedlich und vielfältig sind und nicht
zwangsläufig auf die in den Anträgen thematisierten
„fume-events“, eine Verunreinigung der Kabinenluft
durch Öldämpfe, zurückzuführen sind. Häufige Ursachen sind vielmehr Gerüche durch Papier oder Cateringaufkleber im Ofen, defekte Kaffeemaschinen, andere Küchendämpfe, Rauchentwicklung im Abfalleimer der
Toilette oder verschmorte Verkabelungen und Kunststoffverkleidung. Auch die Verschmutzung der Klimaanlage oder durch Störungen der Hilfsgasturbine verursachter Geruch werden immer wieder als Auslöser einer
Geruchsbelästigung identifiziert. Die zuständige Europäische Agentur für Flugsicherheit, EASA, spricht in
diesem Zusammenhang von sehr seltenen und kurz andauernden Fällen von Öldämpfen in Flugzeugkabinen,
die den Charakter eines meldepflichtigen Ereignisses
hätten. Dennoch entsteht fälschlicherweise sowohl in
den vorliegenden Anträgen als auch in der Debatte in
den Medien der Eindruck, als wären ungewöhnliche Gerüche in Flugzeugkabinen fast zwangsläufig auf Öldämpfe zurückzuführen.
Im Monat Oktober hat es drei Ausweichlandungen
von Maschinen der Deutschen Lufthansa aufgrund von
Geruchsentwicklung gegeben, welche diese bedauerliche Eigendynamik der gegenwärtigen Debatte verdeutlichen. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im politischen Feld wurden die Ereignisse als vermeintliche
Vorfälle dargestellt, bei denen es sich um einen „fumeevent“ gehandelt habe und verbrannte Ölrückstände in
die Kabine gelangt seien. Nach Rücksprache mit der
Lufthansa sind alle drei Vorkommnisse nach umgehender Untersuchung als Aneinanderreihung von Zufällen
zu werten, die eindeutig in keinem Zusammenhang mit
solch einer Belastung der Kabinenluft stehen. Auch das
Luftfahrt-Bundesamt und die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung haben keine Veranlassung gesehen,
weitere Untersuchungen in dieser Hinsicht vorzunehmen. Wie man vor diesem Hintergrund, wie in den vorliegenden Anträgen geschehen, von Diskrepanzen und
Aufklärungsbedarf sprechen kann, ist mir schleierhaft.
Auch die zuständigen Behörden sehen weder auf
nationaler noch auf internationaler Ebene einen Handlungsbedarf. Die weltweit für die Sicherheit im Luft16644
verkehr zuständige Internationale Zivilluftfahrtorganisation, ICAO, die sich bereits Anfang Oktober 2010 mit
der Thematik beschäftigt hat, erkennt keinen Grund für
Veränderungen. Selbiges gilt für die EASA, die diesbezüglich bereits 2009 einen umfassenden Konsultationsprozess begonnen hat, dessen Ergebnisse öffentlich und
auf der Internetseite der Behörde einsehbar sind. Auch
gegenwärtig liegen beiden Organisationen keine konkreten Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung von
Passagieren oder Besatzungsmitgliedern durch kontaminierte Kabinenluft vor.
Selbst die zuständige Berufsgenossenschaft für
Transport und Verkehrswirtschaft befasst sich seit dem
Jahr 2008 eingehend mit der Frage möglicher Gefährdungen des Personals durch belastete Luft in Flugzeugkabinen, auch in enger Zusammenarbeit mit dem Institut
für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, IFA. Um einen möglichen Zusammenhang
von Gesundheitsbeeinträchtigungen und der beruflichen
Tätigkeit zu untersuchen, wurde unter anderem das weltweit größte TKP-Biomonitoring-Projekt initiiert, das
nun kurz vor dem Abschluss steht. Bis heute konnten
nach Auswertung eines Großteiles der Proben in keinem
einzigen Fall Konzentrationen des in den Anträgen thematisierten Öladditivs Trikresylphosphat TKP festgestellt werden, die Gesundheitsbeschwerden begründen
könnten.
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, dass
die Thematik der kontaminierten Kabinenluft durchaus
aktuell ist, die vorliegenden Anträge und die darin enthaltenen Forderungen ebenso wie die mediale Berichterstattung aber mit der gegenwärtigen Sachlage nicht
vereinbar sind. Entgegen den Ansichten der Oppositionsfraktionen sieht die CDU/CSU-Fraktion keinen
Handlungsbedarf und teilt die Auffassung der Bundesregierung, dass die bereits bestehenden Untersuchungen,
Meldepflichten und Verfahren zur Störungsbehebung
ausreichen, um - im Falle von Missständen und Fehlverhalten - weitere Schritte einleiten zu können. Nicht zuletzt die umfangreiche Auseinandersetzung mit der Thematik seitens zuständiger Behörden wie der EASA oder
auch der zuständigen Berufsgenossenschaft belegt, dass
eine mögliche Gefahr durch verunreinigte Kabinenluft
seit Jahren immer wieder verantwortungsbewusst und
ergebnisoffen untersucht wird. Eine Veranlassung, über
die bereits bestehenden und angemessenen Zuständigkeiten und Aktivitäten hinaus Maßnahmen vorzuschreiben, ist daher nicht gegeben. Die vorliegenden Anträge
lehnen wir dementsprechend ab.
Am 21. September hat der Tourismusausschuss sich
in einem Expertengespräch ausführlich dem komplexen
Thema der „fume-events“ in Passagierflugzeugen und
der damit in Zusammenhang gebrachten Kontaminierung der Kabinenluft gewidmet. Im vergangenen Jahr
hat die Bundesregierung in diesem Kontext auch den
Tourismusausschuss zu den gesundheitlichen Gefahren
des aerotoxischen Syndroms unterrichtet. Dies zeigt,
dass wir uns alle der Problematik verunreinigter Kabinenluft bewusst sind und es auch als potenzielle Gefahrenquelle für die Sicherheit und Gesundheit der Fluggäste wie auch der Besatzungen sehr ernst nehmen. Dies
zeigt aber auch, dass das Problem an verantwortlicher
Stelle auf der Agenda ist, sowohl bei der Bundesregierung als auch bei den zuständigen Bundesbehörden,
dem Luftfahrt-Bundesamt und der Bundesstelle für
Flugunfalluntersuchungen.
Hinsichtlich des prinzipiellen Handlungsbedarfs besteht daher auch weitgehend Konsens. Diese Ereignisse
sind sehr ernst zu nehmen, und sie sind in ihrer Relevanz
für die Gesundheit der an Bord befindlichen Personen
und für die Sicherheit des Flugverkehrs einer eingehenden Bewertung zu unterziehen. Dabei kann sich dies aufgrund der verfahrensrechtlichen Vorgaben und Zuständigkeiten nicht allein in Maßnahmen auf nationaler
Ebene erschöpfen, sondern muss in erster Linie zwingend bei der auf europäischer Ebene zuständigen Agentur für Flugsicherheit, EASA, erfolgen.
Mit diesen prinzipiellen Punkten endet dann aber
auch schon die Übereinstimmung, die ich mit den vorliegenden Anträgen teile. Der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen speist sich zu sehr aus Mutmaßungen, Einschätzungen und Konstrukten und räumt damit den bislang
wissenschaftlich erarbeiteten Untersuchungsergebnissen so gut wie keinen Raum oder Berücksichtigung ein.
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der statistischen Datenbasis nicht zielführend, da hiermit die sogenannten fume-events über ihre tatsächliche statistische
Relevanz und Ereigniswahrscheinlichkeit aufgebauscht
und skandiert werden. Die Art und Weise, wie dieses
Thema aufgegriffen wird, ist damit nicht nur unsachlich,
sondern dient auch nicht den berechtigten Anliegen der
Fluggäste und des Flugpersonals.
Schon in der vergangenen Legislaturperiode hat die
Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitgeteilt,
dass in einem Fünfjahreszeitraum, von 2004 bis 2009,
vom Luftfahrt-Bundesamt lediglich 156 solcher „fumeevents“ erfasst worden sind. Nach aktuellen Beobachtungen entfällt auf circa 100 000 Flüge ein gemeldeter
Fall.
Die EASA, die seit einigen Jahren mit diesem Problem befasst ist, hat im Mai dieses Jahres deutlich gemacht, dass bislang keiner dieser Fälle von so gravierender Relevanz gewesen ist, dass damit eine generelle
oder gar sofortige Vorschriftenänderung gerechtfertigt
werden könnte. Damit greifen auch die Forderungen des
Antrags ins Leere, so zum Beispiel, die Wartungsintervalle und -verfahren zu optimieren. Bei einer solchen
Ereigniswahrscheinlichkeit ist zwischenzeitlich jedes
Teil der Maschine durch mehrere Wartungszyklen gelaufen, sodass ein weiterer keinen Zusatznutzen bescheren
könnte.
Auch die Aufforderung des Antrags an die Flugzeugbesatzungen, bei entsprechenden Ereignisfällen im
Cockpit die Sauerstoffmasken zu verwenden, scheint
mehr von der Außenwirkung getragen zu sein als von
sachlicher, unaufgeregter Herangehensweise. Schließlich ist dies den Piloten in entsprechenden Gefahrensituationen ohnehin aufgegeben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Anita Schäfer ({0})
In diesem Zusammenhang stellt auch die Begriffsverwendung von „neurotoxologisch bedenklichen Ölen“
eine tendenzielle und pauschalisierte Bewertung der
bislang verwendeten Öle dar. Damit soll ein kausaler
Zusammenhang zwischen den verwendeten Ölen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Fluggästen oder
dem Flugpersonal impliziert werden. Das ist aber derzeit
nicht nur wissenschaftlich nicht nachweisbar, sondern
auch durch die bislang vorhandenen Untersuchungsergebnisse in keiner Weise untermauert. Vielmehr sprechen eben diese Ergebnisse dezidiert gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen den sogenannten fumeevents und den in Urinproben festgestellten untergrenzwertigen TCP-Belastungen.
Gleichwohl wird in dem Antrag gefordert, diese bedenklichen Öle durch andere, als weniger bedenklich
bezeichnete auszutauschen. Offen bleibt dabei, welche
das sein sollen. Denn auch hier ist es ein feststehendes
Faktum, dass die bislang verwendeten Öle und Betriebsmittel ausführlich erprobt und auch hinreichend bewährt sind. Mir scheint es dagegen viel mehr ein Risiko
darzustellen, diese durch vermeintlich unbedenklichere
zu ersetzen, die nicht annähernd so gut untersucht und
im Einsatz bewährt sind. Der Nutzen einer Maßnahme,
die etwas Bewährtes durch etwas noch nicht Bewährtes
ersetzt, erschließt sich mir nicht.
Ebenso sind die Forderungen zu den Bauvorschriften
nicht hinlänglich stringent, weder im Fall der geforderten Detektoren noch der entsprechenden Filter. Einerseits erscheint mir die Forderung, Bau- und Konstruktionsvorschriften zu erlassen, ohne eine schlüssig und
empirisch nachgewiesene Ursache-Wirkung-Kette zu
haben, ein Stück weit unredlich. Andererseits sind die infrage kommenden zu detektierenden oder zu filternden
Stoffe so vielfältig, dass dies in technischer Hinsicht eine
außerordentlich breite anspruchsvolle Anforderung darstellt. Derzeitig verfügbare Detektoren können bei entsprechender Kalibrierung rund zehn unterschiedliche
Stoffe aufspüren. Wie in der Expertenanhörung deutlich
wurde, umfasst allein die Gruppe der unter dem Sammelbegriff Trikresylphosphat zusammengefassten Stoffe
zehn unterschiedliche Isomere. Dabei kann deren Konzentration in der Kabine hinsichtlich ihrer Kausalität
für Beschwerden derzeit nicht wissenschaftlich fundiert
unterstellt werden. Demzufolge ist das Spektrum infrage
kommender Stoffe eventuell noch breiter. Zum anderen
sind aber auch die Expositionsquellen der unter dem
Grenzwert liegenden TCP-Konzentrationen, wie zum
Beispiel in den Kabinen verwendete Kunststoffe, vielfältiger, als der Antrag glauben macht, und vielfältiger, als
dass man dem Ganzen mit Zapfluftfiltern begegnen
könnte. Der Antrag der SPD-Fraktion bemüht sich mit
weniger Pauschalisierungen um einen sachlicheren
Umgang mit dieser sensiblen Materie. Gleichwohl betrachtet er das Problem ebenfalls allein aus einer Blickrichtung und räumt den bislang vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen ebenfalls keinen Raum ein.
Wenngleich ich in meinen Ausführungen die vielfältigen Forderungen der Anträge ablehne und an deren
Sachdarstellung Kritik übe, dann jedoch nicht, weil ich
auch die grundsätzliche Zielsetzung ablehne. Nein, denn
auch ich bin dezidiert wie meine Fraktion der Auffassung, dass hier weiterhin grundsätzlicher Klärungsbedarf zur Gewährleistung der Gesundheit und Sicherheit
von Flugpersonal und Passagieren besteht.
Mir ist es aber wichtig, für alle regulatorischen Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze eine ausreichende,
stichhaltige und gerichtsfest verantwortbare Datenbasis
zu besitzen. Diese ist derzeit nicht gegeben und muss
dringend eine Erweiterung erfahren. Der wichtigste Ansatz hierzu ist es hierbei, die Meldeketten im Ereignisfall
effektiver zu gestalten. Hier muss die Aufsicht über die
Luftfahrtunternehmen durch das Luftfahrt-Bundesamt
dafür Sorge tragen, dass alle Vorfälle vollständig und
unverzüglich gemeldet werden und damit einen hilfreichen und zielführenden Beitrag für die notwendige Verbreitung der Datenbasis leisten. Nur so ist es möglich,
zeitnah zu den Vorfällen wissenschaftlich zweifelsfrei
verwendbare Erhebungen zu erhalten.
