Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und
Abfallrechts
- Drucksache 17/6052, 17/6645 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 17/7505 ({1}) Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Horst Meierhofer
Dorothea Steiner
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb
Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Bundesminister Dr. Norbert Röttgen.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, man kann es nicht oft genug sagen, dass wir
lernen müssen, mehr Wachstum mit weniger Ressourcen
zu erzeugen. Das ist das übergreifende ökonomische und
ökologische Leitmotiv der Politik der Bundesregierung.
Es war und ist eine tragende Säule unserer Energiepolitik, die wir vor wenigen Monaten debattiert und beschlossen haben.
Es ist nunmehr auch das Leitmotiv des neuen Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes als eines ganz wichtigen und wesentlichen Bereiches, in dem Ressourcenpolitik konkret gestaltet wird. Zunächst benötigt man
einen Kompass für die notwendigen Prinzipien und Werteüberzeugungen. Diese gilt es dann konkret zu verwirklichen. Die Bundesregierung macht dies Stück für Stück.
Das geltende Kreislaufwirtschaftsgesetz ist nunmehr
16 Jahre alt. Es war ein Meilenstein in der Umweltpolitik. Das ist ein bleibendes Verdienst von Klaus Töpfer,
der diesen Gedanken in die Umweltpolitik eingeführt
hat. Jetzt schaffen wir ein neues Gesetz zur Regelung
des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts, das die
Grundlage für eine echte Kreislaufwirtschaft bietet.
({0})
In der neuen fünfstufigen Hierarchie werden drei
Kerngebote der Kreislaufwirtschaft begründet: Erstes
Gebot: Abfallvermeidung. Zweites Gebot: Wiederverwertung von Abfall. Drittes Gebot: Recycling. Auf dem
Weg dorthin haben wir bereits einige erfolgreiche
Schritte hinter uns. Anfang der 90er-Jahre wurden nur
rund 30 Prozent der Siedlungsabfälle wiederverwertet
oder recycelt. Jetzt nehmen wir uns vor, diesen Wert auf
65 Prozent zu erhöhen, das heißt, die vorgeschriebene
Mindestgrenze umfasst zwei Drittel dieser Abfälle. Die
Gesellschaft, die Unternehmen, die Kommunen können
und werden immer noch besser sein; die Einhaltung dieser Grenze ist aber das, was wir von ihnen verlangen.
Für den Bauschutt soll die Grenze auf 70 Prozent erhöht
werden.
Ab 2015 werden Bioabfälle, Papier, Metalle, Kunststoffe und Glas getrennt gesammelt. Wir werden - das
ist das nächste Projekt - eine Wertstofftonne einführen.
Das wird dazu führen, dass noch einmal 7 Kilogramm
Wertstoffe, Rohstoffe pro Einwohner und Jahr getrennt
erfasst und der Wiederverwertung bzw. dem Recycling
zugeführt werden. Ich sage hier ganz klar: Wir werden
auch über dieses zweite wichtige Projekt beraten und
eine einheitliche Wertstofftonne per Gesetz einführen;
Redetext
denn wir wollen eine parlamentarische Debatte und Entscheidung. Das ist ganz wichtig; das ist die Politik der
Bundesregierung.
({1})
Ich glaube, dass unsere Bürgerinnen und Bürger, wir
alle, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Abfall- und
Kreislaufwirtschaft haben; die Industrie hat es auch. Ich
möchte gerne die wirtschaftliche, ressourcenpolitische
Bedeutung der Abfallwirtschaft im Hinblick auf Rohstoffe aufzeigen.
Wir alle kennen die Probleme und Herausforderungen
im Zusammenhang mit Rohstoffknappheit: endliche, immer teurer und in ihrer Preisgestaltung immer volatiler
werdende Rohstoffe, auf die unsere Wirtschaft aber fußt
und basiert. Darum geht es hier: um eine ökonomische
Notwendigkeit, die mit einer ökologischen Notwendigkeit zusammenfällt. Insofern ist es ein enormer Erfolg
- es zeigt die Bedeutung der Abfallwirtschaft -, dass bereits heute schätzungsweise 13 Prozent der natürlichen
Rohstoffe durch Abfallwertstoffe, Sekundärrohstoffe, ersetzt werden. Das ist eine enorme Substitution: 13 Prozent der Rohstoffe, die wir für die Produktion brauchen,
müssen wir nicht mehr aus der Erde nehmen. Wir setzen
die Rohstoffe also nicht nur ein einziges Mal ein. Denn
wenn wir diese Stoffe endgültig verbraucht haben, sind
sie unwiederbringlich verloren.
Wir reden hier in diesem Haus die ganze Zeit völlig
zu Recht über unverhältnismäßige, unvertretbare Finanzschulden, über Staatsverschuldung, Fiskalschulden
und Spekulation. Wir leben heute alles in allem ein
Schuldenleben. Das bedeutet, dass die heutigen Generationen auf Kosten der nächsten Generationen leben. Das
Aufnehmen von Ökoschulden, meine Damen und Herren, ist im Prinzip nichts anderes als ein Leben auf Kosten der nächsten Generationen. Es ist noch viel schwieriger, sich aus dieser Situation zu retten: Wenn wir erst
einmal die Ökokatastrophe vor Augen haben, dann werden selbst Rettungspakete in Billionen-Euro-Höhe nicht
mehr reichen; dafür sind die Ökosysteme zu langsam.
Darum müssen wir eine präventive, nachhaltige Politik,
also eine Ressourcenpolitik, betreiben. Sie muss prinzipiell gestaltet und konkret umgesetzt werden.
({2})
Das neue Abfallwirtschaftsrecht wird diesem Anspruch
gerecht.
({3})
Die Abfallwirtschaft macht einen Umsatz von 50 Milliarden Euro. Wir gestalten also heute die Rahmenbedingungen für eine bedeutende Wirtschaftsbranche, nach
dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft und der Wiederverwertung, unter Abkehr von einem alten Denken des Verbrauchens, des Verbrennens und Verbuddelns.
({4})
Wir haben am Ende eine schwierige Frage intensiv
diskutiert: Wie gehen wir mit zwei Aspekten um, die bei
dieser Ordnungsgestaltung für Wirtschaft und Gesellschaft auftreten, nämlich mit den durchaus konkurrierenden Aspekten der Daseinsvorsorge und Sicherheit einerseits und des privaten wirtschaftlichen Wettbewerbs
andererseits? Ich glaube - dafür bin ich dankbar -, dass
wir in dem Spannungsfeld, das es bei diesem Thema
gibt, einen wirklich guten, fairen Kompromiss gefunden
haben, der sowohl eine ordnungspolitische Balance wie
auch einen fairen Interessenausgleich gewährleistet. Ich
bin allen, die daran mitgewirkt haben, ausgesprochen
dankbar dafür, dass dieses Ergebnis zustande gekommen
ist.
Die Suche nach einer Balance und einem Interessenausgleich ging von der Frage aus: Nach wem rufen die
Bürgerinnen und Bürger eigentlich, wenn etwas schiefgeht, wenn der Müll auf der Straße liegen bleibt? Dann
rufen sie nicht: „Wo ist das private Unternehmen, das
uns dieses Problem vom Halse schafft, das den Müll
sammelt und entsorgt?“ In einer solchen kritischen Situation werden die Bürgerinnen und Bürger nach dem
Staat oder konkret nach ihrer Gemeinde rufen.
({5})
- So haben wir es immer geregelt.
({6})
Eine gewisse Sachkenntnis tut sogar manchem Zwischenruf gut. Von Anfang an haben wir festgelegt, dass
Müllentsorgung und Abfallwirtschaft kommunale Aufgabe, Pflicht und Daseinsvorsorge sind.
({7})
Das war von Anfang an so. Wenn Sie das richtig finden,
dann ist es ja gut. Es freut mich, dass Sie dem ausdrücklich zustimmen.
({8})
Genauso haben wir die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Kommune, die diese Aufgabe optimal und
hochwertig erfüllt, dies auch in Zukunft machen kann.
Die Organisationshoheit und die wirtschaftlichen Belange der Kommunen werden geschützt; die Gebühren
bleiben verlässlich und stabil. Da sich die kommunalen
Spitzenverbände und der VKU gemeinsam mit denjenigen, die diese Anliegen im Parlament in besonderer
Weise vertreten, konstruktiv eingebracht haben, sind die
kommunalen Belange auch voll berücksichtigt worden.
Ich danke ausdrücklich für die konstruktiv-kritische Zusammenarbeit und für die Zustimmung, die wir am Ende
als Ergebnis dieses Prozesses von der kommunalen Familie bekommen haben. Es freut mich außerordentlich,
dass dies gelungen ist.
({9})
Es ist ein enormer Erfolg, mit der Zustimmung der Kommunen eine Öffnung in Richtung Wettbewerb zu erreichen. Das haben wir geschafft.
Richtig ist aber auch: Dieser Schutz, von dem ich gerade gesprochen habe, gilt natürlich nur dann, wenn
Wertstoff- und Reststoffsammlungen qualitativ optimal
durchgeführt werden - heute und vor allem in Zukunft.
Wenn eine Gemeinde das heute oder in Zukunft nicht
kann oder nicht will, dann ist das selbstverständlich eine
Chance und Gelegenheit für privatwirtschaftliche Unternehmen. Das ist auch richtig so.
Das heißt, es gibt diese Balance: Auf der einen Seite
steht die Gewährleistung der Erfüllung dieser Aufgabe
durch die Kommunen zu stabilen Preisen; und auf der
anderen Seite steht die Öffnung hin zu mehr Wettbewerb, als wir jemals auf diesem Gebiet hatten. Dies wird
auf Basis der geltenden Rechtslage geschehen, sodass
ein fairer Wettbewerb sichergestellt ist. Das ist nicht nur
europarechtlich vorgeschrieben, sondern das ist auch
ordnungspolitisch richtig.
({10})
Ich glaube, dass wir auf dieser Basis einen wirklich
fairen Ausgleich haben, der ordnungspolitisch stimmt
und der die Zustimmung der beteiligten Kreise hat. Deshalb ist dieses Gesetz ein ganz wichtiger Baustein in einer Politik, die Ökonomie und Ökologie nicht mehr als
Gegensätze versteht, sondern vom Gedanken der Nachhaltigkeit geprägt ist und darum Ökonomie und Ökologie als die wahren Geschwister erkennt. Diese Politik
setzt damit einen weiteren Baustein in die Realität um.
Ich bin sehr froh darüber, dass heute die zweite und
die dritte Lesung stattfinden, und danke noch einmal für
die konstruktiv-positive Zusammenarbeit, ohne die dieses Ergebnis nicht erreicht worden wäre.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Gerd Bollmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dem Thema Abfallwirtschaft denke ich zunächst an
ein Plakat aus den 80er-Jahren, auf dem eine ungeordnete Mülldeponie zu sehen war. Darunter stand: Wenn
wir weiter so auspacken, können wir bald einpacken.
({0})
Ich denke, seit dieser Zeit hat sich - jenseits der politischen Farbenlehre; egal ob Töpfer, Trittin oder Gabriel
die entsprechenden Minister waren - einiges positiv entwickelt und verändert.
Ohne die Verdienste von Herrn Töpfer schmälern zu
wollen, Herr Minister: Auch das gültige Kreislaufwirtschaftsgesetz ist damals erst im Vermittlungsausschuss
entstanden, und wie man mir sagte, ist es deutlich besser
als der ursprüngliche Entwurf. Auch darauf darf man
hinweisen.
({1})
Ich denke, die Gesetze und Regelungen, die in den
letzten Jahren verabschiedet worden sind - Deponierungsverbot, Verpackungsverordnung mit den verschiedensten Novellen, Elektro-Altgerätegesetze -, sind alle
nicht hundertprozentig perfekt, sondern sie sind alle verbesserungswürdig. Aber wir haben auch einiges nach
vorne gebracht; und das war notwendig. Denn Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Deutschland soll und
muss Industriestandort bleiben. Wer, wenn nicht wir,
sollte ein Interesse an einer wirklich überzeugenden,
funktionierenden Kreislaufwirtschaft haben? Dies ist
wichtig für unsere Gesellschaft.
({2})
Bereits heute stammen beispielsweise 50 Prozent des
eingesetzten Kupfers aus Abfallmaterial. Oder denken
wir an die Aluminiumherstellung: Auf dem normalen
Wege müssten wir Bauxit aus Afrika einführen. Wenn
wir beispielsweise Rezyklate nehmen, dann sparen wir
50 Prozent der eingesetzten Energie. Diese Beispiele
zeigen die dringende Notwendigkeit, die Kreislaufwirtschaft weiterzuentwickeln. Wir können uns nicht erlauben, stehen zu bleiben. Die Abfallrahmenrichtlinie, die
wir heute in deutsches Recht umsetzen, gibt uns dazu
Gelegenheit.
Herr Minister, leider ist der heute vorgelegte Gesetzentwurf, mit dem die europäische Abfallrahmenrichtlinie in nationales Recht umgesetzt werden soll, nicht der
große Wurf, wie das eben hier oder von einigen Abgeordneten im Umweltausschuss dargestellt worden ist.
Die großen Chancen für einen wirklichen Einstieg in
eine Kreislaufwirtschaft, für stärkeren Ressourcenschutz
und für mehr Wiederverwendung und Recycling wurden
nicht genutzt.
({3})
Wer dieses Gesetz als großen Wurf feiert, leidet entweder unter Realitätsverlust
({4})
- man könnte sich angesichts des Zustandes der Koalition schon denken, warum - oder muss unbedingt einen
Erfolg herbeireden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
in der letzten Woche haben Sie in diesem Haus verstärkte Rohstoffsicherung und Ressourcenschutz als
wichtige Zukunftsaufgaben dargestellt. Der vorliegende
Gesetzentwurf sieht für das Jahr 2020 eine Recyclingquote für Siedlungsabfälle von 65 Prozent vor, dabei
wurden bereits im Jahr 2008 64 Prozent aller Siedlungsabfälle recycelt. Bei Bau- und Abbruchabfällen soll nach
dem Willen der Regierung bis 2020 eine Quote von
70 Prozent erreicht werden, dabei betrug die Quote 2008
bereits 93,7 Prozent.
({5})
War im Arbeitsentwurf des BMU noch von einer Verpflichtung die Rede, wurde dies zu einer Sollvorgabe
weichgespült.
Glauben Sie wirklich, dass es ausreicht, in einem Entschließungsantrag anspruchsvolle Abfallvermeidungsziele und -programme zu fordern, im Gesetzentwurf aber
den Begriff „Abfallvermeidung“ ohne jegliche Ausgestaltung aufzunehmen? Gleichzeitig lehnen Sie Änderungsanträge zur verbesserten Abfallvermeidung ab. Das
reicht nicht. Dies ist keine Fortentwicklung der Kreislaufwirtschaft.
({6})
Wer es mit der stofflichen Verwertung ernst meint,
der darf die Mitverbrennung in Kraftwerken nicht als
stoffliche Verwertung zählen. Wer mehr recyceln will,
darf mit einem allgemeinen Kriterium die energetische
Verwertung nicht mit stofflicher Verwertung gleichsetzen. Mit einem Heizwertkriterium von 11 000 Kilojoule
ist beispielsweise die Verbrennung von Altpapier möglich
({7})
und einem Papierrecycling gleichwertig. So ist der Vorrang der stofflichen Verwertung nicht umzusetzen. Das
hat auch die EU-Kommission in ihrem Notifizierungsschreiben ausdrücklich betont.
All diese Punkte hätten in den letzten Monaten im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen über das Kreislaufwirtschaftsgesetz stehen müssen. Aber die Diskussion
wurde von der Frage über das Verhältnis von kommunaler
und privater Zuständigkeit in der Abfallwirtschaft beherrscht. Wir Sozialdemokraten haben von Anfang an
klargemacht, dass wir weitere Privatisierung im Zuständigkeitsbereich der kommunalen Entsorgungswirtschaft
ablehnen.
({8})
Die Hausmüllentsorgung gehört für uns zur Daseinsvorsorge. Der Bürger muss sich darauf verlassen können, dass sein Abfall unabhängig vom Marktpreis jederzeit und zuverlässig abgeholt und nach ökologischen
Standards entsorgt wird. Dies trauen wir nur den Kommunen, die dazu verpflichtet sind, wirklich zu. Eine Situation, wie wir sie vor Jahren im Bereich Altpapier hatten, lehnen wir ab. Als der Altpapierpreis spekulativ
hoch war, wurden von privaten Entsorgern Papiertonnen
aufgestellt. Als der Preis im Verlauf der Wirtschaftskrise
zusammenbrach, wurde das Altpapier nicht nur nicht
mehr abgeholt, nein, man ließ sogar die aufgestellten
Tonnen einfach stehen. Die Kommunen mussten einspringen. Eine solche Entsorgung nach Marktlage zulasten der Bürger lehnen wir ab.
({9})
Von der Regierung, der FDP und der privaten Entsorgungswirtschaft wird behauptet, dass verstärkter Wettbewerb dem Umwelt- und Ressourcenschutz dient. Es wird
behauptet, dass nur durch private Entsorgungswirtschaft
der derzeit hohe Standard im Bereich Recycling erreicht
wurde. Es steht der Vorwurf im Raum, dass die kommunalen Entsorger nur ihre Müllverbrennungsanlagen füllen wollen. Schauen wir uns doch die Realität an: Altpapier, Altbatterien, Bioabfälle, Sondermüll und andere
Abfallfraktionen werden von zahlreichen Kommunen
getrennt gesammelt,
({10})
und das dauerhaft, unabhängig von der Marktlage, mit
gutem Service, guten Löhnen und oftmals ohne Gewinn.
Gut ausgebaute Wertstoffhöfe wurden zum Beispiel in
Bayern errichtet. Dies alles geschah, bevor es gesetzlich
verlangt wurde oder wirtschaftlich rentabel war.
Eines ist klar: Für einen zukunftsorientierten Ausbau
der Kreislaufwirtschaft ist eine Politik nach Marktlage
der falsche Weg.
({11})
Dafür sind Vorschriften, Richtlinien und gesetzliche Vorgaben notwendig, und zwar für private und kommunale
Entsorger. Wir Sozialdemokraten haben das in unseren
Änderungsanträgen deutlich gemacht.
Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Fragen in einem wegweisenden Urteil zum Thema Altpapier geklärt.
Gewerbliche Sammlungen wurden eingeschränkt. Kein
privater Entsorger musste deswegen Insolvenz anmelden. Von interessierter Seite wurde sofort gegen dieses
Urteil geklagt. Die private Entsorgungsindustrie, die
FDP und einige aus dem Ministerium haben behauptet,
dass dieses Urteil nicht europarechtskonform sei. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich bin kein Jurist, ich berufe
mich auch nicht auf die zahlreichen Gutachten aus angesehenen Anwaltskanzleien oder den Länderministerien.
Ich weise aber darauf hin, dass das höchste dafür zuständige deutsche Gericht die Europarechtskonformität geprüft hat. Einstimmig hat das Bundesverwaltungsgericht
die Übereinstimmung mit dem Europarecht festgestellt.
Zweimal, zuletzt im Juli dieses Jahres, hat das Gericht
seitdem diese Ansicht bekräftigt. Bezüglich der Europarechtsfragen ist diese Aussage der höchsten deutschen
Verwaltungsrichter für uns ausschlaggebend.
({12})
Unter dem Druck interessierter Kreise hat das BMU
einen Entwurf vorgelegt, welcher den Bestand der öffentlich-rechtlichen Entsorger stark gefährdet. Gegen
den Widerstand der Räte in einigen Hundert Kommunen,
des Bundesrates, der Verbände, der Opposition, aber
auch vieler Abgeordneter aus den eigenen Reihen war
dieser Entwurf nicht durchsetzbar. Nur wegen des drohenden Scheiterns ist das BMU auf die kommunalen
Spitzenverbänden zugegangen. In letzter Minute ist ein
sogenannter Kompromiss erreicht worden. Tatsächlich
sind einige Verbesserungen enthalten: die Verlängerung
der Anzeigepflicht, der Wegfall der neutralen Stelle, die
Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Entsorger, die Berücksichtigung der Stabilität des Gebührenhaushalts. All
dies sind Verbesserungen.
({13})
Gleichzeitig bleibt es aber bei vielen ungeklärten
Rechtsbegriffen, die die Gerichte beschäftigen werden.
Schon jetzt ist abzusehen, dass dieses Gesetz viele
Rechtsanwaltskanzleien wirklich gut verdienen lässt.
Man kann sich auf spannende Auseinandersetzungen
einrichten.
Das Signal zeigt mir, dass ich leider schon zum Ende
kommen muss. Ich kann nur sagen: Auch wir Sozialdemokraten sind für eine Wertstofftonne, allerdings - das
muss hier ganz klar gesagt werden - in Verantwortung
der Kommunen.
({14})
Durch dieses Gesetz wird eine Vorentscheidung getroffen. Den Kollegen aus Bayern kann ich nur sagen: Wenn
demnächst das Wertstoffgesetz in Kraft getreten ist, dann
können Sie Ihre Wertstoffhöfe vergessen. Nicht zuletzt
aus diesem Grunde lehnen wir dieses Urteil ab.
({15})
Ich habe vorhin schon gesagt: Auch das gültige Gesetz ist im Vermittlungsausschuss entstanden. Ich denke,
wir sehen uns im Vermittlungsausschuss wieder.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bollmann, es war spannend, dass Sie am Anfang
Ihrer Rede darauf hingewiesen haben, dass es hier nur
um den Verbraucher und um den Service geht. Es war
Ihnen wichtig, das zu betonen. Sie haben behauptet, wir
würden uns nur darüber streiten, wer ein größeres Stück
vom Kuchen bekommen solle. Im nächsten Satz haben
Sie aber gesagt: Das darf kein Privater machen, sondern
das müssen immer die Kommunen machen. Ihnen geht
es überhaupt nicht um das beste Ergebnis. Ihnen geht es
um Besitzstandswahrung und sonst gar nichts.
({0})
Ich habe mir alte Texte angeschaut. In den Freiburger
Thesen von 1971 stand zum Beispiel:
Die Aufnahmefähigkeit der Natur für Abfälle und
andere Umweltbelastungen ist begrenzt.
Seitdem hat sich Gott sei Dank sehr viel getan. Was Deponieverbot und Lösung der Müllprobleme betrifft, haben wir viel erreicht. Wie man am heutigen Tage sieht,
haben wir aber auch noch viel vor. Es sind noch viele
Dinge zu klären.
Wir wollen es besser machen. Wir wollen es aber
nicht nur für den Verbraucher besser machen - das habe
ich schon gesagt -, sondern auch besser machen für die
Umwelt - es geht um Recycling -, für die Wirtschaft und
für die Kommunen, Herr Bollmann. Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf mit der dazugehörigen Entschließung bringt, glaube ich, für alle Beteiligten eine Verbesserung im Vergleich zum Status quo. Das ist bei der
Gesetzgebung nur sehr selten der Fall. Deswegen bin ich
sehr stolz auf das, was hier vorliegt.
({1})
Wir haben etwas für die Umwelt erreicht, indem wir
die Wiederverwendung stärken. Wir wollen, dass manche Dinge gar nicht erst auf dem Müll landen. Wir haben
uns darauf verständigt, dafür zu sorgen, dass soziale Initiativen, die zum Beispiel alte Möbel und andere Gegenstände wiederaufbereiten und verkaufen, unterstützt
werden. Davon hält die SPD nichts. Das ist eine soziale
Frage, reduziert aber auch das Müllaufkommen. Dazu
haben Sie nichts gesagt.
({2})
Wir wollen durch Wertstofftonnen erreichen, dass die Zahl stammt vom Umweltbundesamt - 600 000 Tonnen weniger verbrannt werden; dies betrifft öffentlichrechtliche und private Anlagen. Diese 600 000 Tonnen
mehr sollen recycelt werden. Das wollen Sie nicht. Warum, das weiß ich nicht. Dies wird zu weiteren Verbesserungen führen; das ist entscheidend. Vor allem für die
Umwelt ist dies gut.
({3})
Alle Umweltverbände und Experten sind sich einig, dass
uns dies nach vorne bringt. Sie sagen: Nein, das wollen
wir nicht, wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist;
denn alles ist ganz hervorragend.
({4})
Wir wollen den Grundsatz Recycling vor Verbrennung umsetzen. Diesen klaren Vorrang übertragen wir
von europäischer Ebene auf deutsches Recht. Dadurch
werden wir mehr Recycling haben als bisher.
({5})
Dennoch werden wir die Strukturen, die Müllverbrennungsanlagen, die Müllheizkraftwerke, aus denen wir
Strom und Wärme erzeugen, erhalten. Herr Bollmann,
diese sind zu 50 Prozent in privater und zu 50 Prozent in
öffentlicher Hand. Frau Steiner, die Grünen wollen das
Heizwertkriterium komplett abschaffen; dies hat auch
Herr Bollmann gerade durch die Blume gesagt. Es wäre
gut, wenn Sie darauf hinweisen,
({6})
dass wir dann alle Anlagen schließen müssten; denn es
würde sich für die Kommunen nicht mehr lohnen. Auch
wenn Sie den Kommunen alles andere zuschustern würden, würde es sich für sie nicht mehr lohnen. Im Ergebnis würden die Kommunen, die weiterhin an Müllheizkraftwerken beteiligt sind, die Gebühren erhöhen. Dann
würde es teurer für den Verbraucher werden. Wir wollen
genau das Gegenteil. Wir wollen es besser und günstiger.
({7})
- Wenn die nicht ausgelastet sind, dann muss es mehr
kosten, Herr Kelber, das ist doch logisch. Wer bezahlt
das dann? Natürlich der Verbraucher und der, der den
Müll anliefert.
({8})
Deswegen müssen wir das Heizwertkriterium beibehalten. Es kann gar nicht anders funktionieren.
Wir wollen gleichzeitig dafür sorgen, dass wir durch
eine Kaskadennutzung - diese haben wir vorgesehen möglichst wenig verbrennen müssen.
({9})
Wir wollen möglichst viel recyceln und schrittweise immer weniger verbrennen. Dieser Übergang ist einerseits
eine Garantie für Investitionen und führt andererseits
langfristig zu deutlich mehr Recycling. Wahrscheinlich
haben Sie sich inhaltlich nicht damit beschäftigt, deswegen müssen Sie jetzt bei Ihrer tumben Antihaltung bleiben.
({10})
Was bedeutet das für die Wirtschaft? Die Wirtschaft
hat dadurch große Vorteile. Wir haben in den letzten Tagen gehört, dass auch Teile der Wirtschaft mit dem Gesetz nicht ganz glücklich sind. Hier heißt es ja immer,
nur die Kommunen hätten damit Probleme. Herr
Bollmann, dies ist ein Kompromiss; das muss man offen
sagen. Alle müssen ein Stück beigeben, vielleicht nicht
die Opposition. Aber später im Bundesrat muss man etwas verantwortungsvoller handeln als Sie gerade hier.
({11})
Jetzt sage ich Ihnen, warum die Wirtschaft profitiert.
Die Wirtschaft profitiert, weil es Investitionssicherheit
gibt; dies gilt für die Kommunen, und beim Heizwertkriterium gilt es natürlich genauso für die privaten Investoren. Wir haben durch die neutrale Stelle, die geschaffen
wird, klare Wettbewerbsverhältnisse. Davon profitieren
die Kommunen, aber auch die Privaten. Jeder weiß: Es
gibt keine Eigeninteressen bei der Wertstofferfassung,
sondern das macht jemand, der das beste Ergebnis für
den Bürger erzielen möchte. Das ist ein echter Vorteil.
Das war bisher nicht so. Für Verpackungen war ausschließlich das Duale System und für den Restmüll ausschließlich die Kommune zuständig. Wenn bei Wertstoffen nun eine neutrale Stelle zuständig ist, ist das ein
großer Vorteil.
({12})
Ich erwarte, dass Wertstoffe sowohl von den Kommunen
als auch von den Privaten sinnvoller und besser recycelt
werden.
Wir werden dafür sorgen, dass sich bei der gewerblichen Sammlung einiges entwickelt. Es hieß immer, dort
würde Rosinenpickerei betrieben. Herr Bollmann, das
haben wir doch dadurch verhindert, dass wir die Frist für
die Anzeigepflicht auf drei Monate - natürlich geht dies
nicht von einem Tag auf den nächsten - festgelegt haben
und den Mindestsammelzeitraum auf drei Jahre - am
Anfang war ein Jahr im Gespräch - erhöht haben.
({13})
Es ist nicht so, dass ein Privater hier schnell Geld verdienen kann, und kurz darauf, wenn die Wertstoffe wieder
billiger geworden sind, erneut die Kommune dafür zuständig ist. Zu Ihrer Information: Kein Mensch verbrennt Papier; denn dafür gibt es Geld. Wie erklären Sie
sich sonst, dass alle so scharf darauf sind, Papier zu sammeln? Herr Bollmann, daher war Ihr Beispiel nicht ganz
überzeugend.
({14})
Es gibt nun einmal leider auch Kommunen, die die
Probleme bei der Wertstofferfassung, vor allen Dingen
bei der Papiererfassung, nicht optimal lösen. Die, die es
nicht optimal lösen, wollen Sie trotzdem schützen, indem Sie, SPD und Grüne, ihnen die Möglichkeit geben,
komplett zu verhindern, dass Private einen besseren Service anbieten.
({15})
Das ist nicht nur aus Sicht des Verbrauchers eine Unverschämtheit, sondern auch ökologisch irrsinnig. In einiHorst Meierhofer
gen Gemeinden gibt es keine Papiertonnen. In solchen
Gemeinden sollen Private die Möglichkeit haben, diesen
Service anzubieten. Dies ist aus Sicht des Recyclings
und des Bürgers besser. Mir ist vollkommen unverständlich, was man dagegen haben kann.
({16})
Sie bekommen Unterstützung von Ihrem Kollegen
Ude aus München, der für den Deutschen Städtetag
spricht und der für die Kommunen in die Bresche
springt.
({17})
München hat aber in Deutschland die niedrigste Recyclingquote: 5 Kilogramm im Vergleich zu knapp 30 Kilogramm. Der Mann hat von Recycling keine Ahnung; das
weiß ich. Was den Rest angeht, hoffe ich, dass es nicht
so ist. Von Recycling hat er aber keine Ahnung.
({18})
Trotzdem erklärt er uns allen, wie man es besser machen
muss. Dann sind wir nämlich bei den Wertstoffhöfen. Da
hat er den Beweis noch nicht erbracht, Herr Bollmann.
Der Beweis wird erst noch zu erbringen sein.
({19})
Wenn es nicht funktioniert, möchte ich ein besseres Ergebnis haben.
Dieses Gesetz ist für die Kommunen besser, weil sie
Planungssicherheit haben. Es ist für die Kommunen gut,
weil jetzt endlich klar ist, was man darf und was nicht.
Wenn die Gebühren gefährdet sind, können die Kommunen den Wettbewerb ganz leicht mehr oder weniger
verhindern. Das ist etwas, worüber sich die Privaten beschwert haben. Wenn für den Verbraucher ein optimales
System bereitgestellt wird, kann ein Privater nicht in diesen Markt hinein. Die Kommunen haben Sicherheit ohne
Ende. Es wird keine Rosinenpickerei geben. Die Kommunen haben Möglichkeiten, über die die Privatwirtschaft ächzt.
Man sollte einmal zugeben, dass hier wirklich ein
Ausgleich gefunden wurde, den die Hauptgeschäftsführer aller kommunalen Spitzenverbände unterschrieben
haben.
({20})
Wenn die alle damit leben können, dann würde es mich
doch sehr wundern, wenn nicht auch die SPD in der
Lage wäre, zuzustimmen - es sei denn, wegen Scheuklappen und um einfach Nein zu sagen.
({21})
- Die haben gesagt, sie seien einverstanden.
({22})
Zitieren Sie einmal, was der BDE gesagt hat. Er hat erklärt, es sei unzumutbar.
Das Entscheidende ist doch, dass man in einem Kompromiss zwei verschiedene Seiten zusammenbringt und
am Schluss jeder sagt: Unter Bauchschmerzen kann ich
zustimmen. - Das ist der Status quo, den wir hier erreichen müssen. Sie können sich natürlich auf eine Seite
stellen.
({23})
- Im Gegenteil: Es wird günstiger. Das werden Sie auch
noch sehen.
({24})
Die Frage der Wertstoffhöfe ist gerade für uns in
Bayern entscheidend. Bei uns gibt es viele Kommunen
und Landkreise, die überhaupt kein Holsystem haben.
Wir hatten natürlich auch in der Koalition unterschiedliche Meinungen und haben uns verständigt, wie wir es
hinbekommen. Wir haben gesagt: Wir wollen die Wertstoffhöfe nicht zerschlagen, sondern wir wollen, dass die
Wertstoffhöfe es auch weiterhin machen können.
Uns geht es darum, eine Wertstofferfassung von
höchster Qualität zu erreichen. Deswegen steht in unserem Gesetzentwurf auch: Wertstoffhöfe oder Wertstofferfassung vergleichbarer Qualität. - Das fordere ich ein.
Die Qualität muss vergleichbar sein. Einfach nur zu sagen: „Wir wollen ein System beibehalten“ - es führt, wie
im Fall des geschätzten Oberbürgermeisters Ude, zu einem Sechstel der Sammelmengen -, reicht uns nicht. Es
muss nachgewiesen werden, dass die gleichen Mengen
und die gleiche Qualität erreicht werden. Von der Reinheit her ist es meist sogar ein bisschen besser. Zum
Schluss müssen wir es bewerten. Dann kommen wir zu
einem Ergebnis.
Wir machen nichts kaputt, sondern versuchen, das
Beste für den Verbraucher herauszuholen. Das lassen Sie
völlig unberücksichtigt bei Ihren tumben Vorwürfen, die
leider nichts mit der Realität zu tun haben.
({25})
Einen letzten Punkt will ich noch ansprechen. Ich
habe gesagt, dass dies alles gut für die Wirtschaft, die
Kommunen und vor allem die Umwelt ist. Man sollte
aber vielleicht nicht ganz außer Acht lassen, dass es für
den Verbraucher besser ist. Für den Verbraucher ist es
dann am besten, wenn ein höchst qualitatives Recycling
erreicht wird und er es möglichst bequem hat, damit er
das Angebot auch nutzt. Das ist nämlich der Unterschied. Dort, wo es ein gutes Angebot gibt, ist auch die
Recyclingquote höher.
Das Ganze muss auch verständlich sein. An dieser
Stelle muss man selbstkritisch anmerken, dass es bisher
nicht verständlich war, wenn zwar eine Plastiktüte, in
der ein Legostein verpackt war, recycelt wurde, der Le16310
gostein aber in den Restmüll geworfen wurde. Das ist
der Status quo bei der momentanen Verpackungssammlung. Es muss in Zukunft so sein, dass wir uns daran
orientieren, was ein Wertstoff ist. Wenn es ein Wertstoff
ist, müssen wir ihn möglichst gut recyceln.
Eine solche Verbesserung gegenüber dem Status quo
haben Sie in den sieben Jahren Verantwortung von RotGrün und auch später nicht hinbekommen. Deswegen
sind wir auch besonders stolz; denn wir holen ökologisch mehr heraus, als Sie sich jemals zugetraut hätten.
({26})
Es muss ein einfaches System sein, es muss ein klares
System sein. Es muss auch so sein, dass derjenige, der
sich nicht an die Spielregeln hält, stark bestraft wird. Wir
haben für die schwarzen Schafe die Strafsätze deutlich
erhöht.
Wir schaffen mehr Bürger- und Informationsrechte
- dies gilt auch für die kleinen und mittleren Unternehmen -, indem wir die Kommunen dazu auffordern, ihre
Beratungstätigkeiten in Bezug auf Müll deutlich nach
vorne zu bringen. Alles in allem ist das für alle Beteiligten deutlich besser.
Das Letzte, was mir von Rot-Grün in Erinnerung geblieben ist - das ist auch das Einzige im Bereich Abfall
und Wertstoffe, woran ich mich erinnere -, war der Versuch des Dosenpfandes. Die Situation ist im Endeffekt
deutlich schlechter geworden als vorher. Man wollte die
Mehrwegquote stärken. Erreicht hat man eine Mehrwegquote, die so niedrig ist wie nie. Erreicht hat man ein Revival der Dose. Erreicht hat man Einweg ohne Ende.
({27})
Das ist Ihr Erfolg gewesen.
Wir werden vergleichen, was unser Erfolg ist. Das,
was Sie gemacht haben, wäre etwas für die Tonne gewesen. Mit dem, was wir machen, tun wir etwas für die
Wertstoffe. Sie haben bis jetzt nichts nachgewiesen - außer dagegen zu sein. Ich bin gespannt auf Ihre Debattenbeiträge.
Herzlichen Dank.
({28})
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Überarbeitung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes, die wir heute beschließen,
wird von der Regierungskoalition als Kompromiss aller
Beteiligten verkauft. Lassen Sie mich eines klarstellen:
Das ist Müll.
({0})
In Wirklichkeit wollten Sie mit Ihrem Entwurf privaten Abfallfirmen das lukrative Geschäft mit Wertstoffen
aus dem Hausmüll zuschanzen. Das hat aber zu viel
Staub in den Kommunen aufgewirbelt, weil diese dadurch Einnahmen verlieren würden. Deshalb mussten
Sie auf diesen Druck mit Änderungen reagieren. Wahrscheinlich war den zuständigen Ministerien bewusst,
dass auch die Bürgermeister der Union nicht einfach zusehen, wenn man ihren kommunalen Eigenbetrieben
Einnahmen in Höhe von rund 800 Millionen Euro aus
dem Verkauf von Altpapier und Metallschrott wegnimmt.
({1})
Denn etwa 10 Prozent der Kosten der Abfallbeseitigung
wurden und werden durch diese Einnahmen gedeckt.
Kein Bürgermeister erhöht gern die Müllgebühren, aber
eine Erhöhung wäre unumgänglich gewesen.
Darum hat die Regierung bis kurz vor Ladenschluss
so getan, als ob das Abschaffen der kommunalen Abfallwirtschaft zugunsten der Privatwirtschaft eine unveränderliche europäische Vorgabe ohne Wenn und Aber ist.
So eine plumpe Privatisierungsmasche ist mir selten untergekommen.
({2})
Für die EU ist die Abfallhierarchie entscheidend. Dabei steht die Abfallvermeidung über der Wiederverwendung. Diese steht wiederum über der stofflichen Verwertung. Erst dann kommen die Verbrennung und zuletzt die
Entsorgung des Abfalls. Warum nur erzählen deutsche
Vertreter in Brüssel, dass die Abfallhierarchie im Gesetzentwurf wegen der kommunalen Entsorger verletzt
werde? Weil sie ihre Müllverbrennungsanlagen auslasten wollen. Völlig überraschend wird dann von diesen
Vertretern eine Privatisierung der Abfallwirtschaft vorgeschlagen. So macht man keine Gesetze.
({3})
Hier sollten die Bürgerinnen und Bürger für zusätzliche
Profite der gewerblichen Müllindustrie zahlen. Nicht mit
uns!
Wer wie ich die Themen Abfall und Wertstofftonne
verfolgt, dem blieb nicht verborgen: In den Augen der
Verantwortlichen der privaten Abfallindustrie blinken
dank Schwarz-Gelb die Dollarzeichen. Liebe Chefs von
Banken, Hotels und privaten Entsorgern: Diese Regierung steht fest an Ihrer Seite. Ich sage: Diese Politik ist
Müll.
({4})
Die Linke kämpfte, zusammen mit anderen Oppositionsparteien, mit Hunderten Kommunalvertretungen,
Kreistagungen und Stadträten, für eine kommunale Abfallentsorgung. Diese Entsorgung beinhaltet alle wertvollen Abfallbestandteile wie Papier, Glas und Metalle.
Der Kampf hat sich gelohnt. Denn die Koalitionsfraktionen stärkten in letzter Minute die Position der öffentlichen Entsorger. Dafür danke.
Warum aber konnten Sie sich nicht vollständig zu den
Kommunen bekennen? Die eingeführten Wirtschaftlichkeitskriterien bei der Wertstofferfassung öffnen eine
Hintertür für die privaten Entsorger. Wer billig ist, gewinnt die Wertstofferfassung. Seien Sie offen: Sie spielen den tariflich bezahlten Angestellten, den öffentlichen
Müllmann, gegen den Leiharbeiter beim privaten Entsorger aus.
({5})
Mit Preisvorteilen durch Lohndumping ermöglichen
Sie Konzernen wie Veolia und ALBA erneut den Zugriff
auf die Wertstoffentsorgung. Das muss die Linke einfach
verhindern.
({6})
Mal ganz nebenbei: Viele meiner heimatlichen Thüringer Kommunen werden diese Hintertürenteignung
nicht dulden und sich gerichtlich wehren. Dieses zusammengeschusterte Gesetz wird eine teure Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwälte und Richter. Das lehnen
wir ab.
({7})
Auch im Hinblick auf den Umweltschutz ergibt dieses
Gesetz ein differenziertes Bild. Positivem, wie dem Vermischungs- sowie Verdünnungsverbot für gefährliche
Abfälle, steht die Nichteinhaltung der Abfallhierarchie
gegenüber.
({8})
Die Koalitionsfraktionen haben Etliches am Entwurf der
Regierung verbessert, aber zu einem zukunftsweisenden
Gesetz fehlte der Mut.
({9})
Wir wollen ein anderes Abfall- und Kreislaufwirtschaftssystem. Deshalb bringen wir unseren Entschließungsantrag ein. Darin fordern wir ein System, das eine
bestmögliche Übereinstimmung zwischen den Lebensverhältnissen der Bevölkerung, den Arbeitsbedingungen
der Beschäftigten und den Erfordernissen der Umwelt
ermöglicht. Das bedeutet, die Abfallwirtschaft für Siedlungsabfälle unter kommunaler Hoheit zu organisieren,
und zwar mit fairen Löhnen bei guten Arbeitsbedingungen.
({10})
Einer konsequenten Einhaltung der Abfallhierarchie
stehen reine Profitinteressen im Weg. Der private Betreiber einer Müllverbrennungsanlage verdient mit dem
Auslastungsgrad seiner Anlage mehr oder weniger Geld.
An Müllvermeidung, an stofflichem Verwerten ist er definitiv nicht interessiert.
Die beste Möglichkeit zur Einhaltung der Abfallhierarchie liegt aus unserer Sicht in der Hoheit der Kommunen. Aber auch diese müssen auf die tatsächlich anfallenden Abfallmengen eingestellt werden. Das ergibt
Probleme, weil bei steigendem stofflichen Recycling, erfolgreicher Abfallvermeidung und den schon jetzt bestehenden privaten und öffentlichen Überkapazitäten in
Müllverbrennungsanlagen und Restbrennstoffkraftwerken die zu verbrennenden Abfallmengen zukünftig deutlich zurückgehen. Deshalb müssen ab sofort der Neubau
weiterer Verbrennungskapazitäten und die Mitverfeuerung, zum Beispiel in Stahlwerken und Zementfabriken,
eingestellt werden.
({11})
Jetzt können Sie, meine Damen und Herren von den
anderen Fraktionen, schon einmal zum Protest ausholen:
Ohne langfristige Planung der Kapazitäten geht es in der
Abfallwirtschaft nicht. Sonst laufen die Kommunen Gefahr, durch mangelnde Abstimmung in überdimensionierte Kapazitäten zu investieren.
Die Abfallvermeidung muss eine zentrale Rolle spielen. Dies lässt sich durch Ressourcenverbrauchsabgaben
und durch Bonussysteme bei der Wiederverwendung
von Altprodukten erreichen.
Das Duale System, bekannt als der Grüne Punkt, ist
eine unbeherrschbare Krake und gehört abgeschafft.
({12})
Das Duale System organisiert Sammlung, Sortierung
und Verwertung von Abfällen. Dafür kaufen die Hersteller von Verpackungen Lizenzen für das Vertreiben von
Verpackungen entsprechend der Art und Menge der Verpackungen. Nach dem Kauf der Lizenz darf der Grüne
Punkt auf die Verpackung.
Betrüger drucken den Punkt auch ohne Bezahlung
auf. Seit Jahren ist das Duale System nicht in der Lage,
den Missbrauch des Systems durch unehrliche Firmen zu
unterbinden. Für etwa die Hälfte der in Verkehr gebrachten Verpackungen wurde der aufgedruckte Grüne Punkt
nicht bezahlt. Bis jetzt gehen weder die Dualen Systeme
noch die Behörden ernsthaft gegen die Betrüger vor.
Damit Ehrlichkeit nicht länger bestraft wird, setzt die
Linke auf eine Verpackungsabgabe. Diese muss zweckgebunden zur Finanzierung einer kommunalen Erfassung und der anschließenden Verwertung der Verpackungen eingesetzt werden und wird wie eine Steuer
eingetrieben.
({13})
Damit wird das Duale System mit seiner bürokratischen
Lizenzierung überflüssig. Diese betrügerische Profitquelle gehört abgeschafft.
({14})
In 1 Tonne alter Mobiltelefone stecken fast 70 Kilogramm Kupfer. Das sind 20 Kilogramm mehr als in
1 Tonne Kupfererz. Zusammen mit Gold, Silber, Nickel,
Aluminium und Eisen haben diese sogenannten Sekundärrohstoffe deutschlandweit einen jährlichen Wert von
über 6 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Die Einrichtung von Pfandsystemen für technische Geräte würde
eine saubere Erfassung von Altgeräten wie Handys sowie die Möglichkeit der Wiederverwendung und die
Nutzung der enthaltenen Wertstoffe ermöglichen.
Auf dem Weg zu einer sozial-ökologischen Gesellschaft sind Pfandsysteme Teil einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise. Übrigens: In diesem Bereich war
der VEB SERO, was seine Quoten betrifft, deutlich weiter als Sie mit dem, was Sie hier anstreben.
({15})
Unser Entschließungsantrag stärkt die kommunalen
Abfallbetriebe, reduziert den Ressourcenverbrauch und
schafft gute Arbeitsplätze in der regionalen Kreislaufwirtschaft.
({16})
Der Entwurf der Koalition jedoch sichert die Profite der
Entsorgungskonzerne zulasten der Kommunen und Bürger. Alles in allem muss die Linke Ihren Entwurf eines
Kreislaufwirtschaftsgesetzes trotz der Verbesserungen in
letzter Minute ablehnen.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Dorothea Steiner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben den Umweltminister gehört: Mehr Wachstum mit
weniger Ressourcen erzeugen, das ist der progressive
Ansatz in der Abfallpolitik. Das teilen wir und stellen an
die Abfallgesetzgebung einen hohen Anspruch. Wir wollen uns von der Wegwerfgesellschaft zur Recyclinggesellschaft entwickeln; denn Abfälle sind Ressourcen,
die wir wieder nutzen können.
({0})
Das betrifft uns alle: Politik, Industrie, Handel, Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir alle müssen einen
Beitrag zu mehr Kreislaufwirtschaft leisten, indem wir
Abfälle vermeiden, Abfälle, die sich nicht vermeiden
lassen, konsequenter getrennt sammeln und mit hoher
Qualität recyceln, Produkte, die noch funktionsfähig
sind, nicht auf Nimmerwiedersehen entsorgen und alle
wertvollen Rohstoffe zurückgewinnen und sie wieder
nutzen. Nur dann, wenn wir das alles beachten, kommen
wir eines Tages zu einer echten Kreislaufwirtschaft.