Gegenüber den umfänglichen Forderungen, die in
den Anträgen aufgestellt werden, ist dies zudem eine
Vorgabe, die nicht ins Blaue hinein umfängliche und
kostenträchtige technische Maßnahmen für die Unternehmen und mittelbar für die Fluggäste sowie insgesamt
einen spürbaren wirtschaftlichen Wettbewerbsnachteil
für den Standort Deutschland nach sich zieht.
Seit Jahren gibt es eine sich wiederholende Diskussion zum Thema „kontaminierte Kabinenluft“. Manche
bezeichnen das als Phantomdiskussion. Die SPD-Bundestagsfraktion sagt klar: Wir haben es hier mit einem
Problem für Flugsicherheit und Gesundheit des Flugpersonals und der Passagiere zu tun. Deswegen haben
wir das Problem aufgegriffen. In unserer Bewertung
fühlen wir uns unterstützt durch zahlreiche Medienberichte wie im „Spiegel“ und der Magazinsendung „Monitor“, aber mehr noch durch Berichte von Flugzeugbesatzungen.
Im Tourismusausschuss hat es am 21. September 2011
hierzu ein Expertengespräch gegeben. Im Vorfeld dieses
Expertengespräches erreichten den Tourismusausschuss
beunruhigende Berichte von Flugzeugbesatzungen, die
über chemische Gerüche in Flugzeugkabinen klagten
und über gesundheitliche Beeinträchtigungen berichteten. Es geht hier nicht nur um gesundheitliche Gefährdungen für die Flugzeugbesatzung und Passagiere, sondern es geht um ein Risiko für die Flugsicherheit. So
wurde zum Beispiel berichtet, dass Piloten am 18. Januar 2002 auf einem Flug von Katowice nach Frankfurt,
nachdem sie den ganzen Flug über schon Gerüche in der
Kabine festgestellt hatten, nur durch das Aufsetzen der
Sauerstoffmasken das Flugzeug sicher auf den Boden
bringen konnten. Berichte über ähnliche Vorkommnisse
gibt es auch aus jüngerer Zeit. Ich verweise auf die Darlegungen im Expertengespräch.
Um welches technische Problem geht es eigentlich?
Diese als „smoke/fume-events“ bezeichneten Vorkommnisse entstehen zum Beispiel, wenn infolge fehlerhafter
Dichtungen durch das Zapfluftsystem der Verkehrsflugzeuge Rückstände von verdampftem Triebwerksöl angeZu Protokoll gegebene Reden
saugt werden und danach in die Kabinenluft gelangen.
Im Triebwerksöl enthalten sind verschiedene Additive,
unter anderem das hoch giftige Trikresylphosphat, TKP,
englisch TCP. Gelangen diese Rückstände in die Kabinenluft, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie
ernste gesundheitliche Beeinträchtigungen wie stechende Schmerzen in Armen, Händen, Füßen, Schwindel, Taubheitsgefühle, Muskelschwäche, chronische
Müdigkeit, Asthma, Schädigungen des Nervensystems,
Krebs etc. hervorrufen können. Einwirkungen auf das
Servicepersonal für die Reinigung der Flugzeuge am
Boden sind nicht ausgeschlossen.
Bislang ist es für das betroffene Flugpersonal schwer,
zu beweisen, dass langfristige gesundheitliche Schäden
durch das Einatmen bzw. anderweitige Aufnahme von
Giftstoffen während der Tätigkeit an Bord verursacht
wurden, denn bislang fehlt der wissenschaftliche Beweis
einer Kausalkette für die Auswirkungen von kontaminierter Kabinenluft auf die menschliche Gesundheit.
Eine Erkrankung mit den beschriebenen Symptomen,
das „Aerotoxische Syndrom“, wurde bislang von den
Berufsgenossenschaften nicht als Berufskrankheit des
fliegenden Personals klassifiziert. Hier besteht dringender Klärungsbedarf, in diesem Sinne ist unser Antrag zu
verstehen.
Vorfälle infolge kontaminierter Kabinenluft treten unvorhergesehen auf. Häufig besteht keine Klarheit darüber, wann es sich um eine Störung bzw. schwere Störung nach § 5 der Luftverkehrs-Ordnung, LuftVO,
handelt. Stellungnahmen des Flugpersonals und aktuelle
Medienberichte lassen darauf schließen, dass das Personal im Hinblick auf diese Vorfälle bislang nur ungenügend aufgeklärt und geschult wurde. Gemäß § 5 der Luftverkehrs-Ordnung, LuftVO, sind „smoke/fume-events“
dem Luftfahrtbundesamt, LBA, bzw. der Bundesstelle für
Fluguntersuchungen, BFU, anzuzeigen. In 2010 wurden
bei der BFU zwar von einer deutschen Airline 60 Öldampf-Störfälle gemeldet, vergleiche „Spiegel“-Ausgabe 9/2011. Dennoch besteht offensichtlich eine Diskrepanz zwischen den in den Medien berichteten
Vorfällen, bei denen kontaminierte Kabinenluft vermutet
wurde, und den tatsächlich bei der BFU angezeigten
Störfällen. Auch hier besteht dringender Aufklärungsbedarf. Das Expertengespräch hat ergeben, dass die Sachverständigen die Existenz eines „Problems“ bestätigt
haben. In der Frage der Folgen von kontaminierter Kabinenluft auf Flugsicherheit und Gesundheit gab es unterschiedlich Bewertungen. Die SPD-Bundestagsfraktion geht davon aus, dass die Flugzeugindustrie und die
Fluggesellschaften, aber auch die Flugsicherheitsbehörden ein großes Interesse an der weiteren Ursachenforschung und an technischen Lösungen haben.
Der SPD-Bundestagsfraktion fehlen Handlungsanweisungen zur technischen Aufklärung der Ursachen
dieser Erscheinung auf der Basis gesicherter Erkenntnisse und wissenschaftlich-technischer Forschungsergebnisse. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung daher auf, entsprechend tätig zu werden. Wir
erwarten von der Bundesregierung, dass nun endlich umfassende Langzeitmessungen zur Belastung der Kabinenluft mit Organophosphaten und anderen Schadstoffen
veranlasst werden, und im Rahmen einer unabhängigen
wissenschaftlichen Studie der kausalen Zusammenhang
zwischen kontaminierter Kabinenluft und den gesundheitlichen Auswirkungen weiter erforscht wird. Die Entwicklung von geeigneten Bluttests zum Nachweis von Organophosphaten im menschlichen Organismus muss
vorangetrieben werden, um schädigende Auswirkungen
auf die Flugzeugbesatzungen und die Passagiere feststellen zu können, wenn es zu einem Vorfall mit kontaminierter Kabinenluft gekommen ist. Für die vom „Aerotoxischen Syndrom“ betroffenen Flugzeugbesatzungen ist es
von besonderer Wichtigkeit, dass die Voraussetzungen
für eine mögliche Anerkennung als Berufskrankheit geprüft werden. Wir dürfen die Piloten und Flugbegleiterinnen hier nicht im „Dunst“ stehen lassen.
Um das gesamte Problemfeld zu untersuchen und Lösungen zu finden, müssen die zuständigen Bundesbehörden, die Luftfahrtunternehmen und Flugzeug- sowie
Triebwerkshersteller Hand in Hand arbeiten. Die Entwicklung geeigneter Mess-, Kontroll- und Warnsysteme
für gesundheitsgefährdende Stoffe im Zapf-/Luftsystem
aus den Triebwerken muss vorangetrieben werden. Ein
Lösungsweg könnte im Einbau entsprechender Technik,
wie zum Beispiel Sensoren in Verkehrsflugzeugen mit
Zapf-/Luftsystem, bestehen. Für die künftige Generation
von Verkehrsflugzeugen ist die Entwicklung von Alternativen zur gegenwärtigen Zapfsystemtechnik zu prüfen.
Im Zusammenhang mit der Erstellung dieses Antrags
hatte ich interessante Gespräche mit Unternehmen, Gewerkschaften und der Luftverkehrswirtschaft. Dabei
wurde meine Aufmerksamkeit auf eine Firma gelenkt,
die bereits ein Messgerät entwickelt hat - den „Aerotracer“ -, das bereits im praktischen Einsatz ist, um Öldämpfe aus Flugzeugturbinen zu lokalisieren. Dies ist
nach meiner Auffassung ein Ansatzpunkt für weitere
technische Untersuchungen.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht im Übrigen ein
Potenzial für die Beseitigung des „Problems“ auch in
der Entwicklung von nicht toxischen Schmierölen für
Triebwerke. Diese Entwicklungen müssen vorangetrieben werden. Es liegt nahe, dass nicht nur die Flugzeugbesatzungen und Passagiere, sondern auch das Reinigungspersonal dem gesundheitsgefährdenden TCP
ausgesetzt sein können. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag von der Bundesregierung Untersuchungen
zu veranlassen, die Aufschluss über mögliche gesundheitliche Belastungen des Reinigungspersonals durch
Kontakt mit entsprechenden Schadstoffen auf Sitzen und
Innenverkleidung geben.
Das Thema „kontaminierte Kabinenluft“ ist von allen Experten als ein Problem anerkannt worden. Deshalb fordern wir, dass über ein kontinuierliches Forum
der fachliche Informationsaustausch über Kabinenluftbelastungen geführt wird. Darin müssen die zuständigen
Ministerien und Behörden, aber auch Gewerkschaften,
Verbände, Berufsgenossenschaften, die Luftfahrtindustrie und die Luftfahrtunternehmen einbezogen werden.
Wir dürfen die Betrachtung des Problems nicht auf
Deutschland beschränken. Es reicht nicht aus, in
Deutschland die Untersuchungen zur kontaminierten
Zu Protokoll gegebene Reden
Kabinenluft voranzutreiben. Dies ist ein globales
Thema. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Bundesregierung auch auf EU-Ebene und international dafür
einsetzt, dass Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt und daraus abgeleitete einheitliche Standards
für die Qualitätssicherung der Kabinenluft sowie entsprechende Prüfverfahren vereinbart werden. Wir können uns in Kenntnis der Vorkommnisse mit den derzeitigen fachlichen Bewertungen durch die EASA nicht
zufrieden geben.
Ich bitte Sie im Interesse der Flugzeugbesatzungen
und der Passagiere unseren Antrag zu unterstützen.
Die von Bündnis 90/Die Grünen und SPD vorgelegten Anträge sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie
Hysterie verbreitet wird. Wer die Antragstexte liest, bekommt den Eindruck, als ob Fluggäste und Flugpersonal geradezu reihenweise vergiftet werden. Es heißt
sogar, dass ein „enormes Risiko für die Flugsicherheit
bestünde“.
In Deutschland starten und landen jedes Jahr fast
drei Millionen Flugzeuge. Zahlen, die auch nur ansatzweise eine Gefahr für die Flugsicherheit durch kontaminierte Kabinenluft hergeben, lassen sich nicht finden.
Die Europäische Agentur für Flugsicherheit EASA hat
im Mai 2011 festgehalten, dass es zum Thema Kabinenluft bezogen auf die Sicherheit keinen Vorfall gebe, der
eine sofortige oder generelle Vorschriftenänderung
rechtfertigt. Ebenso wenig gibt es Erkenntnisse über
großflächige Vergiftungen. Insofern stellt sich die Frage,
ob hier nicht Panik geschürt wird, die der Sache unangemessen ist.
Stattdessen wird von den Grünen auch noch der Verdacht geschürt, die Luftverkehrsbranche würde Rechtsbruch begehen. Es heißt da im Antrag, die Bundesregierung solle „die Einhaltung aller Rechtsvorschriften
fordern“. Oder wollen Sie behaupten, dass die Bundesregierung kein Auge darauf hat, dass geltendes Recht
eingehalten wird?
Natürlich, die Möglichkeit, dass Kabinenluft in Flugzeugen kontaminiert wird, darf nicht einfach beiseite gewischt werden. Es besteht aber nicht, wie von Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, dargestellt, akuter Handlungsbedarf. Die Ergebnisse der
EASA, die sich mit dem Thema beschäftigt, sind öffentlich. Die EASA will weitere Studien auf den Weg bringen. Es ist nicht nötig, wie von Ihnen gefordert, weitere
umfangreiche Testreihen auf den Weg zu bringen. Diese
Forderung ist schlicht unangemessen und unverhältnismäßig.
Ich weise Sie auch darauf hin, dass die Industrie dieses Thema schon lange auf dem Schirm hat. Sowohl die
Fluggesellschaften als auch die Flugzeughersteller beschäftigen sich intensiv mit der Problematik. Dabei sind
Studien sowohl der Fluggesellschaften selbst als auch
der Berufsgenossenschaft ohne Befund geblieben. Die
Hersteller arbeiten bereits an Lösungen, die die schon
jetzt sehr geringe Gefahr weiter reduzieren. Störungen
und Ereignisse, die die Sicherheit beeinträchtigen können, eben zum Beispiel kontaminierte Kabinenluft, müssen dem Luftfahrt-Bundesamt gemeldet werden. Hier ist
es auch unverhältnismäßig, zu fordern, dass selbst jede
kleine Störung weitergemeldet wird. Damit schaffen Sie
einen erheblichen bürokratischen Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Eine Meldepflicht für
jede noch so kleine Störung ist abseits der Lebenswirklichkeit.
Es gibt bereits eine Reihe von Maßnahmen, die auf
den Weg gebracht wurden. Es gibt bereits Studien, und
weitere sind im Auftrag, also muss man die Kirche auch
mal im Dorf lassen. Die von der Opposition geforderten
Gremien und neuen Studien bedeuten eine unverhältnismäßige Bürokratie. Neue Erkenntnisse hingegen sind
nicht zu erwarten. Es bleibt schleierhaft, wieso die bisherigen Instanzen nicht ausreichend für die Problematik
qualifiziert sein sollen.
Es ist auch bezeichnend, wie hier, um dem eigenen
Antrag mehr Dramatik zu verleihen, Worte verdreht werden. Die sogenannten „fume-events“ werden gleich
samt und sonders zu einer Verunreinigung durch Öldämpfe erklärt, obwohl sie auch andere Ursachen haben
können.
Hinzu kommt, dass nicht jeder, der mit Kopfschmerzen oder Übelkeit aus dem Flugzeug steigt, gleich vergiftet worden ist. Wer diesen Eindruck erweckt, handelt
fahrlässig und schürt unverantwortliche Panik unter all
den Millionen Urlauberinnen und Urlaubern, unter den
Berufspendlern und unter dem Flugpersonal. Oft genug
vertragen Menschen den niedrigen Luftdruck in der
Höhe nicht, leiden unter einer Allergie oder haben
schlicht zu wenig getrunken. Wer dann mit solchen Anträgen kommt und den Menschen den Eindruck vermittelt, sie seien vergiftet worden, handelt schon fast fahrlässig.
Das Fliegen gehört zu den sichersten Fortbewegungsmöglichkeiten überhaupt. Daran ändern auch
einzelne Vorfälle nichts. Wie oft hat es bei den fast drei
Millionen Flugbewegungen in Deutschland solche Probleme gegeben? Und wie oft haben die Flugpassagiere
dann noch so viel von eventuellen Schadstoffen eingeatmet, dass es überhaupt zu einer Vergiftung kommt? Vergessen Sie auch nicht, dass die Kabinenluft eines Flugzeugs innerhalb weniger Minuten komplett ausgetauscht
wird. Dies alles ist bei der Bewertung dieser Frage
ebenfalls zu berücksichtigen. Eine hundertprozentige Sicherheit wird man nie schaffen können.
Letzten Endes bleibt der Eindruck, dass die Anträge
vor allem durch eine generelle Skepsis gegenüber dem
Flugverkehr motiviert sind. Es gibt bereits diverse Untersuchungen zu diesem Thema, und die verantwortlichen Stellen, also vor allem das Luftfahrt-Bundesamt
und die Europäische Agentur für Flugsicherheit, handeln verantwortungsbewusst und angemessen. Es besteht kein Grund, eine überbordende Bürokratie aufzubauen und Doppelstrukturen zu schaffen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Immer wieder berichten Fluggäste und die Besatzungen von Flugzeugen von störenden, chemischen Gerüchen und Rauch- oder Gaserscheinungen in der Kabine.
Diese sogenannten Fume Events oder Smoke Events
werden ausgelöst durch das Ansaugen von verdampften
Ölrückstanden durch die Frischluftzufuhr des Flugzeuges. Dieses Triebwerksöl enthält unter anderem das
hochgiftige Kresylphosphat, weshalb die Kontamination
der Kabinenluft durch Ölrückstände im dringenden Verdacht steht, für eine Reihe akuter Beschwerden und
chronischer Erkrankungen von Kabinenpersonalpersonal verantwortlich zu sein.
Unser im Tourismusausschuss durchgeführtes Expertengespräch hat uns zum Thema aufschlussreiche wie
erschreckende Erkenntnisse gebracht. Hierbei bewegen
mich besonders zwei Aspekte: Die Belange der Betroffenen, die als fliegendes Personal dem Schadstoff Kresylphosphat möglicherweise über Jahre in gesundheitsschädlichen Konzentrationen ausgesetzt waren. Zum
Zweiten, wie eine Kontamination zukünftig wirksam
ausgeschlossen werden kann.
Ich komme zunächst zum fliegenden Personal. Wie im
Expertengespräch deutlich wurde, haben Angestellte
der Luftfahrtbranche große Schwierigkeiten bei der Beweisführung, dass infrage kommende Erkrankungen
durch eine Kontamination der Kabinenluft durch Kresylphosphat ausgelöst wurden. Dies liegt zum einen daran,
dass ein Nachweis über die Aufnahme von Kresylphosphat in den Körper und ein Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen aus medizinischer Sicht schwer zu
führen ist. Auf der anderen Seite - und dies wiegt schwerer - zögern viele Kabinenbeschäftigte aufgrund von
Klauseln in ihrem Arbeitsvertrag damit, ihre Beschwerden untersuchen zu lassen; denn sollte ein Arzt die Flugunfähigkeit eines Beschäftigten feststellen, ist dieser seinen Job los. Ohne beweisen zu können, dass seine
Flugunfähigkeit durch die berufliche Tätigkeit verursacht wurde, bedeutet dies den wirtschaftlichen Ruin.
Hier muss die rechtliche Situation dringend zugunsten
der Beschäftigten angepasst werden.
Wie kann es aus technischer Sicht überhaupt zu einer
solchen Kontamination der Kabinenluft durch Rückstände von Triebwerksöl kommen? Die Antwort ist in
der Tat bemerkenswert: Die Luft für die Triebwerke des
Flugzeuges und die Luft zur Belüftung der Kabine wird
dem Flugzeug durch ein und dasselbe Ansaugsystem zugeführt, wodurch im Störungsfalle Substanzen aus dem
Treibwerk in die Luftzufuhr gelangen können. Die Zusammenführung der Luftversorgung von Triebwerk und
Kabine ist allerdings keine technische Notwendigkeit,
sondern lediglich Kostengrünen geschuldet. Eine Trennung in zwei voneinander getrennte Systeme ist technisch ohne Weiteres möglich und würde die sogenannten
Fume/Smoke-Events wirksam ausschließen.
Aus Sicht der Linken sind folgende Maßnahmen im
Umgang mit kontaminierter Kabinenluft erforderlich:
langfristig angelegte unabhängige Untersuchungen zur
Häufigkeit der sogenannten Fume/Smoke-Events; Maßnahmen zur Luftgütesicherung in Kabinen durch Installation von geeigneten Messsystemen; eine medizinische
Studie zu den Auswirkungen einer Langzeitkontamination mit Kresylphosphat bei gleichzeitiger Herstellung
von Rechtssicherheit für die Beschäftigten im Hinblick
auf ihren Arbeitsplatz und mittelfristig eine Änderung
der Bestimmungen zum Flugzeugbau, sodass eine Kontamination von Kabinenluft mit Triebwerksrückständen
zukünftig auf technischem Wege ausgeschlossen werden
kann.
Seit fast zwei Jahren beschäftige ich mich nun mit
dem Thema Kabinenluft in Verkehrsflugzeugen. Heute
haben Sie einen Antrag von uns vorliegen. Warum haben
wir so lange an diesem Antrag gearbeitet? Ich sage es
Ihnen: Es ist ein sehr komplexes Thema, das keine
Schnellschüsse erlaubt.
Dabei lässt es sich ganz kurz vorstellen: Es geht um
Nervengift in der Flugzeugkabine. Ich hielt das zunächst
für ausgeschlossen. Deshalb habe ich entsprechende
Vorrecherchen betrieben, führe seit nunmehr anderthalb
Jahren intensive Gespräche. Nur nicht mit den Fluggesellschaften. Die verwehren sich größtenteils diesem
Dialog, leider. Dabei wird es nur mit ihnen gelingen.
Erst im Vorfeld der heutigen Debatte erhielt ich erste
Rückmeldungen. Dieser Antrag ist deshalb - wohl gemerkt - nur ein Zwischenergebnis.
Es geht nicht nur um Gift in der Kabine und damit um
die Flugsicherheit und die Gesundheit von Passagieren
und Flugpersonal. Es geht hier um unternehmerische
Verantwortung und eine Bundesregierung, die nicht
handelt. Aber es geht auch um die Zukunft der Luftverkehrswirtschaft. Dieses Thema erstreckt sich weit in die
Industriepolitik. Deshalb ist hier erstens ein Dialog der
Akteure gefragt und zweitens auch eine Politik, die sich
der Konsequenzen durchaus bewusst ist.
Mich erinnert die Debatte manchmal ein wenig an die
Diskussion über andere Schadstoffe wie etwa Asbest.
Auch hier hat man lange ein Problem negiert. Heute
weiß man jede Menge darüber, und niemand würde mehr
die Gefährlichkeit dieses Stoffes bestreiten.
Im Flugzeug haben wir es mit mehreren verschiedenen Gefährdungsquellen zu tun. Das haben wir in unserem Antrag dargelegt. Leider leidet der heute zuständige
Staatssekretär Mücke offensichtlich an Regierungsamnesie. Jedenfalls scheint er sich nicht mehr daran zu erinnern, dass er in der letzten Legislaturperiode selber
Informationen einforderte und explizit auf Pestizide in
Flugzeugen hinwies. Herr Mücke, Sie ließen zuletzt über
das Kabinettsreferat mitteilen, dass meine diesbezüglichen Schreiben an zuständige Behörden nicht mehr beantwortet würden. Ich finde, das ist ein ganz schön dicker Hund!
Um eines deutlich zu sagen: Uns geht es hier nicht
darum, Verunsicherung zu schüren oder Airlines zu beschädigen, wie uns zuweilen unsachlich vorgeworfen
wird. Uns geht es darum, eine nachhaltige Lösung für
ein schwerwiegendes Problem zu finden, das es objektiv
betrachtet gibt. Es hilft weder den Passagieren und den
Zu Protokoll gegebene Reden
Besatzungen noch den Airlines selbst, wenn man sich einem derartigen Problem nicht stellt und stattdessen eine
Wagenburg baut und versucht, das Thema auszusitzen.
Es bringt aber auch nichts, ausschließlich zurückzuschauen. Ich appelliere an die Airlines, aber auch an die
Flugzeughersteller, den Dialog unaufgeregt und sachlich zu führen und mit der Politik gemeinsam eine Lösung zu finden. Wir haben mit unserem Antrag Lösungsvorschläge gemacht, die auch die Industrie nicht
überfordern, aber für mehr Sicherheit und Gesundheitsprävention im Flugverkehr sorgen. Und das ist nicht nur
im Interesse zufriedener Fluggäste und Besatzungsmitglieder, sondern auch im ökonomischen Interesse der
Fluggesellschaften.
Ich möchte mich hier noch einmal kurz auf die Öldämpfe konzentrieren. Wie kommen die eigentlich in die
Kabine? Vereinfacht dargestellt: Fast alle Flugzeuge
zapfen die Luft an den Triebwerken ab. Darin werden
Öle benutzt. Und in den Ölen befinden sich Additive, die
toxisch wirken. Wenn diese Öle erhitzt werden und
Dampf bilden, kann dieser in die Kabinenluft gelangen.
Lediglich eine Dichtung trennt mit Öl geschmierte Teile
des Triebwerkes von der Kabinenluft. Solche Dichtungen lassen konstruktionsbedingt bei Lastwechseln quasi
immer zumindest geringe Mengen an Öldampf durch,
der dann in die Kabinenluft gelangt. So wurde auch eine
Belastung von neurotoxischen Stoffen im Normalbetrieb
durch das norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt
festgestellt. Dieser Mechanismus ist meines Erachtens
schon rein aus der Logik heraus extrem fragwürdig. Warum zapft man „Frischluft“ in Triebwerken ab, die nun
mal auf Öle etc. angewiesen sind? Nun gut: Dieses Problem wird man nicht von heute auf morgen lösen können.
Lösungsansätze haben wir Ihnen präsentiert. Und nicht
zuletzt der Dreamliner zeigt mit seiner Abkehr vom
Zapfluftmechanismus, wohin die Reise technisch geht!
Qualitätsstandards der Kabinenluft sind bezogen auf
die drei Gefahrenquellen TCP, Ozon und Pestizide nicht
vorhanden. Stattdessen ist es laut den Bestimmungen sogar zulässig, Passagiere bei 60 Grad Celsius zu befördern. Das macht doch deutlich, dass wir hier Handlungsbedarf haben. Das LBA erweist sich bislang nicht
als verantwortungsbewusst. Bis zuletzt begnügte sich die
Aufsichtsbehörde mit erst auf Nachfrage gemeldeten
Fällen von meldepflichtigen Ereignissen. Das kann nicht
geduldet werden. Das widerspricht auch nicht zuletzt
dem europäischen Recht!
Kurzum: Öldampf hat nichts in der Kabine zu suchen.
Ozon hat nichts in der Kabine zu suchen. Und Pestizide
haben auch nichts in der Kabine zu suchen, wenn Passagiere darin sitzen.
Fälle, bei denen Personal ausfällt und Störungen,
welcher Art auch immer, festgestellt werden, sind
schwere Störungen! Daran gibt es nichts zu deuteln.
Aber durch zögerliches Meldeverhalten werden hier unabhängige Untersuchungen verhindert. Weitere Untersuchungen seien auch gar nicht nötig, so die Wirtschaft
bislang; denn eigene Tests würden beweisen, dass noch
nie etwas gefunden worden wäre. Ist ja erstaunlich,
fragt man sich da. Nicht nur, dass Testverfahren und
Suchergebnisse eventuell falsch sein könnten - es ist
doch umso verwunderlicher, dass eine Vielzahl von unabhängigen Studien und Forschungen mittlerweile
Nachweise erbracht haben. Sind denn etwa nur deutsche
und betriebsinterne Studien anerkannt? Das wäre ein
ganz schön großer Affront gegen die Wissenschaft!
Die Liste der Studien wird immer länger, die auf kontaminierte Kabinenluft - mittlerweile, wie vorhin gesagt,
sogar im Normalbetrieb - hinweisen. Das Fresenius
Institut hatte im Jahr 2009 über sogenannte Wischproben eine Verunreinigung der Lufteinlässe durch TKP
festgestellt. Gestützt wird diese These mittlerweile durch
andere Untersuchungen wie beispielsweise durch das
norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt oder Studien aus den USA, bei denen 50 Prozent der getesteten
Personen Abbauprodukte im Blut hatten, obwohl sie
noch nicht einmal ein „fume-event“ bewusst erlebt haben.
Neben den Amerikanern, den Norwegern, Briten,
Australiern und Kanadiern kommt dieses Thema nun
Deutschland immer näher. So zeigen sich auch in den
Niederlanden entsprechende Forschungsansätze. Und
was passiert hier? Ein Großteil der Arbeitsmediziner ist
überfordert, weil es keine Forschung hierzulande gibt.