({1})
Das neue Abfallgesetz könnte dazu ambitionierte
Ziele vorgeben und einen wirksamen Impuls für mehr
Recycling setzen. Das hat uns auch Herr Röttgen fast im
Predigerstil vorgetragen.
({2})
Ich sage Ihnen: Diese Chance haben Sie mit diesem Gesetzentwurf vertan. Diesen Anforderungen, die Sie selbst
formuliert haben, werden Sie mit diesem Gesetzentwurf
nicht gerecht.
({3})
Eine zukunftsfähige Abfallwirtschaft muss nämlich
Ressourceneffizienz, Umweltverträglichkeit und Klimaschutz zum Ziel haben. Zu Klimaschutz findet sich in
dem gesamten Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb überhaupt nichts. Zwar weiß das Bundesumweltministerium,
dass die Abfallwirtschaft einen erheblichen Beitrag zum
Erreichen der Klimaschutzziele der Bundesregierung
leisten muss. Aber wie sollen das bitte auch die Bürgerinnen und Bürger erfahren, wenn das nicht einmal im
Gesetz steht?
({4})
Reicht es Ihnen vielleicht aus, dass das Umweltministerium eine Broschüre mit dem Titel Recycling stoppt
Treibhausgase herausgibt? Ich finde, das reicht nicht.
Hier muss mehr aufgeklärt und diskutiert werden.
({5})
Ich will Ihnen kurz zwei Beispiele für Klimaschutz
im Abfallbereich nennen:
Erstens. Wenn wir das heute mehrfach erwähnte Altpapier richtig recyceln, werden unsere Treibhausgasemissionen um 5,9 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente
pro Jahr gesenkt.
({6})
Bis 2020 kann man das ohne Probleme auf 8,2 Millionen
Tonnen pro Jahr steigern.
Zweitens. Durch eine einfache Wertstofftonne - nur für
Verpackungen und stoffgleiche Nichtverpackungen kann man im Vergleich zum gelben Sack 92 Prozent mehr
Emissionen pro Jahr einsparen - von aktuell 2,3 Millionen
Tonnen CO2-Äquivalente auf über 4,3 Millionen Tonnen
in 2020.
({7})
Ich sage Ihnen: Wir sind kein Gegner der Wertstofftonne - mitnichten. Wir fordern sie auch und begrüßen
sie, aber erwecken Sie hier doch nicht den Eindruck, wir
würden heute - das lese und höre ich die ganze Zeit; Sie
sagen es auch - eine gesetzliche Regelung für die Wertstofftonne verabschieden.
({8})
Wenn sie Ihnen wirklich so wichtig wäre, dann hätten
Sie es nach den zwei Jahren, in denen Sie sich mit der
Wertstofftonne beschäftigt haben, bis heute zu einem
Konzept gebracht.
({9})
Aber nein, erst im nächsten Jahr soll sie mit dem Wertstoffgesetz endlich kommen. Viel Vergnügen! Bis dahin
werden wir uns über die Zusammensetzung noch ordentlich unterhalten müssen.
({10})
Meine Damen und Herren, auch der Umweltschutz
kommt im Gesetzentwurf zu kurz, weil die Abfallvermeidung gering geachtet wird. Sie alle wissen: Der beste
Abfall ist der, der gar nicht erst anfällt. Ich sage Ihnen:
Wir müssen unsere Wegwerfgesellschaft gründlich umkrempeln, die sinnlose Verpackungsflut eindämmen und
ein abfallarmes Produktdesign durchsetzen. Hier müssen
alle an einem Strang ziehen.
({11})
Ich frage Sie: Wann erhöhen wir endlich die Reparaturfähigkeit und die Langlebigkeit von Produkten? Es
gibt bereits jetzt genügend Beispiele dafür - aber eben
punktuell -, wie soziale Betriebe aus Alt wieder Neu
machen: Möbel aufarbeiten, Fahrräder aufarbeiten, PCs
reparieren. Dabei schaffen sie ganz nebenbei die dringend benötigten Arbeitsplätze für auf dem Arbeitsmarkt
Benachteiligte und sichern bereits vorhandene. Das
muss man ausweiten.
({12})
Wir haben Ihnen zu einem anderen Punkt einen konkreten Vorschlag gemacht, nämlich zur Reduzierung der
Plastiktüten auf Erdölbasis - immer unter dem Gesichtspunkt „Wegwerfgesellschaft“. Eine Umweltabgabe auf
diese Plastiktüten hat zum Beispiel in Irland innerhalb
von fünf Jahren zu einem Rückgang der Zahl dieser Tüten von über 90 Prozent geführt. Ohne Probleme sind irische Bürger auf wiederverwendbare Einkaufstaschen
umgestiegen. Wir ziehen daraus die Konsequenz, dass
wir eine solche Umweltabgabe auf Plastiktüten auf Erdölbasis auch als Instrument für Deutschland vorschlagen
({13})
Für die Plastikfetischisten in der FDP:
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Michael Kauch
({14}): Was wissen Sie denn, was wir für einen
Fetisch haben?
Niemand würde dazu gezwungen, Plastiktüten mit Umweltabgabe zu kaufen, da es ja genügend Alternativen
für Umsteiger gibt.
({15})
Ich muss sie hier nicht alle aufzählen. Das geht von der
Papiertasche über die Stofftasche bis hin zum einfachen
Einkaufskorb, den man auch einmal zum Einkaufen mitnehmen kann. Deswegen brauchen Sie hier gar nicht
lange über Zwangsabgaben herzuziehen.
Wir denken, die Einnahmen aus dieser Abgabe - das
ist der Vorteil, wenn eine Abgabe zweckgebunden ist kann man für die Förderung umweltverträglicher Verpackungen, für Öffentlichkeitsarbeit, für Abfallvermeidung
und für die höhere Qualität des Kunststoffrecyclings verwenden.
Ich sage Ihnen eines: Wer heute seine Plastiktüten guten Gewissens in den gelben Sack steckt, der sollte wissen, dass große Teile davon verbrannt werden - auch
hier sind es weit über 50 Prozent -, dass viele Ballen gepresster Plastikmüll in Osteuropa oder China landen und
dass in den Müllteppichen auf den Meeren auch Plastiktüten aus Deutschland herumtreiben. Damit muss
Schluss sein, wenn wir nicht tatsächlich zu einem Plastic
Planet werden wollen.
({16})
Beim Ressourcenschutz produziert die Regierung viel
heiße Luft. Umweltminister Röttgen hat sich vorhin über
Ressourcenschutz in dem Sinne geäußert, wie wir das
auch tun, und betont, wie sehr ihm das Thema am Herzen liegt. Da sage ich nur: Dann machen Sie doch mal!
Mit diesem Gesetz könnten Sie viel für den Ressourcenschutz tun, aber Sie tun es nicht. Stattdessen gibt es wieder heiße Luft, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie öffnen nämlich der Verbrennung wertvoller Ressourcen Tür und Tor, indem Sie als Grenzen für die energetische Verwertung 11 000 Kilojoule festlegen. Dabei können theoretisch Altpapier, Altöl und Plastik einfach in
den Ofen; all dies sind Stoffe, die sich gut recyceln lassen. Das ist ein schwerer Fehler. Ich hoffe, dass Ihnen
die EU bei diesem Vorhaben ordentlich auf die Finger
klopfen wird.
({17})
Zu den Reyclingquoten möchte ich nicht mehr sehr
viel sagen, weil dies vom Kollegen Bollmann von der
SPD schon deutlich benannt worden ist. Eine Steigerung
um 1 Prozentpunkt in zwölf Jahren ist wirklich kein ambitioniertes Ziel. Zurzeit liegt die Quote bei 64 Prozent.
Sie wollen eine Quote von 65 Prozent erreichen, verteilt
auf zwölf Jahre. Was soll daran ein großer Wurf sein?
({18})
Auch stellen Sie keinerlei Anforderungen an die Qualität des Recyclings. So ist Ressourcenschutz bei Ihnen
nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Damit, Herr Minister Röttgen, machen Sie sich unglaubwürdig.
({19})
Letztes Thema, um das viel gestritten wurde und
- das prophezeie ich Ihnen - noch weiter gestritten werden wird: Wer hat Zugriff auf den wertvollen Abfall?
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, mit
den Regelungen in Ihrem Entwurf wird eine Bresche für
den Vormarsch großer privater Entsorgungsunternehmen
unter dem Deckmantel des freien Wettbewerbs geschlagen.
({20})
Was bedeutet das in der Realität? Die Kommunen
müssen sich um den ganzen Abfall kümmern, die Tonnen müssen geleert werden, illegale Müllhalden müssen
beseitigt werden, und auch nach Großveranstaltungen
müssen die Kommunen den Müll entsorgen.
({21})
- Sie sind doch gleich an der Reihe, Herr Brand. Sie
müssen doch nicht dauernd ein Koreferat halten, während ich rede.
({22})
Nach dem Entwurf der Regierung soll es den gewinnorientierten, privaten Unternehmen de facto freigestellt
werden, alle profitablen Abfälle aus dem Abfall herauszunehmen, und zwar über Sammlungen parallel zu
denen der Kommunen, um die Rohstoffe, die etwas einbringen, herauszuholen und wiederzuverkaufen. Die Unternehmen müssen es nur noch anzeigen. Das hebelt sogar die bisherige eher restriktive Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts aus, in der zum Beispiel beim
Altpapier festgelegt war, dass - wenigstens bisher - parallele Sammlungen von Genehmigungen abhängig sind.
Ich sage Ihnen: Dieser Pseudokompromiss ist eine „Lex
Gelbe Tonne plus“ für DSD und andere große Unternehmen. Das gibt es mit uns nicht.
({23})
Die Kommunen - das wissen wir - wären dann für
die Reste zuständig, für das, was nichts wert ist. Gewinne aus werthaltigem Abfall fallen weg. Damit steigen zwangsläufig die Müllgebühren für alle Bürgerinnen
und Bürger - für die Gewinne einiger weniger großer
Unternehmen. Darauf wird es hinauslaufen. Das, meine
Damen und Herren von der FDP, nenne ich eine
Zwangsabgabe, die vor allem die Wettbewerbspartei
FDP Bürgerinnen und Bürgern verordnet.
({24})
Wir haben feststellen können, dass sich auch im Bundesrat eine Mehrheit vehement gegen diesen Vorschlag
der Regierung ausspricht. Wir warten gespannt auf die
Verhandlungen über dieses Gesetz und wünschen den
Bundesländern dabei viel Erfolg.
Ich kann dazu nur kurz und schmerzlos sagen - das
ergibt sich logisch aus dem, was ich ausgeführt habe -:
Diesen Gesetzentwurf müssen wir als Grüne ablehnen.
Mit unseren Vorschlägen kämen wir sehr viel weiter.
Vielen Dank.
({25})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Brand für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Christian Ude lobte die Koalition, und recht hat er. Liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich weiß nicht, ob
Sie die Botschaft der Kommunen und der Länder bis ins
Willy-Brandt-Haus gehört haben: Die Kommunen begrüßen diesen Kompromiss.
({0})
Liebe Frau Steiner, wenn das für die Kommunen
wirklich alles so schlimm wäre, dann frage ich mich, warum die Kommunen diesem Kompromiss zugestimmt
haben.
({1})
Bei Ihrer Rede fällt mir nur Wilhelm Busch ein:
Wer durch des Argwohns Brille schaut,
sieht Raupen selbst im Sauerkraut.
Das Kreislaufwirtschaftsgesetz war eine schwere Geburt mit viel Lobbyismus, der uns Abgeordneten und der
Bundesregierung über Monate um die Ohren flog. Nun
können wir sagen: Ein gutes Gesetz hat das Licht der
Welt erblickt. Die Umsetzung des europäischen Abfallrechts ist auf typisch deutsche Weise gut gelungen: Wir
reden von Kreislaufwirtschaft, nicht von Abfall. Wir setzen hohe Umweltstandards und bauen sie aus. Wir steuern mit dem Wertstoffgesetz, das wir als nächstes großes
Projekt im nächsten Jahr beraten und beschließen werden, eine weitere qualitative Stufe an.
Das Thema Abfall betrifft Millionen von Menschen,
jeden Haushalt und jedes Unternehmen. Die Bedeutung
des schonungsvollen Umgangs mit natürlichen Ressourcen kennt in Deutschland schon jedes Kind. Bei der ersten Stufe, der Vermeidung von Abfall, haben wir noch
aufzuholen. Auch das kann man mit dem neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz leisten.
Wir setzen die neue fünfstufige Abfallhierarchie der
EU konsequent und auf hohem Niveau um. Es sind
Grundprinzipien des deutschen Umweltansatzes, die unter den deutschen Umweltministern - der frühere Umweltminister Klaus Töpfer wurde ja bereits genannt - in
diese europäische Gesetzgebung stark eingeflossen sind.
Bei der Umsetzung des EU-Rechts in deutsches Recht
sind wir umso mehr gehalten, das EU-Recht zu achten
und nicht zu missachten. Dies hat die Koalition insbesondere bei dem fairen Ausgleich zwischen kommunaler
Daseinsvorsorge und privatwirtschaftlichem Engagement zu beachten gehabt. Sicher, es gab, weil es beiden
Seiten neben und manchmal auch vor der Umwelt ums
liebe Geld geht, Maximalpositionen, die nicht gangbar
sind. Umso mehr ist dem Bundesumweltminister dafür
zu danken, dass er in seiner typischen Art Ruhe und
Übersicht bewahrt und sich die Argumente offen angehört hat.
({2})
- Das ist die Realität, Frau Steiner. Sie müssen den Gesetzentwurf lesen: 48 Änderungen seit der Anhörung.
Dass seitdem nichts passiert ist, wie Sie behauptet haben, ist schlicht falsch.
Wir haben insbesondere als Union immer wieder sowohl den Kommunen als auch den Privaten gesagt, dass
wir einen fairen Ausgleich und Rechtssicherheit für alle
Beteiligten anstreben. Wir haben zur Kompromissfähigkeit gemahnt und öffentlich wie nichtöffentlich dafür
viel Zeit und Mühe in viele Gespräche und auch Papiere
investiert.
Heute können wir sagen: Es hat sich gelohnt. Der
Konsens mit den Kommunen war der Union als größter
Kommunalpartei in Deutschland immer wichtig. Wir haben ihn erreicht, und darauf sind wir stolz.
({3})
Dass die kommunalen Spitzenverbände gestern den heutigen Beschluss begrüßt haben und sich die kommunale
Familie hinter den Kompromiss stellt, ist ein großartiger
Erfolg nach intensiven Gesprächen mit allen Beteiligten.
Manche wollten Vollkommunalisierung - Herr
Bollmann hat dies heute wieder gefordert - statt EURecht. Dies hätte nicht nur niemandem geholfen, sondern auch große Risiken für die Kommunen gebracht.
Als Union sehen wir natürlich, dass sich jede Seite bewegen musste, soweit das EU-Recht dies zulässt. Gerade
bei dem umstrittenen Thema gewerbliche Sammlung ist
der Wurf gelungen, nämlich private Sammlungen und
fairen Wettbewerb zu ermöglichen, und dabei die kommunale Selbstverwaltung und die Daseinsvorsorge auf
Dauer rechtssicher zu gestalten.
Dass wir bei vielen Einzelfragen wie der Verwendung
von Wirtschaftsdünger, Biogasanlagen und anderen Fragen nicht allen Wünschen aller Betroffenen entgegenkommen konnten, liegt in der Natur der Sache. Dabei haben wir großen Wert darauf gelegt, dass bei neuen
Vorgaben der bürokratische Aufwand in minimalen
Grenzen bleibt und dass die Länder im Vollzug die nötige Flexibilität erhalten.
Insgesamt - das ist sicher Konsens hier im Hause wollen wir eine neue Qualität erreichen: Wir wollen immer weiter weg von der Wegwerfgesellschaft, und wir
wollen den Weg in die Recyclinggesellschaft zügig weitergehen.
({4})
Dazu zählt auch, dass wir den Weg zu hochwertiger Verwertung stärken, die Kaskadennutzung fördern und die
Abfallvermeidung umsetzen werden, um nur wenige
Elemente herauszugreifen.
Die flächendeckende Einführung der Biotonne wird
ebenso ein wesentlicher Markstein werden wie die einheitliche Wertstofftonne, die wir in einem eigenen Wertstoffgesetz verankern werden, das die Verpackungsverordnung ablöst. Dadurch werden wir wertvolle
Rohstoffe aus Kunststoff und Metall aus den privaten
Haushalten zurückgewinnen, statt sie zu verbrennen.
In einem Einzelfall haben wir als Abgeordnete aus
besonderem Grund eine besondere Freude darüber, dass
das Umweltministerium unseren Argumenten gefolgt ist:
Die gemeinnützige Sammlung, zum Beispiel von Sportvereinen, Jugendgruppen, kirchlichen Gruppen wie zum
Beispiel Kolping und anderen ehrenamtlichen Organisationen, konnten wir dauerhaft absichern. Uns war das
deshalb sehr wichtig, weil wir das ehrenamtliche Engagement gerade im Bereich Umwelt nicht durch bürokratische Auflagen erstickt sehen wollen. Es ist eine gute
Geste der Regierung, hier dem Ehrenamt vor Ort die
Möglichkeiten für die Zukunft gesichert zu haben. Auch
dafür ein herzlicher Dank!
({5})
Ich weiß sehr wohl, dass manche enttäuscht sind. Das
wurde in der Debatte bei allen Rednern der Opposition
deutlich. Sie lassen die Ohren hängen, weil der Kompromiss geschafft worden ist und Sie mehr auf den Konflikt
der Kommunen mit der Regierung als auf Konsens gesetzt haben. Wer das erwartet hat, muss aber wissen: Die
Union ist auch beim Schutz der Umwelt die Partei des
Mittelstandes und des fairen Wettbewerbs, der die wichtigen Innovationen bringt.
({6})
Schließlich sind wir die Partei der sozialen Marktwirtschaft. Aber die Union hat auch - das ist ebenso wichtig ein kommunales Herz und eine kommunale Seele. Das
sage ich als Kreistagsabgeordneter in Fulda, der auch
dort mit Abfallpolitik befasst ist.
Wir waren immer gegen die Extreme. Das unterscheidet uns von Ihnen, Frau Steiner. Wir wollen bei der Abfallwirtschaft weder die Vollprivatisierung noch die
Vollkommunalisierung, weil diese Vorstellungen der
Umwelt, der Wirtschaft und den Gebührenzahlern nicht
helfen. Heute geht mein Appell an die andere große
Kommunalpartei, die SPD, dem Ansinnen der Kommunen Rechnung zu tragen
({7})
und sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat den
Weg freizumachen für eine qualitativ hochwertige Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie. Wir haben den Konsens mit den Kommunen,
({8})
und die SPD darf den Kommunen jetzt nicht in den Rücken fallen. Die SPD-geführten Länder haben sich hier
als Anwalt der Kommunen präsentiert. Jetzt muss das
Wort der SPD auch gelten. Wenn Sie nicht auf mich hören wollen, dann hören Sie auf Herrn Ude - er ist bekanntlich Oberbürgermeister in München und der SPD
angehörig - und viele andere Sozialdemokraten. Wir
sind bis an die Grenzen des EU-Rechts gegangen. Jetzt
muss die SPD einen wichtigen Schritt tun; denn Kommunen und Mittelstand wollen diesen Kompromiss.
({9})
Deutschland wird mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz
einen großen Schritt auf dem Weg in die Recyclinggesellschaft machen. Wir haben bei schwerer Geburt ein gutes
Gesetz aus der Taufe gehoben.
({10})
Es wird Zeit, dass die Botschaft, die Ihnen die Kommunen gesendet haben, bei Ihnen endlich ankommt. Legen
Sie die Ideologie beiseite, und gehen Sie zur Sache über!
({11})
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Brand, ich kann Sie beruhigen: Die Kommunen werden sich auf die Sozialdemokratie verlassen.
Wir werden die Bedenken, die die vier Spitzenvertreter
geäußert haben, sehr ernst nehmen und gerade deswegen
dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({0})
Sie haben dargelegt, dass fairer Wettbewerb zu einer
Verbesserung führt. Ich glaube, dass es sich auch hier um
einen ideologischen Punkt handelt. Wir haben erst vor
wenigen Stunden hier festgestellt, dass der Markt eben
nicht alles regelt.
({1})
Angesichts einer der entscheidenden Zukunftsherausforderungen sagen der Bundesumweltminister, die FDP,
große Teile der CDU und einige Abgeordnete der CSU:
Der faire Wettbewerb soll es regeln. - Ich sage Ihnen:
Der faire Wettbewerb wird es nicht regeln. Er wird die
Daseinsvorsorge nicht sicherstellen. Deswegen schlagen
Sie mit Ihrem Gesetz einen falschen Weg ein.
({2})
Die Rosinenpickerei, die wir in den letzten Jahren
landauf, landab erlebt haben, beenden Sie nicht. Auf
Druck der Kommunalverbände legen Sie ein Netz über
die Rosinen. Aber dieses Netz hat große Löcher.
({3})
Wir werden in den nächsten Monaten erleben: Es wird
Rechtsstreitigkeiten ohne Ende geben. Sie schaffen mit
diesem Gesetz alles andere als Planungssicherheit.
({4})
Da Sie sich hinter dem Europarecht verstecken - so
ist es meistens, Herr Liebing -, kann ich Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich einmal an, wie beispielsweise
Österreich die Abfallhierarchie organisiert. Sie werden
feststellen, dass es da nicht um Wettbewerb, sondern um
die Daseinsvorsorge geht. Die Kommission prangert das
dort geltende Gesetz nicht an. Daran hätte sich die Bundesregierung orientieren sollen.
({5})
Ich weiß nicht, ob so etwas schon einmal in der Bundesrepublik Deutschland passiert ist, aber das, was Sie
hier machen, ist in der Tat ein Paradigmenwechsel. Ich
hätte mich gerne mit dem Bundesumweltminister - weil
Herr Röttgen auch Jurist ist; er ist aber nicht mehr da darüber gestritten
({6})
- Entschuldigung, er ist da und hört auch zu -, was es eigentlich mit dem neuen § 17 KrWG auf sich hat; denn
hier passiert etwas, was ich jedenfalls in dieser Form
noch nicht erlebt habe. In den ersten Absätzen wird die
Daseinsvorsorge gelobt und werden die öffentlichen Interessen hervorgehoben. Aber in Abs. 3 heißt es plötzlich - das wird entscheidend sein -, dass Gebührenstabilität und überwiegende öffentliche Interessen nicht mehr
gelten sollen, wenn die Kommune nicht in der Lage ist,
eine höherwertige Leistung zu erbringen. Was kann eigentlich öffentliche Interessen infrage stellen? Das ist
die Grundfrage, die wir uns in diesem Hause stellen
müssen.
({7})
Wir müssen uns fragen, Herr Döring, was „höherwertig“ eigentlich heißt, wenn wir sehen, dass gerade in der
Privatwirtschaft Unternehmen mit Dumpinglöhnen arbeiten, die öffentlichen Entsorgungsträger aber - zu
Recht und zum Glück - an Tarife gebunden sind. Das ist
kein fairer Wettbewerb. Dafür müssten Sie ganz andere
Kriterien in diesem Gesetz zugrunde legen.
({8})
Wie ist zu beurteilen, dass die Kommunen, wie Herr
Röttgen zu Recht gesagt hat, die ersten Ansprechpartner
sind, wenn etwas schiefgeht? Wo spielt dieses Kriterium
eigentlich eine Rolle? Sie haben in § 17 Abs. 3 weitere
unbestimmte Rechtsbegriffe zulasten der Kommunen
aufgenommen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({9})
Stattdessen wäre es angezeigt gewesen, zu überlegen,
wie wir den Herausforderungen, die Sie durchaus richtig
angesprochen haben, eigentlich gerecht werden. Wie
schaffen wir es, beispielsweise Abfallvermeidung durchzusetzen? Davon steht in Ihrem Gesetz fast nichts.
({10})
Anstatt sich über diese Fragen zu verständigen, erzeugen
Sie auf diesem Feld eine große Rechtsunsicherheit und
tragen dazu bei, dass wir endlose rechtliche Auseinandersetzungen in diesem Bereich erleben werden. Die
wahren Handlungsfelder, die hätten bearbeitet werden
müssen, lassen Sie leider außen vor.
({11})
Herr Döring, Sie sind in Hannover - daher kommen
wir ja beide - von einem Journalisten gefragt worden, ob
sich vielleicht etwas an den Gebühren ändere. Die Presse
zitiert Sie mit den Worten: Das kann man noch nicht sagen. Wenn sich etwas ändert, dann ändert sich etwas. So geht man nicht in eine Gesetzesberatung. Mir ist
nicht egal, ob sich Gebühren erhöhen oder nicht.
({12})
Wir wollen Ihnen dieses Gebührenerhöhungsgesetz
nicht durchgehen lassen.
({13})
Sie haben eben gesagt - vielleicht ist das nicht überall
verstanden worden -: Sie kennen die Kalkulation des
Saftladens doch auch. - Dazu sage ich Ihnen: Da sitzen
1 600 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die hoffentlich alles, was Sie hier gesagt haben, gehört haben.
Das sind Leute, die sich im Dienst an der Allgemeinheit
krummmachen, und Sie bezeichnen dieses Unternehmen
als Saftladen. Das kann doch wohl nicht wahr sein.
({14})
Ich weiß nicht, ob Sie in der Region Hannover herumkommen, ob Sie sich die Wertstoffhöfe anschauen und
die Recyclingquoten kennen. Die Haltung, die Sie hier
offenbaren, hat zu dem geführt, was wir in den letzten
Jahren gesehen haben. Der Wettbewerb und der Markt
sollen es richten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie müssen
das neue Denken noch lernen. Ich weiß nicht, ob es bei
Ihnen zu spät ist. Wir jedenfalls sagen: Gerade bei einem
solchen Gesetz wäre das neue Denken wichtig; es wäre
falsch, alles dem Markt zu überlassen.
({15})
Insofern freuen wir uns auf das Vermittlungsverfahren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Debatte zeigt wieder eines: Während wir vor vielen Jahren damit begonnen haben, den Kampf gegen den Müll
aufzunehmen, herrscht inzwischen der Kampf um den
Müll. Das ist die Wahrheit, die sich hinter ganz vielen
Äußerungen verbirgt. Wenn Herr Bollmann und Herr
Miersch den Kompromiss, den die Bundesregierung mit
den kommunalen Spitzenverbänden und den kommunalen Unternehmen geschlossen hat, wieder aufbohren
wollen, dann ist das nicht nur ein Beitrag dazu, dass
Kompromissfähigkeit in diesem Land beschädigt wird,
sondern man stellt sich auch die Frage, ob Sie hier eine
Bewerbungsrede für künftige hochbezahlte Posten in der
kommunalen Entsorgungswirtschaft halten wollen.
({0})
Wenn nicht für Sie, dann vielleicht für Ihre Parteifreunde, die diese Unternehmen beherrschen.
({1})
Getroffene Hunde bellen. Ihre Reaktion zeigt, dass ich
nicht ganz falsch lag.
Meine Damen und Herren, die Ehrlichkeit gebietet es,
festzustellen, dass es vielen hier offensichtlich nicht um
die Umwelt geht und nicht um die Verbraucher. Der
Kampf um den Müll ist dann richtig, wenn wir Müll deswegen zum Wertstoff machen, weil er etwas wert ist. Es
ist richtig, wenn es mehr Wettbewerb gibt und die Verbraucher damit einen besseren Service vor der Haustür
bekommen, und es ist richtig, wenn die Unternehmen
sich dadurch bemühen, Innovationen für bessere Umwelttechnologien zu schaffen. 25 Prozent der weltweiten
Patente für bessere Mülltrennung, für besseres Recycling stammen aus Deutschland. Es sind private Unternehmen, die diese Patente entwickelt haben.
({2})
Es ist eben nicht so, dass Privatwirtschaft dazu führt,
dass es der Umwelt schlechter geht. Nein, durch private
Unternehmen haben wir bessere Umwelttechnologien
bekommen,
({3})
eine bessere Entsorgung und eine bessere Wertstoffnutzung des Abfalls. Das ist die Wahrheit.
({4})
Die FDP steht nicht für die Privaten, und sie steht
nicht für die Kommunalen, sondern wir stehen dafür,
dass es einen fairen Wettbewerb gibt, damit sich alle anstrengen. Es gibt gute Kommunale, und es gibt schlechte
Kommunale. Es gibt Schnarchnasenvereine, und es gibt
kommunale Unternehmen, die richtig gut sind.
({5})
Der Wettbewerb soll dafür sorgen, dass sie sich anstrengen, und zwar im Interesse der Bürger, die am Schluss
nämlich gezwungen werden, diesen Unternehmen die
Müllgebühren zu zahlen.
({6})
Dieses Gesetz ist ein Fortschritt für die Umwelt. Das
zeigt sich zum Beispiel daran, dass wir die Wiederverwendung, nicht nur die Wiederverwertung voranbringen.
Was zum Beispiel den Altmöbelbereich angeht, nützt
dies gerade den Sozialkaufhäusern. Unser Gesetz ist also
auch sozial ausgerichtet. Es reicht eben nicht, Strukturen
zu erhalten, auch auf die Gefahr hin, dass man Müllverbrennungsanlagen schlechter auslastet. Vereinzelt kommen kommunale Unternehmen zu mir und sagen: Dieses
Gesetz ist schlecht, weil die Auslastung meiner Müllverbrennungsanlage schlechter wird. - Wenn Sie von der
SPD das unterstützen, dann haben Sie nicht verstanden,
was Umweltschutz eigentlich bedeutet. Umweltschutz
bedeutet auch, die Recyclingquoten zu erhöhen, und das
macht diese Bundesregierung.
({7})
Das Wort hat der Kollege Johannes Röring für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
dem Vorliegen der ersten Entwürfe zum Kreislaufwirtschaftsgesetz im Frühjahr 2010 haben wir uns als Parlament in der Diskussion mit den Bundesländern, den
Ministerien, aber auch allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen intensiv mit diesem Gesetzentwurf auseinandergesetzt. Im Kern ging es darum, die bewährten
Strukturen des Gesetzes fortzuentwickeln, die neuen
Vorgaben der europäischen Abfallrahmenrichtlinie eins
zu eins zu integrieren und die Ressourceneffizienz der
Kreislaufwirtschaft zu verbessern. Zum Abschluss des
Gesetzgebungsverfahrens am heutigen Tage kann man
eine durchweg positive Bilanz ziehen.
Ein Kernpunkt der Diskussion, die Ausgestaltung der
Regelungen für die Abfall- und Entsorgungswirtschaft,
wurde aus meiner Sicht sehr gut geregelt. Es wurden Regelungen zugunsten kommunaler Interessen gefunden,
die gleichzeitig den Wettbewerb zulassen. Die berechtigten Interessen der Kommunen wurden berücksichtigt;
denn die Kommunen sind es, die lokal und regional in
der Verantwortung für eine flächendeckende, bürgerfreundliche und preiswerte Abfallentsorgung stehen.
({0})
Grundsätzlich haben wir uns darum bemüht, dass alle
anstehenden gesetzlichen Regelungen keine zusätzliche
Bürokratie bedeuten, auch wenn durch das Gesetz, beispielsweise bei der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung von Biogasanlagen, Rahmenbedingungen verJohannes Röring
schärft wurden. In unserem Entschließungsantrag
machen wir deutlich, dass ein praxisgerechter Vollzug
der Vorschriften sicherzustellen ist. Ich bedanke mich
bei unserem Minister für die Zusage, dies auch so umzusetzen.
({1})
Wichtig war für uns aber auch, das Thema Ressourceneffizienz, Ressourcenmanagement und Kreislaufwirtschaft verstärkt in die politische Diskussion zu bringen.
Nicht nur in diesem Gesetz spielt das Thema eine entscheidende Rolle. Ich erinnere beispielsweise an die
klimaschutzfreundlichen Regelungen im neuen Erneuerbare-Energien-Gesetz. Die Förderung der Reststoffnutzung bei der Erzeugung von klimafreundlicher Energie
wurde hier stark angereizt.
An dieser Stelle möchte ich genau diesen Aspekt vertiefen. Die Endlichkeit fossiler Ressourcen ist stets im
Fokus der öffentlichen und gesellschaftlichen Diskussion. Meist spricht man dann über Öl, Kohle oder diverse
Seltene Erden. Keine bis wenig Beachtung erhalten in
dieser Debatte lebenswichtige Stoffe wie Phosphat, Kalium, Magnesium und Calcium. Das alles sind Grundnährstoffe für den Pflanzenbau.
Exemplarisch ist hier Phosphor hervorzuheben, für
den man die Endlichkeit der fossilen Vorräte in etwa
100 Jahren prognostiziert. Zwischen 2007 und 2008 stieg
der Weltmarktpreis für Phosphat um 100 Prozent. China
hat den Export seiner Phosphate im letzten Jahr wegen
des erhöhten Eigenverbrauchs gestoppt.
Deutschland - das ist wichtig, meine Damen und Herren - hat keine eigenen Phosphatvorkommen, sodass
man extrem importabhängig ist. Phosphat ist in der Düngerproduktion ein nicht austauschbarer Stoff. Es ist für
das Wachstum unserer Pflanzen unabdingbar und somit
Grundlage unseres Lebens.
({2})
Folglich gilt es, das vorhandene Phosphat im Kreislauf
zu bewirtschaften.
Sehr häufig stehen Tierhaltungsregionen in Deutschland wegen der hohen Konzentration von Nährstoffen,
unter anderem Phosphat, stark in der Kritik. Ich möchte
an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Nährstoffkonzentration auch in der Zusammenballung von menschlicher Ansiedlung zu finden ist, das heißt in Großstädten.
Auch hier gibt es Überschüsse von Stickstoff und Phosphat.
Wir brauchen grundsätzliche Strategien für eine
Rückgewinnung, in diesem Fall von Phosphat aus Klärschlamm, tierischen Exkrementen und weiteren Abfällen. Das größte Potenzial im Stoffstrommanagement
liegt im Recycling dieser Stoffe. Recycling steht hier
nicht nur für ökologische, sondern insbesondere auch für
langfristig ökonomische Vernunft; denn dies verringert
unsere Abhängigkeit von Importen.
Folglich ist es die Aufgabe der Politik, das Thema
„Ressourceneffizienz und -management“ mit Verabschiedung dieses Gesetzes nicht zur Seite zu legen. Wir
müssen uns weiter intensiv mit dem Thema befassen.
Wir brauchen Rahmenbedingungen für Forschung und
Entwicklung in diesem Fachgebiet. Sie müssen ausgebaut werden. Wir müssen Strategien entwickeln, die, wie
von uns formuliert, mit weniger Ressourcenverbrauch
unseren Wohlstand erhalten.
Mit dem vorliegenden Gesetz machen wir einen weiteren Schritt in die richtige Richtung. Wir werden den
Weg konsequent weitergehen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Wir haben heute schon sehr viel gehört. Ich beschränke
mich daher auf drei Aspekte.
Erstens. Herr Kollege Brand, ich finde es schon seltsam, wie Sie und Ihre Kollegen und Kolleginnen seit
Tagen versuchen, uns weiszumachen, dass die kommunalen Spitzenverbände über den ausgehandelten Kompromiss jubeln und Ihnen dafür Beifall geben.
({0})
Ich glaube, Sie haben den Begriff Kompromiss nicht
richtig verstanden.
Wahrscheinlich beziehen Sie sich auf das schon angesprochene Schreiben der kommunalen Spitzenverbände.
In dem steht zwar, dass sie dem Gesetzentwurf jetzt zustimmen;
({1})
darin findet sich aber auch die Aussage, dass sie es nur
unter Zurückstellung schwerster Bedenken tun.
({2})
Diese Bedenken teilt die SPD.
Damit komme ich zum nächsten Punkt. Sie sagen,
jetzt endlich bestehe Rechtssicherheit bei der Frage der
Zulassung bzw. Nichtzulassung privater Anbieter. Wie
heißt es so schön: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die
Rechtsfindung. Zumindest sollte das so sein.
Wenn ich mir aber Ihren Gesetzentwurf anschaue,
dann finde ich nur unbestimmte Rechtsbegriffe, die zwar
die Kassen der Juristen zum Klingeln bringen, aber
keine Sicherheit für die Kommunen schaffen. Auch der
Inhalt des Kompromisses hilft uns nicht wirklich weiter.
Ich gebe allerdings zu, dass der Begriff der Beitragssta16320
bilität ein wichtiges neues Kriterium sein könnte, um die
Privatisierung im Müllsektor einzudämmen.
Die Müllentsorgung ist bis heute eine Aufgabe der
Daseinsvorsorge und daher dem privaten Wettbewerb
weitgehend entzogen. Dazu gibt es sogar eine höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
die - in Klammern: eigentlich - bindend für alle deutschen Gerichte sein sollte.
Worauf läuft nun Ihr Gesetzentwurf hinaus? Er
schreibt vor, dass ein Privatanbieter sehr wohl Müll sammeln darf, wenn er damit das überwiegende öffentliche
Interesse nicht beeinträchtigt - ich frage Sie, was das
heißt -, indem er zum Beispiel die Funktionsfähigkeit
der öffentlichen Entsorgungsträger nicht behindert
- noch so ein schöner unbestimmter Rechtsbegriff -,
({3})
und der kommunale Abfallentsorger die Leistung nicht
zumindest gleichwertig erbringt.
Was ist gleichwertig? Im Gesetzentwurf steht, dass
unter anderem Qualität und Umfang entscheidend seien.
Was aber beinhaltet der Begriff Qualität? Und was ist
der Umfang einer Sammlung?
({4})
Wird der Umfang schon erhöht, wenn die Privaten einmal pro Woche öfter einsammeln oder einmal im Monat?
({5})
Eindeutige Regelungen sehen wirklich anders aus.
({6})
Was ist mit dem neuen Begriff der Gebührenstabilität? Ist nicht alles gerettet, wenn es heißt, dass durch private Sammlungen die Gebühren nicht erhöht werden
dürfen? Das wäre es, wenn Sie von der Regierung sich
nicht noch ein kleines Schlupfloch offen gelassen hätten:
Die Gebührenstabilität sei dann kein Kriterium, wenn
die private Sammlung höherwertig sei. Da haben wir ihn
wieder, diesen schwammigen Begriff, aus dem jeder das
herausliest, was er gerne hören möchte.
({7})
Damit erzeugen Sie genau das Gegenteil von Rechtssicherheit. Sie treiben die Kommunen vor die Gerichte,
die sie anrufen müssen, damit sie den Menschen in ihrer
Region weiterhin gute und bezahlbare Leistungen anbieten können. Das ist unlauter, meine Herren und Damen.
({8})
Die Gebührenstabilität wird auch dadurch gefährdet,
dass durch die zunehmenden gewerblichen Sammlungen
die Müllentsorgung zumindest in Teilbereichen ihren
Status als eigentümliche und der öffentlichen Hand vorbehaltene Leistung verlieren könnte. Das würde bedeuten, dass sie der Umsatzsteuerpflicht unterliegt. Da hilft
auch nicht das Schreiben des Bundesfinanzministeriums,
das diese Kritik als unbegründet verwirft, ohne ein einziges Argument dafür anzuführen.
({9})
Es ist doch offensichtlich, dass eine Leistung, die
auch von Privaten erbracht wird, nicht mehr der öffentlichen Hand vorbehalten ist. Das beinhaltet im Übrigen
der Begriff „vorbehalten“. Das bedeutet, dass niemand
anderes diese Leistung erbringt.
Wenn wir uns den Koalitionsvertrag dieser Regierung
anschauen, verwundert uns diese Regelung jedoch nicht.
Dort steht - ich zitiere -:
Mit Blick auf die Abfallwirtschaft befürworten wir
die grundsätzliche steuerliche Gleichstellung von
öffentlichen und privaten Unternehmen.
({10})
Auf einmal erschließt sich, warum die Steuerproblematik ungelöst bleibt; denn die Gleichwertigkeitsklausel
ist nichts anderes als die Hintertür zum Koalitionsvertrag, eine Hintertür, die wir wahrscheinlich der FDP zu
verdanken haben, die sich einfach nicht damit abfinden
konnte, dass ihre Privatisierungsträume auf dem Altar
des Konsenses mit den kommunalen Spitzenverbänden
geopfert werden sollten.
({11})
Mit diesem Gesetzentwurf riskieren Sie eine deutliche Gebührenerhöhung für die Bürgerinnen und Bürger
in vielen Regionen. Das ist für uns nicht akzeptabel.
({12})
Darum gibt es nur einen Ort, wo dieses Gesetz hingehört, nämlich den Vermittlungsausschuss.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Frau
Lühmann, an Ihrem Redebeitrag hat man ganz genau gemerkt, dass Sie abfallwirtschaftlich noch in der Zeit vor
1990 leben.
({0})
Ihre Wortwahl - speziell indem Sie von „Müll“ gesprochen haben - ist der Beweis dafür, dass Sie sich mit dem
Entwurf des Gesetzes zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts überhaupt nicht auseinandergesetzt haben.
Wir sind uns in diesem Hause darüber einig, dass wir
in der Abfallwirtschaft einen Pfad hin zur Kreislaufwirtschaft beschreiten wollen. Das ist in unserem schönen
Land auch notwendig; denn wir sind ein extrem rohstoffarmes Land und sollten alles daransetzen, die benutzten
Produkte, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, so zu
zerlegen, dass alle verwertbaren Stoffe in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden können.
({1})
Ich bin jemand, der sich seit Jahrzehnten auf den verschiedensten Ebenen mit diesen Themen auseinandergesetzt hat: zunächst in der kommunalen Wirtschaft über
dreimal sechs Jahre als Bürgermeister und als Mitglied
des Kreistags, dann in der privaten Abfallwirtschaft und
jetzt in der Legislative. Daher kann ich sagen: In Deutschland befinden wir uns auf einem extrem guten Weg - was
sich mit Zahlen ohne Weiteres belegen lässt -,
({2})
weil wir ein gemischtes System haben. Zwischen den
Kommunen und der gewerblichen Abfallwirtschaft besteht eine Kooperative. Herr Bollmann, Ihre Diskreditierung der privaten Abfallwirtschaft war unqualifiziert.
({3})
Man muss deutlich herausstellen, dass die Erfolge der
zurückliegenden Jahre - im Grunde genommen seit den
90er-Jahren -, die wir in Bezug auf die Rückführung in
die Stoffkreisläufe erreicht haben, das Ergebnis dieser
hervorragenden Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und der privaten Wirtschaft sind.
Lassen Sie mich noch kurz erklären, wie das Ganze
funktioniert, weil Herr Dr. Miersch in dem Gesetzentwurf einen deutlichen Hinweis auf eine Vermeidungsstrategie vermisst. Herr Dr. Miersch, das funktioniert
folgendermaßen: Der große Erfolg in der Abfallwirtschaft, den wir in der Vergangenheit erzielen konnten,
basiert auf dem Lizenzierungssystem. Das heißt: Jeder,
der ein Produkt in den Verkehr bringt, muss vor dem InVerkehr-Bringen eine bestimmte Gebühr für die Rückführung der Verpackungsmaterialien in den Stoffkreislauf entrichten.
Dieses System führt automatisch dazu, dass der Hersteller dieser Produkte allergrößtes Interesse daran hat,
die Produkte so in den Verkehr zu bringen, dass sie relativ kostengünstig - sprich: massearm - wieder in den
Stoffkreislauf zurückgeführt werden können. Das konnten wir in der Vergangenheit lernen - bei all den Problemen, die in dem Zusammenhang noch bestehen.
Lassen Sie mich noch über die Frage nach öffentlichrechtlicher oder privater Durchführung reden. In Bayern
betreiben wir seit vielen Jahren die Wertstoffhöfe. Mit
dem System, das wir jetzt kreieren - auch mit der Wertstofftonne -, sehe ich die Wertstoffhöfe in keiner Weise
in Gefahr.
({4})
- Nein, das kommt nicht.
({5})
Das, was wir derzeit in den Wertstoffhöfen sammeln,
kann auch weiterhin gesammelt werden; denn wir können und werden genau regeln, was flächendeckend über
die Wertstofftonne gesammelt werden soll.
Dieses gemischte System ist der eigentliche Schlüssel
zum Erfolg. Ich will nicht, dass wir in der Wertstofftonne alle sogenannten Wertstoffe ablagern, die wir in
den Stoffkreislauf zurückführen. Ich will auf der anderen
Seite nicht, dass alle Wertstoffe zum Wertstoffhof gebracht werden müssen, denn wir wissen ganz genau - da
gibt es Lehrbeispiele; München wurde schon genannt -,
dass die Recyclingquote in einem reinen Wertstoffhofsystem bei nur einem Drittel dessen liegt, was man mit
einer Wertstofftonne am Haus sammeln könnte. Bestimmte Materialien können wir trotzdem, wie bisher, im
Wertstoffhof sammeln. Hier meine ich die sehr erfolgreiche Sammlung von Papier - wir können dort weiterhin
alle Papierarten sehr erfolgreich sammeln - und Altholz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das große Geld
wird weder beim Papier noch beim Altholz verdient; das
muss man doch laut sagen. Ich glaube also nicht, dass
die reine Ökonomie, die Aussicht auf Erträge - einer
sprach von „Dollarzeichen in den Augen“ -, das Motiv
der Kommunen in dem Kampf ist, den sie hier führen.
Das Motiv ist vielmehr, den guten Weg, den wir in der
Vergangenheit beschritten haben, weiter zu gehen, eine
Erhöhung der Recyclingquote zu erreichen und Gebührenerhöhungen zu vermeiden.
Da müssen wir gegenüber allen Betreibern von Müllverbrennungsanlagen ehrlich sein: Wenn wir die Recyclingquote erhöhen, dann verbleibt weniger Masse in der
Müllverbrennung.
({6})
Diese Ehrlichkeit sollte auch die Opposition an den Tag
legen. Es ist unfair, wie Sie hier über das Ganze diskutieren. Es wäre wesentlich besser, wenn wir allen am Prozess des Recyclings und der Wiederverwertung Beteiligten reinen Wein einschenken und sagen würden: „Wir
erhöhen den Anteil der Stoffe, die in den Stoffkreislauf
zurückgeführt werden.“ Das bedeutet: weniger energetische Verwertung in der Müllverbrennung.
Vielen Dank.
({7})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ingbert Liebing für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Monaten ist in Deutschland ein heftiger Konflikt geführt worden, bei dem insbesondere über die Besorgnisse in den Kommunen diskutiert wurde, über die
Frage, ob ihrer Verantwortung als entsorgungspflichtige
Körperschaften ausreichend Rechnung getragen wird.
Dies zog sich wie ein roter Faden auch durch die heutige
Debatte. Ich möchte diesen Punkt in den Mittelpunkt
meiner Betrachtung zum Abschluss dieser Debatte stellen, um mit einigen Irrtümern und Fehldarstellungen aus
der Opposition aufzuräumen.
Es wurde über Europarecht gestritten und Rosinenpickerei befürchtet. All dies hat jetzt ein gutes Ende,
denn es ist uns, der Koalition, und der Bundesregierung
gelungen, einen Kompromiss zu finden, den wir ins Gesetz aufnehmen.