Folglich wird auch eine mögliche Erkrankung nicht auf
einen Flug zurückgeführt. Unbekannte Anamnese, heißt
es dann. Wir haben zahlreiche Stellungnahmen von Betroffenen im Vorfeld des Expertenhearings bekommen.
Warum lassen diese Menschen zahlreiche Untersuchungen über sich ergehen, zuweilen in den USA für viele
Tausend Euro, frage ich mich. Das sind doch nicht alles
Simulanten, die sich ein Krankheitsbild überlegt haben,
um ihren Arbeitgeber zu schädigen!
Das Statement des Bundesverbandes der Deutschen
Luftverkehrswirtschaft, BDL, möchte ich zum Abschluss
zitieren. „Für die Luftverkehrswirtschaft haben die Sicherheit und damit das Ziel, dass Passagiere und Mitarbeiter ihr Ziel gesund und sicher erreichen, höchste
Priorität.“ Wenn dem so ist, wovon ich ausgehe, muss
man auch entsprechend handeln. Selbst wenn nur der
geringste Verdacht bestünde, dass es ein ernsthaftes
Problem gibt, wäre ein stringenteres Handeln notwendig. Wir sind bereit, zusammen mit der Wirtschaft nach
Lösungen zu suchen, und bieten noch einmal den Dialog
und die Bereitschaft an, im Interesse der Fluggäste, der
Besatzungen und der Airlines zu deutlichen Verbesserungen zu kommen. Wir haben Lösungswege in unserem
Antrag aufgezeigt, für deren Umsetzung wir werben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/7480 und 17/7611 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Federführung ist jedoch bei beiden Vorlagen strittig. Die
Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und SPD wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Tourismus.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich lasse zunächst abstimmen über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen
und der Sozialdemokraten, also über die Federführung
beim Tourismusausschuss. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Das sind die SPD-Fraktion,
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Wer stimmt
dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Überweisungsvorschläge sind abgelehnt.
Ich lasse nunmehr abstimmen über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und FDP,
also über die Federführung beim Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei anderen
Fraktionen in der Opposition. Enthaltungen? - Keine.
Überweisungsvorschläge sind angenommen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 26 sowie den
Zusatzpunkt 7:
26 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen - Assoziationsrecht wirksam umsetzen
- Drucksache 17/7373 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,
Josef Philip Winkler, Marieluise Beck ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen
- Drucksachen 17/3686, 17/5989 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe ({3})
Hartfrid Wolff ({4})
Ulla Jelpke
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Bereits in der vergangenen Plenarwoche haben wir
im Plenum ausführlich über den 50. Jahrestag des
deutsch-türkischen Anwerbeabkommens debattiert. Unverständlich ist es deshalb, dass nun mit einiger Verspätung im Antrag der Linksfraktion dazu noch einmal dieselben Forderungen vorgebracht werden, die wir nicht
nur bereits aus der gemeinsam vereinbarten Debatte am
26. Oktober 2011 im Plenum kennen, sondern auch aus
einigen gleichgerichteten Anfragen der letzten Jahre.
Gefordert wird - in der eigenen Begrifflichkeit der
Linksfraktion - die Änderung der „restriktiven Einwanderungspolitik“: erleichterte Einbürgerungen, Wahlrecht für Ausländer auf kommunaler, Landes- und Bundesebene und die Rücknahme der so bezeichneten
„Gesetzesverschärfungen“. Mit Letzterem bezieht sich
die Linksfraktion insbesondere auf das von Regierung
und Koalition im März dieses Jahres beschlossene „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“, zum Beispiel
auf die Verlängerung der Mindestehebestandszeit, aufgrund derer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des
Ehepartners nunmehr erst nach drei und nicht mehr wie
bisher nach zwei Jahren begründet werden kann. All
diesen angeblichen „Verschärfungen“ läge derselbe
Fehler zugrunde: Die Verletzung der sogenannten Stillhalteklausel des Assoziationsrechts zwischen der EU
und der Türkei.
Ich möchte mich hier nicht detailliert mit unseren Gesetzesvorhaben der letzten Jahre auseinandersetzen und
die Angemessenheit dieser Regelungen begründen, da
an dieser Stelle zum einen dafür schlichtweg die Zeit
fehlt, vor allem aber, weil diese schon ausgiebigst in den
einzelnen Stufen des Gesetzesverfahrens erörtert wurden. Ich möchte vielmehr auf den von der Linksfraktion
zu Unrecht erkannten „Grundfehler“ und die „standstill“-Klausel eingehen:
Unter Berufung auf eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages behauptet die Linksfraktion, die Bundesregierung habe
gegen das Verschlechterungsverbot im Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei aus dem
Jahre 1963 verstoßen. Die Bundesregierung hat aber in
diesem Zusammenhang bereits mehrfach ausgeführt,
dass sich die hier von der Fraktion Die Linke erhobenen
Forderungen keineswegs zwingend aus dem Assoziationsrecht ergeben. Wir halten weiter an unserer bekannten Rechtsauffassung zu der Reichweite der assoziationsrechtlichen Stillhalteverpflichtungen fest. Insoweit
sei insbesondere auf die Vorbemerkung der Bundesregierung in der Drucksache 17/5884 vom 23. Mai 2011
verwiesen.
Selbst wenn sich aus dem Assoziationsrecht Folgerungen ergäben, bestünde aber immer noch kein Rechtsänderungsbedarf. Zur Begründung sei erneut auf die
Drucksache 17/5884 verwiesen.
Mir geht langsam das Verständnis dafür verloren,
dass die Fraktion Die Linke nun zum wiederholten Male
die immer gleichen Argumente vorträgt. Auch durch Repetition werden diese nicht richtiger. Noch weniger Verständnis habe ich allerdings für die Tatsache, dass hier
unter dem Titel „50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen“ versucht wird, bei den ehemaligen Gastarbeitern eine Missstimmung über eine ihnen vermeintlich
angetane Ungerechtigkeit zu erzeugen, indem man nämMichael Frieser
lich behauptet, die Bundesregierung würde ihnen Rechte
vorenthalten.
Das ist nun aber keineswegs der Fall. Wenn wir zum
Beispiel über das Wahlrecht sprechen, dann ist festzuhalten, dass alle diejenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben - was auf die meisten der
ehemaligen Gastarbeiter zutrifft -, das Recht und die
tatsächliche Möglichkeit haben, in Deutschland auf allen Ebenen zu wählen. Auch haben sich für diejenigen,
die sich offen für Deutschland entschieden haben, seit
dem „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und
zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“ keine
Verschlechterungen ergeben:
Für Deutschland wie für die Türkei war das Anwerbeabkommen ohne jeden Zweifel ein Gewinn. Die Zuwanderer haben großen Anteil am Erfolg der deutschen
Wirtschaft. Der Umgang mit Gastarbeitern, die im
Grunde, was damals noch keiner wusste, Einwanderer
waren, war der Bundesrepublik damals noch fremd.
Deshalb haben alle damaligen Parteien, auch wir, in der
Integrationspolitik - aus heutiger Sicht - zweifellos
auch Fehler gemacht. Aber gerade in den letzten Jahren
hat sich die Bundesregierung mit aller Kraft für eine
bessere Integration eingesetzt. Wir wollen den Migranten eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen und so
den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland
stärken. Deshalb haben wir in der Integrationspolitik
bewusst umgesteuert. Wir fördern die Integration der
Migrationsbevölkerung mit allen Mitteln, fordern zugleich aber auch deren aktive Mitarbeit an der Integration ein. Das beste Beispiel hierfür sind die verpflichtenden Integrationskurse, die sich zum weit überwiegenden
Teil auf die Vermittlung der deutschen Sprache konzentrieren, die - unstreitig - das Fundament des Miteinanders in Deutschland ist. Nur wer die deutsche Sprache
spricht, kann sich in unsere Gesellschaft einfinden und
mit den Mitmenschen kommunizieren, und ist damit
fähig zu Teilnahme und Teilhabe. Darüber hinaus erfordern der Zusammenhalt und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft eine sinnvolle Steuerung der Migration, was auch integrationspolitische Maßnahmen sowie
die Neuzuwanderung begrenzende Maßnahmen mit einschließt.
Ich stimme meinem Kollegen Stephan Mayer zu, der
am 26. Oktober erklärte, dass mit dem sehr würdigen
Begehen dieses Jahrestages deutlich wird, das es traditionell eine enge Freundschaft zwischen der Türkei und
Deutschland gibt. Zum 50. Jahrestag sollten wir uns
deshalb vor allem vornehmen, noch stärker darauf hinzuwirken, Missverständnisse und Vorurteile abzubauen.
Die Fraktion Die Linke strebt mit ihrem Antrag jedoch
genau das Gegenteil an, und das konnte und kann unsere
Zustimmung gestern, heute und morgen nicht finden.
50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Wer
hätte vor 50 Jahren gedacht, dass dies einmal ein Datum
sein wird, das wir bewusst in Deutschland begehen und
feiern werden?
Es ist aber auch ein Datum, das uns Anlass geben
sollte, zurückzuschauen und uns bei den mutigen Frauen
und Männern, die vor 50 Jahren ihr Zuhause und ihre
Familien verlassen haben, zu danken. Sie sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, sie sind ein Wagnis in einem ihnen unbekannten Land eingegangen. Was
anfangs als temporärer Aufenthalt gedacht war, ist heute
als eine erfreuliche Erfolgsgeschichte zu betrachten.
Heute leben mehr als 2,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in unserem Land. Ich hoffe, dass
Deutschland für sie zur Heimat geworden ist. „Türkiyeli
kökenli vatandaslarima merhaba. Iyiki buradasiniz.“
„Meine türkischsprachigen Mitbürger, herzlich willkommen! Gut, dass ihr da seid.“ Aber es ist nicht nur so,
dass viele türkische Einwanderer bei uns heimisch geworden sind und hier in zweiter oder dritter Generation
leben. Sie haben auch unsere Kultur und Sichtweise bereichert, und sie haben beide Gesellschaften mit modernisiert. Es ist an der Zeit, das einmal zu würdigen.
Auch wenn die letzten Tage, um den 50. Jahrestag des
Anwerbeabkommens herum glückerweise eine andere
Sprache sprechen, so haben wir doch im politischen Alltag der ersten Gastarbeitergeneration zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und ihr als Politik und Gesellschaft zu wenig Anerkennung, Respekt und Dank für ihre
Lebensleistung gezollt. Denn die Angehörigen dieser
Generation haben einen großen Beitrag zum deutschen
Wirtschaftswunder geleistet und damit dazu beigetragen, dass unser aller Lebensstandard kontinuierlich
steigen konnte, sie haben - und so ehrlich müssen wir
sein - auch Aufgaben und Arbeiten übernommen, die
kein anderer von uns machen wollte. Sie haben damit
unser Land mit zu dem gemacht, was es ist: ein leistungsfähiges Wirtschaftsland und eine erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft.
Hinter 50 Jahren Gastarbeiterabkommen verbergen
sich Geschichten des Ankommens, des Hierbleibens, des
Abschiednehmens und neue sogenannte hybride Identitäten. Dazu gehört leider aber auch die Geschichte von
politischen Versäumnissen und einer verspäteten Integrationspolitik in Deutschland. Schon 1979, also
18 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens,
hat der erste Ausländerbeauftragte Heinz Kühn, SPD, in
seinem berühmten Memorandum festgehalten: Deutschland ist ein Einwanderungsland und muss den Gastarbeitern eine dauerhafte Integration ermöglichen.
Knackpunkt, wenn wir über Integration sprechen, ist
für mich aber insbesondere die Frage der Zugehörigkeit
und der Identität. Beides, ein Gefühl von Zugehörigkeit
und gemeinsamer Identität, kann jedoch nur entstehen,
wenn auch die Aufnahmegesellschaft den „Neuen“ - in
unserem Fall überhaupt nicht mehr Neuen - offen, aufgeschlossen und respektvoll gegenübersteht. Das vermisse ich selbst 50 Jahre nachdem sie hierher nach
Deutschland gekommen sind. Das sind doch die Aspekte
einer Willkommenskultur, die Integration erst möglich
machen, einer Kultur, die in Deutschland leider immer
noch nicht gut ausgeprägt ist.
Interessanterweise ist das, worüber wir hier in der
Politik und in den Medien oft abstrakt und problematiZu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
sierend reden und debattieren, für die jungen Menschen
der 3. und 4. Generation kein Thema mehr. Integration für sie ist sie selbstverständlich.
Warum ist das so? Ganz einfach: Sie sind hier geboren, aufgewachsen, sie gehen hier zur Schule, machen
ihre Ausbildung und sie arbeiten. Kurzum: Für sie ist
Deutschland ebenso ihr Zuhause, wie vielleicht die Türkei, das Herkunftsland ihrer Eltern. Sie sind beides. Sie
sind deutsch und türkisch. In eine Schublade lassen sie
sich nicht drängen. Darum ist es für sie auch unverständlich, dass sie sich entscheiden sollen, wie sie sich
fühlen. Was macht es für einen Sinn, diese jungen Leute
zu zwingen, sich zu entscheiden und eine der beiden
Schubladen abzuschließen? Das macht keinen Sinn. Das
Festhalten an der Optionspflicht, bei der junge Menschen zu einer Entscheidung gezwungen werden, die sie
gar nicht treffen sollten, zeigt, wie weit wir von einer anerkennenden respektvollen Willkommenskultur entfernt
sind.
Wir diskutieren heute zum zweiten Mal über 50 Jahre
Gastarbeiterabkommen mit der Türkei. Nach einer vereinbarten Debatte in der letzten Sitzungswoche sind
heute Anträge der Grünen und der Linken der Anlass.
Vielen Dank, dass sie uns einen zweiten Anlass zur Debatte geben, denn auch 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens gibt es noch genug offene Themen,
über die es zu diskutieren lohnt. Die Grünen thematisieren in ihrem Antrag die Visapraxis gegenüber türkischen
Staatsangehörigen. Und in der Tat, laut Assoziationsabkommen zwischen der Türkei und der EU müssten zahlreiche türkische Reisende ohne Visum, zum Beispiel für
Kurzaufenthalte, nach Deutschland einreisen können.
Die aktuelle Praxis sieht jedoch wie so oft ganz anders
aus.
An die Adresse der schwarz-gelben Bundesregierung
sage ich: Wir brauchen hier endlich eine Debatte und
eine Anpassung des deutschen Rechts an die Lebenswirklichkeit und vor allem an EU-Vorgaben. Deshalb
stimmen wir als SPD dem Grünen-Antrag auch zu.
Anders verhält es sich jedoch bei dem Antrag der Linken. Zwar spricht auch dieser in der Tat viele Punkte an,
über die es sich lohnt zu diskutieren: den Spracherwerb
vor Ehegattennachzug etwa oder die absurde Verlängerung der Ehebestandszeit durch Schwarz-Gelb. An anderen Stellen geht uns ihr Antrag jedoch zu weit, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Sie fordern
ein Wahlrecht auf allen Ebenen. Ich gehe einmal davon
aus, Sie meinen Bund, Land und Kommune. Das schießt
für uns als SPD-Fraktion übers Ziel hinaus. Wir fordern
schon seit langem endlich ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige auf kommunaler Ebene. Dafür sollten wir
gemeinsam streiten; aber wir sollten den ersten Schritt
vor dem zweiten machen und nicht umgekehrt.
Zudem, liebe Linke, wollen sie die Gebühren für die
Erteilung von Aufenthaltstiteln auf den Stand von 1980
senken. Bei allem Respekt: Als SPD sind wir zwar ebenfalls der Ansicht, dass die Gebühren sozial gestaltet und
bezahlbar sein müssen. Diese Ihre Forderung schießt
aber auch hier weit übers Ziel hinaus. Denn immerhin
gab es seit 1980 auch so etwas wie Inflation. Diesem Antrag werden wir daher jedenfalls so nicht zustimmen.
Lassen Sie uns über den Antrag und das gesamte
Thema aber gern weiter im Innenausschuss reden und
danach auch wieder hier im Plenum; denn auch 50 Jahre
nach dem Anwerbeabkommen haben wir genug miteinander zu besprechen, um ein respektvolles Miteinander,
eine echte Willkommenskultur in diesem Land und eine
gelungene Integration zu organisieren. Da wurde in den
letzten Jahren schon sehr viel erreicht. Es liegt aber noch
ein gewaltiger Weg vor uns.
Die Deutsche Bundesregierung hat zu Recht in der
vergangenen parlamentarischen Sitzungswoche das 50jährige deutsch-türkische Anwerbeabkommen unter anderem mit einer Plenardebatte in diesem Hohen Hause
gewürdigt.
Die türkischen Migranten der ersten Stunde haben
unser Land mit aufgebaut und unseren Wohlstand mit
begründet. Diese Menschen haben Offenheit bewiesen;
sie hatten Durchhaltevermögen, sie hatten Leidenschaft,
und sie hatten Mut.
Wir sind dankbar, dass Sie gekommen sind, sich mit
Ihrem Fleiß und Ihrer Kraft für unser Land eingesetzt
haben und Deutschland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell bereichert haben.
Die Linke nimmt dieses besondere Jubiläum nun zum
Anlass, einen Antrag einzubringen, der abenteuerliche
Darstellungen der zuwanderungspolitischen Realitäten
und absurde Forderungen enthält. So steigt die Linke
gleich zu Beginn mit linker Kampfrhetorik ein und unterstellt der Bundesregierung eine Zuwanderungspolitik
nach „Nützlichkeitskriterien“. Einwanderer seien demnach nur Instrumente zur „Profitmaximierung“. Die
Linke hingegen würde gerne jeden zu jeder Zeit in unser
Land lassen, und zwar bitte ohne lästige Voraussetzungen. Ich sage Ihnen: Das ist eine zutiefst unsoziale Haltung!
Zunächst einmal ist doch völlig klar: Der Staat hat
das Recht, Zuwanderung mit den ihm hierfür zur Verfügung stehenden Mitteln zu regulieren und zu kontrollieren. Und der Staat muss dieses Recht auch wahrnehmen.
Denn ansonsten würde unser Sozialstaatsprinzip nicht
mehr funktionieren. Unser Solidaritätsprinzip ist darauf
angewiesen, dass Rechte und Pflichten die Grundlage
des gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellen.
Dazu gehören auch Steuer- und Sozialabgaben. Offene
Grenzen und der völlige Verzicht auf Voraussetzungen
für eine Einreise oder einen dauerhaften Aufenthalt würden unserem Solidaritätsprinzip zuwiderlaufen.
Ich sage an dieser Stelle übrigens auch ganz deutlich:
Hier geht es nicht um den Aspekt der humanitären Zuwanderungspolitik.
Die eingeschränkte Sicht der Linken zeigt sich auch
an der Kritik an dem Sprachnachweis beim Ehegattennachzug. Auch diese Anforderung wird gleich als Nützlichkeitskriterium abgetan. Ich sage: Das ist sogar richZu Protokoll gegebene Reden
tig. Ich halte diese Anforderung tatsächlich für nützlich,
und zwar für die betroffene Person selbst. Denn die Fähigkeit, sich zumindest einfach verständigen zu können,
ist eine große Hilfe in einem fremden Land. Es macht
selbstbewusster und erleichtert die Integration. An dieser Stelle möchte ich noch mal betonen: Bei dem
Sprachnachweis handelt es sich um die allererste Stufe,
nämlich A1. Es geht hier um sehr einfache Verständigung. Das ist keine unüberwindbare Hürde, wenn man
sich entscheidet, in einem anderen Land dauerhaft leben
zu wollen.
Gleichwohl sieht auch die FDP-Bundestagsfraktion
hier Handlungsbedarf. Dabei denke ich insbesondere an
die Infrastrukturen im Herkunftsland. Wenn wir einen
solchen Nachweis verlangen, muss auch sichergestellt
sein, dass die Betroffenen vor Ort diesen auch ohne unüberwindbare Hürden erlangen können. In vielen Ländern der Welt gibt es derzeit nur vereinzelt oder in einigen sogar gar keine Goethe-Institute. Der Erwerb des
Zertifikats ist entsprechend mit einem erheblichen Zeitund Geldaufwand verbunden. Die praktische Umsetzung
und Handhabung des Gesetzes stellt daher oftmals eine
hohe Hürde dar. Das darf nicht sein.
Ich will mich an dieser Stelle aber nicht der aktuellen
Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Sprachnachweiserfordernisses beim Ehegattennachzug mit Blick auf
das Assoziierungsabkommen zwischen Deutschland und
der Türkei entziehen. Hier gibt es starke rechtliche Bedenken, die es ganz klar weiter zu prüfen gilt.
Ich halte den Sprachnachweis für nachziehende Ehegatten insgesamt für eine integrationspolitisch sehr
sinnvolle Maßnahme. Nachvollziehbar ist in diesem
Kontext allerdings nicht, weshalb Staatsangehörige anderer Länder wie Kanada, Japan oder der Republik Korea grundsätzlich von diesen Anforderungen ausgenommen sind. Das ist eine Ungleichbehandlung, die es aus
liberaler Sicht dringend zu diskutieren gilt.
Die Linken sprechen in ihrem Antrag auch die Visumspolitik an. Dabei ignorieren sie die bereits bestehenden Bemühungen, insbesondere auf EU-Ebene. Im
Februar wurde erfreulicherweise das Rücknahmeabkommen zwischen der EU und der Türkei unterzeichnet.
Das war ein wichtiger Schritt. Die Türkei ist nun aufgefordert, das Abkommen auch umzusetzen. Gleichzeitig
muss dies die unverzügliche Aufnahme eines ernsthaften
Visumsdialogs mit der Türkei bedeuten.
Die Türkei ist schon längst nicht mehr nur ein Touristenziel oder ein Absatzmarkt. Diese Entwicklung hat die
Linke offensichtlich nicht mitbekommen. Die Türkei ist
zu einem wichtigen Partner der EU und Deutschlands
geworden. Das gilt geostrategisch, aber vor allem kulturell und wirtschaftlich. Das sage ich, 50 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens, auch mit Blick
auf künftige Fachkräftezuwanderung. Denn Deutschland braucht qualifizierte Zuwanderer. Das ist keine
Frage von Hautfarbe oder Religion. Gerade in der Türkei gibt es ein zunehmendes Fachkräftepotenzial. Unter
den Ländern, die derzeit eine Mitgliedschaft in der EU
anstreben, ist die Türkei das einzige Land, das über eine
zahlenmäßig bedeutende junge und wachsende Bevölkerung verfügt.
Das Bildungsniveau steigt stetig an. Viele gutausgebildete junge Menschen haben Beziehungen zu Deutschland, sind vielleicht sogar mit der Sprache vertraut.
Diese Feststellungen haben rein gar nichts mit den
propagierten Nützlichkeitskriterien der Linken zu tun.
Es geht hier nicht um ein Nullsummenspiel. Es geht um
einen gleichberechtigten Austausch mit der Türkei. Das
halte ich politisch, wirtschaftlich und kulturell für großartig und gewinnbringend für alle Beteiligten.
Die Linke offenbart in ihrem Antrag nicht nur ein realitätsfernes Bild der aktuellen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sie offenbart auch ihr Verständnis
von Einwanderern im Jahr 2011. Sie traut Menschen,
die Mut und Engagement aufbringen, ihr Herkunftsland
zu verlassen und in einem neuen Land Fuß zu fassen,
nichts zu. Dass diese Menschen nicht nach Deutschland
kamen und kommen, um Almosen zu erhalten, sondern
um Geld zu verdienen, ihr Glück in die eigenen Hände
zu nehmen, Familien zu gründen, Sprache und Kultur
kennenzulernen oder sich ehrenamtlich zu engagieren,
kommt der Linken nicht in den Sinn. Rudimentäre
Sprachkenntnisse zu fordern, ist für die Linke Schikane.
Ob jemand seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten
kann oder von Transferleistungen lebt, ist ihr egal. Wie
viele Menschen nach Deutschland kommen und ob sie
am Gemeinwesen teilhaben wollen und so das Sozialstaatsprinzip stützen, interessiert die Linke nicht. Das ist
die wahre menschenverachtende und unsoziale Haltung,
die nichts mit moderner Zuwanderungs- oder Integrationspolitik zu tun hat.
Deshalb fällt es mir nicht schwer, diesen Antrag abzulehnen.
Es ist gerade einmal eine Woche her, dass des 50-jährigen Bestehens des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens gedacht wurde. Auch Bundeskanzlerin Merkel und
der türkische Ministerpräsident Erdogan nahmen an der
offiziellen Festveranstaltung teil.
Zu Recht wurden dabei die Leistungen der aus der
Türkei nach Deutschland gekommenen Migrantinnen
und Migranten hervorgehoben und den Betroffenen dafür gedankt - und das tut auch der Ihnen vorliegende
Antrag der Fraktion Die Linke. Um allerdings eines vorweg klarzumachen: Es geht uns dabei überhaupt nicht
exklusiv oder besonders um die Lebensleistungen der
Menschen speziell aus der Türkei. Nein, unser Dank und
unsere Anerkennung gelten selbstverständlich gleichermaßen allen nach Deutschland eingewanderten Menschen aus allen Ländern dieser Welt!
Die Linke hält aber nichts davon, sich alle 50 Jahre
anlässlich eines Festaktes bei den Menschen zu bedanken, aber sonst eine migrantenfeindliche Politik zu machen, wie es die jetzige, aber auch die vorigen Bundesregierungen fast immer getan haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nun gibt es mindestens drei Gründe, auf die Lage der
türkischen Migrantinnen und Migranten näher einzugehen als mit einem losen Danke, das nichts kostet: Zum
einen die schiere Zahl: Es handelt sich bei ihnen um die
größte Einzelgruppe der hier lebenden Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit.
Zum Zweiten verdienen sie besondere Aufmerksamkeit, weil sie besonderen Anfeindungen ausgesetzt ist:
Nicht erst seit Sarrazin werden insbesondere türkische
- aber zum Beispiel auch arabische - Migrantinnen und
Migranten als Chiffre für vermeintlich integrationsunwillige, den Staatshaushalt belastende oder gar bedrohliche Menschen angesehen. Die ausgeprägte und zunehmende Feindlichkeit gegenüber Muslimen in diesem
Land spielt dabei eine unheilvolle Rolle, aber auch deren sozial besonders ausgegrenzte Lage, die ihnen als
persönliches Versagen oder gar Unwilligkeit zur Last
gelegt wird.
Der dritte Grund, warum auf den staatlichen Umgang mit türkischen Staatsangehörigen gesondert eingegangen werden sollte und der auch Gegenstand des vorliegenden Antrags ist, ist deren Sonderstellung im
Aufenthaltsrecht. Viele Menschen, auch viele Betroffene,
wissen es nicht, aber das seit 1963 geltende Assoziierungs-Abkommen der EU, damals noch EWG genannt,
mit der Türkei und nachfolgende Protokolle und Beschlüsse verschaffen türkischen Staatsangehörigen besondere Rechte. Diese einmal von der EU eingegangenen Verpflichtungen können auch nicht mehr im
Nachhinein von den Nationalstaaten wieder zurückgenommen werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof
durch zahlreiche Urteile geklärt, aber immer wieder
muss er unwillige Staaten der EU an ihre vertraglichen
Verpflichtungen erinnern. Dieser zunehmende Rechtsnihilismus ist skandalös.