({0})
Dabei liegt es bei einem Kompromiss in der Natur der
Sache, dass alle Beteiligten nicht zu 100 Prozent zufrieden sind. Uns liegen unterschiedlichste Stellungnahmen
vor, auch aus der privaten Entsorgungswirtschaft: Die einen betonen eher ihre Kritik und Unzufriedenheit, andere aber sagen: „Jawohl, das ist ein Ergebnis, mit dem
auch wir leben können.“ Für mich ist es entscheidend
- das ist ein Wert, den wir schätzen sollten -, dass sich
die vier kommunalen Spitzenverbände ausdrücklich zu
diesem Kompromiss bekennen. Das ist ein Fakt, den
auch die Opposition zur Kenntnis nehmen sollte.
({1})
Wir tragen dem Europarecht Rechnung. Gewerbliche
Sammlungen bleiben grundsätzlich möglich. Es gibt
kein generelles Verbot gewerblicher Sammlungen, was
manche von uns erwartet hatten. Wir müssen zugleich
feststellen, dass der bisherige Zustand unbefriedigend
war: Über die Zulässigkeit gewerblicher Sammlungen
wurde trefflich vor Gericht gestritten; es gab unterschiedlichste Gerichtsurteile quer durch die Republik.
Da war es unsere Aufgabe und unser Ziel, Rechtssicherheit herzustellen.
({2})
Das haben wir jetzt mit dem Kompromiss erreicht. Jetzt
gibt es klare Regelungen, wann gewerbliche Sammlungen zugelassen werden können. Rosinenpickerei wird
rechtssicher ausgeschlossen. Die kommunale Verantwortung bleibt gesichert. Das, meine Damen und Herren, nenne ich einen fairen Interessenausgleich.
({3})
Gewerbliche Sammlungen können untersagt werden,
wenn zum Beispiel die Gebührenstabilität gefährdet ist
- ein wichtiges Kriterium - und die kommunalen entsorgungspflichtigen Körperschaften bereits ein flächendeckendes, hochwertiges, haushaltsnahes Sammlungssystem gewährleisten. Sie können auch dann untersagt
werden - das ist mir wichtig -, wenn Kommunen konkret in die Planungen für ein hochwertiges Sammlungssystem eingetreten sind.
({4})
Denn wenn wir das nicht mit aufgenommen hätten, dann
könnte ja der Fall eintreten, dass eine Kommune oder ein
Landkreis gerade Beschlüsse gefasst hat und in ein Ausschreibungsverfahren eingetreten ist und dann ein Privater kommt und versucht, in attraktiven Einzelregionen
Sonderverträge mit Großkunden abzuschließen. Dann
würde die Kalkulationsbasis gefährdet. Auch dies schließen wir aus.
Meine Damen und Herren, wir bleiben bei dem Anzeigeverfahren und gehen nicht zu einem aufwendigeren
Genehmigungsverfahren über. Aber wir erweitern die
Frist von vier Wochen auf drei Monate. Das gewährleistet den notwendigen Spielraum für eine sorgfältige Prüfung.
Wir verzichten auf die Einrichtung einer sogenannten
neutralen Stelle. Wir vertrauen darauf, dass die Bundesländer am ehesten entscheiden können, welche zuständige Behörde nach Landesrecht die Beurteilungen im
Anzeigeverfahren vornehmen kann.
Da hier wieder einmal das Gespenst der Gebührenerhöhung aufgrund der Umsatzsteuerpflicht an die Wand
gemalt wurde, möchte ich ausdrücklich auf Folgendes
hinweisen: Uns liegt die Stellungnahme des Bundesfinanzministeriums vor. Diese ist für uns eine wichtige
Grundlage, die zeigt, dass es mit dieser Entscheidung,
mit diesem Kompromiss, mit diesem Gesetz keine Veranlassung dafür gibt, jetzt in eine Umsatzsteuerpflicht
einzusteigen. Wenn Sie etwas anderes behaupten, dann
ist das nichts anderes als eine gezielte Verunsicherung
gerade der Kommunen. Meine Damen und Herren, das
sollten Sie einmal sein lassen!
({5})
Wir reden heute über das Kreislaufwirtschaftsgesetz.
Im nächsten Jahr werden wir über die Wertstofftonne
sprechen. Wir sind offen für gleichwertige Systeme. Wir
haben über die bayerischen Wertstoffhöfe gesprochen,
aber es gibt auch andere innovative Ansätze, zum Beispiel in der Region Trier. Dann werden wir die Diskussion über kommunale Verantwortung und privatwirtschaftlichen Wettbewerb noch einmal führen.
({6})
Wir wollen dies in einem Gesetz regeln, da sind wir wieder mit im Boot. Weil wir es beim Kreislaufwirtschaftsgesetz geschafft haben, in diesem Bereich einen guten
Interessenausgleich und Kompromiss zu finden, bin ich
sehr zuversichtlich, dass uns dies im nächsten Jahr auch
bei der Wertstofftonne gelingen wird.
({7})
Ich möchte einen persönlichen Rat anfügen: Das
Thema eignet sich meiner Auffassung nach nicht für einen Grundsatzstreit, Kollege Miersch sprach hier von einer ideologischen Auseinandersetzung zwischen Privat
und Staat.
Ich selbst komme aus einem Landkreis, der auf der
Basis einer kommunalen Ausschreibung die Hausmüllentsorgung privatwirtschaftlich organisiert. Dies ist im
vergangenen Jahr nach der ersten Erfahrungsperiode
wieder bestätigt worden. Auch diese privaten Unternehmen, die Dienstleister für die Kommunen sind, die beauftragten Dritten, brauchen einen gewissen Schutz in
einem fairen Wettbewerb. Die Regelungen, die wir im
Rahmen unseres Kompromisses getroffen haben, dienen
also nicht nur den Kommunen, sondern auch den privaten Unternehmen, die im Auftrag von Kommunen tätig
sind und handeln. Denn es kann auch nicht sein, dass
eine Kommune Leistungen ausschreibt und nachträglich
die Kalkulationsgrundlagen verändert. Wir schützen
auch diese, oft genug mittelständischen, Unternehmen.
Auch deshalb ist dies ein guter und sinnvoller Kompromiss.
({8})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatte
einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Aber kein Gesetzentwurf ist so gut, dass er im Parlament nicht noch verbessert werden könnte. Dies haben wir mit der Unterstützung des Umweltministeriums in der vergangenen
Woche erreicht. Ich möchte Minister Norbert Röttgen
ausdrücklich Lob und Anerkennung aussprechen; denn
ich weiß aus vielen Gesprächen, dass es auch ihm persönlich ein Herzensanliegen gewesen ist, hier zu einer
gemeinsamen Lösung zu kommen. Herzlichen Dank dafür!
({9})
Unser Gesetz schafft die Voraussetzung für eine bürgerfreundliche, ökologisch hochwertige und kostengünstige Abfallentsorgung. Unser Gesetz sichert kommunale
Interessen, schafft einen fairen Wettbewerb dort, wo er
möglich ist, und bietet Rechtssicherheit. Dies ist ein guter Gesetzentwurf, dem wir mit gutem Gewissen zustimmen können - auch Sie als Opposition. Herzlich willkommen!
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts. Der
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7505 ({0}), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/6052
und 17/6645 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
({1})
- Soweit ich das überblicke, besteht bei der Feststellung
dieses Abstimmungsergebnisses im Präsidium Einigkeit.
({2})
Wir setzen die Abstimmung zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit fort. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7505 ({3}) empfiehlt der
Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7509. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7510.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung als Risiko für die Konjunktur
- Drucksache 17/7461 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Aufbauprogramm gegen die Krise - Schutzschirm für Arbeitsplätze
- Drucksache 17/7338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich
bitte, die notwendigen Umgruppierungen zügig vorzunehmen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! „Aufschwung XXL“,
({0})
hieß es einmal. Die Zeiten sind leider vorbei. Ich will Ihnen ganz deutlich sagen, dass wir diesen Antrag eingebracht haben, weil wir das Herbstgutachten und die Prognosen für das kommende Jahr sehr ernst nehmen und
weil wir der Meinung sind, dass wir in Deutschland und
in Europa jetzt an einem Punkt angekommen sind, an
dem die Politik handeln muss. Die Politik darf nicht länger nur abwarten. Wir brauchen Tatkraft und Mut in der
Politik. Die Zeit des Abwartens und Teetrinkens muss
endlich vorbei sein. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die anpackt und nicht tatenlos zusieht. Das ist der
Grund für unseren Antrag.
({1})
Deutschland braucht eine vorausschauende Politik.
Schauen wir uns einmal verschiedene Meldungen an,
zum Beispiel über die DIHK-Umfrage. Das Resümee
des DIHK zur aktuellen Lage ist ein Alarmsignal. Der
Tenor der DIHK-Umfrage lautet: Wirtschaftspolitik ist
ein Risikofaktor. Damit ist die Wirtschaftspolitik dieser
Bundesregierung gemeint, sofern man überhaupt eine
feststellen kann. Im weiteren Verlauf heißt es: Die Krisenpolitik der Bundesregierung verunsichert die Unternehmen. Der angeführte Prozentsatz ist so hoch wie nie.
Das ist ein besorgniserregender Wert. Das hat sehr viel
damit zu tun, dass es einen Vertrauensverlust gibt, der
aus Unterlassungen, aufgeschobenem Handeln und mangelndem Mut in der Wirtschaftspolitik resultiert.
Ein paar Fakten dazu: Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist
zum vierten Mal in Folge gefallen. Die Verbraucherpreise
und damit die Inflationsrate erklimmen ein Dreijahreshoch, nicht zuletzt wegen steigender Energiepreise. Die
Exportzahlen gehen deutlich zurück. Am besorgniserregendsten ist, dass wir deutlich weniger Investitionen haben. Das sind nicht irgendwelche theoretischen Werte.
Wenn Sie in diesen Tagen mit Unternehmensvertretern
sprechen - die Größenordnung des Unternehmens ist
egal; es ist gleich, ob Sie mit einem Mittelständler oder
dem Vertreter eines Dax-Unternehmens sprechen -, hören Sie überall die gleichen Botschaften: Investitionsentscheidungen werden zurzeit nicht getroffen. Sie werden
auf die lange Bank geschoben, zumindest auf die mittlere.
Das bedeutet für den Standort Deutschland und für die
wirtschaftliche Entwicklung eine große Gefahr.
Im IMK-Report steht - Zitat -:
Alles in allem werden sich die Perspektiven für die
deutsche Exportwirtschaft stark eintrüben. Dies
wird wiederum die Investitionstätigkeit deutscher
Unternehmen spürbar belasten, sodass deren Zunahme deutlich schwächer sein wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, nehmen Sie diese Warnsignale endlich ernst.
Tun Sie nicht so, als ob man sich ausruhen könnte auf
dem Aufschwung, der hinter uns liegt. Dieser Aufschwung war im Übrigen nicht Ihr Erfolg, sondern der
Erfolg der Maßnahmen, die von der Vorgängerregierung
durchgeführt worden sind.
({2})
Ruhen Sie sich darauf nicht aus. Fangen Sie jetzt an, die
Weichen richtig zu stellen.
Was wir brauchen - das machen wir in unserem
Antrag deutlich -, ist eine Investitionsstrategie zur nachhaltigen Stabilisierung der Konjunktur. Wir brauchen
Anreize für Investitionen und eine stärkere Binnennachfrage, gerade mit Blick auf den Rückgang bei den Exporten. Weder von verstärkten Investitionen noch von einer Strategie kann bei dieser Bundesregierung zurzeit
die Rede sein. Hier und da gibt es ein paar Einzelmaßnahmen - gestern haben wir im Rahmen der TKG-Novelle über den Breitbandausbau gesprochen -, aber das
reicht nicht. Das ist keine Gesamtstrategie, die wir
brauchten. Stattdessen gibt es wieder einmal Steuersenkungspläne, auch wenn klar ist - denn darüber reden Sie
seit Jahren -, dass davon bei den Bürgerinnen und Bürgern nichts ankommt. Sie wollen aber immer noch eins
draufsetzen. Selbst Norbert Barthle, der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, sagt: Statt Steuersenkungen brauchen wir mehr Investitionen. Das ist
der entscheidende Punkt.
Hören Sie endlich auf, den Leuten Sand in die Augen
zu streuen. Mit Steuersenkungen in Höhe von 6 oder
7 Milliarden Euro können Sie nicht das erreichen, was
wir in Deutschland brauchen. Damit lösen Sie keine Investitionen aus. Das wäre ein Tropfen auf den heißen
Stein. Es ist völlig unzulässig, in dieser Zeit weiter über
Steuersenkungen nachzudenken. Nach der Konsolidierung brauchen wir jetzt Investitionen in die Infrastruktur
und in die Bildung.
({3})
Wir brauchen ein Impulsprogramm für Investitionen zur
Modernisierung der Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur. Wir brauchen Investitionen in
Bildung und Qualifizierung.
Seit Monaten, schon fast seit Jahren sprechen wir
über das Thema Fachkräfte. Der Wirtschaftsminister
stellt sich hier immer wieder hin, positioniert sich und
sagt, was man alles machen könnte. Aber konkret ist bisher überhaupt nichts passiert. Bei diesem Thema
herrscht Stillstand, auch bei diesem Thema gibt es Streit
in der Regierungskoalition.
Nehmen wir als Beispiel die Förderung von Unternehmen im Bereich der Energie- und Ressourceneffizienz. Wir werden im Laufe der Debatte auf dieses
Thema noch näher eingehen. Wir haben in der letzten
Sitzungswoche im Wirtschaftsausschuss mit Herrn
Dr. Schröder von der KfW gesprochen. Er hat uns noch
einmal sehr deutlich vor Augen geführt, dass es diese
Bundesregierung ist, die es gerade großen Mittelständlern nicht ermöglicht, die Programme der KfW zu nutzen. Das ist ein Versagen dieser Bundesregierung. Sie
behindert die notwendigen Investitionen im Bereich von
Energie- und Ressourceneffizienz.
({4})
Lassen Sie mich noch auf einen Punkt unseres Antrags ausdrücklich hinweisen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - es hat auch für das
Herbstgutachten Zahlen vorgelegt - geht davon aus, dass
die Unternehmen, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung eintrübt und nicht mehr so ist wie im ersten
Quartal 2011, auf ein Instrument wie die Kurzarbeit wieder werden zurückgreifen müssen. Deswegen schlagen
wir vor, die Regierung zu ermächtigen, die auslaufenden
Sonderregeln für die Kurzarbeit, also das Kurzarbeitergeld plus, im Falle eines Abschwungs wieder in Kraft
setzen zu können. Das deckt sich mit der Forderung des
DGB.
Wenn Sie dem DGB und der Sozialdemokratie nicht
glauben, dann sprechen Sie einmal mit Ihrem ehemaligen Kollegen Göhner; er ist jetzt Hauptgeschäftsführer
der BDA. Er sagt: Wir brauchen dieses Instrument über
das Jahresende hinaus. Für den Fall der Fälle müssen wir
gewappnet sein. - Deswegen sagen wir: Ermächtigen
Sie die Regierung, damit das Kurzarbeitergeld plus auch
im Jahre 2012 möglich ist. Verschließen Sie doch da
nicht die Augen.
({5})
Ein letzter Punkt. Auf diesen haben Sie sicherlich
schon gewartet. Man muss es gerade in Zeiten wie diesen - Sie haben es in der Presse verfolgen können - erwähnen: Diese Bundesregierung hat sechs Institute damit beauftragt, die Auswirkungen eines Mindestlohns
auf die Wirtschaft zu untersuchen. Die Ergebnisse dieser
Untersuchung sickern bereits durch - man konnte in den
Zeitungen darüber lesen -: 1,3 Millionen Menschen verdienen weniger als 5 Euro die Stunde, 2,2 Millionen
Menschen weniger als 6 Euro die Stunde und 3,3 Millionen Menschen weniger als 7 Euro die Stunde. Wenn wir
dieses Problem endlich einmal beheben würden, würden
7 Milliarden Euro zusätzlich im Haushalt zur Verfügung
stehen. Das wäre nicht nur ein haushaltspolitisches Signal - dieses Geld könnten wir zusätzlich für Investitionen ausgeben -, sondern es hat auch mit der Würde der
Menschen zu tun, diesen unhaltbaren Zustand endlich zu
beenden.
({6})
Stimmen Sie unserem Antrag zu, und verschließen
Sie nicht länger die Augen vor der drohenden wirtschaftlichen Entwicklung.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber
Kollege Duin, auch ostfriesische Unkenrufe ändern es
nicht: Die Konjunktur läuft. Sie läuft sehr gut. Wir haben
im letzten Jahr 3,6 Prozent Wachstum verzeichnet.
({0})
Wir werden dieses Jahr annähernd 3 Prozent Wachstum
haben.
({1})
Auch im nächsten Jahr werden wir Wachstum haben.
Die Beschlüsse, die vor zwei Tagen in Brüssel gefasst
wurden, werden das Wachstum stabilisieren. Davon gehen wir aus.
({2})
Das Bruttoinlandsprodukt hat das Vorkrisenniveau bereits überschritten. Das zeigt sich vor allen Dingen auf
dem Arbeitsmarkt. Das macht mir die allermeiste Freude.
Im letzten Monat waren nur noch 2,79 Millionen Menschen arbeitslos. Von dieser Zahl hat Gerhard Schröder
nur geträumt. In der Zeit, in der Rot-Grün regiert hat, haben Sie solche Zahlen nicht erreicht. Erst als wir angefangen haben, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, hat sich die
Situation verbessert. Sie werden es erleben: Auch in diesem Monat sinkt die Arbeitslosigkeit. Erste Informationen zeigen, dass es in diesem Monat erneut weniger Arbeitslose gibt.
Die Arbeitslosenquote liegt aktuell bei 6,6 Prozent.
Am allermeisten freut mich - dies freut mich auch ganz
persönlich, weil ich mich als Arbeitgeber und Unternehmer immer dafür eingesetzt habe -, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland de facto kein Problem
mehr ist. In meinem Wahlkreis gibt es zurzeit 300 offene
Azubi-Stellen und keinen einzigen Bewerber mehr, der
nicht vermittelt ist.
Darüber müssen wir allerdings einmal sehr intensiv
nachdenken; denn wenn wir nicht mehr genügend Auszubildende haben, kann das zu einem Flaschenhals, einem Bottleneck, für unsere Wirtschaft werden. Wir müssen uns gemeinsam intelligente Ideen einfallen lassen.
Ich würde mir wünschen, dass die Goethe-Institute in
Spanien oder in Portugal vielleicht ein bisschen mehr
Deutschunterricht erteilen, damit wir unter Umständen
jungen Leuten aus diesen Ländern helfen können. Spanien hat eine Jugendarbeitslosigkeit von 42 Prozent.
Hier wäre europäische Solidarität durchaus angebracht.
({3})
Wenn wir uns ansehen, wie sich die Beschäftigung
insgesamt entwickelt hat, können wir feststellen: Wir
werden auch im Jahresdurchschnitt weniger als 3 Millionen Arbeitslose haben. Das sind ausgesprochen positive
Entwicklungen.
Das Ganze hat natürlich auch in allen anderen Bereichen Effekte. So werden wir im nächsten Jahr die Renten endlich wieder vernünftig erhöhen können. Die Zahlen sind seit heute bekannt: 2,3 Prozent im Westen und
3,2 Prozent im Osten. Das ist ja wirklich schon einmal
ein Schluck aus der Pulle.
({4})
Auch darüber können wir froh sein. Das sollten wir alle
sein; denn die Rentner haben in den letzten Jahren keine
besonders gute Zeit gehabt.
Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Lindner?
Gerne. Das gibt mir zusätzliche Redezeit.
Kollege Fuchs, Sie sprachen gerade von der Jugendarbeitslosigkeit, die in ganz Deutschland meiner Kenntnis
nach auf etwas über 8 Prozent gesunken ist und damit
etwa gleichauf mit der Gesamtarbeitslosigkeit liegt. Ist
Ihnen bekannt, dass in Berlin, wo die SPD jetzt seit über
zehn Jahren in der Regierungsverantwortung steht und
auch zusammen mit der Linken regiert hat, die Jugendarbeitslosigkeit, also die Arbeitslosigkeit der 18-Jährigen
und Jüngeren, bei über 23 Prozent liegt?
({0})
Obwohl Berlin auf Kosten anderer Länder wie beispielsweise Hessen pro Kopf die höchsten Ausgaben für Bildung hat, gibt es dort die höchste Jugendarbeitslosigkeit
im ganzen Land. Halten Sie das für die richtige Expertise dieser Partei, um sich hier in die Debatte zu diesem
Thema einzubringen?
Lieber Herr Kollege Lindner, ich kann Sie trösten.
Das dauert nicht mehr lange; denn demnächst regiert die
CDU in Berlin mit. Dann wird es besser. Das ist die
Chance, die Berlin hat. Gott sei Dank hat Berlin diese
Chance auch ergriffen. Herr Wowereit hat gemerkt, dass
er mit den Grünen nicht weiterkommt. Mit den Linken
hat er gar nicht erst angefangen, irgendetwas zu erreichen. Es wird jetzt besser. Warten wir es ab. Darüber
können wir uns gemeinsam freuen.
({0})
Wo die Linke regiert, sind die Zahlen nun einmal
schlechter. Herr Lindner, das können wir nicht ändern.
Wir sind aber auf einem guten Weg dahin, dass sich das
immer mehr reduziert. Deswegen finde ich es auch gut,
dass es in Berlin zu einer Großen Koalition kommen
wird. Berlin hat das verdient. Berlin hat eine bessere
Politik verdient als die der letzten zehn Jahre. Das ist
ganz sicher. Die Bürgerinnen und Bürger haben dies
auch gewollt.
({1})
Um auf die Rente zurückzukommen: Nicht nur die
Rentner selber haben etwas von der Erhöhung. Auch die
Rentenbeiträge können demnächst sinken. Weil die
Nachhaltigkeitsrücklage die Höhe von 1,5 Monatsausgaben erreicht, ja sogar überschritten hat, dürften wir in der
Lage sein, in Bälde den Rentenversicherungsbeitrag zu
senken. Das Geld geht direkt in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist für die Unternehmen und für die Arbeitnehmer gut.
Meine Damen und Herren, das ist eine positive Bilanz. Diese positive Bilanz lassen wir uns auch von niemandem kaputtreden.
Gleichzeitig ist es dieser Regierung gelungen, die
Haushaltssituation zu stabilisieren. Wir haben im letzten
Jahr 44,3 Milliarden Euro Schulden gemacht - viel zu
viel. Allerdings darf ich daran erinnern, dass der Kollege
Steinbrück - Ihr Wundermann, der von Schmidt Gesalbte ({2})
noch 86 Milliarden Euro geplant hatte, also doppelt so
viel, wie wir erreicht haben. Das zeigt doch, dass wir auf
einem guten Wege sind. Im letzten Jahr haben wir für
2011 dann 30 Milliarden Euro angesetzt. Diesen Betrag
werden wir unterschreiten. Für nächstes Jahr sieht es so
aus, dass wir auf dem Weg zu unter 25 Milliarden Euro
sind; denn die Steuereinnahmen sind deutlich besser, als
wir alle gemeinsam erwartet haben. Das ist positiv. Dies
zeigt, dass diese Bundesregierung auf einem guten Weg
ist und dass der Konsolidierungskurs weitergeht. Das ist
notwendig. Wir wollen es auch so haben.
Wir haben als eines von wenigen Ländern in Europa
die Maastricht-Kriterien eingehalten. Jetzt liegen wir bei
1,1 Prozent. 3 Prozent dürften wir, wollen wir aber nicht
haben. Wir arbeiten gemeinsam daran, das weiter zu unterschreiten. Wir müssen auch zusammen mit allen Kollegen in den europäischen Ländern auf diesem Weg weitergehen. Deswegen bin ich sehr froh über die
Beschlüsse von Mittwochabend. Sie werden dazu beitragen, dass Europa auf Stabilitätskurs geht. Nur wenn alle
Länder, nicht nur Deutschland, diesen Stabilitätskurs
verfolgen, ist der Euro sicher. Wir brauchen ihn; er ist
gerade für Deutschland ein ausgesprochen gutes Instrument.
({3})
Was die weiteren Beschlüsse angeht, so freue ich
mich darüber, dass die Eigenkapitalbasis der Banken gestärkt wird, dass 9 Prozent Kernkapital in Zukunft die
Vorgabe ist und dass dies bis Mai nächsten Jahres zu erreichen ist. Da, wo es nicht erreicht wird, haben wir die
EFSF und sind somit in der Lage, den Banken zu helfen,
die dieses Ziel nicht erreichen können. Gott sei Dank
werden wir wohl in Deutschland nicht auf die EFSF zurückgreifen müssen, aber in anderen europäischen Ländern dürfte das mit Sicherheit der Fall sein.
Ferner haben wir Brandschutzmauern um diejenigen
herum errichtet, die in Schwierigkeiten geraten, weil
Griechenland eben ein solch starkes Problem darstellt.
Wir verlangen, in Zukunft alle systemrelevanten Banken
zur Aufstockung ihres Kernkapitals zu verpflichten. Das
ist notwendig. Denn wir wollen nicht, dass Staaten in
eine Krise geraten, weil die Banken zu hohe Schulden
gemacht haben.
Wir werden auch Griechenland helfen. Ein 50-prozentiger Haircut ist enorm. Dazu darf es aber nur kommen, wenn die Griechen ihre Hausaufgaben auch wirklich machen. Deswegen finde ich es richtig und wichtig,
dass wir in Athen einen Sparkommissar installieren, der
überwacht, ob die Hausaufgaben wirklich gemacht werden. Nur so kann die Party endlich beendet werden.
Denn nur wenn die Griechen auf den Pfad der Tugend
zurückkehren, wird das Ganze funktionieren.
({4})
Lieber Herr Kollege Duin, es wäre gut, wenn Sie sich
die von der Bundesregierung geplanten Maßnahmen ansehen, bevor Sie einen Antrag einbringen. Natürlich
werden wir den Ausbau der Bundesfernstraßen, der Bundeswasserstraßen und der Schienenwege intensivieren.
Am 6. November 2011 tagt der Koalitionssausschuss
zum nächsten Mal. Da werden die Zahlen sowie erneut
spürbare Erhöhungen festgelegt. Das muss schon allein
deswegen geschehen, weil wir wissen, dass ein vernünftiges Schienennetz und ein vernünftiges Straßennetz,
eine vernünftige Infrastruktur, für Deutschland extrem
wichtig sind.
Wir haben bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen
ergriffen. Zum Beispiel werden im Rahmen des TKG die
LTE-Frequenzen und die Funknetze gestärkt. Das ist
notwendig, damit wir einen möglichst flächendeckenden
Internetzugang haben. Dies wird durch die Maßnahmen,
die wir in diesem Bereich getroffen haben, verbessert.
({5})
Ich finde es gut, dass Sie sagen, wir sollen die Energie- und Rohstoffeffizienz, also die Nutzung unserer
Ressourcen, verbessern und dafür zusätzliche Investitionen machen. Jetzt erklären Sie mir aber bitte einmal, warum Sie dann unsere Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanierung im Bundesrat blockieren. Das ist doch
unlauter, was Sie machen.
({6})
Sie müssten das doch unterstützen. Hier fordern Sie es,
und im Bundesrat blockieren Sie es. Das ist Ihre typische
Politik. Denn Sie sind nicht bereit, anzuerkennen, dass
das notwendig ist. Sie wollen im Bundesrat alle sinnvollen Maßnahmen, die wir ergreifen und die auch Sie hier
als sinnvoll anerkennen, blockieren. Das finde ich schon
ein bisschen schäbig.
({7})
Wir haben uns sehr intensiv mit dem Thema Rohstoffe beschäftigt. Ich finde es richtig, dass die Bundeskanzlerin in der Mongolei war und dort ein Rohstoffabkommen für Deutschland geschlossen hat. Ich finde es
ebenfalls richtig, dass wir die entsprechende Zusammenarbeit mit Kasachstan und Aserbaidschan ausweiten.
Das ist notwendig. Deutschland ist ein rohstoffarmes
Land. Auch um dieses Problem müssen wir uns sehr intensiv kümmern. Denn die Gefahr, dass wir von der Zufuhr von Ressourcen abgeschnitten werden - beispielsweise im Falle einer Blockadepolitik der Chinesen oder
der Erhebung von Exportzöllen auf Rohstoffe -, ist für
Deutschland groß. Deswegen müssen wir uns im Hinblick auf Rohstoffe breiter aufstellen.
Recycling gehört genauso dazu. Auch in diesem Bereich ist die deutsche Wirtschaft sehr erfolgreich. Wir
haben zum Beispiel bei Kupfer mittlerweile eine Recyclingquote - das dürfte insbesondere die Grünen freuen von 54 Prozent, bei Aluminium eine von 35 Prozent, bei
Blei von 59 Prozent und bei Stahl von 90 Prozent. Das
sind alles positive Zahlen. Wir brauchen diese Erfolge,
weil wir unsere Rohstoffvorkommen schonen müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Enkelmann?
Natürlich. - Sie waren schließlich dabei und haben
gesehen, wie wichtig dieses Abkommen ist.
Sie auch, Herr Kollege Fuchs.
({0})
Deswegen: Sind wir beide uns an dieser Stelle einig,
({1})
dass es sich bei der Zusammenarbeit, zum Beispiel mit
der Mongolei, tatsächlich um eine Zusammenarbeit auf
gleicher Augenhöhe handelt und dass es nicht nur darum
gehen kann, die Rohstoffe aus dem Land herauszuholen,
sondern dass es natürlich auch darum gehen muss, dafür
zu sorgen, dass dort nachhaltig gewirtschaftet wird und
beispielsweise auch so etwas wie ein Technologietransfer stattfindet? Handelt es sich also wirklich um eine Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe?
({2})
Verehrte Frau Kollegin Enkelmann, Sie haben auf der
Reise gut aufgepasst. Genau das wollen wir.
({0})
Wir wollen den Ländern helfen, ihre Rohstoffe auszubeuten. Bei der Erarbeitung und Verbesserung der entsprechenden Möglichkeiten wollen wir dabei sein. Wir
wollen selbstverständlich auch die dafür erforderlichen
Maschinen liefern. Wir wollen die Wertschöpfung in
diesen Ländern erhöhen. Auch darüber haben wir in der
Mongolei gesprochen. Ich nehme an, Sie haben gut aufgepasst.
({1})
Verehrte Kollegen, wir haben das Kreislaufwirtschaftsgesetz gerade novelliert. Auch das ist richtig und
wird uns beim Recycling, das ich eben angesprochen
habe, weiterhelfen.
Alles in allem kann man also sagen: Die Wachstumsprognosen sind positiv. Das Krisenmanagement dieser
Regierung funktioniert. Ich mache mir da nicht so viele
Sorgen wie Sie, Herr Duin. Ich bin zum Beispiel dagegen, dass wir die jetzigen Regelungen zur Kurzarbeit,
die zu Mitnahmeeffekten führen können, prolongieren.
Wenn es wirklich zu einer Krise kommen sollte
({2})
- jetzt ist Schluss, Herr Heil -,
({3})
dann werden wir diese Maßnahmen selbstverständlich
erneut ergreifen. Das können wir mit einem Gesetz ganz
kurzfristig machen. Da brauchen wir jetzt keine Verordnungsermächtigungen zu schaffen. Ich halte das für
nicht notwendig, weil ich der Meinung bin, dass wir der
deutschen Wirtschaft genügend Möglichkeiten zur Verfügung gestellt und genügend Hilfen gegeben haben.
Herr Kollege, Sie holen so selten Luft; ich komme
kaum dazwischen.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?
Wenn es denn unbedingt sein muss.
({0})
Kollege Fuchs, da meine Frage der Wahrheitsfindung
dient, sollten Sie sie an dieser Stelle zulassen. Dass Sie
das tun, finde ich sehr gut.
Ich will Sie nur auf Folgendes hinweisen: Nach allen
Expertenmeinungen wurden durch das Kurzarbeitergeld
plus, das Olaf Scholz eingeführt hat, in den Jahren 2008
und 2009 Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Deutschland gerettet.
({0})
Im Übrigen hat Ihre Ministerin diese Regelung auf unseren Druck verlängert. Jetzt verkürzt sie das Ganze zum
1. Januar nächsten Jahres.
Nein.
Doch. Im Rahmen der Instrumentenreform wird das
verkürzt. Es war ursprünglich auf eine längere Dauer angelegt; auch Sie wissen, dass das stimmt. Nun wird das
Ganze von März auf Januar nächsten Jahres vorgezogen.
Wir schlagen nicht vor - da haben Sie den Kollegen
Duin bewusst missverstanden -, das Kurzarbeitergeld
plus einfach weiterlaufen zu lassen; das bezieht sich auf
die Laufzeit und die Sozialversicherungsbeiträge. Wir
sagen lediglich: Schreiben Sie es so ins Gesetz, dass wir
es im Fall der Fälle, dass die Wirtschaft stärker einbricht
als prognostiziert - was wir nicht wollen -, schneller
wieder scharf schalten können, als wenn wir erst ein langes Gesetzgebungsverfahren anleiern müssten.
({0})
Herr Fuchs, ich sage Ihnen an dieser Stelle: Sie machen in Ihrer Denke einen Fehler. Sie ruhen sich seit
zwei Jahren auf Wachstumszahlen und Erfolgen der Vorgängerregierung aus,
({1})
betreiben keine Prävention und nehmen nicht zur Kenntnis, dass man Vorsorge für den Fall der Fälle treffen
muss. Die Arbeitszeitkonten bei den Unternehmen sind
Hubertus Heil ({2})
im Moment leerer als 2008. Sie werden erleben, dass wir
die Kurzarbeit wieder brauchen werden.
Meine Bitte ist: Unterstellen Sie uns nicht, dass wir
diese Regelung einfach verlängern wollen. Wir wollen
die Regierung lediglich ermächtigen, sie schnell wieder
scharf zu schalten. Ich weiß gar nicht, was Sie dagegen
haben, der Regierung ein Instrument an die Hand zu geben, das wir gut gebrauchen könnten. Reden Sie einmal
mit Ihrem Kollegen Göhner. Sie kennen ihn ja noch. Er
war Bundestagsabgeordneter und ist jetzt bei der BDA.
Dort kennt man sich mit der Situation in den Unternehmen aus. Meine Frage ist, warum Sie Ihr Vorhaben stur
durchziehen und einen konstruktiven Vorschlag, den wir
gemacht haben, nicht aufgreifen.
({3})
Verehrter Herr Kollege Heil, um das ganz klar zu sagen: Wir haben dieses Gesetz damals gemeinsam
({0})
auf den Weg gebracht.
({1})
Wir haben das in relativ kurzer Zeit gemacht.
({2})
Wir brauchen dieses Gesetz nicht weiterlaufen zu lassen.
Wir können das alte Gesetz jederzeit aus der Schublade
ziehen und sagen: Jetzt ist es wieder notwendig. Jetzt
verlängern wir es. Jetzt machen wir ein neues Gesetz
und sehen uns das Ganze noch einmal genau an.
({3})
Ich möchte aber nicht, dass man an die Kassen der
Bundesagentur für Arbeit geht,
({4})
weil ich befürchte, dass sie zurzeit zu leer sind, um ein
solches Maßnahmenpaket finanzieren zu können. Ich
halte es für notwendig, dass wir jetzt erst einmal überprüfen, ob es eventuell Mitnahmeeffekte gibt.
({5})
Wenn es sie nicht gibt und wenn es notwendig wäre,
könnten wir ein solches Gesetz jederzeit innerhalb von
einer Woche - Ihre Unterstützung haben Sie uns ja jetzt
schon zugesagt - auf den Weg bringen. Das werden wir
auch tun, wenn es notwendig ist. Insofern rege ich mich
in dieser Stelle gar nicht auf.
({6})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich kann nur sagen, dass wir in gutem Fahrwasser sind. Eines möchte
ich aber nicht: dass die gute Situation, in der wir uns befinden, schlechtgeredet wird und dass ostfriesische Unkenrufe zu hören sind. Das hilft uns nicht weiter.
Die deutsche Wirtschaft ist in guter Verfassung. Die
Beschlüsse, die in dieser Woche Gott sei Dank auch mit
Ihrer Zustimmung getroffen wurden - das war in dieser
Legislaturperiode bei den Beschlüssen zu Europa ja
nicht immer so -, waren richtig. Wir sind auf einem guten Weg, und ich gehe davon aus, dass sich das in
Europa sehr schnell zeigen wird.
Danke.
({7})
Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am Donnerstag, dem 11. Oktober 2011, stand
in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel mit der Überschrift: „Rettungsschirm Kurzarbeit“. Darunter stand:
Arbeitgeberpräsident Hundt und DGB-Chef Sommer
drängen die Bundesregierung zur Vorsorge - falls
ein Abschwung kommt.
Die Linke im Bundestag will ein Aufbauprogramm
gegen die Krise: einen Schutzschirm für Arbeitsplätze,
Sofortmaßnahmen, um das Kurzarbeitergeld ab dem
1. Januar 2012 zu verlängern, die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, damit die
Binnennachfrage gestärkt wird,
({0})
und die gemeinsame Entwicklung eines Aufbau- und
Zukunftsinvestitionsprogramms mit den Ländern und
Kommunen, das durch eine Millionärssteuer finanziert
werden soll.
({1})
Und täglich grüßt das Murmeltier: Das sind Diskussionen, die wir teilweise schon vor zwei Jahren geführt
haben, als ich ganz neu hier in den Bundestag kam. Die
Bundesregierung spannt einen Rettungsschirm nach dem
anderen, allerdings nicht für Arbeitsplätze, sondern für
Banken.
({2})
Hinsichtlich der Arbeitsplätze wird die Regelung zur
Kurzarbeit, die bis Ende März 2012 gelten sollte, sogar
auf Ende 2011 verkürzt.
Die Sorgen der Sozialpartner werden nicht ernst genommen. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften geben doch nicht leichtfertig gemeinsame Erklärungen ab Arbeitgeber aus Sorge um ihre Gewinne nicht und Gewerkschaften aus Sorge um die Arbeitsplätze nicht. Und
die Bundesregierung? Sie schläft den Schlaf der Gerechten.
Ich habe zu diesem Thema am 11. Oktober 2011 eine
Frage an die Bundesregierung gestellt. Die Antwort war:
Wegen der im Allgemeinen nach wie vor guten arbeitsmarktlichen Entwicklung ist ein vorzeitiges
Auslaufen der während der Wirtschaftskrise eingeführten Sonderregelungen zur Kurzarbeit bereits
Ende dieses Jahres gerechtfertigt.
({3})
Weiter hieß es:
Wegen der erheblichen finanziellen Auswirkungen
und hohen politischen Bedeutung der angesprochenen Regelungen wäre es nicht angemessen, etwaige
künftige Entscheidungen von derartiger Reichweite
lediglich durch Verordnung ohne Zustimmung des
Parlaments … zu treffen.
({4})
Bei Milliarden für die Banken müssen wir um Beteiligung kämpfen, bei Millionen aus selbst erbrachten Beitragsmitteln wird nichts gemacht, außer dass gesagt
wird, es geschehe nichts ohne die Zustimmung des Parlaments.
Wie leichtfertig die Koalitionsparteien mit den Menschen und ihren Schicksalen umgehen, wird für mich
durch folgendes Beispiel gezeigt, das gerade auch schon
wieder eine Rolle gespielt hat, als es um die Jugendarbeitslosigkeit ging - auch gestern haben wir darüber geredet, als es um die Kündigungsfristen für unter
25-Jährige gegangen ist -: Frau Connemann, die jetzt leider nicht hier ist - ich kann sie zumindest nicht sehen -,
hat davon gesprochen, dass Deutschland nur 8 Prozent
jugendliche Arbeitslose hat. Das sei ganz toll in
Deutschland und in Europa.
({5})
Sie sagte aber nicht dazu, was diese 8 Prozent eigentlich
bedeuten.
({6})
Von daher will ich das noch einmal ganz deutlich machen; ich habe mich vor der Debatte extra danach erkundigt. Zunächst einmal sind zum aktuellen Zeitpunkt
9,1 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos. Das sind
sage und schreibe 430 000 junge Menschen. Das ist einfach unerträglich. Was wird hier gemacht?
({7})
- Sofort. - Ich habe manchmal das Gefühl, Ihre Schönschwätzerei ist ein Teil Ihrer Wahrnehmung; das ist so.
Menschen außerhalb dieses Bundestages haben aber eine
ganz andere Wahrnehmung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer machen sich an dieser Stelle sehr große Sorgen, und
diese Bundesregierung tut nichts. - Ich habe mitbekommen, dass jemand eine Zwischenfrage stellen wollte.
({8})
Reden Sie weiter, sonst geht Ihre Redezeit verloren.
Okay. - Verlängern Sie die Regelung zum Kurzarbeitergeld, und führen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn
zur Stärkung der Binnennachfrage ein!
({0})
Spannen Sie einen Schutzschirm für die Arbeitsplätze im
Interesse der Menschen hier im Land!
({1})
Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der XXL-Aufschwung hat sich bis heute verlängert, Herr Duin.
({0})
Er findet immer noch statt. Was im nächsten Jahr stattfindet, wollen wir einmal abwarten. Dass es eine Normalisierung des Wachstums geben wird, ist zu erwarten.
Aber die Wachstumsentwicklung bleibt positiv.
Das Entscheidende ist: Nach den Entscheidungen
vom Mittwoch zum Euro wird eine Beruhigung auf den
Märkten und allgemein mehr Zuversicht eintreten. Das
sehen Sie schon jetzt an der Börsenentwicklung und der
Entwicklung des Euros, dessen Kurs wieder auf
1,40 Dollar gestiegen ist.
({1})
Deswegen wird die wirtschaftliche Entwicklung im
nächsten Jahr besser ausfallen, als es heute prognostiziert wird.
({2})
Da bin ich sehr zuversichtlich. Deswegen gibt es jetzt
überhaupt keinen Grund für ein übereiltes Konjunkturprogramm, in welchem Umfang auch immer.
({3})
Wir sind in einer gesunden Entwicklung. Wir haben
die richtige Politik gemacht. Wir haben am Anfang der
Legislaturperiode die Nachfragekräfte mit 24 Milliarden
Euro unterstützt. Wir haben viele EntlastungsmaßnahDr. Hermann Otto Solms
men getroffen. Auch Sie können stolz sein, weil die Arbeitsmarktreformen aus der rot-grünen Regierungszeit
dazu einen wichtigen Beitrag geleistet haben.
({4})
Ich wundere mich darüber, dass bei Ihnen Stimmen lauter werden, die eine Rückabwicklung fordern. Da ist völlig unsinnig.
({5})
Das war eine erfolgreiche Politik. Wir haben sie unterstützt. Wir sagen Ihnen auch heute noch: Das war eine
gute Sache.
({6})
So gut, wie die Entwicklung jetzt ist, haben auch wir
sie nicht vorausgesehen. Dass wir in diesem Jahr über
500 000 Erwerbstätige mehr
({7})
als im letzten Jahr haben - der aktuelle Stand liegt bei
41,2 Millionen Erwerbstätigen -, war doch nicht vorherzusehen. Genauso war nicht vorherzusehen, dass die
Renten im nächsten Jahr stärker steigen - 3,2 Prozent im
Osten, 2,3 Prozent im Westen -, dass die Rentenbeiträge
um 0,3 Prozent gesenkt werden können, dass die Steuereinnahmen über alle Erwartungen hinaus steigen. Im
Handelsblatt ist heute zu lesen, dass die neue Steuerschätzung wahrscheinlich von einem Steuermehraufkommen von 40 Milliarden Euro bis 2015 ausgehen
wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Birkwald von der Linksfraktion?
Ja, wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe. Das gibt uns den Spielraum, die Haushaltskonsolidierung noch mehr zu beschleunigen
({0})
und gleichzeitig die krasse Steuerungerechtigkeit der
kalten Progression zu beseitigen. Das haben übrigens
auch Sie von der SPD in Ihrem Wahlprogramm gefordert.
({1})
Jetzt bitte der Kollege Birkwald.
Kollege Birkwald, bitte.
Herr Kollege Dr. Solms, herzlichen Dank, dass Sie
die Zwischenfrage zulassen. - Es gab neulich eine Umfrage von Forsa dahin gehend, ob die Menschen lieber
auf die Rente erst ab 67 Jahren verzichten und dafür einen höheren Beitrag von 6 Euro im Monat für einen
Durchschnittsverdiener zahlen würden oder ob die Beiträge gesenkt werden sollten. 79 Prozent der Befragten
sagen: Wir möchten auf die Beitragssatzsenkung verzichten und dafür dann die Rente erst ab 67 abschaffen.
Die vorgesehene Beitragssatzsenkung von 0,3 Prozentpunkten macht bei durchschnittlich Verdienenden
3,80 Euro im Monat aus. Halten Sie es nicht für viel
sachgerechter und vor allen Dingen für sozial gerechter,
auf die Beitragssatzsenkung in der Rente zu verzichten
und dafür den Menschen die Rentenkürzung durch die
Rente erst ab 67 Jahren zu ersparen?
({0})
Das Ergebnis ist nicht verwunderlich, wenn Fragen so
gestellt werden, dass man dann entsprechende Antworten bekommt.
({0})
Es ist die Kunst der Umfrageinstitute, die Antworten zu
erhalten, die sie von vornherein haben wollten.
({1})
Angesichts der demografischen Entwicklung in
Deutschland - wie sie weiter verläuft, kann man berechnen - müssen wir Vorsorge für die Zukunft betreiben.
Deswegen gibt es keinen Grund, die Rente mit 67 rückabzuwickeln.
({2})
Wir als FDP sind allerdings der Meinung, dass wir ein
völlig anderes Verfahren des Renteneintritts brauchen.
Wir brauchen sehr viel mehr Freiwilligkeit.
({3})
Wir brauchen kein Fallbeilsystem, sondern Anreize zur
längeren Arbeit. Es gibt viele tüchtige Leute, die bis 70
- auch ich bin 70 - oder länger arbeiten können und wollen. Diese Menschen brauchen wir, und auf sie sollten
wir zurückgreifen, statt weiterhin auf das Fallbeilsystem
zu setzen.
({4})
Ich sehe gerade nach der Entscheidung von Mittwoch
die Situation günstiger als die Forschungsinstitute und
auch die Bundesregierung. Deswegen möchte ich auf die
Entscheidung etwas näher eingehen: Das ist der Weg zurück zur Stabilitätsunion, die allerdings jetzt mit scharfen Instrumenten und automatischen Sanktionen ausgestattet ist. Es gibt keine Hilfe ohne Auflagen. Deswegen
entgegne ich den Pessimisten, die da sagen: „Das Haftungsvolumen würde auch mit dem Hebel bei 211 Milliarden Euro bleiben, aber die Eintrittswahrscheinlichkeit der Haftung der Steuerzahler würde dadurch
erhöht“: Genau das Gegenteil ist der Fall. Denn bei jeder
Hilfsmaßnahme wird ein Paket von Auflagen verbindlich festgelegt, die die Schuldnerländer erfüllen müssen.
Der erweiterte Rettungsschirm hilft, die Implosion
der Märkte zu verhindern, und die Hilfsmaßnahmen führen dazu, dass die Haushaltssituation auch in den hochverschuldeten Ländern Jahr für Jahr besser wird. Deswegen wird im Zeitablauf die Wahrscheinlichkeit des
Eintritts der Haftung des deutschen Steuerzahlers sinken.
Das ist ein wichtiges Argument, weil die Öffentlichkeit
immer weiter verunsichert wird.
Natürlich ist nichts sicher. Aber die Hilfsmaßnahmen
sind so ausgestaltet, dass jede Hilfsmaßnahme mit einem
Memorandum of Understanding verbunden sein muss, in
dem die Bedingungen und damit diese scharfen Auflagen festgelegt werden.
({5})
Das ist für die Regierungen der betroffenen Länder
nicht angenehm, aber sie werden sich dem nicht entziehen können, weil sie sonst kein Geld kriegen. Deswegen
bin ich sehr froh, dass es gelungen ist, diese Strategie gegen die Mehrheit der Schuldnerländer durchzusetzen,
und dass nun die Währungsunion auf den Stabilitätskurs
zurückgeführt wird. Das wird die wirtschaftlichen Aussichten in Deutschland und in ganz Europa auf Dauer
deutlich verbessern und dazu führen, dass der Wohlstand
in der Breite deutlich wachsen wird.
Aktuell notwendig sind keine neuen Ausgabenprogramme, sondern weitere Erleichterungen, vielleicht in
begrenztem Umfang im steuerlichen Bereich. Aber die
Steuerforderungen, die Sie von SPD und Grünen uns androhen, sind eine Bedrohung für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Denn damit würgen Sie den Aufschwung, dessen wir uns heute erfreuen können, wieder
ab.
({6})
Deswegen ist es besser, dass diese Regierung an der
Macht bleibt, von der solche Maßnahmen nicht zu erwarten sind. Sie sorgt, weil die FDP beteiligt ist, vielmehr dafür, dass wir statt einer solchen Politik der Steuererhöhungen eine Politik der sozialen Marktwirtschaft
bekommen,
({7})
die die Marktkräfte stärkt. Die Marktkräfte lösen Investitionen und Wachstum aus, deren wir uns heute erfreuen
können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
schwarz-gelbe Regierung ist immer ein Risiko für die
Konjunktur, und zwar nicht nur im Abschwung, sondern
auch im Aufschwung. Denn Sie senden keine klaren
Signale an die Unternehmer und die Bevölkerung.
Schauen Sie sich doch einmal den Murks und den Mist
Ihrer Steuerpolitik an! Bei Regierungsantritt haben Sie
große Steuersenkungsversprechen gemacht. Steuersenkungen gab es aber nur für die Hoteliers. Ansonsten können Sie gar keine Steuersenkungen vornehmen. Dann
ging es hin und her. Es war die langweiligste Soap, die in
Deutschland überhaupt geboten wurde. Am Schluss
kommt Herr Rösler zusammen mit Herrn Schäuble heraus und sagt: Jetzt machen wir etwas gegen die kalte
Progression. - Die Herzen in der Bevölkerung gehen auf,
weil Sie jetzt etwas gegen die kalte Progression machen
wollen. Eine Viertelstunde später kommt die CSU und
sagt: Ätschibätsch, das machen wir überhaupt nicht! Glauben Sie, dass mit einer solchen Politik irgendetwas
für die Konjunktur getan wird? Die Menschen merken
nur: Sie haben es nicht im Griff.
Laut Tickermeldungen hat Herr Brüderle heute erklärt, dass der Solidaritätszuschlag reduziert werden soll,
indem der Freibetrag von 15 000 Euro bis zu dem man
keinen Soli zahlen muss, erhöht wird. Die FDP hat aber
noch vor zwei Wochen gesagt: Wir ändern den Tarifverlauf wegen der kalten Progression. - Das alles ist doch
Irrsinn! So werden Sie auch wahrgenommen. Sie wissen
nicht, was Sie tun und wie es geht. Das ist das Gesetz der
schwarz-gelben Wirtschaftspolitik.
({0})
Ordnungspolitisch ist nicht viel los mit euch. Ihr redet
davon - genauso wie Herr Solms gerade -, dass ihr die
Marktkräfte stärken wollt. In Baden-Württemberg hat
man einen Energiekonzern verstaatlicht. Das haben nicht
die Grünen und die SPD gemacht, sondern das war die
Mappus-Gefolgschaft, also die CDU und die FDP. Jetzt
distanzierten Sie sich davon, weil es in der Union inzwischen gefährlich ist, mit einer solchen Politik identifiziert zu werden.
({1})
Aber klar ist: Eure energiepolitische Konsequenz ist Verstaatlichung. Hier wird nicht viel geboten.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der für die
wirtschaftliche Entwicklung wichtig ist. Wie sehen die
Rahmenbedingungen in der Sozialgesetzgebung aus?
Herr Bahr hat das Jahr der Pflege verkündet. Aber was
ist dabei herausgekommen? - Null! Fünf verschiedene
Vorschläge von Union und FDP oszillieren freischwebend im Raum. Aber eine Konzeption für die Pflegeversicherung habt ihr nicht.
({2})
Ihr macht des Weiteren in der Rentenpolitik nichts für
die Bezieher von Kleinstrenten. Zuerst wurde die Einführung einer Garantierente verkündet. Wenn man sich
aber anschaut, was gemacht wurde, stellt man fest:
„Bonsai“ ist noch ein euphemistischer Begriff für das,
was Sie dort veranstalten.
({3})
Sie reden nur, machen aber nichts. So kommt es auch bei
den Industrieverbänden, zum Beispiel beim BDI, an.
Diese Regierung ist nicht auf der Höhe der Zeit.
Alle wissen: In einer Marktwirtschaft, wo es auf die
Verbraucher ankommt - insbesondere beim Binnenmarkt -, ist die Psychologie, für die auch Sie mit verantwortlich sind, elementar. Dabei geht es vor allem um die
Frage, wie sich die Marktakteure aufstellen. Wer eine so
miese Performance hat wie Sie, schadet der Psychologie,
insbesondere auf dem Binnenmarkt. Beim Binnenmarkt
kommt noch etwas anderes hinzu: Ihre hartnäckige Weigerung, einen allgemeinen Mindestlohn einzuführen,
führt dazu, dass wir auf dem Binnenmarkt schwächer
aufgestellt sind, als es sein müsste. Sie bauen hier ein gigantisches Konjunkturrisiko auf.
({4})
Jeder, der die empirischen Daten zum Mindestlohn
kennt, weiß, dass es klug gewesen wäre, einen allgemeinen Mindestlohn während eines konjunkturellen Höhepunkts einzuführen. Dann sind nämlich die Folgewirkungen leichter und besser zu handhaben. Das kann man
in England sehr schön sehen. Aber Sie wollen einfach
nicht oder bekommen es nicht hin. Deswegen sind wir
auf dem Binnenmarkt schwächer aufgestellt, als es sein
müsste.
({5})
Gerade wenn die Konjunktur fragil ist - das ist ein Kernpunkt der Konjunkturforschung -, wäre eine bessere
Entwicklung des Binnenmarktes von Vorteil. Man darf
nicht allein auf den Export setzen.
({6})
Ein Konjunkturrisiko stellt natürlich auch das dar,
was Sie auf EU-Ebene veranstaltet haben. Jetzt kommen
Sie und sagen: Alles toll. - Aber entscheidend für die
konjunkturelle Entwicklung wird sein, ob wir es schaffen, die Euro-Krise, die Währungskrise und die Bankenkrise so schnell wie möglich zu beenden. Wenn wir es
schaffen, wird sich die Konjunktur eher positiv entwickeln. Wenn wir es nicht schaffen, wird es schwieriger
werden. Aber auch nach dem vergangenen Mittwoch
muss man sagen: Sie haben zu lange gezögert. Wir könnten an einer ganz anderen Stelle stehen als da, wo wir
jetzt stehen.
({7})
- Herr Hinsken, dieses Parlament hat Frau Merkel mächtig geschoben.
Ich bin der Meinung, dass das, was jetzt beschlossen
worden ist, schon vor fünf Monaten hätte beschlossen
werden können. Dann hätte man sich fünf Monate Verunsicherung der Märkte erspart.
({8})
Herr Schäuble war vor einem guten Jahr bereits an dem
Punkt,
({9})
als er davon gesprochen hat, schneller einen europäischen Währungsfonds einzuführen. Das wäre möglich
gewesen. Dann hätten wir diese Spekulationen jedenfalls
nicht gehabt.
({10})
- Deutschland hätte in die Richtung marschieren müssen. - Das Problem war doch ein ganz anderes. Die
CDU-geführte Regierung - die FDP hat dabei assistiert hat zuerst immer gesagt, dass sie es nicht mache, nach
zwei Monaten hat sie es dann aber doch getan. Das hat
zu Verzögerungen geführt. Das steht in jeder Wirtschaftszeitung. Darüber brauchen wir in diesem Haus
nicht zu debattieren.
({11})
Wir sehen es nicht als Aufgabe der Opposition - deswegen sind wir auch angesichts des Tenors des SPD-Antrags skeptisch -, die Konjunktur schlechtzureden.
({12})
Wenn man genau hinschaut, dann stellt man fest, dass es
völlig offen ist, ob wir in eine Wirtschaftskrise geraten
oder nicht.
({13})
Deswegen muss man sich auf die Frage, was jetzt zu tun
ist, konzentrieren; das haben Sie in Ihrem Antrag auch
an einigen Stellen getan. Was ist jetzt zu tun, falls die
Lage schwieriger wird, damit die Konjunktur nicht so
stark einbricht?
Sie haben zum Teil ein verheerendes Erbe hinterlassen. Ich will eine Zahl nennen. Vor der letzten Krise
hatte die Bundesagentur für Arbeit 18 Milliarden Euro
Überschuss in ihren Kassen. Jetzt haben Sie die Kassen
geplündert, weil Sie sonst die Haushaltskonsolidierung
nicht erreicht hätten.
({14})
Jeder muss wissen, dass beim nächsten Abschwung
diese 18 Milliarden Euro fehlen werden und es viel
schwieriger wird, die Arbeitsmarktprobleme auf eine
vernünftige Art und Weise anzugehen.
({15})
Wenn man an die Substanz geht - Herr Fuchs, Sie als
Unternehmer wissen das -, ist das immer schlecht.
Ich möchte noch einen Punkt zum Abschluss erwähnen. Sie sagen, es sei noch etwas Luft im Haushalt, und
plädieren für eine Steuersenkung. Man spricht von
6 Milliarden Euro, manchmal von 4 Milliarden Euro;
aber eigentlich geht es nur darum, dass Sie das Wort
- das Label - „Steuersenkung“ irgendwie über die Runden kriegen. Ich finde, dass eine FDP, die bei 3 Prozent
steht, auch mit diesem Label nicht wiederbelebt wird.
Herr Solms, diese Hoffnung können Sie sich sparen.
({16})
Das Entscheidende ist, dass Sie gar nicht auf das achten, was der Staat machen müsste, aber gegenwärtig
nicht tut. Ein Beispiel: Sie haben den Atomausstieg
beschlossen, aber die Mittel für den Einstieg in die Energiewende - Stichworte: Energieeinsparfonds und Gebäudesanierung - sind nicht ausreichend. Das heißt, der
Weg, wie wir ohne Atomkraft auskommen können,
schlägt sich nicht in haushaltspolitischen Entscheidungen nieder. Mir hat der Vorstandsvorsitzende eines Energieunternehmens in diesen Tagen gesagt: Röttgen findet
gegenwärtig in der Energiepolitik nicht statt. - Rösler
findet sowieso nicht statt. Gar nichts. Sie nehmen die Sache nicht in die Hand. Wenn wir 2 Milliarden, 3 Milliarden oder 4 Milliarden Euro übrighätten und uns noch im
Rahmen der Schuldenbremse bewegen würden, dann
müsste dieses Geld investiert werden,
({17})
und zwar in die Zukunft, in Klimaschutz und in Forschung und Bildung; denn das sind die Investitionen, die
Deutschland voranbringen.
({18})
Was Sie mit der Steuersenkung machen, ist nichts anderes als das Vervespern der Steuermehreinnahmen, die
uns der Aufschwung gebracht hat. Sie stehen dann ziemlich schlecht da, wenn die wirtschaftlichen Zeiten wieder
schwerer werden. Deswegen gilt die Überschrift im
SPD-Antrag zu Recht, in der Schwarz-Gelb als Risiko
für unsere Wirtschaft bezeichnet wird. Ich füge hinzu:
ganz egal, ob im Aufschwung oder im Abschwung.
({19})
Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland steht
2011 besser da als die meisten anderen Länder in
Europa. Deutschland steht 2011 auch besser da als in der
Zeit der rot-grünen Regierung und der schwarz-roten
Regierung. Das sind die Fakten.
Wir sind besser durch die Krise gekommen als die anderen Länder in Europa. Auch wir haben nicht hundertprozentig gewusst, ob wir den richtigen Weg beschreiten. Erinnern wir uns: Auch 2008 wurden Schirme
aufgespannt. Es wurden 480 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt für Garantien, Bürgschaften für die nationalen Bank- und Finanzsysteme, Konjunkturprogramme
und anderes. Jetzt wissen wir: Unser Weg hat sich in
Europa und in der Welt als der richtige Weg herausgestellt. Das war nicht von Anfang an klar. Das haben viele
in Europa und in der Welt noch im letzten Jahr und auch
in diesem Jahr bestritten.
Ich verweise auf die Zahlen, die wir im letzten Jahr
und in diesem Jahr vorlegen konnten: Das Wirtschaftswachstum - es ist angesprochen worden - betrug im
letzten Jahr 3,6 Prozent und wird in diesem Jahr 2,9 Prozent betragen. Das ist das höchste Wirtschaftswachstum,
das wir in diesem Land seit der Wiedervereinigung haben.
({0})
- Sie wissen doch, dass wir, was das Bruttoinlandsprodukt, also die absoluten Zahlen, anbelangt, heute besser
dastehen als vor der Krise.
Das sind die Fakten. Sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sind das Ergebnis wachstumsorientierter
Politik. Wir haben unter dieser Regierung ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz und ein Bürgerentlastungsgesetz beschlossen, was im letzten Jahr die größte Entlastung gebracht hat, die es jemals in Deutschland gab:
fast 23 Milliarden Euro.
({1})
Das schlägt sich jetzt im Aufschwung natürlich positiv
nieder: in Investitionen im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor. Dadurch wird das Wachstum verstetigt
und weiter ausgebaut.
Dies ist auch das Ergebnis von Konsolidierung, von
verantwortlichem Handeln in der Krise und jetzt auch
nach der Krise. In der Krise wurden Impulse gesetzt.
Nach der Krise ist man sehr schnell und deutlich zurückgegangen und hat gesagt: Jawohl, wir müssen die Verschuldung zurückführen. Schließlich ist die Verschuldung in der Tat eine der Hauptgeißeln, die wir uns alle
selber auferlegt haben. Warum sind wir denn heute so
abhängig von Finanzsystemen, von internationalen
Geldgebern? Weil auch wir in Deutschland eine Verschuldung von 85 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
haben. Auch wir brauchen in diesem Jahr Refinanzierungen von über 300 Milliarden Euro, um unsere Kredite zu
revolvieren und entsprechende Zins- und Tilgungsleistungen zu tätigen.
Dass wir in Europa den richtigen Weg eingeschlagen
haben, zeigt sich jetzt. Wir hatten Anfang, Mitte des Jahres eine Verschuldung von 85 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Ende des Jahres wird dieser Wert in Richtung
80 Prozent gesunken sein. Unser Staat wird einer der
wenigen, wenn nicht der einzige in Europa sein, der in
diesem Jahr, relativ gesehen, Schulden abbaut.
({2})
Dies ist das Ergebnis einer Politik des Konsolidierens
und des Wachsens gleichermaßen. Wir zeigen, dass so
etwas geht.
({3})
- Wir bauen, relativ gesehen, also am Bruttoinlandsprodukt gemessen, Schulden ab. Wenn unsere Verschuldung
Ende des Jahres 80 oder 81 Prozent, vielleicht sogar unter 80 Prozent des BIP ausmacht, dann ist das ein relativer Rückgang.
({4})
Das ist uns noch nicht genug. Wir wollen in Zeiten guter
Konjunktur überhaupt keine Schulden mehr aufnehmen,
und wir wollen die Schuldenaufnahme, so wie es die
Schuldenbremse vorsieht, auf eine strukturelle Komponente beschränken, die möglichst nicht zum Einsatz
kommt. Unsere Politik geht auf, weil wir wahrscheinlich
im nächsten Jahr - wie 2007 und 2008 - einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen können.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Bundesregierung
habe zu den Finanzproblemen in Europa durch ihre
„Politik des Zögerns und Zauderns“ beigetragen. Jetzt
sind wir noch nicht am Ende der Krise, sondern noch
mittendrin. Aber von Zögern und Zaudern kann nicht die
Rede sein. Ich würde das eher eine Politik des Überlegens und des Überzeugens nennen.
({5})
Wir sind nämlich nicht im demokratischen Sozialismus,
wie es von Ihnen gestern veranstaltet wurde.
({6})
Im Übrigen hat auch der Kollege Bartels für die SPD die
Deutungshoheit über den Begriff „demokratischer Sozialismus“ angemeldet; auch da weiß man nicht so recht,
was man davon halten soll. Wir sind vielmehr in einem
Europa der Demokratien. Es sind 27 Staaten, die gleichberechtigt sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Enkelmann?
Nein. Ich habe heute keine Zeit dafür; ein anderes
Mal wieder.
({0})
Da können wir nicht nach Brüssel fahren und dort sagen, wo es langgeht. Die anderen Staaten haben ihre eigenen Vorstellungen. Das war im letzten Jahr zu sehen.
Erinnern wir uns einmal: Im letzten Jahr war Deutschland mit seiner Linie bei den Weltgipfeln und bei den
Gipfeln in Europa ganz allein. Alle haben noch mehr
Konjunkturprogramme und noch mehr Verschuldung
von Deutschland gefordert. Wir haben gesagt: Nein, das
machen wir nicht; wir konsolidieren, und wir wachsen
trotzdem.
Jetzt, nach einem Jahr, sind diese Stimmen fast verstummt. Man folgt uns in Europa, nicht deshalb, weil wir
nach Brüssel gefahren sind, dort gepoltert haben und an
der einen oder anderen Ecke vielleicht einen marginalen
Erfolg erzielt haben - wie früher Gerhard Schröder -,
sondern deshalb, weil wir - die Bundeskanzlerin und der
Bundesfinanzminister vorneweg - über ein Jahr lang
Überzeugungsarbeit geleistet und gezeigt haben, dass
wir in Deutschland auf dem richtigen Weg sind. Das
restliche Europa folgt uns jetzt, weil man sieht, dass unser Weg der richtige ist.
({1})
Wohin wären wir denn gekommen, wenn wir vor einigen Monaten der SPD mit ihrem „Hurra!“-Patriotismus
Richtung Europa gefolgt wären und Euro-Bonds eingeführt hätten? Sie standen an dieser Stelle und haben die
Einführung von Euro-Bonds gefordert, am Anfang sogar
unkonditioniert. Erst am Ende ist Herr Steinmeier zurückgerudert und hat gesagt: Natürlich müssen auch entsprechende Fortschritte bei der Integration und anderem
mehr erreicht werden. - Anfangs waren Sie der Meinung, man brauche nur die Euro-Bonds einzuführen und
dann würde alles gut.
Andere sind der Meinung, man müsse die Griechen
aus der Euro-Zone werfen und Sonstiges mehr. Das ist
nicht unsere Politik. Wir wollen einen anderen Weg gehen. Es gilt, die Balance zu finden zwischen glaubhaftem, dauerhaftem Konsolidieren in jedem einzelnen
Staat in Europa und in der Europäischen Union auf der
einen Seite und der Organisation von Wachstum auf der
anderen Seite. Wenn wir das deutlich machen, können
wir Vertrauen zurückgewinnen und haben die Chance,
aus dieser Situation herauszukommen.
Blicken wir einmal darauf zurück, wie es vor rund
20 Jahren vor der Einführung der gemeinsamen Währung war. Da haben alle gesagt: Der Euro wird eine weiche Währung. Die Spanier und die Italiener werden niemals die Stabilitätskriterien einhalten. Die haben höhere
Inflationsraten. - Heute ist der Euro stabiler, als es die
D-Mark je war, nach innen und nach außen. Der Weg ist
in Europa akzeptiert, aus Einsicht, weil es nämlich der
richtige Weg ist, und nicht deshalb, weil wir polternd
nach Brüssel gefahren sind. Ich erhoffe mir, dass wir in
10 oder 15 Jahren rückblickend sagen können: Das war
damals die Erkenntnis, dass wir nicht dauerhaft über unsere Verhältnisse leben können, sondern dass wir auf der
einen Seite sorgsam und nachhaltig mit den Finanzen
umgehen müssen und auf der anderen Seite Wachstum
organisieren müssen.
Ich will jetzt ein paar Punkte zum Arbeitsmarkt ansprechen. Die Arbeitslosenzahlen sind schon genannt
worden. Die sind aber nur ein Aspekt. Viel entscheidender ist, dass wir noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so viele Beschäftigte hatten wie in
diesem Jahr.
({2})
Es sind über 41 Millionen Beschäftigte. Der Zuwachs
bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist
höher als bei den anderen Beschäftigten.
({3})
- Von wegen „prekär“! Sie tun immer so, als wären wir
hier das Land der Lohndumper und was weiß ich.
({4})
Das Gegenteil ist der Fall!
({5})
Sie behaupten die Unwahrheit, und zwar wider besseres
Wissen.
({6})
Wir haben noch nie so viele sozialversicherungspflichtig
Beschäftigte gehabt wie in diesem Jahr,
({7})
nicht in Teilzeit und nicht in prekären Arbeitsverhältnissen. Was Sie sagen, ist völlig abwegig.
({8})
Die Binnenkonjunktur ist auch schon angesprochen
worden. Es wurde gesagt, sie sei schwach. Das stimmt
nicht. Herr Duin, in diesem Jahr ist die Binnenkonjunktur ein größerer Wachstumsträger als der Export. Durch
die private Binnennachfrage haben wir einen Wachstumsbeitrag von 0,7 Prozentpunkten und durch den
staatlichen Konsum einen von 0,2 Prozentpunkten, während wir vom Export nur einen Wachstumsbeitrag von
0,4 Prozentpunkten haben. Insofern ist die Behauptung
falsch, die Binnenkonjunktur laufe nicht. Im Gegenteil,
sie läuft besser denn je.
Im Übrigen sind mit dieser Entwicklung der Binnenkonjunktur direkte positive Auswirkungen für die Arbeitnehmer verbunden. Die niedrigeren Beiträge zur
Rentenversicherung sind vorhin schon angesprochen
worden. Es ist doch das Beste, was man den Arbeitnehmern bieten kann, wenn sie weniger Abgaben zahlen
müssen, weil sie dann mehr im Geldbeutel haben.
({9})
Darüber hinaus gibt es in diesem Jahr und im nächsten
Jahr kräftige Reallohnzuwächse, die den Arbeitnehmern
zugutekommen. Aber nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Rentner profitieren von dieser Lösung.
Sie fordern mehr Investitionen. An dieser Stelle muss
ich Sie fragen, in welchen Bereichen Sie mehr Investitionen fordern. Ich gehe davon aus, dass Sie diese nicht
bezogen auf den privaten Bereich fordern, weil wir
Investitionen im privaten Bereich nur eingeschränkt beeinflussen können, zum Beispiel über die steuerlichen
Rahmenbedingungen. Das haben wir gemacht, und wir
wollen sie weiter optimieren. Zudem wollen wir in dieser Legislaturperiode noch eine steuerliche Forschungsförderung auf den Weg bringen und anderes mehr.
({10})
Die privaten Investitionen machen in diesem Jahr
1,3 Prozent des Wachstumsbeitrags aus. Von diesen
1,3 Prozent entfallen 0,7 Prozentpunkte auf Ausrüstungsinvestitionen und 0,2 Prozentpunkte auf Bauinvestitionen. Die Investitionen sind also weitaus höher als in
der Vergangenheit.
({11})
Wenn Sie nun mehr öffentliche Investitionen fordern,
dann muss ich Sie fragen, welche. Wir machen zwei
Dinge, und dazu stehen wir. Zum einen investieren wir
auf hohem Niveau in die Infrastruktur. Wir investieren
über 10 Milliarden Euro.
({12})
Ich gehe davon aus, dass wir sogar noch etwas drauflegen werden. In den weiteren Gesprächen und Verhandlungen der nächsten Wochen wird sich das zeigen. Das
werden Sie sehen. Es wird mehr investiert, als man in
der Vergangenheit investiert hat.
Zum anderen investieren wir so viel wie nie zuvor in
Forschung und Entwicklung. 2004 - im letzten Jahr vor
Schwarz-Rot - wurden 8,8 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung in Deutschland investiert. In
diesem Jahr investieren wir knapp 13 Milliarden Euro in
Forschung und Entwicklung. Das sind gut 40 Prozent
mehr als zu rot-grünen Zeiten. Wir ergreifen also die
richtigen Maßnahmen, um das Land voranzubringen.
({13})
Ich kann das ZIM nur erwähnen - Herr Präsident, ich
komme zum Schluss -, das den Mittelstand in das
Wachstum mit einbezieht.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Konsolidieren und
wachsen, das ist der Weg für Deutschland, das ist der
Weg für Europa. Diesen müssen wir konsequent weitergehen. Wir sind aber noch nicht aus der Krise heraus,
und es gibt Gefahren. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass sich diese nicht realisieren, sondern dass es
positiv weitergeht. Dann besteht nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa die Chance, gestärkt aus
der Krise hervorzugehen.
Vielen Dank.
({14})
Eine Kurzintervention von Dagmar Enkelmann.
Herr Kollege Pfeiffer, Sie haben vorhin behauptet,
dass die Linke gestern eine Debatte über den demokratischen Sozialismus angezettelt habe. Darf ich Sie daran
erinnern, dass es ganz offenkundig Ihr Bedürfnis war,
über das neue Parteiprogramm der Linken zu diskutieren? Sie haben diese Aktuelle Stunde beantragt. Übrigens kann man ab der nächsten Woche alles auf der Seite
www.die-linke.de nachlesen.
Sie wollten also darüber reden. Sie hatten offenkundig großes Interesse daran. Diesem Interesse sind wir
sehr gerne nachgekommen. Wenn es weiteres Interesse
an einer Diskussion über unser Parteiprogramm gibt,
sind wir gern bereit, diese Debatte im Bundestag weiter
zu führen. Ganz herzlichen Dank für Ihr Interesse.
({0})
Kollege Pfeiffer, wenn Sie Lust haben.
Das ist in der Tat gestern diskutiert worden. Dass das
ein neues Programm gewesen sei, ist aber falsch.
({0})
Vielmehr wollen Sie den demokratischen Sozialismus
wiederbeleben. Dieser ist jedoch aus dem 19. Jahrhundert. Das wollten wir deutlich machen, und das haben
wir deutlich gemacht.
({1})
Das Wort hat nun Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Ich habe mich ein
bisschen gewundert, dass sich Herr Pfeiffer nach dem
Desaster mit der Mövenpick-Hotelsteuer überhaupt getraut hat, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz noch
einmal anzuführen. Man muss einmal zurückschauen Garrelt Duin hat schon darauf hingewiesen -: Wir haben
die Konjunkturprogramme I und II sowie das Programm
Kurzarbeitergeld plus gehabt. Das war die Basis für einen langanhaltenden Wachstumspfad - übrigens als Krisenbewältigungsprogramm - und hat auch zum Abbau
der Arbeitslosigkeit geführt. Was können wir daraus lernen? Investitionen sind gut. Sich um Arbeitsplätze zu
kümmern, ist gut. Beides schafft Wachstum. Und worüber reden wir heute? Von einer kleinen Steuersenkung,
von der alle behaupten, dadurch solle Wachstum erzeugt
werden. Jeder weiß, dass die anderen Methoden viel besser und erfolgversprechender waren.
({0})
Werfen wir einmal einen Blick darauf, was die Regierung nach dem Status quo, den sie vorgefunden hat - Investitionen, Programme zum Anstieg der Beschäftigung
usw. -, gemacht hat:
Phase 1: der Holperstart - „Gurkentruppe“, „spätrömische Dekadenz“. Phase 2: Phase der Ruhe - Europa
wartet auf Deutschland, Deutschland fürchtet Steuersenkungen. Phase 3: Herbst der Entscheidungen - Verlängerung der AKW-Laufzeiten, Desaster in der Gewerbesteuerreform.
Phase 4: Die eiserne Kanzlerin - kein Geld für die
Griechen. Der eiserne Finanzminister - keine Steuersenkungen. Ich zitiere die Kanzlerin: Niemand hat die Absicht, Atomkraftwerke abzuschalten. Niemand hat die
Absicht, die Wehrpflicht abzuschaffen. Niemand hat die
Absicht, Griechenland umzuschulden.
Ich werde es immer für unsinnig halten, technisch
sichere Kernkraftwerke abzuschalten. Sie werden
sehen: Eines Tages werden auch die Sozialdemokraten das einsehen.
So viel zur Stabilität Ihrer Ankündigungen und der Art,
wie Sie Politik machen. Es geht mir übrigens nicht darum, zu sagen, dass die Regierung einen Fehler gemacht
hat - oder zwei oder drei -; es geht mir darum, dass das
System, wie Sie Politik machen, falsch angelegt ist. Sie
betreiben eine systemische Hinwendung zu einem intoleranten System. Das führt permanent zu Fehlern; das ist
das große Problem.
Phase 5: Korrekturen und Kehrtwende - AKW doch
abschalten, Wehrpflicht doch abschaffen und doch Geld
für die Griechen.
Phase 6 - das ist der Punkt, der uns wirklich Sorgen
macht -: Mitten in der größten Krise - wir müssen uns
um eine Bankenkrise kümmern, um eine Marktkrise und
um eine Staatsverschuldungskrise - kommen Sie und
diskutieren über eine Steuersenkung, die von allem ablenkt, was wirklich wichtig ist, und die überdies keinerlei positive Wirkung für Arbeit, Wirtschaft und Wachstum zeitigt.
({1})
Die FDP hat sich dafür einen Moment ausgesucht, in
dem der Finanzminister und auch die Kanzlerin unter extremem Druck stehen. Beide mussten in Europa tagelang
verhandeln, mussten sich in neue Konzepte einarbeiten
und müssen Maßnahmen ergreifen, deren Wirkung heute
keiner übersehen kann. Das Haus brennt, und in dieser
Phase kommen Sie und wollen über Steuersenkungen reden. Ich nehme an, Herr Schäuble hat gesagt: Was kostet
eure Steuersenkung? 6 oder 7 Milliarden Euro? Ich habe
gerade ein richtig dickes Problem. Ihr bekommt sie, aber
dann lasst mich in Ruhe. - Das Problem ist, dass Sie mit
Steuersenkungen daherkommen, obwohl Sie genau wissen, dass das zu nichts anderem führt als zu neuen Problemen im eigenen Land. Denn die Steuersenkungen
Lothar Binding ({2})
- das wissen wir ja - werden letztlich nichts weiter bewirken, als die Staatsverschuldung zu erhöhen.
Wenn Sie Steuersenkungen damit begründen, dass es
der Konjunktur gut gehe, dann liegt darin ein systemischer Fehler; denn die Konjunktur geht auf und ab, aber
die Steuersenkungen sind von Dauer. Wenn Sie konstant
auf Steuereinnahmen verzichten, werden Sie spätestens
in der nächsten Rezession ein Riesenproblem bekommen. Das ist ein systemischer Fehler, den wir unbedingt
vermeiden müssen. Ich hoffe sehr, dass sich in diesem
Fall die CSU durchsetzt; denn die CSU trägt das nicht
mit.
({3})
Worüber wir ernsthaft nachdenken müssen, ist die
Frage, wie wir Europa retten. Vielleicht sollten wir doch
noch einmal über ein Trennbankensystem nachdenken;
denn heute haftet der Sparer für die Zocker. Es wird immer gesagt, der Zocker sei der Investmentbanker. Das erinnert ein wenig an Investitionen; dabei will der Banker
gar nicht investieren. Wir wissen ja: Das Bruttoinlandsprodukt weltweit bewegt sich in der Größenordnung von
60 Billionen Euro. Die Banker aber handeln in einem
Finanzraum von etwa 700 Billionen Euro. Daran erkennt
man sofort: Die Arbeit der Banker findet in einem virtuellen Raum statt. Sie hat mit dem realen Wachstum, einer realen Investition, einem realen Arbeitsplatz überhaupt nichts zu tun. Deshalb ist es so gefährlich, sich auf
diesen finanzpolitischen Irrweg zu begeben.
({4})
Wir müssen sicher einmal über unsere Maßstäbe
nachdenken; denn Ratingagenturen haben sich maßlos
geirrt. Wir haben das überhaupt nicht reflektiert. Wir
müssen überlegen, ob wir uns überhaupt noch von denen
beurteilen lassen. Wahrscheinlich müssen wir etwas
ganz anderes machen und, ganz konkret auf die EFSF
bezogen, sagen: „Wir verzichten auf das Triple-A-Rating
- die Ratingagenturen sind ohnehin nicht seriös - und
nehmen den Betrag, für den wir haften, also 780 Milliarden Euro“. Das wäre schon etwas ganz anderes; es wäre
nicht so mühsam wie das, was wir über die Hebelwirkung erreichen wollen. Ich glaube, wir brauchen ganz
neue Ideen: Wir müssen den Versuch unternehmen, uns
als Staat auf soziale Weise auf diesem Markt durchzusetzen und uns den Leuten, denen es überhaupt nicht auf
die Gemeinschaft ankommt, in den Weg zu stellen.
Es darf keine Denkverbote geben. Wir haben schon
wieder gehört, dass der Ankauf bestimmter Staatsanleihen und Gemeinschaftsanleihen problematisch sei. Wir
alle warten natürlich darauf, dass Sie es doch beschließen. Die Frage ist: Warum ist es eigentlich grundsätzlich
verkehrt, wenn man das, was ohnehin schon passiert,
systematisch organisiert? Auch die Staatsfinanzierung
über die EZB wird verteufelt, findet aber statt. Ich
glaube, wenn man in solchen Widersprüchen lebt, kann
man keine kluge Politik entwickeln. Deshalb glaube ich,
dass all die Dinge, die Sie heute noch ausschließen, morgen kommen werden.
Die Frage ist, ob FDP und CDU/CSU die Entwicklung eines völlig neuen Regelungsbegriffs überdenken,
der im Spannungsverhältnis zum Liberalismus steht, um
das, was gegenwärtig passiert und uns jenseits aller
Möglichkeiten, die wir als Politiker haben, in den Abgrund reißen könnte, neu zu organisieren. Denn es kann
nicht sein, dass die Politik letztendlich die Getriebene
auf einem High-Frequency-Markt ist, der nicht nur an
der Börse stattfindet - 20 Millionen Kontrakte am Tag -,
sondern überall. Wir sind permanent die Getriebenen.
Wir müssen uns aber an die Spitze stellen. Die Politik
muss so langsam verfahren dürfen, dass sie gut und
überlegt entscheiden kann. Ich glaube, dass uns dieses
Grundverfahren verloren gegangen ist. Da wäre es wichtig, dass die Regierung über Veränderungen nachdenkt.
Dann können wir auf einen guten Weg kommen.
({5})
Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!
Nach diesem aufgeregten Politpotpourri kommen wir
jetzt wieder zurück zu dem, um was es hier eigentlich
geht: Was sind Risiken für die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieses Landes? Die Kollegen Dr. Solms,
Dr. Pfeiffer und andere haben dargestellt, was wir getan
haben, um in die exzellente wirtschafts- und finanzpolitische Situation zu kommen, in der wir uns im Moment
befinden. Ich sage Ihnen, was tatsächlich die Risiken für
die Konjunktur und die deutsche Wirtschaft sind:
Erstens: eine grassierende Infrastrukturmüdigkeit und
teilweise -feindlichkeit. Da schaue ich nicht zu Unrecht
in die mittleren Reihen, zu den Grünen.
({0})
Das, was in diesem Land teilweise aus purem Linkspopulismus aufgeführt wird - zum Beispiel bei Stuttgart 21,
beim Netzausbau, bei Nachtflugverboten und Ähnlichem -, gefährdet den Industriestandort Deutschland.
({1})
Es ist eines der zentralen Risiken, dass Sie sich an jede
Bürgerinitiative klemmen, die selbstsüchtig alles bekämpft, was dieses Land braucht, um Punkte zu sammeln.
({2})
Zweitens. Der einheitliche gesetzliche Mindestlohn
ist ein weiteres Risiko für die Wirtschaft und für dieses
Land. Ich diskutiere mit Ihnen jederzeit über branchen-,
bezirks- und regionalbezogene Mindestlöhne, die mit
der Wirtschaft ausgehandelt werden; darüber können wir
gerne reden. Aber ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro, wie Sie, Herr Duin, ihn fordern, geht doch in der Metallindustrie und den meisten
verarbeitenden Industrien völlig ins Leere.
Dr. Martin Lindner ({3})
({4})
Beim Friseurhandwerk in Mecklenburg-Vorpommern
und in anderen Bereichen würde er dazu führen, dass die
Leute, die im Moment in Lohn und Brot sind, wieder auf
der Straße landen.
({5})
Solch einen Unsinn machen wir nicht mit; es wäre ein
Risiko für die Wirtschaft.
({6})
Drittens. Wir sind mit der Energiewende an das äußerste Limit dessen gegangen, was unsere Industrie an
Ökostandards - Ökologie versus Ökonomie - vertragen
kann. Es ist richtig und wichtig, was wir getan haben;
aber es geht nicht, dass wir in dieser Legislaturperiode
und darüber hinaus die Standards im ökologischen Bereich weiter erhöhen. Wir brauchen die Industrie, um das
zu finanzieren, was wir an anderer Stelle für richtig halten, um die Ökologie zu stärken. Man kann das aber
auch überziehen. Wir sind hier an der äußersten Grenze.
Das müssen wir jederzeit berücksichtigen.
({7})
Viertes Risiko: sinnlose Regulierung der Wirtschaft.
Ein Beispiel dafür war diese abwegige Quotendiskussion: einheitliche Frauenquoten in der deutschen Wirtschaft.
({8})
Als hätte dieses Land keine anderen Probleme, als über
so etwas zu diskutieren!
({9})
Das muss man sich einmal vorstellen: In manchen Industrieunternehmen liegt der prozentuale Anteil von Frauen
an der Gesamtbeschäftigtenzahl gerade einmal bei 6 bis
7 Prozent. Und da wollen Sie eine Quote von 30 Prozent
einführen. Das ist völliger Unsinn!
({10})
Wir haben wirklich andere Sorgen, als hier Quotendiskussionen zu führen.
Ein weiteres Thema sind Exportbeschränkungen für
die deutsche Wirtschaft. Das ist ja auch immer herrlich;
da sind Sie immer ganz vorne dabei.
({11})
Ich habe jetzt wieder gelesen, dass alle Ihre Wirtschaftsexperten, die Sie von der Linken hier heute aufgefahren
haben, IG-Metall-Mitglieder oder NABU-Mitglieder
sind - alles, was man auf der linken Seite als Auszeichnung für Wirtschaftskompetenz gebrauchen kann.
Das Interessante mit Blick auf die Diskussion über
Exporte - zum Beispiel im wehrtechnischen Bereich ist, dass wir immer Beschwerdebriefe der Betriebsräte
dieser Unternehmen bekommen, die alle IG-Metall-Mitglieder sind. Die leite ich beim nächsten Mal an Sie weiter. Sollen Sie sich doch einmal darum kümmern, die Sie
in diesem Bereich jederzeit gegen die deutsche Wirtschaft agieren.
({12})
Fünftes Risiko: Missbrauch von Finanzmarktregulierung zum Plattmachen des Finanzstandortes Deutschland. Ich bekenne an dieser Stelle ausdrücklich: Wir
brauchen eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte,
({13})
um das, was man Realwirtschaft nennt, mit den notwendigen Finanzmitteln zu versorgen. Das, was Sie in Ihrer
rot-grünen Regierungszeit eingeführt haben, muss zum
Teil wieder rückgängig gemacht werden. Wir brauchen
einen funktionierenden Finanzmarkt.
Das Thema Bankenregulierung ist ein ernstes Thema.
Aber Teile von Ihnen benutzen es, um gezielt gegen die
wenigen funktionierenden Großbanken dieses Landes zu
feuern. Das ist auch ein Risiko. Eine der größten und bedeutendsten Industrienationen wird man nicht nur über
Sparkassen mit Geld versorgen können. Das kann ich Ihnen an dieser Stelle ganz klar sagen.
({14})
Sechstes Risiko: ein weiterer Ausbau des Sozialstaates. Ich habe wieder mit großem Interesse gehört, mit
welcher Verve, mit welchem Genuss Sie gegen Steuersenkungen, gegen minimale Anpassungen im unteren
und mittleren Bereich, um die kalte Progression zu beseitigen, diskutieren. Ich bin sehr gespannt darauf, ob
Sie die Argumente, die Sie hier angeführt haben - das
können wir uns nicht leisten -, beim Thema Hartz-IVErhöhung auch wieder anführen.
({15})
Wenn es um die Versorgung Ihrer Klientel oder um die
Subventionen für die Ökologie geht, dann kann es nicht
genug Geld sein, dann kommen Sie nicht mit solchen
Argumenten daher.
({16})
Dr. Martin Lindner ({17})
Aber wenn es einmal darum geht, die Facharbeiter, die
einfachen Leute, die Angestellten zu entlasten, dann sind
Sie natürlich immer dagegen. Dafür ist nie Geld da. Das
ist bei uns anders, und dazu bekennen wir uns auch.
({18})
Es ist ja völlig lächerlich, dass ausgerechnet von meinem Vorredner die Mehrwertsteuersenkung für das Hotelgewerbe angeführt worden ist. Ihr Herr Beck, mit dem
Sie eine Koalition bilden, setzt sich gerade dafür ein,
dass die von uns abgeschaffte Mehrwertsteuer für die
Flusswirtschaft wieder eingeführt wird. Das ist Ihre
Klientelpolitik. Das ist doch lächerlich! Sie dürften doch
die Worte „Mehrwertsteuersenkung für die Hotellerie“
nicht mehr in den Mund nehmen, seitdem Sie hier so einen kleinlichen Lobbyismus machen. Das muss man
auch einmal sagen.
({19})
Es ist eine schizophrene Vorgehensweise, ausgerechnet
hier in dieser Weise noch einmal so die Backen aufzublasen.
({20})
Um es kurz zusammenzufassen: Alles, was Sie hier
vorgeschlagen haben, ist ein Risiko für die deutsche
Wirtschaft. Alles, was Sie hier vorschlagen, wäre risikoreich.
({21})
Wir führen unseren Kurs fort und bekennen uns zum Infrastruktur- und Industriestandort Deutschland, zu einem
aktivierenden Sozialstaat, der differenziert, ob jemand
arbeitet oder Geld vom Staat bekommt, zu einer maßvollen Steuer- und Abgabenpolitik, zu einer vernünftigen
Regulierung der Finanzmärkte, zu einer Intensivierung
der Forschungsförderung, zur Rohstoffversorgung und
zur Fachkräftepolitik. Das ist unser Programm. Das Einzige, was Sie dem entgegengesetzt haben, war: ein paar
mehr Konjunkturprogramme, Kurzarbeit und Mindestlohn. - Es ist doch lächerlich, dass Sie uns heute kurz
vor dem Ende der Woche noch mit diesem läppischen
Programm belästigen.
Herzlichen Dank.
({22})
Das Wort hat nun Axel Troost für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sicherlich haben die Kolleginnen und Kollegen der SPD
recht, wenn sie die Wirtschafts- und Finanzpolitik der
Bundesregierung als Risiko für die Konjunktur bezeichnen und staatliche Investitionen fordern. Dennoch will
ich nicht verschweigen, liebe Kollegen von der SPD,
dass Ihr Antrag - sicherlich nicht nur bei mir - auch ein
gewisses Befremden auslöst. Sie haben vorgestern Ihre
Zustimmung zu einem Euro-Rettungsschirm bekräftigt,
der Ländern nur dann hilft, wenn sie sich hemmungslos
kaputtsparen und damit ihre eigene Wirtschaft in eine
Abwärtsspirale stürzen.
({0})
Man darf den bevorstehenden Konjunktureinbruch in
Deutschland sicher nicht auf die leichte Schulter nehmen. Eine verantwortungsvolle Politik muss ihm unbedingt entgegenwirken.
({1})
Aber im Vergleich zu der Tiefe der wirtschaftlichen Talfahrt in Griechenland und Portugal ist der zu erwartende
Konjunktureinbruch in Deutschland geradezu eine Lappalie.
({2})
Griechenland und Portugal haben sozusagen eine
schwere Lungenentzündung, liegen auf der Intensivstation und bekommen jetzt noch heftige Abführmittel zur
völligen Austrocknung ihres Wirtschaftskörpers. Wenn
Deutschland aus ökonomischer Vernunft eine konjunkturelle Stimulierung vertragen kann, wie viel mehr muss
das erst für Griechenland und Portugal gelten?
({3})
Ihnen sprechen Sie aber das Recht auf ökonomische Stimulierung ab. Wie geht das zusammen?
({4})
Wenn auch die Forderungen in Ihrem Antrag im Einzelnen nicht falsch sind, so greifen Sie doch aus unserer
Sicht bei Ihrer Analyse der Mängel zu kurz. Wir brauchen nicht nur eine kurze Intervention oder konjunkturelle Stimulierung gegen den Kriseneinbruch, sondern
wir brauchen einen grundlegenden Paradigmenwechsel
in der Wirtschaftspolitik.
({5})
Glauben Sie wirklich, dass wir Investitionen in Bildung
und Qualifizierung nur aus konjunkturpolitischen Gründen brauchen? Das kann doch nicht ihr Ernst sein!
({6})
In unseren Schulen und Hochschulen fällt der Putz von
der Wand. Auch ohne konjunkturellen Einbruch müsste
etwas getan werden. Es ist doch eine Schande, dass mir
letztes Jahr eine Schulleiterin berichtet hat: „Gott sei
Dank gibt es die Weltwirtschaftskrise; denn jetzt wird
endlich mein Turnhallendach repariert.“
({7})
Die steuerliche Förderung von Energie- und Ressourceneffizienz sollte auch keine Frage der Konjunktur sein.
Was ich damit sagen will: Die deutsche Wirtschaftspolitik ist bereits seit langem, auch unter Rot-Grün und
Schwarz-Rot, nicht nur ein Risiko, sondern auch eine
Bremse für binnenwirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung, und zwar jenseits der jeweiligen aktuellen
Konjunktur.
({8})
Ich will daher ein paar Eckpunkte eines alternativen
Aufbauprogramms skizzieren. Wir hatten einige Punkte
schon angesprochen: die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes muss verlängert werden, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, die Erhöhung des Arbeitslosengeldes II und die Einführung einer Grundsicherung. Aber
wir brauchen auch ein langfristig angelegtes Zukunftsprogramm. Dazu gehört eine vernünftig geförderte öffentliche Beschäftigung. Wir haben über 880 000 Langzeitarbeitslose, von denen die Bundesagentur für Arbeit
ausgeht, dass sie nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt
zu integrieren sind.