Das sogenannte Verschlechterungsverbot im Assoziationsrecht sieht verbindlich vor, dass es keine Verschlechterungen im Aufenthalts- und Beschäftigungsrecht, bei der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gegenüber türkischen Staatsangehörigen geben
darf. Das gilt auch für zwischenzeitliche Erleichterungen, das gilt in Bezug auf Regelungen des Familiennachzugs und selbst in Bezug auf Regelungen zur erstmaligen Einreise. All dies hat die Bundesregierung
infolge zahlreicher parlamentarischer Anfragen der
Linken zu diesem Thema im Grundsatz bereits einräumen müssen - nur um stets erneut rechtliche Ausflüchte
aus dem paragrafenschweren Zylinderhut des Bundesinnenministeriums zu zaubern, um diese Vorgaben des
Europäischen Gerichtshofs nicht umzusetzen.
Auf diesen Skandal möchte die Linke mit dem vorliegenden Antrag aufmerksam machen: Die Bundesregierung weigert sich unseres Erachtens bewusst, verbindliches Assoziationsrecht und Entscheidungen des EuGH
wirksam umzusetzen und verwehrt somit türkischen
Staatsangehörigen gezielt ihre Rechte. Sie können die
hilflosen und wenig überzeugenden Antworten der Bundesregierung auf die Anfragen der Linken zu diesem
Thema nachlesen: Wer einigermaßen mit der Rechtsprechung und Fachliteratur befasst ist, weiß, dass es nur
eine Frage der Zeit ist, bis der EuGH zahlreiche europarechtswidrige Bestimmungen des deutschen Aufenthaltsrechts kassieren wird. Die Bundesregierung spielt schäbigerweise jedoch auf Zeit und besteht darauf, dass der
EuGH zu jeder einzelnen Frage stets erneut eine Entscheidung treffen soll, auch wenn deren Ergebnis angesichts der vorliegenden Rechtsprechung längst klar ist.
Um nur kurz anzudeuten, worum es inhaltlich und
konkret geht: Der EuGH wird bald entscheiden, dass
türkischen Staatsangehörigen auch im Rahmen der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit eine visumfreie Einreise nach Deutschland erlaubt werden muss.
Aus offiziellen Informationen der Bundesregierung an
den Bundestag geht hervor, dass auch der Juristische
Dienst der Europäischen Union davon ausgeht, dass
eine solche Entscheidung des EuGH zu 95 Prozent zu erwarten ist. Auf Anfragen meiner Fraktion jedoch tut die
Bundesregierung so, als sei es geradezu absurd, so etwas auch nur zu denken.
In nicht allzu ferner Zeit wird auch die Regelung der
Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug auf türkische Staatsangehörige nicht mehr anwendbar sein. In
den Niederlanden wurde erst vor kurzem letztinstanzlich
entschieden, dass neue Sprach- und Integrationsanforderungen gegen das Verschlechterungsverbot des Assoziationsrechts verstoßen. Infolgedessen wird von türkischen Staatsangehörigen zum Beispiel kein Sprachtest
vor der Einreise beim Familiennachzug mehr verlangt.
Die vom niederländischen Rechtspopulisten Geert
Wilders abhängige niederländische Regierung setzt
diese Rechtsprechung konsequent um - die Bundesregierung hingegen ist nicht einmal dazu imstande, ihre Anwendungshinweise zum Assoziationsrecht aus dem Jahr
2002 zu aktualisieren, obwohl diese angesichts der sich
fortentwickelnden Rechtsprechung des EuGH nicht nur
veraltet sind, sondern geradezu als Anleitung zum
Rechtsbruch bezeichnet werden müssen.
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat in einer Ihnen sicherlich bekannten Ausarbeitung eine gute Zusammenfassung und Rechtsübersicht
dazu erstellt, welche Regelungen im deutschen Aufenthaltsrecht mit den Verschlechterungsverboten des Assoziationsrechts unvereinbar sind. Die konkreten Forderungen in unserem Antrag beziehen sich zunächst nur
auf solche Regelungen, die auch nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes als Verstoß gegen EU-Recht
angesehen werden müssen. Es ist aber klar, dass ein systematischer Günstigkeitsvergleich der Rechtsentwicklung seit den 70er-Jahren weiteren Änderungsbedarf
hervorbringen wird - deshalb weigert sich die Bundesregierung ja auch so hartnäckig, diesen Vergleich vorzunehmen.
Wir werben deshalb bei den anderen Fraktionen des
Bundestages dafür, einer Sachverständigenanhörung
zur zweiten Forderung unseres Antrags zuzustimmen.
Gerade weil es sich beim Assoziationsrecht um eine
komplexe und weitgehend unbekannte Rechtsmaterie
handelt, sollten wir uns durch unabhängige Sachverständige und nicht durch weisungsgebundene Vertreter
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
der Exekutive beraten lassen, welche Rechtsänderungen
im Detail erforderlich sind.
Nach Ansicht der Linken - und hier komme ich zum
Anfang zurück - sollten sich die notwendigen umfangreichen Erleichterungen im Aufenthaltsrecht auch nicht
auf türkische Staatsangehörige beschränken, sondern
alle Drittstaatsangehörigen einbeziehen. Es wäre absurd, die Zersplitterung des Aufenthaltsrechts weiter voranzutreiben: Für Unionsangehörige gilt das deutsche
Aufenthaltsgesetz ohnehin nicht, für bestimmte privilegierte Staaten gelten Sonderregelungen, und was für türkische Staatsangehörige gilt, steht schon längst nicht
mehr im Gesetz.
Gerade weil es sich bei den türkischen Staatsangehörigen um die größte Gruppe handelt, und gerade weil
zahlreiche Verschärfungen insbesondere mit Blick auf
sie erlassen wurden, plädieren wir dafür, diese Verschärfungen insgesamt zurückzunehmen. Das aufgebaute Droh- und Zwangsinstrumentarium im Umgang
mit Migrantinnen und Migranten ist ohnehin falsch und
von fataler Wirkung, wie die zunehmende Fremden- und
Islamfeindlichkeit, Vorurteile und Zerrbilder belegen.
Wir appellieren an die Bundesregierung, aber auch an
das Parlament, diese Änderungen, die in Bezug auf türkische Staatsangehörige rechtlich ohnehin zwingend
sind, nicht erst auf Druck des EuGH, sondern bewusst
und mit Überzeugung vorzunehmen. Sie sollten innerhalb der deutschen Bevölkerung um Verständnis für eine
solche, auf Zwang und Drohungen weitgehend verzichtende Migrationspolitik werben, statt gefährliche, nicht
nur türken- , sondern auch EU-feindliche Ressentiments
zu fördern, wenn solche Änderungen zwangsweise infolge von Entscheidungen eines vermeintlich fernen EUGerichts erfolgen. Mit unserem Antrag haben Sie die
Chance dazu, dieses Thema nicht Rechtspopulisten zu
überlassen.
Es reicht nicht, sich, wie die Bundesregierung es tut,
in der Jubiläumswoche des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens bei den Einwanderinnen und Einwanderern für ihre Leistungen zu bedanken, wenn man nicht
gleichzeitig etwas unternimmt, damit sie endlich gleichberechtigt in Deutschland teilhaben können. Danke sagen ist einfach; aber daraus Konsequenzen zu ziehen
und türkeistämmigen Einwanderern ihre Rechte aus dem
Assoziationsabkommen einzuräumen, fällt der Bundesregierung offensichtlich schwer. Bewusst behandelt sie
Eingewanderte als Menschen zweiter Klasse und versagt ihnen trotz langjährigen Aufenthalts die gleichen
Rechte, wie sie deutsche Staatsangehörige haben. Urteile des Europäischen Gerichtshofes zugunsten der Einwanderinnen und Einwanderer ignoriert sie so lange,
bis die Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren
droht.
Nach 50 Jahren Einwanderung aus der Türkei ist es
Zeit, unser Aufenthaltsgesetz auf die Vereinbarkeit mit
dem Assoziierungsrecht zu überprüfen und notwendige
Änderungen vorzunehmen. Das gilt erst recht nach den
kürzlich ergangenen wegweisenden Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofes zu den Rechten von türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen
aus dem Assoziierungsabkommen.
Wir fordern in einem ersten Schritt die visumfreie
Einreise türkischer Staatsangehöriger nach Deutschland.
Wir wollen nicht, dass Großeltern die Hochzeit ihrer
Enkel in Deutschland verpassen, weil sie kein Visum erhalten, oder dass eine Mutter nicht ihr krankes Kind hier
besuchen darf. Wir wollen vermeiden, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen türkischen und deutschen Unternehmen darunter leiden, dass Geschäftsleute zu bürokratische und langwierige Verfahren
durchlaufen müssen, um endlich ein Visum zu erhalten.
Wir wollen auch nicht, dass türkische Jugendliche von
Studienreisen abgehalten werden, weil ihnen kein Visum
erteilt wird.
So sieht die Realität heute aber aus. Es kommt nicht
selten vor, dass sich die Antragstellenden nach langwierigen erfolglosen Verfahren vor der Deutschen Botschaft
ihr Einreiserecht schließlich einklagen müssen.
Nach geltender Praxis können nur bestimmte türkische Personengruppen und auch nur zur Erbringung bestimmter Dienstleistungen visumfrei nach Deutschland
einreisen. Menschen mit geringem Einkommen und solche ohne Familie in der Türkei haben so gut wie keine
Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinnlosen
und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende setzen.
Wie der EuGH in seiner Soysal-Entscheidung im Februar 2009 festgestellt hat, verstößt diese Praxis gegen
das Gemeinschaftsrecht. Mit unserem Antrag fordern
wir die Bundesregierung auf, die Vorgaben des EuGH
richtig umzusetzen und sich dafür einzusetzen, dass auf
EU-Ebene die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige bei einem Kurzaufenthalt aufgehoben wird.
Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit das unnötige
Leid, das die restriktive und Visavergabepraxis verursacht, endlich ein Ende hat!
Es gibt aber auch noch viele andere Bereiche, in denen das deutsche Aufenthaltsrecht gegen die Maßgaben
des Europäischen Gerichtshofs verstößt. Insbesondere
die Entscheidung zur dynamischen Wirkung des Verschlechterungsverbots in der Sache Toprak macht eine
kritische Prüfung der aufenthaltsrechtlichen Regelungen seit dem Inkrafttreten des Verschlechterungsverbots
notwendig.
Die Bundesregierung muss die europarechtswidrige
Anwendung des Assoziationsabkommens zwischen der
EU und der Türkei beenden und die vielen Urteile des
Europäischen Gerichtshofs umsetzen. Hierzu gehört
auch, die insbesondere gegen türkische Staatsangehörige erlassenen Gesetzesverschärfungen der letzten
Jahre zurückzunehmen.
Wir begrüßen, dass die Fraktion Die Linke den Umsetzungsbedarf erkennt und die Bundesregierung mit ihrem Antrag auffordert, das deutsche Recht mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang zu bringen. Allerdings hat
die Fraktion Die Linke es sich leicht gemacht: Sie zählt
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
weder konkret den Änderungsbedarf auf, noch schlägt
sie Lösungen vor. Das wollen wir besser machen und bereiten daher gerade eine umfassendere Initiative zur
Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Assoziationsrecht vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7373 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Der Innenausschuss - das ist jetzt der Zusatzpunkt 7 empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5989, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/3686 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die
Grünen, SPD und Linksfraktion. Enthaltungen folglich
keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin
von Notz, Wolfgang Wieland, Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gutachten über die geplanten EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien
beim Gerichtshof der Europäischen Union einholen
- Drucksachen 17/6331, 17/7676 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Gisela Piltz
Dr. Konstantin von Notz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt.
Wir diskutieren hier zum wiederholten Male über
Grundrechts- und Datenschutzfragen bei den EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien. Das
ist zweifelsohne wichtig. Wichtiger wäre aber vielleicht,
dass die Grünen dazu einmal einen Antrag vorlegen, der
dieser schwierigen Thematik angemessen ist.
Es sei den Grünen unbenommen, sich für eine Überprüfung der Abkommen durch den Europäischen Gerichtshof einzusetzen. Es wäre aber auch schön gewesen, wenn die Grünen wenigstens mit einem Halbsatz
erwähnt hätten, warum die Europäische Union PNR-Abkommen schließt, nämlich weil der Datenaustausch wesentliche Erkenntnisse zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität
liefert. Aber im Antrag der Grünen Fehlanzeige. Und
wie steht es mit dem Redebeitrag des Kollegen von Notz
in der ersten Beratung des Antrags? Auch hier Fehlanzeige. Nicht einmal die Worte „Terrorismus“, „Kriminalität“ oder auch nur „Straftat“ werden erwähnt. Man
kann den Eindruck gewinnen, die Grünen versuchten
krampfhaft, diesem Thema aus dem Weg zu gehen. Ich
frage mich aber: Wie sollen wir ernsthaft und angemessen über PNR-Abkommen und auch über die im vorliegenden Antrag kritisierten, angeblich fehlenden Nachweise der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit
sprechen, wenn hier nicht einmal über den Zweck des
Fluggastdatenaustausches gesprochen wird?
Hier müssen wir Folgendes zur Kenntnis nehmen:
Erstens. Fluggastdaten geben Auskunft über Reiserouten von Tatverdächtigen und Terrorverdächtigen.
Das sind Erkenntnisse, die von enormer Bedeutung sind
und die in dieser Form nicht anders in Erfahrung gebracht werden können. Die Erkenntnisse aus diesen Daten tragen auch entscheidend dazu bei, Kriminelle oder
Terroristen zu identifizieren, die bisher noch nicht entdeckt wurden.
Zweitens. Immer mehr Staaten - darunter auch viele
unserer Partner - nutzen Fluggastdaten zur Verfolgung
und Abwehr von Terrorismus und schweren Straftaten
wie etwa Menschenhandel oder Drogenschmuggel.
Auch europäische Länder profitieren von entsprechenden Rückmeldungen für die Arbeit ihrer Sicherheitsbehörden.