({9})
Wir brauchen langfristig angelegte Investitionen. Ich
will Ihnen einige Beispiele nennen. Das Deutsche Institut für Urbanistik hat errechnet, dass wir allein im kommunalen Bereich bis zum Jahr 2020 einen Investitionsbedarf von über 700 Milliarden Euro haben. Es gibt eine
neue Studie, die nächste Woche durch den Hauptvorstand der GEW, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, vorgestellt wird, die den Finanzierungbedarf
für den Bildungsbereich nach Bundesländern aufschlüsselt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein zusätzlicher
jährlicher Bedarf an Mitteln von über 50 Milliarden Euro
besteht und dass allein zur Auflösung des Investitionsstaus noch einmal 45 Milliarden Euro benötigt werden.
Wir haben große Bedarfe an Investitionen im Bereich
des ökologischen Umbaus. Das gilt nicht nur für den gesamten Energiebereich, für den Bereich Wärmedämmung und viele andere mehr, sondern auch für den gesamten Verkehrsbereich mit dem Ausbau des Nah- und
Fernverkehrs. Es gibt in der Tat große Bedarfe, die zwar
auch konjunkturpolitisch notwendig sind, die aber langfristig angelegt werden müssen. Sie sollen kein Strohfeuer sein, sondern die Beschäftigung in den Kommunen
langfristig sichern.
({10})
Zum Schluss nur so viel: Ja, wir Linke haben für diese
Ausgaben ein seriöses Finanzierungskonzept. Die SPD
bleibt das in ihrem Antrag schuldig. Sie sind zusammen
mit CDU/CSU und FDP verantwortlich für die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz. Wie passt das
zu ihrem Antrag, zur Stimulierung der Konjunktur öffentliche Investitionen auszuweiten und private Investitionen
steuerlich zu fördern? Wer soll das bezahlen, wenn
gleichzeitig die Staatsschulden nicht steigen sollen?
Wer wie wir eine grundlegend andere Form von Wirtschafts- und Strukturpolitik will, muss auch eine grundlegend andere Steuerpolitik wollen. Eine deutlich stärkere Belastung von Menschen, die im Jahr etliche
Hunderttausend Euro verdienen oder Millionen Euro an
Vermögen besitzen oder erben, finden wir völlig angebracht und wünschenswert.
({11})
Auch die großen Konzerne müssen endlich wieder in
relevantem Maße zur Finanzierung des Gemeinwesens
herangezogen werden.
({12})
Wenn wir uns diesbezüglich einigen können, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, werden wir Ihrem
nächsten Antrag zum Thema Konjunktur zustimmen.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Eine
grundlegend andere Wirtschaftspolitik fordert der Kollege Troost hier. Im Zusammenhang mit der derzeitigen
Finanzkrise treibt mich die Tatsache, dass sich einige
hier einen systemischen Wandel zum Ziel gesetzt haben,
massiv um.
({0})
- Ja, aber Sie versuchen, ein Einfallstor zu finden. Wenn das von den Linken kommt, belastet mich das
nicht so sehr. Wir haben gestern in einer spannenden
Debatte darüber diskutiert, was mit „demokratischem
Sozialismus“ gemeint sein könnte. Wir haben festgestellt, dass sich diese Themen widersprechen.
({1})
- Ich komme gleich von den Linken ab, weil es sich
nicht lohnt, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Etwas anderes belastet mich in diesem Zusammenhang mehr. Ich habe nicht so ganz verstanden, was der
Kollege Binding mit dem Begriff „systemischer Wandel“ gemeint hat. Dass die SPD sich nicht klar von den
Forderungen der Linken abgrenzt, finde ich beschämend.
({2})
Wenn man mit Blick auf unsere Konjunktur über Risiken spricht, muss man feststellen: Auch Anträge wie der,
den Sie, meine Damen und Herren von der SPD, heute
vorlegen, sind ein besonderes Risiko. Sie schämen sich
nicht, aus parteitaktischem Kalkül einen Zusammenhang
zu konstruieren, den es aus meiner Sicht so nicht gibt.
({3})
Sie stellen die konjunkturelle Entwicklung schon jetzt
infrage und tun so, als würde die Finanzkrise zwangsläufig in eine realwirtschaftliche Krise führen. Das ist zurzeit nicht geboten.
({4})
Noch mehr ärgert mich, dass Sie so tun, als sei die
positive Entwicklung in diesem Land ausschließlich auf
die Vorgängerregierungen zurückzuführen. Sie haben
sich nicht nur auf die Große Koalition bezogen, sondern
auch auf Rot-Grün. Ich möchte Ihnen sagen, was seinerzeit Kollege Schröder in diesem Zusammenhang verkündet hat. Er hat das ähnlich gemacht wie Sie heute. Er hat
den Aufschwung, der schon vor der Tür stand, bevor er
Kanzler war, für sich reklamiert. Das scheint typisch zu
sein.
({5})
- Er war Bundestagskollege, mit Verlaub.
({6})
- Verdi-Kollege war er auch, aber nicht von mir. - Ich
zitiere:
Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, dann haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.
Das hat Bundeskanzler Schröder am 21. September
1998 verkündet. Bis 2002 wollte die SPD die Zahl der
Arbeitslosen unter die 3,5-Millionen-Marke drücken.
Das Versprechen wurde von Fachleuten damals angesichts der Entwicklungen im Bereich der New Economy
und angesichts der demografischen Entwicklung als zurückhaltend und nicht sonderlich ambitioniert betrachtet.
Trotzdem war man Anfang 2002 bei 4,2 Millionen Arbeitslosen. Das waren 324 000 Arbeitslose mehr als zum
Zeitpunkt von Schröders Regierungsantritt. Wir wissen,
dass das nicht das Ende der Fahnenstange war: Mit mehr
als 5 Millionen Arbeitslosen wurde die Regierung
Schröder im Jahr 2005 aus dem Amt gejagt. Ich meine,
daher sollten Sie ein bisschen kleinlauter sein, wenn es
um die Frage geht, wer für den Aufschwung, den wir in
den letzten Monaten erlebt haben, letztendlich verantwortlich ist.
Sie machen etwas anderes. Sie stellen das alles jetzt
plötzlich infrage, weil Sie versuchen, uns die Problematik in die Schuhe zu schieben. Die Problematik basiert
auf einer Euro-Krise, die eigentlich keine Euro-Krise ist,
sondern eine staatliche Schuldenkrise.
({7})
Wenn ich das Lamento auf der linken Seite höre, wie
man jetzt mit Portugal und Griechenland umgehe, dann
möchte ich noch einmal deutlich unsere Sicht der Dinge
unterstreichen. Es gibt nur eine Chance, aus dieser Misere herauszukommen: Die Staaten müssen sich auf eine
Konsolidierung ihrer Haushalte besinnen und dafür
Sorge tragen, dass ihr Haus in Ordnung ist. Dies gilt im
Übrigen auch für unser Land; da sollten wir nicht nur auf
die anderen zeigen. Deshalb ist Konsolidierung eine vornehme Pflicht.
Mich hat in der Diskussion auch überrascht, dass niemand von der SPD die Schuldenbremse im Grundgesetz
angesprochen hat. Das war eine der zentralen gemeinsamen Leistungen der Großen Koalition, etwas, das wir
gemeinsam beschlossen haben, bei dem wir unsere
grundgesetzändernde Mehrheit zielorientiert und sinnvoll genutzt haben. Auch da drängt sich mir der Verdacht
auf, den Kollege Solms heute schon einmal geäußert hat,
nämlich dass Sie auch zu dieser Thematik nicht mehr
stehen. Viele von Ihnen hatten schon damals Sorge, dass
Ihre Art von Wirtschaftspolitik, Keynes, letztlich nicht
so funktioniert, wie viele glauben.
({8})
Zunächst zu Griechenland. Ich glaube, dass wir in den
nächsten Wochen und Monaten den Unterschied zwischen Spanien, Portugal und Griechenland deutlicher herausarbeiten müssen. Bei Griechenland handelt es sich
um einen postsozialistischen Lotterstaat. Die Unterschiede
müssen wir mit Blick auf die immer noch bestehenden Risiken, dass ein Schuldenschnitt für Griechenland eventuell
nicht zu vermeiden ist, deutlich herausarbeiten. Ich
weiß, dass Sie nicht geneigt sind, das zu tun.
({9})
Außerdem ärgert mich, dass Sie immer versuchen,
darzustellen, wir würden nicht konsequent und schnell
genug handeln. Ich weiß nicht, wie dieses schnelle Handeln, das Sie immer einfordern, erreicht werden soll und
wohin es führen soll. Letztendlich geht es, glaube ich,
um Fragen, über die man hier im Deutschen Bundestag
seriös diskutieren muss. Wir haben klargestellt, wie die
Rechte des Deutschen Bundestages in diesem Zusammenhang aussehen müssen. Die Maßnahmen sind wohlabgewogen, und man sollte den Druck auf die Staaten
nicht abschwächen. Bezüglich der Haushalte, der Schuldensituation muss sich etwas ändern. Ich habe den Verdacht, dass Sie versuchen, mit Ihren Forderungen das
eigene Verschulden an dieser aktuellen Krise zu überdecken.
Ich will es noch einmal deutlich machen, weil ich
glaube, dass wir Sie so nicht einfach davonkommen lassen dürfen. Die Aufnahme Griechenlands in den EuroDr. Georg Nüßlein
Raum war falsch. Sie wurde von der Regierung Schröder
seinerzeit betrieben, und zwar wider besseres Wissen;
({10})
ich unterstreiche das ganz deutlich. Der Kollege Gerd
Müller
({11})
hat bei einer Debatte im Jahr 2000, als Eichel die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum feierte, zwei
Dinge ganz klar formuliert: Erstens ist das ein schwerer
Fehler, und zweitens sind die Zahlen manipuliert. Da
stellt sich mir die Frage: Wenn Kollege Müller als einfacher Abgeordneter das damals gewusst hat, warum
konnten Sie als Regierung das nicht wissen? Sie haben
gewusst, dass Griechenland bei den Zahlen trickst. Das
halte ich zumindest für blamabel.
({12})
Zweitens. Sie haben den Stabilitätspakt aufgeweicht.
Auch das wollen Sie nicht mehr hören. Es ist aber ebenfalls in Ihre damalige Regierungszeit und damit in Ihre
Verantwortung gefallen. Rot-Grün hat den Stabilitätspakt aufgeweicht und damit die Grundlagen für diese
Krise gelegt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Des Kollegen Heil? Bitte schön.
Bitte schön.
Gucken Sie doch nicht so gequält. Oder wollen Sie
heute schon Feierabend machen?
Da geht es mir wie vielen anderen Kollegen.
Herr Nüßlein, können Sie mir eines erklären? Wer hat
eigentlich Italien in den Euro-Raum aufgenommen?
Ich habe deshalb vorhin versucht, die Unterschiede
beispielsweise zwischen Griechenland, Italien, Spanien
und Portugal
({0})
deutlich herauszuarbeiten, weil ich der festen Überzeugung bin, dass wir in den letztgenannten Ländern aufgrund der dortigen Strukturen, des industriellen Hintergrundes und der Organisation eine Chance auf Sanierung
haben. Bei Griechenland bin ich nach wie vor ausgesprochen skeptisch.
Deshalb unterstreiche ich noch einmal ganz deutlich:
Sie haben wider besseres Wissen - obwohl Griechenland
die Anforderungen nicht erfüllt hat und Sie gewusst haben, dass die Zahlen falsch waren - die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum betrieben.
({1})
- Mit Verlaub - ({2})
Drittens. Lassen Sie uns auch über die Frage reden,
wer anschließend die Deregulierung des Finanzsektors
betrieben hat. Unbestritten war das seinerzeit ebenfalls
Eichel. Gestern haben Ihnen die Linken das noch einmal
deutlich vorgehalten. Das sollten Sie dann untereinander
ausmachen.
Viertens. Bei den von Ihnen eingeforderten schnellen
Lösungen, bei denen es darum geht, dass der deutsche
Michel die Zeche zahlen soll - denn Sie wollen die
Schulden vergemeinschaften
({3})
und am Schluss auch eine hohe Inflation in Kauf
nehmen -, sind Sie immer auf dem Weg, die Grundsätze
der SPD in die Richtung des alten Spruchs von Helmut
Schmidt „Lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Arbeitslosigkeit“ zu lenken.
({4})
Das zeigt nach wie vor, wo die Linie der SPD letztendlich liegt. Dass Sie das jetzt hier verschleiern wollen, ist
etwas,
({5})
was Sie nicht besonders auszeichnet.
({6})
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie dieses parteipolitische Kalkül zurückstellen und die Sorgen der Bürger
wirklich ernst nehmen, statt so zu tun, als ob die Vergemeinschaftung aller Schulden am Schluss tatsächlich
hilfreich wäre.
({7})
- Nein. Der Unterschied zwischen dem, was wir machen, und dem, was Sie vorhaben, ist folgender: Wir setzen darauf, dass die disziplinierenden Kräfte des Marktes erhalten bleiben.
({8})
Es ist nämlich ganz entscheidend, dass nicht am Schluss
alle denselben Zinssatz zahlen und dass wir nicht eine
Gesamtbonität haben, die insbesondere zulasten der
deutschen Bonität gehen würde. Das ist etwas ganz Entscheidendes; denn auch von der Marktseite her müssen
wir dafür Sorge tragen, dass die Euro-Staaten auf den
Pfad der haushaltspolitischen Tugend zurückkommen.
Dies halte ich für das oberste Gebot.
({9})
Wenn Sie das nicht so sehen,
({10})
entlarvt Sie das nur und zeigt letztendlich, wie wenig Sie
dem abgewinnen können.
Vielen Dank.
({11})
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Kollegen Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei allen Debatten um den Euro-Rettungsfonds und
die Stabilität der Finanzmärkte ist in der Öffentlichkeit
untergegangen, dass das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute einige bedrohliche Analysen
enthält. So wird für das nächste Jahr ein Wirtschaftswachstum von unter 1 Prozent diagnostiziert. An einer
anderen Stelle heißt es, anders als im Euro-Raum sei
eine Rezession in Deutschland wohl nicht auszuschließen.
Die SPD hat ihren hier vorliegenden Antrag eingebracht, weil uns die Sorge umtreibt, dass die schwarzgelbe Regierung, die Koalitionsfraktionen und die entsprechenden Parteien auf diese Situation weder vorbereitet sind noch angemessen reagieren.
Sie gehen nach wie vor davon aus - das zeigen Ihre
Debattenbeiträge -, dass die Instrumente, die Sie in den
letzten zwei Jahren angewandt haben, die Ursache für
die einigermaßen gute wirtschaftliche Entwicklung sind.
Sie sind ferner der Meinung, dass die von Ihnen jetzt
vorgesehenen Instrumente geeignet sind, um den Wirtschaftspfad zu stabilisieren. Uns treibt die Sorge um,
dass die Wirtschaft stagnieren könnte, dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden, wir somit in Schwierigkeiten
geraten und die Regierung darauf nicht vorbereitet ist.
({0})
Uns treibt aber nicht um, dass wir die Konjunktur
schlechtreden wollen.
Vor welchen Schwierigkeiten stehen Sie? Die erste
Schwierigkeit ist, dass Sie sich in einer schwierigen Situation, in der ein Schiff auf Sicht geführt werden muss,
auf der Brücke streiten. Ein wesentliches Asset für wirtschaftliche Entwicklung, nämlich dass wir in Deutschland und für Deutschland und Europa Vertrauen ausstrahlen, ist nicht gegeben. Es ist ein ständiges Hin und
Her und ein ständiger Hickhack. Unser Appell an Sie ist:
Führen Sie eine ordentliche Regierungspolitik vor! Zeigen Sie Verlässlichkeit, damit in Deutschland das Vertrauen in die Märkte wieder wächst!
({1})
Das ist unsere Forderung an Sie.
({2})
Der zweite Punkt, den ich Ihnen gern ins Stammbuch
schreiben würde - Herr Lindner, Sie haben in einem
Ihrer Redebeiträge darauf hingewiesen, dass Infrastrukturmaßnahmen durch Bürgerinitiativen verhindert werden -: Sorgen Sie dafür, dass das Vertrauen in demokratische Verfahrensweisen wächst! Was Sie zum Beispiel
beim Umgang mit dem Parlament im Hinblick auf die
Regelung der schweren Finanzkrise vorführen, führt bei
den Bürgern dazu, dass sie den demokratischen Instrumenten nicht mehr vertrauen. Wir erwarten, dass Sie die
Parlamente - hier und anderswo - mitnehmen. Wir erwarten auch, dass Sie die Bürger mitnehmen. Dann wird
eine Entscheidung zur Infrastruktur in der Bevölkerung
auch akzeptiert.
({3})
Das Dritte - das ist der entscheidende Punkt - ist,
dass Sie glauben, dass der wirtschaftlich gute Pfad, auf
dem wir uns in den letzten Jahren befunden haben, etwas
mit Ihren Maßnahmen zu tun hat. Dabei geht es uns
nicht darum, die Weichenstellungen der letzten Bundesregierungen infrage zu stellen. Wir befürchten vielmehr,
dass Sie nicht das tun, was in dieser Phase nötig ist. Das
möchte ich Ihnen anhand einiger Beispiele deutlich machen.
Erstens. Es geht darum, dass wir zum Beispiel im Telekommunikationssektor Incentives setzen, die Investitionen ermöglichen.
({4})
Die FDP ist aus ideologischen Gründen strikt dagegen. Wir haben die Fragen gestern debattiert. Wir von
der SPD schlagen eine gigantische Investition im Telekommunikationssektor vor - 50 Milliarden Euro sind
nötig -, indem wir ein Sonderprogramm über die KfW
auflegen.
({5})
Zweitens, die Forschung. Sie wissen, dass es im Mittelstand und in der Industrie zu wenig Forschung gibt.
Wir brauchen eine steuerliche Forschungsförderung. Wir
brauchen eine Entlastung für diejenigen, die in unserem
Land forschen. Auf diese Weise wird Deutschland ein
Eldorado für diejenigen, die hier forschen und Patente
anmelden wollen.
({6})
Nehmen Sie ein weiteres Gebiet, die Energiepolitik.
Nach einem Hin und Her - Ausstieg aus der Atomenergie, Wiedereinstieg in die Atomenergie, Ausstieg aus der
Atomenergie - müssen Sie jetzt die Weichen für Investitionen - zum Beispiel in die Kraft-Wärme-Kopplung,
die dezentrale Stromerzeugung und die Realisierung von
Netzen - stellen. All das ist Fehlanzeige, wenn es darum
geht, eine verlässliche Strategie zu entwickeln. Die
Stadtwerke sind aber aufgrund Ihres Ausstiegs aus dem
Atomausstieg im Herbst 2010 noch immer verunsichert.
Das ist keine verlässliche Politik.
Herr Nüßlein, es nützt nichts, polemisch auf das einzugehen, was Helmut Schmidt irgendwann einmal gemacht hat oder was Sie sich von Gerhard Schröder aus
dem Jahr x notiert haben. Entscheidend ist, dass Sie begreifen: Sie müssen in dieser Situation ähnliche Instrumente ansetzen und Geschlossenheit zeigen. Sie müssen
Vertrauen bilden, so wie es die Regierungen seit 1998
gemacht haben. Dann wird es möglich sein, diese Krise
zu bewältigen und einen Wirtschaftsabschwung zu verhindern.
({7})
Folgen Sie dem. Dann kann es gut werden.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7461 mit dem Titel
„Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung als
Risiko für die Konjunktur“. Wer stimmt für diesen An-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der An-
trag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Lin-
ken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der
Grünen abgelehnt.
Zusatzpunkt 7: Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 17/7338 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Ta-
gesordnungspunkt 31 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgung bei
besonderen Auslandsverwendungen ({0})
- Drucksachen 17/7143, 17/7377 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({1})
- Drucksache 17/7389 Berichterstattung:
Abgeordnete Henning Otte
Fritz Rudolf Körper
Harald Koch
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7542 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Bernhard Brinkmann ({3})
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Dr. Gesine Lötzsch
Dr. Tobias Lindner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Koch, Kathrin Vogler, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Behandlungs- und Betreuungsangebote für
traumatisierte Soldatinnen und Soldaten, zivile Kräfte und Angehörige ausbauen
- Drucksachen 17/6342, 17/7389 Berichterstattung:
Abgeordnete Henning Otte
Fritz Rudolf Körper
Harald Koch
Zu dem Gesetzentwurf liegen ein gemeinsamer Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD,
FDP und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir
verabschieden heute in dritter Lesung ein wichtiges Gesetz, das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz. Die
bestehenden Gesetzesregelungen haben Lücken deutlich
werden lassen, die wir mit diesem Gesetz schließen werden.
Zwei für den Einsatz unserer Soldaten maßgebliche
Gesetze, das Einsatzversorgungsgesetz und das EinsatzWeiterverwendungsgesetz, haben im Einsatz Lücken
deutlich werden lassen, die wir heute schließen. Im Kern
geht es darum, die Entschädigungszahlungen zu erhöhen, die Versorgungssicherheit auch für Zeitsoldaten und
für Reservisten im Einsatz zu gewährleisten und die Soldaten von der schwierigen und bürokratischen Beweislast zu befreien.
Warum bringen wir nun dazu ein neues Gesetz ein?
Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages senden wir
die Soldaten unserer Bundeswehr mit unserer Parlamentsentscheidung in notwendige, aber gefährliche Einsätze.
Aus diesem Parlamentsrecht als Ausdruck besonderer
demokratischer Legitimation ergibt sich für uns jedoch
auch eine besondere Fürsorgepflicht, nämlich die
Pflicht, die Soldaten mit einem umfassenden Versorgungspaket auszustatten.
Der Slogan „Ich diene Deutschland, weil …“ in der
Broschüre des Bundesverteidigungsministeriums „Wir.
Dienen. Deutschland.“ darf keine Einbahnstraße sein.
Das Parlament muss dem zuständigen Dienstherrn, hier
dem Bundesverteidigungsministerium, die notwendigen
Haushaltsmittel, aber auch den gesetzlichen Rahmen zur
Verfügung stellen. Das machen wir heute. Das ist Ausdruck einer Parlamentsarmee.
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat einen entscheidenden Schritt getan und einen Antrag zur Verbesserung der Versorgung im Ausland versehrter Soldaten
auf den Weg gebracht. Denn, meine Damen und Herren,
wie sich unser Staat um seine Soldaten kümmert, die im
Einsatz für unser Land stehen, und vor allem, wie sich
unser Staat auch um die Angehörigen kümmert, deren
Sohn, Tochter, Freund, Freundin, Mann, Ehefrau, Vater
oder Mutter im Einsatz gefallen ist, bringt zum Ausdruck, wie wir die Staatsverantwortung wahrnehmen,
die wir als Parlamentarier und die Ministerien tragen.
Die Art und Weise, wie wir mit den Verwundeten in unserer Bundeswehr umgehen und wie wir sie nach dem
Einsatz wieder aufnehmen, das ist für den Soldaten entscheidend. Was für den Soldaten im Einsatz wichtig ist
und was ihm nützt, das zählt, und das ist wichtig. Dem
tragen wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf
Rechnung.
({0})
Wir schließen mit diesem Gesetzentwurf eine Versorgungslücke bei den Hinterbliebenen von sogenannten
Nichtberufssoldaten wie Zeitsoldaten und Reservisten,
die für unser Land im Einsatz stehen, wir erhöhen die einmaligen Entschädigungszahlungen beispielsweise von
80 000 auf 150 000 Euro, und wir sichern auch die Auszahlung an juristische Personen ab, wie zum Beispiel die
Abtretung im Falle einer Hausfinanzierung.
Meine Damen und Herren, unsere Soldaten sind bereit, sich für die Sicherheit unseres Landes mit Leib und
Leben einzubringen: im Kampf, im Gefecht, im Krieg.
Sie sehen sich in diesen Einsätzen zum Teil mit extremen Situationen konfrontiert. Diese Situationen sind
sehr belastend und dauern teilweise bis zu sechs Monate.
Die Zahl der psychisch belasteten Soldaten, die aus
dem Einsatz zurückkommen, steigt an. Im Jahr 2010 waren es 729 Fälle von PTBS, Posttraumatischen Belastungsstörungen. Allein 557 Fälle davon waren durch den
Einsatz in Afghanistan bedingt. Die zeitliche Dichte und
die Intensität der Erlebnisse des Soldaten im Einsatz sind
unvergleichbar hoch. Diese Erlebnisse sind anschließend
mit hohen physischen, psychischen und sozialen Belastungen verbunden. Die Erkrankung an PTBS tritt häufig
erst später, also verzögert, hervor.
Nach bisheriger Rechtslage wird eine Einsatzentschädigung nur anerkannt, wenn der Ursachenzusammenhang
zwischen wehrdienstbedingten Umständen und der erlittenen Schädigung zumindest wahrscheinlich ist. Die Beweislast hierfür liegt bisher allerdings bei dem geschädigten Soldaten, der vor ganz anderen Herausforderungen
steht als der, sich durch den bürokratischen Dschungel zu
kämpfen. Gelingt es dem Soldaten, auch wegen seiner Erkrankung, nicht, die Ursächlichkeit nachzuweisen, geht
er bisher leer aus und verliert oft den Kampf mit der Bürokratie. Das kann nicht sein. Deswegen ändern wir das
mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf.
({1})
Es ist ein Ausdruck von Fürsorge, wenn dem Soldaten
diese Beweiserbringung, bürokratisch gesehen, erleichtert wird, indem die Glaubhaftmachung der Ursächlichkeit ausreicht. Aus Gesprächen mit Betroffenen wissen
wir dies. Wir sind dankbar, dass uns in der Anhörung
über entsprechende Erfahrungen berichtet wurde. Ich
sehe übrigens den Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberst Kirsch, hier oben auf der Tribüne sitzen. Auch bei ihm bedanke ich mich für diese
Anregungen, die notwendig sind. Die Berichte zu hören,
war schmerzlich, aber daraus ziehen wir die notwendigen Konsequenzen. Alles andere würde zu Unfrieden, zu
Staatsverdrossenheit und zu einer maßgeblichen Verzögerung der Wehrdienstbeschädigungsverfahren führen.
Unsere Soldaten haben jedoch einen Anspruch auf eine
schnelle Entscheidung. Die Nichterweislichkeit geht nun
nicht mehr zulasten des geschädigten Soldaten. Die
Glaubhaftmachung reicht unter bestimmten Voraussetzungen, die auf dem Verordnungswege noch weiter geregelt werden müssen, aus. Deswegen ist der Gesetzentwurf richtig und wichtig.
Was wird noch verbessert? Der Grad der Schädigungsfolgen wird künftig von 50 Prozent auf 30 Prozent abgesenkt. Warum das? Körperliche Verwundungen treten augenscheinlich hervor, psychische Belastungsstörungen
meistens aber nicht. Häufig sind es junge Soldaten, die
bereits eine Schädigung erfahren und Schwierigkeiten
haben, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Deswegen sagen wir: Wenn eine Belastungsstörung hervorgetreten ist, die durch einen Einsatz begründet und glaubhaft gemacht worden ist, dann reichen 30 Prozent für eine
Weiterbeschäftigung aus. Diese Soldaten bekommen damit die Chance, bei der Bundeswehr bleiben zu können
und weiterverwendet zu werden, und das ist wichtig. Sie,
die Menschen, stehen im Vordergrund unseres Gesetzentwurfes, sie müssen geschützt werden.
Es passt nicht zur Fürsorgepflicht und auch nicht zu
unserem christlichen Menschenbild, wenn Soldaten, die
unserem Land in unserer Bundeswehr dienen und dabei
körperlich oder seelisch verwundet werden, nach offiziellem Dienstende als junger Mensch auf die Straße
müssen. Ich bin unserem Verteidigungsminister und dem
Ministerium sehr dankbar dafür, dass die entsprechenden
Regelungen in dieses Gesetz so Eingang gefunden haben, wie wir das aus den entsprechenden Erfahrungsberichten abgeleitet haben. Hierfür auch unserem Minister,
Herrn Dr. de Maizière, ein herzliches Dankeschön!
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Soldatenberuf hat ein Alleinstellungsmerkmal, das bei keiner
anderen Berufsgruppe so offensichtlich ist: Soldaten dienen auf Grundlage von Befehl und Gehorsam, gehen in
Einsätze und sind von Verwundung und Tod betroffen.
Der Soldatenberuf ist in den vergangenen Jahren noch
mehr als zuvor zu einem besonderen Beruf geworden.
Dieser Beruf verdient besondere Aufmerksamkeit in der
Gesellschaft und auch durch ein solches Gesetz.
Wir werden die Geltung der Regelungen rückdatieren,
damit auch die Soldaten unter die Regelungen dieses Gesetzes fallen, die aufgrund von Entscheidungen des
Deutschen Bundestages schon in Kambodscha, Somalia
oder im Kosovo im Einsatz waren und dort verwundet
wurden. Wir werden die Mindestdauer für die doppelte
Anerkennung von ruhegehaltsfähigen Dienstzeiten auf
180 Tage Auslandseinsatz reduzieren. Das führt dazu,
dass bei mehr Soldaten diese Regelung zur Anwendung
kommt. Wir stehen hinter unseren Soldaten. Wir wissen
um ihren Einsatz.
Wir wollen mit einem Entschließungsantrag erreichen, dass im Rahmen des Reformbegleitprogramms
auch die Möglichkeit der Rückdatierung für Entschädigungszahlungen geprüft wird. Darauf haben wir bisher
verzichtet, weil es uns wichtig war, dieses Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz jetzt zu beschließen. Aber
auch hier sind wir auf dem richtigen Weg.
Wir stehen unter einem enormen Haushaltskonsolidierungsdruck. Aber wir wollen eine Anerkennung der
Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch
der Beamtinnen und Beamten. Deswegen haben wir uns
auch stets für die Zahlung des Weihnachtsgeldes in der
früheren Höhe eingesetzt. Auch das wird jetzt umgesetzt. Auch haben wir ein Attraktivitätsprogramm im
Rahmen der Bundeswehrreform aufgelegt. Ich nenne
hier als Stichwort das Reformbegleitprogramm.
Meine Damen und Herren, wir setzen uns für unsere
Soldatinnen und Soldaten ein. Das ist Ausdruck unserer
Fürsorgepflicht. Dieser Einsatz kommt allen, die für unser Vaterland im Ausland im Einsatz sind, zugute. Daher
hoffe ich auf die Zustimmung aller Fraktionen. Wir Parlamentarier müssen uns unserer Verantwortung bewusst
sein. Die Koalition ist sich dieser Verantwortung bewusst. Wir haben dieses Gesetz erarbeitet und eingebracht. Wir werden es mit voller Überzeugung beschließen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute ist ein guter Tag. Es ist ein guter Tag,
weil wir hier im Parlament maßgebliche Verbesserungen
für unsere Soldatinnen und Soldaten erreichen. Es ist ein
guter Tag, weil wir als Parlament selbstbewusst zeigen,
dass wir unsere Ziele fraktionsübergreifend durchsetzen
können und wollen. Und es ist ein guter Tag, weil die
Bundeswehr ein Stück weit mehr die Anerkennung bekommt, die sie verdient hat. Darin sind wir uns sicherlich einig. Aus diesen Gründen ist das heute ein guter
Tag und eine wichtige Debatte, die wir hier führen.
({0})
Es war ein langer Weg bis zur heutigen Entscheidung;
der Kollege Otte hat das beschrieben. Diese Debatte ist
sicherlich nicht für parteitaktische Diskussionen geeignet, sondern bei dieser Debatte sollte die Gemeinsamkeit
in den Vordergrund gestellt werden. Wir Verteidigungspolitiker sind uns schon länger darüber einig, dass die
Verbesserungen, die wir heute beschließen, überfällig
sind. Vielleicht kommen sie sogar zu spät. Wir sind aber
froh, dass sie überhaupt kommen.
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden immer
riskanter. Gerade die Jahre 2010 und 2011 haben uns immer wieder mit erschreckenden Nachrichten, etwa aus
Afghanistan, konfrontiert: 15 gefallene Soldaten, viele
Schwerverwundete. Es muss ein Konsens hier im Parlament herrschen: Diejenigen, die ihr Leben im Auftrag
des Deutschen Bundestages riskieren, haben ein Anrecht
darauf, dass wir alles Mögliche tun, um ihre Situation zu
verbessern, und dafür sorgen, dass sie gut dastehen.
({1})
Es war deswegen richtig, dass wir im Oktober letzten
Jahres gemeinsam unseren Forderungskatalog auf den
Weg gebracht haben. Es war richtig, dass wir uns gemeinsam um Verbesserungen gekümmert haben, dass
wir immer wieder Druck gemacht haben. Wir machen
aber auch heute mit einem gemeinsamen Entschließungsantrag deutlich, dass die Verbesserungen im Gesetz nur ein Zwischenstopp sind und dass unser Engagement weitergehen wird. Viele haben sich im Parlament,
aber auch weit darüber hinaus für dieses Gesetz starkgemacht.
Ich denke, ich darf im Namen von uns allen dem
Deutschen BundeswehrVerband, dem Reservistenverband,
aber auch dem Bund Deutscher Veteranen danken, dass
sie uns immer wieder mit der Situation von Soldatinnen
und Soldaten und von Zivilbeschäftigten konfrontiert
und uns gezeigt haben, an welchen Stellen Verbesserungsbedarf besteht. Sie alle haben mit Leidenschaft und
Nachdruck für die Verbesserung der Einsatzversorgung
gestritten. Oberst Kirsch ist auf der Besuchertribüne anwesend. Von uns allen herzlichen Dank für Ihr Engagement!
({2})
Der Gesetzentwurf wird heute im Deutschen Bundestag große Zustimmung erhalten. Wir alle wissen, dass
die Anhebung der Entschädigungszahlungen für verwundete Soldatinnen und Soldaten sowie für Hinterbliebene von Gefallenen notwendig, richtig und unumstritten ist. Ein Staat wird niemals Wiedergutmachung für
den Verlust eines Menschen leisten können. Ein Staat
wird auch niemals eine lebenslange Schädigung finanziell ausgleichen können. Aber wir können heute ein
Zeichen für Absicherung und Unterstützung setzen. Das
tun wir gemeinsam mit der Verbesserung des Gesetzes.
({3})
Die doppelte Anrechnung der Einsatzzeit bei Ruhegehalt und Rente ist ebenfalls eine Maßnahme, die immer
wieder eingefordert wurde und nun endlich Realität
wird. Die Hinterbliebenenversorgung bei Soldaten auf
Zeit, Reservisten und freiwillig länger Dienenden wird
endlich auf das Niveau der Berufssoldaten angehoben.
Ich glaube, wir alle sind uns auch einig, dass ein Soldat
im Auslandseinsatz, egal welchen Status er im Heimatland hat, gleiche Rechte verdient.
Der Stichtag für die Geltung des Einsatz-Weiterverwendungsgesetzes wird auf das Jahr 1992, dem ersten
Jahr des Einsatzes deutscher Soldaten im Ausland, zurückdatiert. Auch dieser Schritt ist folgerichtig. Einsatz
ist Einsatz, und alle haben die gleichen Rechte. Es darf
hier keine Ungleichbehandlung geben.
Obwohl die Bundesregierung vorgeschlagen hatte,
dass ein Anspruch auf eine Weiterbeschäftigung im Bundesdienst weiterhin erst ab einer einsatzbedingten Erwerbsminderung von 50 Prozent bestehen soll, haben
wir als Parlament gemeinsam durchgesetzt, dass diese
Grenze auf 30 Prozent gesenkt wird.
({4})
Das ist für mich eine der entscheidenden Regelungen im
Gesetzentwurf. Dass wir als Parlament diese Regelung
durchbringen, kann uns, glaube ich, alle mit Stolz erfüllen. Wir haben hier etwas Vernünftiges auf den Weg gebracht.
({5})
Wir machen deutlich, dass wir diejenigen, die wir in einen Auslandseinsatz schicken, nicht im Regen stehen
lassen.
Mit unserem Entschließungsantrag machen wir aber
auch deutlich, dass es noch weiteren Bedarf gibt, die
Einsatzversorgung zu verbessern. Im Hinblick auf die
Entschädigungszahlungen wollen wir, dass auch diejenigen davon profitieren, die seit 1992 Einsatzunfälle hatten und bisher eine niedrigere Entschädigungszahlung
bekommen haben. Wir alle wissen, wie komplex dieses
Thema ist. Aber wir sind uns auch einig, dass diese Ungleichbehandlung beendet werden muss und dass wir zu
einer Lösung kommen müssen, die eine gleichmäßige
Entschädigung für alle vorsieht.
Es ist den Soldaten und ihren Angehörigen nicht erklärbar, warum es für die Entschädigungszahlungen zwei
unterschiedliche Rechtslagen gibt. Es ist nicht erklärbar,
warum die Höhe der Entschädigung von Stichtagen abhängt. Wenn wir uns einig sind, dass Einsatz Einsatz ist
und alle Soldaten gleich behandelt werden müssen, dann
brauchen wir auch hier eine Regelung. Das fordern wir
in unserem Entschließungsantrag. Das Parlament definiert hier einen klaren Auftrag. Wir haben die Erwartung, Herr Minister, dass unser Auftrag umgesetzt wird.
({6})
Im Rahmen der Anhörung im Verteidigungsausschuss
zum vorliegenden Gesetzentwurf ist uns allen noch einmal die schwierige Situation derjenigen verdeutlicht
worden, die unter Posttraumatischen Belastungsstörungen zu leiden haben. Uns ist deutlich geworden, was für
eine Tortur es für viele Menschen ist, gegenüber dem
Staat in häufig langwierigen Verfahren versuchen zu
müssen, eine eigene Schädigung geltend zu machen, und
wie schwer es für viele Menschen ist, die Mauern der
Bürokratie zu überwinden.
Uns ist klar geworden, dass wir die Beweislast vereinfachen müssen. Wir haben es mit Menschen zu tun, die
die schrecklichen Erlebnisse aus dem Einsatz häufig
nicht verarbeiten können. Der Staat muss hier Hilfe und
Unterstützung leisten, statt Hürden aufzubauen. Allen
muss eine vollumfängliche Hilfe zur Verfügung stehen.
Wir stehen in der Verantwortung. Deswegen ist es richtig, dass wir hier für notwendige Verbesserungen sorgen.
Das fängt bei den Kriterien für die Begutachtung an. Es
muss aber auch ausreichend Fachpersonal vorhanden
sein, das die Begutachtungen durchführen kann. Auch
hier erwarten wir als Verteidigungsausschuss vom
Minister, dass es zu deutlichen Verbesserungen kommt.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Auslandseinsätze
sind seit nunmehr 20 Jahren fester Bestandteil des Aufgabenspektrums der Bundeswehr. Wir haben an vielen
Stellen versucht, Verbesserungen zu erreichen. Es war
der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, der
nach der Amtsübernahme, geprägt durch erste Erfahrungen mit Auslandseinsätzen, das Einsatzversorgungsgesetz auf den Weg gebracht hat. Das war ein wichtiger
Meilenstein. Heute, knapp zehn Jahre nachdem dieses
Gesetz verabschiedet wurde, passen wir es an eine neue
Zeit an. Wir tun das, wohl wissend, dass noch viel zu tun
bleibt.
Das Gesetz, dessen Entwurf heute zur Verabschiedung ansteht, entlässt uns nicht aus der Pflicht, uns weiter mit der Frage zu befassen, was wir zusätzlich für Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte sowohl
vor dem Einsatz, während des Einsatzes als auch nach
dem Einsatz tun können. Wir Abgeordnete sind es, die
die Bundeswehr mit einer entsprechenden Beschlussfassung des Deutschen Bundestages immer wieder in
schwierige Auslandseinsätze schicken. Wenn wir das
tun, haben wir für die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu sorgen. Wir haben aber auch die Pflicht, die Entscheidungen, die wir treffen, mit aller Konsequenz in der
Öffentlichkeit zu vertreten. Wir haben in der Bevölkerung um Verständnis dafür zu werben, dass Soldaten ins
Ausland gehen, und unsere Ziele, die wir mit Auslandseinsätzen verfolgen, zu erklären.
Es geht bei der Verbesserung der Einsatzbedingungen
nicht nur um finanzielle Hilfen. Wir alle kennen als Mitglieder des Verteidigungsausschusses aus Gesprächen
mit Soldaten, die aus einem Auslandseinsatz zurückgekommen sind, folgende Situation: Soldaten, die das Gefühl haben, etwas Sinnvolles getan zu haben, treffen hier
in Deutschland auf eine Stimmung, die das nicht versteht. Sie stoßen auf eine weit verbreitete Skepsis, wenn
nicht sogar auf Ablehnung gegenüber Auslandseinsätzen. - Wir alle sind in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass
es mehr Respekt, mehr Anerkennung und mehr Wertschätzung für die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten
gibt. Das ist unsere Aufgabe als Parlamentarier. Das
kann man nicht per Gesetz beschließen. Das ist eine
politische Haltung, die wir noch deutlicher vertreten
müssen.
({8})
Eine Verbesserung der Einsatzversorgung bedeutet
auch, dass wir bei der Vorbereitung und Ausrüstung besser werden müssen. Ich danke ausdrücklich dem Wehrbeauftragten, der den Finger immer wieder auf die
Wunde legt. Er tut das öffentlich - auch gegenüber dem
Ausschuss und dem Minister - und erfüllt so eine wichtige Funktion. Ich wünsche mir, dass das weiterhin in der
bisherigen Tonlage geschieht; denn hier kann viel für die
Soldatinnen und Soldaten erreicht werden.
Das letzte Thema, das ich ansprechen will, weil es für
mich dazugehört, wenn es um die Verbesserung der Einsatzbedingungen geht, ist die Betreuungskommunikation. Auch mit diesem Thema sollte sich der Ausschuss
im Zusammenhang mit der Verbesserung der Situation
der Soldatinnen und Soldaten beschäftigen. Es ist für
mich unverständlich, dass unsere Soldaten im Auslandseinsatz erleben müssen, dass ihre Kameraden aus anderen Nationen kostengünstiger telefonieren und viel besser Kontakt mit der Heimat aufnehmen können. Gerade
jetzt, wo wir eine schleichende Verlängerung der Standzeiten auf sechs Monate erleben, ist es umso wichtiger,
die Rahmenbedingungen für die Betreuungskommunikation so zu verbessern, dass eine regelmäßige, ausführliche und kostengünstige Kommunikation mit den Familien stattfinden kann. Es ist schade, dass im Rahmen der
Haushaltsberatungen der SPD-Antrag, der auf eine Verbesserung abzielte, abgelehnt wurde. Ich bin mir aber sicher, dass wir fraktionsübergreifend an diesem Thema
dranbleiben werden und Verbesserungen erreichen können.
Ich habe es schon zu Beginn gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Heute ist ein guter Tag. Der Bundestag sendet das gemeinsame Signal an Soldatinnen,
Soldaten und Zivilbeschäftigte, dass wir ihren Dienst
anerkennen, dass wir sie unterstützen. Auf Drängen des
Parlaments wird heute das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz verabschiedet. Ich hoffe, dass es schnell in
Kraft tritt. Wir alle wissen aber, dass es keinen Grund
gibt, sich auszuruhen, sich zurückzulehnen und zufrieden zu sein. Es bleibt viel zu tun. Lassen Sie uns weiterhin fraktionsübergreifend zusammenarbeiten. Die SPD
steht hierfür bereit.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({9})
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es gibt nur wenige Tage, an denen man
mit so viel Freude in das Parlament kommt, und zwar
deswegen, weil man weiß, dass wir als Parlamentarier
gemeinsam den politischen Willen dieses Hauses durchgesetzt haben. Bereits meine Vorredner haben darauf zu
Recht und sehr nachdrücklich aufmerksam gemacht.
Auch wir, meine Damen und Herren, sind nah an der
Truppe. Uns wurde in vielen Gesprächen an unterschiedlichsten Stellen immer wieder auf den Weg mitgegeben:
Kümmert euch um diejenigen, die verwundet aus einem
Einsatz zurückkommen. - So freue ich mich, dass heute
nicht nur Herr Oberst Kirsch bei uns ist, sondern auch
eine Gruppe von Mitstreitern und von unmittelbar Betroffenen, denen wir an dieser Stelle ein großes Kompliment für ihren Mut machen, den sie in einer Zeit bewiesen haben, in der im Prinzip nur das Perfekte zählt. Sie
hatten den Mut, in die Öffentlichkeit zu treten und uns
auf ihre Probleme und ihre Schwierigkeiten hinzuweisen. Herzlich willkommen und vielen Dank auch an Sie!
({0})
Der heutige Tag ist ein Anlass, darüber nachzudenken, für wen wir dieses Gesetz machen. Für wen haben
wir gemeinsam im Deutschen Bundestag Verbesserungen der Einsatzversorgung auf den Weg gebracht? Es
geht um Männer und Frauen, die wir in einen sogenannten asymmetrischen Konflikt hineinschicken. Das ist ein
schönes Wort. Auf den ersten Blick lässt sich das theoretisch nachvollziehen. Aber was bedeutet das in Wirklichkeit? Wir schicken Männer und Frauen in einen Konflikt, in dem der Feind nicht klar zu erkennen ist. Der
Gegner ist nicht uniformiert. Er sieht aus wie ein Zivilist. Wir erwarten aber zugleich von den Soldatinnen und
Soldaten, auch die Zivilbevölkerung zu schützen. Wir
bringen die Soldatinnen und Soldaten damit in ein ethisches und moralisches Dilemma, weil sie zu keiner Zeit
und an keinem Ort sicher sein können. Sie müssen jederzeit damit rechnen, dass sie - wie man so schön sagt „angesprengt“ werden, dass Kameraden in einen Hinterhalt geraten, dass selbst die Feldlager mit Raketen oder
mit Mörsern beschossen werden. Das ist eine psychische
Belastung, die sich niemand von uns vorstellen kann.
Das bringt mit sich, dass wir anerkennen müssen, dass
eine seelische Verwundung die gleiche Qualität wie eine
körperliche Verwundung hat.
Jemand, der aus einem Einsatz zurückkommt und in
körperlich sichtbarer Form verwundet worden ist, wird
zu Hause ehrenhaft empfangen. Es muss genauso ehrenhaft mit Männern und Frauen umgegangen werden, die
sagen: Ich habe eine psychische Verwundung erlitten. Sieht man sich die großen Konflikte und Kriege an, die
diese Menschheit leider schon ertragen musste, stellt
man fest, dass sowohl im Ersten Weltkrieg als auch im
Zweiten Weltkrieg, im Koreakrieg und im Vietnamkrieg
mehr Männer und Frauen wegen einer psychischen Verwundung kampfunfähig wurden als wegen einer körperlichen Verwundung. Deshalb bringen wir mit diesem
Gesetz zum Ausdruck, dass wir keinen Unterschied machen, ob jemand mit körperlicher oder seelischer Verwundung nach Hause kommt.
Vor allen Dingen müssen wir aber auch den Angehörigen das Gefühl geben, für sie da zu sein. Schauen wir
uns an, was sich in den Familien mit einem psychisch
verwundeten Soldaten abspielt: Die Ehefrauen schlafen
keine Nacht mehr durch, weil sie Angst haben müssen,
dass ihr Ehemann wach wird, sie für einen Gegner hält
und sie im Bett angreift. Die Kinder haben keine Ruhe
mehr, weil ihre Väter, die ihre Erinnerungen und ihre
Gedanken nicht loswerden, jede Nacht durch die Wohnung wandern. Wir reden hier über Männer und Frauen,
die damit fertig werden müssen, dass sie ihre Kameraden, mit denen sie gemeinsam auf Patrouille waren, bei
einem Angriff nicht schützen konnten und diese vertrauten Menschen auf einmal in deren eigenem Blut liegen
sahen, ohne Gesicht und ohne Gliedmaßen. Wir müssen
wissen, dass wir hier etwas für Menschen auf den Weg
bringen, die nicht mehr in einen Supermarkt gehen können, weil sie den Anblick einer Fleischtheke nicht mehr
ertragen können. Wenn wir das im Deutschen Bundestag
zum Ausdruck bringen und aussprechen - das ist nämlich die andere Seite von dem, was wir heute beschließen -, dann geht davon ein sehr, sehr wichtiges Signal
aus.
Ich bin wirklich stolz auf unser Parlament, dass wir
uns an dieser Stelle über viele Oberbedenkenträger - das
sage ich ganz bewusst - auch in der Administration hinweggesetzt haben. Herr Kollege Klingbeil, Sie haben
sehr richtig gesagt, dass wir keinen Grund haben, uns zurückzulehnen. Jetzt fängt nämlich die eigentliche Arbeit
erst an. Wir haben ein Gesetz verabschiedet. Aber ein
Gesetz lebt davon, dass es umgesetzt wird. Ich glaube,
dass wir mit allem Nachdruck gemeinsam, auch mit den
Betroffenen, dafür sorgen müssen, dass dieses Gesetz
auch vom Bundesministerium der Verteidigung und von
den Landesbehörden umgesetzt wird.
({1})
Das wird nämlich die Nagelprobe sein. Das wird den
Männern und Frauen zeigen, ob das, was wir hier beschließen, auch ernst genommen wird. Daran werden wir
letztendlich gemessen werden.
Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen,
dass dieses Gesetz nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten gilt, sondern selbstverständlich auch für die Polizei, für die Zivilbeschäftigten des Auswärtigen Amtes
und der Entwicklungszusammenarbeit. Das heißt, alle
die, die durch unsere politische Entscheidung in eine
schwierige Lage kommen können, werden durch dieses
Gesetz abgedeckt und erfasst. Ich denke, auch das ist es
wert, an dieser Stelle heute erwähnt zu werden.
Ich glaube, dass die Erkenntnisse, die die Forschung
heute hergibt - es gibt viele Länder, die hier wesentlich
weiter sind als wir -, in Kriterien zur Festlegung einer
psychischen Verwundung überführt werden können. Unser Traumazentrum hier in Berlin kann sicherlich noch
viel mehr erreichen. Auch im Forschungsbereich können
wir noch viel mehr tun. Betroffene Männer und Frauen
dürfen nicht nur einer einzigen medizinischen Sichtweise ausgesetzt sein. Es kommt darauf an, was beim
Patienten wirkt. Was für den einen gut ist, muss für den
anderen noch lange nicht gut sein. Eine Vielfalt an Forschung und wissenschaftlicher Erkenntnis muss durch
den Dienstherrn an dieser Stelle umgesetzt werden.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, ich komme
zum Schluss. Im Kleinen Prinzen schreibt Antoine de
Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Ich
hoffe, dass alle diejenigen, die jetzt unser Gesetz umsetzen sollen und hoffentlich auch umsetzen wollen, an dieser Stelle auch mit dem Herzen hinschauen. Ich bedanke
mich noch einmal bei allen Kollegen für diesen tollen
Tag.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Koch von der
Fraktion Die Linke.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wer Kriegseinsätze will, nimmt Opfer in Kauf. Und wer
Opfer in Kauf nimmt, muss für eine angemessene Versorgung von verletzten und traumatisierten Soldatinnen
und Soldaten, aber auch von Hinterbliebenen sorgen. So
sehe zumindest ich das.
Leider wurde dies von der Bundesregierung bisher
vernachlässigt. Obwohl mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf und dem dazugehörigen Änderungsantrag
viele für die Betroffenen wichtige Forderungen endlich
umgesetzt werden, zeigt sich das schleppende Vorgehen
auch hier wieder. Die Verbesserungen sind wieder erst
durch entsprechenden öffentlichen Druck bzw. durch
massive Kritik von Betroffenenverbänden, wie zuletzt
die Anhörung am 17. Oktober gezeigt hat, zustande gekommen. Nichtsdestotrotz werden wir dem Gesetzentwurf, wie schon im Ausschuss signalisiert, zustimmen,
weil viele Betroffene endlich die notwendige Hilfe bekommen werden.
({0})
Wir sind allerdings nicht der Meinung, dass damit
jetzt alle Lücken geschlossen sind. Auch der jetzige Gesetzentwurf setzt noch immer nicht alle Forderungen des
ursprünglichen Entschließungsantrages aus dem Herbst
2010 um und weist noch immer Mängel auf.
({1})
Beispielsweise fehlt noch immer ein rückwirkender Ausgleich bei Entschädigungszahlungen; denn die betroffenen Soldatinnen und Soldaten können nichts dafür, dass
ihre Schädigung vor einem willkürlich festgelegten
Stichtag eingetreten ist. Der Entschließungsantrag von
CDU/CSU, FDP, SPD und den Grünen thematisiert dies
zwar, gibt aber keine konkreten Handlungsempfehlungen,
({2})
und zwar solche, welche die rückwirkende Benachteiligung auf absehbare Zeit beheben würden.
({3})
Dies ist uns zu wenig. Daher können wir uns zu diesem
Antrag nur enthalten.
Darüber hinaus fordern wir, dass die Verfahren zur
Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung deutlich
entbürokratisiert, beschleunigt und transparenter gestaltet werden.
({4})
Eine zeitliche Begrenzung dieser Verfahren auf zwölf
Monate und eine vorläufige Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung würden es den Soldatinnen und Soldaten, vor allem denen mit einer Posttraumatischen
Belastungsstörung, ermöglichen, sich endlich um das zu
kümmern, was sie brauchen, nämlich eine Therapie.
({5})
Es kann nicht sein, dass schwer traumatisierte Soldatinnen und Soldaten im Bürokratiedschungel alleingelassen
werden, von Gutachter zu Gutachter geschickt werden
und dabei den Kopf nicht freibekommen, um sich um
ihre Genesung zu kümmern.
Gerade für die Soldatinnen und Soldaten, die mit psychischen Verletzungen aus dem Auslandseinsatz zurückkommen, wird noch immer viel zu wenig getan - und
das, obwohl die Zahl der Betroffenen von Jahr zu Jahr
höher wird. In diesem Jahr - diese Zahl möchte ich einmal nennen - wurden bis September schon 587 Fälle von
PTBS allein im Zusammenhang mit dem ISAF-Einsatz
bekannt. Das sind bereits mehr als im gesamten Jahr
2010, und das ist nur die Spitze des Eisbergs; die Dunkelziffer liegt noch viel höher.
Um dem entgegenzuwirken, sind dringend Maßnahmen zu ergreifen. So müssen beispielsweise sowohl die
Einsatzvor- als auch die -nachbereitung deutlich verbessert werden. Kuren im Anschluss an Auslandseinsätze
sollten obligatorisch sein. Die Stehzeiten in Auslandseinsätzen sind zu verkürzen. Es muss eine intensivere
wissenschaftliche Forschung zu PTBS außerhalb der
Strukturen der Bundeswehr stattfinden.
({6})
Das heißt, das Psychotraumazentrum ist aus den Strukturen der Bundeswehr auszugliedern. Vor allem aber müssen die Familien und Angehörigen viel intensiver in die
Betreuung eingebunden werden;
({7})
denn auch diese fühlen sich zunehmend alleingelassen.
Nicht zuletzt muss man sich um zivile Mitarbeiter vermehrt kümmern, da diese noch schlechtergestellt sind als
betroffene Soldatinnen und Soldaten.
Dennoch muss gesagt werden, dass all diese Maßnahmen nur die Symptome, nicht aber den Auslöser des Problems bekämpfen. Der Auslöser ist der Krieg, in dem die
Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Mitarbeiter
traumatisiert werden. Daher tritt die Linke für die unverzügliche Beendigung des Krieges in Afghanistan
({8})
und den Abzug der Bundeswehr aus allen Einsatzgebieten ein.
({9})
Nur eine andere, eine friedensorientierte Ausrichtung
der deutschen Außenpolitik würde das Leid der deutschen Soldatinnen und Soldaten, ihrer Familien sowie
der zivilen Bundeswehrangestellten wirklich vermeiden.
Danke schön.
({10})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Agnes Malczak von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses
Gesetz ist ein Erfolg, ein Erfolg für die Betroffenen, für
ihre Angehörigen und auch für die Verbände. Diese haben in den vergangenen Jahren mit Leidenschaft und
Herzblut verschiedenste Formen der Selbsthilfe aufgebaut. Aber Selbsthilfe kann und darf kein Ersatz für gute
und verlässliche Rahmenbedingungen sein.
({0})
Sie haben mit Nachdruck und mit sehr viel Ausdauer für
Verbesserungen bei der Einsatzversorgung geworben.
Dafür gilt ihnen Dank und Respekt.
({1})
Dieses Gesetz ist aber auch ein Erfolg für das Parla-
ment. Lange haben die Fachpolitikerinnen und Fachpoli-
tiker dieses Hauses beim Bundesministerium der Vertei-
digung Verbesserungen eingefordert. Es hat viel Zeit und
auch viel Überzeugungskraft gekostet, bis dieser Gesetz-
entwurf schließlich vorgelegt wurde. Dies zeigt deutlich,
dass es sich lohnt, beim Bohren besonders dicker Bretter
a) hartnäckig zu bleiben und b) gemeinsam zu streiten.
Deshalb ein Dank an die Kolleginnen und Kollegen für
die konstruktive Zusammenarbeit!
({2})
Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf
wies allerdings erhebliche Lücken auf. Die Erleichterung bei der Beweislast und die Absenkung des für Ansprüche notwendigen Schädigungsgrades im EinsatzWeiterverwendungsgesetz wurden zunächst als nicht
machbar dargestellt. Insbesondere für jene Soldatinnen
und Soldaten, die an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, hätte das Gesetz in der von der
Bundesregierung beschlossenen Form die darin gesetzten Hoffnungen zerschlagen. Hier wurde durch die Verbände sowie die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker
weiter Druck gemacht - und das mit Erfolg, wie der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im Ausschuss
zeigt.
Doch auch dieser Änderungsantrag hat noch nicht alle
Lücken des Gesetzes geschlossen. Auch in Bezug auf
die fehlende Stichtagsregelung für Einmalzahlungen
nach einem Einsatzunfall hat sich gezeigt, dass Ausdauer eine wichtige Tugend für die Arbeit im Bundestag
ist.
Mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf wären zwei
Klassen von Betroffenen geschaffen worden: jene, die
ihre Ansprüche vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes geltend gemacht haben, und jene, die nach seinem
Inkrafttreten eine Entschädigung beantragen. Für die
gleiche Verletzung, den gleichen Verlust wären unterschiedliche Beträge ausgezahlt worden - eine Ungleichbehandlung, für die es keine Rechtfertigung geben kann.
({3})
In der Diskussion im Verteidigungsausschuss in der
vergangenen Woche mussten wir den Handlungsbedarf
mit einem grün-roten Änderungsantrag noch einmal mit
Nachdruck deutlich machen. Ich bin sehr froh und sehr
dankbar, dass wir uns nun doch auf den vorliegenden gemeinsamen Entschließungsantrag einigen konnten. An
dieser Stelle muss ich dem Kollegen Koch widersprechen; denn dieser Entschließungsantrag bringt sehr deutlich zum Ausdruck, dass wir eine Rückdatierung wollen.
Wir werden allerdings sehr genau darauf achten - dabei
schaue ich sehr bewusst nicht in die Reihen des Parlaments, sondern zur Regierungsbank -, dass die Umsetzung wirklich zeitnah und schnell angegangen wird.
Wenn wir Soldatinnen und Soldaten sowie zivile
Kräfte in den Einsatz zur Konfliktlösung entsenden, haben wir eine besondere Fürsorgepflicht für sie. Eine angemessene finanzielle Unterstützung und Entschädigung
bei bleibenden körperlichen und seelischen Schäden sind
nur eine Seite unserer Fürsorgepflicht. Die andere Seite
ist die Art unseres Umgangs mit den Betroffenen. Dabei
spielt die Bundeswehr selbst eine ganz zentrale Rolle.
Vor allem die seelisch Versehrten müssen immer wieder
die Erfahrung machen, dass der eigene Dienstherr seine
Fürsorgepflicht vor allem als einen aufwendigen bürokratischen Verwaltungsakt gestaltet hat. Schnelle Hilfe,
selbstverständliche und durchdachte Unterstützung, das
vermissen leider noch viel zu viele der Betroffenen.
Außerdem vermissen sie die Bereitschaft zu wohlwollenden Entscheidungen. Wir Mitglieder des Verteidigungsausschusses haben in den letzten Jahren immer
wieder von Schicksalen von Soldatinnen und Soldaten
gehört und sie manchmal auch miterlebt, die sich in
langwierigen Verfahren mit der Bundeswehrverwaltung
über Ansprüche streiten und am Ende sogar nur noch
den Rechtsweg gehen können. Für die Betroffenen sind
diese Unsicherheiten furchtbar. Diese stehen auch einer
erfolgreichen Therapie im Weg. Meine Damen und Herren, da läuft etwas gewaltig schief.
Darum sind mit diesem Gesetzentwurf noch lange
nicht alle Probleme im Bereich der Einsatzversorgung
gelöst. Nicht nur der gesetzliche Rahmen, sondern auch
die Verfahren bedürfen einer Überarbeitung. Sie müssen
an ihren Gegenstand angepasst werden. Das bedeutet
zum Beispiel, dass Verfahrensschritte dahin gehend
überprüft werden müssen, ob sie wirklich notwendig
sind und ob sie zur Klärung beitragen.
({4})
Die Verfahren müssen einem eindeutigen Weg folgen.
Ihre Dauer muss verkürzt werden.
Es ist Aufgabe des Bundestags, darauf zu achten, dass
das Wort Fürsorge in der Parlamentsarmee nicht nur eine
Leerformel, sondern ein handlungsleitendes Prinzip ist.
Wir müssen sicherstellen, dass die Betroffenen schnelle
Hilfe bekommen und dass sie die Gewährung dieser
Hilfe nicht als ein mühsam erkämpftes Recht, sondern
als eine Selbstverständlichkeit empfinden können.
Für einige der Betroffenen kommt dieser Gesetzentwurf leider zu spät. Die teils jahrelange Auseinandersetzung mit dem Dienstherrn hat das Verhältnis zur
Bundeswehr schwer belastet und auch zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes geführt. Eine
Reintegration in die Gesellschaft wird für sie immer
schwieriger. Ich bedauere das zutiefst. Das macht deutlich, dass Zeit eine entscheidende Rolle spielt und Handeln nicht auf die lange Bank geschoben werden darf.
({5})
Ich erwarte von der Bundesregierung, dass die Lösung der Verfahrensprobleme sich nicht abermals über
Monate oder gar Jahre hinzieht. Deshalb muss man aktiv
handeln, die Probleme ehrlich benennen und zügig angehen. Die grüne Bundestagsfraktion wird sich weiter mit
Nachdruck dafür einsetzen, dass endlich eine grundlegende Verbesserung der Verfahren erfolgt.
Vielen Dank.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Florian Hahn von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Gerade die Debatten in diesem Hohen
Haus um die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten
sowie zivilen Kräften in Einsatzgebiete führen uns immer wieder unsere besondere Verantwortung als Parlamentarier vor Augen.
Ich bin seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags
und habe schon zu vielen Mandatsverlängerungen gesprochen. Allein dieses Jahr haben wir siebenmal über
eine Entsendung deutscher Soldaten abgestimmt. Jedes
Mal ist mir dabei bewusst, dass wir in diesen Momenten
nicht nur über Friedenseinsätze und unseren Beitrag zur
weltweiten Sicherheitspolitik entscheiden. Nein, wir setzen gleichzeitig die uns anvertrauten Menschen Gefahren für Leib und Seele aus.
Alle Bundesregierungen, egal unter welcher Führung
sie standen, haben immer eines klar gemacht: Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt mit der Entsendung
von unseren Soldatinnen und Soldaten eine große Verantwortung, für die wir ohne Wenn und Aber einstehen
müssen, eben auch dann, wenn es zu bleibenden Verletzungen oder gar zu Gefallenen kommt.
Bundesminister Thomas de Maizière hat dankenswerterweise mehrfach deutlich gemacht, dass die bei der Eidesleistung geschworene Treue und Loyalität der Soldaten keine Einbahnstraße ist. Für Staat und Gesellschaft
erwächst daraus nämlich nicht nur die Verpflichtung zur
Sorge, sondern auch zur umfassenden Nachsorge. Wir
alle haben daher die moralische und faktische Verpflichtung, Verwundete und Hinterbliebene umfassend abzusichern.
Daher ist es ein gutes und weit in die Bundeswehr hinein wirkendes Signal, dass Koalition und Opposition
bei der Verbesserung der Versorgung unserer Soldatinnen und Soldaten an einem Strang ziehen. Es zeigt, dass
die Verantwortungskultur gegenüber unseren Streitkräften lange gewachsen und fest in unserem Verständnis
verankert ist.
({0})
Weil ich sonst immer so gerne - und natürlich auch
immer berechtigt - die Linke beschimpfe, möchte ich
Sie heute ausdrücklich loben.
({1})
Sie konnten heute einmal Ihre ideologische Betonhaltung überwinden und haben sich für die Menschen entschieden.
({2})
Ich hoffe, das bleibt so und ist kein Einmaleffekt.
Seit der Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen haben 99 Soldaten ihr Leben verloren; mehr als
300 sind körperlich verwundet und mindestens 400 an
der Seele verletzt worden. Die Zahl derer, die aus falsch
verstandener Stärke ihre Verwundungen an der eigenen
Seele zunächst nicht angezeigt haben, dürfte dabei noch
höher liegen. Hinter all diesen Menschen stehen Familien - Eltern, Frauen und Kinder -, die von diesen Ereignissen auch ein Stück weit getroffen wurden und bei der
Verarbeitung des Erlebten bzw. der Genesung der Verletzten unverzichtbare Hilfe leisten. Mit diesem Gesetz
zeigen wir auch ihnen unsere Anerkennung.
In Deutschland haben wir kein gesellschaftlich verankertes Bild von Veteranen. Daraus resultiert leider, dass
meist auch die Anerkennung fehlt, die anderswo Soldatinnen und Soldaten nach dem Einsatz in ihrem Heimatland genießen. Damit meine ich keine bedingungs- und
vorbehaltlose Heldenverehrung, sondern vielmehr den
verdienten Respekt für den Einsatz des eigenen Lebens
für andere.
({3})
Ich wünsche mir daher, dass diese Debatte auch dazu
beiträgt, dass wir in unserem Land mehr Respekt für die
Leistungen unserer Soldaten aufbringen; denn diese
Leistungen übertreffen vieles, was man sich im warmen
Abgeordnetenbüro oder in der Redaktionsstube vorzustellen vermag.
({4})
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, den
wir heute verabschieden, ist neben dem Gebot der Ge16354
rechtigkeit und neben der überfälligen Anerkennung für
Geleistetes auch der richtige Weg, um die Wertschätzung
für die Arbeit von Soldatinnen und Soldaten, aber auch
von zivilen Kräften in unserer Gesellschaft zu erhöhen.
Der Gesetzentwurf ist eine Initiative des Parlaments. An
dieser Stelle möchte ich mich bei allen, die daran einen
Anteil hatten, bedanken. Stellvertretend für die Union
darf ich dabei die Kollegen Henning Otte und Jürgen
Hardt nennen. Tausend Dank auch dem Bundeswehrverband, der sich einmal mehr stark für die Interessen seiner
Soldaten eingesetzt hat.
Über dieses Signal sind die uns anvertrauten Menschen und ihre Familien dankbar. Wir dagegen können
stolz darauf sein, dass wir mit einer absehbar größtmöglichen Mehrheit des Parlaments ein bleibendes Zeichen
und vor allem ein belastbares Ergebnis zurücksenden,
nämlich: Wir stehen für die Bundeswehr ein, und wir
kennen unsere Verantwortung.
Ich danke allen zivilen Kräften und Bundeswehrangehörigen - egal ob im Einsatz oder wieder zu Hause im
Heimatland - für ihre vielfältigen Leistungen und wünsche ihnen jetzt und für die Zukunft alles Gute und Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Versorgung bei besonderen Auslandsverwendungen. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7389, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/7143 und 17/7377 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7498. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7499. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen abgelehnt.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Behandlungs- und Betreuungsangebote für traumatisierte Soldatinnen und Soldaten, zivile Kräfte und Angehörige ausbauen“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7389, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/6342 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von
SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla
Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Befugnis des Bundeskriminalamtes zur OnlineDurchsuchung aufheben
- Drucksachen 17/2423, 17/3633 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({2})
Frank Hofmann ({3})
Jan Korte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Ich möchte die Kollegen, die dieser Debatte nicht beiwohnen wollen, bitten, den Saal zu verlassen, sodass
sich die anderen auf die Debatte konzentrieren können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Clemens Binninger von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir, bevor ich zu dem eigentlichen Tagesordnungspunkt komme, auf ein trauriges Ereignis in
Deutschland hinzuweisen. Ich darf im Namen aller Redner, die nach mir folgen - das haben wir so besprochen -, dazu ein paar Sätze äußern.
Heute Morgen gegen 4 Uhr wurde in Augsburg ein
41 Jahre alter Polizeibeamter in Ausübung seines Dienstes von einem Straftäter erschossen. Bei dem Versuch,
ein Motorrad zu kontrollieren, kam es zu einem SchussClemens Binninger
wechsel. Der Kollege erlag noch am Tatort seinen Verletzungen. Ich darf im Namen aller Fraktionen dieses
Hauses der Familie unsere Anteilnahme und unser tiefes
Mitgefühl aussprechen. Das Ereignis zeigt wieder einmal, wie gefährlich der Polizeiberuf ist. Ich hoffe, dass
es möglichst schnell gelingt, diesen Verbrecher zu fassen
und vor Gericht zu stellen.
Nun zum Antrag zum Thema Onlinedurchsuchung,
den wir heute hier beraten. Es ist ein etwas älterer Antrag; er stammt aus dem letzten Jahr. Herr Kollege Korte,
der Antrag ist nicht besser geworden. Sie fordern pauschal, ein Instrument abzuschaffen, das wir für das Bundeskriminalamt eingeführt haben: die Onlinedurchsuchung. Man hat den Eindruck, dass Sie mit den Piraten
im Schlepptau ein bisschen nervös werden
({0})
und sich pauschal auf jedes Thema draufsetzen, das vermeintlich populär klingt. Ich kann Ihnen aber garantieren: Das ist in der Innenpolitik der falsche Weg. Pauschale Forderungen führen da überhaupt nicht weiter.
({1})
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem Antrag in
ein paar Sätzen auf die Bedrohungslage eingegangen
wären und darauf, warum wir überhaupt die Möglichkeit
der Onlinedurchsuchung für das BKA eingeführt haben.
Alleine in den letzten zwölf Monaten gab es mehrere
sicherheitsrelevante Vorkommnisse: die Terrordrohung
gegen den Reichstag, der Anschlag am Frankfurter Flughafen mit toten amerikanischen Soldaten und nicht zuletzt die Enttarnung und Festnahme der Düsseldorfer
Zelle, die vorhatte, an einer Bushaltestelle einen Anschlag zu begehen. Das zeigt, dass wir eine ernste Bedrohungslage haben und dass wir wachsam sein müssen.
Es zeigt auch, dass die Polizei und die Sicherheitsbehörden Befugnisse brauchen, um dieser Bedrohungslage
Herr zu werden. In solch einer Bedrohungslage einfach
pauschal die Streichung von Maßnahmen zu fordern,
halte ich für einigermaßen unlogisch und auch absurd.
({2})
Sie hätten auch einmal darlegen können, warum verdeckte Maßnahmen notwendig sind. Aber das haben Sie
nicht getan; diese Debatte scheuen Sie.
Wir wissen heute, dass Tatverdächtige im Bereich des
Terrorismus immer konspirativer vorgehen: Sie kommunizieren verschlüsselt und agieren höchst verdeckt. Mit
herkömmlichen Methoden ist es kaum noch möglich,
Terrornetzwerke oder fanatische Einzeltäter zu erkennen. Aus diesem Grund und aufgrund der bestehenden
Bedrohungslage haben wir das Bundeskriminalamtgesetz
geändert und die Möglichkeit der Onlinedurchsuchung
in § 20 k eingeführt. Wir haben uns dabei bewusst an die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
gehalten. Sogar der Bundesdatenschutzbeauftragte hat
neulich gesagt: In diesem Paragrafen ist alles so beschrieben, wie es auch aus datenschutzrechtlichen Erwägungen notwendig ist.
({3}): Doch, das hat
er gesagt!)
- Genau so hat er es gesagt, auch wenn Sie es nicht
gerne hören, Herr Kollege Wieland. Wir haben in dem
Gesetz dieses Urteil berücksichtigt.
Aber interessant ist Folgendes: Als wir das BKA-Gesetz hier beraten haben, haben die Linken die Bürger
verunsichern wollen, indem sie das Szenario entworfen
haben, dass zukünftig in jeden Rechner geschaut werden
kann, dass die Rechner aller Bürger überwacht werden
können und dass die Maßnahme grenzenlos und flächendeckend angewandt wird.
({4})
- Ihre Kollegin Jelpke hat das aber gesagt. Sie gehört ja
Ihrer Fraktion an, insofern müssen Sie sich das zurechnen lassen.
({5})
Mit der Aussage, dass diese Maßnahme flächendeckend
angewandt wird, haben Sie die Bevölkerung verunsichert.
({6})
Dieses Szenario ist aber nicht eingetreten. Und jetzt
schreiben Sie in der Begründung zu Ihrem Antrag, dass
diese Maßnahme offensichtlich nie angewandt wurde
und deshalb gestrichen werden soll. Absurder und widersprüchlicher geht es wirklich nicht, Herr Kollege
Korte - erst zu viel, jetzt zu wenig, nur nie richtig.
({7})
Wir haben immer gesagt, dass wir an diese Maßnahme so hohe rechtliche Anforderungen stellen, dass
sie nur in Einzelfällen angewandt wird. Auf die Anwendung solcher Maßnahmen in Einzelfällen können wir
nicht verzichten, weil von diesen Einzelfällen ein großes
Gefahrenpotenzial ausgeht.
({8})
Das gilt für Maßnahmen wie die Wohnraumüberwachung, die es bald seit über zehn Jahren gibt und die
vielleicht ein- bis fünfmal pro Jahr angewandt wird. Das
gilt auch für andere verdeckte Maßnahmen, und das gilt
auch für die Onlinedurchsuchung. Uns das vorzuhalten,
halte ich für wenig überzeugend.
Was wäre eigentlich, Herr Kollege Korte, wenn wir
den Anträgen der Linken folgen würden? Ich meine jetzt
nicht den auf Ihrem Parteitag diskutierten Antrag, alle
Drogen freizugeben, auch wenn man das Gefühl hat,
man würde ein bisschen merken.
({9})
Was würde passieren, wenn wir all Ihren Anträgen zu
dem heutigen Thema folgen würden? Die Polizei könnte
in diesem Land keine verdeckten Maßnahmen mehr
durchführen. Sie hätte keine Instrumente mehr, um gefährliche Täter enttarnen zu können. Sie wäre nicht mehr
in der Lage, Quellen-TKÜ, Telefonüberwachungen oder
Onlinedurchsuchungen durchzuführen.
Hier geht es aber nicht um harmlose Ladendiebe, sondern hier geht es um gefährliche Terrorverdächtige, die
bereit sind, sich und andere Menschen in die Luft zu
sprengen. Um diese zu überführen, sind herkömmliche
Ermittlungsmethoden nicht mehr ausreichend. Das ist
die Botschaft. Deshalb können wir auf die Onlinedurchsuchung nicht verzichten. Verzichten können wir allerdings auf Ihren Antrag. Deshalb werden wir ihn auch ablehnen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute abschließend über den Antrag der
Fraktion Die Linke, die Befugnis des Bundeskriminalamts zur Onlinedurchsuchung aufzuheben. Aber vermutlich ist das nicht das Ende der Debatte über die Befugnisse von Sicherheitsbehörden.
Sie von der Linksfraktion begründen Ihren Antrag damit, dass man die sogenannte Onlinedurchsuchung nicht
brauche, da man sie bisher noch nicht angewandt habe.
Sie schreiben in Ihrem Antrag: „Die Norm hat sich praktisch als überflüssig erwiesen.“ Für uns ist sie nicht überflüssig, sondern sie wird nicht leichtfertig eingesetzt. Die
Sicherheitsbehörden gehen sehr verantwortungsvoll mit
diesem Instrument um und wägen ab, ob es notwendig
ist. Ob die Onlinedurchsuchung zum Beispiel im Vorfeld
der Verhaftung von Terrorverdächtigen in Düsseldorf
eingesetzt wurde, konnte die Bundesregierung wegen
des laufenden Ermittlungsverfahrens aus Geheimhaltungsgründen verständlicherweise noch nicht mitteilen.
Terroristische Angriffe und Bedrohungen sind eine
Gefahr weltweit, auch in Deutschland. Es gibt Bedrohungsszenarien, die wir uns nie vorstellen konnten:
11. September in New York, die Anschläge in Madrid
und London, das Aufdecken der Sauerland-Gruppe. Die
neuen Kommunikationstechniken ermöglichen es Straftätern, sich im Netz zusammenzufinden, sich zu radikalisieren und zusammenzuarbeiten. Diese Bündelung von
Wissen, Handlungsbereitschaft und krimineller Energie
stellt die Strafverfolgung und die Gefahrenabwehr vor
völlig neue Aufgaben. Deswegen müssen auch die Sicherheitsbehörden Möglichkeiten haben, Schritt zu halten.
Es ist richtig und wichtig, dass wir als Gesetzgeber
den Behörden die entsprechenden Instrumente an die
Hand geben. Dazu gehört für uns auch die Onlinedurchsuchung, für die 2008 durch das BKA-Gesetz der Rahmen vorgegeben wurde, den wir 2009 konkretisiert haben. Die Onlinedurchsuchung darf lediglich zur Abwehr
terroristischer Gefahren eingesetzt werden. Es gilt das
Ultima-Ratio-Prinzip, das heißt, vor Einsatz der Onlinedurchsuchung müssen alle anderen Ermittlungsmethoden ausgeschöpft werden. Es reicht nicht mehr aus, dass
die Länderpolizeien Möglichkeiten der Gefahrenabwehr
haben; denn Planungen von Terrorverdächtigen machen
keinen Halt vor den Grenzen der Bundesländer und auch
nicht an den deutschen Grenzen.
Uns ist bewusst, dass diese Maßnahme ein Eingriff in
die Grundrechte bedeutet. Deshalb haben wir hohe Anforderungen an den Einsatz dieses Instruments gestellt.
Voraussetzung für die Onlinedurchsuchung ist, dass
durch Tatsachen belegbar ist, dass eine Gefahr vorliegt,
entweder für Leib und Leben oder Freiheit einer Person
oder für die Grundlagen oder den Bestand des Staates.
Die Maßnahme muss für die Aufgabenerfüllung des
Bundeskriminalamts erforderlich sein. Es dürfen nur die
unbedingt notwendigen Veränderungen an dem zu untersuchenden IT-System vorgenommen werden, die nach
Beendigung des Eingriffs wieder rückgängig gemacht
werden müssen. Der Eingriff muss durch ein Gericht angeordnet werden. Beantragt werden kann dieser nur vom
Präsidenten des BKA oder seinem Vertreter. Die nachträgliche Einholung einer richterlichen Genehmigung ist
nicht zulässig. Der schriftliche richterliche Beschluss
muss neben der Begründung auch Art, Umfang und
Dauer der Maßnahme beinhalten.
Auch die anderen Ermittlungsmethoden wie Rasterfahndung und Wohnraumüberwachung werden nur sehr
selten eingesetzt. Es ist aber absurd, sie aufgrund der
geringen Zahl der Anwendungen für überflüssig zu erklären. Deutschland ist nicht aus dem Visier des internationalen Terrorismus verschwunden. Deshalb ist es unverzichtbar, dass wir Ermittlungsmethoden, zu denen
auch die Onlinedurchsuchung gehört, bereithalten.
Die Länderpolizeien sind mit Befugnissen zur Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung sowie mit präventiven und repressiven Zuständigkeiten ausgestattet. Durch
das BKA-Gesetz hat das Bundeskriminalamt die Möglichkeit erhalten, im Bereich des Terrorismus nicht nur
Strafverfolgung, sondern auch Gefahrenabwehr zu betreiben. Damit haben wir eine Lücke unserer Sicherheitsarchitektur geschlossen, die Sie mit Ihrem vorliegenden Antrag wieder aufreißen wollen.
Sie von den Linken sind nicht auf der Höhe der Zeit
({0})
und verbreiten Unwahrheiten. Auf der Homepage Ihrer
Fraktion ist über die Onlinedurchsuchung immer noch
zu lesen - ich zitiere -:
Sie kann ohne Richtervorbehalt, d. h. direkt von der
Polizei eingesetzt werden und sich auch gegen Unverdächtige, sog. Kontaktpersonen richten.
Das ist falsch.
({1})
Der Antrag der Linken ist unverantwortlich. Schließlich fordert keiner, die Feuerwehr in einer Stadt abzuschaffen, nur weil es dort einige Jahre nicht gebrannt hat.
({2})
Das wäre absurd, und deshalb lehnen wir Ihren Antrag
ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Dank der Fraktion Die Linke haben wir heute erneut die
Gelegenheit, über Trojaner zu sprechen. Ich finde, das ist
ein spannendes Thema. Dazu kann man allerlei sagen.
Natürlich kann man auch amüsiert bis interessiert zur
Kenntnis nehmen, dass jetzt auch die Linke den
Staatstrojaner fordert. Das ist gestern Morgen im Haushaltsausschuss passiert. Herr Korte, vielleicht sollten Sie
sich einmal mit Ihren Haushaltspolitikern zusammensetzen. Das ist eine interessante Entwicklung.
({0})
Ich bin gespannt, wie Sie das hier erklären wollen. Die
Entwicklung von diesem Antrag zur Forderung nach einem Staatstrojaner ist ein interessanter Weg zu sich
selbst.
({1})
Ich nehme die Gelegenheit hier gerne wahr, zu den
technischen und rechtlichen Feinheiten von Überwachungssoftware Stellung zu nehmen. Im Koalitionsvertrag
haben CDU, CSU und FDP vereinbart, das BKA-Gesetz
zu überarbeiten. Wir wollen gemeinsam den Kernbereichsschutz verbessern und das Verfahren im Sinne von
mehr rechtsstaatlicher Kontrolle stärken.
({2})
- Man muss ja auch in der zweiten Halbzeit noch etwas
zu tun haben.
({3})
Sonst wäre es ja langweilig. Was würdet ihr denn sagen,
wenn wir jetzt nichts mehr zu tun hätten?
({4})
Herr Korte, es ist kein Geheimnis, dass sich die FDPFraktion mehr hätte vorstellen können. Vor ziemlich genau drei Jahren wurde hier im Haus das BKA-Gesetz
verabschiedet. Das war am 12. November 2008. In der
damaligen Debatte habe ich gesagt - bevor Sie es mir
vorwerfen -:
Heimliche Durchsuchungen sind ein Novum in der
deutschen Geschichte, ein Novum, auf das der
Rechtsstaat aus unserer Sicht besser verzichten
sollte.
({5})
Dazu steht meine Fraktion nach wie vor. Wir wissen aber
auch: Demokratie bedeutet, dass die jeweils demokratisch bestimmte Mehrheit entscheidet. Die Mehrheit in
der letzten Wahlperiode hat sich nicht für den Weg entschieden, den die FDP für den besten Weg hielt. Die
Mehrheit in dieser Wahlperiode will das nicht ändern.
Das nehmen wir zur Kenntnis.
({6})
Für den Kernbereichsschutz werden wir aber gemeinsam
kämpfen. Ich finde, auch das ist eine Verbesserung.
Ich könnte immer wieder sagen, was die Grünen alles
nicht verbessert haben.
({7})
Erst gestern Abend haben wir hier das Bundesverfassungsschutzgesetz, das Rot-Grün auf den Weg gebracht
hat, deutlich verbessert.
(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland ({8})
Sehr geehrte Kollegen und sehr geehrte Frau Kollegin
von den Grünen, an Ihrer Stelle würde ich die Kirche
mal im Dorf lassen.
({9})
Ich weiß, dass das nicht die reine Lehre ist. Man muss
hier aber Kompromisse machen. Wir sind der Verfassung verpflichtet - das gilt übrigens für uns alle -, und
wir bemühen uns um eine Balance zwischen Sicherheit
und Freiheit. Deshalb werden wir den § 20 k des BKAGesetzes daraufhin überprüfen, wie der Schutz des unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung besser
gewährleistet werden kann. Wir werden uns überall dort,
wo es um den Kernbereichsschutz geht, um Verbesserungen bemühen.
In der eben schon erwähnten Rede habe ich auch gesagt: Koalitionsrunden müssen ein wirklich wunderbares
Vergnügen sein. Nach zwei Jahren kann ich sagen: Das
trifft es.
({10})
Sie sind aber nicht nur ein bevorzugter Zeitvertreib, sondern auch Ausdruck dessen, was die Wählerinnen und
Wähler erwarten. Sie erwarten vernünftige Kompromisse. Weil das so ist, muss ich an dieser Stelle feststellen, dass man nicht immer 100 Prozent bekommt. Wenn
man aber, wie in diesem Fall, 50 Prozent bekommt und
dadurch Verbesserungen beim Kernbereichsschutz erreicht, dann ist das schon eine ganze Menge.
({11})
Es gibt in diesem Haus, um das noch einmal zu sagen
- das haben wir auch in der Rede eben gehört -, keine
parlamentarische Mehrheit für Ihren Antrag, Herr Korte.
Sie können ihn tausendmal stellen. Sie können versuchen, uns tausendmal zu ärgern. Es wird nicht funktionieren. Wir müssen mit der Realität umgehen. Das tun
wir.
Bei jedem Einsatz von Überwachungssoftware werden wir natürlich sehr genau darauf achten, dass die
rechtlichen Vorgaben genau eingehalten werden.
({12})
Das ist in unserem Rechtsstaat selbstverständlich. Ich
glaube, das sieht das gesamte Haus so.
Norbert Blüm hat einmal gesagt - nein, ich meine
nicht: „Die Rente ist sicher!“, sondern ein anderes Zitat -:
Wer in der Regierung sitzt, muss Brände sofort löschen.
({13})
Die Opposition kann über die Verbesserung der
Feuerwehr in Ruhe nachdenken.
Deshalb überlasse ich es den Linken, in ihrem Wolkenkuckucksheim nachzudenken, während wir gemeinsam mit der Union ganz konkrete rechtsstaatliche Verbesserungen durchsetzen.
({14})
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD bereitet sich offenbar auch im Bereich der Innenpolitik auf die nächste Große Koalition vor. Das ist
schlecht für das Land. Die FDP - das finde ich witzig ({0})
richtet auf allen Ebenen Flächenbrände an, in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und leider auch in der Innenpolitik.
({1})
Jetzt erzählen Sie uns hier, dass die Linke das löschen
soll. Wir versuchen ja, das zu tun. Sie könnten unserem
Antrag zustimmen, und dann könnte man den Brand eindämmen. So sieht es aus.
({2})
Das war ein bemerkenswerter Beitrag.
Nun zum Thema. Erinnern wir uns an das BKA-Gesetz und an die Einführung der Onlinedurchsuchung. Da
gab es hysterische Interviews vor allem in Sonntagszeitungen, in denen erklärt wurde, dass wir dies unbedingt
brauchen, um im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bestehen zu können. Dann wurde die Onlinedurchsuchung gegen unsere Stimmen eingeführt; denn
ohne Onlinedurchsuchung, so die Auskunft der Bundesregierung und derjenigen, die sie wollten, könne man
den Terrorismus nicht effektiv bekämpfen. Es sei unerlässlich, sie einzuführen. Das waren Ihre Aussagen.
Nun haben wir - es ist schon zitiert worden - 2010 in
einer Kleinen Anfrage die Bundesregierung gefragt: Wie
oft wurde die Onlinedurchsuchung überhaupt durchgeführt? Die Antwort der Bundesregierung: kein einziges
Mal. Das war die erste Täuschung der Öffentlichkeit;
denn wenn Sie sagen, sie sei unerlässlich, und dann in
der Antwort auf die Kleine Anfrage schreiben, dass Sie
sie kein einziges Mal durchgeführt haben, besteht dort
ein gewisser logischer Widerspruch, den Sie nicht widerlegen können.
({3})
Dann ging es weiter. Wir haben 2011 eine Kleine Anfrage zum selben Thema gestellt und gefragt: Wie oft haben Sie die Onlinedurchsuchung angewandt? Die Auskunft der Bundesregierung lautete jetzt: Dazu geben wir
aus Geheimhaltungsgründen keine Auskunft. Das ist
schlicht unseriös, weil man so nicht ernsthaft über die
Notwendigkeit oder Sinnlosigkeit der Onlinedurchsuchung diskutieren kann. Das war die zweite Täuschung
der Bundesregierung gegenüber der Öffentlichkeit. So
sieht es aus.
({4})
Jetzt wollen wir weiterdiskutieren. Wir sagen - auch
aufgrund der Erfahrung aus den Auskünften, die die
Bundesregierung der Linken gegeben hat -, dass wir diesen massiven Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte
nicht brauchen, weil er erstens unnütz, zweitens unverhältnismäßig und drittens unangemessen für einen demokratischen Rechtsstaat ist. Das möchte ich klar sagen.
({5})
Die letzten Tage haben gezeigt, dass unser Antrag, der
ein Jahr alt ist, aktueller denn je ist. Das wurde durch
den Chaos Computer Club eindrucksvoll belegt. Der
Chaos Computer Club, der Arbeitskreis „Vorratsdatenspeicherung“, das Aktionsbündnis „Freiheit statt Angst“
und die Linke sind übrigens die wahren Verfassungsschützer, und Sie haben ein Problem mit der Verfassung.
({6})
So sieht es aus.
Ich freue mich übrigens, dass Kollege Uhl anwesend
ist. Er hat sich in der FAZ darüber aufgeregt, dass er,
wenn Korte redet, sauer wird. Das freut mich. Ich hoffe,
er wird heute noch saurer; denn es zeigt, dass wir richtigliegen.
Davon einmal abgesehen, steht im Antrag Folgendes:
Bei diesem schwerwiegenden Eingriff in die Grund- und
Freiheitsrechte - dort geht es um geschützte Räume - ist
Abhilfe notwendig. Wir brauchen die Onlinedurchsuchung nach Auskunft vieler überhaupt nicht. Man kann
übrigens - dies ist heute möglich und war auch vor der
Einführung der Onlinedurchsuchung möglich - die
Computer von Verdächtigen einfach beschlagnahmen.
Es ist ja nicht so, dass man vor Einführung der Onlinedurchsuchung keine Verbrechensbekämpfung machen
konnte. Deswegen ist, wenn wir uns der Aufklärung verpflichtet fühlen, die logische Schlussfolgerung aus den
Skandalen der letzten Wochen, dass wir erstens keine
Onlinedurchsuchung mehr durchführen und dass wir
zweitens - das ist der aktuelle Hintergrund - auch keine
Onlinedurchsuchung über die Hintertür der QuellenTKÜ zulassen.
({7})
Wir brauchen mehr parlamentarische Kontrolle. Man
kann in einer Demokratie Behörden selbstverständlich
vertrauen, man muss sie aber auch immer kontrollieren.
Was man keinesfalls machen sollte, ist, dieser Bundesregierung auch nur in einem Politikbereich zu vertrauen.
Das wäre grob fahrlässig und schlecht für dieses Land.
Deswegen sollten Sie dem Antrag zustimmen, sodass
wir Vertrauen aufbauen und nicht abbauen, wie Sie es
jede Woche hier tun.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Korte, darüber, ob Sie nun die wahren Verfassungsschützer sind, lässt sich streiten.
({0})
- Darüber lässt sich streiten. Ich lehne es ja gar nicht
ab. - Aber wahre Gesetzesmacher müssen Sie noch werden. Wer die Bundesregierung zu Hilfe ruft und um eine
Vorlage bittet, um einen Paragrafen im BKA-Gesetz zu
streichen, der muss es trotz des hervorragenden Justiziars Wolfgang Nešković offenbar noch lernen, Gesetze
zu machen. Das sage ich Ihnen einmal vorneweg.
({1})
- Die Streichung eines Paragrafen traue ich Ihnen schon
zu.
Zweitens. Liebe Kollegin Piltz, Sie haben sich selber
wunderbar zitiert. Da haben wir Beifall geklatscht. Es
waren aber leider die Worte aus der letzten Legislaturperiode.
({2})
Nun kündigen Sie an, nachdem der Herbst der Entscheidung letztes Jahr verstrichen ist - er war ein Herbst
der Fehlentscheidung - und nachdem dieser Herbst demnächst auch vorbei sein wird,
({3})
dass Sie irgendwann einmal den ganz großen bürgerrechtlichen Entwurf machen und irgendwann einmal den
Kernbereichsschutz durchsetzen wollen. Wer soll Ihnen
das denn glauben?
({4})
Gestern Abend haben Sie die Regelungen für den
Verfassungsschutz und die Nachrichtendienste zweimal
an entscheidender Stelle verschärft. Das Surfen in zentralen Datenbanken und das Surfen in den Flugreservierungssystemen
({5})
haben Sie immer bekämpft wie der Teufel das Weihwasser. Jetzt haben Sie es zugelassen.
({6})
Nun kommen wir einmal zur Onlinedurchsuchung.
Sie haben es - anders als sonst - ja nicht für nötig gehalten, hier mit den sogenannten Otto-Katalogen aufzufahren. Dann mache ich es an Ihrer Stelle. Darin war sie
nicht enthalten.
({7})
Es gab unter Rot-Grün Onlinedurchsuchungen ohne gesetzliche Grundlage. Staatssekretär Diwell - wir hätten
ihn gerne dazu befragt; die SPD war zu feige, ihn in den
Innenausschuss zu schicken - sagte, er sei mit einem
Zettel in das Parlamentarische Kontrollgremium gegangen und habe gar nicht gewusst, was eine Onlinedurch16360
suchung ist; das habe man ihm aufgeschrieben und ihn
falsch unterrichtet.
Wir haben diesen Begriff bei den Haushaltsberatungen gelesen.
({8})
Da stand: Onlinedurchsuchung, Fernabfrage von Computern. Ich fragte meine Assistenten, die ein bisschen
jünger sind: Was kann das denn sein? Auch sie hatten
keine Ahnung. Ich dachte - sehr rechtsstaatlich, so ist
man ja geprägt -, dass sie in Nürnberg einen Computer
beschlagnahmen und dann von Wiesbaden aus die Festplatte auswerten. Das war meine Vorstellung.