Drittens. EU-Staaten und unsere Partnerländer können auf Erfolge bei der Aufdeckung und Bekämpfung
terroristischer und krimineller Netzwerke verweisen, für
die die Fluggastdaten von großer Bedeutung waren.
Deshalb ist die Verwendung von Fluggastdaten unverzichtbar, und deshalb sprechen wir im Bundestag über
PNR-Abkommen und über die geplante PNR-Richtlinie
der EU.
Die ausgehandelten Abkommen mit den USA und
Australien sind auch nichts Neues. Es gab sie schon in
der Vergangenheit. Zu einem angemessenen und ernsthaften Umgang mit dem Thema PNR-Abkommen gehört
deshalb auch, dass die Grünen, die sich hier wieder als
Hüter der Grundrechte und des Datenschutzes gerieren,
einen Blick in die Zeit werfen, in der sie Regierungsverantwortung hatten. Im Jahr 2004 wurde zwischen der
EU und den USA ein PNR-Abkommen geschlossen, das
mit Blick auf den Grundrechts- und Datenschutz bei weitem nicht die Standards festgeschrieben hatte, die wir in
den vorliegenden Abkommen finden. Und es ist nicht
schwer zu erraten, welche Bundesregierung dieses Abkommen mitgetragen hat und welche Fraktion damals
keinen Antrag auf Überprüfung dieses Abkommens gestellt hat. Die Grünen waren seinerzeit mit dabei. Jetzt
kritisieren dieselben Grünen die Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien, die auch auf Initiative
des Bundesinnenministeriums deutliche Verbesserungen
erfahren haben. So sieht grüne Glaubwürdigkeit aus.
Es war wichtig, das PNR-Abkommen 2004 mit den
Vereinigten Staaten zu schließen, weil wir damit eine gemeinsame europäisch-amerikanische Vereinbarung über
den Umgang und die Nutzung von Fluggastdaten festgeschrieben haben. Nach den Terroranschlägen von 9/11
stellte sich die Situation anders dar als heute. Die USA
hatte alle Fluggesellschaften, die Flüge in die oder aus
den USA oder über das Gebiet der USA durchführen,
verpflichtet, den amerikanischen Zollbehörden elektronischen Zugriff auf die Daten ihrer Reservierungs- und
Abfertigungssysteme, die sogenannten Passenger Name
Records, einzuräumen. Nachdem die EU um einen Aufschub gebeten hatte, traten die Vorschriften schließlich
2003 in Kraft. Danach räumten europäische Fluggesellschaften den amerikanischen Zollbehörden Zugang zu
ihren Fluggastdatensätzen nach einseitig festgesetzten
Regeln ein.
Das zeigt: Wenn wir ein besseres Abkommen mit besserem Datenschutz wollen, dann erreichen wir dies nur
zusammen mit unseren Partnern. Wenn wir angemessen
über PNR-Abkommen diskutieren wollen, gehört also
dazu, dass es sich um Verträge handelt, an denen immer
mindestens zwei Seiten beteiligt sind. Hier kann nicht
eine Seite der anderen den Inhalt vorschreiben. Das gilt
im Übrigen auch für die einzelnen EU-Länder, die unterschiedliche Maßstäbe an die Nutzung von Fluggastdaten
stellen. Auch hier muss eine interne Linie gefunden werden, die sich nicht nur nach den deutschen Vorstellungen
richtet.
Deshalb hat die Europäische Kommission sowohl mit
den USA als auch mit Australien im Rahmen der Verhandlungsmandate, die das Europäische Parlament vorgegeben hat, aber auch mit Blick auf die Bedenken des
Parlaments über die Nutzung der Fluggastdaten verhandelt. Die jetzt vorliegenden Einigungen mit beiden Ländern spiegeln eine kontinuierliche Verbesserung auch
der Datenschutzbestimmungen wider. Es geht darum,
zusammen mit unseren Partnern eine Balance zu finden,
die dazu beiträgt, Terrorismus und Kriminalität besser
bekämpfen zu können und gleichzeitig die Rechte des
Einzelnen zu sichern, auch wenn es hier aus deutscher
Sicht sicher noch einige offene Wünsche gibt.
Das Abkommen mit Australien ist praktisch unter
Dach und Fach. Es wurde im Oktober vom JI-Rat beschlossen. Auch das Europäische Parlament hat Ende
Oktober in einer legislativen Entschließung dem PNRAbkommen mit Australien bereits zugestimmt. Im Dezember wird der Rat abschließend seine Zustimmung geben. Insofern hat sich der Antrag der Grünen auf Überprüfung erledigt. Das Abkommen mit Australien ist aus
unserer Sicht gut ausgestaltet, auch in Datenschutzfragen. Dies hat auch der Bundesdatenschutzbeauftragte
anerkannt. Mit den USA wurden seit dem Sommer im
Vergleich zum Verhandlungsstand, der dem Antrag der
Grünen zugrunde liegt, weitere Fortschritte erzielt, die
noch in Schriftform gegossen werden. Erst dann wird
man den neuen Entwurf für das PNR-Abkommen genau
bewerten können.
Die beiden Abkommen unterscheiden sich in vielen
Punkten. Ich möchte dennoch drei zentrale Aspekte hervorheben:
Erstens. In beiden Abkommen werden wir klarer und
enger gefasste Definitionen des Anwendungsbereichs
als bisher haben. Daran gebunden sind die Speicherfristen. Das Abkommen mit Australien sieht fünfeinhalb
Jahre vor. Die jüngsten Verhandlungen mit den USA sehen jetzt eine Staffelung der Speicherfristen vor. Bei terroristischen Straftaten dürfen die Daten für fünfzehn
Jahre und bei schweren Straftaten für zehn Jahre gespeichert werden. Ich hätte mir gerade mit Blick auf die USA
auch kürzere Speicherfristen vorstellen können.
Ehrlicherweise ist aber festzuhalten, dass die Daten
nicht gespeichert werden, weil der Staat es will. Diese
Daten sind alle schon heute bei den Fluggesellschaften
vorhanden und werden dort auch heute schon mehrere
Jahre gespeichert. Es geht also in erster Linie um die
Frage, unter welchen Voraussetzungen den Sicherheitsbehörden diese Daten zur Verfügung stehen, um Anschläge zu verhindern, schwere Straftaten aufzuklären
oder Verdächtige zu identifizieren. Wem die Sicherheit
der Bürger etwas wert ist, der kann eine Speicherung
nicht grundsätzlich ablehnen.
Zweitens. Beide Abkommen sehen eine Depersonalisierung der gespeicherten Daten vor. Das heißt, nach
einem bestimmten Zeitraum - für die USA ist dies nach
sechs Monaten vorgesehen - werden aus den Datensätzen der Fluggäste Daten gesperrt, die eine Identifizierung der Person zulassen. Es handelt sich dabei um
Daten wie Namen und Adressen. Das ist ein ganz ähnliches Verfahren, wie wir es in Deutschland mit der Anonymisierung kennen. Die vollen Datensätze werden
dann nur noch unter strengen Auflagen einem sehr kleinen Personenkreis in den zuständigen Behörden zugänglich sein.
Drittens. Neben unterschiedlichen Datenschutzregeln
möchte ich vor allem darauf hinweisen, dass beide Abkommen die Datenübermittlung in einem Push-Verfahren vorsehen. Die Behörden in den USA wie in Australien werden also im Regelfall keinen direkten Zugriff
auf die Fluggastdaten haben, sondern die Airlines werden diese Daten auf Anforderung weitergeben. Während
unter rot-grüner Verantwortung die Daten auf dem
Wühltisch zur Selbstbedienung bereitlagen, gibt es jetzt
nur noch Daten auf Anforderung und Beleg.
Wenn man sich mit dem Thema PNR-Abkommen also
ernsthaft und angemessen auseinandersetzen möchte,
muss man den Blick etwas weiter fassen, als dies der Antrag der Grünen tut. Nur dann kommt man zu einer fundierten Einschätzung und Bewertung der Lage. Insgesamt gilt festzuhalten, dass auf ein Instrument wie die
Nutzung von PNR-Daten nicht verzichtet werden kann,
wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen, wenn wir
verhindern wollen, dass Passagiermaschinen zu Waffen
und zu Zielen von Anschlägen werden, und wenn wir
wollen, dass die Sicherheitsbehörden in der Lage sind,
schwere Verbrechen aufzuklären und kriminelle Strukturen zu erkennen. Wer fordert, dass eine Warnlampe angeht, wenn ein Terrorverdächtiger ein Flugzeug besteigen will, braucht eine Speicherung und Auswertung von
Passagierdatensätzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Abkommen über die Fluggastdaten sind nicht
zum ersten Mal Thema im Deutschen Bundestag. Nachdem die Verhandlungen zwischen der Europäischen
Union und den USA beziehungsweise Australien nun
vorläufig abgeschlossen sind, bestehen noch immer erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der Abkommen
mit dem EU-Primärrecht, insbesondere mit dem Schutz
personenbezogener Daten gemäß Art. 8 der EU-Grundrechtecharta.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen greift diese Bedenken auf und fordert die Bundesregierung auf, ein Gutachten beim Gerichtshof der
Europäischen Union einzuholen, welcher die Vereinbarkeit der geplanten Abkommen mit EU-Primärrecht prüfen soll. Da auch die SPD-Bundestagsfraktion diese Bedenken teilt und ein Gutachten des Europäischen
Gerichtshofs mehr Rechtssicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger mit sich bringen würde, stimmen wir dem
Antrag zu.
Bereits im Juni 2011 habe ich darauf hingewiesen,
dass mit der Weitergabe von Fluggastdaten zwar ein legitimes Ziel verfolgt wird, dabei aber grund- und menschenrechtliche Garantien beachtet werden müssen.
Dies sehe ich in den geplanten EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien noch nicht ausreichend gewährleistet. So hat auch der Juristische Dienst
der Kommission in seiner Stellungnahme vom 18. Mai
2011 erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Abkommens zwischen der EU und den USA mit dem
Grundrecht auf Datenschutz geäußert. Ich möchte hier
noch einmal betonen, dass es sich dabei um einen internen Dienst der Kommission handelt, also des EU-Organs, das für die Aushandlung der Fluggastdatenabkommen zuständig ist. Demnach gibt es auch innerhalb
der Kommission Bedenken hinsichtlich der Grundrechtskonformität dieses Abkommens.
Die Kritik bezieht sich insbesondere auf die Verhältnismäßigkeit des Abkommens. So sieht das geplante
PNR-Abkommen mit den USA eine Dauer der Datenspeicherung von 15 Jahren vor. Der Juristische Dienst
des Rates hat in seinem Gutachten zum Vorschlag einer
EU-Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdaten
vom 12. April 2011 bereits die Notwendigkeit einer Speicherfrist von mehr als 2 Jahren infrage gestellt. Für die
Erforderlichkeit einer 15-jährigen Speicherfrist fehlt zudem jeglicher Nachweis, und somit bestehen erhebliche
Zweifel, dass der mit der Speicherung der Daten verbundene Grundrechtseingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Des Weiteren soll die Verwendung von Fluggastdaten
nach dem geplanten Abkommen unter anderem zu Zwecken der Verhütung und Bekämpfung von „schweren
Straftaten“ zulässig sein. Über einen Verweisungsdschungel gelangt man allerdings zu dem Ergebnis, dass
es sich dabei bereits um Straftaten handelt, die mit einer
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind.
Damit umfasst diese Definition eine weitaus größere
Zahl von Straftaten als beispielsweise der EU-Richtlinienvorschlag zur Weitergabe von Fluggastdaten oder
auch das PNR-Abkommen mit Australien. Da somit auch
Straftaten erfasst sind, die nicht als schwerwiegend angesehen werden können, stellt sich auch in diesem Zusammenhang die Frage nach der Verhältnismäßigkeit
des Abkommens.
Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf die Möglichkeit grundrechtswidriger Profilerstellungen sowie auf
eine mangelnde Kontrolle durch unabhängige Datenschutzbeauftragte. Die Notwendigkeit, Fluggastdaten
nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßstäben zu übermitteln, haben wir ja auch in einem
eigenen Antrag - Bundestagsdrucksache 17/6293 - zum
Ausdruck gebracht.
Die geplanten PNR-Abkommen haben auch Auswirkungen auf den Grundrechtsschutz nach den Maßstäben
des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, da die betreffenden Fluggastdaten
auf der Grundlage dieser Abkommen von deutschen Stellen an die USA oder Australien weitergeleitet würden.
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010, 1 BvR 256/08. Hier hat
das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ausdrücklich aufgetragen, sich auf internationaler und
europäischer Ebene für die Wahrung der Datenschutzstandards des Grundgesetzes einzusetzen, BVerfG, a. a. O.,
Randnummer 218. Genau diesem Auftrag kann und
muss die Bundesregierung nun entsprechen und das geforderte Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen
Union einholen. Ein solches Gutachten könnte - sollte
der EuGH darin die Unvereinbarkeit der Abkommen mit
dem Grundrecht auf Datenschutz und somit EU-Primärrecht feststellen - auch die Position der Europäischen
Union bei weiteren Verhandlungen über das PNR-Abkommen mit den USA stärken.
Die erheblichen datenschutzrechtlichen Bedenken gegenüber dem Abkommen, die offensichtlich auch innerhalb der Kommission selbst bestehen, können nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Ein Gutachten
des Gerichtshofs der Europäischen Union kann Klarheit
über die Vereinbarkeit der Abkommen mit den EUGrundrechten schaffen und ist aus Gründen der Rechtssicherheit unerlässlich.
Auch auf die Gefahr hin, mich zu diesem Thema zu
wiederholen: Wer hat’s erfunden? Richtig, die Grünen.
Der grüne Außenminister Joschka Fischer hat zu Zeiten
der rot-grünen Bundesregierung im Rat dem Abkommen
zwischen EU und USA zur Übermittlung von Fluggastdaten zugestimmt, einem Abkommen, in dem damals das
Wort Datenschutz ein absolutes Fremdwort war. Die
Notbremse zog dann das Europäische Parlament, während hier im Bundestag SPD und Grüne das, was sie
heute kritisieren, unterstützten - mit dem Unterschied,
dass die heutige schwarz-gelbe Koalition sich um den
Datenschutz kümmert und dafür kämpft, das, was uns
Rot-Grün hinterlassen hat, wenigstens rechtsstaatlich
auszugestalten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Verhalten der Grünen jedenfalls nennt man gemeinhin widersprüchlich. Heute so zu tun, als hätten Sie
mit dem Thema nichts zu tun und könnten sich hier als
vermeintliche Retter des Rechtsstaats aufzuspielen, ist
schon ziemlich dreist.
Die FDP-Fraktion bleibt ihrer Linie bei Fluggastdaten treu. Wir haben die Nutzung von Fluggastdaten von
Anfang an kritisch begleitet. Wir müssen zur Kenntnis
nehmen, dass weder im Rat noch im Europäischen Parlament eine Mehrheit gegen Fluggastdatensammlungen
vorhanden ist. Aber wir nehmen auch zur Kenntnis, dass
die Sensibilität immerhin gestiegen ist für den Datenschutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte. Sogar
der Juristische Dienst der Kommission hat inzwischen
ein kritisches Gutachten zu dem geplanten Abkommen
zur Übermittlung von Fluggastdaten in die USA erstellt;
ebenso hat der Juristische Dienst des Rates sich kritisch
mit dem geplanten EU-Fluggastdatensystem befasst.
Diese Kritik muss ernst genommen und bei den Beratungen natürlich berücksichtigt werden. Anders als zu früheren rot-grünen Zeiten muss man das aber heute der
Bundesregierung nicht extra sagen - die Bundesjustizministerin hat diese Fragen selbst im Blick und setzt sich
national wie auch in der EU und international für mehr
Datenschutz ein.
Dass das nicht immer einfach ist, zeigt sich aktuell
bei den Verhandlungen über ein neues Abkommen zwischen EU und USA. Wir wissen, dass bei aller guten
transatlantischen Zusammenarbeit und Partnerschaft
gerade im Hinblick auf den Datenschutz doch erhebliche Unterschiede bestehen. Davor kann man kapitulieren und wie damals Joschka Fischer einfach ohne
weitere rechtsstaatliche Sicherungen den Zugriff auf
Fluggastdaten und Bankdaten europäischer Bürgerinnen und Bürger gestatten. Oder man kann dafür kämpfen, dass es besser wird. Wir machen lieber Letzteres.
Gemeinsam mit den Liberalen im Europaparlament und
der Bundesjustizministerin setzt sich die FDP-Fraktion
dafür ein, dass bei dem künftigen Abkommen mit den
USA ein hohes Datenschutzniveau erreicht wird. Bei
dem Abkommen zwischen EU und Australien ist das bereits gelungen. Dieses Abkommen ist - vor allem im Vergleich zu denjenigen, die wir bisher kannten, und natürlich immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es
sich um eine grundsätzlich nicht unbedenkliche anlasslose Speicherung von persönlichen Daten handelt mustergültig. Das anerkennt auch der Bundesdatenschutzbeauftragte.
Und ganz ehrlich: Dafür brauchen wir keinen Ratschlag von den Grünen, ganz besonders nicht von den
Grünen, die bei diesem Thema eigentlich in Sack und
Asche gehen müssten.
Ihren Antrag lehnen wir daher ab und handeln lieber
im Sinne von mehr Datenschutz und mehr Schutz der
Persönlichkeitsrechte von Flugreisenden.
Das Versagen der schwarz-gelben Koalition, insbesondere aber die fehlende Durchsetzungsfähigkeit der Bundesjustizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
von den Freien Liberalen, zwingen uns dazu, heute erneut über den Stopp des europäischen Fluggastdatenabkommens mit den USA und Australien zu debattieren.
Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist für ihren
neuerlichen Vorstoß, die Grundrechtskonformität des
benannten Datenaustauschabkommens der Europäischen Union mit den USA und Australien zu überprüfen,
zu danken. Seit nunmehr sieben Jahren bemüht sich
auch die Linksfraktion darum, der transatlantischen Datensammelwut Einhalt zu gebieten. Bisher stießen nicht
nur wir, sondern auch Bürgerrechtsorganisationen und
Datenschützer vor allem bei der deutschen Bundesregierung damit aber auf taube Ohren.
Selbst das Europäische Parlament und das Bundesverfassungsgericht haben seit einiger Zeit erhebliche
Zweifel an dem Austausch von Informationen über Flugpassagiere mit den benannten Staaten. Das Europäische
Parlament forderte vor anderthalb Jahren die Kommission auf, ein neues Abkommen über die Weitergabe von
Passagierdaten auszuhandeln. Diese Verhandlungen
sind nun abgeschlossen; ein vorläufiges Ergebnis liegt
vor. Dieses kann uns nicht befriedigen. Denn - und dies
beschreibt der Antrag der Grünen vortrefflich - die derzeit vorliegende Fassung des Abkommens ist mit dem
Schutz der EU-Grundrechte und damit mit dem Primärrecht der Europäischen Union nicht vereinbar.
Augenscheinlich zeigen sowohl Bundesregierung als
auch Europäische Kommission aber wenig Interesse an
den vorgebrachten Bedenken von Datenschützern und
Bürgerrechtsparteien wie der Partei Die Linke. Dies
verwundert nicht; schließlich schwebt hinter dem transatlantischen Abkommen die Einrichtung eines innereuropäischen Fluggastdatenmanagements. Übersetzt:
Mit dem Abschluss der Verhandlungen über einen Austausch von personenbezogenen Daten von Flugpassagieren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union, den USA und Australien soll der Weg bereitet
werden, um zukünftig jedwede Bewegung von Personen
innerhalb der EU zu registrieren, die auf das Transportmittel Flugzeug zurückgreifen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren im Bundesjustizund Bundesinnenministerium, schon nicht auf die Einwände der Oppositionsfraktionen im Bundestag, die
Entschließungen des Europäischen Parlamentes oder
die europäischen Datenschützer hören wollen, vielleicht, ja vielleicht schenken Sie den Argumenten Ihrer
eigenen Institutionen und Behörden mehr Vertrauen.
Selbst der Juristische Dienst des Rates, also jener Institution, in der auf europäischer Ebene die Staats- und
Regierungschefs und Ministerinnen und Minister miteinander arbeiten, hegt erhebliche Zweifel an der
Grundrechtskonformität des derzeitigen Verhandlungsstandes in Bezug auf den Austausch von Flugpassagierdaten. Vor allem der Eingriff des ausgehandelten Abkommens in Art. 8 der EU-Grundrechtecharta, also das
Grundrecht auf Datenschutz, wiegt schwer. Der Juristische Dienst der Europäischen Kommission kritisiert in
seiner jüngsten Stellungnahme, so wie die Linksfraktion
vor Monaten bereits auch, den fehlenden Nachweis der
Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, die manZu Protokoll gegebene Reden
gelnde Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der Grundrechtseingriffe, die überlange Speicherdauer und die
mangelnde Kontrolle durch unabhängige Datenschutzbeauftragte.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom März 2010
klipp und klar aufgetragen, uns für die Wahrung der verfassungsrechtlichen Datenschutzstandards des deutschen Grundgesetzes auch in internationalen Zusammenhängen einzusetzen.
Insofern stimmen wir dem Antrag der Grünen zu und
fordern die Bundesregierung auf, gemäß Art. 218
Abs. 11 AEUV ein Gutachten der Europäischen Union
über die Vereinbarkeit der geplanten Abkommen mit den
USA und Australien über die Weitergabe von Passagierdaten mit dem europäischen Primärrecht einzuholen.
„Wir dürfen hier nicht sehenden Auges eine Situation
entstehen lassen, in dem die EU grundrechtswidrige Abkommen abschließt.“ Mit diesem Satz habe ich Sie in der
ersten Lesung im Juni 2011 bereits um Zustimmung zu
unserem Antrag gebeten. Mit diesem Satz bitte ich Sie
noch einmal um Unterstützung unseres Antrags, mit dem
die Bundesregierung aufgefordert wird, die geplanten
Abkommen über die Weitergabe von Passagierdaten,
PNR, an die USA und Australien dem EuGH zur Prüfung
vorzulegen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, liebe
Frau Piltz, lieber Herr Binninger, was haben Sie denn für
ein Selbstverständnis als Parlamentarier in der Regierungskoalition? Die Bundesregierung enthält sich - als
einzige EU-Regierung - bei der Abstimmung über das
PNR-Abkommen mit Australien im Rat der Stimme, und
zwar aufgrund erheblicher Datenschutzbedenken. Und
was machen Sie? Sie lehnen eine Vorlage dieses Abkommens und des PNR-Abkommens mit den USA zum EuGH
mit der schlichten Begründung ab, Terrorbekämpfung
sei nötig und es hätte schon einmal schlechtere Abkommen gegeben.
Was, meine Damen und Herren von der Koalition, haben Sie für ein Verständnis von Demokratie und Gewaltenteilung? Die Bundesregierung hat im Rat erhebliche
Bedenken gegen die PNR-Abkommen wegen Zweifeln an
der Rechtsgrundlage geäußert. Das heißt übersetzt: Die
Bundesregierung ist der Ansicht, dass die PNR-Abkommen mit den USA und Australien von den nationalen
Parlamenten, also auch vom Deutschen Bundestag, ratifiziert werden müssten. Die Bundesregierung konnte
sich mit dieser Auffassung im Rat aber nicht durchsetzen. Was machen Sie? Sie akzeptieren brav wie die
Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, dass dem Bundestag hier möglicherweise Rechte vorenthalten werden,
statt sich dafür einzusetzen, dass auch diese Frage vom
EuGH in einem Gutachten geklärt wird.
Jetzt aber noch einmal zu den Inhalten, dem Kern der
Besorgnis der Grünen als Bürgerrechtspartei: Auch
wenn im Laufe der Verhandlungen mit den USA und
Australien einzelne Verbesserungen erreicht wurden,
eine ganze Reihe von Experten und Institutionen haben
massive Zweifel an der Vereinbarkeit der geplanten
PNR-Abkommen mit den EU-Grundrechten, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem deutschen
Grundgesetz. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen,
die Einzelheiten wurden vielfach vorgebracht und wir
haben über sie hier auch diskutiert. Die berechtigten
Datenschutzbedenken gegen die geplanten PNR-Abkommen lassen sich aber einfach nicht wegdiskutieren, wie
man ja unschwer auch am Abstimmungsverhalten der
Bundesregierung erkennen kann.
Frau Piltz, Zweckbindung, Ausschluss grundrechtswidrigen Profilings und die Weiterleitung von Daten in
Unrechtsstaaten, unabhängige Datenschutzkontrolle das sind Ihre Themen, und das sind die zentralen Kritikpunkte an den PNR-Abkommen mit den USA und Australien, geäußert nicht nur vom Juristischen Dienst der
Europäischen Kommission, sondern auch vom Europäischen Datenschutzbeauftragten und führenden Experten. Im Juni dieses Jahres haben Sie an dieser Stelle gesagt, was die Fluggastdaten angeht, müsse im Sinne des
Rechtsstaates gerettet werden, was noch zu retten ist.
Ihre Parteikollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger
wird in der Regierung hart gekämpft haben um die Enthaltung beim PNR-Abkommen mit Australien. Jetzt sind
wirklich einmal Sie dran mit dem Retten - und ich meine
damit nicht das Retten der Koalition -: Setzen Sie sich
innerhalb der Koalition durch, und nutzen Sie damit die
Möglichkeit, die der Vertrag über die Arbeitsweise der
Europäischen Union uns gibt; die Möglichkeit, diese
eklatant grundrechtswidrigen Abkommen dem EuGH
zur Prüfung vorzulegen, bevor sie in Kraft treten.
Zu Ihnen, Herr Binninger: Sie haben im Innenausschuss gesagt, dass Parlamentarier nach Mehrheiten
entscheiden und nicht nach Gerichtsentscheidungen und
dass Sie deswegen einer Grundrechtskontrolle durch
den EuGH nicht zustimmen können. Da bleibt mir ja fast
die Spucke weg, wenn das Ihr Verständnis von Gewaltenteilung sein sollte: Was grundrechtswidrig ist, bestimmt allein das Parlament, und wenn es dann doch
schiefgeht und die Sache irgendwie vor dem Bundesverfassungsgericht landet, dann bringen wir die deutschen
Grundrechtshüter vom Verfassungsgericht halt in die
europapolitische Bredouille, indem wir sie vor die Entscheidung stellen, sich entweder für Europa oder für die
Grundrechte zu entscheiden?
Umgekehrt wird ein Schuh draus. In seinem Urteil
zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber unmissverständlich dazu aufgefordert, sich für
die Wahrung verfassungsrechtlicher Datenschutzstandards auf europäischer und internationaler Ebene einzusetzen. Wenn also allenthalben und sogar innerhalb
Ihrer Regierungskoalition Zweifel an der Grundrechtskonformität bestehen, ist es Ihre Pflicht, dem nachzugehen und alle verfügbaren Mittel zu ergreifen, um das
Inkrafttreten grundrechtswidriger Abkommen zu vermeiden. Noch ist es nicht zu spät: Stimmen Sie unserem
Antrag zu, fordern Sie die Bundesregierung auf, die geplanten PNR-Abkommen mit Australien und den USA
Zu Protokoll gegebene Reden
dem EuGH vorzulegen. Nach der Enthaltung der Bundesregierung beim Abkommen mit Australien wäre dieser Schritt nur konsequent.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7676, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/6331 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und des Bündnisses 90/Die
Grünen sowie die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Sie werden es nicht für möglich halten, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, aber es ist so: Wir sind am
Ende unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
Wir wollen dennoch weiterarbeiten, aber nicht mehr
heute, sondern morgen.
Ich berufe somit die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. November
2011 - ein besonderer Tag -, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.