Erst als ein Richter am BGH gesagt hat: „Ich lasse das
nicht zu; das ist keine Durchsuchung“, wussten wir, was
die Onlinedurchsuchung ist. Sie kam genauso durch die
Hintertür in die parlamentarische Beratung, wie sie
heimlich auf die Festplatten der Computer kommt.
({9})
Wir sagen nach wie vor: Auch wir wollen sie nicht, und
wir brauchen sie nicht.
({10})
Herr Kollege Korte, Sie rätseln immer, wie häufig die
Onlinedurchsuchung eingesetzt wurde. Das hat man uns
in der Unterrichtung der Obleute gesagt - auch der Vertreterin Ihrer Fraktion -: Sie wurde dieses Jahr einmal
durchgeführt, und zwar bei der Düsseldorfer Zelle.
Nun kann man sagen - das tun ja Binninger & Co -:
Einmal ist keinmal; das ist so wenig, dass wir es vernachlässigen können.
({11})
Man kann auch sagen: Sie haben es im Hinblick auf
diese Diskussion gemacht, damit Sie sagen können: Wir
brauchen dieses Instrument. - Ob es irgendein Ergebnis
hatte, wissen wir übrigens bis heute nicht.
({12})
Das sollte man noch auswerten.
Lieber Kollege Binninger, das Entscheidende ist doch
etwas völlig anderes. Die Gefährdungseinschätzung, die
Sie gegeben haben, teilen wir. Daraus kann aber nicht
folgen, dass der Staat alles darf,
({13})
sondern daraus muss folgen, dass es einen starken
Schutz der Bürgerrechte gibt.
({14})
Diese Frage wird im Übrigen nicht hier entschieden.
Sie wird in Karlsruhe entschieden. Wir haben zusammen
mit noch wahrhaft Liberalen wie Herrn Baum und Herrn
Hirsch gegen das BKA-Gesetz geklagt. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.
Liebe Kollegin Piltz, auf Ihre Tendenzwende, die Sie
hier herbeiformulieren, warten wir nicht. Der trauen wir
nicht. Das ist alles Humbug; tut mir leid. Aus Merde dermaßen Gold zu machen, das geht hier nicht durch.
Vielen Dank.
({15})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Armin Schuster von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Linke wird leider nicht müde, uns einreden
zu wollen - auch Herr Wieland hat da gerade mitgemacht -, dass der Staat permanent durch nichtverfassungsgemäße Eingriffe unsere Privatsphäre bedroht.
({0})
Wir kennen dieses Déjà-vu-Phänomen der Linken bereits zur Genüge. Ich habe mir die Mühe gemacht, die
Bedeutung des Wortes „Déjà-vu“ einmal nachzuschlagen. Es beschreibt ein psychologisches Phänomen und
bedeutet: qualitative Gedächtnisstörung oder auch Erinnerungs- bzw. Bekanntheitstäuschung.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
Linken, den Ihnen aus Ihrer Erinnerung bekannten und
auch in Ihrer Fraktion wahrscheinlich umschwärmten
übergreifenden Staat, von dem Sie ständig sprechen, haben wir 1990 hinter uns gelassen.
({2})
Ihr Versuch, analoge Verhältnisse in unserem Rechtsstaat ausfindig zu machen, ist also eine klassische Bekanntheits- oder Erinnerungstäuschung. Ich halte das für
behandelbar.
({3})
Ich würde aber einen Versuch ohne Rezeptgebühr unternehmen, Ihnen das zu erklären.
Passwortdiebstahl im Netz, Datenklau, Cyberstalking
und Betrug mit Millionenschäden sind im Moment die
realen Bedrohungen der Privatsphäre im Netz. Davor
möchten Internetnutzer in erster Linie geschützt werden.
Allen netzaffinen Usern sollte klar sein, dass im Zeitalter
der IT neue Kriminalitätsbedrohungen entstanden sind,
Armin Schuster ({4})
die das Vertrauen in die digitale Welt nachhaltig erschüttern können. Wenn wir dieser Gefahr durch die Anwendung passender polizeilicher Instrumente erfolgreich begegnen, stören wir nicht. Nein, wir schützen eine
gedeihliche Entwicklung dieser Informationstechnologie. Das ist unser erklärtes Ziel.
Natürlich dürfen Ermittlungsbehörden - so Ihr Vorwurf - nie einen Blankoscheck ausgestellt bekommen,
mit dem sie ungehemmt und ohne richterliche Überwachung auf Daten zugreifen können. Wir müssen den Ermittlern aber wirkungsvolle und zugleich verfassungsgemäße Mittel an die Hand geben, um zum Beispiel
Terrorplanungen oder schwerste Kriminalität unter Zuhilfenahme der IT erfolgreich bekämpfen zu können.
Dafür kann es im Extremfall auch sinnvoll sein, auf die
von Verdächtigen genutzten Rechner unbemerkt zuzugreifen - und das mit rechtsstaatlichen Verfahren, so wie
es in § 20 k BKA-Gesetz sehr präzise geregelt ist. Eine
Onlinedurchsuchung findet lediglich zur Abwehr terroristischer Gefahren statt. Die Maßnahme darf nur angeordnet werden, wenn die Aufgabenerfüllung des BKA
sonst aussichtslos oder wesentlich erschwert würde. Wir
haben sehr konkrete technische Bedingungen und die
Protokollpflicht der Ermittler formuliert. So sieht
Rechtsstaatlichkeit im Detail aus.
Wer dem Bundesverfassungsgericht, an dessen Vorgaben wir uns orientiert haben, den anordnenden Richtern,
dem Präsidenten, dem Datenschutzbeauftragten und den
ermittelnden Beamten des BKA nicht vertraut, der misstraut letztendlich dem demokratischen Rechtsstaat. Das
müssen Sie sich vorhalten lassen.
({5})
Meine Damen und Herren, Grundrechte schützen wir
nicht, indem wir rechtsfreie Räume schaffen. Wer Bürgerrechte schützen will, muss die Strafverfolgungsbehörden dazu ertüchtigen, Schwerstkriminalität und Terrorismus wirksam zu verfolgen. Herr Korte, in der
letzten Woche haben Sie in einer Debatte behauptet, dass
der Einsatz von Staatstrojanern die Menschen verunsichere.
({6})
Ich weiß nicht, in welchen Kreisen Sie verkehren.
({7})
Die Menschen, mit denen ich spreche, haben ganz andere Sorgen, und zwar die tatsächliche Kriminalitätsbelastung im Netz. Die Informationen dazu kommen durch
die zunehmend öffentliche Berichterstattung bei den
Bürgen an. Deshalb werden sie im Umgang mit dem Internet und elektronischer Kommunikation vorsichtiger.
Das kann doch nicht unser Wunsch sein.
({8})
Daher wollen wir Tätern, die das Vertrauen der Menschen zerstören, mit zeitgemäßen Mitteln, zum Beispiel
mit der Quellen-TKÜ, der Onlinedurchsuchung oder der
Vorratsdatenspeicherung, wirkungsvoller begegnen. Die
Onlinedurchsuchung ist das letzte Mittel, also ein Instrument, das nur dann zum Einsatz kommt, wenn die besondere Gefährdungslage dies anzeigt und andere Instrumente nicht erfolgversprechend sind. Die gesetzlichen
Hürden sind so hoch, dass das BKA bisher kaum auf
diese Weise auf Festplatten zugegriffen hat.
Die Linke will diese Befugnis aus dem BKA-Gesetz
streichen; ich weiß nicht, ob aus politischem Kalkül, aufgrund mangelnden juristischen Sachverstands oder ganz
einfach aufgrund ihrer Inkompetenz im Hinblick auf
polizeiliches Fachwissen.
({9})
Wir in der Union sehen das jedenfalls diametral anders.
Wenn das Internet als Tatmittel genutzt wird, ist die Onlinedurchsuchung eine der wirksamsten Methoden, um
kryptierte Beweismittel zu sichern. Ob wir unter Umständen die gesetzlichen Hürden zu hoch angesetzt haben, sollten wir allerdings evaluieren.
({10})
Da wir gerade bei diesem Thema sind: Warum es die
Onlinedurchsuchung - wir halten sie für wirkungsvoll nicht in der Strafprozessordnung gibt, auch darüber müssen wir noch einmal diskutieren. Mir erschließt sich das
nicht.
({11})
Abschließend: Abenteuerlich, Herr Korte, ist Ihr Antrag. Sie mühen sich einerseits, die Gefahr des Überwachungsstaates an die Wand zu malen. Andererseits stellen Sie in Ihrem Antrag fest, dass das BKA dieses Mittel
gar nicht oft nutzt.
({12})
Was denn nun? Erinnern Sie sich an den Anfang meiner
Rede: Ein Déjà-vu ist eine qualitative Gedächtnisstörung. Ich weiß nicht, was Ihr Arzt oder Apotheker empfiehlt. Den Kolleginnen und Kollegen empfehle ich jedenfalls die Ablehnung Ihres Antrags. Den Menschen in
diesem Land empfehle ich beim Thema „innere Sicherheit“ die Union.
Danke schön.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Befugnis des Bundeskriminalamtes zur Online-
Durchsuchung aufheben“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3633, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2423
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stim-
men von Linken und Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Verbraucherinformation
- Drucksache 17/7374 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Verbraucherinformationsgesetz zügig reformieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Karin Binder, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbraucherinformationsgesetz jetzt verbraucherfreundlich ausgestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellieren
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse der Evaluation des Verbraucherinformationsgesetzes
- Drucksachen 17/2116, 17/1576, 17/1983, 17/1800,
17/3928 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Bleser
Dr. Erik Schweickert
Caren Lay
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Mechthild Heil von der
CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die Verbraucherinnen
und Verbraucher. Heute bringen wir das neue, anwendungsfreundlichere Verbraucherinformationsgesetz in den
parlamentarischen Prozess ein. Das VIG, wie es kurz
heißt, ist eines der wichtigsten verbraucherschutzpolitischen Vorhaben der Koalition in dieser Legislaturperiode.
Die Union bringt mit unserer Ministerin Ilse Aigner
nun auf den Weg, woran seit 2001, seit Renate Künast
von den Grünen, viele gescheitert sind. Es gab im parlamentarischen Verfahren insgesamt vier Anläufe. Sechs
Anhörungen wurden zu diesem Thema durchgeführt. Im
November dieses Jahres gibt es auf Wunsch der SPD
eine siebte Anhörung, frei nach Karl Valentin: Es ist alles gesagt, nur noch nicht von jedem.
Fast könnte man meinen, die Opposition habe nicht
den Willen, diesen Meilenstein des Verbraucherschutzes
auf den Weg zu bringen. Seit Inkrafttreten des VIG im
Mai 2008 sind mehr als drei Jahre vergangen. Wie in der
Großen Koalition vereinbart, wurde das Gesetz nach
zwei Jahren Anwendungszeit evaluiert. Wir stellten das
Gesetz auf den Prüfstand: Was läuft gut? Was läuft
schlecht? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Wir
wollen ein umfassenderes, schnelleres und kostengünstigeres Verbraucherinformationsgesetz schaffen. Uns ist
ein guter Balanceakt zwischen berechtigten Verbraucherinteressen und berechtigten Bedenken der Wirtschaft gelungen.
Drei unabhängige Studien hat das Verbraucherschutzministerium in Auftrag gegeben und so die vorliegenden
Verbesserungen wissenschaftlich untermauert. Zu diesem Gesetzentwurf wurde eine eigene Homepage geschaltet. Es gab eine sechsmonatige Dialogphase unter
Beteiligung von Vertretern des Verbraucherschutzes und
von Wirtschaftsverbänden. Auch die Erkenntnisse aus
dem Skandal, dass Dioxin in Futtermitteln gefunden
wurde, haben Eingang in dieses Gesetzeswerk gefunden.
Wir setzen mit diesem Gesetz also auch Teile der Maßnahmen des „Aktionsplanes Verbraucherschutz in der
Futtermittelkette“ vom Januar 2011 um.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Dieser Gesetzentwurf ist sehr intensiv begleitet worden. Die unterschiedlichen Lager sind klar: Die einen würden am liebsten eine Lex WikiLeaks aus dem VIG machen, andere
fürchten Industriespionage und die Offenlegung ihrer
Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Die Wahrheit liegt
wie so oft in der Mitte. Wo ist die Mitte? Sie ist immer
bei der CDU/CSU. Wir sind bekannt für die Mitte.
({0})
Die vom Bundestag beschlossene Evaluation des VIG
zeigte: 80 Prozent der 487 Anfragen waren kostenfrei,
70 Prozent wurden fristgerecht beantwortet.
Frau Kollegin Heil, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kelber von der SPD?
Nein.
({0})
487 Anfragen sind nicht viel. Daraus lernen wir: Für
die Bürger war das Abfragen von Informationen häufig
zu kompliziert, die Verfahrenswege waren zu lang, und
die Unsicherheit über mögliche Kosten war zu groß.
Dies ändern wir jetzt. Dadurch machen wir das VIG
noch praxisnäher und verbraucherfreundlicher. Zu dem
bisherigen Kernziel des VIG, der Transparenz, kommen
jetzt kostengünstigere Informationen und Schnelligkeit
hinzu.
Die meisten Anfragen, für die ein Verwaltungsaufwand von bis zu 250 Euro anfällt, werden vollständig
kostenfrei gestellt. Bei Rechtsverstößen ist das Einholen
von Auskünften sogar bis 1 000 Euro kostenfrei. Gleichzeitig wird auf einen schriftlichen Antrag verzichtet.
Eine formlose E-Mail oder ein Anruf reicht künftig
schon aus. Dies stellt eine enorme Verbesserung gegenüber dem bisherigen Gesetzentwurf dar.
Bei einer einfachen Anfrage war es bei Bundesbehörden bisher üblich, eine Gebühr zwischen 5 Euro und
25 Euro zu erheben. Bei ausführlichen Auskünften
konnten es auch schon einmal 250 Euro werden. Jetzt ist
für den Verbraucher klar: In der Regel hat er keine Kosten zu erwarten. Sollte sich jedoch abzeichnen, dass höhere Kosten anfallen werden, wird vorab ein Kostenvoranschlag erstellt. Wir sorgen also für Klarheit und
Sicherheit. Kein Verbraucher wird zukünftig durch hohe
Verwaltungskosten abgeschreckt werden.
({1})
Wir sollten uns jedoch davor hüten, aus dem berechtigten Informationsanspruch der Bürgerinnen und Bürger einen Infostand für Verbände und Lobbyisten zu machen. Ich spreche von den sogenannten Globalanfragen.
Es gibt Fälle, in denen Behörden ganze Broschüren mit
mehr als 100 Fragen abzuarbeiten hatten. Das hat nichts
mehr mit Verbraucherinformation zu tun. Wir wollen ein
Verbraucherinformationsgesetz und kein Verbändeinformationsgesetz schaffen. Deshalb sind umfangreiche Globalanfragen kostenpflichtig, wenn die Kosten für die Beantwortung mehr als 1 000 Euro betragen. Es darf nicht
sein wie bisher, dass die Lobbygruppen die Kosten für
den Rechercheaufwand der Behörden auf die Allgemeinheit abwälzen.
({2})
Dem schieben wir einen Riegel vor.
({3})
Das neue VIG ist nicht nur gerechter, sondern zudem
wird eine breitere Produktpalette abgedeckt. Neben Informationen zu Lebensmitteln und Kosmetika können
Verbraucher künftig auch Auskunft über Spielzeug,
Haushaltsgeräte, Heimwerkerartikel und andere technische Verbrauchsartikel erhalten.
Da die Opposition eine Ausweitung auf den Finanzbereich fordert, sei an dieser Stelle schon betont: Das
wird im IFG, dem Informationsfreiheitsgesetz des Bundes, geregelt. Bereits jetzt können Informationen über
Finanzdienstleistungen bei der BaFin nachgefragt werden. Einen Grund zur Ausweitung des VIG auf den Finanzbereich gibt es also nicht. Anstatt über eine Ausweitung zu debattieren, konzentrieren wir uns lieber darauf,
den Auskunftsanspruch auch inhaltlich zu erweitern und
zu stärken.
Würden Sie jetzt eine Zwischenfrage zulassen?
Nein.
Das ist eben schon abgelehnt worden; das gilt für die
ganze Aussprache.
Genau.
({0})
Künftig können die Bürger auch nach Informationen
zur Produktsicherheit fragen, also beispielsweise danach, ob den Behörden Erkenntnisse darüber vorliegen,
dass bestimmte ausländische Produkte nicht den europäischen Sicherheitsstandards entsprechen. Wir machen
das Gesetz schneller, indem wir die seit Jahren bewährten Regelungen aus dem Umweltinformationsrecht übernehmen und im Ergebnis Einspruchsmöglichkeiten und
Fristen für Unternehmer straffen.
Die schriftliche Anhörung betroffener Dritter entfällt.
Stattdessen gibt es künftig die Möglichkeit der formlosen Anhörung, zum Beispiel durch das Telefon. Mit einer solchen Maßnahme können wir bis zu vier Wochen
Zeit sparen. Bei erheblichen Täuschungsfällen gibt es
zudem eine Veröffentlichungspflicht der Behörden.
Durch eine Ergänzung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches werden die Behörden außerdem verpflichtet, alle Rechtsverstöße durch Grenzwertüberschreitungen zwingend zu veröffentlichen. Alle sonstigen
Verstöße, zum Beispiel gegen Hygienevorschriften, werden veröffentlicht, wenn ein Bußgeld von mindestens
350 Euro zu erwarten ist. Einige Bundesländer sind hier
schon vorangegangen, zum Beispiel das Saarland. Dort
werden bußgeldbewehrte Verfahren bereits ins Internet
gestellt, ohne dass dies zu wirtschaftlichen Verwerfungen
geführt hätte.
Mit diesem Gesetz bewegen wir uns auf dem schmalen Grat zwischen dem Anspruch auf Informationsfreiheit und dem Schutz von Betriebsgeheimnissen. Deshalb
möchte ich noch einmal ganz deutlich festhalten: Das
Betriebs- und Geschäftsgeheimnis bleibt auch weiterhin
geschützt. Klar ist jedoch: Mess-, Analyse- und Kontrollergebnisse bei Grenzwerten fallen nicht unter den
Geheimnisschutz. Natürlich werden Rezepturen und
Mischverhältnisse nicht offengelegt. Dies ist bei den bestehenden gesetzlichen Regelungen gar nicht möglich.
Ein zu hoher Dioxingehalt in Lebens- oder Futtermitteln
gehört allerdings nicht zu einer Rezeptur. Damit ist es
auch nicht als Geheimnis schützenswert.
Mir geht es in erster Linie um Vertrauensschutz. Die
Lehre aus der Lebensmittel- und Futtermittelkrise hat
gezeigt: Wenige schwarze Schafe und Kriminelle dürfen
nicht länger eine ganze Branche in Verruf bringen.
({1})
Dioxin und Ehec haben gezeigt: Die beste Maßnahme
gegen Angst und Unsicherheit im Krisenfall sind seriöse
und zeitnahe Informationen von öffentlicher Stelle. Mit
diesem Gesetz erteilen wir behördlicher Geheimniskrämerei eine Absage, bauen Besorgnisse in der Bevölkerung ab und stellen verlorenes Vertrauen wieder her. Das
Verbraucherinformationsgesetz ist so gesehen ein Wirtschaftsvertrauensaufbaugesetz.
Wie es bei den Sozialdemokraten, lieber Herr Kelber,
bezüglich des Vertrauens in die deutsche Wirtschaft und
des ernsten Wunsches nach mehr Informationen für die
Verbraucher steht, lässt sich an den Beratungen im Bundesrat sehen.
({2})
Die verbraucherschutzpolitische Sprecherin der SPDFraktion im Bundestag sah sich genötigt, schriftlich einzugreifen. Den Staatskanzleien, Wirtschafts- sowie den
Verbraucherschutzministerien der SPD-geführten Länder schrieb sie - ich zitiere aus dem Handelsblatt -:
Das VIG … sei verbraucherfreundlich.
({3})
Der Wirtschaftsausschuss wolle den Entwurf „verwässern“. So entstehe das Bild, die SPD sei weniger verbraucherfreundlich als Schwarz-Gelb.
({4})
Liebe Frau Drobinski-Weiß, in mir haben Sie eine
Verbündete gegen Ihre verbraucherschutzfeindlichen
SPD-Kollegen.
({5})
Liebe SPD, stehen Sie, wie Ihre Sprecherin, an der Seite
der christlich-liberalen Koalition und damit an der Seite
der Bürgerinnen und Bürger, oder wollen Sie sich vor
den Karren von einzelnen Verbänden spannen lassen?
Wir werden die Beratungen weiter im Ausgleich zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern auf der einen
und Unternehmen auf der anderen Seite führen. Sie sind
herzlich eingeladen, sich daran konstruktiv zu beteiligen.
Vielen Dank.
({6})
Ich will nur kurz darüber informieren, dass das Licht
ausgegangen ist, weil die Sicherungen herausgesprungen
sind.
({0})
Das ist keine besondere Sparmaßnahme des Präsidiums
des Deutschen Bundestages gewesen. Dafür sind jetzt
die Ventilatoren angegangen. Die Techniker versuchen,
auch das Problem zu lösen.
({1})
Wir können in der Debatte fortfahren. Das Wort hat
die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte schon gedacht, weil jetzt die CDU zum
VIG spricht, gehen die Lichter aus. - Bevor ich konkret
auf das Verbraucherinformationsgesetz eingehe, möchte
ich den Rahmen noch etwas weiter spannen. Ich denke,
dass wir in der Beschäftigung mit den Details oft den
Blick fürs Wesentliche verlieren und für das, worum es
eigentlich geht.
Ich möchte das hier kurz ausführen. Es geht um das
Verhältnis zwischen Verbrauchern, Markt und Staat. Es
geht darum, Verbraucherinnen und Verbraucher zu stärken. Es geht darum, verantwortungsvolle Anbieter zu
stärken. Und es geht darum, mit einer neuen Transparenzkultur dafür zu sorgen, dass Verbraucherinnen und
Verbraucher erkennen können, welchen Angeboten sie
trauen können. Es geht um einen zukunftsfähigen Markt,
den die Konsumenten mitgestalten und dem der Staat
dort Grenzen setzt, wo unverantwortlich gehandelt wird.
Das erwarten die Menschen von uns. Da muss auch ich
als Abgeordnete klar Position beziehen, auch wenn man
sich damit nicht überall beliebt macht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen und liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne, eines der häufigsten
Wörter in dieser Woche war, wenn es um die Verbraucherpolitik ging, das Wort „Pranger“. Laut Bundesamt
für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit wurden in den amtlichen Kontrollen in Gaststätten und Lebensmittelgeschäften bei rund einem Viertel der Betriebe
Verstöße festgestellt. Diese Zahl ist leider seit fünf Jahren stabil auf hohem Niveau. In den meisten Fällen geht
es dabei um Hygienemängel.
Ich frage Sie alle: Welche Beweise braucht es noch,
damit endlich alle verstehen, dass die Ergebnisse amtlicher Kontrollen grundsätzlich veröffentlicht werden
müssen?
({0})
Sie müssen für Verbraucher direkt an der Eingangstür
der Betriebe sichtbar sein, sei es in Form des bereits bekannten Smiley-Symbols nach dänischem Vorbild oder
in Form des Hygienekontrollbarometers in Ampelfarben.
Bereits im Mai haben sich die Verbraucherminister
der Länder auf die Hygieneampel verständigt. Sie muss
endlich kommen. Die miserablen Kontrollergebnisse
sind eklig und für die Branche beschämend. Doch statt
die Veröffentlichung zu unterstützen und zu nutzen, um
schwarze Schafe - auch die Kollegin Heil hat diese angesprochen - aus den eigenen Reihen zu drängen, verunglimpfen einige Vertreter der Branche die Transparenz
für Verbraucher als Pranger.
Als Pranger wird auch das Internetportal
www.lebensmittelklarheit.de beschimpft, und zwar von
der Lebensmittelbranche, die eigentlich froh sein sollte,
dass sie hier direkt vom Verbraucher erfahren kann, worin er sich getäuscht fühlt. Davon können die Wirtschaft
und auch die Politik profitieren - vorausgesetzt, man
geht auf die Bedürfnisse der Verbraucher ein. Wir von
der SPD begrüßen den Erfolg dieses Portals. Allerdings
zeigt die große Resonanz, dass in Sachen Verbrauchervertrauen einiges im Argen liegt. Wir finden, das muss
politische Konsequenzen haben.
({1})
Warum begreifen nicht alle Anbieter die Transparenz
gegenüber dem Verbraucher als Chance, sondern fühlen
sich an den Pranger gestellt? Diese Haltung ist alles andere als vertrauenerweckend. Eher ist man geneigt, zu
vermuten, dass es etwas zu verbergen gibt. Warum leistet die Bundesregierung dieser Verdunkelungskultur
Vorschub, indem sie den Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes vorlegt, welches immer noch keinen Auskunftsanspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher gegenüber den Unternehmen enthält?
Im August 2006 haben wir gemeinsam mit der CDU/
CSU in einem Entschließungsantrag zum VIG die Evaluierung und Überprüfung innerhalb von zwei Jahren
festgeschrieben. Der Antrag enthielt aber noch mehr:
Die Unternehmen wurden darin aufgefordert, Vorschläge
vorzulegen, wie sie Verbrauchern Informationszugang
gewähren und die Vergleichbarkeit sicherstellen wollen.
Für den Fall, dass kein solches Angebot der Anbieter
vorgelegt wird, ist ein gesetzlich festgeschriebener Auskunftsanspruch vorgesehen.
Heute, nach über fünf Jahren, sind wir in dieser Frage
keinen Schritt weiter. Wo bleibt der gesetzliche Auskunftsanspruch gegenüber den Unternehmen?
Ebenfalls schon im Antrag von 2006 vorgesehen war
die Erweiterung auf alle Produkte und Dienstleistungen.
Heute: keine Spur davon. Dabei ist dies noch im April
dieses Jahres sogar von der FDP gefordert worden.
({2})
Im April forderte der Kollege Professor Schweickert
in einer Pressemitteilung - Zitat -:
Angesichts der Finanzkrise und der offensichtlichen Transparenzlücken bei Finanzanlagen streben
wir eine Ausweitung des Verbraucherinformationsgesetzes auf den Bereich der Finanzaufsicht an.
({3})
Das sind leider leere Worte geblieben. Offensichtlich
strebt die FDP immer noch.
Schließlich die Kostenregelung. Die zeigt uns nun
wirklich, wie es um die Transparenzkultur dieser Bundesregierung bestellt ist. Kostendeckende Gebühren will
Schwarz-Gelb verlangen, wenn die Kosten von Anfragen
zu Rechtsverstößen die Grenze von 1 000 Euro überschreiten. Damit wollen Sie natürlich kritische Journalisten und NGOs abschrecken. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben aber gerade NGOs wie
BUND, vzbv, Foodwatch, Greenpeace oder auch die Stiftung Warentest eine wichtige Funktion bei der Vermittlung von Informationen. Genau denen wird die Arbeit
nun erschwert. Das ist eine enorme Verschlechterung;
denn bislang waren alle Anfragen zu Rechtsverstößen
kostenfrei. Darauf, so finden wir, haben die Bürgerinnen
und Bürger ein Recht.
Das hier ist keine Transparenzkultur. Im Gegenteil:
Bei dieser Bundesregierung besteht Verdunkelungsgefahr. Da machen wir nicht mit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Erik
Schweickert von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht nur
im Plenum geht das Licht bei Schwarz-Gelb an. Ich bin
sicher, dass auch beim Verbraucherinformationsgesetz
den Verbrauchern ein Licht aufgehen wird.
({0})
Warum? Das Verbraucherinformationsgesetz ist seit nunmehr gut drei Jahren in Kraft. Es sollte den Verbraucherinnen und Verbrauchern mehr Information und mehr
Transparenz bringen. Wir haben dieses Gesetz der Großen Koalition evaluiert und über die gewonnenen
Erkenntnisse im breiten Dialog mit den Verbraucherorganisationen, den betroffenen Branchen und den Unternehmen diskutiert. Wir haben daraus unsere Schlüsse gezogen und legen Ihnen nun ein gegenüber dem Istzustand
deutlich verbessertes Gesetz vor.
({1})
Das VIG ist konzipiert, um den Bürgerinnen und Bürgern ein Instrument an die Hand zu geben, das dazu
dient, mehr Informationen zu bekommen. In gewisser
Weise wurde durch das VIG auch bei den Behörden ein
Trend zu mehr proaktiver Information insbesondere im
Lebensmittelbereich hervorgerufen. Das ist ein erfreuliches Ergebnis des VIG und zeigt seine steuernde Wirkung.
({2})
- Wenn Sie eine Frage stellen wollen, Herr Kelber, dann
melden Sie sich.
Der Istzustand des Verbraucherinformationsgesetzes
zeigt aber auch gravierende Schwächen. Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass laut Evaluationsbericht innerhalb eines Jahres nur 487 Anfragen erfolgt sind. Nur
ein Bruchteil davon stammte von Privatpersonen. Das
Gesetz wurde also von denen, für die es eigentlich gemacht wurde, so gut wie nicht genutzt. Daher müssen
wir uns zu Recht fragen, ob das VIG zu kompliziert ist.
Wir sind der Meinung, dass es bislang zu kompliziert, zu
wenig transparent und zu bürokratisch ist.
Lassen Sie mich dazu vier Punkte anführen:
Erstens. Ein Gesetz, das zu mehr Transparenz beitragen sollte, war wenig transparent; denn wenn man eine
Anfrage stellen wollte, wusste man nicht, ob auf einen
Kosten zukommen und, wenn ja, wie hoch sie sein werden. Aus Sorge um hohe Kosten haben viele Menschen
erst gar keine Anfrage gestellt.
Zweitens. Das VIG ist ziemlich formalistisch und
nicht sehr bürgerfreundlich, wenn es um die Durchführung einer Anfrage geht.
Drittens. Das VIG hat zwar zu proaktiven Veröffentlichungen geführt. Verstöße wie beim Dioxinskandal blieben aber für die Bürger und auch für die Behörden viel
zu lange unsichtbar. Aus diesem Grund haben wir nun
die Schwerfälligkeiten beseitigt. Wir haben bereits damals in der Opposition auf die Unzulänglichkeiten des
Gesetzes hingewiesen. Jetzt, wo wir in der Regierung
sind, sorgen wir für entsprechende Änderungen. Wir legen Ihnen den Entwurf eines Gesetzes vor, das den Bürgerinnen und Bürgern deutlich mehr Transparenz bringt.
Dabei haben wir einen guten Ausgleich zwischen den
berechtigten Interessen zur Wahrung von Betriebs- und
Geschäftsgeheimnissen - diese darf man nicht vergessen - und den öffentlichen Interessen der Verbraucher
gefunden. Wenn die öffentlichen Interessen die Interessen zur Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen berühren, dann darf eine Behörde auf der Grundlage
des VIG entscheiden.
Viertens. Kollege Kelber hat das bereits angesprochen: Wir weiten den Informationsanspruch auf die Produktsicherheit aus; denn für den Verbraucher ist es genauso wichtig, zu wissen, ob ein Elektrogerät einen
gefährlichen Herstellungsschaden aufweist, wie es wichtig zu wissen ist, ob ein Lebensmittel ungenießbar ist.
Wenn mir der Föhn am Kopf explodiert, dann ist das genauso schlecht, wie wenn ich vergammeltes Fleisch esse.
Daher ist es richtig, den Informationsanspruch auszuweiten.
({3})
- Wenn man etwas fragen will, Herr Kelber, dann muss
man das tun.
Wir fördern auch die Verbraucherinformation bei
Grenzwertüberschreitungen und Verstößen gegen das Lebensmittelgesetzbuch. Wir schützen die redlich arbeitenden Unternehmen, weil bei einer Veröffentlichung das
öffentliche Interesse gegenüber dem Schutz von Betriebsgeheimnissen - ich habe es vorhin gesagt - klar
überwiegen muss. Durch die Einführung der Bagatellgrenze von 350 Euro bei dem zu erwartenden Bußgeld
wird es nicht passieren, dass wegen jeder Fliese, an der etwas abgebrochen ist, sofort ein Riesenverfahren angestrengt wird. Es ist richtig, dass über die wichtigen Informationen Auskunft gegeben wird. Wir wollen die
Verbraucher nicht mit überflüssigen Informationen zumüllen; wir brauchen vielmehr wichtige Informationen
und Transparenz.
({4})
Wir machen das VIG für den Bürger unbürokratischer, weil künftig die Anträge auf Information auch
formlos per Telefon oder E-Mail gestellt werden können.
Gleichzeitig schaffen wir Transparenz bei den Gebühren. Der Verbraucher weiß künftig vorher, wie viel das
kostet. Anträge auf Informationen bis zu einem Verwaltungsaufwand von 250 Euro - das ist ganz wichtig - sind
grundsätzlich kostenfrei, für bestimmte Informationen
sogar bis zu einem Verwaltungsaufwand von 1 000 Euro.
Das heißt, das Gebührenwirrwarr wird ein Ende finden.
Aber eines ist auch klar: Wir können kein Gesetz schaffen, das dazu führt, dass eine Verwaltung zwei Monate
mit fünf Mann daran arbeiten muss, dass irgendjemand,
der die Arbeit auf die Verwaltung abwälzen will, Informationen für seine Forschungsarbeiten erhält. Die Anfragen der Bürgerinnen und Bürger sollen in der Regel
kostenlos sein, aber es kann nicht sein, dass man wegen
persönlicher Interessen die Verwaltung bindet. Bei kostenlosen Anfragen bis zu einem Verwaltungsaufwand
von 1 000 Euro bestehen für die Verbraucher genügend
Möglichkeiten.
({5})
Anders als die Opposition lehnen wir die Ausdehnung
der Informationspflichten auf Unternehmen ab; denn das
würde insbesondere für die kleinen und mittelständischen
Unternehmen einen bürokratischen Aufwand darstellen,
dem diese nicht gewachsen sind. Außerdem haben die
Behörden die Möglichkeit, Auskünfte einzuholen; denn
die Unternehmen sind gegenüber den Behörden auskunftspflichtig. Das ist aus meiner Sicht ausreichend.
({6})
- Ist das eine Frage, Herr Kelber? Wenn ja, dann stellen
Sie sie. - Das macht er nicht.
Würden Sie eine Frage des Kollegen Kelber zulassen?
Die würde ich zulassen, ja.
Bitte schön, Kollege Kelber.
Sie haben auf den langen Überprüfungszeitraum seit
dem ersten Gesetzentwurf hingewiesen. Könnten Sie uns
darstellen, welche Gründe dazu geführt haben, dass der
Auskunftsanspruch nicht auf alle Produkte und Dienstleistungen, insbesondere nicht auf die Produkte und
Dienstleistungen der Finanzindustrie, ausgeweitet wurde,
nachdem Sie als Person in der Öffentlichkeit genau dies
gefordert haben?
Herr Kelber, vielen Dank für die Frage. Ich habe auf
diesen Umstand hingewiesen, weil in unserem Koalitionsvertrag zum Beispiel steht, dass wir die drei
Gesetze, Verbraucherinformationsgesetz, Informationsfreiheitsgesetz und Umweltinformationsgesetz, zusammenführen wollen. Mit der Zusammenführung dieser
drei Gesetze hätte sich die Ausdehnung des Informationsanspruchs im VIG auch auf Finanzprodukte ausgewirkt.
({0})
- Nein, aus dem IFG. Das wissen Sie genau. - Das war
unser Ziel. Weil es sich beim UIG und beim IFG um getrennte Bundes- und Ländergesetze handelt und das VIG
ein reines Bundesgesetz ist, hatten wir nicht die Möglichkeit, diese drei Gesetze zusammenzuführen. Was war
die Lösung? Haben wir uns zurückgelehnt und nichts gemacht? Nein, wir haben gesagt, dass wir den Anspruch
der Verbraucherinnen und Verbraucher ausdehnen müssen. Der Verbraucher hat bei Finanzprodukten jetzt die
Möglichkeit, über das IFG die Informationen zu bekommen, die er braucht.
({1})
Somit haben wir mehr Transparenz statt Bürokratie,
einfachere, aber dafür für den Verbraucher verständliche,
im Alltag anwendbare Informationen. Wir als Freie Demokraten haben dafür gesorgt, dass die christlich-liberale Koalition bei dieser Novellierung das VIG nicht nur
weiterentwickelt, sondern auch verbessert.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Der Bedarf, das gar nicht so
alte Verbraucherinformationsgesetz zu ändern, ist enorm.
Aber ihn hatte ich schon bei der Einbringung in der letzten Legislaturperiode angemahnt; Sie wollten es damals
nur nicht hören. Umso mehr freut es mich jetzt, dass mit
der Novellierung einige Vorschläge der Opposition und
auch der Verbraucherorganisationen in das VIG einfließen sollen. Die Erfahrungen der Verbraucherorganisationen mit dem bisherigen Gesetz, nämlich wenig echte Informationen zu erhalten, lange Fristen für die Auskünfte
und hohe Gebühren für die wenigen Informationen, haben unsere Befürchtung bestätigt.
({0})
Bereits in einer Konferenz im Juni 2009 hatte die
Linke mit Expertinnen und Experten die Defizite des
Gesetzes und die Möglichkeiten, es zu verbessern, erörtert. Mit einem Antrag haben wir die Thematik im Mai
2010 wieder in den Bundestag getragen. Aber erst der
Dioxinskandal Anfang 2011 hat die Regierung endlich
zu der Einsicht geführt, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Trotz alledem wiegen die Interessen der Wirtschaft
immer noch schwerer als die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher. Einige durchaus sinnvolle Regelungen wurden aus den Entwürfen der Novellierung
wieder entfernt. Zum Beispiel sollen die Konsumentinnen und Konsumenten auch künftig nicht erfahren, unter
welchen sozialen, ökologischen und ethischen Bedingungen ein Produkt entsteht. Dieses Informationsrecht
verschwand leider spurlos aus einem ersten, nicht veröffentlichten Entwurf. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis
für einen Staat, der sich die soziale Marktwirtschaft auf
die Fahnen schreibt.
({1})
Ebenso verschwand aus § 8 des Referentenentwurfs
der Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz der Auftrag an den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, über die Einhaltung der Informationsrechte zu wachen. Das ist leider typisch für die
rückwärtsgewandte, konservative Politik des Verbraucherministeriums. Dabei zeigen die Erfahrungen in Großbritannien, dass die Kontrolle durch eine unabhängige Instanz zu einer besseren Verbraucherinformation führt.
Auch deshalb bin ich der Meinung, dass die Novellierung
des VIG durchaus verbesserungswürdig ist.
Die Linke fordert ein VIG, das seinem Namen gerecht
wird. Deshalb brauchen wir, erstens, Informationen zu
allen Produkten, mit denen Verbraucherinnen und Verbraucher in Berührung kommen, wie auch Informationen über Dienstleistungen und sogenannte Finanzprodukte. Gerade bei den Finanzdienstleistungen werden
Verbraucherinnen und Verbraucher nach wie vor aufs
Glatteis geführt. Zweitens brauchen wir das Recht, Informationen direkt bei den Unternehmen einzufordern,
Herr Professor Schweickert; dann hätten wir nämlich
manche Probleme mit den Behörden nicht.
({2})
Der Umweg über die Behörden ist nicht nur bürokratisch, sondern auch unsinnig, da die Behörden meist keinen direkten Zugang zu den gewünschten Informationen
haben.
Die Novellierung ist in diesem Punkt eine klare
Kampfansage an die unabhängigen Verbraucherverbände. Herr Staatssekretär Müller, ich hoffe, Sie überbringen diese Information der Frau Ministerin. Nach ihrem Entwurf können sachkundige Verbraucheranfragen
von den Behörden, die sich mit einer solchen Anfrage
überfordert fühlen, nun sogar abgelehnt werden, wenn
sie nicht von vornherein durch hohe Gebührenforderungen verhindert werden. Das halte ich für Unsinn.
({3})
Das Ganze mit dem Stichwort Globalanfragen abzutun,
Frau Kollegin Heil, halte ich für ein verbraucherpolitisches Armutszeugnis.
({4})
Ich hätte jetzt noch einige Punkte. Zuletzt möchte ich
wenigstens noch auf das Thema Smiley-Kennzeichnung
zu sprechen kommen. Ich bin der Meinung: Wir brauchen eine bundeseinheitliche Regelung für die Hygienekennzeichnung der Gaststätten und Lebensmittelbetriebe; denn die Konsumentinnen und Konsumenten
haben einen Anspruch darauf, zu wissen, in was für ein
Lokal sie gerade gehen.
({5})
Da Essen nicht nur Nahrungsaufnahme ist, sondern
immer auch etwas mit Genuss und Kultur zu tun haben
sollte, wäre nach meiner Auffassung das Smiley eine
wesentlich freundlichere und verbraucherfreundlichere
Kennzeichnung als ein bürokratischer Hygienebalken.
({6})
Ich bedaure sehr, dass die Ministerin diesen Reformprozess bisher nicht genutzt hat, um über das BMELV die
Rechtsgrundlage für eine solche bundesweite Einführung des Lebensmittel-Smileys zu schaffen. Stattdessen
stiehlt sie sich aus der Verantwortung und schiebt diese
den Ländern zu. Die 16 Länder sollen es dann halt richten.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Nun, ich neige dazu: besser ein Balken als gar keine
Kennzeichnung. Aber vielleicht gibt es doch noch ein
Einsehen auf der Regierungsbank.
({0})
Ich danke jetzt erst einmal für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Nicole Maisch von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was uns
heute von Schwarz-Gelb vorliegt, ist kein großer Wurf.
Wir sehen hier ganz kleines Karo. Frau Heil hat nach ihren zwölf Minuten von dieser Debatte offensichtlich
schon genug gehabt
({0})
und ist in die Heimat entschwunden.
Es war ein großer Wurf angekündigt. Herr Goldmann
hatte die Idee eines Superinformationsgesetzes, in dem
sich alle Informationsgesetze zusammenfinden sollten.
Herr Schweickert forderte die Ausweitung auf Finanzprodukte und - vernünftigerweise - das Smiley-System
für Gaststätten. Das alles sind hervorragende Ideen. Leider findet sich im Entwurf nichts davon wieder. Wenn
man einen Schweickert hat, ist es gut; nur, dann muss
man manchmal auch auf ihn hören.
({1})
Wenn ich mir den Entwurf ansehe, dann finde ich keine
der guten Ideen wieder, die groß durch die Presse getrieben wurden.
({2})
Sie scheitern daran, das Ungleichgewicht im Markt
zwischen Anbietern und Konsumenten auszugleichen.
Sie schaffen kleine Verfahrensänderungen, und im
Bereich der Gebühren - ich nenne das Thema Globalanfragen - verschlechtern Sie sogar die Rechtslage im Vergleich zu dem, was gegenwärtig gilt. Aber die Beratungen sind noch nicht zu Ende. Es gibt eine ganze Menge
von Dingen, die man verbessern kann.
Sie weiten den Anwendungsbereich aus. Es ist sehr
gut, dass der Föhn jetzt nicht mehr auf dem Kopf explodieren soll, aber Konsumenten sind im Alltag nicht nur
mit Produkten, sondern auch mit Dienstleistungen konfrontiert. Wir fordern die Ausweitung auf verbrauchernahe Dienstleistungen und natürlich insbesondere auf
den Finanzsektor.
({3})
Wir fordern weiterhin: Schaffen Sie einen Informationsanspruch gegenüber Unternehmen! Viele relevante
Daten liegen nur den Unternehmen vor. Auf diese Forderung wird vonseiten der Union und der FDP oft gekontert, damit wären die Unternehmen einer Bürokratieflut
ausgesetzt. Das ist natürlich Quatsch. Wenn man sich die
Zahlen dazu anschaut, wie das VIG genutzt wurde, stellt
man fest: Es ist eine kleine, handhabbare Zahl von Anfragen. Wenn man diese Informationspflicht nicht mit einer Informationsbeschaffungspflicht zusammenkoppelt,
dann kann das wunderbar funktionieren, und dann ist das
mehr Verbraucherschutz, aber nicht mehr Bürokratie.
Nächster Punkt. Sorgen Sie für aktive Information der
Öffentlichkeit durch die Behörden! Wir haben aus den
Erfahrungen mit dem VIG gelernt: Die wenigsten Verbraucher nutzen den langen Antragsweg, um eine Information zu bekommen. Sie wollen andere Informationsquellen. Wir schlagen vor: Veröffentlichen Sie im Netz!
Beispiel Luftfahrtbundesamt. Das hat alle relevanten Informationen, etwa dazu, welche Airlines gegen Fluggastrechte verstoßen. Warum steht das nicht auf der
Homepage? Warum muss ein Geheimnis daraus gemacht
werden? Wir fordern aktive Information.
({4})
Sorgen Sie dafür, dass an der Restauranttür veröffentlicht wird, sei es mit dem Smiley, sei es mit dem Kontrollbarometer. Wir sind dafür, dass man Gammelbuden
auf den ersten Blick identifizieren kann. Hier hat sich
Frau Aigner gemeinsam mit den FDP-Verbraucherschützern weit aus dem Fenster gelehnt. Das wurde jedoch
von den Wirtschaftsministerinnen und -ministern der
Länder schnell wieder eingesammelt. Jetzt sollen sich
die Länder in einer AG zum Kontrollbarometer zusammenfinden und Einvernehmen herstellen. „Einvernehmen“
steht in der Politikersprache für „Beerdigung zweiter
Klasse“.
({5})
- Ich bringe den Gedanken noch kurz zu Ende; dann
gern.
Wir wollen, dass Frau Aigner diese Beerdigung abbläst und ein bisschen politisches Engagement zeigt, um
das Kontrollbarometer oder das Smiley an die Restauranttür zu bringen. Pressemitteilungen und Ankündigungen reichen nicht. Manchmal muss man für das, was einem wichtig ist, auch kämpfen.
({6})
Frau Kollegin Maisch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schweickert?
Gern.
Bitte schön, Herr Schweickert.
({0})
Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie mir die Zwischenfrage gestatten. - Ich möchte fragen: Ist Ihnen bekannt, dass für die Umsetzung eines Smiley- oder eines
Hygienekontrollbarometer-Systems - was auch immer
kommen wird - die Länder verantwortlich sind, und ist
Ihnen ferner bekannt, wie viele Länder es nach dem Status quo bei der Kontrolldichte - im Durchschnitt gibt es
einen Lebensmittelkontrolleur für 300 Betriebe - hinbekommen würden, heute oder bis Anfang nächsten Jahres
die Betriebe zu zertifizieren und, soweit Mängel festgestellt werden, zeitnah auch nachzuzertifizieren?
Herr Schweickert, ich danke Ihnen, dass Sie, der Sie
schon im Januar in Pressemitteilungen das Smiley gefordert haben, mir die Möglichkeit geben, hier noch einmal
Stellung zu nehmen.
Natürlich sind die Länder in der Verantwortung, das
Smiley umzusetzen. In Berlin haben wir auf kommunaler Ebene sogar schon ein gutes Smiley-Modell gehabt.
Schauen wir einmal, ob es wieder eingeführt wird, sollte
das Kontrollbarometer scheitern.
Wir hätten aber natürlich gern eine national einheitliche Regelung. Deshalb ist die Bundesregierung in der
Pflicht, dies voranzutreiben, natürlich in Zusammenarbeit mit den Ländern. Eine Ministerin aber, die sich so
weit aus dem Fenster lehnt, muss in einer solchen Arbeitsgruppe auch dafür sorgen, dass der Bund vorangeht,
damit einheitliche Standards für ganz Deutschland geschaffen werden.
({0})
Wir brauchen verbraucherfreundliche und für den
Vollzug handhabbare Standards im VIG. Leider ist ein
Betriebsgeheimnis immer noch ein irgendwie nebulöses
Ding. Unternehmen dehnen diesen Begriff wie Kaugummi. Sie hätten definieren können, was genau ein Betriebsgeheimnis ist und was kein Betriebsgeheimnis ist.
Ein Betriebsgeheimnis ist aber nicht all das, was einem
Unternehmen peinlich ist. So wird es im Moment aber
oft von interessierter Seite interpretiert.
({1})
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen.
Das genaue Rezept der Currywurstsauce ist sicher ein
Betriebsgeheimnis. Das Gammelfleisch in der Wurst ist
aber kein Betriebsgeheimnis. Dies im Gesetz klarzustellen, daran sind Sie gescheitert. Das halte ich aufgrund
des langen Beratungsprozesses eher für peinlich.
({2})
Wir stehen am Anfang der parlamentarischen Beratung. Man kann also noch eine ganze Menge verbessern.
Als konstruktive Opposition stehen wir natürlich mit unseren Anträgen zur Verfügung. Ich freue mich auf die
Diskussion. Vielleicht nimmt dann auch wieder Frau
Heil an den Beratungen teil.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7374 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/3928. Der
Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung über die Ergebnisse der Evaluation des Verbraucherinformationsgesetzes auf Drucksache 17/1800
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2116 mit dem Titel „Verbraucherinformationsgesetz zügig reformieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1576 mit dem Titel „Verbraucherinformationsgesetz jetzt verbraucherfreundlich ausgestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1983
mit dem Titel „Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der
Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck ({0}), Kai Gehring, Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine an den Bürgerrechten ausgerichtete
Polizei
- Drucksachen 17/4519, 17/6736 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die große
Mehrheit aller Polizistinnen und Polizisten in Deutschland - sowohl bei der Bundespolizei als auch bei den
Polizeien der Länder - erfüllt ihre Aufgaben professionell, im Einklang mit den Gesetzen und unter Wahrung
der Menschenrechte.
({0})
Dennoch gibt es einige beklagenswerte Einzelfälle - sowohl was den Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern in
Polizeigewahrsam angeht als auch bei Großlagen wie
Demonstrationen, bei Stuttgart 21 oder den Castortransporten -, bei denen es Übergriffe von Polizisten auf Bürgerinnen und Bürger gegeben hat. Amnesty International hat
in einer Studie mit dem Titel „TÄTER UNBEKANNT“ darauf hingewiesen, dass es oftmals nicht gelingt, diese
Straftaten von Polizeibeamten gegen Bürgerinnen und
Bürger aufzuklären. Es ist gut, dass der Innenausschuss
in der nächsten Sitzungswoche über das Thema „Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten“ redet; unser Antrag geht in seinen Forderungen
aber darüber hinaus.
Bei der Aufklärung solcher Straftaten gibt es zwei
große Probleme: Das ist zum einen das Problem, festzustellen, von wem der Übergriff ausging, das andere Problem ist das System unserer Übermittlungen. Der Europarat verlangt im Rahmen der Antifolterkonvention von
Volker Beck ({1})
den Mitgliedstaaten, dass sie unabhängige Ermittlungseinheiten einsetzen, gerade wenn es um Straftaten von
Polizeibeamten gegen Bürgerinnen und Bürger geht.
Denn der enge Zusammenhang zwischen Staatsanwaltschaften und Polizei bei der Kriminalitätsbekämpfung
verhindert im Alltagsgeschäft häufig, dass im Bereich
dieser Straftaten mit der gleichen Akribie wie bei anderen Taten aufgeklärt wird.
Großbritannien hat hier sehr gute Erfahrungen mit unabhängigen Ermittlungseinheiten gemacht. Man braucht
aber keine neue Behörde, um dem Rechnung zu tragen;
hierfür reicht der Einsatz von Polizeibeauftragten und
Sondereinheiten innerhalb von Staatsanwaltschaft und
Polizei. Ich denke, wir sollten im Interesse des Ansehens
unserer Polizei und unseres Rechtsstaates dafür sorgen,
dass auf diesem Feld mit der notwendigen Unabhängigkeit ermittelt wird. Die Bürgerinnen und Bürger müssen
wissen, dass auch ein Polizeibeamter, der einmal über
das Ziel hinausschießt oder vorsätzlich handelt, der gerechten Ermittlung in einem Verfahren zugeführt wird,
in dem seine Schuld zweifelsfrei festgestellt werden
kann.
({2})
Die Bundesregierung lehnt weiterhin die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten ab. Sie begründet das
- und das ist für mich nicht nachvollziehbar - mit den
Persönlichkeitsrechten der Polizisten. Es ist eine Sache,
ob man bei Großlagen die Polizistinnen und Polizisten
tatsächlich mit Namen kennzeichnet. Es bedarf in bestimmten Situationen sicherlich einer anonymen Kennzeichnung - zum Beispiel durch Nummern oder Buchstabenkombinationen -, damit die Persönlichkeitsrechte
gewahrt werden. Diese Möglichkeiten haben wir aber.
Damit kann man die Feststellung des Täters sichern,
ohne die Persönlichkeitsrechte des einzelnen Polizeibeamten zu verletzen, zum Beispiel bei Demonstrationen
von Neonazis
({3})
oder Demonstrationen, bei denen es zu Gewalt von links
kommt.
({4})
- Was wollten Sie mir sagen? Sie können gerne eine
Zwischenfrage stellen. Wenn Sie alle zusammen dazwischenrufen, bin ich nicht in der Lage, Ihre Einwürfe zu
würdigen.
({5})
Wir wollen, dass es zu einer Identifizierung kommt,
und zwar unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte der
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten. Berlin hat das.
Bei den Koalitionsverhandlungen in Rheinland-Pfalz
habe ich es selbst mit durchgesetzt. Ich weiß, dass es
Vorbehalte bei den Polizeigewerkschaften gibt. Deshalb
muss man gemeinsam darüber reden, wann eine namentliche Kennzeichnung erfolgen soll und in welchen Situationen eine anonyme Kennzeichnung der Beamten erforderlich ist.
({6})
Diese Fragen müssen wir mit den Polizeigewerkschaften
in einem Dialog klären.
Es gibt aber keinen Grund, hier nicht den nächsten
Schritt zu tun. Ich hoffe, dass Sie sich in der nächsten
Sitzungswoche im Innenausschuss bei der Anhörung zu
diesem Thema überzeugen lassen, dass die Kennzeichnungspflicht ein wichtiges Mittel ist, um das Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürger in unsere Polizei zu stärken
({7})
und um klarzumachen, dass Deutschland ein Rechtsstaat
ist und dass wir eine gute Polizei haben. In den wenigen
Einzelfällen, bei denen es zu Übergriffen kommt, wird
dieser Rechtsstaat den Vorfällen entsprechend nachgehen und dafür sorgen, dass sich solche Ereignisse nicht
mehr wiederholen.
Kollege Beck, ich weiß: Für das Einbringen einer
Großen Anfrage sind vier Minuten Redezeit wenig; aber
wir sind jetzt bei fünf Minuten.
Ich komme zum Schluss. - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass die Nichtaufklärung von Straftaten, die von Polizistinnen und
Polizisten ausgehen, eine schwere Menschenrechtsverletzung ist. Ich denke, wir in Deutschland sollten dafür
sorgen, dass so etwas nicht vorkommen kann.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Günter Baumann für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Beck, beim Durchsehen Ihrer
Großen Anfrage hat man im ersten Moment den Eindruck, es ginge Ihnen darum, die Arbeits- und Einsatzbedingungen der Polizisten zu verbessern. Wenn man die
Fragen im Einzelnen liest, merkt man: Sie haben ein generelles Misstrauen gegenüber unserer Polizei. Das kann
man einfach nicht nachvollziehen.
({0})
Ihre Große Anfrage ist mit Unterstellungen und Verallgemeinerungen einiger weniger Fälle durchsetzt. Wenn
man Ihre Fragen liest, denkt man, man sei in einer Bananenrepublik, aber nicht im deutschen Rechtsstaat.
({1})
- Kollege Winkler, der Punkt ist, wie man fragt und was
man fragt.
Ich möchte gerne einige Punkte aus der Großen Anfrage wiedergeben, die Sie angeführt haben: Sie sprechen von Vorwürfen gegen Polizisten „wegen Misshandlungen oder unverhältnismäßiger Gewaltanwendung“,
von „mangelnder Aufklärung“ - das richtet sich gegen
unsere Behörden -, von Strafermittlungsbehörden, die
„untätig“ blieben. In Ihrer Rede haben Sie sogar das
Wort „vorsätzlich“ verwendet. Sie sprechen von einer
„neuen Kultur im Umgang mit Fehlverhalten“. Das alles
gipfelt in Ihrer Formulierung: „Ein Klima der Straflosigkeit … bei Menschenrechtsverletzungen durch Vertreterinnen und Vertreter des Staates …“. Dazu fällt einem eigentlich nichts mehr ein.
({2})
Man kann sich nur bei unseren Polizistinnen und Polizisten in Bund und Ländern für die Unterstellungen und
Beschimpfungen durch die Grünen entschuldigen; etwas
anderes kann man einfach nicht machen.
({3})
Ihr Misstrauen gegenüber Polizei und Staat ist nicht
nachzuvollziehen. Wir - ich denke, die Mehrheit des
Hauses - teilen das in keiner Form.
Es kann nicht schaden, einmal konkrete Zahlen zurate
zu ziehen. Ich habe das heute gemacht: Ich habe mir die
Zahlen einer größeren Bundespolizeidirektion, nämlich
der in Pirna, besorgt; sie ist in den Ländern Sachsen,
Thüringen und Sachsen-Anhalt tätig. Dort sind weit über
3 000 Bundespolizistinnen und -polizisten im Einsatz.
2010 hatten sie relativ schwere und große Einsätze.
Dazu gehörten Einsätze beim Castortransport, bei einer
Vielzahl von schwierigen Fußballspielen und natürlich
auch die Demonstration im Februar in Dresden, an die
wir alle uns erinnern. Kollege Beck, wenn es Sie interessiert: 2010 gab es im Zusammenhang mit den Einsätzen
keine einzige Anzeige gegen die Bundespolizisten. Im
Jahre 2011, in dem es wieder schwierige Einsätze gab
- wir alle haben im Plenum über die Demonstration im
Februar in Dresden diskutiert -, ist es bisher zu drei Ermittlungsverfahren gekommen, die gegenwärtig offen
sind und noch durchgeführt werden. Man kann also nicht
von einer Vielzahl irgendwelcher Vorkommnisse sprechen, wie Sie es in Ihrer Großen Anfrage suggerieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gehe
auf einige Themen Ihrer Anfrage ein, bei denen es absoluten Klärungsbedarf gibt. Ich beginne mit dem Thema
Kennzeichnungspflicht; Kollege Beck hat es hier angesprochen. Wir haben bereits am 7. April hier im Plenum
darüber diskutiert. Am 7. November findet dazu eine
Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages statt. Gestatten Sie, dass ich die Meinung meiner
Fraktion hier deutlich sage: Wir sind eindeutig gegen
eine Kennzeichnungspflicht. Sie suggerieren mit Ihren
Fragen, die Bundesregierung wolle mit dem Verzicht auf
die Kennzeichnungspflicht bei Bundespolizisten eine
Möglichkeit zu polizeilichen Straftaten einräumen.
({4})
Das ist ungeheuerlich. Darüber hinaus suggerieren Sie,
dass ein strafrechtliches Vorgehen bewusst verhindert
werden solle. Die Ideologie, die Ihren Fragen zugrunde
liegt - ({5})
- Kollege Wieland, das sind die Fragen Ihrer Fraktion;
es tut mir leid.
({6})
Wir alle wissen, dass sich Bundespolizisten und Landespolizisten bei Aufforderung mit dem Dienstausweis
ausweisen; das wird so gehandhabt.
({7})
Bei geschlossenen Einheiten wird bereits heute - das
weiß jeder - eine taktische Kennzeichnung der Einsatzbereiche vorgenommen. Das funktioniert gut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hier um einen ausgewogenen Mittelweg zwischen den Interessen
der Öffentlichkeit und den Interessen der Polizeibeamten, ihrer Anverwandten und der jeweiligen Dienstherren. Hier darf natürlich nicht in irgendeiner Form geschwächt werden.
Meine Damen und Herren, wir dürfen die Rechte unserer Polizisten, die jeden Tag für uns auf der Straße stehen und ihren Job machen, in keinster Weise gefährden.
Sie haben einen Anspruch darauf, dass sich der Staat als
Dienstherr dafür einsetzt, dass diese Rechte gewahrt
werden. Deswegen kann man Ihre Forderung nur ablehnen.
({8})
- Kollege Winkler und Kollege Wieland, Sie wissen
ganz genau: Bei einer Kennzeichnung mit Nummern
kann man schnell herausfinden, wie der Polizist heißt,
wo er wohnt und möglicherweise wer seine Verwandten
sind. Es geht um die Sicherheit dieser Bürgerinnen und
Bürger und dieser Polizisten. Der Staat hat die Pflicht,
für diese Sicherheit Sorge zu tragen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf § 113
des Strafgesetzbuches eingehen, der in Ihrer Anfrage
eine große Rolle spielt. Wir haben im Deutschen Bundestag per Gesetz eine Verbesserung des strafrechtlichen
Schutzes von Vollzugsbeamtinnen und -beamten beschlossen. Es ist eigentlich schlimm, wie Sie diese Verbesserung charakterisieren. Ich möchte dazu wörtlich zitieren: Sie sprechen davon, dies sei Ausdruck einer um
Zustimmung buhlenden Symbolpolitik, die Abschottungstendenzen, Korpsgeist und Intransparenz verstärkt.
({9})
Man kann absolut kein Verständnis dafür haben, wenn
mit solchen Themen derartig umgegangen wird.
Die Polizeiliche Kriminalstatistik belegt eindeutig: In
den letzten zehn Jahren haben die Angriffe gegen Vollzugsbeamte extrem zugenommen. Der Staat ist verpflichtet, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen und
natürlich auch diejenigen, die diesen Schutz gewährleisten, nämlich die Polizistinnen und Polizisten. Dies muss
in Bund und Ländern umgesetzt werden.
({10})
- Hervorragend! Dann können wir schon einmal festhalten, dass ein Teil der Grünen die gleiche Meinung hat
wie ich. Wir haben eine Fürsorgepflicht für unsere Polizisten, der wir gerecht werden müssen.
({11})
Wir haben den § 113 des Strafgesetzbuches aber nicht
nur verschärft, sondern auch erweitert und wollen auch
den Schutz unserer Kameradinnen und Kameraden der
Feuerwehren, der Rettungskräfte, der Hilfeleistenden
des Katastrophenschutzes und des THW mit aufnehmen.
Ich denke, es war dringend notwendig, dies zu tun.
Meine Damen und Herren, Polizeibeamte stehen immer stärker im Mittelpunkt von Angriffen. In dieser Woche gab es gerade die Auseinandersetzungen im Rahmen
des Fußballspiels zwischen Dresden und Dortmund.
Diese Bilder kann man sich fast nicht mehr anschauen.
Zwischen diesen Chaoten - das sind ja keine Fußballfans
mehr ({12})
stehen unsere Polizisten und müssen für Ordnung sorgen. Wir haben die Pflicht, uns für unsere Polizisten mit
allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzusetzen. Das
ist die Pflicht des Staates.
Meine Damen und Herren, mögliche Amtspflichtverletzungen von Polizisten werden von einer ordentlichen
Gerichtsbarkeit aufgeklärt; und es gibt auch ordentliche
Methoden, diese zur Anzeige zu bringen. Wir brauchen
eigentlich keine anderen Methoden in irgendeiner Form.
({13})
- Das haben wir ja gerade besprochen. Jetzt geht es um
Anzeigen, wenn Straftaten begangen wurden.
Kollege Beck, wir haben in Deutschland eine unabhängige Gerichtsbarkeit, zu der fast alle in diesem
Hause, denke ich, stehen. Deswegen fragt man sich, was
die Forderung nach einer neuen unabhängigen Untersuchungsbehörde soll. Das ist absolut unverständlich.
In Ihrem Fragenkatalog führen Sie noch das Thema
Menschenrechte auf. Menschenrechtsverletzungen mit
unseren Polizisten in Verbindung zu bringen, ist zunächst einmal ein Hohn. Wenn Sie dann noch davon
sprechen, dass unsere Polizisten nicht auf der Grundlage
unserer Gesetze handeln, dann fällt einem dazu absolut
nichts mehr ein.
({14})
Da kann man nur fragen: Welche Ideologie haben Sie eigentlich, Herr Beck? - Ich kann Ihnen ja die Fragen vorlesen, die Sie aufgeschrieben haben.
Bei der Betreuung der in Polizeigewahrsam untergebrachten Personen haben Sie Probleme mit Blick darauf
formuliert, wer dabei eingesetzt wird. Unsere Polizisten
haben eine hervorragende Ausbildung, und ich denke,
sie machen ihren Job ordentlich.
({15})
Jeder, der in Gewahrsam genommen wird - Kollege
Wieland, es ist schon so -, hat alle Rechte; er kann einen
Anwalt, einen Rechtsbeistand und einen Arzt kontaktieren. Das alles stellen Sie infrage. Das ist nicht mehr
nachzuvollziehen.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Polizisten werden während ihrer Ausbildung - Kollege Tempel
weiß das vielleicht am besten von uns allen - in einer
Reihe von Fächern unterrichtet. Sie zweifeln an, dass das
ausreicht.
({17})
- Nein, das ist nicht dabei, Kollege Wieland.
({18})
Sie werden in Staats- und Verfassungsrecht, Eingriffsrecht und Psychologie in den Themen Menschenrechte,
Grundrechte, Diskriminierungsverbot, Verbot von Misshandlungen und Folter unterrichtet. Sie sind also eigentlich komplett geschult. Deshalb kann man nicht sagen,
dass sie nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen. Das ist nicht mehr nachzuvollziehen.
Meine Damen und Herren von den Grünen - alle sind
es ja nicht -, dass Sie unsere Polizisten von Bund und
Ländern unter Generalverdacht stellen, weisen wir deutlich zurück.
({19})
- Herr Kollege Beck hat mit seinen Fragen die Polizisten unter Generalverdacht gestellt. Wir stehen zu unserer
Polizei von Bund und Ländern. Wir bedanken uns für
ihre Tätigkeit, die sie jeden Tag für uns ausüben. Wir
wünschen ihnen alles erdenklich Gute und dass solche
Sachen wie gestern Nacht in Augsburg möglichst selten
vorkommen.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gunkel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde es schon interessant, dass das Thema zum heutigen
Tage und zu dieser Zeit angesetzt wird.
({0})
In zehn Tagen gibt es eine Anhörung auf Antrag der
Linkspartei, die sich ausführlich mit dem Thema Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten auseinandersetzt.
Wenn wir im Parlament den Anspruch erheben, etwas
mit Sachkenntnis entscheiden zu wollen, erscheint es
sehr kontraproduktiv, wenn wir schon jetzt die Debatte
führen, ohne die Sachkenntnis zu haben, die uns die
Sachverständigen erst noch vermitteln werden.
({1})
- Ja, Herr Wieland, die sind eben in eine anderen Richtung gepolt als Sie oder andere. Das ist klar.
({2})
Es scheint ein bisschen unsinnig, eine solche Debatte zu
führen.
({3})
Eine solche Art von Selbstdarstellung brauchen wir dem
Volk eigentlich nicht zu bieten.
({4})
Wenn Sie sich umschauen, dann stellen Sie fest, dass
nicht mehr all zu viele auf der Tribüne sitzen, und auch
das Plenum hier unten ist nicht gerade gut gefüllt.
({5})
Die Frage, die jetzt diskutiert wird, hätte es eigentlich
verdient, ein größeres Publikum zu finden.
({6})
Dann hätten Sie auch die Resonanz, die Sie mit dieser
Showeinlage offensichtlich beabsichtigt haben.
({7})
Herr Kollege Beck, ich habe ein paar mehr Minuten
als Sie. Deswegen möchte ich noch auf die Punkte eingehen, die entscheidend sind.
({8})
- Herr Beck, Sie können dazwischenrufen, das stört
mich nicht weiter.
({9})
Rufen Sie an anderer Stelle dazwischen, dann kann ich
meine Rede besser aufbauen.
Kommen wir zu dem, was eigentlich Sache ist. Es
wurde bereits betont, dass in dem Bericht von Amnesty
International teilweise schwere kriminelle Straftaten erwähnt worden sind. Es gab insgesamt 15 Fälle, in denen
Menschen zu Tode gekommen sind, und auch schwere
Verletzungen konnten nachgewiesen werden. Man kann
also nicht generell sagen: Das gibt es nicht, das ist alles
menschenrechtskonform; denn das ist es eben nicht.
Was dort zusammengetragen worden ist - Stand Juli
2010 -, hat natürlich solche Dinge zum Inhalt. Ich bitte
Sie aber, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bundespolizei - es geht hier um die Bundespolizei, etwas anderes
ist auch nicht möglich - nur ein einziges Mal betroffen
ist. Das ist einmal zu viel, keine Frage, aber wenn man
über dieses Thema diskutiert, dann muss man feststellen,
dass die Mehrzahl der Taten im Bereich der Länderpolizei vorkommt.
Die Bundespolizei ist immer dann im Geschäft, wenn
es sich um geschlossene Einsätze handelt, wenn die Einheiten, die die Bundespolizei vorhält, zum Einsatz kommen, siehe Stuttgart 21 oder andere Großeinsätze wie
der Castortransport usw. usf. In diesem Zusammenhang
können Vorkommnisse dieser Art relevant sein. Den
Einzeldienst bestreiten nun einmal die Länderpolizeien.
Wenn man die Statistik hinzuzieht - Kollege Baumann
hat das getan -, dann stellt man fest, dass die überwiegende Anzahl von Fällen im Länderpolizeibereich vorkommt. Das ist auch völlig klar; denn der Einzeldienst
wird sehr viel häufiger mit Gewalttaten konfrontiert, wodurch Gegengewalt erzeugt wird. Da kommt es schon
vor, dass das ein oder andere Mal die legale Grenze
überschritten wird.
Mit anderen Worten: Wenn ich eine Kennzeichnungspflicht der Bundespolizei fordere, dann sollte ich mir genau überlegen, was ich damit meine. Die SPD hat sich
schon vor einiger Zeit dazu erklärt. Unsere Stellungnahme liegt vor. Sie können das auch in einer Rede
nachlesen, die ich am 7. April zu diesem Thema gehalten
habe. Ich kann es auch noch einmal wiederholen:
({10})
Meine Einstellung hat sich durch das, was hier vorgetragen wird, nicht geändert. Natürlich bin ich daran interessiert, was die Sachverständigen sagen werden. Es kann
sein, dass das ein oder andere zu einer Korrektur meiner
Auffassung führt. Immerhin fahren wir in der Sozialdemokratischen Partei zwei Modelle: Das RheinlandPfalz-Modell und das Berliner Modell. In RheinlandPfalz findet eine Kennzeichnung des Einzeldienstes
statt, nicht aber der geschlossenen Einheiten.
({11})
- Darüber kann man doch diskutieren. - In Berlin findet
nach dem vorliegenden Modell eine Kennzeichnung des
Einzeldienstes statt - wahlweise durch Namen oder
durch Kennziffern - und eine Kennzeichnung der geschlossenen Einheiten über Kennziffern, also über Buchstaben und Zahlen.
({12})
Kollege Gunkel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Beck?
Ja, selbstverständlich. - Bitte, Herr Beck.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
neue Landesregierung in Rheinland-Pfalz beschlossen
hat - das steht im Koalitionsvertrag -, dass auch dort in
Zukunft alle Polizeibeamten entweder namentlich oder
anonymisiert - je nach Lageeinschätzung - gekennzeichnet werden?
({0})
Das nehme ich gerne zur Kenntnis. Ich freue mich
über diese Information; Sie wissen da etwas mehr als
ich, Herr Beck. Vielen Dank für die Ergänzung. Das war
ein netter Zug von Ihnen.
({0})
Die Kennzeichnung in Berlin sieht folgendermaßen
aus: Im Einzeldienst kann sie wahlweise getragen werden. Bei geschlossenen Einheiten erfolgt die Kennzeichnung durch Buchstaben und Ziffern. Die Kennzeichnung
kann man über eine geschützte Datei auswerten und so
den Namen des Betroffenen herausbekommen. Dazu
kann man nur sagen: Das ist diskussionswürdig.
({1})
- Darüber wird doch diskutiert. Der Hauptpersonalrat
hat dagegen Beschwerde eingelegt.
({2})
Die Sache ist jetzt beim Verwaltungsgericht. Schießen
Sie doch nicht übers Ziel hinaus! Lassen Sie das Verwaltungsgericht entscheiden, wie man das behandeln muss.
Jedenfalls ist die Sache erst einmal angehalten worden.
Das ist ein entscheidender Fakt, der mich dazu bringt, zu
sagen: Das ist in der Diskussion. Oder ist sie dadurch beendet, dass die Behörde diese Maßnahme schlicht und
einfach per Geschäftsanweisung durchsetzt? Es bleibt
abzuwarten, wie das Gericht entscheidet. Dann kann
man darüber sprechen, ob das gut oder schlecht ist; denn
dann ist es endgültig.
Kollege Gunkel, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Wieland?
Ja. - Bitte schön.
({0})
Nein, die Zeit reicht nicht, um die Koalitionsgeschichte aufzuarbeiten.
Lieber Kollege Gunkel, da sicherlich niemand in diesem Saal so viel Erfahrung mit Einsätzen in geschlossenen Einheiten hat wie Sie,
({0})
würde uns Ihre persönliche Meinung interessieren. Wir
wollen nicht nur hören, dass viel diskutiert wird, dass
man das so oder so sehen kann, sondern wir wollen auch
wissen, wie Sie aufgrund Ihrer ganzen Lebenserfahrung
zur Kennzeichnung stehen.
({1})
Sie haben mich jetzt erwischt. Sie wissen ganz genau,
wie meine Einstellung dazu ist. Ich sage: Wenn ich zu
dem Zeitpunkt noch in der Berliner Polizei gewesen
wäre, hätte ich die Auffassung des Innensenators und
des Präsidenten Glietsch unterstützt. Ich hätte diese
Kennzeichnung mitgetragen.
({0})
- Sie klatschen jetzt, aber Sie müssen sich den Rest
trotzdem anhören.
({1})
- Okay. Vielleicht können Sie danach auch noch klatschen. - Ich hätte die Kennzeichnung vor dem Hintergrund mitgetragen, dass ich bei meinen Einsätzen, die
Sie zum Teil ja auch genießen durften,
({2})
immer dafür eingetreten bin, dass Straftaten im Amt
nicht vorkommen. Ich habe meinen Beamten immer gesagt, dass ich sie rigoros verfolgen werde. Aus dieser
Grundeinstellung resultiert, dass ich nicht widersprechen
kann; denn eine solche Kennzeichnung erleichtert es unter Umständen, dass Straftäter in den Reihen der Polizei
festgestellt werden können. Straftäter in der Polizei sind
sowohl für die Polizei als auch für ihr Image schlecht.
Das war immer meine Grundhaltung.
({3})
Das heißt natürlich nicht, dass ich manche, wie Sie, gestreichelt habe.
Kommen wir von den vielen Ablenkungsmanövern
zu dem zurück, was ich ansprechen will. Natürlich unterscheidet sich meine Auffassung von Ihrer. Die Ziffern 3
und 4 Ihres Entschließungsantrags können Sie vergessen. Die Grundausbildung der Bundespolizei sieht natürlich vor, dass man das Verhältnismäßigkeitsprinzip versteht und dass man lernt, was Menschenrechte und
Personenrechte sind. Das ist klar. Für die Arbeit in Gewahrsamseinrichtungen ist keine Spezialausbildung erforderlich. Erforderlich sind Grundkenntnisse, die in der
Grundausbildung vermittelt werden. Als Gewahrsamsbeamte werden im Regelfall Leute eingesetzt, die über
eine entsprechende Erfahrung verfügen. Man muss nicht
dafür Sonderbeamte schaffen. Die Punkte 3 und 4 in Ihrem Antrag können Sie also vergessen.
Im Punkt 5 geht es um Statistik. Unter Umständen ist
es überlegenswert, eine Statistik erstellen zu lassen, die
ausweist, wie viele Verfahren gegen Polizeibeamte eröffnet worden sind, die aber auch ausweist, wie viele davon
eingestellt werden; denn eine Zahl, die dies ausweist,
gibt es nicht. Da gibt es also keine statistischen Erhebungen. Das könnte man unter Umständen diskutieren und
eventuell in eine Gesetzesänderung aufnehmen.
Punkt 1 habe ich schon abgehandelt.
Punkt 2 betrifft die Forderung nach einer Sonderbehörde, nach einem sogenannten Polizeibeauftragten,
oder wie auch immer Sie sich da ausgedrückt haben.
Wenn ich lese, dieser müsse unabhängig und
({4})
- ja, richtig - weisungsungebunden sein, muss ich sagen,
dass Sie damit insinuieren und der Staatsanwaltschaft
vorwerfen, dass sie keine sauberen Ermittlungsverfahren
führt.
({5})
Meine Erkenntnis zu diesem Thema ist, dass jede
Anzeige - diese wird ja von Landesbehörden weiter verfolgt -, die mit einer möglichen Straftat eines Polizeibeamten im Amt zu tun hat, durch eine Sonderstaatsanwaltschaft, die als Dezernat mit dieser Aufgabe
betraut ist, bearbeitet wird. Gerade bei diesen Ermittlungen im Zusammenhang mit der Polizei sind sie sehr präzise. Wenn sie hier ermitteln, ermitteln sie eher etwas genauer und schlampen nicht; schließlich wollen sie ein
belastbares Ergebnis vorweisen.
Ich bitte darum, sich zu erinnern, dass die Polizeibeamten Ermittlungsbeamte der Staatsanwaltschaft sind.
Der Staatsanwalt ist Herr des Verfahrens. Wenn er der
Auffassung ist, dass es nicht genügend ausermittelt ist,
gibt er es im Regelfall an die Behörde, an die Beamten,
zurück und sagt: Das möchte ich etwas präziser wissen,
das reicht mir so nicht.
Daher sage ich: Die Staatsanwaltschaft erfüllt ihre
Aufgabe, und Sonderbehörden sind für diese Angelegenheiten aus meiner Sicht nicht erforderlich. Diese Meinung teilt auch meine Fraktion. Daher brauche ich hier
nicht lange meine eigene Meinung zu äußern.
({6})
Das ist Meinung der SPD-Fraktion.
({7})
Ich habe nun doch auf die Eigendarstellung des Kollegen Beck geantwortet. Aber es bleibt einem nichts anderes übrig, wenn Sie hier zehn Tage vor einer Anhörung dieses Thema aufwerfen. Schön, dass Sie mir
zugehört haben.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Immerhin erkennen die Grünen - anders als die
Linke, deren Antrag zum gleichen Thema mit der gleichen Forderung uns dieses Jahr im April hier beschäftigte - an - ich zitiere -, „dass der deutsche Rechtsstaat
grundsätzlich gut funktioniert.“
({0})
Ich bin mir nicht sicher, wie die Angehörigen des heute
Nacht ums Leben gekommenen Polizisten die FormulieGisela Piltz
rung „grundsätzlich“ in diesem Zusammenhang finden.
Ich glaube, ich spreche für das ganze Haus,
({1})
wenn ich sage, dass wir in diesen Stunden bei den Angehörigen sind. Da hat jemand zum Schutz von unser aller
Leben und zum Schutz dieses Staates sein Leben gelassen. Da ist Mitgefühl angezeigt.
Ich komme zurück zur Formulierung „grundsätzlich“.
„Grundsätzlich“ heißt - das weiß jeder Jurist - so viel
wie „eigentlich ja, aber“. Die Grünen schreiben hier also
mit anderen Worten - ich übersetze es einmal -, dass es
mit der Rechtsstaatlichkeit in unserem Lande doch nicht
so weit her ist.
({2})
Das ist, mit Verlaub, eine schwierige Behauptung der
Grünen. Ich möchte ein paar Beispiele nennen. Ein grüner Bezirksbürgermeister in Friedrichshain in Berlin
zeigte sich solidarisch mit der von den Grünen gehätschelten sogenannten Szene,
({3})
deren Gewaltbereitschaft den Einsatz von 2 500 Polizisten notwendig machte.
({4})
Mitglieder des Bundesvorstandes der Grünen unterschrieben Aufrufe zum Schottern von Gleisen.
({5})
- Mal ganz ehrlich, Herr Kollege.
({6})
- Herr Kollege, vielleicht sollten Sie - nicht Sie persönlich; das weiß ich - bzw. einige von Ihnen Ihr Verhältnis
zum Rechtsstaat klären, bevor Sie mit dem Finger auf
die Polizei zeigen.
({7})
Die Polizei ist hier nicht der Aggressor. Das ist eine
linke Lebenslüge. Ich wundere mich, dass Sie da mitmachen.
Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Wieland?
Immer. Gerne.
Frau Kollegin Piltz, auch wenn ich, ehrlich gesagt,
den Zusammenhang zwischen der Frage einer Kennzeichnung bzw. einer unabhängigen Untersuchung und
der linksextremen Szene und dem Schottern nicht verstehe, möchte ich Sie fragen: Hätten Sie die Güte, zur
Kenntnis zu nehmen, dass wir als Grüne ausdrücklich
gesagt haben - insbesondere auch der Bundesvorstand -,
dass wir nicht schottern und dass auch niemand sonst
schottern sollte? Das ist eine eindeutige Aussage gewesen.
Herr Kollege, es gibt nicht nur den Entschließungsantrag, sondern wir debattieren hier auch eine Große Anfrage zur Polizei.
({0})
Wir nehmen also zu beidem Stellung. Und aus beidem
wird klar, wie durchaus kritisch Ihr Verhältnis zur Polizei in manchen Bereichen ist. Deshalb habe ich meine
Beispiele genannt. - Das ist das eine.
Nun das andere, Herr Kollege: Ich weiß, dass es nicht
fein und vielleicht auch nicht protokollgemäß ist. Aber
ich beantworte Ihre Frage mit einer Gegenfrage. Stimmen Sie mir denn zu, dass es einige Mitglieder aus Ihrem Bundesvorstand gegeben hat, die das Schottern befürwortet haben?
({1})
Ich glaube, dann finden wir zueinander. Dass es Grüne
gegeben hat, die sich für das Schottern eingesetzt haben
- das eine Straftat ist -, ist dem Hohen Haus insgesamt
bekannt, glaube ich. Darauf wollte ich hinweisen, Herr
Kollege.
({2})
- Für diejenigen, die nicht das Protokoll lesen, sondern
nur die Zwischenfrage gehört haben, möchte ich darauf
hinweisen, dass er gesagt hat: nur ein einziges Mitglied
des Bundesvorstandes.
({3})
So gesehen war ich doch auf der richtigen Fährte, Herr
Kollege Wieland.
({4})
- Habe ich das falsch verstanden?
Kollegin Piltz, gestatten Sie eine weitere Bemerkung?
Kein einziges oder ein einziges?
Kein einziges. Wenn Sie schon für das Protokoll reden, Frau Kollegin Piltz: kein einziges.
Ich weiß das, weil wir vorher darüber diskutiert haben. An sich sind wir ja mit den Demonstrantinnen und
Demonstranten im Wendland solidarisch. Wir haben
aber gesagt: Das sind Bahnanlagen, das geht nicht. Da
gibt es immer Irre, wie wir jetzt auch durch die Brandanschläge bestätigt bekommen haben. Daher darf es keinen
Eingriff in Bahnanlagen geben.
Unser Bundesvorstand ist überschaubar. Sie müssten
jetzt einmal einen Namen nennen. Solange das nicht geschieht, sage ich: kein einziges - nach vorheriger Diskussion -, also ausdrücklich nicht begrüßt und nicht unterstützt.
({0})
Ich hatte nicht den Eindruck, dass das noch eine Frage
war. Von daher habe ich mich gefreut, dass ich die Redezeit der Grünen zu ihrer Großen Anfrage hier verlängern
konnte.
Eines muss man aber sagen: Wenn Sie von grüner
Seite oft genug so tun, als sei die Polizei selber schuld
- das tun andere hier im Haus auch -, verkehren Sie
doch die Tatsachen ins Gegenteil. Grundsätzlich ist es
doch so, dass Gewalt meist mit Gegengewalt beantwortet wird und dass man nicht einfach nur sagen kann: Die
Polizei ist schuld.
Ganz besonders befremdlich finde ich im Übrigen die
Forderung nach Videokameras in Gewahrsamszellen,
wie das in Ihren Fragen insinuiert und in dem Entschließungsantrag angedeutet wird. Ich versuche mir vorzustellen, was hier im Deutschen Bundestag passieren
würde, wenn wir als Koalition darüber nachdenken würden, solche Technik standardmäßig in den Gewahrsamszellen zu installieren - also Kameras, die eine in
Gewahrsam genommene Person noch bei intimsten Verrichtungen filmen.
Angeblich zum Schutz der Person vor der nach ihrer
Vermutung wohl allgegenwärtigen Gefahr der Misshandlung durch Polizei wollen die Grünen jetzt auch
noch den Persönlichkeitsschutz ebenjener Betroffenen
über Bord werfen. Das ist aus meiner Sicht eine ausgesprochen krude Vorstellung von Rechtsstaat und von Datenschutz.
Denn es ist ganz klar Augenwischerei, dass die Kameras nur auf freiwilliges Verlangen der Betroffenen
eingeschaltet werden könnten. Bei den Vorwürfen, die
hier immer wieder erhoben werden, wäre doch klar, dass
sie schon zur Selbstentlastung eigentlich dauernd eingeschaltet würden. Für eine Fraktion, die sonst immer sagt,
sie sei für Datenschutz, ist das in meinen Augen - ich
sage das jetzt einmal, weil wir hier gleich auch zu Ende
sind ({0})
eine nette Formulierung, eine interessante Variante.
({1})
In unserem Rechtsstaat ist es selbstverständlich
- Herr Korte, das müssen auch Sie einsehen -, dass Polizistinnen und Polizisten, die im Dienst Grenzen überschreiten und sich strafbar machen, wie jeder andere
auch zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Es ist
selbstverständlich, dass in solchen Fällen genauso sorgfältig, wenn nicht sogar sorgfältiger ermittelt werden
muss als in anderen Fällen. Wie das funktioniert, ist von
den Kollegen eindrucksvoll dargestellt worden. Das
brauche ich nicht im Einzelnen zu wiederholen.
Wer so tut, wie das hier zwischen den Zeilen deutlich
wird, als gäbe es in unserer Polizei eine generelle Vertuschungskultur, schürt Misstrauen und Ängste, löst aber
keine Probleme.
({2})
Natürlich kann man immer noch alles besser machen;
das ist gar keine Frage. Ob die Namensschilder dazu beitragen oder nicht, ist streitig - quer durch die Republik,
quer durch alle Landesverbände, quer durch alle Landtagsfraktionen und auch quer durch die einzelnen Parteien.
({3})
Ich bin gespannt, was im Rahmen der Anhörung in der
nächsten Woche dazu gesagt wird.
({4})
Wer meint, dass es eine Vertuschungskultur gibt, der
wird den Anforderungen, denen unsere Polizistinnen
und Polizisten jeden Tag auf der Straße ausgesetzt sind,
nicht gerecht. Interne Supervision und innere Organisation können sehr wohl dazu beitragen, dass sich negative
Auswirkungen eines quasi falsch verstandenen Korpsgeistes nicht verfestigen oder gar nicht erst entstehen.
Richtig ist, dass nach Abzug der zahlreichen unberechtigten Anzeigen bei tatsächlich rechtmäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei nur eine relativ
geringe Anzahl von Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung im Amt durchgeführt werden. Das gehört zur
Wahrheit dazu. Ob das tatsächlich Anlass zur Sorge ist,
gehört bislang jedenfalls allenfalls in den Bereich der
Mutmaßung. Dieses Problem durch die Einführung geGisela Piltz
sonderter Statistiken lösen zu wollen, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Zur Wahrheit - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - gehört aber auch, sich mit der Frage zu befassen, in wie vielen Fällen die vermeintlichen Opfer von
Polizeigewalt schon von vornherein aggressiv und mit
Gewaltdrohungen auf die Polizistinnen und Polizisten
zugegangen sind. Es gehört zur Wahrheit dazu, beide
Seiten zu betrachten. Das werden wir von der FDP-Fraktion immer tun.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Vom Tod des Polizeibeamten habe ich während der Arbeit an der Rede zu diesem Thema erfahren.
Wir reden hier über die Polizei. Da ich selbst Polizeibeamter bin, möchte ich den Angehörigen und Kollegen
des Beamten mein Beileid aussprechen. Was ihm passiert ist, ist etwas, was mich selbst immer sehr betroffen
macht.
Bei der Polizei arbeiten Menschen, Menschen, die
den Querschnitt unserer Gesellschaft mit all ihren unterschiedlichen Aspekten repräsentieren. Nach 16 Jahren
im Polizeidienst weiß ich, wovon ich spreche. In einer
Demokratie sollte eine an den Bürgerrechten ausgerichtete Polizei doch eigentlich normal sein. Ich will betonen, dass das dem Selbstverständnis der Polizei entspricht. Was meint man aber damit? Genau an dieser
Stelle scheiden sich die Geister.
({0})
Wir sprechen im Parlament - ob im Hinblick auf den
Haushalt oder die Studie zur Berufszufriedenheit der
Polizei - intensiv über die sozialen und strukturellen
Probleme der Polizei. Wir reden auch darüber, dass Polizisten häufig Opfer von Fehlverhalten werden; auch das
wird hier angesprochen. Wir müssen uns aber auch fragen, wie die Polizei mit Bürgerrechten umgeht. Deswegen ist die Anfrage der Grünen wichtig.
({1})
Fakt ist, dass es Fehlverhalten bei Polizisten gibt. Das
kann hier keiner leugnen. Wer das thematisiert, dem
wird schnell unterstellt, er richte den Generalverdacht
gegen alle Polizisten; so hat das zum Beispiel der Kollege Baumann gerade zum Ausdruck gebracht. Das ist
falsch. Es gibt eine Vielzahl von Bildern, die Fehlverhalten von Polizisten dokumentieren. Laut Antwort der
Bundesregierung sollen diese Bilder ausreichend dazu
beitragen, Fehlverhalten von Polizisten zu identifizieren.
Das reicht aber nicht aus.
({2})
- Doch eine Vielzahl. Wer die Medien verfolgt, weiß,
dass es allein aus Stuttgart etliche solcher Bilder gibt.
Trägt ein Polizist im Einsatz einen Helm oder - das
gibt es auch - zusätzlich eine Sturmhaube, dann helfen
Fotos allerdings nicht viel. Was Sie dabei völlig außer
Acht lassen, ist: Es gibt Fehlverhalten von Polizeibeamten nicht nur in den großen Einsätzen, welche auch im
Fernsehen zu sehen sind, sondern auch bei kleinen Einsätzen, im Streifeneinzeldienst, von denen keine Fotos
und Videos vorhanden sind.
Die Polizei - das muss uns bewusst sein - handelt im
Rahmen einer besonderen Verantwortung. Wenn es Fehlverhalten gibt, müssen Politik und Polizei gemeinsam
überlegen, wie dem vorzubeugen ist. Wir müssen garantieren, dass transparent und offen mit diesem Thema umgegangen wird.
Lassen Sie mich den einen Vorschlag, der bereits diskutiert wurde - die Kennzeichnungspflicht -, aufgreifen.
Sie wollen kein Namensschild, weil Sie dadurch die
Wahrung der Persönlichkeitsrechte und das Sicherheitsbedürfnis der Beamten gefährdet sehen.
({3})
Das sind Argumente, die ich akzeptiere und die zumindest in der Diskussion eine Rolle spielen sollten. Allerdings: Eine Alternative wäre die individuelle und anonyme Kennzeichnung. Bei der Landespolizei in
Thüringen zum Beispiel, wo vielleicht auch ich irgendwann wieder Dienst tue, könnte meine Kennzeichnung
so aussehen: „TH“ für Thüringen, „G“ für die Direktion
Gera und „1234“ als individuelles Element. Das wäre
einfach, klar erkennbar und ist in Europa absolut normal.
Ein solches Modell ließe sich auch für die Bundespolizei
finden.
({4})
Im Vergleich zu Namensschildern wie „Schmidt“
oder „Müller“ bietet das bei Bedarf eine eindeutige Identifizierung ohne Verletzung der Persönlichkeitsrechte
von Polizeibeamten. Klarnamen kann man übrigens
auch unter Richtervorbehalt stellen. Das heißt - für diejenigen, die den Begriff „Richtervorbehalt“ nicht kennen -,
sie werden freigegeben, wenn ein Richter feststellt, dass
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass ein Hinweis
auf eine Straftat vorliegt. Insofern ist auch das Argument, das auf den Generalverdacht abstellt, ausgehebelt.
In Europa ist die individuelle Kennzeichnung völlig normal.
Sie haben angesprochen, dass ein Polizeibeamter seinen Namen, seine Amtsbezeichnung und seine Dienst16380
stelle benennen muss. Genau das funktioniert in der Praxis oft nicht. Gerade wenn ein Fehlverhalten vorliegt, ist
die Situation oft unübersichtlich; es kommt auch vor,
dass die Nennung des Namens einfach verweigert wird.
Wenn dem Bürger die Möglichkeit genommen wird, genau zu sagen, welchen Beamten der Vorwurf trifft, dann
kommen viele Anzeigen gar nicht erst zustande. Das ist
die Praxis, und das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Hinzu kommt: Viele Bürgerinnen und Bürger haben
ein ungutes Gefühl, wenn sie sich bei der Polizei über
die Polizei beschweren. Deswegen ist es auch richtig,
über die Schaffung einer Beschwerdestelle oder über
eine ähnliche Struktur zu diskutieren.
({5})
„Diskutieren“ heißt, wir müssen darüber reden, und wir
müssen gemeinsam bereit sein, Lösungen zu finden.
Wenn wir dazu gemeinsam bereit sind, müssen alle an
einen Tisch: die Politik, die Bürgerrechtsbewegungen
und vor allen Dingen die Polizeigewerkschaften. Dann
muss man Lösungen finden. Aber dazu muss man, wie
gesagt, bereit sein.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Dem allgemeinen Wunsch nach weiterer Betrachtung
und Erörterung des Gegenstandes kommen wir insofern
nach, als wir jetzt nicht sofort über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7502 abstimmen, sondern ihn an die Ausschüsse überweisen, wobei die Federführung beim
Innenausschuss liegen soll. Gibt es dazu anderweitige
Auffassungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Zur Mitberatung wird die Vorlage an den
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
und den Rechtsausschuss überwiesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. November 2011, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute.