Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,
stehen noch eine Reihe von Nachwahlen zu Gremien
an.
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege
Michael Hartmann anstelle des Kollegen Dr. Dieter
Wiefelspütz neues stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
der Kollege hiermit gewählt.
Ebenfalls auf Vorschlag der SPD-Fraktion ist vorgesehen, den Kollegen Frank Schwabe anstelle der Kollegin Angelika Graf zum stellvertretenden Mitglied in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu
wählen. Können Sie sich auch damit anfreunden? - Das
ist der Fall. Dann ist auch der Kollege Schwabe gewählt.
Die SPD-Fraktion hat darüber hinaus mitgeteilt, dass
der Kollege Uwe Beckmeyer als ordentliches Mitglied
aus dem Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidet. Als
sein Nachfolger wird der Kollege Sören Bartol vorgeschlagen. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu? - Das ist
der Fall. Dann ist der Kollege Bartol in den Eisenbahninfrastrukturbeirat gewählt.
Eine weitere Wahl betrifft den Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der Beauftragte für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass das
vom Auswärtigen Amt benannte stellvertretende Mitglied Rolf Mafael ausgeschieden ist und Frau Jutta
Frasch als dessen Nachfolgerin vorgeschlagen wird.
§ 19 des entsprechenden Gesetzes sieht vor, dass auch
die von anderen Stellen vorgeschlagenen Mitglieder des
Stiftungsrates vom Deutschen Bundestag bestätigt werden. Deshalb frage ich Sie, ob Sie mit diesem Vorschlag
einverstanden sind. - Das ist der Fall. Dann ist Frau
Frasch als stellvertretendes Mitglied in dieses Gremium
gewählt.
Der letzte Wahlvorschlag für heute kommt wiederum
von der SPD-Fraktion. Es handelt sich nicht um die
Kanzlerwahl, aber immerhin um die Wahl eines ordentlichen Mitglieds im Stiftungsrat der „Stiftung Berliner
Schloss - Humboldt-Forum“. Dafür wird der Kollege
Florian Pronold als Nachfolger des Kollegen Uwe
Beckmeyer benannt. Findet das Ihre Zustimmung? - Das
ist der Fall. Dann ist der Kollege Pronold gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Kommission des Deutschen
Bundestages zur Regulierung der Großbanken
- Drucksache 17/7359 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
({1})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Unklare Konzepte der Bundesregierung zu
Steuersenkungen - Pläne zur Entlastung niedriger und mittlerer Einkommen
({2})
ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Nationaler Energieeffizienz-Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 17/6927 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Masterplan Straßenverkehrssicherheit - Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011 - 2020 vorlegen
- Drucksache 17/7466 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Demokratischer Sozialismus und soziale Marktwirtschaft im Grundsatzprogramm der LINKEN
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung als Risiko für die Konjunktur
- Drucksache 17/7461 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Aufbauprogramm gegen die Krise - Schutzschirm für Arbeitsplätze
- Drucksache 17/7338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus ist vorgesehen, den Tagesordnungs-
punkt 30 zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 6 auf-
zurufen sowie die Tagesordnungspunkte 17 und 32 zu
tauschen. - Auch dazu darf ich Einvernehmen feststel-
len. Dann ist das hiermit so beschlossen.
Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung telekommunikationsrechtlicher
Regelungen
- Drucksache 17/5707 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6})
- Drucksache 17/7521 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Kerstin Andreae
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
Dörmann, Waltraud Wolff, Garrelt Duin, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherschutz in der Telekommunika-
tion umfassend stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Netzneutralität im Internet gewährleisten -
Diskriminierungsfreiheit, Transparenzver-
pflichtungen und Sicherung von Mindest-
qualitäten gesetzlich regeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schnelles Internet für alle - Flächende-
ckende Breitband-Grundversorgung sicher-
stellen und Impulse für eine dynamische
Entwicklung setzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Telekommunikationsmarkt verbraucherge-
recht regulieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Petra Sitte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Netzneutralität sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Johanna Voß,
Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Universaldienst für Breitband-Internetan-
schlüsse jetzt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
Konstantin von Notz, Tabea Rößner, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gegen das Zwei-Klassen-Internet - Netz-
neutralität in Europa dauerhaft gewährleis-
ten
- Drucksachen 17/4875, 17/5367, 17/5902,
17/5376, 17/4843, 17/6912, 17/3688, 17/7521 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Kerstin Andreae
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stand und Perspektiven des Breitbandausbaus
in Deutschland
- Drucksachen 17/3899, 17/5588 Zu dem Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes
zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und je ein Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD sowie der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr.
Philipp Rösler.
({8})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Ich denke, wir alle wissen: Eine
gut ausgebaute Infrastruktur ist die beste Grundlage für
Wachstum und Beschäftigung. Das gilt für die klassische
Infrastruktur - Straße, Schiene und Energienetze -, das
gilt aber natürlich auch für moderne Informations- und
Kommunikationsnetze, gerade im Rahmen des Internets.
Sie sind so etwas wie das Nervensystem einer modernen
Informationsgesellschaft.
Deswegen ist es richtig, dass wir mit dieser TKG-Novelle alles dafür tun, dass diese Netze weiter ausgebaut
werden können. Wir setzen dabei auf die bewährte Arbeitsteilung im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft:
Der Gesetzgeber beschränkt sich auf die Vorgabe des
Rahmens, während die Unternehmen gefordert sind, mit
den notwendigen Ideen, Technologien, Innovationen und
Geschäftsmodellen selber für neue Netze zu sorgen. Das
heißt, die Unternehmen und nicht der Staat haben die
Netze zu bauen. Jedwedem planwirtschaftlichen Denken
erteilen wir auch mit dieser TKG-Novelle eine klare Absage. Wir wollen kein planwirtschaftliches Denken, sondern wir wollen ein Handeln im Rahmen der sozialen
Marktwirtschaft.
({0})
Deswegen setzen wir auf Anreize. Wir wollen eine
bessere Anreizregulierung, durch die den Unternehmen
langfristigere Planungen möglich sind. Dadurch ergibt
sich auch mehr Investitionssicherheit.
Wir wollen neue Instrumente - beispielsweise sollen
sich mehrere Unternehmen die anfallenden Kosten für
solche Investitionen teilen können -, und wir wollen
eine Vernetzung zwischen klassischer Infrastruktur auf
der einen Seite und modernen Kommunikationsstrukturen auf der anderen Seite, also die Nutzung von Straße,
Schiene und Energienetzen auch beim Ausbau der Kommunikationsnetze, zum Beispiel für das Internet. Es wird
sich zeigen, dass wir mit Anreizen besser vorankommen
werden als mit Verordnungen oder planwirtschaftlichen
Vorgaben.
Es geht aber nicht nur um den Ausbau der Infrastruktur, sondern wir müssen auch sagen, was im Internet passieren soll und was nicht passieren darf. Wir haben für
uns festgehalten: Das freie Internet ist die wesentliche
Grundlage für einen Fortschritt bei den Kommunikationstechnologien. Deswegen spielt das Thema Netzneutralität bei dem vorliegenden Gesetzentwurf auch eine
Rolle.
({1})
Künftig wird die Bundesregierung gemeinsam mit
Bundestag und Bundesrat die Möglichkeit haben, über
Rechtsverordnungen dafür zu sorgen, dass diese Netzneutralität gewährleistet bleiben kann; denn die neutrale
Datenübermittlung ist eine wesentliche Grundlage und
ein wesentlicher Bestandteil einer freien Informationsgesellschaft. Deswegen ist die TGK-Novelle gerade in Bezug auf Netzneutralität so wichtig.
Warum machen wir das alles: Netzausbau, Sicherung
der Netzneutralität? Wir machen das natürlich für die
Menschen in unserem Lande. Damit ist klar: Der Verbraucherschutz muss auch bei dieser Novelle eine große
Rolle spielen. Genau das tut er auch.
Künftig wird Schluss sein mit langlaufenden Internetoder Telefonverträgen. Wer hat sich nicht schon über
lange Vertragslaufzeiten geärgert? Wir machen endlich
Schluss mit kostenpflichtigen Warteschleifen, weil wir
nicht wollen, dass mit der Geduld der Menschen in
Deutschland Geld verdient wird, und wir wollen für eine
bessere Datensicherheit sorgen.
Viele von Ihnen nutzen schon Ortungsdienste, beispielsweise mit ihrem Handy. Künftig wird es die Vorgabe geben, dass Anbieter von Ortungsdiensten ihre
Kunden per SMS darüber informieren müssen, wenn geortet wird. Das ist ein wesentlicher Beitrag zu dem wichtigen Thema Datenschutz im Bereich der Telekommunikation und der Information.
({2})
Dadurch zeigt sich der Wert dieses Gesetzentwurfes
insgesamt.
Wir wollen einen besseren Ausbau der Infrastruktur
und setzen dabei nicht auf Planwirtschaft, sondern auf
die guten Instrumente der sozialen Marktwirtschaft. Wir
wollen klare inhaltliche Strukturen, Netzneutralität im
Interesse der Kundinnen und Kunden und eine Absicherung des Verbraucherschutzes, wie sich das für gute Gesetze im Ergebnis auch gehört.
Wir alle wissen: In den letzten 15 Jahren haben die Informations- und Kommunikationstechnologien mehr als
50 Prozent zur Produktivitätssteigerung beigetragen.
Das ist der beste Beweis dafür, dass wir auch mit dieser
TKG-Novelle einen Beitrag zur Verstetigung des Wachstums in Deutschland leisten.
Ich bedanke mich für die bisherigen Diskussionen
und bitte im Anschluss um Ihre Zustimmung zu dieser
TKG-Novelle.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Martin Dörmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister, wir haben durchaus positiv vernommen, dass Sie hier das Thema Netzneutralität in den
Vordergrund gestellt haben. Ich denke, wir werden Sie
an Ihren Worten messen.
Ich komme gerade von einer Diskussion, wo ein Unionskollege gesagt hat:
({0})
Netzneutralität ist ein staatlicher Eingriff. - Das hat er
kritisch gemeint. Ich bin gespannt, wie die Koalition das
zusammenbringt.
({1})
- Ich denke, der Kollege Jarzombek wird nachher selber
dazu Stellung nehmen.
Ich komme gerade von einer Veranstaltung der Amerikanischen Handelskammer mit dem Titel: Das TKG in
der Warteschleife? Ich finde, die Fragestellung passt sehr
gut zu dem gesetzgeberischen Stillstand in den mehr als
fünf Monaten seit der ersten Lesung der Novelle. Immer
wieder hat die Koalition die abschließenden Beratungen
verschoben, weil es innerhalb der Unionsfraktionen oder
zwischen FDP und Union hin- und herging. Zum zentralen Thema Breitbandausbau fand man lange keine gemeinsame Position. Inzwischen ist übrigens die Umsetzungsfrist für die einschlägigen EU-Richtlinien längst
verstrichen, sodass Deutschland eine Strafzahlung droht.
Am Dienstag dieser Woche jedoch hat die Koalition
ihr eigenes Chaos noch einmal gesteigert. Morgens hieß
es, das TKG würde beraten. Mittags wurde den Parlamentarischen Geschäftsführern dann mitgeteilt, die Beratung müsse um eine Woche verschoben werden. Als
dann die Fraktionssitzungen zum Teil schon beendet waren, kam am späten Nachmittag überraschend die Nachricht: Das Thema wird doch wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Erst am Abend wurde dann der umfangreiche Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen per E-Mail zugesendet. Den meisten Abgeordneten wurde so die Möglichkeit
genommen, die Unterlagen vor den Ausschusssitzungen
am nächsten Tag sorgfältig zu prüfen.
({2})
Doch damit nicht genug. Im Innenausschuss kam es am
Mittwoch zum Eklat, weil die Koalitionsmehrheit eine
Debatte zur Gesetzesnovelle verhinderte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, das ist
kein angemessener Umgang mit einem wichtigen Gesetz. Sie sollten Ihre Streitigkeiten zukünftig nicht mehr
auf dem Rücken des Parlamentes austragen.
({3})
Auch das inhaltliche Ergebnis lässt doch an vielen
Stellen zu wünschen übrig. Immerhin wollen wir aber
anerkennen, dass es in einigen Punkten durchaus Verbesserungen gab, die wir ausdrücklich begrüßen. Namentlich will ich den auch von uns geforderten besseren Zugang zu alternativen Infrastrukturen nennen, der
Kostenvorteile für den Breitbandausbau ermöglicht.
Wichtige unserer Forderungen wurden jedoch nicht umgesetzt. Ich will in diesem Zusammenhang auf die von
der SPD-Fraktion vorgelegten umfassenden Anträge zu
den Themenbereichen Breitbandausbau, Netzneutralität
und Verbraucherschutz hinweisen. So springt die Regierungskoalition insbesondere beim Thema Breitbandausbau trotz einiger Einzelverbesserungen weiterhin zu
kurz.
Zwei Aspekte müssen wir beim Breitbandausbau unterscheiden: Zum einen geht es um eine flächendeckende
Grundversorgung, damit schnelles Internet für alle endlich verwirklicht werden kann. Zum anderen brauchen
wir eine dynamische Entwicklung und damit einen weiteren Ausbau der Glasfasernetze. Eine schnelle Internetverbindung - darin sollten wir uns eigentlich einig sein wird inzwischen in vielen Lebensbereichen einfach vorausgesetzt. Damit ist ein Breitbandanschluss aber auch
zu einem Teil der Daseinsvorsorge geworden.
Deshalb will die SPD-Bundestagsfraktion mithilfe einer gesetzlichen Universaldienstverpflichtung die Grundversorgung sicherstellen. Noch immer sind zahlreiche
Kommunen und Hunderttausende von Haushalten nur
unzureichend versorgt. Universaldienst bedeutet dabei:
Jeder hat einen Anspruch auf die Leistung, aber eben
nicht kostenlos, sondern zu einem angemessenen Preis.
({4})
Nach meiner festen Überzeugung haben wir hierfür als
einzige Fraktion einen wirklich europarechtskonformen
Weg aufgezeigt.
({5})
Wir orientieren uns dabei an einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, das wir frühzeitig in Auftrag
gegeben und übrigens allen Fraktionen zur Verfügung
gestellt haben. Die EU-Universaldienstrichtlinie erlaubt
keine beliebige Verpflichtung, sondern setzt dafür klare
Grenzen und Kriterien.
Der Universaldienst muss technologieneutral ausgestaltet werden und Wettbewerbsverzerrungen vermeiden.
Die konkrete Bandbreite muss sich an der Bandbreite
orientieren, die von der Mehrheit der Nutzer tatsächlich
verwendet wird. Es geht also um die abgeschlossenen
Verträge und um die Übertragungsgeschwindigkeiten,
die mehrheitlich erreicht werden.
({6})
Nach Einschätzungen der Branche und der Bundesnetzagentur dürften diese Bandbreiten irgendwo in einem
Bereich zwischen 2 und 6 Megabit pro Sekunde liegen.
Exakte Erhebungen und Zahlen gibt es allerdings noch
nicht. Gerade deshalb fordert die SPD-Fraktion in ihrem
Antrag, dass zunächst die zulässige Bandbreite ermittelt
und dann auch konkret in das Gesetz aufgenommen
wird.
({7})
Nur ein solcher Weg schafft echte Planungssicherheit
und vermeidet mögliche Klagen von Unternehmen.
Nun wollen auch Grüne und Linksfraktion den Universaldienst; sie legen sich aber bereits heute auf eine
konkrete Bandbreite fest, die eben nicht solide ermittelt
wird.
({8})
Die Grünen etwa zitieren aus einem eigenen Gutachten,
in dem die Berechnungsmethode nicht dargelegt ist. Es
gibt also zurzeit noch keine verifizierten Zahlen.
Die FDP ist bekanntlich aus ideologischen Gründen
ganz gegen den Universaldienst,
({9})
und in der Union gibt es ein ziemlich großes Durcheinander. Noch am Dienstagmorgen hieß es, der Universaldienst sei im Antragsentwurf enthalten. In einem Papier
der Unionsfraktion war zwischenzeitlich sogar von einem
Universaldienst mit 16 oder 50 Megabit die Rede, obwohl jeder Experte weiß, dass das rechtlich erst recht
nicht umzusetzen wäre.
Ich glaube, gerade diese unseriöse Diskussion hat am
Ende berechtigte Kritik provoziert und vielleicht auch
verhindert, dass heute ein vernünftiges Modell seitens
der Koalition zur Abstimmung gestellt wurde. Ich hoffe,
dass die Diskussion durch den Umweg über den Bundesrat - der Gesetzentwurf ist schließlich zustimmungspflichtig - vielleicht noch nicht ganz abgeschlossen ist.
Ich will an dieser Stelle noch auf die Argumente eingehen, die gegen eine Universaldienstverpflichtung vorgetragen werden. So heißt es, der Wettbewerb werde
schon zu den richtigen Ergebnissen führen, und es wird
auf den bereits begonnenen LTE-Ausbau hingewiesen.
Ich will ausdrücklich betonen: Auch wir sind für Wettbewerb und Investitionen möglichst vieler Unternehmen.
Die Mobilfunkunternehmen haben aber keine vollständige, sondern nur eine weitgehende Abdeckung angekündigt. Die höchste Zahl, die genannt wird, ist 99 Prozent. Das ist bekanntlich weniger als 100 Prozent.
Eine vollständige Abdeckung ist also noch nicht sicher. Sie war im Übrigen auch seinerzeit in den Versteigerungsbedingungen nicht enthalten. Darin ging es nur
um 90 Prozent. Deshalb sagen wir: Verbleibende weiße
Flecken dürfen wir nicht weiter hinnehmen.
({10})
Im Übrigen sind auch keine Wettbewerbsverzerrungen zu befürchten. Denn der Universaldienst würde nur
dort greifen, wo nicht investiert wird. Wo kein Wettbewerb ist, kann auch nichts verzerrt werden.
Hinzu kommt: Unser Vorschlag sieht vor, dass wir die
Universaldienstverpflichtung erst zum 1. Januar 2013
wirksam werden lassen. Damit erhalten die Unternehmen selbst die Möglichkeit, durch einen vollständigen
Ausbau die Auferlegung von Verpflichtungen zu vermeiden.
Sollte sich Ende 2012 hoffentlich herausstellen, dass
es keine weißen Flecken mehr gibt, bräuchte also auch
kein aufwendiges Verfahren in Gang gesetzt zu werden.
Mit einer gesetzlichen Regelung hätten wir aber endlich
die Gewissheit, dass alle Kommunen und Haushalte versorgt werden.
Neben einer Grundversorgung im Sinne der Daseinsvorsorge brauchen wir eine dynamische Entwicklung
beim weiteren Breitbandausbau. Das bedeutet in erster
Linie einen schrittweisen Ausbau des Glasfasernetzes.
({11})
- Herr Präsident, ich glaube, der Kollege Jarzombek hat
eine Frage.
Das klingt sehr stark nach einer seit Tagen bestehenden Absprache. Aber zu dieser frühen Morgenstunde
wollen wir besonders großzügig sein. - Bitte schön, Herr
Kollege Jarzombek.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Dörmann, wir führen schon fast die Diskussion von vorhin fort.
Sehen Sie? Ich fühle mich bestätigt.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass der Universaldienst, den Sie ins Gesetz aufnehmen wollen, zum 1. Januar 2013 greift? Sie wissen, dass man dann erst einmal
den jeweiligen Bedarf feststellen muss. Anschließend
muss ausgeschrieben werden. Die Unternehmen müssen
sich auf diese Ausschreibungen hin bewerben. Es wird
Widersprüche bei den Vergabekammern geben. Dann
wird die Infrastruktur ausgebaut. Dieser Prozess wird,
vorsichtig geschätzt, zwei bis vier Jahre dauern.
Das heißt, ausgehend vom 1. Januar 2013 streben Sie,
wenn man die zwei bis vier Jahre dazurechnet, für 2016
eine Bandbreite von 2 Megabit an. Ist das heute Ihr Vorschlag?
({0})
Nein, Herr Jarzombek. Erstens ist Ihr Zeitplan falsch.
Richtig ist: Das Ganze soll ab dem 1. Januar 2013 als gesetzliche Verpflichtung greifen. Richtig ist auch, dass
dann natürlich erst einmal der Bedarf festgestellt werden
muss und dass es dann gegebenenfalls eine Ausschreibung geben muss. Wir haben die Hoffnung, dass Ihre
Prognose, dass der LTE-Ausbau sehr weit reicht, dazu
führen wird, dass es eine überschaubare Anzahl von Regionen gibt, in denen man eine Prüfung vornehmen
muss. Dann wird ausgeschrieben. Dort, wo weiße Flecken bleiben, greift die Regelung.
Da Sie auf 2 Megabit abzielen: Wir haben in unserem
Antrag ausdrücklich das aufgenommen, was die EU vorgibt. Wir müssen erst einmal feststellen, welche Bandbreite von einer Nutzermehrheit verwendet wird. Wir
haben in unserem Antrag die Bandbreite nicht konkretisiert, weil wir noch keine exakten Zahlen haben.
Wenn Sie argumentieren, dass es letztendlich kein
Problem gibt, weil der Ausbau so umfassend vorgenommen wird, dann wird es auch nicht zu einer solchen Zeitabfolge kommen. Eigentlich ist Ihre Argumentation die
beste Begründung dafür, endlich eine gesetzliche Absicherung vorzunehmen.
({0})
Ich habe gerade angedeutet: Es geht auch um eine dynamische Entwicklung des Glasfaserausbaus. Wir brauchen in Zukunft höhere Übertragungsgeschwindigkeiten. Beim Glasfaserausbau haben wir aber das Problem,
dass die Tiefbaukosten sehr hoch sind, fast 80 Prozent
der Gesamtkosten betragen und dass sich deshalb ein
entsprechender Ausbau in ländlichen Gebieten oft nicht
lohnt, zumal die Bereitschaft der Kunden, für größere
Bandbreiten mehr Geld zu zahlen, nicht sehr ausgeprägt
ist. Höhere Übertragungsraten lassen sich noch nicht in
ausreichendem Maße vermarkten. Doch alle Erfahrung
zeigt: Der Datenhunger wird dynamisch wachsen. Künftig wollen die Menschen über ihren HD-Fernseher Streaming-Angebote und Internetanwendungen abrufen, vielleicht sogar auf mehreren Geräten im Haushalt. Das
bietet eine enorme wirtschaftpolitische Chance, weil
diese Dynamik zu Wachstum führt. Auch an dieser Stelle
sollte Deutschland Spitze sein.
Vor diesem Hintergrund brauchen wir ein Maßnahmenbündel, das die Wirtschaftlichkeitslücke schrittweise
schließt. Dazu gehört die konsequente Hebung von Synergieeffekten, etwa der Zugang zu vorhandenen Infrastrukturen, um Grabungskosten zu vermeiden. Gezielte Förderprogramme können ebenfalls helfen. Oft würde es
bereits ausreichen, wenn das investierende Unternehmen
langfristige Kredite zu günstigeren Zinsen aufnehmen
könnte. Deshalb regen wir ein Sonderprogramm bei der
KfW an, das zu einer Zinsverbilligung führt. Ich freue
mich, dass das Wirtschaftsministerium in der gestrigen
Ausschusssitzung zugesagt hat, diesen Vorschlag konstruktiv zu prüfen.
Dazu gehören ebenfalls eine investitionsfreundliche
Regulierung und ein Open-Access-Marktmodell. Wir
brauchen eine Vielzahl an Maßnahmen, um hier weiterzukommen. Viele Baustellen bleiben auch nach Verabschiedung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
telekommunikationsrechtlicher Regelungen bestehen.
Ich komme zum Schluss. Lassen Sie uns heute und in
Zukunft die Rahmenbedingungen schaffen, damit Warteschleifen im Netz und in der Politik der Vergangenheit
angehören.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Andreas Lämmel erhält nun für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will erst einmal den Nebel lichten, den Sie, Herr
Dörmann, versucht haben zu verbreiten.
({0})
Wenn Sie Ihre Redezeit genutzt hätten, etwas Substanzielles beizutragen, anstatt polemische Ausführungen zu
machen, wäre der Debatte wahrscheinlich mehr gedient
gewesen. Grundsätzlich muss man feststellen, dass in
der Debatte über das TKG keine wirklich ideologischen
Barrieren zwischen den Fraktionen bestehen. Aus meiner Sicht war der stattgefundene Dialog ziemlich sachlich.
Worum geht es bei dem Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen? Es geht erstens
um die Umsetzung von EU-Richtlinien, zweitens um
bessere Rahmenbedingungen für einen beschleunigten
Breitbandausbau, drittens um die Schaffung von Rechtssicherheit für die Branche durch investitionsfreundliche
Anreize und Regulierungen sowie viertens um einen
besseren Schutz der Verbraucher. Das sind die vier Themen, die zu regeln waren.
Die EU-Richtlinien zur besseren Regulierung und den
Rechten der Bürger wurden 2009 überarbeitet und mussten jetzt in nationales Recht umgesetzt werden. Diese
Vorgabe werden wir mit der heutigen Verabschiedung
erfüllen.
Der beschleunigte Breitbandausbau ist das Thema,
das in der deutschen Öffentlichkeit eine sehr große Rolle
spielt. Das ist auch das Kernthema unseres Gesetzes. Es
lohnt sich, einen Blick auf die letzten zwei Jahre zurückAndreas G. Lämmel
zuwerfen, um festzustellen, was sich in Deutschland seit
Februar 2009 eigentlich getan hat, als die Breitbandinitiative der Bundesregierung beschlossen wurde und damit ein großes Werk in Gang gesetzt wurde. 2009 war
die Kritik groß. Deutschland verharrte am untersten
Ende bei der Breitbandversorgung in Europa. Was ist bis
heute geschehen? Deutschland gehört zu den führenden
und dynamischsten Breitbandmärkten in Europa. Die
Breitbandnutzung hat im Vergleich mit den fünf größten
EU-Ländern die höchste Dichte erreicht. Wir sind also
innerhalb von zwei Jahren vom unteren Ende an die
Spitze gelangt. Die Quelle für diese Zahlen ist die EUKommission selbst. Es sind also keine Zahlen der Bundesregierung, der man unterstellen könnte, das schönzurechnen.
Mitte 2011 waren 99 Prozent der deutschen Haushalte
mit mindestens 1 Megabit pro Sekunde angeschlossen,
wenn man alle Technologien berücksichtigt. 40 Prozent
der Haushalte haben Zugang zu einem Anschluss mit
mindestens 50 Megabit pro Sekunde. Der Zuwachs bei
den 50 Megabit pro Sekunde ist der größte Zuwachs
überhaupt. 2009 waren es noch unter 10 Prozent, heute
liegen wir bei 40 Prozent.
({1})
Der Markt ist also sehr dynamisch.
Große Zuwächse gab es auch im Bereich von 2 Megabit und 6 Megabit, vor allem im Jahr 2011. Das hängt
ganz wesentlich damit zusammen, dass der Ausbau des
mobilen Internets, der sogenannte LTE-Ausbau, eine
große Dynamik entfaltet hat. Die Bundesnetzagentur hat
erst in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass in
sechs Bundesländern mittlerweile die Ausbauverpflichtung für die ländlichen Räume erfüllt ist. Das heißt,
90 Prozent der von den Ländern gemeldeten weißen Flecken sind mit mobilem Internet versorgt. Damit können
jetzt die Mobilfunkunternehmen den Ausbau in den Ballungszentren fortsetzen. Seit Anfang 2009 wurden über
2 Millionen Haushalte an die Grundversorgung angeschlossen. Das ist eine große Leistung. Es sind damit
enorme Investitionen gestemmt worden.
Ich kenne aber viele Kollegen, die das nicht interessiert, weil sie in einem Gebiet wohnen, das in Sachen Internet ein weißer Fleck ist und wo keine Grundversorgung besteht.
({2})
Das ist natürlich ein großes Problem, zum einen für die
Bürger, die in diesem Gebiet leben, zum anderen auch
für die Wirtschaft. Deswegen sind der beschleunigte
Ausbau und die Schließung der Lücken die Hauptstoßrichtung unseres Gesetzes. Es geht also erstens um die
Beschleunigung des Ausbaus und zweitens - das hat
Herr Dörmann schon kurz angesprochen - um die Kostensenkung beim Ausbau. Wenn man verschiedene Berechnungen vergleicht, dann stellt man fest, dass die
Zahlen differieren. Die einen sagen, es koste 40 Milliarden Euro, andere Experten sprechen von 50 oder 60 Milliarden Euro. Eines aber ist klar: Der flächendeckende
Anschluss von Haushalten an das Glasfasernetz ist
enorm teuer.
Es geht jetzt darum, neue Instrumente zu schaffen und
mit der Regulierung, die im TKG verankert ist, neue Anreize für Investitionen zu schaffen. Damit kommen wir
zum Unterschied zu Ihnen, Herr Dörmann. Wir sind
ganz klar der Meinung, dass dieser Ausbau im Rahmen
eines Marktmodells stattfinden muss. Alle Unternehmen, die in der Branche tätig sind, haben in den letzten
zwei Jahren bewiesen, dass sie in der Lage sind, mit
marktwirtschaftlichen Modellen eine flächendeckende
Versorgung zu erreichen. Trotzdem - jetzt kommen wir
zu dem entscheidenden Punkt - wird das eine berühmte
Prozent übrig bleiben. Es muss also darum gehen, dass
wir Lösungen für das restliche Prozent, das noch nicht
versorgt ist, finden, damit eine völlige Flächendeckung
in Deutschland erreicht wird.
Ich will noch ein paar Zahlen zu den Kosten für die
Anschlüsse nennen - das wurde vor kurzem veröffentlicht -: Die Aufrüstung eines DSL-Anschlusses zu
einem VDSL-Anschluss kostet ungefähr 700 Euro pro
Anschluss. Ein FTTB, also das Verlegen von Glasfaserkabeln bis ins Gebäude, kostet ungefähr 1 400 Euro pro
Anschluss, und ein Fibre to the Home, also das Verlegen
von Glasfaserkabeln bis in die Wohnung, kostet ungefähr 4 000 Euro pro Anschluss. Daran kann man sehen,
wie groß die Preisdifferenzen zwischen den einzelnen
Anschlussarten sind.
Wir haben in Deutschland zwei neue Instrumente geschaffen, die helfen, den Breitbandausbau wesentlich zu
beschleunigen:
Das eine ist das Breitbandbüro beim Bundeswirtschaftsministerium. Dieses Breitbandbüro hat sich mittlerweile zu einem Kompetenzzentrum des Breitbandausbaus entwickelt, ist Ansprechpartner für die Bürger, für
die Wirtschaft, für die Kommunen, für die Landkreise
und hilft dabei, ganz spezielle Modelle zu konstruieren,
um den regionalen Ausbau in Deutschland voranzubringen.
Das zweite Instrument ist der Breitbandatlas. Jeder
kann ihn über das Internet einsehen. Das ist eine echte
Innovation. Überlegen Sie sich einmal: Deutschland ist
geteilt in 4,2 Millionen Raster.
({3})
Ein Raster ist 250 Meter mal 250 Meter klein. Man kann
also sehr detailliert feststellen, welche Infrastruktur und
welche Anschlussmöglichkeiten in dem jeweiligen Gebiet vorhanden sind.
({4})
Die Länder selbst haben bei ihren Meldungen der Priorität-1-Gebiete nicht gewusst, wo Breitbandanschlüsse
vorhanden sind. Es ist also dringend notwendig, dass
man sich einmal darüber klar wird, wo welche Anschlussmöglichkeiten schon heute bestehen.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend will ich
sagen: Die Verabschiedung des heute vorliegenden Gesetzentwurfes wird Deutschland einen großen Fortschritt
bringen. Die verbesserten Möglichkeiten der Regulierung und die Investitionssicherheit für Unternehmen geben weitere Investitionsanreize. An den Bundesrat
möchte ich appellieren, sich bei der Behandlung des Gesetzes auf die wirklich wichtigen Themen zu fokussieren
und eine Einigkeit zu finden, statt in vielen zusätzlichen
Verhandlungsrunden das Inkrafttreten dieses Gesetzes zu
verzögern.
({5})
Ich bin überzeugt davon, dass wir am heutigen Tag einen großen Schritt nach vorne tun. Ich bedanke mich bei
allen Partnern, die an diesem schwierigen Gesetz mitgewirkt haben. Jeder, der daran beteiligt war, weiß, wie
kompliziert die Verhandlungen teilweise waren. Herr
Dörmann, ich denke, insgeheim sind Sie eigentlich bei
uns. Sie werden dem Gesetz hoffentlich zustimmen.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Johanna Voß für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während
in vielen Großstädten inzwischen Internetanschlüsse mit
200 Megabit pro Stunde
({0})
- pro Sekunde - existieren, müssen die Menschen auf
dem Land froh sein, wenn sie per Mobilfunk ins Internet
können, und damit erreichen sie nur den einstelligen Megabitbereich. Sobald mehrere Nutzer online sind, sinkt
die Geschwindigkeit rasant, und das kostet dann weit
mehr als ein Breitbandanschluss in der Stadt. Aber
schlimmer geht immer: übers Modem ins Internet. Das
betrifft immer noch über 1 Million Menschen. Ein Internetanschluss mit Modem ist so gut wie kein Internetanschluss. Das Surfen wird zur Strafe. Betriebe auf dem
Land können noch nicht einmal Mails mit Anhängen öffnen. Wie soll man da arbeiten? Wie soll man da einen
Betrieb leiten? Das ist kein Zustand!
Der Breitbandanschluss muss daher endlich zur Norm
für alle werden.
({1})
Das geht nur mit der Aufnahme in den Universaldienstkatalog. Schon vor knapp vier Jahren hat die Linke das
an genau dieser Stelle gefordert - leider ohne Erfolg.
Jetzt haben sich die Grünen endlich unserer Forderung
angeschlossen.
({2})
Sie fordern nun wie wir eine Universaldienstverpflichtung für das Breitbandinternet von erst einmal 6 Megabit
pro Sekunde. Glückwunsch dazu!
Auch die SPD hat sich in letzter Minute bewegt und
will ab 2013 einen Rechtsanspruch auf schnelles Internet. Auch sie hat eingesehen, dass der LTE-Mobilfunk
keine lückenlose Grundversorgung leisten wird.
Doch wie es aussieht, will die Union sich nicht gegen
die FDP durchsetzen. Sie halten weiter den längst gescheiterten freien Wettbewerb hoch
({3})
und verhindern eine Verpflichtung der Unternehmen. Sie
haben zu verantworten, dass sich Deutschland beim
schnellen Internet gerade einmal noch im Mittelfeld der
europäischen Länder bewegt, dass ganze Landstriche in
ihrer Entwicklung gebremst werden
({4})
und Menschen von der virtuellen Außenwelt abgeschnitten sind. Zwischen dem Reichen und dem Armen ist es
die Freiheit, die unterdrückt, und das Recht, das befreit,
heißt es im Geiste Rousseaus.
({5})
In ihrem Marktwahn bleiben Union und FDP sogar
hinter den Vorgaben der EU zurück. Auf EU-Ebene steht
„funktionales Internet“ im Universaldienstkatalog. Leider ist der Begriff nicht näher definiert. Die Mitgliedstaaten sollen so länderspezifische Gegebenheiten berücksichtigen können. Doch was machen Sie von
Schwarz-Gelb daraus? Sie behalten den unbestimmten
Begriff bei!
Appelle an Unternehmen, freiwillige Verpflichtungen
einzugehen, bringen hier nichts. Da braucht man nur auf
den Frauenanteil in den Führungsetagen der Dax-Konzerne zu schauen.
({6})
Unternehmen sind keine Wohltätigkeitsvereine. Sie wollen möglichst viel Gewinn machen.
({7})
Sie haben kein Interesse daran, freiwillig ihr Geld in die
unrentablen ländlichen Gebiete hineinzupumpen.
({8})
Aber Sie als Regierung haben einen Versorgungsauftrag.
Die Gewinne der Unternehmen haben Sie nicht so zu inJohanna Voß
teressieren wie die Versorgung der Menschen. Das muss
Ihr oberstes Interesse sein.
({9})
Es ist auch Ihre Aufgabe, den Unternehmen die nötigen Vorgaben zu machen oder aber die Netze in die öffentliche Hand zu überführen. Sie müssen dafür sorgen,
dass alle Bürgerinnen und Bürger mit schnellem Internet
schleunigst grundversorgt werden. Oder hätten Sie Lust,
zwei Stunden zu warten, bis Ihr Virenschutzprogramm
endlich hochgeladen ist?
({10})
Glauben Sie den Unternehmen nicht alles!
Wir wollen den Universaldienst mit einer Übertragungsrate von erst einmal 6 Megabit pro Sekunde für
alle. Damit ist eine Grundversorgung wieder gewährleistet. Diese Vorgabe muss natürlich regelmäßig an den
Stand der Technik angepasst werden. Zumindest Sie von
den Grünen sollten unserem Antrag zustimmen. Unsere
Kernforderungen haben Sie ja übernommen.
({11})
Am besten wäre es, auch SPD und CSU stimmten zu;
dann hätten wir endlich die notwendige Mehrheit für
schnelles Internet. Ansonsten heißt es, noch einmal zu
warten oder auf den Bundesrat oder engere Vorgaben aus
der EU zu hoffen. Aber das wäre ein Trauerspiel für ein
Land, das sich für so technologiefreundlich und modern
hält.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Tabea Rößner,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, wie die
Jungfrau das Kind haben wir am Dienstagabend 100 Seiten mit Änderungsanträgen zum Telekommunikationsgesetz bekommen.
({0})
Das ist nicht nur inakzeptabel, unkollegial, sondern auch
völlig unnötig; denn die Frist der EU ist eh verpasst. Offensichtlich sollen Änderungen im Schweinsgalopp
durchgepeitscht werden. Ein Schelm, wer Böses dabei
denkt!
({1})
Was aber noch schlimmer ist: Das Verfahren trägt der
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und netzpolitischen
Bedeutung dieses Gesetzes in keiner Weise Rechnung.
Die Koalition gibt mit dieser Novelle eine Absage an das
Recht auf Breitband für alle und hat dabei noch mal eben
ein paar erforderliche Schutzrechte versenkt. Die FDP
macht das mit, nur um einen Universaldienst zu verhindern, den die CSU eigentlich wollte.
({2})
Deshalb frage ich mich: Worauf haben Sie sich denn
überhaupt geeinigt? Die Bürgerinnen und Bürger haben
jedenfalls gleich zweimal verloren. Armes Deutschland!
({3})
Während die FDP immer noch glaubt, der Markt regele alles, so beweist der Stand der Breitbandversorgung
genau das Gegenteil, Herr Rösler. Fast eine halbe
Million Haushalte verfügt nicht einmal über einen Internetanschluss mit einer Leistung von 1 Megabit pro Sekunde. Da frage ich mich, ob es Ihr Bundestrojaner über
eine solch langsame Leitung überhaupt in die Rechner
schaffen würde.
({4})
Im Ernst: Ohne mindestens 1 Megabit ist Homeoffice
- heute eine Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf - genauso wenig möglich wie die Direktvermarktung kleiner Betriebe. Grundstücke verlieren
ohne Breitbandanschluss an Wert. Aber vor allem
braucht Deutschland für die Wirtschaft eine leistungsstarke und moderne Infrastruktur.
({5})
Statt neuer Straßen brauchen wir den Ausbau der Datenautobahnen. Das ist sinnvoll.
({6})
Investitionen in Breitband ermöglichen eine klassische Win-win-Situation. Die OECD sagt, dass in den
wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten die Breitbandkommunikation ein Drittel des Produktivitätszuwachses
ausmacht. Hier geht es also nicht darum, irgendwelche
Geschenke zu verteilen, sondern es geht darum, die
Wirtschaftskraft Deutschlands zu stärken; denn Breitband ist ein Standortfaktor.
In Sachen Glasfaser spielt Deutschland höchstens in
der Kreisliga. Während in Schweden schon ein Viertel
der Haushalte über Glasfaser verfügt, es in Südkorea fast
100 Prozent sind, sind es in Deutschland nicht einmal
2 Prozent der Haushalte, die einen Glasfaser-Hausanschluss haben. Herr Lämmel, was für ein Breitbandbüro
Sie meinen, ist mir schleierhaft. Vielleicht meinen Sie
Ihr Politbüro.
({7})
Das ist kein gutes Zeichen und sagt einiges über die
Rolle, die das Internet beim einstigen Exportweltmeister
spielt. So wird das nichts mit der Hightech-Strategie von
Frau Merkel. Das ist eine Slow-Motion-Strategie.
Sie nennen immer nur Ziele, aber schweigen über den
Weg dahin. Sie hatten das Ziel, 2010 alle Haushalte mit
1 Megabit pro Sekunde anzuschließen. Das Ziel wurde
nicht erreicht. Jetzt haben Sie das Ziel, 2015 alle Haushalte mit einer Bandbreite von 50 Megabit pro Sekunde
zu versorgen. Wie dies aber ermöglicht und vor allem
wie dies finanziert werden soll, das bleibt Ihr Geheimnis.
Wenn Ihre Ziele aber so schnell wechseln wie die zuständigen Minister, dann kann man leider auch nicht
mehr erwarten.
({8})
Wir wollen den Glasfaserausbau schneller voranbringen. Daher brauchen wir neben der Verpflichtung zur
Verlegung von Leerrohren gezielte finanzielle Anreize
wie zum Beispiel die Förderung von Open Access.
Für eine Grundversorgung fordern wir einen Universaldienst. Jeder Haushalt soll ab 2013 ein Recht auf einen Anschluss mit einer Bandbreite von 6 Megabit pro
Sekunde haben. Das ist übrigens die Bandbreite, über die
die Mehrheit der Bevölkerung jetzt schon verfügt. Damit
ist unser Vorschlag auch EU-rechtskonform. Dass er juristisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll ist, haben
wir in einem Gutachten überprüfen lassen. Damit haben
wir die Hausaufgaben gemacht, deren Erledigung man
eigentlich von der Koalition hätte erwarten müssen.
({9})
Mit Ihrem Gesetzentwurf werden die weißen Flecken sicherlich nicht geschlossen werden.
({10})
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Verbraucherschutz sagen. Das groß angekündigte Versprechen
einer kostenlosen Warteschleife wird nicht gehalten.
({11})
Stattdessen gibt es ein mehrstufiges Kostenmodell. Nur
die ersten zwei Minuten sollen für Anrufer kostenfrei
sein. Dann werden einige Anbieter die Leute in der
Schleife warten lassen. Schließlich gehört das bei einigen Anbietern zum Geschäftsmodell. Wir fordern, dass
Warteschleifen ohne Wenn und Aber kostenfrei sein
müssen.
({12})
Nun zu den Tarifkonditionen: Wir vermissen einen
verbraucherfreundlichen Ein-Jahres-Grundtarif und ein
einmonatiges Sonderkündigungsrecht. Aktuell stehen
die Verbraucherinnen und Verbraucher vor einem
Dschungel an Tarifen mit vielen Tücken im Kleingedruckten. Hier muss mehr Transparenz herrschen.
Zusammenfassend kann ich sagen: Die Bundesregierung setzt mit dieser Vorlage die Vorgaben europäischer
Richtlinien zur Telekommunikation zwar um, leider aber
auch nicht mehr. Dabei hätten Sie die Chance gehabt,
mit uns gemeinsam ein modernes und zukunftsgerichtetes Gesetz vorzulegen und Breitband für alle zu ermöglichen. Schade, dass Sie das nicht wollen!
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun die Kollegin Claudia Bögel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, es
stimmt. Wir haben es uns nicht einfach gemacht. Wir haben lange beraten.
({0})
Mit der heute vorliegenden Novelle liegt jedoch ein
neuer Meilenstein in der Erfolgsgeschichte des TKG zur
Beratung vor.
({1})
Wir haben das Gesetz an vielen Stellen zum Nutzen
der Verbraucher und zum Nutzen der Wirtschaft in unserem Lande geändert und ergänzt. Lassen Sie mich in
diesem Zusammenhang nur einmal die kostenlosen Warteschleifen erwähnen, die Preisansagepflicht bei Callby-Call-Telefonaten sowie die Transparenz und Kontrolle vertraglich vereinbarter Übertragungsgeschwindigkeiten. Wir haben so Planungssicherheit für investierende Unternehmen geschaffen. Wir haben das wichtige
Thema Netzneutralität hervorgehoben. Wir haben das
Gesetz ergänzt durch die Öffnung alternativer und Bundesinfrastrukturen.
({2})
Durch das sogenannte Microtrenching beschleunigen
wir den Netzausbau, da die Verlegetechniken dadurch
einfacher und kostengünstiger werden.
Viele zweifeln in der gegenwärtigen Zeit an den positiven Effekten der marktwirtschaftlichen Ordnung. Die
Fraktion der Linken will sie sogar abschaffen. Dabei beweist das TKG, dass ein Monopol schrittweise in den
Wettbewerb überführt werden kann - und das mit fundierten und greifbaren Vorteilen für alle.
({3})
Bei der Zahl der Breitbandanschlüsse liegen die Deutsche Telekom AG und die Wettbewerber fast gleichauf.
Mit dem heutigen Gesetz setzen wir diesen Erfolgskurs
fort.
99 Prozent der Haushalte in Deutschland können bereits das Internet mit 1 000 Kilobit pro Sekunde nutzen.
Doch die Technik schreitet voran. Wer hätte vor 10 oder
15 Jahren schon geahnt, dass sich das Medium Internet
so schnell fortentwickeln würde? Die Zeit wird kommen, in der wir Datenautobahnen benötigen werden, die
50- bis 100-mal soviel Daten transportieren können.
Auch die Nachfrage nach der mobilen Nutzung von
schnellem Internet nimmt ständig zu. Das wirtschaftliche Kernanliegen dieses Gesetzes ist es, solche neue,
hochmoderne Netzinfrastruktur mit Mitteln des Marktes
voranzubringen.
Wir haben bei den parlamentarischen Beratungen intensiv diskutiert, wie wir Datennetze der nächsten Generation auch im ländlichen Raum durchsetzen können.
Manche wollen die flächendeckende Versorgung mit Datenautobahnen zur Staatsaufgabe machen, sozusagen
eine sozialistische Zwangsversorgung vollziehen.
({4})
Die Ausbaukosten eines solchen Universaldienstes von
bis zu 90 Milliarden Euro sollen dann auf alle Bundesbürger umgelegt werden. Dieser Weg ist ungerecht,
falsch und exorbitant teuer - für jeden!
({5})
Unternehmen, die sich gerade am Markt etablieren
konnten, würden aufgrund dieser Maßnahmen kapitulieren müssen. Arbeitsplätze gingen verloren.
Das Reden über staatlich organisierte Investitionen ist
ein Investitionshemmnis ersten Ranges.
({6})
Es lässt den gut entwickelten Wettbewerb sofort in eine
Schockstarre verfallen. Einen Universaldienst jetzt als
Instrument anzukündigen, würde die Investitionspläne
aller TK-Unternehmen auf der Stelle einfrieren. Wir dürfen hier nicht die Zwangsbeglückung eines jeden mit
schnellem Internet fordern. Das ist falsch.
({7})
Wenn der Staat Bandbreiten für das Internet diktiert,
dann diktiert er auch die Bedürfnisse seiner Bürger.
Denn Festnetze können eben nicht an wachsende Bedürfnisse dynamisch angepasst werden. Wer heute also
eine Grundversorgung mit 2 000 Kilobit als Universaldienst fordert, der verhindert Investitionen in die Datenautobahnen der Zukunft.
({8})
Die Branche, sowohl das führende TK-Unternehmen
als auch die Wettbewerber, fordert Planungssicherheit
und Erleichterungen für den marktgetriebenen Ausbau.
Genau das haben wir in dieser TKG-Novelle umgesetzt.
Wir haben in den Grenzen des Verfassungsrechts und
des europäischen Rechts alle Möglichkeiten ausgereizt,
um die Ausbaukosten zu senken. Ich bin davon überzeugt, dass wir auf diesem Weg auch im ländlichen
Raum einen raschen Ausbau vollziehen werden.
({9})
Staatlicher Zwang darf nicht der Startpunkt einer
Strategie zur Versorgung des ländlichen Raumes sein,
sondern kann allenfalls ihr Schlusspunkt sein. Ich appelliere an die Bundesländer, sich ebenfalls für diese Rangfolge zu entscheiden. Nur so können wir gravierende
Kostensteigerungen für alle Internetnutzer und Fehlinvestitionen in der Fläche vermeiden.
Vielen Dank.
({10})
Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon
überraschend, dass das Telekommunikationsgesetz heute
überhaupt auf der Tagesordnung steht. Sie bezeichnen es
als Meilenstein. Über Meilensteine kann man aber ziemlich schnell stolpern.
({0})
Die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes
ist in den vergangenen Monaten zur unsäglichen Hängepartie geworden; das bezeichnet sinnbildlich den Zustand dieser Koalition. Angesichts des ganzen Hin und
Her können die Verbraucherinnen und Verbraucher fast
schon froh sein, dass das Gesetz heute im Plenum behandelt wird.
Der große Wurf ist das Gesetz trotzdem nicht geworden, anders als am Anfang vollmundig versprochen. Natürlich bringt es kleine Verbesserungen für die Verbraucher; aber gemessen an den Problemen, denen die
Verbraucher tagtäglich gegenüberstehen, kann man sagen: Das ist nur gehüpft und eben nicht gesprungen.
({1})
Unsicherheiten, Ärgernisse und Abzocke werden nicht
der Vergangenheit angehören; sie gehören weiterhin zum
Alltag. Ich nenne einige Beispiele:
Internetverträge: Es wird weiterhin Menschen geben,
deren Verträge vom bisherigen Internetanbieter gegen
ihren Willen gekündigt werden und die dann einen Vertrag bei einem anderen Internetanbieter bekommen, egal
ob sie ihn wollten und ob sie ihn überhaupt abgeschlossen haben. Jedes Jahr sind viele Menschen von solchen
ungewollten Anbieterwechseln betroffen. Es wäre so
einfach, diese unsägliche Praxis zu unterbinden: Man
müsste nur verpflichtend die Kündigung der Internetverträge in Schriftform vorschreiben, so wie wir, die SPDBundestagsfraktion, es in unserem Antrag gefordert haben.
({2})
Sie haben in letzter Minute versucht, vieles nachzubessern; aber leider haben Sie es hier versäumt. Deswegen wird es weiterhin den Ärger bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern geben.
Ein gewollter Wechsel zu einem Internetanbieter
bleibt dagegen unter Umständen schwierig. Sie haben
jetzt zwar auf den Weg gebracht, dass der Wechsel des
Anbieters innerhalb eines Tages vollzogen werden soll,
aber haben vergessen, die Nichteinhaltung zu sanktionieren. Das ist ungefähr so, als wenn man sagen würde: „Du
darfst nicht über eine rote Ampel fahren, aber du kriegst
keinen Punkt und keinen Strafzettel, wenn du es doch
tust. Dann gucken wir einmal, wer sich daran hält.“ Sie
wollten das Richtige tun und regulativ wirken, aber Sie
hatten Angst vor Ihrer eigenen Courage und sind auf halbem Wege stehen geblieben.
({3})
Stattdessen hoffen Sie einmal mehr, dass sich der Markt
und die Unternehmen selbst regulieren und sich die Probleme von alleine in Luft auflösen. Das wird aber nicht
passieren; das kann man schon heute verraten.
Internetgeschwindigkeit: Auch weiterhin wird es
möglich sein, dass einem Kunden bei Abschluss eines
Vertrages Bandbreiten versprochen werden, die er nach
Vertragsabschluss aber nie zur Verfügung haben wird.
DSL-Anbieter versprechen 6 000 oder 16 000, ja sogar
50 000 Kilobit pro Sekunde - das bewerben sie -, aber
nach Vertragsabschluss steht den meisten Bürgerinnen
und Bürgern tatsächlich nur eine geringere Internetgeschwindigkeit zur Verfügung. Jetzt steht im Gesetzentwurf nur, dass der Anbieter seine Kunden über eine
mögliche Geschwindigkeitsabweichung informieren
muss.
Ich fand es schon überraschend, heute Morgen im
Handelsblatt zu lesen, dass es ein Gericht gibt - das
Landgericht Bonn -, das einem großen, etablierten Telekommunikationsanbieter seine irreführende Werbung für
eine Internetflatrate untersagt: Die Information über die
Drosselung der Datengeschwindigkeit ab einem bestimmten übertragenen Datenvolumen konnte der Verbraucher nämlich nur mühsam über einen umständlichen
Internetpfad finden. Sie belassen es weiterhin bei dieser
Situation; der Verbraucher wird weiterhin im Regen stehen gelassen.
({4})
- Doch, das stimmt. - Den Verbrauchern muss vertraglich eine Mindestgeschwindigkeit zugesichert werden
und ein Sonderkündigungsrecht für den Fall eingeräumt
werden, dass diese nicht eingehalten wird. So steht es in
unserem Antrag, allerdings nicht in Ihrem Gesetzentwurf.
Kostenfallen im Mobilfunk: Ich habe mich gestern
Morgen fast schon gefreut, als ich Ihren geänderten Gesetzentwurf gelesen habe. Man konnte denken: Was auf
EU-Ebene Usus ist, nämlich ein Kostenairbag, das
kommt auch unseren Verbrauchern hier zugute. Aber leider ist die entsprechende Regelung in Ihrem Gesetzentwurf nur als Kannregelung formuliert. Also gibt es keine
Rechtssicherheit für den Verbraucher.
Man kann sich viel über den mangelnden Datenschutz
im Internet beklagen. Es reicht aber nicht aus, wenn eine
Verbraucherschutzministerin einer Firma in den USA einen Besuch abstattet und sich dann ärgert, dass sie nicht
darüber informiert wurde, dass dieses Unternehmen in
Zukunft ein umfassendes und öffentliches Privatarchiv
seiner Nutzer, vom Babyfoto bis zur Traueranzeige, aufbauen will: Es will alles einsammeln, was das Leben
ausmacht. Sie müssen nicht nur ankündigen, sondern
auch tatsächlich handeln.
({5})
Da bleibt diese Regierung in der Warteschleife, der Verbraucher bleibt im Regen stehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Georg Nüßlein für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Das
TKG war in der Tat eine schwierige Geburt. Man könnte
es sich jetzt leicht machen und sagen, dass das auch der
Diskussion rund um das Thema Euro geschuldet ist,
({0})
das uns momentan wie kein anderes Thema bindet. Das
ist aber natürlich nur die halbe Wahrheit.
Fakt ist, dass ich im Rahmen der Debatte erleben
musste, wie schwer sich Ministerien tun, die nicht unmittelbar mit der Thematik befasst sind, über den Tellerrand ihrer Referatszuständigkeit zu blicken.
({1})
Ich musste auch feststellen, dass dieses Thema
schwierig ist, weil es eigentlich um etwas Neues geht,
nämlich um den Ausbau einer Infrastruktur im Wettbewerb, und zwar einer Infrastruktur, die sich dynamisch
entwickelt. Das ist ein Novum. Und da finde ich es
schon einigermaßen unverschämt, wenn sich die Linke
hier hinstellt und versucht, uns Lehren zu erteilen.
({2})
Ich erinnere daran, dass sich in der DDR - das ist ja das
Referenzfeld, auf dem die Linken gezeigt haben, was sie
können - zehn Familien einen Telefonanschluss geteilt
haben,
({3})
und zwar zu Zeiten, als es bei uns in der BRD ganz normal war, zu Hause einen Telefonanschluss zu haben. Das
ist die Realität.
({4})
Da sehen Sie, wie weit man mit Ihrer ständig vor sich
hergetragenen Staatswirtschaft kommt. Ich bitte darum,
auch das einmal zu berücksichtigen und hier im Plenum
ein bisschen kleinlauter zu sein, wenn Sie schon Ratschläge erteilen.
({5})
Aber, meine Damen und Herren, es gibt neben der
Problematik, eine sich dynamisch entwickelnde Infrastruktur im Wettbewerb ausbauen zu wollen, auch die
Problematik, dass man Verbraucherschutz gegenüber
den Investoreninteressen abwägen muss; denn wir wollen natürlich nicht das eine zulasten des anderen ausspielen. Auch da muss man wohl abwägen. Ich meine, dass
uns das in diesem Gesetz gut gelungen ist.
Wenn wir diese Diskussion jetzt an der Stelle auf das
Thema Universaldienst verengen, dann machen wir etwas falsch. Ich habe im Laufe der Debatte zwischen den
Berichterstattern festgestellt, dass die Diskussion über
den Universaldienst für viele einfach zu früh kam.
({6})
Wir haben zu früh über die Thematik diskutiert, wie man
die weißen Flecken füllt - zu früh deshalb, weil der LTEAusbau erst die Voraussetzungen für die Diskussion liefern wird und weil wir erst nach dem Abschluss des
LTE-Ausbaus sehen können, Herr Kollege Dörmann,
welche Flecken weiß bleiben, und dann überlegen müssen, wie wir sie füllen. Denn eine ganz kleine Minimallösung mit 1 Megabit, so wie Sie es im Ausschuss diskutiert haben, hilft natürlich niemandem.
({7})
Ich meine aber durchaus, dass man am Ende eine Diskussion über die Frage führen muss, wie man den ländlichen Raum versorgt. Es geht nicht an, meine Damen und
Herren, dass wir sagen: „Den hinterletzten Forsthof
muss man nicht versorgen“, und dass dann einfach Gemeinden mit 1 500 Einwohnern zum hinterletzten Forsthof erklärt werden. Das halte ich für nicht akzeptabel.
Wir wollen eine volle Versorgung für den ländlichen
Raum; denn das bietet für den ländlichen Raum eine besondere Chance.
({8})
Die Infrastrukturnachteile, die der ländliche Raum seit
vielen Jahren hat, kann man über eine Breitbandversorgung ausgleichen. Deshalb müssen wir weiter mit Dynamik an dieser Thematik arbeiten, damit die weißen Flecken gefüllt werden.
Ich halte den Vorschlag, noch einmal mit der KfW
über die Frage zu reden, ob man vielleicht über Zinsverbilligungen von Investorendarlehen an der Stelle weiterkommt, für einen durchaus guten Vorschlag. Ich weiß,
dass wir über das Thema Universaldienst an dieser Stelle
auch in absehbarer Zeit wieder diskutieren werden. Davon bin ich überzeugt.
({9})
Aber bis zu diesem Zeitpunkt haben wir mit dieser Novelle hervorragende Voraussetzungen dafür geschaffen,
dass der Ausbau kostengünstiger und damit schneller
und auch flächendeckender vorangeht. Ich bitte, das
auch einmal anzuerkennen,
({10})
und freue mich ausdrücklich, Herr Dörmann, dass Sie
das in Teilen auch gemacht haben.
({11})
Es ist nämlich schon entscheidend, dass wir über die
Verpflichtung der Hauseigentümer zur Zulassung eines
Hausstichs jetzt geregelt haben, dass, wenn ein Breitbandkabel in einer Straße gelegt wird, notfalls auch gegen den Willen der Hauseigentümer jedes einzelne Haus
vorsorglich angebunden und damit zusätzliche Kosten
verhindert werden können.
Es ist entscheidend, dass wir geregelt haben, dass bei
der Inhouse-Verkabelung die Infrastruktur, die im Haus
bereits vorhanden ist, auch von Dritten und anderen
Wettbewerbern genutzt werden kann. Es ist entscheidend, dass wir Informationen darüber offenlegen, wo bereits Infrastruktur vorhanden ist. Dabei handelt es sich
um die große Innovation „Breitbandatlas“, die der Kollege Lämmel schon angesprochen hat. Es ist aber ebenso
entscheidend, dass man die erhaltenen Informationen intelligent nutzt. Insbesondere geht es um die Frage: Wie
vermeiden wir den Aufbau von Parallelstrukturen?
({12})
Wie kann man sicherstellen, dass Infrastruktur, die bereits vorhanden ist, auch von anderen genutzt werden
kann? Dazu haben wir ein intelligentes Verfahren in den
parlamentarischen Prozess eingebaut, nämlich ein
Schiedsgerichtsverfahren, bei dem letztendlich alle Inhaber von Infrastruktur gezwungen werden können, sich an
einen Tisch zu setzen und über die Frage zu verhandeln,
wie und zu welchen Konditionen sie diese Infrastruktur
zur Verfügung stellen.
({13})
Dass man das nicht verpflichtend gestalten kann, ist
klar. Der Schutz des Eigentums ist ein hohes Gut, nicht
nur in der Verfassung, sondern gerade auch für diese
Koalition. Ich glaube, dass das Verhandeln darüber Etliches bewegen wird. Ich halte es ausdrücklich für richtig,
dass der Bund seine Infrastruktur offensiv zur Verfügung
stellt. Das Bundesverkehrsministerium hat nach - wie
ich einräumen muss - längerer Diskussion gesagt: Wir
stellen die Infrastruktur des Bundes zu Lande und zu
Wasser zur Verfügung, und zwar verpflichtend. Das
halte ich für einen ganz wesentlichen Schritt.
Zum Thema Micro- bzw. Minitrenching. Es bietet
sich da die Chance einer kostengünstigen Verlegung von
Glasfaserleitungen. Das haben wir ins Gesetz geschrieben und stellen damit die entsprechenden Regelungen
über die sonst geltenden DIN-Normen. Das ist ebenfalls
ein wichtiger Ansatz, weil ich auch in diesem Punkt der
Überzeugung bin, dass das für einen kostengünstigen
Ausbau der Infrastruktur genutzt wird.
Ich weiß, dass es politisch viel spannender ist, über
die Fragen zu diskutieren, bei denen es nicht gelungen
ist, eine Antwort zu finden. Die Opposition sucht natürlich eine Angriffsfläche. Ich gebe zu, dass das Gerangel
um die Universaldienstverpflichtung eine ideale Gelegenheit dazu bietet. Ich bitte aber darum, anzuerkennen,
wie sehr der vorliegende Gesetzentwurf geeignet ist, den
Ausbau von Breitband insgesamt, aber auch im ländlichen Raum voranzubringen.
({14})
Bitte glauben Sie mir, dass wir wissen, dass es am
Ende - wenn man so will - ein Marktversagen geben
wird. Aber vermutlich wird es gar kein Marktversagen
sein, weil die Märkte in diesem Bereich durchaus funktionieren. Allerdings wird es entlegene Landstriche geben, die man über den Wettbewerb niemals versorgen
kann, weil sich das nicht rentiert.
({15})
Lassen Sie uns in den nächsten Monaten konstruktiv darüber diskutieren, was man tun kann, um diese Landstriche möglichst marktnah in die Versorgung einzubinden
und um die Anzahl der sogenannten weißen Flecken auf
ein Minimum zu reduzieren.
Lassen Sie uns zum Schluss über die Frage diskutieren, wie wir unter Einbeziehung des Themas Universaldienst den letzten Lückenschluss hinbekommen. Das
halte ich für vernünftig. Ich bin optimistisch, dass mit
LTE das erreicht wird, was die Bundesregierung mit ihrer Strategie voranbringen möchte. Ich bin davon überzeugt, dass uns das schnell gelingen wird.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Halina Wawzyniak für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren über eine Novellierung des
Telekommunikationsgesetzes, für die am Dienstagabend 117 Seiten Synopse mit unzähligen Änderungsanträgen vorgelegt wurden, die Mittwoch früh in den Ausschüssen beraten wurden. Allein dieses Verfahren, allein
diese Art des Umgangs mit dem Parlament würde es
rechtfertigen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen, das Gesetz abzulehnen.
({0})
Eine Novelle hat eigentlich den Zweck, ein Gesetz
den veränderten Erfordernissen anzupassen,
({1})
bestehende Fehler zu korrigieren oder auch ein paar
Weichen neu zu stellen. Bedarf hätte es dafür beim TKG
reichlich gegeben. Ich nenne nur die Stichpunkte Vorratsdatenspeicherung und Recht auf anonyme Kommunikation. Es hätte zum Beispiel nahegelegen, das TKG
vorausschauend auf Höhe des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Vorratsdatenspeicherung zu bringen und
alle anfallenden Daten und ihre Speicherfristen auf ein
absolutes Minimum zu beschränken.
({2})
Diese Chance hat die Koalition jedoch nicht genutzt.
Im Gegenteil: Sie haben mit den schon erwähnten Änderungsanträgen zukünftigen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung den besten Boden bereitet.
({3})
Was konkret schon jetzt bedeutet, möglichst viel möglichst lange zu speichern.
({4})
Einig werden muss sich die Koalition nur noch in der
Frage, welche der Sicherheitsbehörden auf diese Daten
zugreifen dürfen. Diese Novelle hat nichts mit einer voHalina Wawzyniak
rausschauenden Politik zu tun und erst recht nichts mit
einer bürgerrechtlichen Politik.
Zum Breitbanduniversaldienst wurde das Notwendige
bereits gesagt. Deswegen beschränke ich mich auf eine
Kernfrage des offenen und freien Internets, nämlich auf
die gesetzliche Festschreibung der Netzneutralität, die
die Linke und die anderen Oppositionsfraktionen fordern.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung kam zunächst
nicht einmal das Wort „Netzneutralität“ vor. Weil das der
Koalition vielleicht zu peinlich war - dann wäre ihr wenigstens einmal etwas peinlich gewesen -, legte sie im
Rahmen der 117-seitigen Synopse hastig einen Änderungsantrag vor, der den Eindruck vermitteln sollte, ihr
läge etwas an einem freien Internet. Mit einer optionalen
Rechtsverordnung - ich kann, ich muss aber nicht - soll
eine Ungleichbehandlung der Nutzerinnen und Nutzer in
Form von Verschlechterungen und Verlangsamungen des
Datenverkehrs angeblich verhindert werden. Wer genau
liest, stellt jedoch fest, dass nur willkürliche Verschlechterungen und ungerechtfertigte Verlangsamungen gemeint sind. Für unwillkürliche Verschlechterungen und
vermeintlich gerechtfertigte Verlangsamungen bleiben
Tür und Tor weiterhin geöffnet. Was unwillkürlich und
gerechtfertigt ist, bleibt unklar. Deshalb ist festzustellen:
Das ist eine Mogelpackung, das ist ein Placebo zur Beruhigung, und das lehnen wir ab.
({5})
Welche Folgen hat Ihr Gesetzentwurf konkret? Wenn
es nach dem Willen von Telekom und Co. geht, wird es
in Zukunft verschiedene Qualitätsstufen, die mit zusätzlichen Kosten verbunden sind, für den Internetzugang
der Bürgerinnen und Bürger geben. Das hätten Sie mit
der TKG-Novelle verhindern können, haben es aber
nicht. Kurz gesagt: Es kann passieren, dass zukünftig extra gezahlt werden muss, wenn man Online-Videodienste oder Internettelefonie in guter Qualität nutzen
will.
Ihre Gesetzesnovelle ist das Einfallstor für ein ZweiKlassen-Internet.
({6})
In der ersten Klasse können Besserverdienende dann alle
gewünschten Dienste nutzen. In der zweiten Klasse gibt
es für Einkommensschwache und vor allem deren Kinder nur noch das, was die Telekom und andere für wenig
Geld anzubieten haben. Damit machen Sie ganz nebenbei zum wiederholten Mal den Zugang zu Wissen und
Teilhabe abhängig vom Geldbeutel. Das ist ungerecht,
und das ist falsch.
({7})
Sich dessen bewusst zu werden, bedeutet dann aber auch
zu erkennen: Die Frage der Netzneutralität ist kein
Thema allein für Nerds. Es handelt sich vielmehr um
eine für die gesamte Gesellschaft zentral wichtige Frage.
({8})
Die Probleme hören aber nicht beim Internetzugang
auf. In der Debatte um die Netzneutralität hat TelekomChef Obermann regelmäßig gefordert, sogenannte Qualitätsklassen einzuführen. Das heißt nichts anderes, als
dass zukünftig bestimmte Dienste vor anderen bevorzugt
werden. Netzbetreiber - nehmen wir beispielsweise wieder die Telekom -, die auch als Inhaltsanbieter agieren,
werden ihre eigenen Inhalte schnell und in guter Qualität
anbieten und fremde Inhalte ausbremsen und blockieren.
Denjenigen, die unabhängig Inhalte zur Verfügung stellen möchten - Blogger, NGOs oder Internet-Start-upUnternehmen -, bleibt nur noch, sich in die Qualitätsklassen der Netzbetreiber mit Extragebühren einzukaufen. Nur so können Sie mit deren Qualität konkurrieren.
Damit beerdigen Sie nicht nur die Informationsfreiheit,
sondern die Innovationsfähigkeit des Internets gleich
mit. Wie die marktgläubige FDP dabei mitspielen kann,
ist mir schleierhaft, aber nicht mein Problem.
Wir wollen das nicht. Wir wollen nicht, dass das Internet willkürlichen Eingriffen, von wem auch immer,
ausgesetzt wird. Der freie und gleichberechtigte Zugang
zum Internet gehört zur Daseinsvorsorge einer demokratischen Gesellschaft. Das steht richtigerweise auch in
unserem Parteiprogramm.
({9})
Daher fordert die Linke eine gesetzliche Garantie für die
Bürgerrechte auch im Internet. Das geht nur mit einer
gesetzlich festgeschriebenen Netzneutralität. Dafür steht
die Linke.
Die TKG-Novelle ist ein netzpolitisches Armutszeugnis der Bundesregierung. Die Koalition hat sich offensichtlich damit abgefunden, ihre Regierungstätigkeit
auch in diesem Bereich weitgehend einzustellen. Bei
Geodatendiensten und beim Datenschutz in sozialen
Netzwerken gibt sich die Bundesregierung mit Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zufrieden. Bei der Netzneutralität stellt sie sich einfach tot. Eine souveräne Regierungstätigkeit sieht anders aus. Eine Netzpolitik, die
auf die Stärkung von Bürgerrechten, den Erhalt eines
freien Internets und den Ausbau von Zugangsgerechtigkeit setzt, sieht auch anders aus.
Für die Linke ist klar: An einer gesetzlich festgeschriebenen Netzneutralität führt kein Weg vorbei.
({10})
Genau das steht in unserem Antrag. Diesem können Sie
ja zustimmen.
Danke.
({11})
Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister, wenn in der Agenda 2020 der
EU über den Breitbandausbau steht, dass alle Haushalte
in Europa über Anschlüsse mit mindestens 30 Megabit
pro Sekunde und mehr als die Hälfte der Haushalte sogar
über Anschlüsse mit mindestens 100 Megabit pro Sekunde verfügen sollen, dann ist das, was Sie hier heute
vorlegen, eine uninspirierte dünne Suppe. Dies lässt sich
auch nicht durch alle Innovationsrhetorikphrasen dieser
Welt überdecken.
({0})
Die entscheidenden Infrastrukturen der Zukunft sind
nicht mehr aus Beton und Asphalt, sondern es sind die
neuen Kommunikationsnetze. Sie sind essenziell für unsere moderne Wissens- und Informationsgesellschaft,
und sie sind essenziell für alle Menschen in diesem
Land. Erzählen Sie einmal den Millionen Abgehängten,
die bis heute immer noch keinen adäquaten Zugang zum
Netz haben, von den Anreizen, die Sie jetzt implementieren wollen, und von Ihrer Aussage, dass es eigentlich
gar keine weißen Flecken mehr gibt. Das geht vollkommen an der Realität von ganz vielen Menschen in diesem
Land vorbei. In einem Land wie der Bundesrepublik
muss gelten: So selbstverständlich wie die Versorgung
mit Wasser, Strom, Post und Telefon, so selbstverständlich muss der Staat den Bürgerinnen und Bürgern den
Zugang zum Internet gewährleisten.
({1})
Das ist immanenter Bestandteil der Daseinsvorsorge im
21. Jahrhundert. Deswegen brauchen wir eine Universaldienstverpflichtung. In dieser zentralen Zukunftsfrage
versagt Ihr Gesetzentwurf auf ganzer Linie.
Da Kollege Altmaier anwesend ist, spreche ich Folgendes gerne an: Wir haben es offenbar einem Mikrobloggingdienst zu verdanken, dass nun auch der Parlamentarische Geschäftsführer der Union an diesen
Debatten teilnimmt; das ist schön.
({2})
Aber ein zwitschernder Altmaier macht noch keinen
netzpolitischen Frühling bei der Union. Auch in diesem
Politikbereich gilt: Was zählt, ist auf dem Platz. Was
zählt, ist politische Substanz.
({3})
Man kann die Politik der Uhls, Kauders und ähnlicher
Kaliber nicht einfach wegtwittern. Entscheidend ist, wie
Sie sich als Gesetzgeber verhalten.
({4})
Dieser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Kollege Altmaier, ist unter netzpolitischen Gesichtspunkten kein Ruhmesblatt, ganz im Gegenteil. Es ist eine weitere Dokumentation des
Versagens der Union in dem Punkt, den Bürgerrechten in
der digitalisierten Gesellschaft einen angemessenen
Raum zu geben. Es ist nur mit Desinteresse und einer gewissen Antihaltung zu erklären, dass Sie bei der Neuregelung des Telekommunikationsgesetzes, also bei der
mit Spannung erwarteten netzpolitischen Baustelle dieses Jahres, im Hinblick auf Daten- und Verbraucherschutz gar nichts liefern.
Thema Datenschutz. Durch das bekannt gewordene
Papier der Staatsanwaltschaft München wissen wir, dass
sensible Kommunikationsdaten öfter länger gespeichert
werden, als es für legitime Zwecke erforderlich ist. Deswegen war in einer früheren Fassung des Gesetzentwurfs
eine Speicherdauer von drei Monaten festgeschrieben.
Das hat die Union in letzter Sekunde rausgekegelt.
Ganz ähnlich verhält es sich bei der E-Privacy-Richtlinie. Sie haben gestern im Wirtschaftsausschuss vom
Bundesdatenschutzbeauftragten gehört, dass wir gesetzliche Regelungen brauchen. Aber in Ihrem Entwurf findet sich dazu rein gar nichts. - Kollege Höferlin würde
gerne etwas fragen, Herr Präsident.
Bitte schön, Herr Kollege Höferlin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege von
Notz, Sie haben gerade angesprochen, dass die Speicherbefristung aus dem Gesetzentwurf gestrichen wurde. Ich
gehe davon aus, dass Sie ihn ordentlich gelesen haben.
Es geht dabei um § 97 Abs. 4, also unter anderem um die
Speicherung von Abrechnungsdaten zwischen Diensteanbietern. Was Sie angesprochen haben, betrifft § 97
Abs. 3. Darin geht es um das Verhältnis der Telekommunikationsanbieter zu ihren Kunden. Dort ist alles wie bisher: Die Daten sind so schnell wie möglich zu löschen.
Sie beziehen sich aber anscheinend auf das Verhältnis
zwischen den Diensteanbietern. Das verstehe ich nicht
ganz.
Ich will Ihnen das gerne erklären.
Dort gibt es noch nicht einmal eine dreimonatige
Speicherfrist. Vielmehr müssen die Daten nach den allgemeinen Grundsätzen der Datensparsamkeit so schnell
wie möglich gelöscht werden.
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich den Gesetzentwurf ordentlich gelesen habe.
({0})
Allerdings war das Verfahren, das Sie allen zugemutet
haben, grottenschlecht und auch in handwerklicher Hinsicht unterirdisch.
({1})
Herr Minister, das war sicherlich auch für Sie unangenehm. Sie können uns gern einmal erzählen, wie es ist,
wenn die eigenen Leute die von Ihnen in Ihrem Entwurf
vorgeschlagenen Kernpunkte sozusagen in letzter Sekunde, zwölf Stunden vor den Beratungen, ablehnen.
({2})
Bezüglich der Speicherfirsten, Herr Kollege Höferlin,
wollten Sie eine Dreimonatsfrist implementieren. Das
liegt daran, dass es in diesem Bereich ein neues Problembewusstsein gibt. Wir wissen aufgrund vieler Skandale der Vergangenheit sowie durch das interne Papier
der Staatsanwaltschaft, dass die Möglichkeit der langen
Speicherdauer ausgenutzt wird und es auch ein massives
Interesse vonseiten der Sicherheitsbehörden gibt, darauf
zuzugreifen. Deswegen war die Intention der FDP, dies
zu beschränken, eigentlich sehr lobenswert.
({3})
Aber Sie haben sich in letzter Sekunden an dieser Stelle
herauskegeln lassen. Das ist das Versagen Ihrer Politik
im Bereich des Datenschutzes. Es tut mir herzlich leid,
das sagen zu müssen.
({4})
Es gibt einen weiteren Vorschlag des Bundesdatenschutzbeauftragten bezüglich des Wahlrechts von Telekommunikationskunden hinsichtlich der Speicherdauer
ihrer Daten. Davon ist im Gesetzentwurf nichts zu finden. Von den 50 Vorschlägen des AK Vorrat, der das gesamte Verfahren begleitet hat, haben Sie nichts übernommen - nicht eine einzige Regelung. Sie liefern
nichts. Sie verhindern geradezu einen zeitgemäßen Datenschutz.
({5})
Auch das immanent wichtige Thema der Netzneutralität wird von der Koalition links liegengelassen. Die
Netzneutralität - das ist hier bereits gesagt worden - ist
die zentrale Voraussetzung für ein freies, offenes und innovatives Netz. Es gibt sogar Leute unter Ihnen - zum
Beispiel die CSU in Bayern -, die das ganz ähnlich sehen. Trotzdem liefern Sie hier heute gar nichts. Eine der
entscheidenden Forderungen bei den Medientagen in
diesem Jahr war, dass die Netzneutralität gesetzlich gesichert wird. Sie aber liefern dazu nichts.
({6})
Mit Ihrer These, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, dass der Wettbewerb die Netzneutralität gewährleistet, liegen Sie falsch. Wie beim Breitbandausbau gibt es einfach zentrale Weichenstellungen, die der
Staat ordnungspolitisch gestalten muss. Denn erst die
Netzneutralität gewährleistet den freien Wettbewerb nicht umgekehrt.
Ich komme zum Schluss:
({7})
Wir haben in der Diskussion der letzten Monate und
mit unseren grünen Anträgen gezeigt, wie eine netzpolitische, datenschutzrechtliche Alternative zu Ihrer Politik
aussieht. Selbst nach Monaten intensiver Beratungen
kommen Sie hier ein paar Stunden vor Toresschluss mit
117 Seiten an Synopsen und Änderungsanträgen, die
selbst von Ihnen - das haben wir im Innenausschuss erlebt - noch nicht richtig durchgelesen und durchgearbeitet worden sind. Wie soll das auch funktionieren?
Sie haben jetzt an dieser Stelle die Möglichkeit zur
Neugestaltung des TKG.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich weiß.
Mal sehen, was es für Folgen hat, dass Sie das wissen.
({0})
Sie haben alle Chancen gehabt, netzpolitisch den richtigen Weg zu gehen. Sie haben es leider nicht hinbekommen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Manuel Höferlin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege von
Notz, nachdem Sie die Antwort eher dazu genutzt haben,
über den Minister zu reden, als meine Frage zu beantworten, muss ich auf das Instrument der Kurzintervention zurückgreifen. Die Frage des Datenschutzes - das
wissen Sie sehr wohl - ist in dem Gesetzentwurf sehr gut
beantwortet worden. Wir haben den Providern nämlich
gerade nicht vorgegeben, Daten für eine gewisse Zeit zu
speichern. Insofern ist der Vorwurf, den Sie machen,
haltlos und aus der Luft gegriffen.
Die Rechtslage entspricht übrigens genau dem, was
Rot-Grün in der letzten TKG-Novelle im Jahr 2004 auf
die Beine gestellt hat. § 97 Abs. 4, den Sie angreifen
- hier geht es um das Verhältnis von Provider zu Provider -, führt gerade nicht zu der von Ihnen kritisierten Situation, dass Daten auf Vorrat gespeichert werden. Im
Gegenteil: In § 97 Abs. 3 steht explizit, wie sich die Provider im Verhältnis zu ihren Kunden zu verhalten haben
und dass Kundendaten - darauf haben Sie sich in Ihrer
Rede bezogen - möglichst schnell zu löschen sind und
nur zu Abrechnungszwecken aufbewahrt werden dürfen.
Das heißt, in diesem Fall verändert sich nichts. Es gibt
explizit keine staatliche Pflicht zur Speicherung von Daten bei Telekommunikationsanbietern.
({0})
Herr Kollege, Sie haben die Möglichkeit zur Reaktion.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Höferlin, das, was Sie gesagt haben, wird durch Wiederholung nicht richtiger. Wie ich sehe, haben Sie ein Kompensationsbedürfnis. Das liegt daran, dass dieses Thema
gestern in den Ausschüssen nicht richtig beraten wurde,
weil es erst kurz vor Toresschluss auf die Tagesordnung
kam.
({0})
- Herr Kollege Jarzombek, Sie werden wohl das aushalten müssen, was ich auf die Kurzintervention erwidere.
({1})
- Ja. So viel Ruhe und Gelassenheit muss sein.
({2})
Herr Kollege Jarzombek, Herr Kollege Höferlin, ich
lese Ihnen etwas vor, bei dem es um genau diesen streitigen Punkt geht:
Zusätzliche Nahrung erhalten die Befürchtungen
dadurch, dass vor Kurzem ein sehr interessantes
Dokument bei heise aufgetaucht ist …
Gemeint ist das berühmte Nachforderungspapier aus den
Verhandlungen zwischen Union und FDP.
({3})
- Ein Nachforderungspapier, kennen Sie das gar nicht?
({4})
Dort heißt es:
Problem: Im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung ist die Frist für die Speicherung von Verkehrsdaten in § 97 Abs. 4 TKG-E … auf drei Monate begrenzt.
({5})
Damit hätten die Sicherheitsbehörden nur eine verkürzte Möglichkeit, die für die Rückverfolgung
dynamischer IP-Adressen zu einer Rufnummer notwendigen Verkehrsdaten von den Carriern zu erhalten.
({6})
Dies widerspricht den von CDU und CSU im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Schwerstkriminalität vorgesehenen
Regelungen zur sog. „Vorratsdatenspeicherung“.
({7})
- Hört! Hört!
({8})
Herr Höferlin, bei solchen Nachforderungspapieren knicken Sie ein wie ein Blatt im Wind.
({9})
Sie haben hier überhaupt nichts zu melden.
({10})
Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal glaubt man nicht, was man hier erlebt; so viel zum
Thema „Ruhe und Gelassenheit“.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wahrscheinlich haben wir Sie tatsächlich überfordert. Denn
wie sonst lässt sich erklären, dass Sie hier Redner spreDr. Erik Schweickert
chen lassen, die den Gesetzentwurf noch nicht einmal
gelesen haben?
({0})
Das ist ein Unding!
({1})
Frau Rößner, für Sie möchte ich noch einmal betonen:
Das Geschäftsmodell Warteschleife hat ein Ende. Sie
können nicht im Ausschuss sagen: „Die Lösung des Problems mit den Warteschleifen ist gut“
({2})
und sich dann hier hinstellen und sagen, nach zwei Minuten würde es immer noch eine Warteschleife geben.
Lesen Sie den Gesetzentwurf; dort stehen die Übergangsfristen. Man kann sehen, dass wir hier einen Turbo
eingebaut haben,
({3})
auch wenn Sie das vielleicht nicht kapieren. Ihnen muss
man wirklich sagen: Lesen Sie die Gesetzentwürfe vorher!
({4})
Wir stoppen die Abzocke mit kostenpflichtigen Warteschleifen bei Servicehotlines. Wir haben auch die
Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Anbietern geregelt,
sodass die Verbraucher nicht mehr morgens 2 Cent und
abends 1 Euro für einen Call-by-Call-Dienst zahlen,
ohne es zu wissen. Hier haben wir für Markttransparenz
gesorgt. Beim Anbieterwechsel waren wir diejenigen,
die dafür gesorgt haben, dass das bisherige Druckmittel
endlich weggefallen ist. Früher standen die Kunden, ob
Privatleute oder Unternehmen, oftmals im Regen, wenn
sie ihren Anbieter gewechselt hatten, weil es keine Möglichkeit gab, den Anschluss schnell umzustellen. Wir haben jetzt die Regelung getroffen, dass diese Umstellung
in Zukunft innerhalb eines Tages durchgeführt werden
muss.
({5})
Meine Damen und Herren, wir als christlich-liberale
Koalition legen heute mit der TKG-Novelle einen Meilenstein in der Verbraucherpolitik im Bereich der Telekommunikation vor.
({6})
Wir machen das, was Sie nicht hinbekommen haben,
und zwar im richtigen Gesetz und zum richtigen Zeitpunkt.
({7})
Herr Kollege Dörmann, ich habe genau zugehört, was
Sie gesagt haben. Wenn ich Ihre Worte in die Waagschale lege, dann höre ich heraus, dass Sie auf den Bundesrat zielen. Sehr geehrte Damen und Herren von der
SPD, ich fordere Sie auf, hinsichtlich der TKG-Novelle
im Bundesrat keine Betonpolitik zu betreiben, sondern
diesen Meilenstein zu stärken. Je schneller der Gesetzentwurf in Kraft tritt, umso besser ist es.
({8})
- Herr Kelber, ich spreche Sie jetzt nicht an, sonst stellen
Sie wieder eine Zwischenfrage; es ist immer das Gleiche.
Lesen Sie den Gesetzentwurf und erkennen Sie, dass
wir als christlich-liberale Koalition hier nach vorne gehen und die Punkte aufgreifen, an denen die Verbraucherinnen und Verbraucher abgezockt worden sind.
({9})
Wir sorgen dafür, dass es im Bereich der Telekommunikation einen Fortschritt gibt. Wir setzen den Rahmen,
ohne die Lösung vorzugeben. Das ist eine Politik für die
Menschen in den Städten und in den Ländern, das ist
eine Politik für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({10})
Deswegen ist dieser Gesetzentwurf aus verbraucherschutzpolitischer Sicht ein Meilenstein,
({11})
der uns im Bereich des Verbraucherschutzes nach vorne
bringen wird.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen ein beachtliches Hin und Her zwischen CDU, CSU und FDP erlebt.
Wenn wir uns heute anschauen, was dabei herausgekommen ist, dann müssen wir feststellen: Die Novellierung
des Telekommunikationsgesetzes ist aus netzpolitischer
Sicht ein Offenbarungseid.
Schwarz-Gelb fehlt der Mut, mit entschlossenen gesetzlichen Regelungen die digitale Spaltung in unserer
Gesellschaft zu verhindern. Es fehlt der Mut, die Grundlage für die Innovationskraft des Internets durch die gesetzliche Absicherung der Netzneutralität zu sichern. Es
fehlt Ihnen der Mut, hier ein entschlossenes Bekenntnis
für ein offenes und freies Netz deutlich festzuschreiben,
und zwar ein Netz für alle Menschen in dieser Gesellschaft.
({0})
Wir haben in den letzten Wochen das Phänomen erlebt, dass die CDU gerade an den Wochenenden immer
wieder sehr starke netzpolitische Signale ausgesendet
hat - ob durch Peter Altmaier in der FAZ oder jüngst
durch eine Videobotschaft, die auf YouTube zu finden
war. Ich zitiere Angela Merkel aus dem Videopodcast
von letzter Woche:
Und das Stichwort Netzneutralität ist für uns sehr
wichtig. Jeder Nutzer, egal was er verdient, welchen Bildungsgrad er hat, soll die Möglichkeit haben, den gleichen Zugang zum Internet zu bekommen. Es darf kein Internet erster und zweiter Klasse
geben.
({1})
Ganz ehrlich: Ich hätte es nicht schöner sagen können.
Aber was sind denn die Konsequenzen, wenn es hier
im Parlament zu Entscheidungen kommt? Welche Taten
folgen Ihren Worten? Wir haben hier heute einen Gesetzentwurf vorliegen, in dem keine Netzneutralität vorgesehen ist, durch den kein Universaldienst ermöglicht wird,
mit dem aber dafür gesorgt wird, dass die Datensammlungen ausgeweitet werden, und der zu keinen Verbesserungen im Verbraucherschutz führt. Sie leisten hier einen
Offenbarungseid.
({2})
Unsere Vorschläge zur Entwicklung der TKG-Novelle liegen seit Wochen auf dem Tisch. Wir fordern die
gesetzliche Verankerung der Netzneutralität und sprechen uns für Diskriminierungsfreiheit, Transparenz und
Mindestqualitäten sowie einen Universaldienst aus, um
eine flächendeckende Breitbandgrundversorgung zu erreichen und Lücken schnellstmöglich zu schließen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Blumenthal?
Ja, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Klingbeil, dass Sie die
Zwischenfrage gestatten. - Sie haben eben genau wie
der Kollege von Notz zum zweiten Mal wiederholt, dass
auch in der geänderten Fassung der TKG-Novelle keinerlei Aussagen zum Thema Netzneutralität getroffen
werden. Dass Kollege von Notz hier offenkundig Leseschwächen hat, haben wir schon gemerkt. Ich bin jetzt
überrascht, dass Sie die gleiche falsche Aussage wiederholen.
Deswegen frage ich Sie: Ist Ihnen § 41 a der TKGNovelle bekannt?
({0})
Dort wird die Netzneutralität ganz klar als Ziel definiert,
und das Bekenntnis zur Regulierung im Falle von systematischer Diskriminierung wird ebenfalls ganz klar und
dezidiert aufgeführt. Ist Ihnen das bekannt? Wenn die
Antwort Ja lautet: Wie kommen Sie zu der Feststellung,
dass dazu keine Aussage in der Novelle enthalten ist?
Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Blumenthal.
Ich wäre in zwei Sätzen genau zu dieser Stelle gekommen. Jetzt gewinne ich ein bisschen Zeit. Vielen Dank
für Ihre Frage.
Natürlich haben wir positiv zur Kenntnis genommen,
dass die Netzneutralität im Gesetzentwurf auftaucht,
aber durch eine Überschrift macht man noch keine gute
Politik.
({0})
SPD, Grüne und Linke fordern die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität. Dieser Mut hat Ihnen gefehlt.
Es bleibt bei einer Rechtsverordnung.
({1})
Die technische Neutralität des Netzes ist aber auch die
Grundlage für den Siegeszug des Internets; das wissen
wir alle, das wissen auch Sie.
Ich erinnere mich daran, dass ein Vertreter Ihrer Fraktion gefordert hat, das nächste Google müsse aus
Deutschland kommen. Ich glaube, bei dieser Forderung
stimmen wir alle überein. Aber wir alle wissen doch,
dass datenintensive Anbieter die Chance hatten, sich zu
entwickeln, dass sie entstanden sind, weil wir ein freies
und offenes Netz haben. Ich hätte mir gewünscht, dass
sich die Netzpolitiker in der Regierungskoalition durchgesetzt hätten. Ich glaube, da sind wir gar nicht weit auseinander. Die Netzneutralität heute nicht nur zu erwähnen, sondern sie auch gesetzlich zu verankern, wäre ein
wichtiger netzpolitischer Schritt gewesen.
({2})
Es bringt nichts, bei der Netzneutralität weiter auf den
Markt zu hoffen und darauf, dass schon alles gut wird.
Ich habe es gerade gesagt: Ich hätte mir gewünscht, dass
wir Vorsorge treffen, dass wir dafür sorgen, dass Probleme gar nicht erst entstehen können. Ich will auch sagen, dass die Position, die heute von der Regierungskoalition eingebracht wird, selbst bei den Experten in
der Enquete-Kommission „Internet und digitale GesellLars Klingbeil
schaft“ keine Mehrheit gefunden hat, was ein beachtliches Zeichen ist, Sie aber auch nicht zum Nachdenken
angeregt hat.
Ein anderes Thema, auf das ich eingehen will, ist der
Breitbandausbau. Er gehört für mich zu der Frage des offenen und freien Netzes. Ich habe meinen Wahlkreis im
ländlichen Raum zwischen Hamburg und Hannover.
Herr Rösler, wir sind beide Niedersachsen. Auch Sie
kennen sicherlich die Probleme im ländlichen Raum,
dass kleine Unternehmen damit drohen, abzuwandern,
oder dass das Ingenieurbüro in die Kreisstadt zieht, weil
nicht genügend Bandbreite vorhanden ist.
Ich will Ihnen sagen: Ich habe keine Lust mehr, mir
noch weitere Jahre anzuhören, dass der Markt das regelt.
Ich habe keine Lust mehr, mir anzuhören, dass schon alles gut wird. Wenn sogar der Deutsche Bauernverband
Nachbesserungen fordert, was den Universaldienst angeht, dann frage ich mich: Warum hören Sie nicht die
Signale, die deutlich machen, dass wir die Universaldienstverpflichtung in Deutschland dringend brauchen?
({3})
Es geht aber noch weiter. Wir alle wissen, dass der
Zugang zum Internet auch darüber entscheidet, welche
Chancen heute die Menschen in Deutschland haben. Da
geht es um Bildungsabschlüsse und um Berufschancen.
Wir alle wissen, dass der Universaldienst und der Breitbandzugang heute eine wichtige gesellschaftliche Dimension haben. Deswegen brauchen wir einen flächendeckenden Zugang. Heute gehört das Internet zur
gesellschaftlichen Grundversorgung, zur Teilhabe und
zur öffentlichen Daseinsvorsorge dazu. Wir hätten dafür
heute ein wichtiges Zeichen setzen können.
Ich bin dann doch erschrocken, wenn hier eine Vertreterin der FDP sagt, ein schnelles Internet für alle sei eine
Zwangsbeglückung der Menschen.
({4})
Ich sage Ihnen: In meinem Wahlkreis gibt es unwahrscheinlich viele Menschen, die gerne zwangsbeglückt
werden würden. Hier offenbart sich elitäres Denken. Mit
einem solchen Denken muss Schluss sein. Wir brauchen
endlich das Grundrecht auf schnelles Internet.
({5})
Hier offenbart sich noch etwas ganz anderes - das ist
die Konsequenz, die wir für die Netzpolitik ziehen müssen -: Wir sehen, dass Netzpolitik in dieser Regierung
von Innenpolitikern, Wirtschaftspolitikern und Anhängern einer falschen Wirtschaftspolitik geprägt wird. Ich
sage Ihnen: Netzpolitik ist Gesellschaftspolitik. Wir
müssen heute über viel mehr nachdenken als nur über
wirtschaftliche oder innenpolitische Konsequenzen. Es
geht darum, dass wir begreifen, dass Netzpolitik heute in
viele Bereiche des Lebens hineinreicht, dass es um Teilhabe, um Chancen, um Perspektiven, um Innovation
geht. Die TKG-Novelle hätte heute ein gutes Aufbruchssignal sein können.
({6})
Schwarz-Gelb ist leider auch hier gescheitert.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({7})
Ich erteile das Wort Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind uns in diesem Hause einig: Eine verlässliche Breitbandversorgung ist elementar wichtig für
die Innovationsfähigkeit und auch für die wirtschaftliche
Stärke unseres Landes.
({0})
Sie ist wichtig für gesellschaftliche Teilhabe. Sie ist
wichtig, um vieles an Infrastruktur zu kompensieren,
was gerade im ländlichen Raum nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Wir sind zunehmend in allen Lebensbereichen auf
eine gute Breitbandversorgung angewiesen. Deshalb ist
es gut, dass wir uns im Rahmen der TKG-Beratung mit
diesem wichtigen Thema so intensiv beschäftigt haben.
({1})
Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir die Dynamik, die beim Ausbau der Breitbandversorgung vorhanden ist, verstärken. Allen Unkenrufen zum Trotz, gerade
von der linken Seite des Hauses: Die Dynamik beim
Breitbandausbau ist vorhanden, und sie ist beeindruckend.
({2})
Mit einer engagierten Breitbandinitiative ist es gelungen,
Deutschland beim Breitbandausbau vom europäischen
Mittelfeld auf einen Spitzenplatz zu bringen. Der Ausbau geht rasant weiter.
In meinem Heimatland, dem Saarland, gibt es derzeit
in den 52 Gemeinden 22 Breitbandmaßnahmen; 12 weitere sind in Planung. Viele davon liegen in der Größenordnung von 50 Megabit, mindestens aber bei einer
Leistung von 16 Megabit.
({3})
Viele weiße Flecken werden erschlossen. Auch ich habe
noch bis vor einem Jahr in Modemgeschwindigkeit gesurft und weiß, wie das ist. Aber jetzt habe ich einen
schnellen DSL-Anschluss.
Ich habe alle Kommunen in meinem Wahlkreis angefragt, wie es im Einzelnen aussieht, um mir einen Überblick über die tatsächliche Situation vor Ort zu verschaffen. Das Ergebnis ist: Alle Kommunen sind mit
Nadine Schön ({4})
Hochdruck an diesem Thema dran. Das Interessante ist:
In jeder Kommune gibt es einen Technologiemix aus
Glasfaser, Kabel, Funk und teilweise auch schon LTE.
Dabei wird der Glasfaserausbau keineswegs nur vom
ehemaligen Monopolisten betrieben. Im Gegenteil: Gerade neue, innovative Firmen machen viel bessere und
flexiblere Angebote und fördern somit die Dynamik insgesamt.
Die Ausbaudynamik ist also gerade im ländlichen
Raum vorhanden. Wir sind auf einem guten Weg, die
ehrgeizigen Ziele der Breitbandinitiative zu erreichen.
({5})
Deshalb will ich an dieser Stelle allen Danke sagen,
die sich auf kommunaler Ebene dafür einsetzen, dass wir
beim Breitbandausbau vorankommen. Denn hinter jeder
dieser kleinen Erfolgsgeschichten und hinter jeder dieser
sehr differenzierten Lösungen im Rahmen des Technologiemix steckt sehr viel Arbeit der Verwaltungen, der
Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie der Landräte. Das verdient Anerkennung. Dafür wollen wir an
dieser Stelle Danke sagen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Regelungen, die wir heute verabschieden, wollen wir die Kommunen und die Anbieter bei ihren Bemühungen unterstützen. Wir schaffen mit dem heutigen Gesetz mehr
Transparenz, mehr Verbindlichkeit und mehr Sicherheit.
Die wichtigsten Punkte haben die Kollegen bereits
genannt. Ich will nur kurz auf die Änderungsanträge der
Koalition eingehen. Zum einen wollen wir alternative
Infrastrukturen für den Breitbandausbau öffnen. Alternative Infrastrukturen sind Wasserkanäle, Energieleitungen
und Kabelkanäle. Wenn es keine Einigung mit dem
Eigentümer gibt, dann findet ein Schlichtungsverfahren
statt. Ich denke, das ist eine pragmatische Lösung.
Einen Schritt weiter gehen wir dort, wo wir selbst
Verantwortung tragen, nämlich beim Bund. Bei Bundesstraßen, Eisenbahn und Bundeswasserstraßen besteht
künftig ein Anspruch auf Mitbenutzung.
Ich fordere an dieser Stelle die Länder und Kommunen auf: Lassen Sie auch für Ihren Verantwortungsbereich einen solchen Anspruch auf Mitbenutzung zu.
Wenn nämlich alle Straßen einem Mitbenutzungsanspruch unterliegen, dann ist ein sinnvoller und vor allem
kostensparender Ausbau möglich.
({7})
Wichtige Maßnahmen sind darüber hinaus der Infrastrukturatlas, das Microtrenching und der Auskunftsanspruch für Regulierungsentscheidungen. All das fördert
Transparenz, Planbarkeit und Synergien und trägt zur
Dynamisierung des Breitbandausbaus bei.
Herr Lämmel hat darüber hinaus auf die positiven
Wirkungen des Breitbandbüros hingewiesen. Frau
Rößner, dass Sie als Fachpolitikerin das Breitbandbüro
nicht kennen, macht mich etwas nachdenklich.
({8})
Die Frage ist nun: Brauchen wir darüber hinaus noch
den Universaldienst? Sie wissen, wir haben sehr lange
gerungen. Auch ich habe mit der Idee sympathisiert. Am
Schluss hat sich die Koalition aber dagegen entschieden.
Wieso? Zum einen wurde von sehr vielen Stellen die Befürchtung geäußert, dass schon allein die Ankündigung
des Universaldienstes den Wettbewerb ausbremsen
könnte. Das haben nicht nur die Verbände gesagt, sondern auch sehr viele Telekommunikationsexperten und
interessanterweise auch die Gemeinden bei mir zu Hause
im ländlichen Raum. Ich zitiere aus einer Stellungnahme:
Die Einführung eines flächendeckenden Breitbandausbaus als gesetzlich abgesicherte Grundversorgung lähmt unseres Erachtens den freien Wettbewerb unter den TK-Unternehmen und damit auch
die Investitionsbereitschaft der Marktanbieter. Die
Folge wäre eine Verteuerung des Netzes, die letztendlich der Steuerzahler tragen müsste. Von einer
staatlichen Reglementierung sollte daher Abstand
genommen werden.
So weit die Stellungnahme der Kommune bei mir vor
Ort.
({9})
Abgesehen von diesen Befürchtungen ist auch die
Ausgestaltung schwierig. Werfen wir einen Blick in die
vorliegenden Vorschläge. Beschließen wir einen Universaldienst mit einer Leistung von 6 Megabit, wie ihn die
Grünen wollen, dann wäre dies höchstwahrscheinlich
europarechtswidrig, da er deutlich über dem liegt, was
der Durchschnitt der Bevölkerung will.
({10})
Legen wir niedrigere Übertragungsraten zugrunde wie
die Kollegen von der SPD, dann hat die Regelung keinen
Effekt. Dann ist sie eigentlich nur weiße Salbe. Liebe
Kollegen von der SPD, Sie haben gestern im Ausschuss
gesagt, Sie wollten mit dem Universaldienst etwa 1 bis
2 Megabit erreichen, erklären aber gleichzeitig, dass
LTE zu einer Abdeckung von 99 Prozent führen wird.
Zusammen mit Satellit sind wir dann bei 100 Prozent.
Was soll dann der Universaldienst?
({11})
Frau Kollegin, wollen Sie Ihre Redezeit, die schon
abgelaufen ist, durch eine Zwischenfrage des Kollegen
Dörmann verlängern?
Ja, gern.
Vielen Dank, Frau Kollegin Schön. - Nachdem uns
als SPD hier im Hause zum zweiten Mal etwas Falsches
in den Mund gelegt wurde und ich das schon über Twitter gelesen habe, frage ich Sie: Können Sie zur Kenntnis
nehmen, dass wir in unserem Antrag ausdrücklich die
Forderung erheben, dass zuerst europarechtskonform
festgestellt wird, welche Bandbreite von der Nutzermehrheit verwendet wird, und dass das dann als feste
Bandbreite festgelegt wird? Dieser Weg führt im Übrigen dazu, dass wir zu einer europarechtskonformen maximalen Bandbreite kommen; denn eine Bandbreite, die
über die europarechtlichen Kriterien hinausgeht, können
wir nicht festlegen. Ich weise die von Ihnen angeführten
Megabitzahlen zurück. Können Sie das zur Kenntnis
nehmen?
Ich nehme das sehr gerne zur Kenntnis. Ich bitte aber
auch Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Realisierung
eines Universaldienstes gemäß Ihrem Vorschlag - das
hat der Kollege Jarzombek schon dargelegt - mindestens
bis 2018 dauern würde und dass beispielsweise die Vorschläge der Grünen weiterhin auf einer höheren Bandbreite beruhen, was Sie als europarechtswidrig einstufen.
Allein daran, dass sich die beiden Oppositionsfraktionen
nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen können,
({0})
weil jeder die Lösung des anderen für entweder rechtswidrig oder uneffektiv hält,
({1})
kann man sehen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt noch
keinen vernünftigen Vorschlag für einen Universaldienst
gibt.
({2})
Wir haben im Rahmen der Breitbandstrategie ambitionierte Ziele. Bisher erreichen wir diese. Wir müssen
das aber im Auge behalten. Deshalb schließe ich mich
dem Vorschlag des Kollegen Nüßlein an. Wir sollten den
LTE-Ausbau im Auge behalten und schauen, ob die weißen Flecken verschwinden. Zurzeit gibt es hier eine
große Dynamik. Geben wir diesem Ausbau eine Chance.
Wir fördern ihn mit diesem Gesetz auf die geschilderte
Art und Weise. Ich bitte Sie: Unterstützen Sie uns dabei.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Mechthild Heil für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Novelle zum Telekommunikationsgesetz
stärkt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Mit diesem Gesetz ist uns ein großer Wurf für den Verbraucherschutz gelungen.
({0})
Wir stärken den Wettbewerb, und wir stärken massiv die
Macht des Verbrauchers. Der Opposition sind die monatelangen Beratungen wieder einmal zu kurz. Sie meckern und mäkeln herum. Ich verstehe Sie. Im Grunde
ärgern Sie sich, dass Sie in Ihrer Regierungszeit nicht die
Kraft für eine so weitreichende Reform gefunden haben.
({1})
Solange Sie in der Regierung waren, haben Sie Probleme wie Warteschleifen oder Call-by-Call nicht gelöst.
({2})
Wir haben die Kraft. Wir packen die Probleme an. Wir
lösen sie zum Nutzen der Kunden und für mehr Transparenz auf dem Markt.
({3})
Wir sorgen mit dem TKG dafür, dass der Verbraucher
bei der Nutzung von Mehrwertdiensten erst dann bezahlt, wenn er mit einem Mitarbeiter in Kontakt tritt, der
sich seines Problems annimmt. Das heißt: Schluss mit
überteuerten Warteschleifen! Wir schützen mit der Novelle zum Telekommunikationsgesetz die Verbraucher
vor dem Betrug mit Internetkostenfallen über die Handyrechnung. Von nun an werden Handykunden den Festnetzkunden endlich gleichgestellt. Bisher hatten nur
Festnetzkunden die Möglichkeit, einzelnen Rechnungsposten zu widersprechen, ohne dass dies zur Sperrung
des Anschlusses führte. Heute darf der Anbieter erst ab
einem Rückstand von 75 Euro und vorheriger Ankündigung sperren.
Wir stärken die Rechte der Verbraucher beim Umzug.
Wechselte bisher ein Verbraucher den Wohnort, musste
er meist den alten Vertrag fortführen, auch wenn am
neuen Wohnort die Leistungen nicht angeboten wurden.
Damit ist jetzt Schluss. Wir verankern im Gesetz ein
dreimonatiges Sonderkündigungsrecht. Wird die gleiche
Leistung am neuen Wohnort angeboten, darf die vereinbarte Vertragslaufzeit jetzt nicht mehr geändert werden.
Das ist ein exzellentes Beispiel für intelligenten Verbraucherschutz.
({4})
Künstlich aufgerichtete Hürden, die Kunden von einem Anbieterwechsel abhalten sollten, werden abgebaut.
Von nun an dürfen auch Verträge mit einer Höchstlaufzeit von zwölf Monaten am Markt angeboten werden.
Auch die Möglichkeit der Rufnummerportierung bei laufendem Vertrag ist nun möglich. Ziel der CDU/CSU ist
es, einen besseren Service für die Kunden zu erreichen
und durch Wettbewerb langfristig die Kosten für die
Bürger zu senken.
({5})
Bis jetzt musste jeder beim Anbieterwechsel fürchten,
für einige Tage oder Wochen ohne Telefon und Internet
dazustehen. Das ist für Privatkunden wie für Unternehmen inakzeptabel. Auch damit ist jetzt Schluss.
({6})
Unterschreibt man bei der Konkurrenz, darf der Telefonanschluss höchstens einen Tag lahmgelegt werden.
Marktwirtschaft und Verbraucherinteressen gehen hier
Hand in Hand.
Das Schönen der Geschwindigkeitsangaben bei DSLVerträgen gehört endlich der Vergangenheit an. Derzeit
geben Anbieter die Geschwindigkeit mit „bis zu“ an. In
der Realität heißt das oft: Der versprochene Datenhighway entpuppt sich schnell als verkehrsberuhigte Zone.
Deshalb verpflichten wir die DSL-Anbieter, verbindliche Mindestgeschwindigkeiten anzugeben. Ohne Wenn
und Aber müssen nun die Karten auf den Tisch. Wenn
ein Kunde die technischen Voraussetzungen für einen Internetzugang von nur 2 Megabit pro Sekunde hat, kann
ihm zukünftig kein 16-Megabit-Vertrag aufgeschwatzt
werden. Das, was versprochen und vertraglich vereinbart
wird, muss dem Kunden auch geliefert werden.
Im parlamentarischen Verfahren wird oft hart um die
beste Lösung gerungen; das wissen wir alle. Ich möchte
hier die Gelegenheit nutzen, den beteiligten Abgeordneten der Koalition zu danken. Wir haben an vielen entscheidenden Stellen deutlich mehr Verbraucherschutz im
TKG verankert, über die Ressort- und Ausschussgrenzen
hinweg. Verbraucherschutz, also gerechte Regeln zwischen den Kunden und den Anbietern, ist für die christlich-liberale Koalition ein zentrales Anliegen. Das haben
wir einmal mehr unter Beweis gestellt.
({7})
Vielen Dank deswegen noch einmal für die hervorragende Zusammenarbeit.
Gemeinsam haben wir uns für einen Warnhinweis bei
der Nutzung von Datendiensten ausgesprochen, wenn
eine bestimmte Gebührengrenze überschritten wird. Im
Ausland gibt es einen solchen Kostenairbag bereits. Wir
setzen jetzt auch in Deutschland einen solchen um. Wir
befähigen die Bundesnetzagentur, einen Kostenairbag
für mobile Dienste im Inland einzuführen. Wenn also
beim Datenroaming die Grenze von zum Beispiel
50 Euro überschritten wird, kann der Verbraucher durch
eine SMS darüber benachrichtigt werden.
({8})
Zum Thema Call-by-Call. Obwohl sich Telefon- und
Internetflatrates weiter am Markt durchsetzen, greifen
immer noch Verbraucher auf die Nutzung von Call-byCall-Vorwahlen für den Internetzugang oder auch für
Auslandsverbindungen zurück. Mit Lockangeboten wurden Kunden zuerst geworben und dann mit hohen Aufschlägen oder Tarifsprüngen zur Kasse gebeten. Eine
Pflicht zur Preisansage bei Call-by-Call wird jetzt in
§ 66 TKG verankert. Wir schaffen hier eine klare Lösung im Sinne eines „sauberen Telefons“.
Vor allem Werbeanrufe haben sich in letzter Zeit oft
als großes Ärgernis für Verbraucher herausgestellt. Da
einige Firmen falsche, nicht zurückverfolgbare Rufnummern aufgesetzt haben, schreiten wir auch dort ein. Mit
dem Gesetz stellen wir klar, dass auch die Übermittlung
falscher Rufnummern und nicht nur die Unterdrückung
der Rufnummern verboten ist. Verstöße dagegen werden
jetzt mit 100 000 Euro und nicht wie zuvor mit
10 000 Euro geahndet. Damit geben wir der Bundesnetzagentur ein scharfes Schwert gegen unlautere Werbeanrufer in die Hand.
All dies sind wichtige und spürbare Erfolge für uns
Verbraucher. Die Opposition findet aus Ärger über ihre
eigene Kraftlosigkeit in ihrer eigenen Regierungszeit
keinen Gefallen an unseren in jeder Hinsicht gelungenen
und wegweisenden Verbraucherschutzgesetzen ({9})
schade für die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land! Eine breite Zustimmung wäre hier der richtige Weg.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat Thomas Jarzombek für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim
Thema Universaldienst fühle ich mich heute ein bisschen wie auf dem türkischen Basar: Die Grünen fordern
6 Megabit. Dazu sagt die SPD: Das ist europarechtlich
gar nicht möglich. Die SPD fordert nach jetzigem Stand
offenkundig - Martin Dörmann hat es heute Morgen
schon einmal gesagt - 2 Megabit.
({0})
Dazu sagen die Grünen: Das ist zu wenig.
Das Problem beim Universaldienst ist doch: In dem
Moment, in dem Breitbandausbau mit Staatsknete betrieben wird, wird jeder private Investor sofort seine
Mittel einfrieren.
({1})
Damit haben wir nichts gewonnen, sondern, im Gegenteil, wir verlieren mehrere Jahre für den ländlichen
Raum.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Klingbeil?
Ja.
Bitte schön.
Lieber Kollege Jarzombek, nehmen Sie zur Kenntnis,
dass hier keine Zahl genannt wurde, sondern beschrieben wurde, welche Aussagen es gibt.
({0})
Teilen Sie meine Einschätzung, dass eine Einigung zwischen SPD und Grünen bei der Frage Universaldienst sicherlich um ein Vielfaches einfacher ist als das, was
diese Regierung in den letzten Wochen geleistet hat?
({1})
Nein. Diese Einschätzung, lieber Kollege Klingbeil,
teile ich überhaupt nicht; denn in Ihrem Antrag - Martin
Dörmann hat zitiert, was ich in dem Gespräch heute
Morgen gesagt habe; jetzt mache ich es umgekehrt; er
hat gesagt, es seien nach derzeitigem Stand wahrscheinlich 2 Megabit - ist von 2 bis 6 Megabit die Rede; lassen
wir es 3 Megabit sein. Das ist momentan der Stand der
Dinge.
Dann schreiben Sie in Ihrem Antrag: Technologieneutral muss es sein. Sie wissen genau, dass diese Forderung
mit der LTE-Technologie und den neuen Breitbandsatelliten bereits flächendeckend erfüllt ist. Deshalb ist
Ihre Forderung nach einem Universaldienst reiner Bluff;
({0})
denn das, was Sie beantragen, ist schon längst erfüllt.
({1})
Sie tun eben nur so, als wollten Sie etwas erreichen, und
Sie gehen damit die Gefahr ein, dass alle, die heute in
Zusammenarbeit mit kommunalen Unternehmen, mit
Stadtwerken im ländlichen Raum bauen, ihre Mittel einfrieren, weil sie Angst haben, dass ihre Investitionen in
Verbindung mit Staatsknete in kurzer Zeit entwertet werden. Das ist das, was Sie riskieren.
({2})
Der Kollege Kelber möchte noch etwas fragen.
({0})
Ich finde es schön, dass meine Redezeit so verlängert
wird. Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben gerade die Forderung der
SPD nach einem Universaldienst kritisiert. Ich zitiere:
Eine Verpflichtung der Wirtschaft, allen Haushalten
einen schnellen Internetzugang zu ermöglichen,
könnte … in die laufende Novellierung des Telekommunikationsgesetzes eingebaut werden. Davon
geht der IT-Beauftragte der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Georg Nüßlein, aus. „SPD, Grüne und die
CSU haben den Wunsch, einen Breitband-Universaldienst einzuführen“, erklärte der CSU-Politiker
gegenüber heise online.
Er kündigte eine entsprechende Initiative der CDU/
CSU-Wirtschaftsarbeitsgruppe an.
Was sagen Sie zu diesem Zitat?
Herr Kollege Kelber, ich bin Ihnen für diese Frage
sehr dankbar; denn sie zeigt, dass wir gemeinsam in der
Großen Koalition etwas sehr Gutes erreicht haben: Wir
haben Rundfunkfrequenzen für die sogenannte digitale
Dividende umgewidmet, um über Breitbandfunk flächendeckend im ländlichen Raum einen schnellen Internetzugang zu ermöglichen. Hier haben wir eine Selbstverpflichtung erreicht. Die Bundeskanzlerin hat im
Sommer noch einmal die Vorstandsvorsitzenden der Unternehmen, die Lizenzen bekommen haben, einbestellt.
René Obermann wie Friedrich Joussen haben ihr zugesagt, bis zum Ende des Jahres einen flächendeckenden
Ausbau mit Hochgeschwindigkeitsbreitbandinternet zu
erreichen.
Ich muss der Kanzlerin ein großes Kompliment aussprechen. Das ist ein großer Erfolg für die Politik. Ich
verstehe gar nicht, warum Sie selber das Thema Funkanbindungen ständig schlechtreden; schließlich haben
Sie die jetzige Regelung in Ihrer Regierungszeit mit uns
gemeinsam beschlossen.
({0})
Sie sehen doch, dass aufgrund der Selbstverpflichtung
eine weitere gesetzliche Maßnahme heute nicht mehr erforderlich ist.
({1})
Meine Damen und Herren, wenn Sie heute einen Universaldienst einfordern, dann fordern Sie damit - dieser
Aspekt ist noch gar nicht benannt worden - eine ganz
andere Sache ein: Sie beide wollen es nicht mit Mitteln
aus dem Bundeshaushalt finanzieren, sondern mit einer
Umlage.
Das heißt, dass nach Ihren Vorstellungen künftig auf
jeden DSL-Anschluss eine zusätzliche Steuer erhoben
wird, eine „Breitband im ländlichen Raum“-Steuer.
Dann sagt der Jugendschützer: Wir brauchen aber auch
bessere Jugendschutzprogramme; da braucht es auch
noch eine Steuer. - Dann sagt der Nächste: Wir haben
Kriminalität im Internet. Das muss mit einer Sonderabgabe bekämpft werden.
({2})
Am Ende sind Sie da, wo man bei der Mineralölsteuer
längst ist: Sie haben Abgaben ohne Ende. Deshalb sage
ich: Diese Tür darf man gar nicht erst öffnen.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Rößner?
Ja, gern. - Ist das hier die Fragestunde? Finde ich gut!
Lieber Herr Kollege Jarzombek, weil Sie uns unterstellen, wir seien auf dem Basar und dies alles sei nicht
EU-rechtskonform, möchte ich Sie fragen, ob Sie zur
Kenntnis genommen haben, dass unsere Fraktion ein
externes Gutachten in Auftrag gegeben hat, das übrigens
allen zur Verfügung steht und auch lesbar ist. Ich hoffe,
dass Sie einmal hineinschauen, um zu sehen, dass es
möglich ist, und zwar EU-rechtskonform, einen Universaldienst einzurichten.
Daran möchte ich gleich noch eine Frage anschließen:
Wir stellen unsere Unterlagen gern zur Verfügung, aber
die Änderungsanträge zum TKG haben wir sehr kurzfristig bekommen.
({0})
Wann haben Sie denn die Änderungsanträge in der Fraktion bekommen? Ich habe nämlich gehört, dass Vertreter
außerhalb dieses Parlaments die Änderungsanträge bereits am Freitag vorliegen hatten.
({1})
Frau Kollegin, ich glaube, es ist besser, erst über die
Sache und dann über das Verfahren zu sprechen.
({0})
- Hören Sie doch erst einmal zu, Kollege Beck! - Ich
habe mich, ehrlich gesagt, darüber geärgert, dass Sie seit
gestern unablässig behaupten, Sie hätten über 100 Seiten
mit Änderungen bekommen und hätten sie in zwei Tagen
durcharbeiten müssen.
({1})
Es sind gar keine 100 Seiten mit Änderungen. Es ist eine
Synopse zu einem 100-seitigen Regierungsentwurf, der
Ihnen schon seit Monaten vorliegt.
({2})
Dazu gibt es heute noch eine Zahl von Änderungsanträgen, die aber vielleicht - ich weiß es nicht genau - zehn
Seiten umfassen. Man kann es schon schaffen, das in
zwei Tagen durchzulesen. Ich habe es durchgelesen.
({3})
Ganz ehrlich: Wir diskutieren die Dinge im Grunde seit
einem Jahr. So überraschend Neues steht gar nicht darin.
Über Ihr Gutachten haben wir gestern Morgen im Unterausschuss Neue Medien ausführlich diskutiert. In Ihrem Gutachten geht es um Breitband insgesamt. Es ist
ein interessantes Gutachten, aber gerade zu der Frage der
Europarechtskonformität ist es extrem dünn.
({4})
Alle Fraktionen außer Ihrer Fraktion, Frau Kollegin, haben zugestimmt, dass die Position nicht haltbar ist, und
haben sie abgelehnt. Insofern finde ich es interessant,
dass Sie immer wieder behaupten, dass das europarechtlich möglich ist;
({5})
wahrscheinlich ist es in zehn Jahren möglich, aber eben
nicht heute. Heute wäre es nicht europarechtskonform.
Schauen Sie auf die Kollegen der Sozialdemokraten! Die
werden es Ihnen bestätigen.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Behrens von der Fraktion
Die Linke?
Ich möchte jetzt gern noch andere Themen ansprechen, auch wenn ich es schön finde, dass Sie so großes
Interesse an meiner Rede haben und immer wieder Fragen dazu stellen.
Ich möchte noch etwas zum Thema Breitband sagen.
Es ist erstaunlich, dass man bis heute gebraucht hat, um
im Bereich des Tiefbaus dahin zu kommen, dass zunächst einmal bei Autobahnen und Bundesstraßen eine
Pflicht besteht, Breitbandkabel mit zu verlegen. Das ist
nach unserer Novelle erstmalig der Fall. Wir haben mit
dem Microtrenching ein Verfahren, bei dem die Kabel in
30 Zentimetern Tiefe verlegt werden können. Das ist
ganz neu. Wir sind die Ersten, die das machen. Auch
dass der sogenannte Hausstich nicht mehr von Eigentümergemeinschaften verhindert werden kann - die treffen
sich nur einmal im Jahr -, ist die notwendige Voraussetzung für Glasfaser. Das sind unsere Erfolge im Bereich
Breitband.
({0})
Da kommen wir heute substanziell weiter.
({1})
Mein zweites Thema ist die Netzneutralität. Der Kollege Dr. Tauber hat sehr lange eine Projektgruppe in der
Enquete-Kommission geleitet. Ich finde, er hat das ausgezeichnet gemacht. Wir sind beim Thema „Wettbewerb
im Telekommunikationsmarkt“ auf zwei Punkte gekommen, über die sich alle einig geworden sind.
Ich hoffe, Wettbewerb wollen Sie auch. Bei Wettbewerb in einer sozialen Marktwirtschaft muss man immer
den Ausgleich suchen zwischen einem völlig unregulierten Wettbewerb und einer extremen staatlichen Intervention. Wir suchen diesen Kompromiss auch in diesem
Fall. Es geht darum, niemanden zu diskriminieren, und
alles, was hier stattfindet, muss transparent sein.
Letztlich hat die Enquete-Kommission sämtliche der
vielen Handlungsempfehlungen abgelehnt. Das gilt für
Ihre wie für unsere. Auf diese Punkte hat man sich aber
verständigt. Padeluun, der das verursacht hat, hat am
Ende einer langen Diskussion mit uns gesagt: Wenn das
so ist, dann ist es eben so, dass wir uns nur auf diese
Dinge verständigen können.
Das bilden wir in dem heute zu beratenden Gesetzentwurf ab. Das ist im Übrigen das erste Gesetz zur Netzneutralität in Deutschland. Es entspricht dem breiten
Konsens, den wir auch in der Enquete-Kommission haben. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass alles Weitere
in einer Verordnung geregelt wird, die wir gemeinsam
mit Ihren SPD-geführten Ländern, nämlich mit dem
Bundesrat, gemeinschaftlich auf den Weg bringen müssen. Deshalb kann ich diese Aufregung hier nicht nachvollziehen. Sie haben die Möglichkeit, sich einzubringen. Wir werden das nur mit einem breiten Konsens
machen können. Deshalb ist es meines Erachtens eine
gute Regelung und kein Grund für Polemik.
({2})
Ich habe mich sehr darüber geärgert - vielleicht hat
mich das vorhin mehr erzürnt, als es hätte sein müssen -,
dass Kollege von Notz behauptet hat, es stünden Dinge
im Gesetzentwurf, die gar nicht im Gesetzentwurf stehen.
({3})
Sie haben behauptet, wir beabsichtigten, über § 97
Abs. 4 die Anbieter zu zwingen, Daten drei Monate lang
zu speichern.
({4})
Im Regierungsentwurf hingegen steht, dass die Daten
spätestens nach drei Monaten zu löschen sind.
Außerdem legen wir heute einen Entwurf vor, in dem
genau das gestrichen worden ist, weil das offenkundig
missverständlich war. Damit fordern wir, dass die Daten
schnellstmöglich gelöscht werden müssen.
({5})
Wir beantragen heute die schnellstmögliche Löschung. Sie behaupten aber die ganze Zeit, wir würden
die Speicherung von Daten beantragen. Das ist ganz bewusst gemogelt.
({6})
Sie setzen nur auf den Effekt, dass diese Halbwahrheiten, die Sie bei Twitter, Facebook und sonst wo im
Netz verbreiten, am Ende auch noch von Leuten geglaubt werden. Deshalb möchte ich, dass Sie sich dafür
entschuldigen.
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich
Herbert Behrens.
Herr Jarzombek, Sie haben meine Frage leider nicht
zugelassen. Gleichwohl haben Sie sie gerade beantwortet.
({0})
Ich halte es für eine Riesenschweinerei, wenn Sie hier
sagen, diese Streichung sei eine Verbesserung. In Ihrem
ursprünglichen Gesetzentwurf, den Sie im Mai auf den
Tisch gelegt haben, hieß es:
Diese Daten dürfen maximal drei Monate lang nach
der Versendung der Rechnung gespeichert werden.
Vor zwei Tagen, abends um 19 Uhr, haben Sie uns
eine Vorlage präsentiert, die über 100 Seiten stark ist und
in der steht: Dieser Absatz entfällt. - Das ist kein Fortschritt, sondern ein massiver Rückschritt. Das ist ein
Einstieg in die Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür.
({1})
Auch der Kollege von Notz möchte noch eine Kurzintervention machen.
({0})
Eigentlich hätte ich darauf verzichtet. Herr Kollege
Jarzombek, wenn Sie aber hier so theatralisch werden,
muss ich doch noch etwas dazu sagen.
Es gibt eine intensive Diskussion darüber, ob diese
Regelungen ausreichend sind, um Missbrauch zu verhindern. Dazu liefern Sie nicht genug. Sie haben es nicht hineingeschrieben. Wie man aber den Aussagen des Kollegen Nüßlein entnehmen konnte, hat genau das bei Ihren
Beratungen eine entscheidende Rolle gespielt. Deshalb
ist die Echauffierungsnummer, die Sie hier abziehen, gekünstelt. Getroffene Hunde bellen. Genau so ist es. Sie
haben in diesem Bereich nichts geliefert. Die FDP wollte
eigentlich, aber Sie haben es verhindert. Dass Sie nun
hier Entschuldigungen einfordern - geschenkt.
Herr Jarzombek, mich interessiert aber wirklich
- dabei bitte ich Sie, diese Chance zur Aufklärung zu
nutzen -, ob es stimmt, dass Leuten außerhalb des Parlaments die Synopse vorlag, sie zuvor Lobbyisten zugespielt worden ist, Sie uns die aber erst zehn Stunden
vor Beginn der Beratungen haben zukommen lassen.
({0})
- Sie können ja sagen, dass das nicht stimmt. Stimmt es,
oder stimmt es nicht? Wenn es nicht stimmt, dann sagen
Sie doch verbindlich, dass die Synopse tatsächlich erst
am Mittwochabend fertig war. Das interessiert mich tatsächlich.
Herzlichen Dank.
({1})
Kollege Jarzombek, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Das mache ich sehr gern. Ich habe diese Synopse
- das kann ich auch nachweisen - am Montag, ich
glaube nachmittags, bekommen. Ich kann allerdings
keine Aussagen darüber treffen, wer sonst noch was bekommen hat. Ich habe sie am Montagnachmittag bekommen.
({0})
- Ich finde es schön, dass wir über die Verfahren reden. - Das war eine interne Beratung bei uns, bei der
noch die Meinungen eingeholt worden sind. Da war die
Synopse aber noch nicht beschlossen. Ich glaube, das
ist aber auch nicht der Punkt, um den es bei dieser Diskussion geht.
Herr Kollege von Notz, was mich wirklich aufregt,
ist, dass pausenlos Behauptungen aufgestellt werden,
dass irgendjemand - auf Twitter oder irgendwo in einem
Blog - irgendetwas publiziert, dass sich keiner für heute
die Plenarunterlagen oder den Gesetzentwurf durchliest
und jetzt versucht wird, den Eindruck zu erwecken, wir
würden eine Vorratsdatenspeicherung beschließen.
Gehen wir das einmal Punkt für Punkt durch: § 97
TKG Abs. 3 Satz 3 - Herr Behrens hat es gesagt - bleibt
so erhalten. Dabei geht es um das Verhältnis zum Endkunden.
Dann gibt es den § 97 Abs. 4. Dabei geht es um die
Daten im Verhältnis zwischen den Providern, nicht zwischen Endkunde und Anbieter. Im Regierungsentwurf
stand bis dato Folgendes: „Diese Daten dürfen maximal
drei Monate nach Versendung der Rechnung gespeichert
werden.“ Den haben Sie massiv kritisiert. Deshalb haben
wir diesen Passus gestrichen. Es bleibt alles beim Alten.
Es bleibt bei dem Gesetz, das 2004 von Rot-Grün beschlossen wurde. Die Formulierung von Rot-Grün aus
dem Jahre 2004 bleibt weiterhin bestehen.
({1})
- Das ist unbestritten, sagt der Kollege von Notz. Sehr
schön. Wissen Sie, was wir verändern? Wir streichen in
§ 97 Abs. 3 Satz 3 die Wörter „soweit sie nicht nach
§ 113 a zu speichern sind“. Das war der Verweis auf die
Vorratsdatenspeicherung. Die wird nämlich heute gestrichen und nicht hinzugefügt.
({2})
Das sollten Sie einmal Ihren Leuten bei Twitter sagen,
damit endlich klar wird, was hier und heute eigentlich
beschlossen wird. Wir nehmen Dinge zurück, und ansonsten bleibt alles bei dem, was Sie von Rot-Grün 2004
gemacht haben. Sie können zu Ihrem eigenen Gesetz sagen, was Sie wollen. Dazu lade ich Sie gerne ein.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7521, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5707 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
17/7525? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
17/7526? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/7527. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7528. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 5 b. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/7521
fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4875 mit dem Titel
„Verbraucherschutz in der Telekommunikation umfassend stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
FDP und Grünen gegen die Stimmen von SPD und Linken angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5367 mit dem Titel
„Netzneutralität im Internet gewährleisten - Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten gesetzlich regeln“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5902 mit dem
Titel „Schnelles Internet für alle - Flächendeckende
Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für
eine dynamische Entwicklung setzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5376 mit dem Titel „Telekommunikationsmarkt verbrauchergerecht regulieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP
und Grünen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4843
mit dem Titel „Netzneutralität sichern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Unter Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6912 mit dem Titel „Universaldienst für Breitband-Internetanschlüsse
jetzt“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP
und SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
der Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe h
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3688 mit dem Titel „Gegen das Zwei-KlassenInternet - Netzneutralität in Europa dauerhaft gewährleisten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 und 30 sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Bärbel Höhn, Oliver Krischer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Energie sparen, Kosten senken, Klima schützen - Für eine ambitionierte Effizienzstrategie
der deutschen und europäischen Energieversorgung
- Drucksache 17/7462 16100
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
30 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann,
Hubertus Heil ({2}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Die Energiewende gelingt nur mit KWK
- Drucksachen 17/6084, 17/7516 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Kerstin Andreae
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Garrelt
Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
sowie der Abgeordneten Oliver Krischer, HansJosef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Am Ausbau der hocheffizienten KraftWärme-Kopplung festhalten
- Drucksachen 17/3999, 17/4492 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Nationaler Energieeffizienz-Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 17/6927 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die an der
Debatte zu diesen Tagesordnungspunkten nicht teilnehmen wollen, möglichst geräuscharm den Saal zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Ingrid
Nestle für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Noch vor wenigen Monaten hat sich die Bundesregierung hier mit ihrer großen Energiewende gerühmt. Tatsache ist: Sie haben es gerade einmal geschafft, den zehn Jahre alten Atomausstieg zu
übernehmen. Aber die Energiewende ist noch lange
nicht geschafft; denn die Energiewende geht nicht ohne
Effizienzsteigerungen. Aber die Energiekosten explodieren, und Sie legen Ihre Hände in den Schoß.
Einige Beispiele: Die Umsetzung der Energiedienstleistungsrichtlinie ist nur ein Papiertiger. Sie bewirkt
nicht mehr als einen Hinweis auf der Stromrechnung auf
einer Liste im Internet, wo Energiedienstleistungsanbieter zu finden sind.
Den Stromverbrauch wollen Sie um 10 Prozent senken. Davon sind wir meilenwert entfernt. Ich habe im
Ausschuss nachgefragt, welche Maßnahmen Sie denn
ergreifen wollen. Keine einzige ist Ihnen eingefallen.
Nicht eine!
Bei der Energieproduktivität ist es nicht besser. Im
Gegenteil: In dem angeblich so revolutionären Energiekonzept steht weniger drin, als Frau Merkel selbst vor einigen Jahren noch gefordert hat. Das, meine Damen und
Herren, ist keine Energiewende, das ist Rückschritt.
({0})
Noch ein Beispiel: Die Bundesregierung stellt doppelt
so viel Geld für die Förderung fossiler Kraftwerke wie
für Energieeffizienzanwendungen zur Verfügung und sogar fünfmal so viel für die Förderung energieintensiver
Industrie. Das, meine Damen und Herren, ist nicht Investitionssicherheit und nicht der Fortschritt im Bereich
der Energieeffizienz.
({1})
Aber jetzt haben Sie zum Glück eine neue historische
Chance vor der Haustür. Und die EU hat Ihnen viel Arbeit abgenommen, indem sie einen guten Vorschlag für
eine Effizienzrichtlinie vorgelegt hat. Leider hat Minister Rösler letzte Woche schon angekündigt, dass er genau den Artikel, der zwei Drittel der Wirkung der Richtlinie ausmacht, komplett ablehnt. Ja, der Minister ist so
verbohrt, dass er nicht einmal die Riesenchance für die
Wirtschaft erkennt, die mit diesem Artikel direkt vor seiner Nase liegt. Er hat behauptet, das sei starres Ordnungsrecht. - Das ist ein Missverständnis.
In diesem Artikel geht es darum, einen Markt für Energiedienstleistungen durch Einsparprojekte in einer
Höhe von 1,5 Prozent des Verbrauchs bei allen Energieversorgern zu schaffen. Das ist eine hochflexible Regel.
Sie setzt lediglich das Ziel fest, das dem der Regierung
vollkommen entspricht. Ob der Energieversorger bei
sich selbst oder bei Kunden wie Kommunen Projekte
durchführt, einen Dritten beauftragt, Projekte durchzuführen, oder einen Beitrag in einen Fonds einzahlt, aus
dem Projekte finanziert werden - all das ist völlig offen.
Nur das Ziel, maximale Effizienz zu erreichen, ist festgelegt. Allein diese Maßnahme entscheidet darüber, ob
wir im Jahr 2020 50 Milliarden Euro zu viel für den Import von Öl und Gas ausgeben oder dieses Geld in den
europäischen Energieeffizienzmarkt investieren werden.
Das ist verkehrte Welt bei der FDP: Ausgerechnet unser
Wirtschaftsminister stellt sich gegen die Entstehung
neuer Märkte. Sie fördern lieber die Ölscheichs statt die
deutsche Wirtschaft.
({2})
Und was macht Frau Merkel? Nichts! Sie lässt ihre
Erfolge von einst einfach so zerrinnen. Denn Minister
Rösler ist gerade dabei, das 20-Prozent-Effizienzziel,
das Frau Merkel selbst 2007 unter der deutschen Präsidentschaft in die EU-Papiere hineinverhandelt hat, zu
verwässern.
({3})
- Der Herr Minister war gerade noch da, diesen Tagesordnungspunkt hat er leider nicht mehr abgewartet. Das
finde ich auch schade. Aber er ist dabei, das Effizienzziel, das Frau Merkel selbst als ihren Erfolg gerühmt hat,
bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern. Er bekennt sich
zwar noch zu den 20 Prozent, nicht aber dazu, wie sie
berechnet werden. Er will die Berechnungsgrundlage
derart verändern, dass nichts davon übrig bleibt. Das ist
nicht nur ein Rückschritt, das ist dreist.
({4})
Wie kann es denn nun gehen? Unser Antrag beschreibt es: Wir brauchen einen Energiesparfonds mit
zusätzlichen, haushaltsunabhängigen Mitteln, die durch
die EU-Richtlinie generiert werden - ein Beispiel dafür
ist die 1,5-Prozent-Regel zur verbindlichen Energieeinsparung -, einen neuen Markt für Energiedienstleistungen, intelligentes Ordnungsrecht, leicht zugängliche
Informationen. So können Hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen werden.
Bisher hat diese Bundesregierung nur die von der Gesellschaft geforderte Atomwende geschafft. Darüber
freuen wir uns, aber das reicht noch lange nicht. Zur
Energiewende gehört auch die Verbesserung der Energieeffizienz. Hier haben Sie kläglich versagt. Ich ahne
schon, was jetzt gleich kommen wird; Sie haben ja kurzfristig noch den Nationalen Energieeffizienz-Aktionsplan mit auf die Tagesordnung setzen lassen. Aber ich
sage Ihnen: Mit jedem Satz zu den dort zitierten Erfolgen loben Sie Rot-Grün. Sie loben die Ökosteuer, die
Energieeinsparverordnung und die KfW-Programme. Sie
loben all die grünen Projekte, die bis heute positiv wirken. In dieser Regierungsperiode gibt es kein schwarzgelbes Projekt, das relevant ist.
({5})
In diesem Sinne freue ich mich gleich auf viel Lob.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Nestle, zunächst einmal möchte
ich feststellen, - das gilt auch für die anderen Fraktionen
im Haus -: Wir sind uns einig, dass Energieeffizienz der
Königsweg der Energiepolitik ist und dass die Energie,
die wir einsparen, die beste Energie ist. Deshalb werden
wir den eingeschlagenen Weg weiterhin gemeinsam
konsequent beschreiten.
({0})
Frau Nestle, man muss schon die Kirche im Dorf lassen.
Von mir aus können wir etwas länger zurückblicken. Sie
sagen, es sei nichts erreicht worden, und wenn was erreicht worden wäre, dann wäre das dem glorreichen Wirken der Grünen zuzuschreiben. Das stimmt so natürlich
nicht.
Wie ist die historische Situation? Energie hat trotz Industrialisierung über 100 Jahre hinweg nichts gekostet.
Sie war im wahrsten Sinne des Wortes billig und stand
unbegrenzt zur Verfügung. Das war Ende der 60er-Jahre
bzw. Anfang der 70er-Jahre der Fall. Mit der ersten
Energiekrise, der Ölkrise, wurde das Thema Energieeffizienz auf die Tagesordnung gesetzt. Seither haben viele
Regierungen Verantwortung getragen. Daher können wir
uns alle auf die Schulter klopfen. Wir brauchen uns in
Deutschland wahrlich nicht zu schämen. Es ist uns gelungen, die Energieproduktivität von 1970 bis 1990 zu
verdoppeln, das heißt: Die gleiche Einheit Bruttosozialprodukt wurde mit der Hälfte an Energie produziert.
Oder andersherum: Mit der gleichen Energiemenge
wurde die doppelte Einheit Bruttosozialprodukt erzielt.
Wir sind an diesem Punkt aber nicht stehen geblieben.
Seit der Wiedervereinigung 1990 wurde weiterhin viel
erreicht. Ich nenne ein paar Zahlen. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit 1990 um 30 Prozent gestiegen, während
der Primärenergieverbrauch um 6,8 Prozent - temperaturbereinigt, also real, sogar um 10 Prozent - zurückgegangen ist. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der Energieverbrauch je Einheit.
Wenn Sie das BIP betrachten, dann stellen Sie fest, dass
der Primärenergieverbrauch um 29 Prozent gesunken ist.
Damit gehört Deutschland nicht nur zu den produktivsten Industrieländern in der Welt, sondern auch zu den
energieeffizientesten Volkswirtschaften dieser Welt. Das
will ich an dieser Stelle betonen.
Betrachten wir die Sektoren genauer. In der Industrie
- ich nenne ein Beispiel aus der NE-Metallindustrie - ist
der spezifische Energieverbrauch von 1990 bis 2008 um
26 Prozent gesunken. In den Haushalten ist der Endenergieverbrauch - wir sprechen nicht nur über Strom, sondern man muss auch über Wärme sprechen, 40 Prozent
unseres Energieverbrauchs sind wärmebezogen - um
18 Prozent zurückgegangen. Auch im Bereich Verkehr
wurde viel erreicht. Der Kraftstoffverbrauch pro 100 Kilometer Fahrleistung je Pkw ist um 21 Prozent gesunken.
Das sind Fakten, die belegen, was wir bis jetzt gemeinsam erreicht haben.
Sie haben völlig recht: Wenn wir das, was wir uns mit
unserem nationalen Energiekonzept, aber auch europaweit vorgenommen haben - die höchsten Einsparziele -,
umsetzen wollen, dann reicht das, was wir bisher auf den
Weg gebracht haben, noch nicht aus. In diesem Bereich
müssen wir noch mehr machen. Wir sind gerade dabei,
das zu tun.
({1})
- Vielen Dank, dass Sie das goutieren.
Zum Bereich Forschung. Die Erforschung neuer Energieeffizienztechnologien ist das Kernstück des kürzlich verabschiedeten Energieforschungsprogramms. Bis
2014 werden 3,5 Milliarden Euro für die Energieforschung zur Verfügung gestellt, das entspricht einer Steigerung um 75 Prozent. 80 Prozent der Mittel, die dort
zur Verfügung gestellt werden, gehen in die Steigerung
der Energieeffizienz und in den Ausbau moderner und
intelligenter Netze und Systeme sowie in die Erforschung der Integration erneuerbarer Energien und der
Speicherung, also Bereiche, die ebenfalls mit Energieeffizienz zu tun haben.
Der Energieeffizienzfonds, den Sie fordern, wurde
beim BMWi längst eingerichtet. Den 2. Nationalen
Energieeffizienz-Aktionsplan haben wir erst kürzlich
vorgelegt. Er enthält mehr als 90 Instrumente, die zielgerichtet wirken. Sie können das gerne nachlesen, falls Sie
das noch nicht getan haben.
({2})
Der Monitoringbericht bescheinigt uns, dass Deutschland als wahrscheinlich einziges Land in Europa die europäischen Energieeffizienzziele auf jeden Fall erreichen
wird. Wir setzen auf marktgetriebene und kosteneffiziente Instrumente zur Hebung der Potenziale. Während
Sie reden und Anträge schreiben, handeln wir. Wir setzen die Dinge um.
({3})
Was machen wir in den einzelnen Feldern konkret?
Kommen wir zu den Gebäuden zurück. Ich erwähnte
bereits, dass 40 Prozent unseres Energieverbrauchs wärmebezogen sind. Wir haben in der Zeit der Großen Koalition, von 2005 bis 2009, mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm, für das wir eine hohe Fördersumme zur
Verfügung gestellt haben, relativ viel erreicht. 2,5 Millionen Wohnungen wurden energieeffizient saniert bzw.
errichtet. Die dadurch erreichte Reduzierung des
CO2-Ausstoßes ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt
der Energieeffizienz wichtig, sondern kommt auch der
Umwelt zugute.
Wir werden diese Förderung verstetigen und um eine
steuerliche Förderung ergänzen. Sie können daran mitwirken, indem Sie dafür sorgen, dass die SPD-geführten
Länder ihre Blockadehaltung hinsichtlich der steuerlichen Förderung im Bundesrat aufgeben. Wir müssen
das, was wir geplant haben, endlich umsetzen können.
({4})
Wir könnten eine Gesamtfördersumme von 3 Milliarden
Euro erreichen: 1,5 Milliarden Euro Fördersumme und
Steuervorteile in Höhe von 1,5 Milliarden Euro.
({5})
Jetzt will ich einen anderen Sektor ansprechen. Wir
setzen auf Fördern und Fordern. Wir setzen auf Marktanreizprogramme. Wir wollen die Leute mitnehmen. Wir
wollen keinen Blockwart im Hauskeller. Wir wollen die
Leute überzeugen. Wir wollen, dass sie mitmachen, weil
es für sie selber etwas bringt. Diesbezüglich befinden
wir uns auf einem schwierigen Weg. Schauen wir einmal
nach Baden-Württemberg: Die CDU-FDP-geführte Regierung in Baden-Württemberg hat vor wenigen Jahren
die Nutzung erneuerbarer Energien im Wärmebereich
festgelegt. Der Kollege Kelber ist noch anwesend.
({6})
Er weiß, dass wir das damals technologieoffen festgelegt
haben; darum haben wir gerungen. Unsere Hoffnung war
groß, dass Investitionsmaßnahmen beschleunigt durchgeführt werden. Leider besagt der vorliegende Bericht,
dass viele trotz dieser Technologieoffenheit sagen: Bevor ich mich verpflichte, in eine bestimmte Richtung zu
gehen, mache ich lieber nichts. Darauf müssen wir jetzt
reagieren.
({7})
Das kann nicht unser Ziel sein. Wir dürfen keine Politik
machen, die dazu führt, dass Investitionen zur Steigerung der Effizienz unterbleiben. An dieser Stelle müssen
wir einen Spagat hinlegen.
Frau Nestle, ich möchte ein deutliches Wort an die
Adresse der Grünen richten. Das, was Sie gesagt haben,
und das, was die Grünen in ihren Verlautbarungen in den
letzten Monaten kundgetan haben, ist industriefeindlich.
Sie sagen, Sie wollen eine andere Industrie, weil unsere
Industrie überholt sei. Das ist der falsche Weg.
({8})
Sie haben vorhin das Ende der Subventionierung der energieintensiven Industrie gefordert. Das ist doch abwegig. Wir müssen versuchen, die energieintensive IndusDr. Joachim Pfeiffer
trie vor den gröbsten Belastungen, die mit
Effizienzsteigerungen im Zusammenhang stehen, zu bewahren.
({9})
- Sie haben das selbst gemacht. Als Sie die Stromsteuer
eingeführt haben, haben Sie die energieintensive Industrie befreit, weil Sie wussten, dass sie ansonsten abwandert.
Wir wollen, dass Deutschland Industriestandort
bleibt. Wir wollen eine effiziente Industrie. Es macht
keinen Sinn, verbindliche Energieeinsparungen in Höhe
von pauschal 1,5 Prozent zu fordern. Dadurch würde das
Wirtschaftswachstum behindert werden. Auch würden
dadurch Innovationen verhindert werden. Investitionen
zur Verbesserung der Energieeffizienz würden unterbleiben. Für die CDU/CSU-Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit: Die Produktionsverlagerung der energieintensiven Industrie ins Ausland ist kein Beitrag zur
Verbesserung der Energieeffizienz. Das versteht die
christlich-liberale Regierung nicht unter Maßnahmen zur
Verbesserung der Energieeffizienz.
({10})
Wir wollen beides unter einen Hut bringen. Deshalb
sind wir für intelligente Anreizprogramme in allen Sektoren, im Gebäudebereich, im Strombereich, im Industriebereich und im Verkehrsbereich. Wir werden auch
überlegen, ob im Mobilitätsbereich Förderprogramme
der KfW sinnvoll sind. Das heißt, wir wollen mit einem
Strauß von Maßnahmen Anreize für Investitionen schaffen, mit denen die Effizienz verbessert werden kann.
Wir wollen dort, wo es notwendig und technisch
möglich ist, beispielsweise bei einem Neubau, mit ordnungspolitischen Maßnahmen - Stichwort „Energieeinsparverordnung“ - höchste Standards setzen und damit
die Energieeffizienz steigern, und zwar zusammen mit
der Wirtschaft unter Erhaltung des Industriestandortes
und nicht durch Vertreibung der Industrie aus Deutschland, was Folge der Umsetzung Ihrer Politik wäre.
({11})
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Joachim Pfeiffer, Sie sind nicht
zu beneiden, wenn Sie hier zu dem Thema Energieeffizienz eine Rede halten müssen.
({0})
Bis zum Herbst 2010 haben Sie eine Politik betrieben,
die vor allen Dingen daran ausgerichtet war, die vier großen Energiekonzerne, die Atomkraftwerksbetreiber, zu
unterstützen. Wir alle wissen, dass deren Ziel nicht die
Unterstützung der Nachfrageseite bei der Energieeffizienz ist, sondern dass deren Ziel vor allen Dingen der
Verkauf großer Strommengen ist.
({1})
Das beißt sich. Da Sie deren Politik gemacht haben, hat
sich die Förderung der Energieeffizienz in Ihren Konzepten natürlich nicht wiedergefunden.
({2})
Übrigens trifft das nicht nur auf Energieeffizienzbemühungen auf der Nachfrageseite, sondern gleichermaßen auch auf der Angebotsseite zu. Wir alle wissen, dass
beispielsweise RWE beim Bundeswirtschaftsministerium Papiere eingereicht hat, die dort eins zu eins übernommen wurden, und dass dort eine ganz klare Ablehnung gegen die KWK, die effizienteste Form der
Umwandlung von Primärenergieträgern in Strom und
Wärme, aufgebaut wurde. Von daher haben Sie in diesem Bereich eine Hypothek mit sich herumzuschleppen.
Als Sie eben die Erfolgsbilanz Deutschlands dargelegt haben, wurde deutlich, dass Sie relativ weit zurückgreifen mussten: In Zeiten einer rot-grünen Energiepolitik ist im Bereich der Energieeffizienz in der Tat einiges
passiert. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist:
Wir sind weit davon entfernt, uns deswegen auf die
Schulter zu klopfen. Denn wir sagen: Es gibt in diesem
Bereich noch enorm viel zu tun.
({3})
Dies gilt sowohl auf der Angebotsseite, also auf der
Seite der Strom- und Wärmeerzeugung, als auch auf der
Nachfrageseite. In beiden Bereichen ist Ihre Bilanz sehr
bescheiden. Die geplante Änderung des Kraft-WärmeKopplungsgesetzes - ich werde dazu jetzt nicht viel sagen; das wird mein Kollege Dirk Becker gleich tun - haben Sie x-mal verschoben. Jetzt soll im Herbst 2011 eine
Vorlage kommen. Die Uhr tickt. Der Herbst ist schon
weit fortgeschritten. Warten wir einmal ab, was Sie liefern.
Wir, Rot-Grün, haben schon früh zu Beginn unserer
Regierungszeit Anstrengungen unternommen, um die
Kraft-Wärme-Kopplung in unserem Land trotz der Liberalisierung, die damals zeitgleich stattfand, zumindest zu
stabilisieren. Wir haben feststellen müssen, dass unsere
Bemühungen bisher noch nicht dazu geführt haben, dass
wir die Ziele, die wir uns bis zum Jahr 2020 in dem Bereich gesetzt haben, tatsächlich erreichen werden. Deswegen haben wir Vorschläge für eine Änderung des
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes gemacht. Sie haben
bisher nicht darauf reagiert. Ich hoffe dringend, dass Ihre
Worte in Sachen Energieeffizienz jetzt mit Taten belegt
werden.
({4})
Eben ist das Stichwort CO2-Gebäudesanierungsprogramm gefallen. Ja, in der Tat, das war ein Erfolgsprogramm. Es war ein echtes Erfolgsprogramm, solange die
Mittel in dem Umfang gesteigert wurden, in dem die
Wirtschaft in der Lage war, diese Mittel zu absorbieren
und dafür zu sorgen, dass im Gebäudebestand in
Deutschland in Energieeffizienz investiert wurde.
({5})
Dann kamen Sie an die Regierung, und Sie haben die
Mittel erst einmal zusammengestrichen. Welche Wirkung hatte das? Die Wirkung war, dass dieser Markt sehr
viel kleiner geworden ist, dass viele Handwerker, die zuvor neues Personal eingestellt hatten, sich mittlerweile
wieder von diesem Personal trennen mussten, dass auf
diesem kleineren Markt sehr viel mehr Wettbewerb, zum
Teil ruinöser Wettbewerb, herrschte. Erst jetzt fangen
Sie an, die Mittel wieder aufzustocken. Erst jetzt erreichen wir langsam wieder die Größenordnungen, die wir
aus der Vergangenheit kennen. Wenn Sie diesen erfolgreichen Weg weitergegangen wären, hätten wir schon
längst sehr viel höhere Sanierungsquoten erreichen können.
({6})
Lieber Joachim Pfeiffer, Sie haben die Entscheidung
im Bundesrat angesprochen. In Richtung der SPD mahnen Sie an, die steuerliche Förderung so zu unterstützen,
wie Sie es vorgeschlagen haben. Nehmen Sie bitte zur
Kenntnis, dass das von Ihnen vorgeschlagene Modell
dazu führt, dass diejenigen, die über höhere Einkommen
verfügen, stärker gefördert werden als diejenigen mit
kleineren Einkommen. Wir dagegen haben Fördersysteme entwickelt, die auf Zuschüssen und Mikrokrediten
beruhen. Wenn Sie diesen Weg gehen, dann bekommen
Sie nicht nur die Unterstützung des Bundestags, sondern
sicherlich auch die des Bundesrats.
({7})
Selbst wenn wir das, was wir uns in Bezug auf die
Energieeffizienz auf der Angebots- und Nachfrageseite
vorgenommen haben, nämlich eine echte Energiewende,
tatsächlich ernst nehmen, greift dieses Vorhaben noch
immer zu kurz. Wir wissen doch, dass wir hier über ein
Gesamtsystem reden. Wenn wir die von uns gesetzten
Ziele wirklich ernst nehmen, müssen wir das Energieversorgungssystem, das Strom- und Wärmesystem, weiterentwickeln.
Alle Fraktionen hier im Bundestag haben ambitionierte Ziele im Hinblick auf den Aufbau erneuerbarer
Energien. Selbst Sie wollen bis zum Jahre 2050 einen
Anteil von 80 Prozent an erneuerbaren Energien im System haben. Wir wissen alle, dass das Energiesystem für
diese großen Mengen an erneuerbaren Energien aufnahmefähig gemacht werden muss. Die Volatilitäten auf der
Erzeugungsseite müssen durch immer mehr Flexibilität
kompensiert werden. In Bezug auf die Erzeugungsseite
vermissen wir jedoch jeglichen konstruktiven Vorschlag
Ihrerseits. Das gilt insbesondere für das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Wir sagen: Auf der Erzeugungsseite brauchen wir ein Zusammenspiel zwischen
volatil und flexibel einspeisenden Energien. Das können
erneuerbare Energien, das können aber auch konventionelle Energien aus modernen Gaskraftwerken sein.
({8})
Wir brauchen die Flexibilität aber auch auf der Nachfrageseite. Wenn wir an dieser Stelle nicht vorwärtskommen, die Effizienz des Systems nicht im Auge behalten
und die Flexibilität auf der Nachfrageseite nicht wecken,
dann werden wir versagen. Dann werden wir unsere
Ziele im Bereich der erneuerbaren Energien nicht erreichen. Auch dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht. Bei Ihnen scheint einiges in der Pipeline sein.
Auf mehr werden wir jedoch wahrscheinlich noch länger
warten müssen.
Ich komme zur Flexibilität bei den Großverbrauchern.
Große industrielle Verbraucher können durch Zu- oder
Abschaltung entsprechend reagieren, Flexibilitäten im
Netz schaffen und auch ausgleichen, wenn es auf dem
Markt beispielsweise ein Unterangebot an Strom gibt.
({9})
Sie haben diesbezüglich etwas angekündigt. Da soll etwas kommen. Es liegt noch nicht auf dem Tisch. Ich
hoffe, dass Sie wirklich und auch zeitnah etwas liefern.
Wir brauchen die Flexibilität auch in der Breite der
Unternehmen im produzierenden Gewerbe, also in den
kleinen und mittleren Unternehmen sowie in den privaten
Haushalten. 2008 haben wir in der Großen Koalition gesagt: Wir wollen intelligente Zähler - zunächst verpflichtend im Neubau; auch in den privaten Haushalten -,
schließlich eine Angebotspflicht für den Gebäudebestand, und zeitgleich wollen wir lastvariable Tarife. Das
heißt: Der Kunde, der seine Verbräuche in Zeiten eines
hohen Stromangebots verlagert, soll dafür auch belohnt
werden, indem er weniger bezahlen muss.
Was seit 2008 auf diesem Gebiet passiert ist, ist ausgesprochen bescheiden. Ihre Zusammenarbeit mit der
Bundesnetzagentur hat sich darauf beschränkt, zu sagen:
Macht mal! - Eine konstruktive Begleitung und auch ein
Stück Antrieb haben gefehlt. Deswegen sind wir in diesem Bereich überhaupt noch nicht weitergekommen.
Wenn wir dies aber nicht schaffen, dann brauchen wir
über Elektromobilität - beispielsweise über batteriebetriebene Fahrzeuge - gar nicht weiter nachzudenken.
Wenn wir im Bereich der Elektromobilität wirklich vorankommen wollen, dann müssen wir vorher bereits die
Flexibilitäten auf der Nachfrageseite geschaffen haben.
Dann müssen die Kunden bereits über die notwendigen
Installationen verfügen, insbesondere über intelligente
Zähler. Aber auch die anderen Marktakteure müssen die
entsprechenden Schritte bereits gegangen sein. Die gesamte Schnittstelle zwischen Erzeugung, Netz und Kunden muss durch entsprechende Informationstechnologie
so aufgerüstet sein, dass Elektromobilität zu einem Erfolgsmodell werden kann, nicht nur für den Mobilitätssektor, sondern auch für den Energiebereich.
({10})
Hier haben Sie nicht geliefert. Wenn ich sehe, wie viel
Zeit Sie verlieren und dass Sie beispielsweise darüber
jammern, dass Netze nicht zeitgerecht fertig werden,
dann muss ich Ihnen sagen: Der Hauptbremser, der dafür
sorgt, dass der Umbau des Energiesystems nicht vorankommt, sind Sie selbst.
({11})
Meine Damen und Herren, was ich beschrieben habe,
zeigt: Wir stehen vor einer ausgesprochen komplexen
Aufgabe. Man kann vor Komplexität kapitulieren; diesen Eindruck kann man gelegentlich gewinnen, wenn
man in Ihre Richtung schaut. Man kann sie aber auch als
Herausforderung annehmen und gemeinsam mit den Akteuren in der Energiewirtschaft und auf dem gesamten
Energiesektor - dazu gehören auch die Verbraucher - in
einen Dialog eintreten, der dazu beiträgt, dass die
Schritte, die dort gegangen werden können, durch politische Rahmenbedingungen, die wir setzen müssen, konstruktiv begleitet werden. Das fehlt zurzeit. Das wird angemahnt, in zunehmendem Maße auch und gerade von
innovativen Akteuren. Aber von Ihnen ist bisher leider
nichts gekommen.
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie unsere Vorschläge
konstruktiv auf! Lassen Sie den Worten Taten folgen! Es
reicht nicht, wenn wir alle nur sagen, Effizienz sei das
Gebot der Stunde und die wichtigste Quelle für eine erfolgreiche Energiepolitik. Wir müssen auch dementsprechend handeln.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! KWK ist eine Form der Energieerzeugung mit
höchster Effizienz. Wir haben ein klares Ziel: Wir wollen den Anteil des Stroms aus KWK bis 2020 auf mindestens 25 Prozent ausbauen. Voraussichtlich noch im
November dieses Jahres wird das Bundeswirtschaftsministerium einen Evaluationsbericht zur Kraft-WärmeKoppelung vorlegen, übrigens zusammen mit den Eckpunkten der Novelle des KWK-Gesetzes; diese wird
dann im nächsten Jahr folgen.
In meinen Gesprächen mit dem Ministerium gab es
keine Hinweise auf die in den Anträgen formulierte Behauptung, der KWK-Markt würde stagnieren.
({0})
Im Gegenteil: Mehr als 6 000 Anträge zur KWK-Förderung wurden bis Mitte des Jahres gestellt, 600 allein zum
Ausbau des Wärmenetzes. Das ist nicht trivial. Alles in
allem gehen 5 200 Megawatt in der Zeit von 2010 bis
2012 ans Netz. Nach meinem Kenntnisstand planen
Stadtwerke und größere Energieversorger eine starke
Ausweitung des Einsatzes dezentraler Blockheizkraftwerke, lokal und bedarfsgerecht. Bis zu 3 000 Einheiten
der unterschiedlichen Größenklassen können in
Deutschland entstehen.
Gleiches gilt für den Einsatz von Mikro-KWK-Anlagen. Diese Zuhausekraftwerke, mit Gasmotor oder auf
Brennstoffzellenbasis, werden in Modellregionen in
Nordrhein-Westfalen, in der Ems-Weser-Elbe-Region
und im Verbund Hamburg-Berlin bereits flächendeckend
erprobt. Vattenfall zum Beispiel möchte dort bis Ende
des Jahres 100 000 solcher Anlagen als virtuelle Kraftwerke in Betrieb haben.
({1})
Die Inanspruchnahme von Fördermitteln für KWK wird
also deutlich ansteigen. Aus meiner Sicht besteht daher
für eine Umlenkung der Mittel, die in den Anträgen von
SPD und Grünen gefordert wird, weder Anlass noch
Verfügungsmasse.
Meine Damen und Herren, wir müssen eines beachten: KWK-Anlagen sind nur dort wirtschaftlich, wo ein
möglichst kontinuierlicher Wärmeabsatz gewährleistet
ist.
({2})
Das ist nun einmal nicht überall der Fall.
({3})
Deswegen werden solche Anlagen auch nur dort errichtet werden können, wo der Wärmeabsatz erfolgen kann.
Wir müssen also nach einer ganzheitlichen Strategie vorgehen, so wie sie im Energiekonzept der Bundesregierung angelegt ist.
Es gilt daher auch, den Wärmebedarf für Gebäude im
Blick zu haben. Hier liegen die größten Effizienzpotenziale überhaupt. SPD und Grüne blockieren mit ihrer
Ablehnung im Bundesrat die von der Koalition auf den
Weg gebrachte steuerliche Förderung der energetischen
Gebäudesanierung.
({4})
Das ist Politik gegen den Bürger und gegen die Umwelt.
({5})
Es ist daher einäugig, den KWK-Anteil bis 2020 unter
Zwang auf 30 Prozent ausbauen zu wollen. So steht es
im Antrag der Grünen. Auch in einer künftigen Strategie
zum Ausbau der KWK-Kraftwerke müssen Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit beachtet werden.
({6})
Wir brauchen im Kraftwerkspark zukünftig nicht nur
mehr Effizienz, sondern auch mehr Flexibilität. Ein
Kraftwerk, das mit fossilen Brennstoffen betrieben wird,
kann entweder wärme- oder stromgeführt betrieben werden. Erreichen wir unsere Ausbauziele für die erneuerbaren Energien - 80 Prozent bis 2050 -, dann müssen
wir auf die Residuallasten schnell und kostengünstig reagieren können. Ohne Wärmespeicher wie den, den Vattenfall in Dänemark betreibt, bringen wir die KraftWärme-Kopplung nicht mit den Anforderungen an unseren zukünftigen Kraftwerkspark in Einklang. Wir müssen es daher den Unternehmen überlassen, ob sie in ihren Kraftwerken im Einzelfall - je nach Standort - auf
KWK setzen oder nicht und welchen Energieträger sie
einsetzen.
({7})
Mit meinem letzten Punkt komme ich zur Steigerung
der Energieeffizienz im produzierenden Gewerbe. Dort
gibt es bei unseren hohen Energiepreisen wirklich kaum
noch Potenziale zu heben. Die Politik sollte keinem Unternehmen - und erst recht keinem großen, mittelständischen oder kleinen energieintensiven Unternehmen vorschreiben dürfen, wie viel Energie es einsparen muss;
denn Energie kostet Geld,
({8})
Geld, das ein Unternehmer aus eigenem Antrieb zu sparen versucht.
Mit der verpflichtenden Einführung von Energiemanagementsystemen in den Unternehmen verursacht
man einen höheren Bedarf an personellen und finanziellen Kapazitäten und höhere Energiekosten. Bei Durchsicht der Anträge habe ich immer wieder herausgelesen,
dass wir per Gesetz einen neuen Markt für Energieberatung schaffen müssen.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit durch eine
Zwischenfrage der Kollegin Nestle verlängern?
Ja, bitte.
({0})
Danke, Herr Breil. - Sie sprachen gerade an, dass
man kein Unternehmen verpflichten dürfe, eine bestimmte Effizienzmaßnahme durchzuführen. Es steht
jetzt ja die politische Entscheidung an, wie Sie sich zur
EU-Effizienzrichtlinie positionieren. Ich habe Art. 6 angesprochen und wollte Sie fragen, ob Sie meiner Interpretation folgen: Durch den Artikel wird ein Unternehmen in keinster Weise verpflichtet, etwas zu sparen oder
ein bestimmtes Projekt durchzuführen. Es wird stattdessen nur die Gesamtmenge an Projekten festgelegt - und
zwar bei absoluter Freiheit, wo man sie durchführt -,
wodurch 50 Milliarden Euro in Europa investiert werden
können und nicht ins weitere Ausland abfließen.
({0})
Frau Nestle, wir müssen diese Maßnahmen in erster
Linie in die Hände der Unternehmen legen. Die Unternehmen kennen ihre Kosten selbst am besten und haben
ein großes Interesse daran, Kosten zu sparen. Alles andere werden wir, wenn Vorschläge aus Brüssel kommen,
natürlich erwägen, und wir werden uns unsere Meinung
dazu bilden.
({0})
Damit möchte ich zu meinem Schlusssatz kommen:
Lassen Sie die Wirtschaft einfach mal machen!
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Dorothée Menzner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Vor reichlich einem
Jahr haben wir hier über ein leider nutzloses Stück Papier mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlamentes und
des Rates über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen“ beraten und es beschlossen.
Wieso nutzlos? Das klingt ja erst einmal ganz gut. Es
ist nutzlos, weil gänzlich unambitioniert. Es entsprach
gerade einmal mit Ach und Krach der Eins-zu-eins-Umsetzung dessen, was in der Richtlinie gefordert wurde.
Das Ganze geschah noch mit mehrjähriger Verspätung.
Die Linke hat damals schon sehr konkrete Ideen gehabt und Vorschläge vorgelegt, wie man im Bereich Effizienz mit wenig Aufwand viel erreichen könnte. Das ist
von der Koalition alles abgelehnt worden. Jetzt unternimmt die Fraktion der Grünen einen neuerlichen Anlauf. Es braucht leider relativ wenig Fantasie, um zu ahnen, was geschehen wird, nämlich erneut nichts bis ganz
wenig.
Damals wie heute verzichtet die Bundesregierung in
vollem Bewusstsein auf konkrete Zielvorgaben inklusive
möglicher Restriktionen, insbesondere für Industrie und
Wirtschaft. Wir haben es eben bestätigt bekommen.
Während Verbraucherinnen und Verbraucher zweifelhaft
gegängelt werden - ich möchte nur das Stichwort Energiesparlampe benennen -,
({0})
können Unternehmen frei entscheiden. Dort setzt man
auf Eigenverantwortung und Freiwilligkeit.
({1})
Da fragt man sich: Wo leben Sie eigentlich? Erklären Sie
mir und der Öffentlichkeit doch bitte einmal, woher Sie
die Gewissheit nehmen, dass plötzlich nicht Profitstreben, sondern soziale und ökologische Moral Triebfeder
ökonomischen Handelns wird.
({2})
Mir fehlt dieser Glaube. Ich vermute, damit bin ich nicht
alleine. Gibt es irgendwelche geheimen Absprachen mit
dem BDI und anderen Verbänden zum Thema Energieeinsparen und -effizienz, die wir nicht kennen? Dann
würden wir sie gerne kennenlernen, damit wir wüssten,
welcher Art sie sind.
Woher nehmen Sie überhaupt die Gelassenheit und
das Vertrauen, dass der Markt es richten wird? Sie haben
eben noch einmal betont, dass Sie diesem Glauben anhängen. Tag für Tag erleben wir doch, dass dieser Markt
zunehmend nicht mehr kontrollierbar ist und Politik und
Steuerzahler am Nasenring durch die Manege geführt
werden. Nein, mir und vielen anderen Bürgerinnen und
Bürgern fehlt da das Vertrauen. Es braucht für die Industrie klare Ziele und klare Vorgaben und dann auch Kontrollen hin zu mehr Energieeffizienz und -einsparung.
({3})
Nur ein Beispiel sind verbindliche Schritte weg von
der Quasifreistellung vieler Unternehmen von der EEGUmlage, eine Freistellung, die die privaten Verbraucherinnen und Verbraucher mitbezahlen. Ich möchte Sie daran erinnern - gerade nach der Rede vom Kollegen Breil
erscheint mir das dringend notwendig -: Der Bundestag
hat durch das Volk nicht den Auftrag bekommen, der Industrie zu vertrauen. Wir haben den Auftrag, dem Wohle
der Menschen zu dienen.
({4})
Wir dürfen der Industrie nicht einfach vertrauen und die
Dinge so laufen lassen, wie Sie es tun. Unser Auftrag bedeutet, zu steuern und Grenzen da zu setzen, wo es notwendig ist.
Deswegen fordere ich Sie auf: Hören Sie endlich auf,
die EU-Effizienzrichtlinie zu blockieren. Lassen Sie uns
verbindliche Einsparziele festlegen! Die vorgelegten
Anträge bieten dazu ausreichend Gelegenheit. Arbeiten
wir hier konstruktiv zusammen!
Ich danke.
({5})
Das Wort hat nun Thomas Bareiß für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Lieber Kollege Hempelmann, erlauben Sie mir,
gleich zu Ihrer Rede zu kommen. Sie haben mehrfach
gesagt: Lassen Sie den Worten Taten folgen.
Erlauben Sie mir, zu sagen, dass in Ihrem Bundesland
Nordrhein-Westfalen, wo Sie Verantwortung tragen, eine
der modernsten und effizientesten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen steht und nicht ans Netz gehen kann, weil
Ihre Landesregierung, die rot-grüne Landesregierung
das nicht schafft. Wenn Sie hier also sagen „Lassen Sie
den Worten Taten folgen“, dann kann ich Ihnen nur raten: Schaffen Sie es doch erst einmal in Ihrem eigenen
Bundesland, etwas voranzubringen.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Kollege Bareiß, da Sie das Kraftwerk Datteln
ansprechen: Ist Ihnen bekannt, dass eine ehemalige
schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen
einen Genehmigungsbescheid erarbeitet hat, der vom
Gericht mit Pauken und Trompeten kassiert wurde,
({0})
und dass das der Grund dafür ist, dass dieses Kraftwerk
nicht in Betrieb genommen werden kann? Können Sie
bestätigen, dass das eine katastrophale, eine handwerklich schlechte Politik der Landesregierung unter dem
Ministerpräsidenten Rüttgers war?
({1})
Ich kann nur bestätigen, dass sich Eon heftig darüber
beklagt, dass die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen das auf allen Ebenen verhindert.
({0})
Die SPD würde es sehr gerne tun, aber sie kommt nicht
voran, weil Sie von den Grünen die Landesregierung in
Nordrhein-Westfalen daran hindern. Das ist das Problem.
({1})
Wir könnten bei dem Thema schneller vorankommen,
aber das klappt nicht, weil die Grünen in NordrheinWestfalen auf allen Ebenen Blockadepolitik betreiben.
({2})
Meine Damen und Herren, zwei von drei Anträgen,
die heute vorliegen, befassen sich mit der Kraft-WärmeKopplung. Deshalb möchte ich mich in meiner Rede in
erster Linie dem Thema KWK widmen.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die KraftWärme-Kopplung bzw. die Energieeffizienz eine der
wichtigsten Säulen unserer Energiewende. Denn wir organisieren nicht nur den Ausstieg aus der Kernenergie,
sondern auch den Einstieg ins Zeitalter der erneuerbaren
Energien.
Deshalb haben wir die großen Herausforderungen angepackt. Wir kümmern uns um den Netzausbau, den verantwortungsvollen und effizienten Ausbau der erneuerbaren Energien, um Energieeffizienz und den Zubau
eines modernen, effizienten und flexiblen Kraftwerksparks und damit auch um den Zubau von Kraft-WärmeKopplungsanlagen.
({3})
Schon heute beträgt der Anteil von KWK am Strommix rund 15 Prozent. Das ist nicht wenig, und wir werden den Ausbau in den nächsten Jahren Schritt für
Schritt weiter vorantreiben.
({4})
Für uns ist dies ein intelligenter Weg, effizient mit
Energiequellen umzugehen. Strom und Wärme aus einem Prozess: Das hat einen hohen Wirkungsgrad. Während in konventionellen Kraftwerken zwischen 45 und
70 Prozent der Energie, die für die Stromerzeugung eingesetzt wird, als Abwärme verlorengehen, schaffen moderne KWK-Technologien Nutzungsgrade von bis zu
90 Prozent. Das müssen wir in Zukunft verstärkt nutzen.
({5})
Weil wir dieses Potenzial ausbauen wollen, haben wir
schon im Juli dieses Jahres im Rahmen der EnWG-Novelle elementare Regelungen beschlossen, die dem Ziel
dienen, die Förderung nach dem KWK-Gesetz noch flexibler zu gestalten und den Betreibern von KWK-Anlagen mehr Investitionssicherheit zu bieten.
Zum Ersten haben wir eine Flexibilisierung der Förderung durch den Wegfall der maximal zulässigen Betriebsjahre - sechs Jahre - geschaffen. Wir haben dieses Kriterium gestrichen; zukünftig gilt nur noch die tatsächliche
Betriebsdauer von maximal 30 000 Betriebsstunden.
Dies war aufgrund der Marktentwicklungen notwendig,
da mit dem Anstieg des Anteils der erneuerbaren Energien die Auslastung der Anlagen gesunken ist. Mit dieser
Maßnahme nehmen wir den Druck von den Anlagenbetreibern und schaffen in den nächsten Jahren mehr Planungssicherheit.
Zum Zweiten haben wir eine Verschiebung des Stichtags für die KWK-Förderung über 2016 hinaus bis Ende
2020 beschlossen. Auch mit dieser Regelung wird den
Unternehmen Investitionssicherheit gegeben. So stellen
wir sicher, dass der Ausbau von KWK nicht zum Erliegen kommt.
Mit diesen zwei zentralen Punkten haben wir schon
heute das politische Signal gegeben, dass wir zur KWK
stehen. In der anstehenden Gesetzesnovelle werden wir
noch in diesem Jahr weitere Detailregelungen schaffen.
Dazu wird die Bundesregierung schon Ende November
einen Zwischenbericht vorlegen. Auf dieser Basis werden wir dann noch in diesem Jahr den Gesetzentwurf
einbringen. Damit schaffen wir weiter Investitionssicherheit.
Wir werden in den Ausschüssen intensiv über den
richtigen Weg der KWK sprechen. Ich will aber schon
heute sagen: Wir müssen bei der anstehenden Novelle
nicht nur über die Vergütungssätze sprechen, wie es in
Ihren Anträgen der Fall ist, sondern vor allem über die
Frage, welchen Beitrag die KWK zur Systemstabilität
leisten kann. Das ist, glaube ich, der wichtigste Beitrag.
Wir müssen auch über interessante Ansätze zur Wärmespeicherung sprechen. Diese spielen eine wichtige
Rolle, da sie KWK-Anlagen eine flexiblere, stromgeführte Fahrweise ermöglichen, die wir zur besseren Integration der fluktuierenden erneuerbaren Energien brauchen. Ich bin davon überzeugt, dass wir solche Ansätze
im Rahmen der Novelle besonders berücksichtigen müssen; denn Speichertechnologien gehören zu den entscheidenden Bausteinen für eine erfolgreiche Energiewende.
Es gibt aber auch Konflikte zwischen der KWK und
der Energieeffizienz, über die wir in den nächsten Wochen diskutieren müssen. In der Praxis sind die Hauptprobleme von KWK-Anlagen nicht die politischen Rahmensetzungen, sondern das Fehlen eines ausreichenden
Wärmeverbrauchers am Standort von KWK-Anlagen.
Darauf geben Sie in Ihren Anträgen keine Antwort.
({6})
Die fehlende Möglichkeit, effizient erzeugte Wärme direkt abzunehmen, führt zu Effizienzproblemen. Sinnvoll
ist die Nutzung von Kraft-Wärme-Kopplung dort, wo
ein hoher Wärmebedarf über das ganze Jahr kalkulierbar
ist; denn Wärme ist zwar gut speicherbar, aber nicht über
weite Strecken gut transportierbar. Deshalb muss die
Stromerzeugung möglichst nah an die Wärmesenke herangeführt werden. Das ist aber nicht immer möglich. Im
Grunde ist dies paradox: Besonders effizient produzierter Strom und produzierte Wärme erleiden auf dem Weg
zum Verbraucher oft hohe Effizienzverluste.
Auch die folgende Frage wird kommen: Brauchen wir
überhaupt noch so viel Wärme? Das heißt, je mehr wir in
den nächsten Jahren in die Gebäudesanierung investieren, desto weniger Wärmebedarf besteht. In den kommenden Debatten über das KWKG werden wir diese
Frage beantworten müssen. Je nachdem, welche Antwort
wir finden, werden wir das Ausbauziel eventuell anpassen müssen.
Die Grünen beklagen in ihrem Antrag - das wurde
schon erwähnt -, dass die Bundesregierung zu wenig für
Energieeffizienz auf nationaler und europäischer Ebene
tut. Dann frage ich mich, wieso das Gesetz zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen vom Bundesrat im Juli blockiert wurde,
({7})
vor allem durch die Stimmen der grün und rot geführten
Landesregierungen. Aber Sie bekommen jetzt noch einmal die Chance, zu zeigen, dass Sie es ernst meinen mit
Ihren Forderungen nach mehr Energieeffizienz; denn
gestern hat die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss angerufen.
({8})
Diese Entscheidung begrüße ich außerordentlich.
({9})
Ich hoffe, dass Sie mitmachen, die Energiewende sinnvoll zu gestalten, und dass die von Ihnen geführten Länder ihren finanziellen Beitrag leisten.
Mehr Energieeffizienz kann auch weniger KWK bedeuten. Mit einem solchen Spannungsbogen werden wir
in energiepolitischen Debatten oft konfrontiert. Aber
eine stimmige Energiepolitik versucht, diesen Spannungsbogen zu überwinden und ein schlüssiges und
sinnvolles Konzept daraus zu machen. Leider tragen Ihre
Anträge nicht dazu bei, dass wir in dieser Frage einen
richtigen Schritt vorankommen. Ihre Anträge sind eine
Aneinanderreihung von Forderungen, aber kein in sich
schlüssiges Konzept.
({10})
Deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen, und Ende
des Jahres werden wir eine KWKG-Novelle vorlegen,
die sich mit den Herausforderungen wirklich auseinandersetzt und Sinn macht.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dirk Becker für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Pfeiffer hat vorhin zu Recht gesagt: Energieeffizienz ist der Königsweg. - Wir sind es gewohnt,
große Worte zu hören, wenn das Thema Effizienz auf der
Tagesordnung steht. Aber es ist leider auch Gewohnheit,
dass es bei Ankündigungen bleibt. Ich habe auch heute
den Eindruck, dass es im Wesentlichen dabei bleibt, die
Wichtigkeit der Effizienz zu beschreiben und sonst viele
schöne Ausreden parat zu haben. Herr Dr. Pfeiffer, Ihre
Beschreibung dessen, was Sie vorhaben, war leider wieder sehr unkonkret. Ihr Kollege Bareiß ist ein bisschen
konkreter geworden; denn er hat auf eine Technologie
abgehoben, mit der wir Effizienz und Klimaschutz sofort
zusammenbringen und den Umbau der Energiestruktur
unserer Gesellschaft - den Ausstieg aus der Kernenergie
tragen wir gemeinsam - auf eine neue Grundlage stellen
können.
Herr Dr. Pfeiffer und Herr Nüßlein, ich spreche Sie
persönlich an, weil ich Sie an das Energie- und Klimaprogramm der Großen Koalition erinnern möchte. Damals haben wir gesagt: Das Wichtigste ist, den Ausbau
der Kraft-Wärme-Kopplung voranzutreiben. - Wir haben nach langen und schwierigen Verhandlungen gemeinsam ein Gesetz erarbeitet, in dessen Fokus das Ziel
steht, bis 2020 25 Prozent der Stromerzeugung mit
KWK sicherzustellen. Wir haben die industrielle KWK
aufgenommen, und wir haben den Neubau von KWKAnlagen aufgenommen. Wir haben ferner gesagt - auch
das war wichtig -, dass wir die Fördersumme deckeln
wollen. Herr Breil hat eben eine tolle Rechnung aufgemacht. Der Erfolg wird heute nach der Anzahl der Anträge bemessen. Das widerspricht der faktischen Entwicklung der Förderung der KWK; denn die Förderung
der KWK ist im Jahr 2010 auf 384 Millionen Euro zurückgegangen. Mehr Fördermittel sind gar nicht abgeflossen. Wir schöpfen also den Förderrahmen überhaupt nicht aus. Ihr eigener Gutachter, Herr Breil, der
Gutachter dieser Bundesregierung, kommt in seinem
Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Zubau der KWKAnlagen - es kommt auf den Anteil der Kraft-WärmeKopplung an der Stromerzeugung an - zwischen maximal 17 und 20 Prozent liegen wird. Ihr eigener Gutachter
attestiert, dass wir, wenn wir so weitermachen und nicht
im KWKG nachsteuern, das Ziel verfehlen. Das heißt,
man muss handeln und darf nicht abwarten.
({0})
Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Pfeiffer? - Bitte.
Herr Kollege Becker, wir haben bei der Novellierung
des KWK-Gesetzes in der letzten Legislatur gemeinsam
als Berichterstatter mitgewirkt. Ist Ihnen bekannt, dass
allein der Aufwuchs bei KWK-Anlagen in den Jahren
2008 und 2009 1,4 Prozent betrug, wir im Moment bei
einem Anteil von 15,4 Prozent liegen - das geht also in
die richtige Richtung - und dass wir auf jeden Fall bei
weit über 21 Prozent allein durch die Maßnahmen, die
bisher getroffen wurden, liegen werden? Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass wir jetzt gerade erst den Förderzeitraum erheblich verlängert, den sogenannten doppelten
Förderdeckel abgeschafft und andere Maßnahmen mehr
ergriffen haben? Ist Ihnen schließlich bekannt, dass wir
im Moment in der Tat bei KWK noch ein weiteres Problem haben? Ich habe vorhin versucht, es am Rande anzusprechen. Es unterbleiben nämlich Investitionen, weil
bei Investitionen, die eine höhere Energieeffizienz zum
Ziel haben, die Befreiung von der EEG-Umlage wegfällt
und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Stromerzeugung aus KWK im europäischen Rahmen nicht mehr gegeben ist? Sind Sie mit mir der Meinung, dass wir dies
dringend beheben müssen, um mindestens den 25-Prozent-Anteil zu erreichen?
Zunächst einmal vielen Dank für die Fülle von Fragen. Das ermöglicht mir, die Redezeit deutlich auszuweiten. Ich will gerne auf einige Punkte der Frage eingehen, zu denen ich ohnehin noch gekommen wäre, und
diese beantworten.
Erstens. Es ist richtig, was Sie zum aktuellen Ausbaustand zitiert haben. Allerdings kommt der von mir eben
erwähnte und von der Bundesregierung beauftragte Gutachter der Firma Prognos in dem Gutachten für das Wirtschaftsministerium zu anderen Ergebnissen, was das Jahr
2020 anbelangt. Der Gutachter von Prognos sagt - lesen
Sie das Gutachten; es ist nicht vom Gutachter der SPD,
sondern vom Gutachter dieser Bundesregierung -: Wenn
Sie nichts weiter verändern, werden wir einen KWKAnteil von maximal 17,4 Prozent haben.
({0})
- Nein, im Best-of-Szenario spricht das Gutachten von
etwa 20 Prozent, auf keinen Fall aber von 25 Prozent.
Das ist die erste Feststellung. - Dann schreibt der Gutachter von Prognos der Regierung ins Stammbuch, was
sie im KWKG ändern müsste, damit das Ziel erreicht
wird. Komischerweise stehen viele Maßnahmen, die der
Gutachter von Prognos vorschlägt, in unserem Antrag.
Sie sind deckungsgleich. Wenn Sie dann sagen, es sei alles Mumpitz, was wir machen, dann stellen Sie dem eigenen Gutachter der Bundesregierung das Zeugnis aus,
Mumpitz vorgelegt zu haben. Das ist der erste Widerspruch.
({1})
Der zweite Punkt ist, Herr Dr. Pfeiffer: Wir haben in
der Tat eine große Investitionszurückhaltung. Die Ursache dafür - da machen Sie jetzt den billigen Jakob - führen Sie auf einen Konflikt mit der Energieeffizienz zurück. Wissen Sie, wo der erste große Pferdefuß war? Sie
haben durch die Diskussion über die Laufzeitverlängerung und mit der beschlossenen Laufzeitverlängerung
der Wirtschaftlichkeit des Neubaus von KWK-Anlagen
den Boden entzogen. Das sagt Ihnen jedes Energieunternehmen, das KWK-Anlagen hat.
({2})
Sie haben durch Ihre Beschlüsse die Wirtschaftlichkeit
der KWK zerstört. Das ist auch relativ logisch; denn Ihr
Gutachter - das will ich auch Herrn Breil sagen, der auf
Podien bisher geantwortet hat - ({3})
- Herr Pfeiffer, Sie haben doch gesagt, das Ganze sei ein
Problem der Effizienz, da gebe es einen Zielkonflikt.
Deshalb gebe es Investitionszurückhaltung. Das ist
Blödsinn. Diese Zurückhaltung gibt es wegen Ihrer
Energiepolitik - und nur deshalb!
({4})
- Lassen wir ihn sich setzen. Er trägt genug an der
schweren Last seiner Politik. Er soll sitzen.
Ein weiterer ganz entscheidender Punkt - so lautet
nämlich eine Argumentation, die Herr Breil bisher immer wieder angeführt hat -: KWK sei doch längst wirtschaftlich. Auch da kommt Ihr Gutachter - nicht unser
Gutachter - zu ganz anderen Ergebnissen. Das PrognosGutachten besagt, dass die Wirtschaftlichkeit von großen
GuD-Anlagen inklusive der bestehenden KWKG-Förderung erst ab 4 000 Volllaststunden wirtschaftlich ist. Ich
glaube, wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, wie
heute die tatsächliche Volllaststundenzahl gerade im
Hinblick auf den Neubau der Anlagen ist. Sie können
den Neubau mit dem Instrument, das wir jetzt haben,
wirtschaftlich nicht darstellen. Weiterhin kommt Prognos in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass bei kleineren GuD-Anlagen sogar 5 000 Stunden notwendig
sind. Ich habe mir diese Zahl nicht ausgedacht; sie steht
in diesem Gutachten.
Lassen Sie mich kurz auf das Energiekonzept zurückkommen; Sie haben das eben angesprochen, Herr
Bareiß. Sie sprechen jetzt nur noch vom zweiten Energiekonzept. Ich will beim Thema Investitionssicherheit,
Herr Dr. Pfeiffer, noch einmal deutlich machen, wie die
KWK in Ihrem ersten Konzept behandelt wurde, in dem
Sie sich noch für eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen haben. In dem ganzen Konzept findet KWK gar
nicht statt, außer im Bereich EEG. In dem ersten Entwurf
stand sogar wortwörtlich: Wir müssen nach Verlängerung der Laufzeiten erst einmal kritisch überprüfen, ob
es so etwas überhaupt noch braucht. - Ich sage Ihnen: Es
war Ihr klares Ziel, die Sache zu kippen. Das war Ihre
Politik oder die Politik Ihres Koalitionspartners.
Ich zitiere die Kanzlerin, die hier im Bundestag am
9. Juni 2011 bei der Verabschiedung des letzten Energiekonzeptes Farbe bekannt hat; ich habe das gerne gehört.
Sie hat deutlich gesagt, dass sie mit dem Entwurf einer
Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz einen Beitrag zur Versorgungssicherheit und Effizienz leisten
wolle, und sie hat für dieses Jahr weitere Schritte angekündigt, Schritte, die über die hinausgehen, die Sie eben
erwähnt haben.
Nun muss ich sagen: Sie müssen sich in der Regierung aber einmal einigen, was gilt.
Leider war die Regierung an der Teilnahme an der
Podiumsdiskussion des Bundesverbandes Kraft-WärmeKopplung verhindert; beide zuständigen Minister haben
sich entschuldigen lassen. Dafür hat man einen Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums geschickt. Er hat dort
für eine ziemliche Verwirrung gesorgt, weil er erklärt hat
- ich fand das einmalig -, man wolle zwar 25 Prozent
Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung, aber die Zielerreichung bis 2020 stehe ja gar nicht im Gesetz; man müsse
sie nicht an diesem Jahr festmachen. Ich möchte Sie einfach bitten: Stellen Sie das klar! Es kann nicht sein, dass
Sie zwar bei der Energiewende die Kurve gekriegt haben, jetzt aber hintenherum den Markt weiter verunsichern. Herr Dr. Nüßlein, schütteln Sie jetzt nicht den
Kopf. Fragen Sie die Leute, die diese Podiumsdiskussion
verfolgt haben. Sie waren verunsichert und haben gefragt: Was ist denn das wieder für ein Spiel? - Wir brauchen hier das klare Bekenntnis - Herr Breil und andere
haben es eben gesagt; es bleibt dabei -: Wir wollen die
Maßnahmen an das ins Auge gefasste Ziel anpassen und
wollen nicht das Ziel nach unten korrigieren.
({5})
Ich habe eben mehrfach die Frage gehört: Was passiert noch in diesem Jahr? Der Monitoring-Bericht soll
kommen. Ich sage: Mir reicht das Prognos-Gutachten.
Ich kann daraus alles ablesen, was jetzt zu tun ist. Der
Bundesumweltminister und der Wirtschaftsminister tun
sich anscheinend noch schwer, den gemeinsamen Erfahrungsbericht vorzulegen. Ich sehe an der Antwort auf die
Frage „Welche Maßnahmen kommen in nächster Zeit?“
im Brief von Herrn Staatssekretär Burgbacher an Herrn
Hinsken, den Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses,
dass, obwohl zehn Punkte aufgeführt sind, keine einzige
Maßnahme hinsichtlich der Kraft-Wärme-Kopplung darunter ist. Ich fordere Sie, das Ministerium, jetzt auf,
konkret zu benennen, in welcher Sitzungswoche in diesem Jahr der Erfahrungsbericht vorgelegt wird und wann
die Maßnahmen ergriffen werden. Die Investoren brauchen jetzt endlich eine klare Hausnummer; sie warten
darauf.
({6})
Ich will - ich habe das eben schon gesagt - auf unseren Antrag nur an einigen Punkten eingehen. Mir ist klar,
dass Sie einen Antrag der Opposition ablehnen; das gehört zum Spiel dazu. Aber Sie sollten sich zumindest mit
den Inhalten auseinandersetzen, weil - das sage ich noch
einmal - Ihr Gutachter Ihnen ähnliche, wenn nicht sogar
die gleichen Vorschläge macht.
Eines passt nicht zusammen. Herr Breil und Herr
Bareiß haben vorhin gesagt, es gebe ein Problem mit den
Wärmesenken. Sicherlich, man braucht Wärmesenken.
Wir haben aber auch völlig neue Technologien. Die
KWK spielt jetzt nach der Energiewende ein völlig andere Rolle. Sie selbst haben die Speicher angesprochen.
Über die Integration von Speichern in die künftige Förderung könnten KWK-Anlagen auch an Standorten mit
einer verminderten Wärmeabsatzmenge errichtet werden.
({7})
Darum sagen wir, wie auch Ihr Gutachter, ganz klar:
Man muss beim Thema Wärmespeicher über die künftige Fördersystematik einen Anreiz schaffen.
Darüber hinaus ist von Ihnen schon einiges gemacht
worden. Das geht in die richtige Richtung. Wir müssen
aber auch darüber nachdenken, ob wir beim Umbau der
Kraftwerkswirtschaft - das wird übrigens auch von ihr
selbst gefordert - nicht nur den Neubau von KWK-Anlagen im Förderregime berücksichtigen, sondern auch den
Umbau konventioneller Kraftwerke hin zu KWK-Anlagen in das Förderregime aufnehmen. Das ist nach dem
bestehenden Gesetz nicht möglich. Das würde aber zusätzliche Potenziale heben. Es gibt die Nachfrage am
Markt.
Ganz entscheidend ist - das sage ich an die Adresse
derer, die gleich wieder mit der Frage kommen: Was
heißt das für den Endverbraucher? -: Es bleibt beim Deckel. Wir wollen keine Anhebung des Deckels. Wir wollen nicht über die 750 Millionen Euro hinausgehen. Es
gibt bei der gesetzlichen Förderung das Potenzial, KWK
für weitere Anlagen interessant zu machen, und wir
müssen dieses Potenzial heben; sonst werden wir die
Ziele nicht erreichen.
Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Mikro-KWKAnlagen; das ist vorhin mehrfach angeklungen. Wir hatten unter Sigmar Gabriel im Umweltministerium ein
sehr erfolgreiches Programm zur Förderung der MikroKWK. Das ist von der jetzigen Bundesregierung eingestellt worden. Wir wollen es wiederbeleben. Um dabei
aus der Haushaltsabhängigkeit herauszukommen, wollen
wir ein solches Instrument ins KWK-Gesetz aufnehmen,
sodass es aus dem Förderregime gespeist werden kann.
Letzter Punkt. Das Antragsverfahren, insbesondere
bei der Förderung von Wärmenetzen, ist katastrophal.
Ich glaube, da sind wir uns alle einig. Das klang eben an.
Viele haben Gespräche mit Unternehmen geführt und
wissen, wie das läuft. Das Verfahren ist katastrophal. Es
sind Fristen einzuhalten, die es für viele unmöglich machen, sich um eine Förderung zu bemühen. Wir können
hier allein durch die Beseitigung administrativer Hemmnisse einiges tun, damit die jetzt vielfach erwähnten Investoren wieder Vertrauen in die Politik bekommen und
in die Lage versetzt werden, solche Mittel zu beantragen.
Nach dem, was die Kollegen der Union und Herr
Breil hier gesagt haben, unterstelle ich, dass Einigkeit
darin besteht: Wir sollten gemeinsam das Ziel „25 Prozent Strom aus KWK“ im Auge behalten. Wir brauchen
nicht zu überlegen, was zu tun ist, sondern können die
Vorschläge Ihres Gutachters sofort umsetzen. Wenn Sie
sie eins zu eins umsetzen, sind wir sofort dabei.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Opposition ist immer gut darin, mehr zu fordern. Auch das
ist ihre Funktion. Aber man muss dann dort, wo man
Verantwortung trägt, auch entsprechend handeln.
An der Stelle muss ich das Thema „Kraftwerk in Datteln“ ansprechen.
({0})
Ihren Antrag überschreibt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit „Am Ausbau der hocheffizienten KraftWärme-Kopplung festhalten“. Da soll jetzt ein hocheffizientes Kraft-Wärme-Kopplungskraftwerk gebaut werden. Es ist nicht die ehemalige schwarz-gelbe Landesregierung, die hier den Fehler gemacht hat,
({1})
sondern es liegt am Bebauungsplan der Stadt Datteln.
Deswegen muss sich die jetzige Landesregierung fragen
lassen, ob sie mit ihrer Landesplanung nicht versucht,
die Behebung des Fehlers gerade zu verhindern. Ich sage
eines ganz deutlich: Da sollen alte Mühlen, die als Kraftwerke gefahren werden, durch ein Kraftwerk ersetzt
werden, das weniger CO2 ausstößt. Es ist ein Kraftwerk,
das den Bahnstrom in Nordrhein-Westfalen sichert.
({2})
Wer sich auskennt, weiß, dass man ein Bahnstromkraftwerk nicht einfach durch ein anderes Kraftwerk ersetzen
kann, weil es einen ganz anderen Strom erzeugt. Wer daran festhält, wie es die nordrhein-westfälische Landesregierung und insbesondere die Grünen in NRW tun, zu
sagen: „Wir wollen dieses Kraftwerk nicht, und wir wollen die Stilllegungsauflagen für die alten Kraftwerke
nicht wieder aufheben“, der macht Folgendes: Erstens.
Er gefährdet den Bahnstrom für die Deutsche Bahn in
Nordrhein-Westfalen.
({3})
Zweitens. Er gefährdet die Fernwärmeversorgung von
Tausenden von Haushalten in der Stadt Herne. Das ist
Ihre Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen.
({4})
Meine Damen und Herren, in dieser Beziehung brauchen wir überhaupt keine Nachhilfe. Sie sind diejenigen,
die die Kraft-Wärme-Kopplung in Nordrhein-Westfalen
verhindern.
({5})
- Ich amüsiere mich gerade über die Kollegin von der
Union.
({6})
- Entschuldigung.
({7})
- Herr Hempelmann, Scherze müssen an dieser Stelle
auch einmal sein. Das war ein guter Scherz.
Jetzt aber zurück zum Ernst der Lage, nämlich zu den
Potenzialen, die im Gebäudesektor liegen.
Hier hat die Koalition gehandelt. Wir haben das Gebäudesanierungsprogramm nicht nur verstetigt. Wir haben vor allen Dingen mit dem Energie- und Klimafonds
endlich eine gesicherte Finanzierung geschaffen, nämlich eine Finanzierung aus dem Emissionshandel und
keine Finanzierung über den Bundeshaushalt, der immer
größere Lasten zu tragen hat.
Es reicht nicht, ein Gebäudesanierungsprogramm auf
den Weg zu bringen. Ein Gebäudesanierungsprogramm
ist ein gutes Programm für diejenigen, die größere Wohnungseinheiten zu sanieren haben, also beispielsweise
für Wohnungsbaugesellschaften. Wir müssen aber auch
darauf achten, wie es beim kleinen Vermieter und bei denen aussieht, die sich nicht unentwegt um Förderprogramme kümmern können. Für diese stellt die steuerliche Förderung einen gangbareren Weg dar. Als in den
90er-Jahren die steuerliche Förderung abgeschafft worden war, halbierte sich die Sanierungsrate. Die steuerliche Förderung ist ein effizientes Instrument zur Erhöhung der Sanierungsrate.
({8})
Was aber macht Rot-Grün? Rot-Grün erzählt uns immer, wir sollten mehr tun. Am Ende stimmt Rot-Grün im
Bundesrat aber dagegen.
({9})
Die Bundesregierung hat jetzt den Vermittlungsausschuss angerufen. Jetzt müssen die grünen und die roten
Umweltminister zeigen, ob sie die Finanzminister ihrer
Bundesländer im Rücken haben oder ob die Umweltminister reden und die Finanzminister alles verhindern.
Das sind Ihre Minister, die roten und die grünen Minister, die das jetzt im Bundesrat zu entscheiden haben. Wir
haben den Beschluss im Deutschen Bundestag bereits
gefasst. Jetzt sind Sie gefordert, Ihre Blockadepolitik gegen Energieeffizienz endlich aufzugeben.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Negawatt statt Megawatt. Der preiswerteste
Klimaschutz ist natürlich eingesparte Energie. Eingesparte Energie beginnt bei der eingesparten Erzeugung
von Energie.
Wie schaut es zurzeit aus? Momentan heizen wir mit
der Abwärme der meisten Kohle- und Gaskraftwerke
nicht Wohnungen und Fabrikgebäude, sondern nach wie
vor Umgebungen und Flüsse. Um das zu verhindern,
gibt es ein Konzept, das wirklich wirkt, und das heißt
KWK. Die gekoppelte Produktion von Strom und
Wärme - Kälte nicht zu vergessen; niemand hat von
Kälte gesprochen ({0})
- steht mit drin - ist wegen der Abwärmenutzung hocheffizient und erzielt Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent. Das sind super Wirkungsgrade. Sie ist damit eine
echte Brückentechnologie im Gegensatz zur Atomkraft
oder zur Kohle - Kohle vor allen Dingen in Verbindung
mit CCS -, eine Brückentechnologie auf dem Weg in das
Solarzeitalter.
({1})
Dass Sie von der Kohle nicht loskommen, hat man
jetzt gehört. Das Kohlekraftwerk Datteln wird nach wie
vor verteidigt. Sie sehen: Die Koalition hält an dieser alten Technologie fest. Das müssen die Wählerinnen und
Wähler, die regenerative Energien wollen, wissen.
({2})
Die Bundesregierung hat sich 2009 das Ziel gesetzt,
die Strommenge aus der Kraft-Wärme-Kopplung bis
2020 zu verdoppeln, und zwar auf 25 Prozent. Das haben
Sie nicht erreicht.
({3})
Ob Sie es überhaupt wollen, steht in den Sternen. Wenn
wir Glück haben, landen wir bei einem Wert zwischen
17 und 20 Prozent; das wurde bereits ausgeführt.
Ich möchte Ihnen die entsprechenden Werte aus anderen Ländern nennen: Dänemark - 50 Prozent, Niederlande - 38 Prozent. Wir fragen uns: Wie machen die
das? Dort gibt es einen Mix aus Förderinstrumenten und
strikten Vorgaben, zum Beispiel die Pflicht des Anschlusses ans Wärmenetz. Ich sage Ihnen: Deutschland
vergibt sich was, wenn nicht endlich gehandelt wird.
({4})
KWK kann das schwankende Ökostromangebot ausgleichen. KWK ist flexibel. KWK ist dezentral; ich
nenne nur das Stichwort „Schwarmstrom-Konzept“. Das
heißt - für diejenigen, die es noch nicht gehört haben -:
Viele kleine Kraftwerke werden bei Bedarf zusammengeschaltet. Das ist sinnvoll, klug und intelligent.
KWK ist eine der preiswertesten Optionen, CO2 einzusparen. Solange keine überzeugenden Speichertechniken einsatzreif sind, kommt dieser Beitrag zur Netzstabilität wie gerufen. Darum muss bei der anstehenden
KWKG-Novelle endlich rangeklotzt werden. Klotzen
Sie doch endlich ran, meine Damen und Herren, und kleckern Sie nicht immer!
({5})
Kommen wir jetzt zu den Hürden, über die diskutiert
werden muss. Es gibt Abnehmer, die die Wärme nicht
zeitgleich zum KWK-Betrieb brauchen; das wurde bereits diskutiert. Hier muss man etwas tun. Man braucht
intelligente Lösungen, das gilt auch für den Bereich
Kälte. Die Wärmespeicherung ist im Wettbewerb mit
Heizungskesseln oft nicht wirtschaftlich, obwohl deren
CO2-Gesamtbilanz besser ist. Hier gilt es, noch etwas zu
tun.
Auch die Bereitstellung von wertvoller Regelenergie
durch KWK-Anlagen wird nicht ausreichend honoriert.
Damit meine ich das Hoch- und Herunterfahren, das wir
bei den regenerativen Energien brauchen. Wärmegeführte KWK-Anlagen über 20 Megawatt haben Nachteile gegenüber einfachen kleinen Heizungsanlagen,
weil sie in den Emissionshandel einbezogen werden.
Auch hier muss man noch einmal nachbessern.
Es gibt also eine ganze Reihe von Punkten - einige
wurden bereits genannt -, über die noch einmal nachgedacht werden muss. Ganz kurz: Wir unterstützen die Anträge von SPD und Grünen. Auch wir haben dazu schon
Anträge gestellt.
Nur zum Schluss noch:
({6})
Auf der EU-Ebene werden die Weichen für KWK gestellt. Mit der Energieeffizienzrichtlinie gibt es Vorgaben. Ich kann Ihnen nur eines sagen:
Kollegin Bulling-Schröter, die Ankündigung des
Schlusses ersetzt nicht den Schluss der Rede.
({0})
Halten Sie Ihr Wirtschaftsministerium davon ab, gute
Vorschläge aus der Energieeffizienzrichtlinie herauszunehmen. Wir brauchen gute Vorschläge,
({0})
und wir brauchen nicht dieses komische Wirtschaftsministerium, das wieder alles kassieren will.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Oliver Krischer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es war entlarvend, was wir heute zum Thema Energieeffizienz gehört haben. Die Wirtschaft solle es machen,
hat Herr Breil gesagt. Ich glaube, deutlicher kann man es
nicht darstellen, dass diese Bundesregierung überall - in
Brüssel und in Deutschland - im Bremserhäuschen sitzt
und beim Thema Energieeffizienz Blockadepolitik betreibt.
Sie nutzen die positiven Signale, die aus Brüssel kommen, leider nicht.
({0})
Sie verhindern vielmehr, und genau das ist das Problem.
({1})
Sie kommen immer mit dem schönen Beispiel der
Gebäudesanierung. Ja, auch wir sind für die steuerliche
Förderung. Bei Ihrem Gesetzentwurf muss man jedoch
über Details reden.
({2})
Wir haben vor vier Wochen den Antrag gestellt, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Das haben Sie mit aberwitzigen Begründungen abgelehnt. Wir haben wieder
vier Wochen Zeit verloren, um mit allen Ländern - es
waren nicht nur die rot-grünen, sondern auch die von Ihnen regierten Länder; der Beschluss war einstimmig bei diesem Thema weiterzukommen. Da verstehe ich
nicht, warum Sie das vier Wochen lang weiter blockieren.
({3})
Meine Damen und Herren, man muss sich eines vor
Augen führen: Morgen vor einem Jahr, am 28. Oktober
2010, haben Sie hier in diesem Saal die Laufzeitverlängerung beschlossen, zudem ein Energiekonzept, das Sie
als epochal, als leuchtenden Pfad betrachtet haben. Das,
was Sie uns hier gepredigt haben, hatte fast etwas Religiöses.
({4})
Da werden Sie jetzt schon kleiner. In dem Energiekonzept sagen Sie ein paar Dinge zur Energieeffizienz; es
sind folgenlose Ankündigungen. Sie hatten ein Jahr Zeit,
da etwas zu machen. Wo, bitte schön, sind die Ergebnisse? Wann präsentieren Sie Ergebnisse? Dazu habe ich
von Ihnen nichts gehört.
({5})
Zum Thema Kraft-Wärme-Kopplung. Das letzte Vernünftige, was man von der CDU/CSU dazu gehört hat
- von der FDP rede ich gar nicht; das hatte gerade schon
Karnevalscharakter -, war die Verabschiedung des
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes in der Großen Koalition. Dieses Gesetz hatte ein gutes Ziel; eine PrognosStudie hat jedoch gerade deutlich gemacht, dass das insgesamt nicht ausreicht. Seitdem, also seit zwei Jahren,
betreiben Sie eine Verhinderungs- und Blockadepolitik.
Die Kraft-Wärme-Kopplung ist völlig richtig; in dem
vor einem Jahr verabschiedeten Energiekonzept taucht
sie nur in einem Nebensatz auf. Sie wollten 25 Prozent
der Stromerzeugung einfach einmal wegradieren und
durch Strom aus Atomkraftwerken ersetzen; das war Ihr
Ziel. Jetzt sind Sie langsam dabei, das wieder zu ändern.
Sie haben direkt nach Regierungsantritt das Impulsprogramm für Mini-KWK-Anlagen kaputtgemacht,
obwohl sich Mittelständler und kleine Unternehmen auf
eine Förderung verlassen haben. Sie verunsichern die
Unternehmen der Branche, die in dem Bereich investieren wollen; das ist es, was Sie in den letzten zwei Jahren
in dem Bereich gemacht haben.
({6})
Jetzt, meine Damen und Herren, sind wir schon wieder im Spätherbst. Die Kanzlerin hatte vor den Sommerferien angekündigt, es komme eine KWKG-Novelle.
Herr Breil sagte gerade, sie komme im nächsten Jahr;
Herr Bareiß sagte, sie komme in diesem Jahr. Ja, was
denn nun? Machen Sie doch einmal eine klare Ansage,
was denn nun kommt. Sie kriegen die einfachsten Sachen nicht hin. In dem Bereich liegt alles auf dem Tisch.
Wir haben im Rahmen der Energiewende einen konkreten Gesetzentwurf eingebracht. Da müssen Sie einfach
nur Copy and Paste machen und ihn einbringen.
({7})
Unser Gesetzentwurf enthält all die Maßnahmen, die
auch in der Prognos-Studie empfohlen werden. Ja, dann
tun Sie es doch einfach! Liefern Sie doch einmal! Sie
können sich nicht einmal über die Zeitpunkte verständigen, zu denen Sie etwas vorlegen wollen.
({8})
Wenn man die Debatte in Deutschland verfolgt, dann
merkt man: Alle reden davon, dass wir neue Kraftwerkskapazitäten brauchen. Das mag sein. Aber dann nutzen
Sie doch das, was auf der Hand liegt: die hocheffiziente
Kraft-Wärme-Kopplung. Hier bedarf es eines zusätzlichen Anreizes. Mit der KWK kann man eine ideale Ergänzung zu den erneuerbaren Energien schaffen. Sie
könnten ein entsprechendes Kraftwerksbauförderprogramm schaffen, anstatt - das ist eine falsche Politik irgendwelchen Kohlekraftwerksbetreibern Geld aus dem
Energie- und Klimafonds hinterherzuwerfen.
Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns die Chancen nutzen.
Es gibt in Deutschland Millionen von Heizungsanlagen,
die in den nächsten Jahren ersetzt werden müssen. Anstatt da überkommene Technik wie Öl- oder Gasheizungen einzubauen, sollten wir eine dezentrale Versorgung
über die Kraft-Wärme-Kopplung schaffen. Viele Unternehmen, inzwischen sogar die Energiekonzerne RWE
und Eon, haben es begriffen und investieren in diese
Technologie; sie warten darauf, dass es eine klare Ansage der Bundesregierung gibt, wie es in dem Bereich
weitergehen soll. Aber ich höre da von Ihnen einfach
nichts. Es wird verzögert und verschleppt; alles bleibt
unklar.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Es bleibt einfach nur festzuhalten: Zwei Jahre SchwarzGelb waren zwei Jahre der Verhinderung bei der Verbesserung der Energieeffizienz und beim Ausbau der KraftWärme-Kopplung. Ich hoffe, dass jetzt etwas kommt.
Reißen Sie sich am Riemen. Es geht um die Wirtschaft,
den Klimaschutz, die Menschen, die Ressourcenschonung. Tun Sie in dem Bereich endlich etwas.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Sehr
geehrter Herr Krischer, Sie werden mir glauben, dass wir
mit dem Thema „Copy and Paste“ so unsere Probleme
haben.
({0})
Das führt erfahrungsgemäß zu nichts Gutem. Im Übrigen muss ich nach Ihrer Rede zur Kenntnis nehmen, dass
Sie ein Phantomschmerz plagt, weil Sie die Diskussionen vom letzten Jahr nicht mehr führen können, da sich
das Thema Kernenergie erledigt hat. Deshalb macht es
auch keinen Sinn, hier solche Reden zu halten, wie Sie
es gerade getan haben.
({1})
Ich will in meiner Rede zwei Punkte vor die Klammer
ziehen. Zum einen möchte ich betonen, dass das Thema
Energieeffizienz für uns ein wichtiges Thema ist und
dass in dem Zusammenhang die Kraft-Wärme-Kopplung
eine besondere Rolle spielt. Ich sage das vorab; denn
wenn man nach dem Fortgang einer längeren Debatte die
Haken und Ösen eines Themas betrachtet, dann läuft
man Gefahr, verunglimpft zu werden, weil man sich nur
auf die Schwierigkeiten bezieht. Deshalb möchte ich
ausdrücklich betonen, dass das Thema Energieeffizienz
für uns wichtig ist. Für uns ist es auch mehr als das, was
es zum Beispiel für viele von den Grünen mehrfach war.
Sie haben früher nämlich immer dann, wenn die Prognosen nicht aufgegangen sind und sie festgestellt haben,
dass mit ihren Energiekonzepten der Strom nicht bereitzustellen ist, gesagt: Das, was am Schluss noch fehlt,
wollen wir einsparen. - Das wollen wir an der Stelle
nicht tun.
({2})
Zweitens möchte ich vor die Klammer ziehen, dass
für uns der Grundsatz „Markt und Förderung vor Zwang
und Ordnungspolitik“ gilt.
({3})
Die soziale Marktwirtschaft hat in beeindruckender
Weise gezeigt, dass sie in der Lage ist, nicht immer optimale, aber jedenfalls bessere Ergebnisse zu erreichen als
sie mit dem erreicht würden, was auf der linken Seite
hier immer vorgestellt wird, nämlich Zwang und Verstaatlichung.
Was den Strombereich angeht, so bin ich der festen
Überzeugung, dass wir zu Verbrauchsreduzierungen
kommen, die aber regelmäßig - jedenfalls anteilig durch zusätzlichen Verbrauch aufgezehrt werden. Das
muss man an dieser Stelle mit im Blick haben.
Ich möchte auch ganz klar feststellen, dass beim
Thema Markt auch die Verteuerung von Strom eine
Rolle spielt. Dazu leisten wir als Staat momentan ausreichend Beiträge über das EEG. Aber auch über die Energiewende wird sich ein stärkerer Druck entwickeln, noch
effizienter mit Strom umzugehen. Ich meine das an der
Stelle nicht kritisierend, sondern möchte das nur festhalten.
In Reaktion auf das, was die Kollegin Menzner vorhin
gesagt hat, bleibt ganz klar festzuhalten, dass insbesondere bei der Industrie das Problem besteht, dass man die
Effizienz bestimmter Prozesse nicht mehr steigern kann.
Das war für uns Motivation, im EEG solche Industriebereiche auszunehmen. Es macht doch keinen Sinn, wenn
man die aus dem Land treibt. Was soll das letztendlich
bringen? Ich kann Ihrem Deindustrialisierungsansatz jedenfalls keine Vorteile abgewinnen.
Spannend finde ich den sozialen Aspekt, der in diesem Zusammenhang regelmäßig bemüht wird. Das muss
man sicherlich im Blick haben, auch in Bezug auf die
Preise.
Herr Kollege Hempelmann ist auf die Problematik
bzw. die Herausforderung der Einspeiseschwankungen
und der Verbrauchsanpassungen eingegangen. Das halte
ich für ein wichtiges Thema, das wir miteinander diskutieren müssen, allerdings nicht in der Weise, dass man
uns hier kritisiert. Ich möchte an der Stelle einmal festhalten, dass dies insbesondere von Rot-Grün bei Einführung des EEG überhaupt nicht thematisiert wurde. Das
war für Sie überhaupt kein Thema. Wir taten uns in der
Großen Koalition schwer, hier etwas zu entwickeln, und
sind jetzt zwangsweise in der Situation, Sorge dafür zu
tragen, die schwankenden Stromaufkommen an den Verbrauch anzupassen bzw. umgekehrt. Das ist eine große
Herausforderung, und ich meine schon, dass man das an
der Stelle einmal festhalten muss.
Lassen Sie mich einen Bereich ansprechen, der heute
noch keine Rolle gespielt hat: den Verkehr. Zu diesem
Thema gibt es allerhand Stilblüten.
({4})
Es gab sogar einmal die Forderung, die Tankstellen
müssten Fahrkurse für ihre Kunden anbieten, um ihnen
beizubringen, wie man benzinsparend fährt. Ich frage
mich, warum sie daran Interesse haben sollten. Es sind
ganz seltsame Dinge, die Sie vorschlagen. Es wäre viel
sinnvoller, anzuerkennen, dass sich etwas tut, und zwar
dank deutscher Ingenieurkunst.
({5})
Was sich in der Automobilindustrie abspielt, ist großartig. Das sollte man an dieser Stelle würdigen. Das
Thema Mobilität ist ein soziales Thema. Sie sollten mitdiskutieren, aber nicht so abwegig, wie Sie das sonst tun,
sondern konzentriert auf die Frage: Wie stellen wir sicher, dass Mobilität auf dem Land und in sozial schwächeren Bevölkerungskreisen gewährleistet ist?
({6})
Wir haben etliches zum Thema Wärme gehört, zu
dem hohen Potenzial, das in diesem Bereich schlummert, und auch zur Blockade der Bundesländer gegenüber unseren Vorschlägen zur steuerlichen Förderung
der Gebäudesanierung.
({7})
Dass der Kollege Hempelmann versucht, das als sozialpolitischen Akt zu tarnen, finde ich schon bemerkenswert.
Da waren die Bundesländer sehr viel ehrlicher. Sie haben
klar gesagt: Wir können bzw. wollen uns das nicht leisten.
Wir haben für diesen Bereich keine Mittel übrig. - Sie haben nicht gesagt, dass sie unser Gesetz blockieren, weil es
unsozial sei. Natürlich können Renovierungen nur bei jenen gefördert werden, die Häuser haben und Steuern zahlen; das ist klar. Insofern denke ich, dass Ihre Kritik nicht
berechtigt ist. Ich weise trotzdem darauf hin, dass wir
auch in diesem Bereich ständig neue Standards setzen
bzw. Standards erhöhen und dadurch Investitionshemmnisse besonderer Art aufbauen. Die Bautätigkeit ist trotz
guter Konjunkturlage in unserem Land nicht so, wie ich es
mir vorstelle. Man sollte sich darüber Gedanken machen,
ob das nicht vielleicht auch an unseren Anforderungen
liegt.
Zum Thema „Verpflichtung zur Wärmeauskoppelung
bei fossilen Kraftwerken“, wie von den Grünen gefordert, muss man sagen: Erstens. Dafür braucht man eine
Wärmesenke. Das ist schon bei den Biogasanlagen
- dort haben wir die Verpflichtung bereits umgesetzt vielfach nicht einfach. Zweitens. Wir brauchen fossile
Kraftwerke für den Ausgleich der Schwankungen im Bereich der erneuerbaren Energien. In Bayern wird momentan der Versuch unternommen, Investoren für den
Bau von Gaskraftwerken zu finden. Die sagen uns aber:
Wenn wir nur unter der Voraussetzung einspeisen dürfen, dass die Sonne nicht scheint und der Wind nicht
weht, dann investieren wir nicht; denn es ist nicht zu erwarten, dass sich das rentiert. Das ist eine schwierige
Gemengelage. Wir haben noch nicht geklärt, wie wir sie
motivieren können, zu investieren. Eine generelle Wärmeauskoppelungspflicht vorzusehen, halte ich für einen
komplett falschen Ansatz.
Zur Europäischen Union. Eine Energieeinsparquote
für Unternehmen von 1,5 Prozent jährlich halte ich für
sehr bürokratisch. Aus meiner Sicht hat das sogar planwirtschaftliche Züge - das muss man auch dem Kollegen
Oettinger in aller Deutlichkeit sagen -; das ist in dieser
Pauschalität nicht akzeptabel.
({8})
Wir werden erleben, dass die Grenzkosten von Periode
zu Periode steigen, was das Ganze deutlich schwieriger
macht. Der EU muss man ins Stammbuch schreiben,
dass sie sich nicht immer gegen den Wettbewerb der
Ideen wenden und alles pauschal gleichmachen sollte.
Subsidiarität und Demokratie wären gerade in einer
schweren europäischen Krise ein Gebot der Stunde.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erinnern wir uns an das Jahr 2007. Die Bundeskanzlerin
Merkel hat sich damals als Klimakanzlerin inszeniert.
Damals wurde unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft
das Ziel formuliert, 20 Prozent des Energieverbrauchs
bis 2020 einzusparen. Das hörte sich sehr ambitioniert
an. Wie sieht die Realität aus? Man muss sagen: niederschmetternd und frustrierend. Weder auf EU-Ebene noch
auf Bundesebene wurden Instrumente gesetzlich verankert, mit denen das ehrgeizige Ziel „mehr Energieeffizienz“ erreicht werden kann. Die EU-Kommission muss
nun feststellen, dass die Mitgliedstaaten ihr Ziel weit
verfehlen werden.
Umweltverbände, NGOs und meine Fraktion haben
zahlreiche intelligente Vorschläge unterbreitet, wie mehr
Energieeffizienz erreicht werden kann. Es mangelt nicht
an Ideen oder Vorschlägen. Woran es der Bundesregierung mangelt, ist der Wille, die Interessen der großen
Konzerne und des BDI bei der dringend notwendigen
Energiewende hintanzustellen; das geht zulasten des Klimaschutzes und einer für alle Menschen bezahlbaren
Energieversorgung.
({0})
Das erklärt die Untätigkeit der Bundesregierung in Sachen Energieeffizienz auf nationaler Ebene und ihre unsägliche Rolle auf europäischer Ebene.
Ihren angeblichen Zielen zum Trotz blockiert und
verwässert die Bundesregierung die aktuelle Richtlinie.
Sie verhindert auf diese Weise, dass Energiesparziele
rechtlich verbindlich verankert werden. Die Industrie
soll nicht zu mehr Effizienz verpflichtet werden, und
dies, obwohl sie sich durch die klimaschädliche und gefährliche Energienutzung in Milliardenhöhe bereichert
hat. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund skandalös, dass die neue Richtlinie ursprünglich den Zweck
hatte, das während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unter Kanzlerin Merkel beschlossene Einsparziel
doch noch zu erreichen. Die Bundesregierung konterkariert ihre eigenen Ziele.
Bundeswirtschaftsminister Rösler verweigert sich,
wenn es darum geht, ein deutliches Zeichen für Klimaschutz und bezahlbare Energieversorgung zu setzen.
Während die großen Energiekonzerne verschont bleiben,
sind die Verbraucherinnen und Verbraucher gezwungen,
die steigenden Energiekosten, die durch mehr Effizienz
eigentlich verhinderbar wären, zu tragen. Die Bundesregierung beweist damit zum wiederholten Male, dass sie
beim Thema Energie zweigleisig fährt. Ihre offiziell verkündeten umweltpolitischen Ambitionen wirken unglaubwürdig; nein: Sie sind unglaubwürdig.
({1})
Wenn es um Fragen der Energieeffizienz geht, demonstriert die Bundesregierung ihren desaströsen Hang,
wirtschaftliche Interessen großer Energiekonzerne vor
das Gemeinwohl zu stellen. Sie blockiert innovative
Ideen und damit jegliche Chance, rechtzeitig eine Energiewende in Gang zu bringen, die die Natur schützen,
Energie für die Menschen bezahlbar machen und zusätzlich zahlreiche Arbeitsplätze schaffen kann. Verpflichten
Sie die Industrie zu mehr Energieeffizienz! Schützen Sie
Verbraucherinnen und Verbraucher vor zu hohen Energiekosten! Setzen Sie die Energieeffizienzrichtlinie sozial gerecht um! Auch die Energiekonzerne müssen endlich zur Kasse gebeten werden.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Torsten Staffeldt hat für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Frau Nestle, ich möchte Sie
direkt ansprechen, da Sie die erste Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt waren. Sie erwarten viel Lob für
den Antrag, den Sie heute vorgelegt haben. Es tut mir
schrecklich leid, aber damit können wir nicht dienen.
Verstand sieht jeden Unsinn, Vernunft rät, manches
davon zu übersehen.
Das kann man ganz explizit auf Ihren Antrag beziehen.
Wir reden hier über Energieeffizienz, über KraftWärme-Kopplung. Die grundsätzlichen Überlegungen
dazu sind in der Physik festgelegt. Es gibt den Zweiten
Hauptsatz der Thermodynamik, den wahrscheinlich die
wenigsten von Ihnen kennen; davon gehe ich zumindest
aus.
({0})
Er besagt schlicht und einfach, dass es kein Perpetuum
mobile gibt, dass man bei allen Energieumwandlungsprozessen mit Verlusten rechnen und arbeiten muss. Vor
diesem Hintergrund ist es besonders interessant, welche
Vorschläge hier vonseiten der Opposition vorgebracht
werden, wie man die Situation verbessern könnte. Wenn
Sie das Perpetuum mobile konstruieren können, dann
machen Sie das; aber glauben Sie nicht, dass Sie zusammen mit der Koalition die Physik betrügen können. Das
klappt nicht.
({1})
Bei den Zielen gibt es, denke ich, sehr große Übereinstimmungen. Wir haben alle das Ziel, die Energieeffizienz zu steigern. Kollege Nüßlein hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass in vielen Bereichen, insbesondere
in der Industrie, die Energieeffizienz kaum noch zu steigern ist bzw. die Kosten für eine Steigerung der Energieeffizienz in keinem gesunden Verhältnis mehr zu dem
Nutzen stehen.
({2})
Hier beziehe ich mich ganz explizit auf meinen Kollegen
Breil - er wurde heute schon mehrfach zitiert -, der ganz
klar gesagt hat: Die Wirtschaft wird das schon machen.
({3})
Sie hat das auch schon gemacht. Ich bin seit 1997/1998
als selbstständiger Energieeffizienzberater in einem speziellen Segment der Industrieenergieversorgung tätig.
Ich kann Ihnen aus meiner ganz persönlichen Erfahrung
sagen: Sie selber haben Interesse daran. Kollege Pfeiffer
hat heute richtigerweise darauf hingewiesen, dass nicht
nur die Industrie, sondern auch die Menschen, die Immobilienbesitzer, ein großes Eigeninteresse daran haben,
die Energieeffizienz zu steigern und ihre Kosten zu senken und so dafür zu sorgen, dass sie wirtschaftlicher
handeln bzw. leben können.
Worüber wir hier streiten, ist der Weg, wie wir diese
Ziele erreichen können. Es ist aus meiner Sicht mehr als
interessant, zu sehen, wie sich die Oppositionsfraktionen
darstellen. In der stärksten und aus meiner Sicht ungesündesten Ausprägung ist dies bei den Linken zu sehen,
die über Ziele, Verpflichtungen, Verbote und sogar Kontrollen reden. Über den Geist, der dort herrscht, kann ich
nur sagen: Diesen Geist möchte ich in unserem Land nie
wieder sehen.
({4})
Leider gilt diese Kritik auch für die SPD und für die
Grünen, die ebenfalls über Verpflichtungen die Menschen zu dem zwingen wollen, was sie für richtig halten.
({5})
Man kann das, was hier angestrebt wird, durchaus als
Ökodiktatur oder als Ökosozialismus bezeichnen.
({6})
Ich kann Ihnen nur sagen: Solange die christlich-liberale
Koalition das Sagen hat - und das wird noch lange so
sein -,
({7})
so lange werden wir die Ziele, die von den Kolleginnen
und Kollegen vorgestellt wurden, weiter verfolgen. Wir
wollen die Menschen überzeugen, wir wollen, dass sie
mitmachen, wir wollen das Eigeninteresse stärken. Wir
gehen fest davon aus, dass wir diese Ziele mithilfe eines
Fördersystems erreichen werden.
Ich komme zum Schluss.
({8})
Das theatralische Auftreten von Frau Nestle am Anfang
der Debatte war bezeichnend. Dazu fällt mir nur ein Zitat ein: Auch die Bretter, die man vor dem Kopf hat,
können die Welt bedeuten.
Schönen Tag noch.
({9})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jens Koeppen für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich versuche einmal, die lange Debatte ein
bisschen zusammenzufassen.
Wir haben vor einigen Monaten beschlossen, die
Energieversorgung in Deutschland grundlegend neu auszurichten. Deswegen finde ich es gut, dass es immer
wieder Anträge gibt, aufgrund derer wir hier im Plenum
darüber reden, ob wir auf dem richtigen Weg sind und
wie weit wir sind. Das war es allerdings schon an positiven Anmerkungen, vor allen Dingen zum Antrag der
Grünen. Dieser ist aus meiner Sicht kontraproduktiv und
dürftig; denn es geht nicht genau daraus hervor, was Sie
eigentlich wollen. Herr Becker und Herr Hempelmann
waren da schon wesentlich konkreter.
Ich beziehe mich jetzt insbesondere auf den Antrag
der Grünen. Sie nehmen vor allen Dingen Bezug auf die
Energieeffizienzrichtlinie 2011 der Europäischen Kommission. Darin heißt es, dass die Maßnahmen unser Alltagsleben verändern werden. Darin heißt es auch, dass
pro Jahr und pro Haushalt Energie im Wert von bis zu
1 000 Euro eingespart werden kann.
({0})
- Im Energieeffizienzplan 2011 der Europäischen Kommission.
({1})
- Aber sicherlich. - Dort steht auch, dass es bis zu 2 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen gilt und dass die Treibhausgasemissionen jährlich um bis zu 740 Millionen
Tonnen gesenkt werden können. Das ist der Plan; da gehen wir d’accord. Aber wie es im Leben manchmal ist:
Unser Ziel ist ähnlich, aber der Weg ist ein anderer.
Was Sie machen, finde ich etwas unredlich. Sie sagen:
Deutschland bremst massiv.
({2})
Ich darf Sie aber daran erinnern, dass es Deutschland
war, das die 20-20-20-Ziele - 20 Prozent mehr Energieeffizienz, 20 Prozent mehr erneuerbare Energien und
20 Prozent weniger Treibhausgasemissionen - in Europa
durchgesetzt hat. Sie wissen auch, dass es im Rahmen
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft von Angela
Merkel sehr schwierig war, sich darauf zu verständigen.
Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Nestle?
Nein, ich fasse jetzt zusammen, und damit ist die Debatte beendet. Das reicht dann auch.
({0})
Wenn Sie das erreicht hätten, hätten Sie wahrscheinlich Trittin-Gedenktage abgehalten. Wir waren es aber,
die das durchgesetzt haben, und wir werden diesen Weg
auch weitergehen.
Was wir allerdings nicht machen werden - das sagen
wir ganz deutlich -, ist, jeden Vorschlag irgendeines EUBeamten unkritisch auf nationaler oder auf EU-Ebene
durchzuwinken; so verstehen wir die Europapolitik
nicht; denn das bringt weder Deutschland noch Europa
noch die Energie- und Klimapolitik voran.
({1})
In Europa gibt es aus meiner Sicht ab und zu Aktionismus. Denken wir nur einmal an das Debakel mit dem
Glühlampenverbot.
({2})
Da wird ohne Sinn und Verstand etwas verboten und
dann eine billige asiatische Energiesparlampe in den
Markt eingeführt. Es wird nicht gefragt: Wie forschen wir
an der LED weiter? Wie gehen wir damit um? Wir müssen nicht jeden Mist umsetzen. Das ist purer Aktionismus. Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist unstrittig.
({3})
Warum sollen wir Dinge fordern und beschließen, die
wir längst umgesetzt haben oder die längst auf dem Weg
sind? Ich möchte nur an die Forderung in Ihrem Antrag
in Bezug auf die Verpflichtung zur öffentlichen Beschaffung, an die Forderung zum KWK-Zuschlag oder an die
Forderung der Unterstützung von Mini-KWK erinnern.
Diese Maßnahmen sind längst auf dem Weg und werden
bereits vorangetrieben. Sie sollten nicht ständig neue
Zielmarken setzen und nur wiederholen, was bereits beschlossen ist. Sie sollten lieber vor Ort mit uns gemeinsam und in den Ländern, für die Sie Verantwortung tragen, dafür sorgen, dass der Bau neuer Anlagen im
Bereich der erneuerbaren Energien, effizienter Kraftwerke - Datteln 4 wurde bereits mehrfach erwähnt -, der
Aufbau neuer Netze und Demonstrationen neuer Technologien vorangetrieben werden. Es muss nicht immer
CCS das Thema sein. Das ist der Weg zu CCU, also der
Weg zur Nutzung von CO2. Auch das Hybridkraftwerk
in der Uckermark, in meinem Heimatwahlkreis, das am
Dienstag eröffnet wurde, ist ein Beitrag zur effizienten
Speicherung von erneuerbaren Energien. Da können wir
vor Ort gemeinsam mitwirken. Da machen Sie sich dann
aber meist vom Acker. Deswegen nehmen wir Ihnen diesen Antrag auch nicht ab.
({4})
Wir wollen mit den Menschen und mit den Unternehmen gemeinsam mehr Energieeffizienz umsetzen. Dazu
brauchen wir den gesellschaftlichen Konsens. Maßnahmen und Regelungen dürfen die Menschen nicht überfordern. Wir müssen sie zum Umdenken anregen und sie
ermutigen, beim Energiesparen mitzumachen. Wenn die
Energie- und Klimapolitik keine Akzeptanz findet, dann
werden wir unsere Ziele in dieser Zeit und in dieser Größenordnung nicht erreichen. Für uns steht an oberster
Stelle, dass Energie kein Luxusgut werden darf, weder
heute noch in Zukunft.
Sie setzen auf Druck, damit die Menschen ihren Energieverbrauch reduzieren. Sie wollen die Energie verteuern und verknappen. Am Ende wird eine große Umverteilungsmaschine in Gang gesetzt, die wir so nicht
mittragen können. Sie sprechen in Ihrem Antrag von der
Ausreichung eines Klima-Wohngeldes. Wahrscheinlich
gibt es irgendwann auch ein Klima-BAföG, ein KlimaKindergeld oder ein Klima-Essensgeld, weil sich viele
Menschen die Energieeffizienz à la Bündnis 90/Die Grünen nicht werden leisten können. Das ist nicht unser
Weg. Ich warne davor, die Energie so zu verteuern, dass
sie sich die Menschen nicht mehr leisten können.
({5})
Unser Weg ist ein anderer. Innovation ist der wichtigste Schritt zur Erreichung dieser Ziele. Wir brauchen
neue Produkte und neue Dienstleistungen, weitgehende
Technologieoffenheit, die Bereitschaft zu Innovationen,
um positive Anreize zu setzen, und vor allen Dingen
- das ist fast noch gar nicht genannt worden - mehr Geld
für Energieforschung. Wir müssen in der Energieforschung Anreize schaffen, damit wir Objekte wie das Hybridkraftwerk in der Uckermark umsetzen können. Das
ist aus unserer Sicht von entscheidender Bedeutung.
Mit der neuen Energie- und Klimapolitik wird sich
für die Menschen in der Tat viel verändern; da gebe ich
der Energieeffizienzrichtlinie und dem EnergieeffizienzAktionsplan völlig recht. Man muss den Menschen auch
sagen, dass diese Ziele nicht zum Nulltarif zu haben
sind. Aber es darf nicht nur zulasten der Menschen gehen, wenn auch andere Maßnahmen den gewünschten
Erfolg zeigen. Wir müssen die Menschen mitnehmen.
Wir müssen sie aufklären. Wir müssen Vertrauen in sie
haben, auch Vertrauen in die Unternehmen. Wir müssen
Anreize schaffen, statt Gängelei zu betreiben. Das ist aus
unserer Sicht der richtige Weg.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen - - Ich korrigiere mich, Entschuldigung. Ich war vom großen Interesse der Kolleginnen und
Kollegen am folgenden Tagesordnungspunkt so fasziniert, dass ich gleich dazu übergehen wollte. Ich schließe
die Aussprache also noch nicht.
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Nestle das
Wort.
Herzlichen Dank. - Herr Koeppen, Sie haben die 2020-20-Ziele der Bundeskanzlerin, die sie 2007 verhandelt hat, darunter auch das 20-Prozent-Energieeffizienzziel, ausdrücklich gelobt und rühmend hervorgehoben.
Ich habe Herrn Rösler letzte Woche persönlich hier im
Plenum gefragt, ob er sich weiterhin zu dem 20-ProzentZiel bekennt, wie Frau Merkel es verhandelt hat, nämlich in Bezug auf eine Baseline. Er hat mir extrem ausweichend geantwortet und gesagt: Ich finde das 1,5-Prozent-Ziel schlecht. - Er hat sich also nicht dazu bekannt.
Ich habe deshalb schriftlich nachgefragt. Heute früh
habe ich die Antwort bekommen. Das Wirtschaftsministerium bekennt sich nicht mehr zu dem 20-Prozent-Ziel, wie
Frau Merkel es damals verhandelt hat, bezogen auf eine
Baseline. Das ist besonders interessant, weil das 20-Prozent-Ziel der Bundesregierung gegenüber 2008 bis 2020
numerisch fast genau dem EU-Ziel entspricht. Sie sagen
also: Wir wollen hier in Deutschland das 20-ProzentZiel erreichen, aber in der EU setzen wir uns dagegen
ein. Wir wollen nicht, dass die anderen Länder mithelfen. In Deutschland wollen wir etwas tun. Aber die anderen Länder sollen keinen Beitrag leisten. - Ich frage Sie:
Stehen Sie zu dem 20-Prozent-Energieeffizienzziel, wie
Frau Merkel es 2007 verhandelt hat - eben haben Sie es
sehr gelobt -, oder sehen auch Sie tatenlos dabei zu, wie
Minister Rösler dieses Ziel in Brüssel gerade aufgibt?
Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung.
Ganz kurz: eindeutig Ja. Wir bekennen uns dazu. Ich
weiß nicht, mit wem Sie Brieffreundschaften pflegen
und welche Antworten Sie bekommen.
({0})
Ich habe diesen Brief nicht gelesen. Wir stehen zu den
Zielen, die wir 2007 formuliert haben, und natürlich
auch zu dem Klima- und Energiepaket, das wir im
Sommer dieses Jahres beschlossen haben.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7462 und 17/6927 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Die Energiewende gelingt nur mit KWK“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7516, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/6084 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 30 b. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Am Ausbau der
hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung festhalten“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4492, den Antrag der Fraktionen der SPD
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3999 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 c sowie
den Zusatzpunkt 4 auf:
35 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Statistik der Überschuldung privater Personen
({0})
- Drucksache 17/7418 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Veronika
Bellmann, Dirk Fischer ({2}), Arnold
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer
nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität
- Drucksache 17/7464 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Vizepräsidentin Petra Pau
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu
Lasten des Strahlenschutzes - Zwischenlagerung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungsabfälle verursachergerecht neu gestalten
- Drucksache 17/7465 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Masterplan Straßenverkehrssicherheit - Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011 - 2020 vorlegen
- Drucksache 17/7466 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 o auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 36 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung des Austauschs von strafregisterrechtlichen Daten zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur
Änderung registerrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/5224 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 17/7415 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Sebastian Edathy
Marco Buschmann
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7415, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5224 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur
Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
- Drucksache 17/7334 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6})
- Drucksache 17/7517 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
Swen Schulz ({7})
Patrick Meinhardt
Agnes Alpers
Kai Gehring
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/7517, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7334 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Tagesordnungspunkt 36 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vorschlag für eine Verordnung über die
elektronische Fassung des Amtsblatts der
Europäischen Union
- Drucksache 17/7144 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8})
- Drucksache 17/7512 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Manuel Höferlin
Raju Sharma
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7512, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7144 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, erhebe sich bitte. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an das Gemeinsame Wattenmeersekretariat - Common
Wadden Sea Secretariat ({9}) ({10})
- Drucksache 17/6612 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
- Drucksache 17/7491 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Angelika Brunkhorst
Undine Kurth ({12})
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7491, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6612 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2012
({13})
- Drucksache 17/7236 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14})
- Drucksache 17/7518 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/7518, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/7236 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Fraktion Die
Linke enthält sich.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neufassung des Erdölbevorratungsgesetzes und zur Änderung des Mineralöldatengesetzes
- Drucksache 17/7273 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15})
- Drucksache 17/7519 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/7519, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/7273 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Vizepräsidentin Petra Pau
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke bei
Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Vergaberechts für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit
- Drucksache 17/7275 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16})
- Drucksache 17/7520 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/7520, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/7275 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 h:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 25. November 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Andorra über den Informationsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/7145 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 19. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über den Informationsaustausch in
Steuersachen
- Drucksache 17/7146 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({17})
- Drucksache 17/7441 Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Holger Krestel
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7441, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache
17/7145 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen
der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Für diejenigen, die uns das erste Mal bei diesem Prozedere zusehen, sei gesagt: Hier wird, da es um ein Vertragsgesetz geht, gleich endgültig abgestimmt.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7441, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/7146 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 36 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 324 zu Petitionen
- Drucksache 17/7361 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 324 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 325 zu Petitionen
- Drucksache 17/7362 16124
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 325 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 326 zu Petitionen
- Drucksache 17/7363 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 326 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 327 zu Petitionen
- Drucksache 17/7364 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 327 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 328 zu Petitionen
- Drucksache 17/7365 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 328 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 329 zu Petitionen
- Drucksache 17/7366 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 329 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 330 zu Petitionen
- Drucksache 17/7367 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 330 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Damit sind wir am Ende der Tagesordnungspunkte
ohne Debatte. Ich bedanke mich recht herzlich für die
gute Zusammenarbeit.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Demokratischer Sozialismus und soziale
Marktwirtschaft im Grundsatzprogramm der
LINKEN
({25})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer für die Unionsfraktion.
({26})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir kommen zu einem aus meiner Sicht in der
Tat unglaublichen und erschreckenden Tagesordnungspunkt.
({0})
Dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
21 Jahre nach der deutschen Einheit in Ihrem Grundsatzprogramm - dazu haben Sie gerade auch noch applaudiert - einen Systemwechsel fordern, weg vom erfolgreichsten System, das es auf der Welt zur Schaffung von
Wohlstand, sozialem Ausgleich und Fortschritt gibt, hin
zu einem demokratischen Sozialismus
({1})
- applaudieren Sie nur, damit die Menschen sehen, wofür Sie sind -, der nicht nur in der Sache bewiesen hat,
dass er das schlechtere Gesellschaftsmodell ist, weil er
nichts zustande gebracht hat,
({2})
sondern in dessen Namen und Abarten auch Massenvernichtung von Menschen betrieben wurde - von der DDR
über die Sowjetunion bis nach China -, ist unvorstellbar.
({3})
Durch einen demokratischen Sozialismus wollen Sie das
erfolgreichste System ersetzen, die soziale Marktwirtschaft,
({4})
deren Ordnungsprinzip der Wettbewerb ist und die es
über den Wettbewerb auf dem Gütermarkt, dem Arbeitsmarkt und dem Finanzmarkt schafft, Effizienzpotenziale
zu heben und diese dem Verbraucher und dem Bürger
zugutekommen zu lassen.
({5})
Sie haben noch immer das Wort und im Übrigen die
Verstärkung des Mikrofons.
Die brauche ich nicht. Ich lasse die ausschreien. Dann
versuche ich, meine Argumente weiter vorzutragen.
({0})
Sie wollen die soziale Marktwirtschaft, die es über
Wettbewerb schafft, einen Ausgleich herbeizuführen,
und zwar besser, als es in der DDR der Fall war - dort
musste man 20 Jahre auf ein Auto warten, während es
bei uns verschiedene Autos gab und jeder Kühlschränke
und viele andere Dinge mehr hatte -, durch einen demokratischen Sozialismus ersetzen. Das ist wirklich abenteuerlich.
({1})
Sie wollen einen Systemwechsel auch in Bereichen,
in denen es natürliche Monopole gibt. Wir haben heute
Morgen über die Telekommunikation gesprochen. Während man in der DDR in der Regel 20 Jahre auf einen Telefonanschluss warten musste und zehn Menschen ein
Telefon nutzen mussten,
({2})
haben wir über den Wettbewerb die nicht nur in Europa,
sondern in der ganzen Welt beste Breitbandversorgung
in Deutschland organisieren können.
({3})
Wir haben dort, wo der Wettbewerb nicht funktionierte,
entweder über die Kartellämter und das Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkung oder bei einem natürlichen
Monopol über Regulierung dafür gesorgt,
({4})
dass der Wettbewerb wieder funktioniert.
({5})
Dass der Wettbewerb zum Beispiel auf dem Finanzmarkt
oder im Energiebereich nicht optimal funktioniert, liegt
nicht daran, dass es dort zu viel Wettbewerb gibt, sondern daran, dass es dort zu wenig Wettbewerb und zu
wenig soziale Marktwirtschaft gibt. Deshalb brauchen
wir mehr soziale Marktwirtschaft und nicht weniger.
({6})
Die soziale Marktwirtschaft sorgt für einen Ausgleich, indem sie durch die Hebung der Effizienzpotenziale dem Bürger Vorteile in Form von niedrigeren Preisen und Effizienzgewinnen bringt. Darin war sie in den
letzten 60 Jahren sehr erfolgreich.
({7})
Was stellen Sie ihr gegenüber? Planwirtschaft, Dirigismus, Enteignung und Unfreiheit. Leider kann man in
fünf Minuten nicht den ganzen Scheiß, den Sie da beschlossen haben, auch nur in Ansätzen hier vortragen.
({8})
Aber Sie schreiben tatsächlich in Ihrem Programm, zu
den Erfahrungen der Menschen im Osten Deutschlands
gehörten die Beseitigung der Erwerbslosigkeit, die Eigenständigkeit der Frauen und weitgehende Überwindung von Armut,
({9})
und die Verstaatlichung der Großindustrie und der Banken hätte die wirtschaftliche Tätigkeit auf das Gemeinwohl und den Schutz der Beschäftigten vor Ausbeutung
ausgerichtet. Die Einheit sehen Sie als bloßen Beitritt
und einen für viele Menschen schmerzlichen sozialen
Absturz.
({10})
Das ist Verleumdungstaktik. Sie gießen Hohn über
diejenigen, die in diesem Land fleißig arbeiten und Steuern zahlen, Hohn über alle Mauertoten und Hohn über
Abertausende von Familien, die am real existierenden
Sozialismus zugrunde gegangen sind.
({11})
Zwangsadoptionen, Folter, Todesstrafe - das war Ihr
System, und das wollen Sie wieder einführen.
({12})
Nicht mit uns, meine Damen und Herren.
({13})
Ich nehme erst einmal zur Kenntnis, dass die Antragsteller einer Fraktion hier im Hause offensichtlich eine
große Freude gemacht haben. Trotz alledem bitte ich die
Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, wenn
sie von ihrem Recht auf Zwischenrufe, die die Debatte
Vizepräsidentin Petra Pau
beleben, Gebrauch machen, zu gewährleisten, dass wir
auch den Redner verstehen.
({0})
Sie, Kollege Pfeiffer, bitte ich, Ihre Rede im Nachhinein auf einen unparlamentarischen Ausdruck zu überprüfen, den ich hiermit einfach zurückweise, ohne ihn zu
wiederholen.
({1})
Nun hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erste
Bemerkung: Die Partei Die Linke hat in den letzten Wochen und Monaten einschließlich ihrer Grundsatzprogrammdebatte massiv dazu beigetragen, den Begriff „demokratischer Sozialismus“ in Misskredit zu bringen.
({0})
Sie erleichtert damit - das haben wir gerade gehört - all
denjenigen das Geschäft, die die bestehenden Machtund Verteilungsverhältnisse unter Hinweis auf die angebliche Alternativlosigkeit auf Ewigkeit festschreiben
wollen.
Zweitens. Die Sozialdemokratie wird es nicht zulassen, dass Begriff und Inhalt des demokratischen Sozialismus diskreditiert werden,
({1})
sei es durch falsche Inanspruchnahme, sei es durch den
durchschaubaren Versuch von Konservativen und Liberalen, Feindbilder aufzubauen oder wiederzubeleben.
({2})
Wir werden unsere Tradition, unsere Wertorientierung
und unsere Ziele nicht verleugnen. Im Gegenteil: In Zeiten wie diesen sind sozialdemokratische Grundwerte,
Orientierung und Handeln mehr gefragt denn je.
({3})
Drittens. Der Regierungskoalition und den sie tragenden Parteien fehlt jede Legitimation, die soziale Marktwirtschaft für sich zu reklamieren.
({4})
Das belegt nicht zuletzt ihr Umgang mit der internationalen Finanzkrise. Die Politik dieser Koalition hat weder
etwas mit Markt noch mit Wirtschaft im positiven Sinn
und erst recht nichts mit „sozial“ zu tun.
({5})
Viertens. Bei immer mehr Menschen wachsen die
Distanz und die Kritik gegenüber dem jetzigen wirtschaftlichen und politischen System.
({6})
Tiefgreifende Veränderungen sind in der Tat notwendig,
um mehr Gerechtigkeit herzustellen,
({7})
für gute Arbeit und Nachhaltigkeit zu sorgen, um Krisen
wirksam zu bekämpfen und mehr Demokratie durchzusetzen.
({8})
Die SPD-Bundestagsfraktion ist deswegen jederzeit und
gerne bereit, über die langen Linien der künftig notwendigen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu diskutieren.
({9})
Aber darum geht es Union und FDP heute nicht; vielmehr haben die Koalitionsfraktionen vor, mit einem
oberflächlichen Schlagabtausch à la Pfeiffer
({10})
vom Scheitern der eigenen Regierungspolitik und vom
Scheitern der ihr zugrunde liegenden Ideologien abzulenken.
({11})
Dafür bieten Sie heute hier sage und schreibe sechs Redner auf.
Wir sehen das in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für Aktuelle Stunden vorgesehene
Kriterium - ich zitiere - „von allgemeinem aktuellen Interesse“ als nicht gegeben an.
({12})
Deswegen verzichtet die SPD-Bundestagsfraktion auf
die restliche ihr zur Verfügung stehende Redezeit im
Rahmen dieser Aktuellen Stunde.
({13})
Wir hoffen, dass diese Zeit später genutzt werden
kann, um die Themen hier früher und ausführlicher behandeln zu können, die die Menschen wirklich bewegen
und uns in der Sache vorwärtsbringen. Wenn Sie auf die
Tagesordnung schauen: Davon gibt es genug.
({14})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Kurth.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die mutmaßlich schwerste Krise Europas seit
dem Kriegsende, dramatische Situationen, wir müssen
Handlungsfähigkeit beweisen, Euro und Europakrise da steht auch der Bundestag vor immensen Herausforderungen. Und was macht die Linke? Sie geht unverdrossen ihren sozialistischen Gang.
({0})
Sie stellt ein Programm auf, völlig unabhängig von den
Realitäten. Mit 97 Prozent bei einigen Enthaltungen und
einigen Gegenstimmen wurde die Revolution so beschlossen.
({1})
Ich will gar nicht darauf eingehen, was für Blümchenthemen behandelt wurden. Übrigens hat es auch
mich geärgert, dass nur die Drogen und solche Dinge
eine Rolle spielten und nicht die Einzelheiten des Programms. Darüber müssen wir nun einmal reden. Wer
sich dieses Programm durchliest,
({2})
muss sich fragen, ob Sie immer noch der leninistischen
Revolutionstheorie folgen oder vielleicht doch ein Weltuntergangsverein sind.
Ich finde es übrigens sehr bezeichnend, dass allein
das Auffinden Ihres Programms im Internet oder sonst
wo außerordentlich schwierig ist; es gab es so nicht. Ich
habe versucht, es zu finden. Ich habe dann Fragmente
gefunden. Ich dachte: Mensch, mit Beschluss des Parteitages tritt das Ganze „nach meiner Kenntnis … ist das
sofort … unverzüglich“.
({3})
Nein, es findet sich nichts im Netz.
({4})
- Ich hätte schon gerne gewusst, was in dem leeren Umschlag ist, den Sie die ganze Zeit hochhalten. Es ist eine
Hülle, mehr nicht.
({5})
Ich gebe Ihnen einen Tipp: Tun Sie es herunter, in die
unterste Schublade. Behalten Sie es dort. Dort und nirgendwo anders gehört es hin.
({6})
Gleich in der Präambel schreiben Sie: „Wo vor allem
der Profit regiert, bleibt wenig Raum für Demokratie.“
({7})
- Applaus. - Das heißt ja im Umkehrschluss: Wo es den
wenigsten Profit gibt, gibt es den meisten Raum für Demokratie.
({8})
Wo gibt es denn den wenigsten Profit auf dieser Welt?
Ich denke da an Nordkorea. Ich denke da an Kuba.
({9})
Glauben Sie ernsthaft, da gibt es den meisten Profit, weil
es da am wenigsten Demokratie gibt? Oder gibt es dort
am meisten Demokratie, weil es den wenigsten Profit
gibt? Unglaublich, was Sie uns hier auftischen.
({10})
An anderer Stelle schreiben Sie:
Doch erst die Befreiung aus der Herrschaft des Kapitals und aus patriarchalen Verhältnissen verwirklicht die sozialistische Perspektive der Freiheit und
Gleichheit für alle Menschen.
({11})
Dies haben insbesondere Marx, Engels und
Luxemburg gezeigt.
({12})
Ich frage: Was haben Marx, Engels und Luxemburg gezeigt?
({13})
In der Praxis überhaupt nichts; sie haben den Praxistest
nicht bestanden. Der Kollege Marx konnte noch nicht
einmal seine eigene Familie durchbringen, weil er sein
ganzes Geld durchgebracht hat.
({14})
Er hat auf Kosten von Herrn Engels gelebt, der wiederum Oligarch war, seine Leute ausgepresst hat und die
Zeit dafür verwendete, Das Kapital und Ähnliches zu
schreiben.
({15})
Dieses Märchen mit Frau Luxemburg gehört sowieso
aufgeräumt. Frau Luxemburg gehört zu den Ersten, die
gegen die neue, junge Demokratie geputscht haben, und
das muss unsere Gegenwehr finden.
({16})
Patrick Kurth ({17})
Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel für die Geschichtsverklärung, die Sie hier vornehmen. Sie schreiben in Ihrem Grundsatzprogramm doch allen Ernstes über die
Bundesrepublik Deutschland, dass dort die antifaschistischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer unter Repressionen wie erneuten Verhaftungen und
Berufsverboten litten.
({18})
Sagen Sie einmal: Wo leben Sie denn? Das kann doch
wohl nicht wahr sein!
Weiterhin sagen Sie zur Bundesrepublik:
Doch gleichzeitig bestanden autoritäre und obrigkeitsstaatliche Strukturen fort.
({19})
Im Gegensatz dazu beschreiben Sie die Deutsche Demokratische Republik folgendermaßen: „Im Osten
Deutschlands prägte der Sozialismusversuch die Lebensgeschichte der Menschen …“, „Aufbau einer besseren
Gesellschaftsordnung“, „friedliebendes und antifaschistisches Deutschland“, „Beseitigung von Erwerbslosigkeit“.
({20})
Das war die DDR? Das können Sie doch nicht ernsthaft
behaupten! Schauen Sie in die Geschichtsbücher! Fragen
Sie Ihre PDS-Genossen!
({21})
Ihr Programm ist reaktionär, geschichtsverklärend, revanchistisch, relativistisch
({22})
- Sie arbeiten selektiv; das ist das richtige Stichwort -,
({23})
etatistisch und - das beweist uns auch heute hier diese
Bundestagsfraktion - außerordentlich hysterisch.
({24})
Sie sind im Weiten Extremisten.
Eine rechte Partei würden Sie bei spiegelverkehrter
inhaltlicher Fokussierung dem Dampfhammer Ihrer gesamten Sturmtruppen aussetzen.
({25})
Hass und Gewalt würden Sie ihr unterstellen.
({26})
Sie werden Ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht,
aber auch nicht in geringster Weise.
({27})
Nach dem, was ich hier aufgezählt habe und was ich
lesen konnte, hat Ihr Programm in etwa den gleichen
Fortschrittsgeist wie die heilige Inquisition.
({28})
Nicht einen Schritt nach vorn! Da ist nichts Aufklärerisches - nichts, aber auch in keiner Weise -, was auf den
modernen Staat wirken würde.
({29})
Ihr Programm ist ein Konvolut aus Thesen von 1870 und
1970; mehr nicht, überhaupt nicht mehr. Sie arbeiten in
Ihrem Programm ständig mit radikalem Weltuntergangsvokabular: Massenerwerbslosigkeit, Unterdrückung
- das kommt 14-mal vor -, das Wirtschaftssystem führe
zu Verelendung, bedrohe die Zivilisation usw. usf.
({30})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wer diese Gesellschaftsordnung so mit Füßen tritt, der wird den parlamentarischen Widerstand der FDP
({31})
als freiheitliche und liberale Bastion gegen alles engbrüstige, gegen alles reaktionäre und antiaufklärerische
Denken in diesem Hause erfahren. Dafür stehen wir.
Herzlichen Dank.
({32})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Stefan Liebich.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Linke kämpft für eine andere, demokratische
Wirtschaftsordnung,
({0})
die die Marktsteuerung von Produktion und Verteilung der demokratischen, sozialen und ökologischen Rahmensetzung und Kontrolle unterordnet.
({1})
So steht es in der Präambel unseres am vergangenen Wochenende in Erfurt beschlossenen Programms, und ich
muss Ihnen sagen, mit Blick auf die aktuelle Begrenztheit politischen Einflusses in der Wirtschafts- und EuroKrise: Wo Sie wie das Kaninchen auf die Schlange starren, wenn es um die Macht der Banken und Finanzmärkte geht, wünsche ich mir nichts mehr als eine genau
so organisierte Wirtschaftsordnung.
({2})
Die Tagesordnungen und Zeitpläne nicht nur unseres
Parlaments, sondern vieler Parlamente und Regierungen
- das durften wir gerade gestern und heute Nacht wieder
erleben - werden von Öffnungszeiten und Wünschen der
Börsen bestimmt. Wir streiten monatelang um lächerliche Erhöhungen des Arbeitslosengeldes, und dann werden in Windeseile Milliardensummen durch Bundesrat
und Bundestag gepeitscht, um die sogenannten Märkte
zu beruhigen. Das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Pfeiffer, lieber Herr Kurth, hat mit der
sozialen Marktwirtschaft, vor die Sie sich hier schützend
werfen wollten, nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({3})
Wenn ich mir Ihre Politik ansehe, die spätestens seit
dem Schröder/Blair-Papier von 1999, als sich die SPD
auf einen dritten Weg aufgemacht hat, um die neue Mitte
zu suchen - da, lieber Klaus Barthel, ist der demokratische Sozialismus diskreditiert worden -, zur rot-grünen
Politik der Steuersenkung für Besserverdienende, zu Deregulierung da, wo Regulierung nötig war, führte, die
mit der Agenda 2010 radikale Einschnitte in die Sozialsysteme durchsetzte und die von der Großen Koalition
und der sogenannten christlich-liberalen Regierung fortgesetzt wurde, weiß ich genau, warum unser Land die
Linke braucht.
({4})
Wenn ich auf Dumpinglöhne und prekäre Beschäftigung schaue, also auf die Zunahme von Jobs, von deren
Bezahlung man nicht leben kann, und andererseits auf
die Verweigerung der Einführung gesetzlicher Mindestlöhne bei Rot-Grün, bei Schwarz-Rot und nun bei GelbSchwarz, dann unterstreiche ich dreimal den Satz aus
unserem Programm:
Die ungebändigte Freiheit der großen Konzerne bedeutet Unfreiheit für die Mehrheit der Menschen.
Dann bin ich stolz darauf, dass es eine Kraft in der Parteienlandschaft unseres Landes gibt, die einen anderen
gesellschaftlichen Entwurf vorlegt und damit vielen
Menschen in unserem Lande Mut macht. Es muss nicht
immer so weitergehen. Es gibt Alternativen.
Wir verfolgen
- ich zitiere aus unserem Programm ein konkretes Ziel: Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der kein Kind in Armut aufwachsen muss,
in der alle Menschen in Frieden, Würde und sozialer Sicherheit leben
({5})
und die gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch gestalten können.
({6})
Um dies zu erreichen, brauchen wir ein anderes
Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: den demokratischen Sozialismus.
({7})
Ja, wir wollen den demokratischen Sozialismus, und
wir stehen dazu, auch wenn schlichte Gemüter aus dem
Süden unseres Landes sofort nach dem Verfassungsschutz rufen. Es gibt keinen Artikel im Grundgesetz, der
den Kapitalismus für unser Land festschreibt. Hingegen
ist in Art. 20 festgelegt, dass unser Land demokratisch
und sozial sein soll. Dass es dabei Defizite gibt, das ist
gerade in diesen Wochen zu spüren. „Occupy Wall
Street“ heißt übersetzt in linke Parteisprache:
Ein funktionierender Finanzsektor ist ein öffentliches Gut, seine Bereitstellung ist daher eine öffentliche Aufgabe.
Das finden wir wirklich richtig.
({8})
Nun malen Sie zu Recht die Schreckgespenster untergegangener Staaten an die Wand. Dabei würde ein
flüchtiger Blick in unser Programm ausreichen, um festzustellen, dass der demokratische Sozialismus, den wir
anstreben, mit den volkseigenen Betrieben der DDR nun
wirklich nichts zu tun hat.
({9})
Das haben wir in unserem Programm sogar ganz klar
zum Ausdruck gebracht:
Allumfassendes Staatseigentum ist aufgrund bitterer historischer Erfahrungen nicht unser Ziel.
So steht es in unserem Programm. Das hätten Sie einfach
nur nachlesen müssen.
({10})
Es stimmt aber schon, dass wir die Marktmacht großer Konzerne regulieren wollen. Das wollen Sie aber
nicht. Deswegen bekommen wir von den großen Konzernen auch keine Spenden. Wir sind die einzige nicht
Allianz-gesponserte Partei im Bundestag. Darauf sind
wir stolz. Deswegen wiederholen wir das auch so oft.
({11})
Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir
sind mit unserer Kritik an den bestehenden Verhältnissen
an der Seite jener, über die Bertolt Brecht Folgendes formulierte - und das steht auch im Einstieg unseres Programms -:
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon,
Wer baute es so viele Male auf?
Wir wissen, wer es war.
({12})
„Freiheit. Würde. Solidarität.“ Das ist unser Programm, und darauf sind wir stolz. Ich bedanke mich bei
der CDU/CSU-Fraktion und bei der FDP-Fraktion, dass
wir dies dem Parlament und der Öffentlichkeit vorstellen
konnten.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Liebich, irgendwie tun Sie mir leid, dass Sie jetzt
hier diesen Müll verteidigen müssen, obwohl Sie sich als
einer der wenigen auf diesem Programmparteitag dagegengestellt haben.
({0})
- Das mag vielleicht Strategie sein. - Sie haben jetzt versucht, uns dieses Programm anhand einzelner Punkte nahezubringen. Dabei haben Sie natürlich immer das weggelassen, was zu großer Kritik führt.
Wenn in einem Programm von Freiheit durch Gleichheit gesprochen wird, dann wird dem Begriff „Freiheit“
damit sein eigener Wert genommen. Dem werden wir
uns immer entgegenstellen.
({1})
Ehrlich gesagt, die Inszenierung, die Sie hier machen,
dieser Bierzeltcharakter, den Sie zur Verteidigung Ihres
Programmes hier hineinbringen, ist wirklich unmöglich.
({2})
Sie führen allerdings eine Retrodebatte. Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen sind nicht von heute, sondern
aus dem 19. Jahrhundert.
({3})
Wir leben in einer globalisierten Welt. Wir sind keine Insel. Unsere Wirtschaft ist enorm exportabhängig. Diese
Exportabhängigkeit ist ohne Zweifel ein Problem.
({4})
Derzeit hängen aber viele Arbeitsplätze an dieser Exportwirtschaft.
({5})
Sie schlagen uns jetzt jedoch wirtschaftspolitische Konzepte vor, für die wir eine abgeschottete Box brauchen.
Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen müssen.
({6})
- Darf ich bitte reden? Das ist ja furchtbar.
({7})
Es gibt mittlerweile einen breiten Konsens im MitteLinks-Lager, dass wir eine Vermögensbesteuerung brauchen. Ein Vorschlag aber, der auf eine Vermögensteuer
von 5 Prozent hinausläuft, die jährlich zu entrichten ist,
ist weder wirtschaftspolitisch sinnvoll noch in irgendeiner Form relevant.
({8})
- Klatschen Sie wenigstens dafür, dass er wirtschaftspolitisch nicht sinnvoll ist. - Sie melken eine Kuh auf einer Weide, die keinen Zaun hat. Das müssen Sie endlich
einmal verstehen!
({9})
Man könnte jetzt folgende Überlegung anstellen: Angesichts einer Finanzmarktkrise, einer Bankenkrise,
einer Staatsschuldenkrise könnte es ja sein, dass die
Menschen sagen: Ja, die Linke macht das richtige politische Angebot.
({10})
- Das könnte sein, so ist es aber nicht; da können Sie
tausendmal klatschen. Sie präsentieren ein psychologisches Programm, das nach innen gerichtet ist; es ist aber
kein Programm, von dem die Menschen meinen könnten, es würde ihnen irgendwie nützen.
({11})
Denn die Menschen wollen ernstgenommen werden. Sie
wollen Vorschläge hören, die ihnen eine echte Perspektive zu wichtigen Fragen geben. Sie wollen wissen: Wie
kommen wir aus dieser Misere heraus?
({12})
Welche Angebote und Vorschläge gibt es im politischen
Raum, die umgesetzt werden können? Wie müssen zielgerichtete Lösungen aussehen, die umsetzbar sind? - Solange eine Partei sagt: „Wir wollen ja gar nicht regieren“, ist sie doch gar nicht in der Pflicht, hier die
Machbarkeit darzustellen.
({13})
Von daher, das Ganze ist doch sowieso ein Wünsch-dirwas-Programm.
({14})
Am besten finde ich aber noch Ihre Verstaatlichungsnummer. Sie wollen Großbetriebe und große Energieversorgungsunternehmen verstaatlichen. Liebe CDU, unsere grün-rote Regierung in Baden-Württemberg hat das
Erbe angetreten, das euer Stefan Mappus - unser ehemaliger Ministerpräsident - mit der verfassungswidrigen
Teilverstaatlichung des Energieversorgungsunternehmens EnBW hinterlassen hat. Was haben wir jetzt
davon? 1 Milliarde Steuergelder wurde aufgrund von
Kursverlusten in den Sand gesetzt. Und die Linke redet
von Verstaatlichung?
({15})
Und die CDU hat noch nicht einmal eine vernünftige
Positionierung zu dieser Politik, die Mappus dort betrieben hat.
({16})
Wir brauchen keine Staatsgläubigkeit in dem Sinne,
wie die Linke uns das vorschlägt. Es waren die demokratisch gewählten Landesväter, die sich mit ihren Landesbanken kräftig verzockt haben. Was war denn mit der
WestLB? Was ist denn mit der Sachsen LB? Was ist
denn mit der Bayern LB?
({17})
Staatsbanken sind doch nicht die Lösung. Was wir brauchen,
({18})
ist Bankenregulierung. Was wir brauchen, ist die Finanztransaktionsteuer. Was wir brauchen, ist das Trennbankensystem.
({19})
Das sind die Lösungen, die wir entwickeln müssen. Die
soziale Marktwirtschaft muss nicht sozialistisch werden,
aber sie muss wieder sozial werden.
({20})
Sie muss auch grün werden, meine Damen und Herren.
Die Union darf sich derzeit nicht rühmen, Vertreter
der sozialen Marktwirtschaft zu sein; denn ihre Vertreter
vergessen das Soziale.
({21})
Sie lassen mit der jüngsten Instrumentenreform Langzeitarbeitslose im Regen stehen. Sie streichen das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger.
({22})
Sie stehen beim Mindestlohn auf der Bremse. Sie müssen in sich gehen, sich prüfen und dafür sorgen, dass die
soziale Marktwirtschaft wieder sozial wird, dass entsprechende Angebote für die Menschen in diesem Land gemacht werden.
({23})
Wir brauchen keinen Systemwechsel,
({24})
aber wir brauchen einen Politikwechsel.
Vielen Dank.
({25})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einen Satz zur SPD sagen: Herr Barthel, wenn Sie meinen, es sei besonders
klug und besonders effekthascherisch, hier nur mit
einem Redner aufzutreten, so zeigt dies nur eines: Sie
wissen nicht, wo Sie in dieser Debatte stehen.
({0})
Sie haben Angst,
({1})
zu sagen, wohin Sie wollen. Ich sage nur: Ypsilanti,
Nordrhein-Westfalen, Berlin, zumindest bis vor kurzem:
Rot-Rot.
({2})
Zeigen Sie, wo Ihr Weg ist, dann können Sie sich wirklich an dieser Debatte beteiligen.
({3})
Momentan fliehen Sie vor Angst, und nicht, weil Sie
diese Debatte für überflüssig erachten.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie
haben Ihr Lafontaine’sches Manifest nach dem Motto
„Marx ist Muss“ - man könnte auch sagen: „Marx ist
Murks“ - verabschiedet. Vorwärts in die Vergangenheit!
Liebe Kollegin von den Grünen: Dem ersten Teil
Ihrer Rede zolle ich durchaus Respekt. Dann haben Sie
leider stark nachgelassen.
({5})
Ich zitiere:
Die Partei richtet ihr Augenmerk besonders darauf,
den demokratischen Zentralismus zu stärken,
({6})
indem die zentrale staatliche Leitung und Planung
mit der schöpferischen Aktivität der Werktätigen …
wirkungsvoll verbunden wird.
({7})
Die demokratische Teilnahme der Werktätigen an
der Produktion …
({8})
- Richtig: „Aha!“. Das ist nämlich das SED-Programm
von 1976.
({9})
Das heißt übersetzt: Die Linke kämpft für die Veränderung der Eigentumsverhältnisse.
({10})
Im Programm heißt es: „Wir wollen eine radikale Erneuerung der Demokratie“, „Übernahme von Betrieben
durch Beschäftigte“, „realen Einfluss auf betriebliche
Entscheidungen“.
({11})
Herr Liebich, jetzt wissen Sie, warum Sie der Verfassungsschutz auch in Zukunft beobachten muss: In unserem Grundgesetz ist das Eigentum nämlich garantiert.
Dazu stehen wir; das wollen wir.
({12})
Ein paar Worte zur Parteienfinanzierung. Decken Sie
endlich Ihr SED-Vermögen auf!
({13})
Sie schreiben nicht nur das Programm der SED ab; auch
Ihr Geld kommt daher. Geben Sie es endlich den Bürgerinnen und Bürgern zurück.
({14})
Ihr Programm ist Jobvernichtung;
({15})
darüber haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales
mehrfach diskutiert.
({16})
Ihr Programm ist kalte Enteignung.
({17})
Ihr Programm des politischen Streiks steht der Sozialpartnerschaft entgegen. Die Sozialpartnerschaft hat unser Land stark gemacht; das wollen Sie für eine Ideologie zerstören, und zwar bewusst.
({18})
Rückwärtsgewandter Sozialismus, Debatte über den
Fraktionsvorsitz für die Urenkelin Rosa Luxemburgs:
Wissen Sie eigentlich nicht, wo Sie sind? Sie sind hier
noch nicht angekommen.
({19})
- Ludwig Erhard lesen bildet: Wohlstand für Alle.
({20})
Dieses Land hat wie kein anderes in Europa den Bürgerinnen und Bürgern Wohlstand gebracht, und das mit der
Idee von Ludwig Erhard, mit der Idee der CDU/CSU,
mit der christlichen Soziallehre,
({21})
mit einer sozialen Marktwirtschaft, mit genügend Liberalität und genügend Leitplanken. Das hat uns stark gemacht. Daran wollen wir festhalten.
({22})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich bin
mir sicher angesichts dieser Debatte: Mit Ihrem GrundUlrich Lange
satzprogramm werden Sie die Menschen nicht überzeugen.
({23})
Die Menschen sind nicht so dumm. Sie haben einen Teil
Deutschlands schon einmal vor die Mauer gefahren.
({24})
Die Menschen haben kein Interesse, diesen wirtschaftspolitischen Dilettantismus ein zweites Mal zu erleben.
Deswegen setzen wir auf die soziale Marktwirtschaft
und nicht, wie es die Süddeutsche umschreibt, auf „Sozialismus minus Stasi“. Mehr haben Sie leider nicht zu
bieten.
Danke schön.
({25})
Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für
die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs
noch Esel auf.
({0})
Aber 1989 war es vorbei. Die Menschen haben mit ihren
Füßen in Plauen und Olbernhau, in Dresden und Leipzig
abgestimmt. Heute, 22 Jahre später, denke ich, ein
Schwein pfeift:
({1})
Die Linken kommen mit einem Programm, das praktisch
diese DDR wieder hervorzaubern will.
({2})
- Das behaupten Sie.
({3})
Sie sagen: Wir wollen nicht die DDR wiederhaben. Aber
jeder kennt den Satz:
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Euch glauben wir nichts.
({4})
Der demokratische Sozialismus ist ein Widerspruch
in sich selbst.
({5})
Denn die Grundlage eures Parteiprogramms ist das
Kommunistische Manifest von 1848. Darin steht als Leitsatz
({6})
die Diktatur des Proletariats. Ich will einmal vorlesen,
was das ist - ich zitiere -:
({7})
… die Diktatur des Proletariats beinhaltete auch
reale Elemente einer Diktatur, deklariert als
„notwendige Maßnahmen“ zum Schutz vor Restitutionsversuchen des Kapitalismus.
({8})
Das ist also die Diktatur des Proletariats.
Die Linken geben in Ergänzung aber auch noch etwas
anderes von sich; ich wollte es euch ersparen, aber die
Leute müssen ja einmal erfahren, welche Ideologie dort
vorherrscht.
({9})
Zum „Marxistischen Forum“ steht da zum Beispiel:
Ziel des Marxistischen Forums ist natürlich, die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden.
({10})
Sie wollen also unser System, unsere soziale Marktwirtschaft abschaffen. Unvorstellbar!
Und die Linke sagt weiter:
Wir wollen die Bühne des Parlamentarismus für
den Kampf … nutzen,
({11})
aber uns nicht der Illusion hingeben, dass dort der
zentrale Raum für reale Veränderungen sei … Nur
die außerparlamentarische Bewegung kann reale
Veränderungen herbeiführen.
Das sagen die.
({12})
Vielleicht noch ein paar Worte zur DDR, weil ich dort
leben musste: in 108 000 km², umringt von Stacheldraht,
hier in Berlin von einer Mauer. Wenn du raus wolltest,
wurdest du erschossen oder nach Bautzen ins Zuchthaus
gesteckt. Das ist real existierender Sozialismus.
({13})
Die DDR war praktisch von vorne bis hinten eine Mangelwirtschaft. Du musstest dich für Bananen anstellen,
wenn es welche gegeben hat.
({14})
Und dann hast du nur so viele bekommen, wie du Kinder
hattest: Hattest du zwei Kinder, hast du zwei Bananen
gekriegt. Dann bist du vom Konsum zur HO gerannt, um
noch zwei Bananen zu ergattern.
({15})
Auf Autos - das wurde schon gesagt - musste man
12 bis 15 Jahre warten. Das muss man sich einmal vorstellen.
Wie sah es denn mit dem Eigentum aus? Erst habt ihr
den Bauern in den 60er-Jahren die Felder und Kühe
weggenommen und dann 1972 sämtliche Betriebe verstaatlicht.
({16})
Ihr habt den Leuten einfach das Eigentum weggenommen und einen sozialistischen Betriebsleiter eingesetzt ohne Entschädigung. Man muss sich das einmal vorstellen. So gingen die mit dem Eigentum um! Und das wollen die bei uns auch wieder so machen. Man muss den
Leuten sagen, was die hier wollen!
({17})
Ich möchte den Leuten, Ihnen bzw. euch zusammengefasst noch einmal klarmachen: Das ist rückwärts gewandte Politik! Ich hätte es nicht für möglich gehalten,
dass man heute - 2011 - so etwas noch einmal anzettelt.
({18})
Aber dabei nutzen sie unsere Demokratie natürlich aus.
Umgekehrt wäre es ja gar nicht möglich gewesen; denn
in der Volkskammer der DDR hätte doch jeder Angst
gehabt, einen solchen Antrag zu stellen. Dann wäre er
sofort weg gewesen.
({19})
Aber ihr habt eben diese parlamentarische Plattform und
könnt euch hier etablieren und den Leuten Sand in die
Augen streuen.
({20})
Dieses düstere Bild, das in eurem Programm gezeichnet
wird, das bedrückt uns hier.
Vielleicht noch einmal zum Geld. In der DDR gab es
ja auch eine Währung, die Ostmark. Das war Blechgeld,
nicht konvertierbar, und deshalb gab es auch noch Tausch
und Handel. Man hat also Räuchermännchen und Nussknacker gegen Trabantreifen getauscht und Trabantreifen
gegen grüne Gurken. Das war ein Tauschhandel.
({21})
Zum Schluss zur Wertigkeit des Geldes, um das düstere Bild etwas abzumildern: Ein Freund von mir war in
Ungarn und hat dort mit Ostmark bezahlen wollen, weil
die Forint nicht gelangt haben. Da sagte der Ungar: Du
kannst legen Geld auf Fensterbrett, nimmt nicht mal der
Wind!
({22})
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
({23})
Wenn ich mich recht entsinne, sind wir in einer Debatte. Insofern bitte ich darum, das Singen an eine andere Stelle zu verlagern.
({0})
Kollege Dr. Georg Nüßlein hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ich
bin dem Kollegen Haustein ausgesprochen dankbar dafür, dass er so authentisch beschrieben hat, was Sozialismus heißt.
({0})
Das kann natürlich jemand, der das Glück hatte, im Westen auf die Welt zu kommen, nicht so authentisch tun.
Ich war immer der Meinung, dass die Entscheidung ein
für alle Mal getroffen ist: Die Menschen aus Ostdeutschland haben sich gegen die Mauer,
({1})
gegen den Schießbefehl, gegen Stacheldraht, gegen das
Sozialismusmodell, das Sie nach wie vor propagieren,
und für die soziale Marktwirtschaft entschieden.
({2}))
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie es wenigstens übers
Herz bringen, sich gegenüber dem abzugrenzen, was in
der DDR seinerzeit geschehen ist.
({3})
Kollege Liebich hat sich in der Tat verbal bemüht. Sie
hätten Ihren Kolleginnen und Kollegen allerdings sagen
müssen, sie sollen nicht an der falschen Stelle klatschen
und schreien.
({4})
Sie haben an der falschen Stelle geklatscht. Sie haben es
nicht geschafft, sich von der DDR zu distanzieren, weder
hier in irgendeiner Art und Weise noch in Ihrem unsäglichen Parteiprogramm.
({5})
Das belastet mich aber gar nicht so sehr, weil ich von Ihnen nicht mehr erwartet habe.
({6})
Von der SPD hätte ich zumindest erwartet, dass sie
sich von der Linken abgrenzt.
({7})
Stattdessen reklamiert Kollege Barthel für sich und die
SPD den demokratischen Sozialismus. Was für ein unsäglicher Widerspruch!
({8})
Es ist unglaublich, was da passiert. Ich kann mir nur vorstellen, dass sich das im Rahmen des Streits um den
Kanzlerkandidaten abspielt und Sie nicht wissen, wo Sie
hinlaufen wollen. Ich bitte Sie inständig: Laufen Sie
nicht weiter nach links. Das wäre eine Katastrophe für
unser Land.
({9})
Ich will nicht einzelne Teile Ihres Programms aufgreifen, weil ich gesehen habe, wie schnell einem da ein unparlamentarischer Begriff herausrutscht, und ich kann
für mich nicht ausschließen, dass mir das passieren
würde.
({10})
Die Rattenfängermanier, die Sie mit Ihren Heilsversprechen an den Tag legen, ist schon bemerkenswert.
({11})
Ich hoffe, dass Sie sich am Ende des Tages nicht in den
Dingen, die Sie besprechen, verfangen.
Lassen Sie mich etwas zu dem bereits angemerkten
Widerspruch von Demokratie und Sozialismus sagen.
({12})
Demokratie heißt: Volkswirtschaft, freie Wahlen, Mehrheitsprinzip,
({13})
Gewaltenteilung, Schutz der Grundrechte, übrigens auch
des Rechts auf Eigentum. Sozialismus ist schon schwieriger zu definieren. Der Soziologe Werner Sombart hat
bereits im Jahr 1920 260 Definitionen dazu gefunden.
Ich nehme an, dass noch ein paar weitere dazugekommen sind. Deswegen muss ich mir jetzt erschließen, wie
Sie es vermutlich definieren.
({14})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit festhalten: Sie sind
ganz unstrittig die Rechtsnachfolger der SED.
({15})
Das haben Sie nie infrage gestellt. Das ist ganz klar.
Wenn Sie es anders hätten machen wollen, hätten Sie separat eine Partei gründen können. Stattdessen haben Sie
es vorgezogen, lediglich die Namen zur Tarnung immer
wieder ein bisschen anzupassen. Das hängt natürlich damit zusammen, was der Kollege Lange angesprochen
hat, nämlich dass Sie nicht des Vermögens der SED verlustig gehen wollten.
({16})
Damit hängt es zusammen, dass Sie sich aus juristischen
Gründen nicht davon distanzieren können. Vermutlich
tun Sie es auch inhaltlich nicht.
Die Sozialismusdefinition der SED war unstrittig eine
marxistisch-leninistische,
({17})
und zwar in dem Sinne, dass der Sozialismus eine Entwicklungsphase im Übergang vom Kapitalismus zum
Kommunismus ist. Kommunismus heißt - das ist heute
bereits leise angeklungen -: Diktatur des Proletariats.
({18})
Erklären Sie mir einmal, wie Sie Diktatur und Demokratie zusammenbringen wollen.
({19})
Ich könnte noch eine Definition von Diktatur anführen: keine freien Wahlen, höchstens manipuliert, Herrschaft einer Gruppe, die unumschränkt herrscht, keine
Pressefreiheit, keine Menschen- und Bürgerrechte und
Unfreiheit in allen Bereichen. Vielleicht erinnert Sie das
wenigstens an etwas, nämlich an die DDR.
({20})
Deshalb bitte ich um ein bisschen mehr Kleinmut.
Führen Sie sich an dieser Stelle nicht so auf! Demokratischer Sozialismus? Das sind geröstete Schneebälle!
Vielen herzlichen Dank.
({21})
Als Nächste spricht in unserer Aktuellen Stunde für
die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Nadine
Schön. Bitte schön, Frau Kollegin Nadine Schön.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kennen Sie das Privathaus von Oskar
Lafontaine? Im Saarland wird die von Mauern umgebene Villa im Volksmund „Palast der sozialen Gerechtigkeit“ genannt.
({0})
Kennen Sie das Auto von Klaus Ernst? Es muss bei Anhängern der Linken doch Eindruck machen, wenn der
Vorsitzende mit dem Porsche vorfährt.
({1})
Kennen Sie das Lieblingsessen von Sahra Wagenknecht?
Richtig, es ist Hummer. Das ist etwas ganz Edles, man
muss ihn sich aber leisten können.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
sieht so die Gleichheit aus, die Ihrer Meinung nach zu
Freiheit führt?
Am letzten Wochenende haben Sie mal wieder die
Systemfrage gestellt. Freiheit durch Gleichheit; Sozialismus statt Kapitalismus - das sind die Kernforderungen
im neuen Grundsatzprogramm. Sie unterliegen dabei
aber einigen Denkfehlern: Erstens leben wir nicht im
Kapitalismus.
({3})
Unsere Wirtschaftsordnung in Deutschland ist die soziale Marktwirtschaft und eben nicht der Kapitalismus.
Soziale Marktwirtschaft bedeutet, dass wirtschaftliche
Vernunft und sozialer Zusammenhalt der Gesellschaft
zusammengehören. In der sozialen Marktwirtschaft
heißt es gerade nicht: „Wenn jeder an sich selbst denkt,
dann ist an alle gedacht“; im Gegenteil: Vom gemeinsamen Wohlstand sollen auch diejenigen profitieren, die
schwach, krank oder bedürftig sind.
({4})
Das bedeutet „sozial“ in der sozialen Marktwirtschaft.
({5})
Der Wohlstand, der verteilt werden soll, muss aber
auch erwirtschaftet werden. Sie wollen ihn verteilen,
ohne ihn zu erwirtschaften.
({6})
Dass das nicht funktioniert, das muss Ihnen, liebe Kollegen, doch spätestens angesichts der zahlreichen Fälle
von Staatsverschuldung in den vergangenen Monaten
deutlich geworden sein.
({7})
Ein fürsorgender, starker Staat, wie ihn beispielsweise
Griechenland hatte, kann auf Dauer nur bestehen, wenn
er von einem starken wirtschaftlichen Fundament getragen wird. 30-Stunden-Woche, Verstaatlichung der Betriebe und Rente mit 60: Das alles erinnert an Griechenland.
({8})
Das führt zu Staatsverschuldung und führt uns in die
nächste Krise, bringt aber ganz sicher keinen Wohlstand.
({9})
Ihr zweiter Trugschluss: Die Probleme, die wir derzeit haben, sind nicht im System begründet.
({10})
Die soziale Marktwirtschaft ist nicht das Problem. Sie ist
die Lösung des Problems.
({11})
Die soziale Marktwirtschaft sieht Regulierungen vor.
Die soziale Marktwirtschaft verlangt einen Ordnungsrahmen, der das Gleichgewicht herstellt zwischen ökonomischer Effizienz und Wettbewerb auf der einen Seite
und sozialer Gerechtigkeit auf der anderen Seite. Auswüchse wie die, die wir derzeit auf den internationalen
Kapitalmärkten beobachten, widersprechen diesem System. Das ist Turbokapitalismus ohne Ordnungsrahmen.
Das widerspricht der sozialen Marktwirtschaft. Es pervertiert sie sogar.
({12})
- Ich würde Ihnen empfehlen, einmal zuzuhören und
sich mit der sozialen Marktwirtschaft zu beschäftigen,
statt ständig dazwischenzuschreien.
({13})
Nadine Schön ({14})
Deshalb ist es richtig, dass wir auf europäischer
Ebene und weltweit unsere Vorstellung von einer sozialen Marktwirtschaft wieder stärker durchsetzen. Es ist
richtig, dass wir wieder stärker regulieren und diese
Auswüchse eindämmen. Was wir brauchen, ist ein Ordnungssystem, das sicherstellt, dass am Ende nicht Reichtum für wenige, sondern Wohlstand für alle steht.
({15})
- Herr Präsident, es fällt mir unheimlich schwer, hier zu
reden, wenn ständig dazwischengeschrien wird.
({16})
Ich habe dem Redner der Linken eben zugehört. Es ist
ein Gebot der Höflichkeit, dass man anderen zuhört.
Dieses Gebot existiert in der Ideologie der Linken wahrscheinlich nicht.
({17})
In Ihrer Ideologie existieren auch Toleranz und Respekt nicht. Man hört anderen auch einmal zu und respektiert andere Meinungen.
({18})
Dass Sie das nicht tun, konnte man daran feststellen, wie
nach Ihrem Parteitag mit den Kollegen umgegangen
wurde, die gegen das Programm gestimmt oder sich enthalten haben. Ich empfehle einen Blick in den Blog unserer Kollegin Halina Wawzyniak.
({19})
Die Kollegin hatte am Wochenende die Traute, sich bei
der Abstimmung über das Programm zu enthalten, weil
sie der Meinung ist, dass es „Freiheit durch Gleichheit“
nicht gibt, dass es „Freiheit und Gleichheit“ heißen
müsste. Schauen Sie sich einmal an, welche Kommentare in diesem Blog geschrieben werden, wie im Internet
über diese Kollegin hergezogen wird. Es fallen Worte
wie „Rücktritt“.
({20})
- Was muss verboten werden? Das Internet?
({21})
- Das ist einmal eine gute Idee. - In diesem Blog wird
von denunziatorischem Verhalten gesprochen, dort wird
mit einer Abstrafung beim nächsten Parteitag gedroht.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Dort werden Rücktrittsforderungen nur wegen einer
Enthaltung laut. Die einzige Antwort, die Sie haben, ist,
dass das Internet verboten werden sollte. Herzlichen
Glückwunsch.
({0})
Sie müssen zum Schluss kommen, Frau Kollegin.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Entlarvend
ist auch, wie man in der Partei mit Mitgliedern umgeht,
die eine andere Meinung haben.
({0})
Im vergangenen Jahr hat beispielsweise die saarländische Linke einen Maulkorbparagrafen verabschiedet. Es
wird verboten, sich in der Öffentlichkeit negativ über die
Partei zu äußern.
({1})
Hier sieht man im Kleinen, zu was es führt, wenn alle
die gleiche Meinung haben müssen.
Sie haben mir eben etwas versprochen.
Ich weiß nicht, wie sich diejenigen fühlen, die in Ihrer
Partei nicht ihre eigene Meinung äußern dürfen.
Meine Conclusio ist: Freiheit durch Gleichheit, das ist
nicht möglich. Der beste Beweis dafür sind Sie selbst.
({0})
Frau Kollegin Nadine Schön war die letzte Rednerin
in unserer Aktuellen Stunde, die hiermit beendet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 8 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen ({0})
- Drucksache 17/6256 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 17/7522 Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Marlene Rupprecht ({2})
Vizepräsident Eduard Oswald
Diana Golze
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7523 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Mattfeldt
Rolf Schwanitz
Florian Toncar
Steffen Bockhahn
Sven-Christian Kindler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({5}), Petra Crone, Iris Gleicke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention
im Kinderschutz optimieren - Förderung und
Frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken
- Drucksachen 17/498, 17/7522 Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Marlene Rupprecht ({6})
Diana Golze
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Debatte ist für die Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. Bitte schön, Frau Bundesministerin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
meisten Kinder in Deutschland wachsen in Liebe und
Geborgenheit auf. Ihre Eltern würden für sie ihr letztes
Hemd geben. Es gibt aber auch Kinder, die auf der
Schattenseite des Lebens stehen, Kinder, die seelisch
oder körperlich verwahrlosen, Kinder, die gequält oder
misshandelt werden. Lea-Sophie ist unter den Augen ihrer Familie verhungert. Kevin, gerade einmal zwei Jahre
alt, wurde von seinem drogensüchtigen Stiefvater zu
Tode geprügelt. Das sind Fälle, die uns fassungslos machen. Wir alle waren uns einig, dass wir alles dafür tun
müssen, dass es künftig gar nicht erst so weit kommt.
Das Bundeskinderschutzgesetz, das wir heute verabschieden werden, hätte Lea-Sophie und Kevin vielleicht
helfen können. Wir stehen gemeinsam in der Verantwortung, dass es anderen Kindern hilft, und zwar schnellstmöglich.
({0})
Deshalb hoffe ich heute auf eine breite Mehrheit im
Deutschen Bundestag für diesen Gesetzentwurf.
Die Fälle von Vernachlässigungen und Misshandlungen haben uns Lücken und Schwachstellen gezeigt, an
denen wir ansetzen müssen, um unsere Kinder besser zu
schützen. Da ist vieles in Bewegung gekommen. Eines
aber fehlte lange Zeit: die Bereitschaft zur Kooperation.
Auch daran ist das Bundeskinderschutzgesetz in der letzten Legislaturperiode gescheitert.
Ich habe daraus meine Lehren gezogen. Mir war es
wichtig, Bund, Länder, Kommunen, die Fachwelt, Vertreter aus der Praxis und die Wissenschaft frühzeitig einzubinden. Die runden Tische „Heimkinder“ und „Sexueller Missbrauch“ haben einen wichtigen Beitrag zu
diesem Gesetz geleistet. Die gemeinsame Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Kinderschutzgesetzes war
getragen vom Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung und vom Willen zum gemeinsamen Erfolg. Dafür
danke ich allen Beteiligten ganz herzlich.
({1})
Das Qualitätssiegel hat das Bundeskinderschutzgesetz in der Sachverständigenanhörung hier im Bundestag, an der ich als Zuhörerin teilgenommen habe, bekommen. Ich habe selten eine Anhörung erlebt, in der
ein Gesetz von sämtlichen Sachverständigen so viel Zustimmung bekommen hat. Alle waren sich einig, dass
dieses Kinderschutzgesetz ein Meilenstein für einen besseren Kinderschutz in Deutschland ist: durch bessere
Netzwerke und bessere Rechtsinstrumente für unsere
Kinder, durch frühere Hilfen für die Familien, durch größere Rechtssicherheit für ihre Helfer, durch bessere Unterstützung für ihre Beschützer und durch konstruktive
Kooperation aller Akteure.
Auch der Bundesrat hat sich in seiner Stellungnahme
weitgehend positiv zum Regierungsentwurf geäußert.
Hier ist eine parteiübergreifende Koalition für den Kinderschutz entstanden. Dafür danke ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie die langwierige Arbeit
am Bundeskinderschutzgesetz vom Anfang bis zum
Schluss konstruktiv begleitet haben. Ich habe die positiven Wortmeldungen gestern im Ausschuss als Angebot
für eine weitere Zusammenarbeit beim Kinderschutz
verstanden. Schließlich werden wir die Evaluation bald
auf der Tagesordnung haben.
Umso beschämender finde ich aber, dass es auf Länderebene Versuche gibt, sich auf Kosten des Kinderschutzes in den Medien zu profilieren. Wir haben uns anderthalb Jahre Zeit genommen, um das Bestmögliche für
den Kinderschutz herauszuholen. Das ist uns gelungen.
Wer das Gesetz jetzt, nachdem wir anderthalb Jahre daran gearbeitet und breite Zustimmung aus der Fachwelt
bekommen haben, blockiert, der macht sich mitschuldig.
Er macht sich mitschuldig daran, dass längst bekannte
Fehler bei der Früherkennung von Vernachlässigungen
von Kindern nicht behoben werden. Er macht sich mitschuldig daran, dass neue Maßnahmen zur Vermeidung
von Leid unnötig aufgeschoben werden.
({2})
Deshalb hätte ich auch keinerlei Verständnis dafür,
dass sich das Inkrafttreten dieses Gesetzes auch nur einen Tag verzögert, nur weil einige Leute da draußen unbedingt eine mediale Bühne brauchen.
Wir sind den Ländern in den Verhandlungen weit entgegengekommen. Bei strittigen Punkten haben wir
Kompromissvorschläge gemacht. Das gilt vor allen Dingen auch für die Bundesinitiative Familienhebammen.
Wir sind uns alle einig, dass der Kinderschutz in den Familien beginnt. Die in unserem Gesetz geregelten frühen
Hilfen und verlässlichen Netzwerke beugen schon in der
Familie vor und sorgen dafür, dass Kinder gar nicht erst
in Notlagen und Gefahrensituation geraten.
Dabei spielen Familienhebammen mit ihrer sozialpsychologischen Zusatzqualifikation eine besonders
wichtige Rolle. Sie kennen die Familien. Sie haben das
Vertrauen der Eltern. Sie stoßen auf eine riesige Akzeptanz in den Familien. Mit ihrer spezifischen Zusatzqualifikation können sie dieses Vertrauensverhältnis auch für
die Beratung von Familien in schwierigen Situationen
nutzen. Wir wollen deshalb, dass sie Familien mit einem
besonderen Bedarf bis zu einem Jahr nach der Geburt eines Kindes begleiten.
In einigen Ländern, etwa in Niedersachsen, gibt es
dazu schon vorbildliche Initiativen. Niedersachsen hat in
über 30 Städten ein eigenes Programm für Familienhebammen aufgelegt. Dieses Beispiel zeigt also: Es geht.
Deshalb stellen wir im Rahmen unserer Bundesinitiative Familienhebammen auch insgesamt 120 Millionen
Euro für einen Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung.
Wir sagen, dass wir auch über die Verstetigung der Unterstützung durch den Bund sprechen. Alle in diesem
Raum wissen, dass die Bundesregierung mit dieser Formulierung an die Grenze der Möglichkeiten gegangen
ist.
({3})
Deshalb ist das wirklich ein fairer Kompromissvorschlag, der hier auf dem Tisch liegt.
Glauben Sie mir: Es war für uns angesichts der angespannten Haushaltslage nicht einfach, diese 120 Millionen Euro aufzutreiben. Aber wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen Beitrag des Bundes zu leisten.
Das erwarte ich auch von den Ländern. Wer Kinderschutz zum Nulltarif fordert, der stiehlt sich aus der Verantwortung, auf Kosten von Kindern und von Jugendlichen.
({4})
Die meisten Länder sind sich ihrer Verantwortung
glücklicherweise bewusst und unterstützen daher unseren Kompromiss. Das gilt auch für den zweiten Punkt,
über den wir bis zum Schluss verhandelt haben, nämlich
für die Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe. Das Gesetz trägt dazu bei, dass die bestehende,
sehr unterschiedliche Praxis in den einzelnen Jugendämtern besser zusammenwachsen kann. Es darf für den
Kinderschutz keinen Unterschied machen, ob ein Kind
im Allgäu oder an der Nordsee aufwächst. Deshalb führt
an gemeinsamen fachlichen Standards kein Weg vorbei.
Das hat auch Christine Bergmann, der ich an dieser
Stelle für ihre großartige Arbeit als unabhängige Beauftragte der Bundesregierung danken möchte, immer wieder angemahnt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirksamer Kinderschutz erfordert die Zusammenarbeit vieler Menschen
und Institutionen in unserer Gesellschaft. Wir brauchen
die Eltern. Wir brauchen die Lehrer und Fachkräfte. Wir
brauchen die Kinderärzte. Wir brauchen die Mitarbeiter
in den Behörden, in den Jugendämtern, im Gesundheitswesen, bei der Polizei und bei der Justiz. Das Bundeskinderschutzgesetz gleicht insofern einem schützenden
Gewölbe, bei dem ein Stein den anderen stützt. Dass uns
dies gemeinsam gelungen ist, ist eine Leistung, auf die
wir stolz sein können.
({6})
Klar ist aber auch: Wenn dieses Gewölbe Kindern in
Notsituationen zuverlässig Schutz bieten soll, dann brauchen wir jeden einzelnen Stein. Es kann daher nur schaden, wenn dieses Gesetz im Vermittlungsausschuss zerpflückt wird. Deshalb bitte ich Sie hier und heute noch
einmal um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. - Als Nächste
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin
Rupprecht.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die UN-Kinderrechtskonvention
({0})
- wer mich kennt, weiß, dass ich sie immer bei mir habe;
es ist nämlich gut, alles, was man nicht im Kopf hat, wenigstens schwarz auf weiß bei sich zu haben - schreibt
vor, dass Kinder das Recht auf Schutz, Förderung und
Beteiligung haben und dass wir kindgerechte Lebensverhältnisse schaffen müssen. In Art. 6 des Grundgesetzes
steht, dass der Staat das Wächteramt über das, was mit
den Kindern geschieht, hat. Dieses Wächteramt nehmen
wir wahr, nicht erst seit heute oder gestern, sondern
schon sehr lange.
Marlene Rupprecht ({1})
Der Staat hat die Verpflichtung, Schutz zu gewähren
- heute geht es um Schutz -, und er muss hierfür alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Das hat er auch in
der Geschichte der Bundesrepublik in all den Jahren zuvor getan. Er hat immer wieder klare Regelungen getroffen, wenn er glaubte, nachbessern zu müssen.
Im Herbst 2006 gab es den tragischen Fall Kevin. Die
Situation war emotional sehr angeheizt. Man fragte sich:
Was können wir tun? Für die Fachleute gab es bereits
eine Antwort auf diese Frage, für alle anderen nicht. Sie
lautete: Wir müssen Gesetze machen und die Gesetzeslage verändern.
Im Jahr 2007 hat die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten einen Kinderschutzgipfel veranstaltet. Das Gedächtnis ist leider bei allen immer sehr kurz; hier nehme
ich keinen aus. Sie haben sich fest darauf eingeschworen, dass sie alles tun werden, damit die Kinder in
Deutschland beschützt aufwachsen. 2006 kam es, wie
gesagt, zu dieser Zäsur, und 2007 haben die gesetzgeberischen Initiativen begonnen.
Auf Länderebene ist sehr viel passiert. Es wurden
sehr viele Programme aufgelegt, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz und Bayern das Modellprojekt „Guter Start
ins Kinderleben“. Alle haben sich bemüht, etwas auf den
Weg zu bringen, damit Kinder nicht mehr gefährdet sind.
Auf Bundesebene haben wir den Versuch gemacht, einen ersten Entwurf eines Kinderschutzgesetzes vorzulegen. Aber nicht nur das. Wir haben in diesem Rahmen
auch frühe Hilfen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit
gestellt und gesagt: Wir müssen ganz früh anfangen,
möglichst schon vor der Geburt. Deshalb haben wir das
Nationale Zentrum Frühe Hilfen eingerichtet. Das vergisst man immer. Dort wird recherchiert, evaluiert und
vernetzt.
Der erste Entwurf ist gescheitert. Das lag aber nicht
an den Berichterstatterinnen. Ich danke Michaela Noll
hier noch einmal ganz herzlich. Wir haben alles versucht. Es ging schief, weil der erste Entwurf sehr stark
von Intervention und Repression geprägt war. Für keine
Familie, die in Not ist, sind Repressionen hilfreich.
Diese Familien brauchen Unterstützung und Hilfe. Deshalb musste der präventive Gedanke viel mehr in den
Vordergrund gestellt werden.
({2})
Es war dann auch gut, dass der erste Entwurf gescheitert
ist, auch wenn wir viel Kraft dafür aufgewendet haben.
Zum Schluss haben wir noch versucht, etliche Punkte
- ich konnte auch viele Vorschläge dazu einbringen - zu
ändern. Diese wurden in den neuen Entwurf eingearbeitet. Wesentlich ist die Vernetzung, die schon seit 21 Jahren im Kinder- und Jugendhilfegesetz steht. Es stellt sich
immer wieder die gleiche Frage: Wer kann lesen und wer
nicht? Dort steht nämlich, dass all diejenigen sich vernetzen sollen, die mit Kindern arbeiten. Im vorliegenden
Gesetzentwurf ist dieser Punkt ebenfalls enthalten. Ich
hoffe, es kommt jetzt bei jedem an.
Es steht noch etwas drin - darauf habe ich Wert gelegt -, nämlich die Weiterentwicklung der Qualität. Frau
Ministerin, Sie haben das vorhin schon einmal gesagt: In
den Jugendämtern und in den Maßnahmen der Jugendämter findet sich eine breit gestreute Qualität. Ich
glaube, hier müssen wir fachlich hinschauen.
Der Entwurf enthält eine Befugnisnorm für Ärzte und
einen Anspruch der Kinder auf Beratung. Im Änderungsantrag ist nun auch die Evaluation enthalten. Das
finde ich wichtig; denn eigentlich muss jedes Gesetz
ausgewertet werden, um zu sehen, ob das, was man erreichen will, auch erreicht wird.
Jetzt kommt mein Aber. Die Familienhebammen sind
das Herzstück in dem Entwurf. Ich hätte mir daher sehr
gewünscht, dass wir wenigstens den Sprung schaffen,
dass die Hebammen ihre 26 Besuche nicht in nur acht
Wochen nach der Geburt, wie es jetzt im Gesetz steht,
sondern innerhalb eines halben Jahres absolvieren können.
({3})
Dadurch wären keine Mehrkosten verursacht worden,
sondern es hätten sich in den schwierigen Phasen nach
der Geburt einfach nur weitere Möglichkeiten eröffnet.
Wenn Ernährungsstörungen auftreten oder die Eltern bei
Schreibabys manchmal verzweifeln, weil sie nicht mehr
weiterwissen: Dann brauchen sie fachliche und medizinische Unterstützung durch die Hebammen.
Daher hätte ich es sehr begrüßt, wenn das Gesundheitsressort diesen Gedanken aufgenommen und gesagt
hätte: 26 Besuche verteilt auf 26 Wochen, also in einem
halben Jahr. - Damit wären wir schon einen Riesenschritt weiter gewesen, und die Frage, wer zahlt und wer
nicht, wäre eindeutig beantwortet worden. Das ist nun
leider nicht der Fall. Die Kommunen sagen nämlich: Das
können wir nicht wuppen. - Da gebe ich ihnen recht.
Das ist einer der Gründe dafür, dass wir uns heute enthalten, was mir sicher nicht sehr leicht fällt.
({4})
Ich sage aber: Schauen wir, dass wir das im nächsten
Jahr auf die Beine stellen können. Ich bitte das Gesundheitsressort, sich ganz aktiv zu beteiligen und nicht in
eine Trotzhaltung nach dem Motto „Ich verweigere die
Atmung“ zu verfallen, sondern zu überlegen, wie wir
dieses Problem lösen können. Das halte ich für dringend
notwendig.
Wir wollen wirklich, dass das nicht nur ein Modellprojekt bleibt. Wir können das aber nicht anders finanzieren. Wir alle wissen, welche Schwierigkeiten wir mit
Modellen haben. Etwas läuft gut an, Kompetenzen werden angesammelt, und plötzlich bricht das alles weg,
weil wir kein Geld mehr haben. Das muss hier verhindert werden.
Meiner Ansicht nach haben sich alle in diesem Haus
um gute Regelungen bemüht. Dafür danke ich allen. Es
war ein konstruktiver Dialog aller, die hieran mitgearbeitet haben.
Marlene Rupprecht ({5})
Viele Regelungen betreffen nicht nur die Finanzierung all der Leistungen in der Jugendhilfe. Sie wissen,
dass es im Moment ein Rumoren gibt - es gab schon
mehrmals Anträge dazu -, die Mittel für die Maßnahmen
zur Jugendhilfe zu streichen und einzudampfen. Das
können wir uns nicht leisten. Aus diesem Grund muss
die Finanzierung geklärt werden.
Es liegen drei Entschließungsanträge und ein Antrag
der SPD-Fraktion sowie ein Gesetzentwurf der Koalition
vor. Wir werden uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten. Auch bei
den Abstimmungen über die Entschließungsanträge der
anderen Fraktionen werden wir uns enthalten und unseren Anträgen zustimmen. Das macht man üblicherweise
so, wenn man einen eigenen Antrag eingebracht hat.
Ich hoffe trotzdem, dass das, was wir heute beschließen, nicht in den Schubladen der Ämter endet, sondern
dass alle, die daran beteiligt sind, sagen: Ja, wir haben
etwas erreicht, auch ohne viel Geschrei und Aufmerksamkeit der Medien, so wie das zum Beispiel heute anlässlich des gestrigen EU-Gipfels der Fall ist. Natürlich
ist der Euro wichtig.
({6})
Aber da gehen andere Themen unter.
Wir müssen kontinuierlich dabeibleiben und sagen:
Wir wollen in Deutschland dafür sorgen, dass es Kindern
gut geht und Eltern die Möglichkeit haben, ihre Kinder
gut aufzuziehen, sodass alle richtig stolz und froh sind.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Rupprecht. - Jetzt für die
Fraktion der FDP unsere Kollegin Miriam Gruß. Bitte
schön, Frau Kollegin Gruß.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann mich noch gut an den Frühsommer 2009
erinnern, als die damalige Bundesfamilienministerin
Ursula von der Leyen gesagt hat: Wir brauchen ein
neues Gesetz in Deutschland, und zwar ein Bundeskinderschutzgesetz. Wir waren damals in der Opposition.
Als Oppositionspolitikerin sucht man immer Punkte, die
man kritisieren kann. Aber einen Punkt konnte ich wirklich nicht kritisieren, nämlich den Namen des Gesetzes.
Ich finde es richtig und gut und wichtig, dass wir ein
deutsches Bundeskinderschutzgesetz haben. Wenn ein
Gesetz einen richtig guten Namen trägt, dann ist es dieses Gesetz. Auch das, was wir hier hinbekommen haben,
ist allen Lobes wert.
({0})
Ich habe damals als Oppositionspolitikerin kritisiert,
dass die Regelungen zur Intervention - Marlene
Rupprecht hat es schon angesprochen - einen zu großen
Raum eingenommen haben. Intervention ist zwar wichtig, aber man muss doch dafür Sorge tragen, dass es gar
nicht erst so weit kommt, dass wir einschreiten müssen.
Deswegen war mir damals ganz wichtig - wir hatten
eine Anhörung dazu beantragt -, dass die Prävention einen breiten Raum einnimmt. Auch das hat jetzt Eingang
in dieses Gesetz gefunden. Ich begrüße ganz besonders,
dass Prävention und Intervention als wichtige Meilensteine in diesem Bundeskinderschutzgesetz verankert
worden sind.
Zur Prävention gehören Familienhebammen. Ich gebe
dir recht, Marlene: Man hätte sich alles Mögliche überlegen können. Aber bei den Familienhebammen spielt die
besondere Ausbildung, die Zusatzqualifikation und die
Pädagogik, eine große Rolle. Deswegen begrüße ich es,
dass wir die Regelungen zu den Familienhebammen ins
Bundeskinderschutzgesetz aufgenommen haben und dieses Projekt für vier Jahre fördern.
Ja, wir können nicht mehr als ein Modellprojekt machen. Die Ministerin hat es schon erwähnt - wir schreiben es in dieses Gesetz sogar hinein -, dass wir uns in
vier Jahren explizit anschauen, inwieweit wir von Bundesseite das Modellprojekt weiter fördern können. Wir
haben auch bei dem Programm der Mehrgenerationenhäuser erlebt, dass es dafür jetzt ein Folgeprogramm
gibt. Ich wünsche mir sehr, dass eine Verstetigung im
Zusammenhang mit dem Projekt der Familienhebammen
möglich wird. Ich bin da sehr zuversichtlich.
({1})
Außerdem wurden - auch das ist schon angesprochen
worden - Qualitätsstandards im Gesetz festgelegt. Auch
das halte ich für wichtig. Kinder- und Jugendhilfe ist
zwar eine kommunale Aufgabe, aber es darf keinen Unterschied machen, wo ein Kind in Deutschland lebt, ob
in Flensburg oder in Garmisch-Partenkirchen; überall
müssen die gleichen Standards gelten. Wir haben sie im
Gesetz verankert. Auch das ist wichtig und richtig und
gut so.
Allerdings gibt es noch eine Sache, die ich zwar nicht
kritisiert, aber doch hinterfragt habe. Wir müssen schon
sehen, inwieweit dieses Gesetz angewandt wird und angewandt werden kann; denn wir kennen die Situation der
Jugendämter. Sie sind personell und finanziell oftmals
am Limit und oftmals auch überfordert.
({2})
Wir dürfen kein Gesetz schaffen - Marlene Rupprecht
hat es angesprochen -, das in der Schublade landet, sondern unser Kinderschutzgesetz soll angewandt werden.
Deswegen ist auch die Evaluation wichtig. Deswegen
haben wir in den Änderungsantrag aufgenommen, dass
wir evaluieren und uns anschauen, inwiefern das Gesetz
vor Ort angewandt wird. Das finde ich wichtig und richtig. Bei einem solchen Gesetz - es ist das erste Gesetz
dieser Art - müssen wir natürlich fragen, was funktioniert, was verbessert werden muss und wo wir Änderungen vornehmen müssen.
Insgesamt ist mein Fazit: Ein Kinderschutzgesetz mit
Regelungen zur Prävention, Intervention, Evaluation, zu
Qualitätsstandards und zum Netzwerk Frühe Hilfen verdient allerhöchstes Lob. Es ist lange daran gearbeitet
worden. Alle Verbände und Beteiligten im Kinderschutz
haben ihre Zustimmung signalisiert. Deswegen ist es ein
Meilenstein für einen besseren Kinderschutz in Deutschland.
Ich hoffe, dass dieses Gesetz nicht im Bundesrat
scheitert. Ich appelliere an die Opposition, das Bundeskinderschutzgesetz nicht an einer einzigen Stellschraube
scheitern zu lassen, die wir im Grundsatz alle begrüßen,
nämlich die Ausweitung der Hebammenleistungen auf
den Einsatz von Familienhebammen. Lassen Sie diesen
Gesetzentwurf, an dem wir so lange gearbeitet haben
und zu dem es so viele Treffen gegeben hat, nicht scheitern. Es wäre schade für die Kinder und Familien in
Deutschland.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gruß. - Jetzt für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Diana Golze.
Bitte schön, Frau Kollegin Golze.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Fraktion Die Linke unterstützt den Gesetzentwurf im Grundsatz. Wir begrüßen es, dass es ein
Bundeskinderschutzgesetz geben wird, und freuen uns
über die Beschlussfassung heute, weil wir finden, dass
dies eine gute Grundlage ist, um auf dieser Basis den
Kinderschutz in Deutschland weiterzuentwickeln.
({0})
Im Gegensatz zum ersten Entwurf - das ist schon gesagt worden - hat bei diesem Entwurf des Gesetzes die
Fachwelt stärker Einfluss nehmen können. Die Vereine
und Verbände sind viel früher mit einbezogen worden.
Auch die Träger der Jugendhilfe vor Ort haben ihre
Möglichkeiten genutzt, um sich in diesen Prozess einzubringen. Das zeigt auch die Anhörung zu diesem Thema,
die von einer großen Sachlichkeit, einem guten Austausch der Argumente und - das muss ich an dieser
Stelle sagen - von kritischen Fragen auch seitens der Regierungsfraktionen geprägt war. Einem Gesetzentwurf
kann es nur guttun, wenn man den Experten auch richtig
zuhört.
In der Anhörung wurden aber auch Lücken und
Schwachpunkte im Gesetzentwurf deutlich, bei denen
man später ansetzen muss. Sie hätten vielleicht auch
schon im Vorfeld geklärt werden können.
Es ist bereits angesprochen worden: Der gesamte Bereich des SGB V ist komplett außen vor geblieben. Wir
alle hätten uns gewünscht, dass es für die Familienhebammen eine Lösung im Bereich des SGB V gibt, sodass
diese Leistung nicht auch noch aus dem Etat des Familienministeriums bestritten werden muss.
({1})
In dieser Frage gab es anscheinend kein Miteinander der
Ministerien. Das finde ich sehr schade.
Meine Fraktion und ich finden, hier wäre eine Regelfinanzierung notwendig. Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfs gesagt: Wir wissen schon
heute, dass der Bedarf auch in drei Jahren noch bestehen
wird. Warum finden wir nicht schon heute eine Lösung,
statt die Länder und Kommunen nach drei Jahren damit
im Regen stehen zu lassen?
({2})
Es haben auch schon genügend Modellprojekte in
diesem Bereich stattgefunden. Diese kann man jetzt nutzen, um daraus erstens ein Berufsbild und zweitens Qualifikationsmöglichkeiten zu entwickeln, um auch Quereinsteigern den Einstieg in diesen Beruf zu ermöglichen.
Das ist aber, wie gesagt, besser umzusetzen, wenn man
eine Regelfinanzierung vorsieht, statt nur ein weiteres
Modellprojekt anzuschieben.
Ein weiterer Punkt betreffend den Gesundheitsbereich, der in dem Gesetzentwurf fehlt, ist der Zusammenhang zwischen der Gesundheit von Kindern und ihrer sozialen Lage. In vielen Berichten, die wir im
Bundestag schon behandelt haben, ist immer wieder
festgestellt worden, dass arme Kinder ein höheres
Gesundheitsrisiko tragen. Deshalb finde ich, dass der
Gesetzentwurf zu kurz greift. Kinderschutz muss alle
Lebenslagen der Kinder in den Blick nehmen.
({3})
Eine weitere Lücke im Gesetzentwurf neben dem Gesundheitsbereich betrifft die Frage, auf Kinder welchen
Alters der Gesetzentwurf abzielt. Kinderschutz muss
mehr umfassen als frühe Hilfen. Ältere Kinder und
Jugendliche stehen aber leider nicht im Fokus des Gesetzentwurfs. Das kann damit zu tun haben, dass Jugendpolitik im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend seit Jahren nur eine Nebenrolle spielt.
Wir brauchen aber auch für spätere Lebensphasen einen bestmöglichen Schutz für ältere Kinder und Jugendliche. Wir brauchen sichere und flächendeckende Angebote im Anschluss an frühe Hilfen. Dieser Bereich wird
aber seit Jahren nur lückenhaft berücksichtigt und ist
chronisch unterfinanziert. Hier brauchen wir Investitionen in Prävention. Das fehlt leider im Gesetzentwurf.
({4})
Dritte Lücke. Der Gesetzentwurf koppelt den Anspruch auf Beratung für Kinder und Jugendliche an hohe
- wie ich finde, zu hohe - Hürden. Es wird ein Rechtsanspruch in Not- und Konfliktsituationen unabhängig von
den Eltern formuliert. Die Vertreterin der Jugendämter
erklärte in der Anhörung - darauf habe ich bereits in der
ersten Lesung hingewiesen -, der Begriff „Not- und
Konfliktsituation“ werde in der Praxis weit ausgelegt.
Das bedeutet, dass es im Ermessen der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Jugendämter liegt, wie sie den Begriff auslegen und ob sie die Situation des Kindes als
Not- und Krisensituation ansehen. Das ist aber kein
wirklicher Rechtsanspruch. Er muss ohne Bedingungen
formuliert sein und gehört auch ohne Bedingungen in ein
Kinderschutzgesetz.
({5})
Da wir gerade bei Rechtsansprüchen sind, habe ich
aus aktuellem Anlass eine große Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Ich möchte Sie bitten, sich nicht nur hier im Bundestag, sondern auch in
den Bundesländern für eine Stärkung der Rechtsansprüche einzusetzen. Ich habe alarmierende Signale aus Bremen und Hamburg bekommen - mich haben Kolleginnen und Kollegen aus der Jugendhilfelandschaft, die
mich schon lange kennen, angesprochen -, wonach es
eine Initiative gibt, die Mittel zur Erfüllung des Anspruchs auf Hilfen zur Erziehung zulasten der Betroffenen zu kürzen bzw. regelrecht einzudampfen. Das darf
nicht passieren. Hilfen zur Erziehung - genau um die
geht es bei diesem Kürzungsanliegen - sind ein wichtiger Bestandteil des Kinderschutzes. Daher werden die
Bestrebungen, die Mittel zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Hilfen zur Erziehung zu kürzen, von der
Fachwelt mit Bestürzung und Besorgnis aufgenommen.
Wer den Rechtsanspruch von Familien und Kindern infrage stellt, gefährdet den Kinderschutz. Es darf keinen
Kinderschutz nach Kassenlage geben.
({6})
Deshalb bitte ich Sie, Ihren Einfluss zu nutzen und diese
Initiative aufzuhalten.
Vierte Lücke. Der Kinderschutz steht und fällt mit der
personellen und strukturellen Lage aller Beteiligten vor
Ort. Dazu macht dieses Gesetz aber keine Aussage. In
der Anhörung gab es die Anregung, zu prüfen, ob eine
Fallzahlbegrenzung in der Jugendhilfe - ähnlich wie im
Vormundschaftsrecht - sinnvoll ist. Das heißt, dass eine
Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Jugendamtes nur
für eine bestimmte Anzahl von Fällen zuständig ist.
Wenn nun - so sieht es das Gesetz vor; das finde ich
richtig - Qualitätssicherung, Netzwerkarbeit und die Beratung von Einrichtungen als zusätzliche Aufgaben an
die Jugendämter übertragen werden, dann brauchen sie
mehr und gut geschultes Personal, um diese Aufgaben
übernehmen zu können.
({7})
Das können die Kommunen nicht alleine stemmen.
Bund, Länder und Kommunen müssen hier - das wird
unsere Aufgabe sein - zu einer neuen Vereinbarung ihrer
Finanzbeziehungen kommen.
Ich komme zum Schluss. Trotz all dieser Mängel und
Lücken sagen wir: Dieses Kinderschutzgesetz ist wichtig. Wir werden uns nicht dagegenstellen. Wir können
dem Gesetzentwurf aber auch nicht zustimmen und werden uns daher enthalten. Es müssen weitere Schritte
gegangen werden. Ich nenne als Stichworte ein Kinderförderungsgesetz und ein Kinderbeteiligungsgesetz.
Vielleicht ist das ein Weg, um endlich die Rechte von
Kindern auf Schutz, Förderung und Beteiligung im
Grundgesetz zu verankern. Dann haben wir wirklich einen Meilenstein geschafft.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. - Die nächste
Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Ekin Deligöz. Bitte schön, Frau Kollegin Deligöz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Ministerin, es ist richtig: Wir verabschieden heute
einen Gesetzentwurf mit Licht und Schatten. Sie selbst
waren bei der Anhörung dabei und haben hier betont,
dass der Gesetzentwurf in der Fachwelt Anklang gefunden hat. Dass Sie nach den Erfahrungen von 2009 die
Fachwelt in diesem Verfahren gleich von Anfang an einbezogen haben, war richtig. Aber die Fachwelt hat in der
Anhörung auch Kritik geäußert. Da Sie zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr anwesend waren, haben Sie das
nicht wahrgenommen. Deshalb möchte ich die Kritikpunkte hier noch einmal ansprechen. Sie können nicht so
tun, als ob alle den Gesetzentwurf bedingungslos begrüßen würden.
Selbst im Grunde positive Punkte haben leider Schattenseiten. Ich nenne Ihnen als Beispiel die Beratungsleistungen. Es ist gut, dass die Beratungsleistungen geändert werden, aber gleichzeitig haben die Betroffenen
keinen Rechtsanspruch. Dies ist ein Kritikpunkt. Seien
Sie doch in diesem Punkt mutig. Entweder wir finden
die Beratungsleistungen richtig und wichtig - dann müssen wir den Rechtsanspruch gewährleisten -, oder wir
finden sie vernachlässigenswert - dann sollten wir im
Gesetz nicht die Möglichkeit einräumen. „Möglich“ allein reicht nicht; wenn sie notwendig sind, müssen sie
auch in Anspruch genommen werden können.
({0})
Zum Qualitätsniveau der Kinderschutzarbeit. Das
wird jetzt möglicherweise gesteigert. Dies ist ein sehr
positiver Punkt, den auch ich unterstütze. Es muss zu einer Verpflichtung zum Qualitätsmanagement kommen.
Aber wie wird das Ganze umgesetzt? Die Fachleute haben mehrfach betont, dass sie dafür Handreichungen
brauchen und dass sich eine Begrenzung auf Kernbereiche der Jugendhilferabeit empfiehlt.
Ich finde die Partizipations- und Beschwerdemöglichkeiten von Kindern, Jugendlichen und Eltern gut. Aber
wenn wir es ernst meinen, müssen wir auch in diesem
Punkt einen Schritt weiter denken und über Ombudschaften diskutieren. Dann hätten wir tatsächlich eine
Einrichtung, an die sich Kinder und Jugendliche auf ih16144
rem Niveau vertrauensvoll wenden können. Das wäre
ein Schritt, der tatsächlich ein Meilenstein wäre. Bis dahin reden wir über Schritte hin zu einem Meilenstein.
({1})
Die Lösungen, die wir bei den Führungszeugnissen
und der Befugnisnorm haben, sind gut. Es gab sehr emotionale Debatten, bei denen man lange Zeit nicht wusste,
in welche Richtung es bei all dem Gerangel geht und
was am Ende herauskommt. Wir haben das Ganze durch
Verfahren gelöst, die in sich schlüssig sind. Letztendlich
werden sich diese Verfahren in der Realität behaupten
müssen. An sich ist aber ein ganz guter Kompromiss gefunden worden.
Die größten Versäumnisse in dem Gesetz haben wir
an zwei Punkten.
Erstens: die Einbindung des Gesundheitswesens. Wir
senden mit diesem Gesetz ein Signal nach außen, dass
sich der Gesundheitsbereich unter anderem mit der Jugendhilfe vernetzt, diese zusammenarbeiten und sich untereinander austauschen. Gleichzeitig macht die Politik
genau das Gegenteil. Ich vermisse leider immer noch Ihren Einsatz, in der Öffentlichkeit dem Gesundheitsminister zu sagen: Lieber Gesundheitsminister, Sie müssen
sich mit mir an einen Tisch setzen. Kinderschutz gelingt
nur, wenn wir gemeinsam agieren. ({2})
Stattdessen blieb es bei einer Streiterei. Sie machen
nichts und sind ein bisschen beleidigt. Sie sind die
Ministerin. Es ist Ihr Job, auch dann zu handeln, wenn es
schwierig ist. Es ist Ihr Job, dann zu handeln, wenn sich
einer Ihrer Kollegen weigert. Genau das ist der Auftrag
einer Familienministerin.
({3})
Zweitens: die Kostenschätzung. Es ist schwierig, abzuschätzen, wie viel es am Ende kostet. Es ist auch nicht
einfach, herauszufinden, wie viel Personal man benötigt.
Hier sind die Aussagen manchmal sehr unterschiedlich.
Aber Sie hätten zumindest einmal versuchen müssen, ein
transparentes Verfahren zu einer reellen Kostenschätzung vorzulegen. Ich denke, das hätte Ihnen den Schritt
im Bundesrat um einiges erleichtert. Genau das haben
wir alle in den vergangenen Reden angemahnt. Aber Sie
haben davon Abstand genommen. Das ist die Schwäche.
Sie sollten nicht so tun, als sei das alles zum Nulltarif zu
bekommen. Wir wollen, dass sich etwas ändert. Wir wollen, dass sich mehr Menschen engagieren und sich die
Kultur des Hinsehens ausbreitet. Dann müssen wir auch
offen darüber reden, was wir dafür zu tun bereit sind und
welche Strukturen wir dafür ändern müssen. Ein Gesetz
allein wird nicht reichen.
Das setzt sich bei dem Programm der Familienhebammen ein Stück weit fort. Es ist in der Sache richtig
und wichtig, dass wir Familien in besonderen Lebenslagen ganz gezielt Hilfestellung geben. Dies ist übrigens
etwas anderes, als eine bestehende Leistung für alle auszuweiten, wie Sie, Frau Rupprecht, es hier gefordert haben. Bei den Familienhebammen ist das Gießkannenprinzip fehl am Platz. Vielmehr geht es um Kinderschutz
für Familien in besonderen Lagen. Hier geht es um ein
Projekt, um Erkenntnisse zu gewinnen. So definieren
sich nun einmal Bundesprojekte. Diese Erkenntnisgewinne haben wir bereits. Wir haben auch schon längst
Projekte in den Bundesländern. Was wir brauchen, ist
Nachhaltigkeit, Stetigkeit und Zuverlässigkeit. Genau
das gewährleisten wir auch durch ein nochmaliges Projekt nicht. Ganz im Gegenteil: All die Leute, die sich engagieren, lassen wir im Regen stehen. Der Gesetzentwurf, den Sie hier einbringen, verschlimmbessert das
Ganze; denn es ändert sich nichts an der Tatsache, dass
hier alles außer einer konsequenten Kinderschutzpolitik,
die den Hebammen den Rücken stärkt, gemacht wird.
({4})
Bedauerlich ist, dass all die Dinge, die in der letzten
Debatte und in der Anhörung angesprochen worden sind
und die von der Fachwelt geäußert worden sind, relativ
wenig berücksichtigt wurden.
({5})
Das wird Ihre Verhandlungsposition im Bundesrat nicht
verbessern. Ehrlich gesagt, finde ich es auch nicht hilfreich, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, dass jeder, der irgendeine Kritik am Gesetzentwurf übt, kein Interesse an Kinderschutz habe.
({6})
Die Ministerinnen, die sich jetzt dazu äußern - dazu
zählt die SPD-Kollegin genauso wie die Kollegin aus
Rheinland-Pfalz -, müssen am Ende geradestehen, damit
das alles auch funktioniert. Sie müssen das umsetzen.
Sie müssen es in ihren Ländern und bei ihren Kommunen durchsetzen, und sie müssen dafür sorgen, dass die
im Gesetz verankerten Hilfeschutzleistungen bei den
Kindern und Jugendlichen ankommen. Wenn Länder
und Kommunen ein Interesse daran haben, dass dieses
Vorhaben nicht nur Schall und Rauch ist, sondern auch
tatsächlich machbar ist, dann ist das eine Unterstützung
für diese Ministerinnen. Daher ist es ein Unrecht, wenn
sich die Bundesministerin hier hinstellt und diese Ministerinnen einfach nur beschimpft.
({7})
- Aber natürlich.
({8})
Was an dieser Stelle wichtig wäre, ist, dass es uns tatsächlich gelingt, Frau Fischbach, vor Ende des Jahres zu
einer Einigung zu kommen und dieses Gesetz zu verabschieden.
({9})
- Ja, das ist wichtig. Aber nicht in diesem Tonfall, sondern auf Augenhöhe!
({10})
Es hilft nicht, sich gegenseitig zu beschimpfen, Frau
Fischbach. So kommen Sie nicht weiter.
Aber jetzt hören Sie sich doch einmal den konstruktiven Vorschlag an; vielleicht gelingt es Ihnen ja noch, zuzuhören. Das eine ist, tatsächlich Angebote zu machen.
Das andere ist: Das größte Defizit besteht immer noch
bei der Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheitsbereich und den für den Kinderschutz Verantwortlichen.
Dort brauchen wir einen Runden Tisch der Ministerinnen und Minister auf Landes- und auf Bundesebene.
({11})
Das ist mein Vorschlag an Sie. Lassen Sie uns darangehen und gemeinsam dafür kämpfen, dass er umgesetzt
wird. Das funktioniert aber nur, wenn Sie sich auch mit
den Schwächen des Gesetzes auseinandersetzen und
nicht so tun, als sei das alles schon gebongt und als sei
jeder, der an der Umsetzbarkeit geringe Kritik übt, gegen
Kinderschutz.
({12})
Für Kinderschutz sind wir alle, und dafür stehen wir
alle. Die einen wollen aber etwas machen. Sie wollen
hier anscheinend nur Papier produzieren, und das wäre
zu wenig.
({13})
Vielen Dank, Frau Kollegin Deligöz. - Jetzt für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Dorothee
Bär. Bitte schön, Frau Kollegin Bär.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kollegin Deligöz, gestern im Ausschuss hat sich
das Ganze von Ihnen wesentlich positiver angehört.
({0})
Deswegen bin ich mir sicher, dass Sie im Grunde Ihres
Herzens eigentlich dafür sind, dass wir dieses Bundeskinderschutzgesetz heute nach zweiter und dritter Lesung verabschieden.
Was mir besonders gut gefällt: Wir haben heute den
ganzen Tag ein sehr schönes Wort gehört - das haben
wir gestern im Ausschuss schon gehört; heute in unterschiedlicher Tonlage eigentlich von allen Rednerinnen
hier -: Meilenstein.
({1})
Ich bin mir ganz sicher, dass dies nicht jedes Mal der
Fall ist - selbst bei uns nicht -, dass nicht jedes einzelne
Gesetz ein absoluter Meilenstein ist; aber in diesem Fall
ist es das wirklich.
({2})
Ich bin sehr froh darüber, dass es uns nach so vielen Jahren - heute ist ein paarmal von eineinhalb Jahren gesprochen worden; die Kolleginnen und Kollegen wie die
Kollegin Rupprecht, die schon länger in diesem Ausschuss tätig sind, wissen, dass dieses Vorhaben eigentlich einen Vorlauf von sechs Jahren hatte - möglich ist,
diesen Gesetzentwurf heute zu verabschieden.
({3})
Was mich auch freut, ist, dass es gestern im Ausschuss keine einzige Gegenstimme gab. So wie ich es bis
jetzt verstanden habe, wird es auch hier im Plenum keine
einzige Gegenstimme geben. Natürlich wäre es mir lieber, wenn sich die drei Oppositionsfraktionen nicht nur
enthalten, sondern auch zustimmen würden; das wäre
wesentlich schöner. Aber es ist auf jeden Fall so, dass
entweder unsere Kolleginnen und Kollegen heute zustimmen oder sich enthalten, weil sie denken, das sei für
die Opposition wichtig.
Ich möchte heute ganz besonders drei Punkte hervorheben, die für mich die Qualität dieses Gesetzes ausmachen. Das sind die vielzitierten Familienhebammen, die
Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger und die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses für Tätigkeiten, die in einem engen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen stehen.
Beginnen möchte ich mit den Familienhebammen,
weil sie mir wirklich eine absolute Herzensangelegenheit sind. Wir stellen für diesen Bereich 120 Millionen
Euro zur Verfügung. Man kann sich immer darüber streiten - das ist völlig richtig -, ob es nicht besser wäre, etwas fest im Haushalt zu haben. Natürlich wäre uns das
lieber als so viel Projektförderung in diesem Land; ich
denke, darüber sind wir uns einig. Ich bin trotzdem sehr
dankbar für diese 120 Millionen Euro.
Es ist wichtig, dass wir eines noch einmal klarmachen
- ich habe manchmal das Gefühl, dass es von einigen in
den Ländern nicht richtig verstanden wird -: Es gibt einen sehr großen Unterschied zu normalen Hebammen.
Die Familienhebammen haben eine ganz besondere Ausbildung. Sie sollen in die sogenannten Risikofamilien hineingehen und frühzeitig dabei sein. Im Idealfall begleiten sie schon vor der Geburt, während der Geburt und
sofort im Anschluss daran; denn dann wissen sie, was
die Besonderheiten in der Familie sind.
Von daher muss die Frequenz eine andere sein. Der
Auftrag ist ein anderer. Natürlich sind auch Art und Inhalte der Tätigkeiten verschieden. Dabei geht es um das
Hinhören - das haben wir hier im Plenum schon oft besprochen -, aber auch darum, wirklich Hilfestellung zu
leisten, wenn eine Überforderung da ist. Jeder, der mit
kleinen Kindern zu tun hat, weiß, dass die ersten Monate
meist noch relativ unkritisch sind; denn wenn ein Kind
von 24 Stunden 22 Stunden schläft, dann ist eine Überforderung nicht in dem Maße gegeben wie dann, wenn
sich diese Schlafphase reduziert und mehr Bewegung da
ist. Auch dann müssen Familienhebammen noch zur
Verfügung stehen und Hilfestellung leisten können.
({4})
Familienhebammen müssen proaktiv arbeiten können, weil sie auch Türöffner zum Hilfesystem sind; sie
haben eine Brückenfunktion inne. Hebammen und besonders Familienhebammen haben etwas, was viele andere nicht haben, nämlich das Vertrauen der Familien.
Die Familien wissen, dass diese Hebammen fast ein Teil
der Familie und ein guter Ansprechpartner sind.
Nichts anderes hat die Ministerin gesagt, auch nicht in
einem falschen Tonfall, Frau Deligöz. Das ärgert mich
jetzt schon ein bisschen. Zu den Einwänden der Länder,
beispielsweise den Kosteneinwänden, die darauf zielen,
dass länger durch normale Hebammen betreut werden
soll, sagen wir: Das ist für uns keine Alternative, weil
die Familienhebammen eine ganz besondere Schulung
haben, weil sie anders mit den Dingen umgehen und
weil sie anders auf Problemstellungen reagieren können
als normale Hebammen. Das wurde auch in unserer Anhörung zum Bundeskinderschutzgesetz deutlich. Die Familienhebammen sind eine wirkliche Hilfe. Deswegen
ist eine ganz besondere Qualifikation nötig.
Darüber dass der Kinderschutz Geld kostet und nicht
zum Nulltarif zu haben ist, sind wir uns alle einig. Deswegen appelliere ich hier noch einmal an die Länder, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
({5})
Wir erlauben im Kinderschutzgesetz Ärztinnen und
Ärzten, die Schweigepflicht zu durchbrechen, wenn es
Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung gibt, sodass
es in Zukunft leichter möglich sein wird, die Jugendämter zu informieren. Das ist in den einzelnen Bundesländern bislang sehr unterschiedlich geregelt, und zwar so
unterschiedlich, dass viele Kinderärztinnen und Kinderärzte sehr unsicher sind in der Frage, was sie weitergeben dürfen. Insofern wollen wir Sicherheit schaffen und
erreichen, dass sie Konsequenzen im Sinne beruflicher
Nachteile nicht fürchten müssen. Deswegen war es uns
sehr wichtig, eine solche Grundlage zu schaffen.
Es ist wichtig, dass gerade Kinderärzte, Psychologen
und Sozialarbeiter, die die Anzeichen von Misshandlung
und Verwahrlosung als Erste zu sehen bekommen, eine
- ich nenne es jetzt einmal so - schnelle Eingreiftruppe
sein können und wirklich sofort, unmittelbar handeln
können.
Zum erweiterten Führungszeugnis wird meine Kollegin Michaela Noll sicherlich noch etwas sagen. Wir haben lange darüber diskutiert, wie das bei ehrenamtlich
und hauptamtlich Tätigen zu sehen ist. Da gibt es natürlich Für und Wider. Trotzdem ist es so, wie wir es jetzt
regeln wollen, sehr gut.
Ich möchte abschließend noch etwas sagen, weil ich
keine falschen Erwartungen wecken will; am Anfang
wurde ja auf die Schicksale von Jessica, Kevin und LeaSophie hingewiesen. Einen absoluten Schutz wird es natürlich nicht geben. Mit keinem Gesetz der Welt werden
wir gewährleisten können, dass nie mehr ein Kind in unserem Land eine Misshandlung erfährt. Aber es wird
vieles vermieden werden können. Wenn alle, die mit unseren Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wachsam
sind, wenn sie hinschauen und nicht wegschauen, wird
sich auf jeden Fall sehr viel ändern.
Deswegen bin ich froh darüber, dass es nach dieser
langen Odyssee heute zu einem guten Ende kommt. Ich
würde mich außerordentlich freuen, wenn diejenigen,
die jetzt sagen: „Ich bin zwar nicht dagegen, aber ich
werde mich enthalten“, sich noch einen Ruck geben
könnten, sodass wir heute mit einer sehr breiten Mehrheit des Hauses Ja zu Kindern und Ja zum Kinderschutz
sagen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bär. - Als nächste Rednerin spricht nun für die Fraktion der Sozialdemokraten
unsere Kollegin Frau Caren Marks. - Bitte schön, Frau
Kollegin Marks.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Bär, dieser Ruck wird für die Zustimmung nicht ausreichen; dafür - das werde ich gleich noch im Detail ausführen - hätte der Gesetzentwurf an einigen Punkten
noch ein wenig besser sein müssen.
In den Reden zuvor wurde bereits mehrfach betont,
dass der vorliegende Gesetzentwurf zum Kinderschutz
gute Ansätze enthält. Dies ist auch der engagierten Arbeit der Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion,
Marlene Rupprecht, zu verdanken. Vielen Dank!
({0})
Ein gelingender Schutz von Kindern und Jugendlichen muss möglichst früh ansetzen, am besten schon vor
der Geburt. Auch das wurde hier heute schon mehrfach
betont. Es geht darum, das Vertrauen der Familien zu gewinnen, ihnen Hilfen anzubieten und sie bei Bedarf zu unterstützen. Das Schlüsselwort bei alldem ist: Vernetzung.
So müssen verschiedene Fachkräfte - beispielsweise Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Jugendhilfe, Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Familienrichter - zum
Schutz des Kindeswohls zusammenarbeiten. Dadurch
wird es besser gelingen, Eltern stark zu machen, ihre
Kinder gut zu erziehen, sie zu fördern und sie durchs Leben zu begleiten. Ich denke, das wollen wir alle gemeinsam.
Die meisten Eltern wollen, dass ihre Kinder gut und
gesund aufwachsen. Jede Mutter und jeder Vater kann
aber irgendwann einmal in Situationen geraten, in denen
sie bzw. er Rat und Unterstützung braucht, wenn es um
die Erziehung und die Begleitung des Kindes geht. Dazu
braucht es Angebote mit qualifizierten Ansprechpartnern. Die Arbeit der Stadtteilmütter ist ein gutes Beispiel, das man auch einmal erwähnen sollte.
Der Entwurf des Kinderschutzgesetzes enthält Ansätze zur Stärkung von Anlaufstellen und von Hilfenetzwerken. Ich sage aber auch ganz deutlich: Kinderschutz
ist nicht nur eine Frage von Gesetzen. Einen guten Kinderschutz gibt es nicht zum Nulltarif.
({1})
Meine Kolleginnen und Kollegen, die neuen Regelungen müssen vor allem in den Kommunen und dort von
den Jugendämtern und den freien Trägern umgesetzt
werden. Diese müssen finanziell dazu in der Lage sein,
genügend Personal vorzuhalten und die Fachkräfte entsprechend aus- und weiterzubilden.
Wir haben schon oft im Ausschuss darüber diskutiert,
dass die Realität in den Kommunen häufig ganz anders
aussieht. Die Fachkräfte in der Jugendhilfe, die eine
engagierte Arbeit leisten, stehen häufig unter Zeit- und
gleichermaßen unter Kostendruck. Deswegen ist die
Frage der Finanzierung so wichtig. Es gibt eine öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen unserer Kinder.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert von der Bundesregierung verlässliche Lösungen ein. Was tut diese Bundesregierung aber stattdessen? Sie verkündet erneut
Steuersenkungen zum Jahresanfang 2013. Diese unsägliche Aktion wird die Länder und Kommunen weiter
finanziell in die Enge treiben. Noch schlimmer: Steuersenkungen konterkarieren auch das Bemühen um einen
guten Kinderschutz vor Ort. Darum muss dieses Thema
unweigerlich im Zusammenhang mit der Frage diskutiert
werden, wie es gelingen kann, ein Gesetz, das gute Ansätze enthält, vor Ort umzusetzen und mit Leben zu erfüllen.
({2})
Ich frage Sie, Frau Ministerin Schröder: Warum haben wir von Ihnen nicht einen Satz gehört, in dem Sie
sich deutlich gegen diesen Unsinn aussprechen? Bis zum
6. November - dann will die Bundesregierung gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Union eine Entscheidung fällen - haben Sie Zeit, Ihr Veto gegen Steuersenkungen einzulegen. Frau Ministerin, Sie müssten
doch ein Interesse daran haben, dass das Kinderschutzgesetz vor Ort gut umgesetzt werden kann. Nehmen Sie
endlich Ihre Rolle als Familienministerin ernst, und
kämpfen Sie für den Kinderschutz und für eine Stärkung
der Kommunen!
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Finanzierung krankt dieser Gesetzentwurf daran, dass Sie den
Gesundheitsbereich nicht einbezogen haben. Dies lag
auch daran, dass sich der Bundesgesundheitsminister
während der gesamten Verhandlungen weggeduckt hat.
Er hat sich verweigert und keinerlei Vorschläge gemacht, wie die Kooperation des Gesundheitswesens mit
der Jugendhilfe verbessert werden kann.
In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass beispielsweise Ärztinnen und Ärzte wenig über die Jugendhilfe
wissen und selten die Anlaufstellen für Familien vor Ort
benennen können. Oft sind sie nicht ausreichend geschult, um eine Kindesvernachlässigung oder einen Kindesmissbrauch zu erkennen. Der gute Wille ist natürlich
vorhanden; das alleine reicht aber nicht aus.
Von der Wissenschaft, aber auch von den Fachverbänden wird zu Recht angemahnt, die Gesundheitsförderung
und die Prävention zu stärken. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben hierzu ein konkretes Konzept vorgelegt. Wir fordern ein bundeseinheitliches Präventionsgesetz, das im direkten Lebensumfeld von Familien ansetzt
und alle Akteure an einen Tisch holt. Gesundheitsförderung und Prävention müssen in der Familie, in den Kitas
und in den Schulen ansetzen. Nur so kann das Vorhaben
wirklich gelingen.
({4})
Die Frage ist: Warum verweigern sich Union und
FDP hartnäckig einem solchen Gesetz, das den Kinderschutz unterstützen würde?
({5})
Noch einmal zurück zum Entwurf des Kinderschutzgesetzes: Es ist notwendig, die Rolle der Hebammen zu
stärken. Sie begleiten die Mütter von Anfang an. Ihre
Unterstützung wirkt präventiv und gesundheitsfördernd,
sowohl für das Neugeborene als auch für die Eltern. Es
gibt ein gutes Modellprojekt in Bayern und RheinlandPfalz. In diesem Modellprojekt wird zurzeit die Ausweitung der Hebammenleistungen auf den Zeitraum von
sechs Monaten erfolgreich erprobt. Junge Familien können so besser unterstützt werden. Aber es ist eben nur
ein Modellprojekt.
Warum hat Bundesminister Bahr auch hier eine vernünftige Regelung blockiert? Eine solche Regelung
würde die Familien stärken und so die Kinder besser
schützen. Ich finde, diese Blockade ist mehr als bedauerlich.
({6})
Was ist das für ein Signal, wenn ein Kinderschutzgesetz
verabschiedet und gleichzeitig der Mittelansatz im Haushalt für die Förderung der Kindergesundheit halbiert und
die Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung
drastisch gekürzt werden?
({7})
- Das ist in der Tat ein Skandal.
Die SPD-Bundestagsfraktion erkennt Ihr Bemühen
um einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen an. Der Gesetzentwurf geht zweifellos in die richtige Richtung. Aber bleiben Sie beim Kinderschutz nicht
auf halber Strecke stehen. Deswegen appelliere ich an
die Bundesregierung: Fallen Sie den Ländern und Kommunen nicht mit weiteren Steuersenkungsplänen in den
Rücken! Auch das würde die Kinder in unserem Land
stärken.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Marks. - Jetzt für die
Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Sibylle
Laurischk. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Schröder! Mit dem
Entwurf des Bundeskinderschutzgesetzes realisieren wir
heute ein wichtiges Anliegen der Koalition: die umfassende Verbesserung des Kinderschutzes in Deutschland.
Damit der Kinderschutz nicht dem Zufall überlassen
bleibt, ist es wichtig, dass die Verantwortlichen miteinander kooperieren. Hier knüpft der Gesetzentwurf an.
Das Kinderschutzgesetz wird dafür sorgen, dass eine
ungute Praxis, die bisher üblich war, endlich beendet
wird: das sogenannte Jugendamt-Hopping. Familien, die
bei einem Jugendamt in irgendeiner Form auffällig wurden, weil sich die Kinder in einer unguten Lebenssituation befanden, haben sich bislang häufig entzogen, indem sie ihren Wohnsitz gewechselt haben. Ein anderes
Jugendamt weiß dann zunächst nicht Bescheid. Das war
in der Vergangenheit sehr misslich und für die betroffenen Kinder zusätzlich schwierig. Jetzt wandern die Akten mit. Die Jugendämter informieren sich untereinander. Ein Ausweichen der Familien ist also nicht mehr
möglich; bestehende Hilfsangebote und andere vernetzte
Maßnahmen können die Familien aber weiterhin erreichen, und den Kindern kann geholfen werden. Dieses
Netzwerk zwischen Leistungsträgern und Institutionen
muss weiter ausgebaut werden.
Hier ist uns auch ein anderer Gesichtspunkt wichtig:
Wenn Ärzte, Psychologen, Hebammen, Sozialarbeiter,
Lehrer und Jugendämter kooperieren wollen und können, ist es wichtig, dass die Berufsgeheimnisträger, nämlich die Kinderärzte, einen sicheren Maßstab erhalten,
inwieweit sie Informationen zu erkannten Problemlagen
weitergeben können. Bislang waren die Ärzte in einzelnen Ländern schon berechtigt, Informationen weiterzugeben. Es ist aber nach unserem Dafürhalten dringend
notwendig, dass hier eine bundesgesetzliche Regelung
Handlungssicherheit für die Ärzte schafft. Mit dem Bundeskinderschutzgesetz ist nun klar, dass die Ärzte in besonders schwierigen Situationen, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten ist, handeln dürfen.
Nach unserem Dafürhalten ist die Situation bei den
Suchtberatungsstellen ein weiterer Gesichtspunkt, der
zeigt, dass bisher die Vernetzung im Rahmen eines Bundeskinderschutzgesetzes fehlte. Auch die Suchtberatungsstellen sind jetzt Anlaufstellen in dem Netzwerk,
das wir uns wünschen, um die Prävention zu stärken.
Gerade in Familien, in denen eine Suchtproblematik besteht, sind die Kinder besonders gefährdet; Frau Ministerin hat vorhin ein schlimmes Beispiel angeführt. Hier
setzen wir klare Zeichen, damit die Vernetzung eine gute
Entwicklung bringt.
({0})
Gleiches gilt für die Hilfestellung sowie die Ausweitung und Stärkung des Beratungssystems für Kinder, die
von sexuellem Missbrauch und Misshandlung betroffen
sind. Hier brauchen wir einen Anspruch auf Beratung für
Kinder in Not- und Konfliktlagen; er wird in § 8 Abs. 3
des Achten Buches Sozialgesetzbuch aufgenommen. Ich
denke, dass Kinder, die in einer solchen Situation irgendeine Form von Beratung brauchen, in einer Notund Konfliktlage sind. Insofern haben sie nach meinem
Dafürhalten ganz eindeutig einen Rechtsanspruch auf
Beratung.
({1})
Wir Liberale haben in diesem Zusammenhang dafür
gesorgt, dass das erweiterte Führungszeugnis - ein wichtiges Thema - nicht zu einer bürokratischen Belastung
für Vereine wird. Insofern erkennt man hier unsere
Handschrift: Wir nehmen das Thema ernst, wollen aber
das Handeln der Vereine in Zukunft nicht durch eine
Überbürokratisierung belasten.
({2})
Ein weiterer Stichpunkt sind die Pflegefamilien. Da
haben wir beim Vorschlag des Ministeriums gegengesteuert. Das Ministerium wollte hinsichtlich der Jugendämter eine Sonderzuständigkeit für Dauerpflegeverhältnisse schaffen. Da das nicht unserem kindzentrierten
Ansatz entspricht, haben wir es bei der bisherigen Regelung belassen.
Mit all diesen Regelungen schaffen wir die Möglichkeit einer neuen, vernetzten Vorgehensweise in der Jugendhilfe, wie wir sie uns zum Schutz der Kinder wünschen. Wir werden im Rahmen der Evaluation, die
gesetzlich vorgesehen ist, prüfen, wie sich dieses Gesetz
in der Anwendung bewährt. Ich denke, wir sind im Interesse unserer Kinder beim Schutz unserer Kinder auf einem guten Weg.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Laurischk. - Jetzt für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Michaela
Noll. Bitte schön, Frau Kollegin Michaela Noll.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erlauben Sie mir, an dieser Stelle einfach einmal Danke zu sagen, auch in Richtung der Ministerin.
Sie waren diejenige, die das Vorhaben anderthalb Jahre
lang vorangetrieben hat. Sie waren auch diejenige, die
einen wesentlichen Teil dazu beigetragen hat, dass in
diesem Gesetz nicht nur der Interventionsgedanke verfolgt wird, sondern Prävention einen wirklich großen
Stellenwert hat. Ich möchte auch meinen Kolleginnen
danken, unter anderem Marlene Rupprecht. Marlene, wir
haben das Gesetz nach sechs Jahren mehr oder weniger
auf den Weg gebracht. Ich kann wirklich sagen, was
schon von vielen gesagt worden ist: Das Gesetz ist ein
Meilenstein für mehr Kinderschutz in Deutschland.
({0})
Die Tage und Nächte, in denen wir uns mit dem
Thema beschäftigt haben, und die Anhörungen haben
sich gelohnt. Es wurde von allen Experten begrüßt, dass
es uns gelungen ist, in der Sache zu diskutieren und alle
Akteure rechtzeitig, von Anfang an, mit einzubeziehen;
alle saßen mit am Tisch. Auch das war beim letzten Mal
so nicht der Fall. Deswegen haben sich die Experten in
der Anhörung einheitlich dafür bedankt, dass sie eingebunden wurden. Das hat auch zu einer deutlichen Verbesserung des Entwurfs beigetragen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, was
die Ministerin eben schon festgestellt hat: 96 Prozent der
Kinder in Deutschland werden in einem liebevollen Elternhaus groß. Unsere Aufgabe ist es, uns um die Kinder,
die diese Chance nicht haben, die auf der Schattenseite
stehen - Marlene Rupprecht hat es gesagt; das ist unser
Wächteramt -, zu kümmern. Aber das ist nicht nur die
Pflicht der Politiker, sondern das ist meiner Meinung
nach die Pflicht der ganzen Gesellschaft. Egal, wer es
ist: Wer Kindeswohlgefährdung wahrnimmt, der muss
handeln.
({1})
Manchmal wird kritisch angemerkt, dass Menschen in
finanziellen Nöten - so sage ich es einmal - eher dazu
neigen, zu Risikofamilien zu werden. Das ist meiner
Meinung nach völlig falsch. Es gibt sehr viele Eltern mit
einem sehr begrenzten Budget, die ihren Kindern all ihre
Liebe geben und sie entsprechend großziehen. Das Problem ist nicht der finanzielle Hintergrund, sondern eher
eine emotionale Armut. Denn diese Eltern haben oftmals
selbst nie soziale oder emotionale Bindungen in ihren
Elternhäusern kennengelernt. Deswegen sollten wir dort
rechtzeitig einschreiten.
Ich möchte Ihnen nicht noch einmal das Ausmaß der
Qualen schildern. Viele von Ihnen konnten die entsprechende Presse über Jahre verfolgen; die Namen der Kinder und ihre traurigen Schicksale wurden bereits genannt. Ich empfehle nur den Artikel „Die feindlichen
Eltern“ aus Zeit online, in dem Hintergrundinformationen über die kleine Karolina gegeben wurden. Jeder, der
solche Berichte gelesen hat, kann die Namen und
Schicksale dieser Kinder nicht vergessen. Deswegen ist
es richtig, dass wir dieses Gesetz jetzt auf den Weg bringen.
({2})
Für diejenigen, die heute vielleicht das erste Mal die
Gelegenheit haben, es zu hören: Wir haben in dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf einen anderen Schwerpunkt
gesetzt. Das ist von vielen Kollegen angesprochen worden. Ich glaube, Familienhebammen sind die richtige
Basis, um Vertrauen zu schaffen, auch für Familien, die
am Anfang vielleicht verunsichert sind, weil sie eben
nicht wissen, wie sie mit einem kleinen Säugling umgehen sollen. Wir haben davon gesprochen: Unsere Gesellschaft ist eine kinderentwöhnte Gesellschaft. Viele haben keine kurzen Wege zu den Eltern, um sie um Hilfe
zu bitten; auch in der Nachbarschaft ist nicht unbedingt
immer Hilfe vorhanden. Wenn also die Familienhebammen den Familien als tatkräftige Lotsen helfen, den Alltag zu bewerkstelligen, dann haben diese Kinder größere
Chancen.
Wir haben uns auch beim Thema der Hausbesuche
bewegt. Ich bin sehr dankbar, dass wir jetzt einen anderen Weg gehen als 2009, dass die Jugendämter entscheiden, ob es sinnvoll ist, in die Familie zu gehen.
Wir haben über die Schweigepflicht gesprochen. Kollegin Deligöz hatte damals angeregt, eine einheitliche
Befugnisnorm vorzusehen. Dabei ist es geblieben. Das
gibt auch den Ärzten die notwendige Sicherheit.
Kollegin Laurischk hat vom Jugendamt-Hopping gesprochen. Auch dieses Thema ist wichtig; denn wir wissen aus den Erfahrungen, dass Risikofamilien dazu neigen, öfter umzuziehen.
Sehr gut finde ich auch, dass für werdende Eltern bereits während der Schwangerschaft die Möglichkeit zur
Beratung vorgesehen ist.
({3})
Wir haben noch etwas Neues auf den Weg gebracht
- eben wurde zwar etwas kritisch angemerkt, dass das
kein Rechtsanspruch ist; aber ich halte es trotzdem für
wesentlich -, und zwar haben die Kinder selber jetzt einen Anspruch auf Beratung. Das heißt, nicht mehr Dritte
reden über die Kinder, sondern die Kinder können sich
selbst einbringen. Es gibt in diesem Bereich also eine
ganz andere Wahrnehmung.
Kollegin Laurischk hat eben auch die Pflegekinder
angesprochen; um sie geht es in § 86 Abs. 6 SGB VIII.
Das sind ja gerade die Kinder, die schon auf der Schattenseite stehen; denn sonst wären sie nicht aus ihrer Familie herausgenommen worden. Wir haben bedauerlicherweise auch in diesem Bereich einen Anstieg der
Zahlen der Kinder, die aus ihren Familien herausgenommen wurden. Wir müssen besonders darauf achten, dass
diese Kinder nicht erneut in eine schwierige Situation
kommen. Deswegen halte ich den Weg, auf den wir uns
jetzt geeinigt haben - die Sonderzuständigkeit wird nicht
gestrichen -, für richtig. Wir werden eine Evaluation
durchführen und prüfen, was sich in der Praxis wirklich
bewährt. Dann entscheiden wir kurzfristig, wo Änderungen notwendig sind. Ich halte das in diesem Fall für den
besseren Weg.
({4})
Dann hatten wir über das erweiterte Führungszeugnis
gesprochen. Das war oft in der Diskussion, Stichwort
„Sportvereine“. Ich habe mich einfach einmal auf den
Weg gemacht und mit den Praktikern vor Ort bei mir im
Wahlkreis gesprochen. Ich nenne nur einmal die Stadt
Hilden, wo Sportvereine eine freiwillige Kinderschutzvereinbarung unterzeichnet haben. Der Landessportbund
NRW war an diesem Tag vor Ort. Ich habe die Schirmherrschaft übernommen und einfach nur darum gebeten,
diese Vereinbarung als Muster für andere Kommunen zu
nehmen. Es gibt doch nichts Einfacheres, als etwas Gutes, das bereits auf den Weg gebracht wurde, zu kopieren
und weiterzugeben. Ich hoffe also, dass auch andere Vereine diesen Weg einschlagen werden.
Heute ist wirklich ein guter Tag; sechs Jahre Arbeit
haben sich gelohnt. Ich bereue nicht eines davon. Wenn
wir die Kultur des Miteinanders, des Dialoges, so wie
wir ihn geführt haben, zielorientiert weiterführen, dann
haben wir, glaube ich, eine gute Legislaturperiode.
Eines möchte ich noch bemerken: Nicht nur Politiker
haben die Pflicht, mutig zu sein und einzuschreiten,
wenn sie Kindeswohlgefährdung feststellen. Diese
Pflicht gilt für jeden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Noll.
Auf meiner Rednerliste findet sich nun niemand
mehr, sodass ich die Aussprache schließe.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung
eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7522, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6256 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Niemand. Enthaltungen? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ebenfalls unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7522 empfiehlt der Ausschuss,
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache
17/7529. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Gegenprobe! - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7530. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Das sind die Fraktion
Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7531. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Das sind die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Linke. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten.
Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend auf Drucksache 17/7522 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7522 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/498 mit
dem Titel „Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz optimieren - Förderung und Frühe
Hilfen für Eltern und Kinder stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten sowie die
Linksfraktion. Enthaltung? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tageordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({0}), Dr. Sascha Raabe, Lothar
Binding ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Soziale Sicherung als Motor solidarischer und
nachhaltiger Entwicklungspolitik
- Drucksache 17/7358 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsident Eduard Oswald
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie alle damit
einverstanden? - Dann ist das auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin rufe
ich für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Karin Roth auf. Bitte schön, Frau Kollegin
Roth, Sie haben das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen!
Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht
auf soziale Sicherheit …
So steht es in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948. Heute, 63 Jahre später,
leben trotz dieser wichtigen internationalen Vereinbarung immer noch rund 80 Prozent der Weltbevölkerung
ohne jeglichen Schutz vor elementaren Lebensrisiken.
Ohne einen sozialen Schutz können Familien durch
Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter oder Tod eines Ernährers oder einer Ernährerin in kürzester Zeit in unvorstellbare Armut gestürzt werden. Frauen in Entwicklungsländern, aber auch Kinder trifft das besonders hart.
Weltweit verarmen jedes Jahr rund 100 Millionen Menschen, weil sie die Kosten für Medikamente oder eine
andere Gesundheitsbehandlung aus eigener Tasche direkt bezahlen müssen. Das ist nicht nur in Entwicklungsländern der Fall, sondern leider auch - immer noch - in
den USA.
Das ist ein Teufelskreis. Diesen zu durchbrechen, ist
Aufgabe der Politik in den Ländern selbst - mit Unterstützung internationaler Geber und der internationalen
Institutionen. Politik, Nichtregierungsorganisationen,
Wissenschaft und Wirtschaft sind sich, von wenigen neoliberalen Vertretern abgesehen, einig: Der Aufbau von
sozialen Sicherungssystemen in Entwicklungsländern ist
ein zentraler Schlüssel zur effektiven Bekämpfung der
Armut. Auf dem Millenniumsgipfel vor gut einem Jahr
in New York haben die Staats- und Regierungschefs deshalb beschlossen, den Zugang zu sozialen Diensten für
alle zu fördern. Wenn man bedenkt, dass dieses Ziel
schrittweise umgesetzt werden muss, wird klar, dass dies
eine Herkulesaufgabe ist. Ich erinnere an die Finanzmittel und die Strukturen, die notwendig sind, aber auch an
die Qualifizierung der Menschen, die in diesen Systemen arbeiten sollen.
90 Prozent der Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern arbeiten im informellen Sektor. Das heißt,
sie haben ungeregelte Arbeitsverhältnisse. Viele von ihnen sind auf sich selbst gestellt. Genau das ist das Problem. Um diese Menschen aus der Armut herausholen
zu können, müssen ein soziales Sicherungssystem aufgebaut und ein diskriminierungsfreier Zugang zu einem
sozialen Basisschutz gewährleistet werden. Das ist
unbedingt notwendig. Soziale Sicherung in Entwicklungsländern sollte daher integraler Bestandteil unserer
Entwicklungspolitik sein.
({0})
Warum ist soziale Sicherung für die Entwicklung substanziell? Wer alles verliert, was er oder sie aufgebaut
hat, weil ein Kind oder er oder sie krank ist, ist nicht in
der Lage, zu investieren, um die Existenzgrundlage für
sich und die Familie zu verbessern. Nur wer eine Mindestabsicherung hat, kann Lebensrisiken vermeiden,
Neues wagen, investieren und produktiv sein. Soziale Sicherung ist also eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität.
Soziale Sicherung ist also notwendig. Dabei geht es
uns nicht um Wachstum um jeden Preis. Es geht um ein
nachhaltiges und qualitatives Wachstum. Vor allen Dingen geht es um die Einhaltung sozialer und ökologischer
Standards. Entscheidend ist, dass die jeweiligen Sicherungssysteme einen universellen Basisschutz vorsehen
- das ist die Grundlage -, dass dieser für alle Bevölkerungsgruppen, aber vor allen Dingen für die Ärmsten zugänglich wird.
Im Rahmen der Vereinten Nationen entwickelten deshalb die Internationale Arbeitsorganisation und die Weltgesundheitsorganisation das Konzept des sogenannten
Social Protection Floors. Dessen sozialer Basisschutz erreicht alle Bevölkerungsgruppen und deckt vier wesentliche Bereiche sozialer Sicherung ab.
Erstens. Garantierte Mindestgesundheitsversorgung
für alle, um die ruinösen Direktzahlungen zu verhindern.
Zweitens. Mindesteinkommensgarantien für Kinder,
um die millionenfache Kinderarbeit zu reduzieren und
letztlich zu beseitigen.
Drittens. Unterstützung für Arme und Arbeitslose.
Viertens. Mindesteinkommensgarantien für alte Menschen und für Menschen mit Behinderungen. Auch das
muss mehr in den Fokus unserer Betrachtung rücken.
Im Juni dieses Jahres anlässlich der 100. Sitzung der
Internationalen Arbeitskonferenz in Genf wurde diese
Strategie ausdrücklich von allen Staaten, von Arbeitgebern und von Gewerkschaften akzeptiert; das heißt, sie
hat ein gutes und breites Fundament. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es ist keine Blaupause für
alle, sondern ermöglicht es den einzelnen Ländern, nach
ihren Interessen Systeme und Projekte zu entwickeln,
die jeweils ihrem kulturellen und gesellschaftlichen
Kontext angepasst sind. Genau das wollen wir: Partnerschaft auf Augenhöhe. Auch die Frage der Konditionierung von Leistungen bleibt diesen Ländern überlassen.
Es bleibt die Frage: Wie wird dieses gute Vorhaben
finanziert? Die SPD-Bundestagsfraktion setzt hier auf
das Grundprinzip von Solidarität. Zur nachhaltigen
Finanzierung der Leistungen im Rahmen des Social Protection Floors bedarf es aus unserer Sicht kurz- und
mittelfristig einer Mischung aus nationalem Steueraufkommen, Beitragsaufkommen und der finanziellen Unterstützung internationaler Geber wie zum Beispiel der
Weltbank, des IWF oder auch der ILO. Dabei kann seitens der Geber nicht nur allgemeine, sondern aus meiner
Sicht auch sektorale Budgethilfe zum Aufbau effizienter
und transparenter Strukturen gewährt werden, um eine
Karin Roth ({1})
wertvolle Unterstützung zu leisten. Ziel muss es sein,
neue zusätzliche nationale Steuereinnahmen zu erschließen und gemäß dem Solidarprinzip, nach dem Besserverdienende einen höheren Beitrag zahlen müssen als
diejenigen, die gar nichts haben, Verteilungsgerechtigkeit zu organisieren.
({2})
Insofern wird über den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen nicht nur dem Einzelnen geholfen, was ja
wichtig ist, sondern gleichzeitig auch die Verantwortung
der Staaten und ihrer Regierungen für die Bevölkerung
gefördert. Die Akzeptanz eines solchen Systems setzt
Transparenz und Rechenschaftspflicht über die Verwendung von Mitteln voraus. Letztendlich sollen dadurch
auch gute Regierungsführung unterstützt und Korruption
bekämpft werden. Das alles sind Dinge, die wir gemeinsam wollen.
Dem Aufbau eines sozialen Basisschutzes im Gesundheitsbereich kommt deshalb besondere Bedeutung
zu. Er muss aus meiner Sicht gut organisiert werden;
denn das Menschenrecht auf Gesundheit ist ein öffentliches Gut. Nur so kommen wir in diesem Bereich weiter.
({3})
Jeder Staat hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich
alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrem Einkommen auf eine gute medizinische Versorgung verlassen können. Das heißt eben auch, dass die Finanzierung
der Gesundheitsstrukturen Teil der staatlichen Daseinsvorsorge ist und nicht an Stiftungen und andere delegiert
werden kann.
({4})
Im Zusammenhang mit dem Social Protection Floor
bietet sich jetzt die Gelegenheit, gemeinsam voranzukommen. Die Weltbank arbeitet gerade an einer Strategie. Auch die Europäische Union ist zurzeit dabei, genau
dieses Projekt zu unterstützen. Leider hat unser Bundesminister Niebel noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt;
vielleicht passiert dies noch.
({5})
Wir wollen, dass er sich zumindest für die Umsetzung
dieser internationalen Strategien einsetzt. Wie anders ist
es zu erklären, dass der Minister auch in diesem Jahr
verweigert, die soziale Sicherung als thematische Zielgröße im Haushalt wieder einzuführen, so wie es zum
Beispiel 2009 war.
({6})
Eine Unterstützung für den Aufbau notwendiger
Strukturen ist hier leider nicht zu sehen. In der nächsten
Woche findet in Cannes der G-20-Gipfel statt. Auch hier
soll das Thema Soziale Sicherung ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Man höre und staune, auch der französische Staatspräsident unterstützt den Social Protection Floor, und zwar mit dem Hinweis, dass dies jetzt
dringend erforderlich ist.
Wenn sich alle - die Arbeitsminister, die Sozialminister und die Entwicklungsminister - im Rahmen der G 20
so einig sind, dann können wir ja alle beim Wort nehmen. Ich fordere unsere Bundeskanzlerin daher auf, dieses Projekt beim G-20-Gipfel zu unterstützen und
gleichzeitig 100 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, damit die Umsetzung dieses Programms auch von
uns unterstützt werden kann. Sie sollen nicht nur reden,
sondern auch zu Taten schreiten. Das wäre mein Wunsch
für dieses Projekt.
({7})
Jenseits unserer Parteigrenzen ist jetzt die Stunde gekommen, um mit den sozialen Sicherungssystemen ernst
zu machen. Wenn der G-20-Gipfel erfolgreich wird,
dann können wir uns alle freuen. Das wäre ein gutes Zeichen. Dann sollten wir in der Bundesrepublik dies entsprechend mit Geld, Kompetenz und internationaler Zusammenarbeit unterstützen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Roth. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Sabine Weiss. Bitte
schön, Frau Kollegin Sabine Weiss.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Stellen wir uns
einmal kurz folgendes Szenario vor: Ein Familienvater
wird krank. Es muss gar nichts Ernstes sein, aber etwas,
das den Bewegungsapparat so einschränkt, dass an körperliche Arbeit nicht mehr zu denken ist. Unter Umständen sind einige medizinische Behandlungen nötig. Er
kann für ein paar Wochen nicht arbeiten. Damit ist der
Job futsch. Die Familie muss für die Behandlungskosten
aufkommen und hat kein Einkommen mehr. Da die Familie keinerlei Ersparnisse hat, muss sie sich das Geld
für die Behandlung leihen. Ohne Einkommen ist nicht
genügend Geld für Nahrung da. Die Familie hungert und
verliert ihr Heim. Sie rutscht damit immer tiefer in die
bittere Armutsspirale ab.
Der ein oder andere, den man fragen würde, würde
ein solches Szenario wahrscheinlich eher mit einem düsteren Schinken über den Beginn der Industrialisierung
oder das Mittelalter in Verbindung bringen als mit einer
aktuell dringlichen Problemlage. Solche Horrorszenarien gehören hier bei uns in Deutschland Gott sei Dank
der Vergangenheit an. Denn wir haben funktionierende
soziale Sicherungssysteme.
In vielen Teilen dieser Welt ist ein solch düsteres Lebensszenario bittere Realität. Wir haben es gerade schon
gehört, aber man kann es nicht häufig genug wiederhoSabine Weiss ({0})
len, Frau Kollegin Roth: 80 Prozent der Weltbevölkerung verfügen über keinerlei Absicherung gegen die
vielfältigen Lebenskrisen wie Krankheit, Alter oder Erwerbslosigkeit. Jedes Jahr stürzen 100 Millionen Menschen aufgrund von Kosten, die sie für Gesundheitsdienste aus der eigenen Tasche bezahlen müssen, ins
Elend von Armut und Hunger. Da wird für ganze Familien der Erhalt der Arbeitsfähigkeit des Ernährers oder
der Ernährerin überlebenswichtig. Schon ein kurzfristiger Ausfall kann Hunger, Armut und Chancenlosigkeit
bedeuten.
Eine weitere Hürde ist das Alter ohne jegliche Alterssicherung. Wir können uns sicherlich alle vorstellen:
Ohne jegliche Alterssicherung ist der Lebensabend
wahrlich kein Ruhestand, sondern schlichtweg die Hölle.
Auch in den Entwicklungsländern lösen sich die traditionell familiären Systeme auf, sodass die alten Menschen
immer häufiger nicht mehr von der Familie versorgt
werden können. Zudem wird der demografische Wandel
in vielen Entwicklungsländern bald signifikant zu spüren
sein. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wird sich die
Zahl der über 60-Jährigen in den Entwicklungsländern
voraussichtlich vervierfachen. Die Herausforderungen
sind also immens, und die Zeit drängt.
({1})
In den Ländern, in denen eine bescheidene soziale Sicherung in der einen oder anderen Form bereits gewährt
wird, profitieren häufig nur die Beschäftigten des formellen Sektors davon. Da rund 90 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor arbeiten, bleiben sie
schlichtweg außen vor. Insbesondere die Frauen und
Kinder sind mal wieder die Leidtragenden.
Ich bin der Meinung und der festen Überzeugung,
dass der Aufbau von tragfähigen sozialen Sicherungssystemen ein zentraler Punkt bei der strukturellen Armutsbekämpfung und der nachhaltigen Entwicklung sein
muss. Erfolgreich wird er dann sein, wenn es gelingt,
auch die armen und armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen wie Kinder, Menschen mit Behinderung, Alte
oder Minderheiten sowie den informellen Sektor einzubeziehen.
({2})
Dabei geht es nicht darum, unser deutsches System
anderen Länder einfach überzustülpen; das haben auch
Sie gerade erwähnt, Frau Roth.
({3})
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit kann die
Partnerländer mit ihrem Know-how und ihren Ressourcen bei der Ausgestaltung von Sicherungssystemen unterstützen. Diese Sicherungssysteme müssen dann auf
das jeweilige Land, seine Bedürfnisse und den Entwicklungsstand zugeschnitten sein; eine Blaupausenlösung,
Frau Kollegin, gibt es nicht.
({4})
Zudem muss das jeweilige Land den unbedingten,
aber auch unauslöschlichen Willen haben, an der Implementierung von sozialer Absicherung auch gegen Widerstände dauerhaft festzuhalten.
({5})
Nur so - nur dann, wenn die Länder und Regierungen
mitmachen - kann ein solch langwieriger Reformprozess
zum Erfolg werden. Dabei ist nicht in erster Linie - hier
muss ich Ihnen widersprechen - das Geld aus unserem
Lande wichtig. Die wenigsten Herausforderungen in der
Entwicklungszusammenarbeit sind einfach, quasi mit einem Handstreich, zu bewältigen; das wissen wir alle.
Sich den schwierigen Herausforderungen stellen und
nach Lösungen suchen, das machen alle Entwicklungspolitiker mit viel Herzblut und sehr viel Engagement.
Der Aufbau von nachhaltigen sozialen Sicherungssystemen, die alle Bevölkerungsgruppen einschließen,
ist ein ganz schön großer Brocken, bei dem es die Partnerländer zu unterstützen gilt. Sozialtransferprogramme
in bestimmten Regionen für bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Gutscheine für medizinisch begleitete Geburten oder andere medizinische Behandlungen - wir
alle kennen solch gute Projekte - sind erfolgreiche Programme. Die Herausforderungen bei der Umsetzung
sind zwar insgesamt groß, aber, wie ich denke, noch
schulterbar.
Der Auf- und Ausbau diskriminierungsfreier, effizienter und aus Steuern und Beiträgen finanzierter Gesundheitssysteme mit Sozialausgleich in Entwicklungsländern, wie es in Ihrem Antrag steht, ist jedoch eine
neue Dimension der Herausforderung, ein gigantischer
Auftrag, den man nicht erst locker-flockig fordert und
dann in der Tagesordnung weitermacht. Frau Kollegin,
ich denke, das haben Sie auch nicht beabsichtigt.
({6})
Machen wir uns nichts vor - das muss man immer
wieder betonten -: Der Aufbau dauerhaft funktionierender sozialer Sicherungssysteme für alle Bevölkerungsgruppen ist eine Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte.
80 Prozent der Menschheit haben bis jetzt keine soziale
Absicherung. Viele Entwicklungsländer verfügen zudem
noch nicht einmal im Ansatz über die Strukturen zur Implementierung und Durchsetzung von sozialen Sicherungssystemen, die gegen die dringendsten Lebensrisiken schützen. Da kann es nicht einfach nur einen
Paukenschlag geben und alles ist gut. Der Aufbau von
sozialer Sicherung in Entwicklungs- und Schwellenländern ist und bleibt ein Mammutprojekt, für das wir alle
einen langen Atem brauchen. Dennoch - oder gerade
deshalb - müssen wir diese Herausforderung dringend
und konsequent angehen.
Der Aufbau von transparenten und nachhaltigen
Steuer- und Verwaltungssystemen sowie die Einführung
überprüfbarer Geburtenregister in den Schwellen- und
Entwicklungsländern sind ebenfalls gewaltige, sicherlich aber auch unabdingbare Aufgaben, bei denen wir
die betroffenen Länder unterstützen müssen.
Sabine Weiss ({7})
Erlauben Sie mir, ganz kurz von meinen persönlichen
Erfahrungen zu berichten. Seit etwa 19 Jahren verbringe
ich meinen Jahresurlaub in einem philippinischen Dorf.
Auch wenn die Philippinen in vielen Verwaltungsbereichen schon relativ weit sind, genießt die korrekte und
zeitnahe Eintragung ins Geburtsregister keinen allzu
großen Stellenwert, und das ist schon recht vorsichtig
umschrieben.
({8})
Vom Thema Steuereintreibung oder vom Steuernzahlen
fange ich lieber gar nicht erst an, nur so viel: Falls doch
einmal irgendein Finanzangestellter in unsere Gegend
aufs Dorf kommt und den wirklich reichen Großgrundbesitzern einen Besuch abstattet, so endet dieser Besuch
selten damit, dass der Großgrundbesitzer Steuern zu zahlen hat - zumindest nicht an eine staatliche Stelle. Das
ist in vielen Ländern nicht anders. Daran zeigt sich allerdings, wie groß die Herausforderung ist
({9})
und welche Strukturen in langwierigen Prozessen verändert werden müssen.
Die Partnerländer brauchen unsere Unterstützung
beim Aufbau von tragfähigen Steuer- und Verwaltungssystemen. Die soziale Grundsicherung ist ein zentraler
Punkt bei der nachhaltigen Bekämpfung von Armut. Von
schnellen und einfachen Lösungen sollte man bei diesen
Themen aber nicht ausgehen. Hier ist ein sehr langer
Atem gefragt. Dass es sich lohnt, ihn zu haben, steht für
mich allerdings außer Frage.
Es gibt einige Punkte in Ihrem Antrag, denen wir sicherlich zustimmen können - auch weil sie bereits Regierungshandeln sind. Anderen Punkten, wie zum Beispiel der Budgethilfe, werden wir, denke ich, nicht
zustimmen.
({10})
Bei der zweiten und dritten Lesung können wir uns
dann ja auf diese Fragen konzentrieren und uns mit der
gewohnten Hartnäckigkeit über den richtigen Weg streiten. Ich freue mich darauf.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Weiss. - Der nächste
Redner ist unser Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Herr Kollege Movassat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hälfte
der Menschen auf der Welt hat keinen Zugang zu sozialer Sicherung. Die Hälfte der Menschen auf der Welt ist
daher Krankheiten, Arbeitslosigkeit und Armut schutzlos ausgeliefert. Durch soziale Sicherungssysteme werden die Risiken, die Armut und die Not, Kinder zur Arbeit statt zur Schule schicken zu müssen, damit Geld ins
Haus kommt, verringert. Deshalb ist die soziale Sicherheit für alle Menschen, ob in Deutschland oder in den
Entwicklungsländern, ein zentrales Anliegen für die
Linke.
({0})
Es gibt drei Wege für Entwicklungsländer, soziale Sicherungssysteme aufzubauen:
Erstens durch nationale Strategien mit Unterstützung
von außen. Ein Beispiel dafür ist der Gesundheitsbereich
in Ruanda. Ruanda hat in Zusammenarbeit mit dem Globalen Fonds ein Krankenversicherungssystem eingeführt. Für 1,50 Euro pro Jahr bietet es eine medizinische
Grundversorgung. Über 90 Prozent der Bevölkerung
werden heute davon erfasst. Allein die Kindersterblichkeit konnte dadurch um zwei Drittel gesenkt werden.
Finanziert wird diese Krankenversicherung unter anderem - Frau Weiss, hören Sie zu - über Budgethilfeprogramme. Das zeigt, wie wirksam diese sind. Wer von
Partnerschaft auf Augenhöhe redet, der muss den Partnerländern vertrauen. Deshalb bedarf es statt weniger
Budgethilfe viel mehr davon.
({1})
Zweitens kann man Sozialsysteme durch eigenes
Wirtschaftswachstum und die dadurch erzielten Steuereinnahmen finanzieren. So wird die breite Bevölkerung
am wachsenden Wohlstand beteiligt. Hier ist Brasilien
zu nennen, wo ich mich im August vor Ort selbst von
den Erfolgen überzeugen konnte. Dort gibt es das Programm Bolsa Familia. Das ist faktisch eine Sozialversicherung. Dadurch werden derzeit an 36 Millionen Brasilianer bis zu 78 Euro im Monat ausgezahlt. Zusammen
mit anderen Maßnahmen wurden dadurch 25 Millionen
Menschen aus der Armut befreit.
Drittens kann man Sozialsysteme durch Umverteilung aufbauen. Hier ist Bolivien zu nennen. Früher wurden die Gas- und Rohstoffvorräte zu Schleuderpreisen
an internationale Konzerne verscherbelt. Die Bevölkerung hatte bis auf eine reiche Oberschicht nichts davon.
Dann hat Bolivien seine Gas- und Rohstoffvorräte verstaatlicht. Die Regierung hat mit dem Geld Sozialsysteme aufgebaut. Sie zahlt Schulgeld für Kinder, es gibt
eine Altersversorgung und eine soziale Absicherung für
Mütter. Über ein Viertel der Bolivianer hat dank dieser
Programme mittlerweile die Chance, der Armut zu entkommen.
({2})
Außerdem wurde die Binnennachfrage angekurbelt.
Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt stieg in nur drei
Jahren um über 60 Prozent. Das ist wirklich eine hervorragende Leistung.
Die Umverteilung von oben nach unten ist letztlich
der zentrale Punkt. Durch die sozialen Sicherungssysteme wird vieles abgefedert. Für stabile Sicherungssysteme und eine grundlegende Armutsbekämpfung ist aber
eine gerechte Verteilung des Reichtums notwendig; denn
1 Milliarde Menschen auf der Welt muss mit weniger als
1,25 Dollar pro Tag ihre Existenz fristen. Sie führen einen täglichen Kampf ums Überleben. Gleichzeitig
nimmt die Zahl der Superreichen auch während der aktuellen Krise zu. Heute besitzen die reichsten 10 Prozent
85 Prozent des Weltvermögens. Im Klartext heißt das:
Die einen trinken Champagner, und die anderen müssen
im Müll wühlen, um sich und ihre Kinder über den Tag
zu bringen. Das ist der Skandal des 21. Jahrhunderts.
({3})
Statt Verteilungsgerechtigkeit zu fördern, statt so soziale Absicherung voranzubringen, wurde durch den Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten das Gegenteil verursacht. Die Idee dahinter: Der Markt richtet das schon.
Auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds propagieren dies. Seit dem Washington Consensus
im Jahr 1990 haben diese Institutionen soziale Sicherungssysteme verhindert oder gar zerstört; denn die
Entwicklungsländer wurden gezwungen, ihre Märkte zu
öffnen und öffentliche Unternehmen zu privatisieren. Sie
mussten Subventionen für Grundbedarfsartikel wie
Strom, Wasser und Nahrungsmittel streichen.
Schauen Sie nach Kenia. Das Land wurde durch die
Weltbank und den Internationalen Währungsfonds gezwungen, Getreidesubventionen zu kürzen. Die aktuelle
Hungerkatastrophe in Ostafrika, von der über 14 Millionen Menschen betroffen sind, auch in Kenia, hat viel mit
steigenden Nahrungsmittelpreisen zu tun. Getreidesubventionen hätten die Bevölkerung davor geschützt und
somit vor Hunger und Tod bewahrt. Das neoliberale Modell tötet Menschen und gehört endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte.
({4})
Der Internationale Währungsfonds hat aus seinen
Fehlern nichts gelernt. Seine Fachexpertise in der Zerstörung von sozialen Sicherungssystemen ist gerade
auch in Griechenland und Portugal gefragt. In dem SPDAntrag wird gefordert, ausgerechnet mit diesen Organisationen in ihrer heutigen Form beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme eng zusammenzuarbeiten. Damit machen Sie den Bock zum Gärtner.
({5})
Auch die Weltbank lernt nichts dazu. Aktuell plant sie
die Einführung eines neuen Finanzierungskonzepts, das
sogenannte Program for Results, für einen Teil ihrer Projekte. Sozial- und Umweltstandards und Transparenzrichtlinien werden bei diesen Projekten nicht gelten. So
baut die Weltbank soziale Sicherheit eher ab. Deshalb
muss Deutschland dazu Nein sagen.
Laut SPD sollen die Entwicklungsländer vor allem eigene finanzielle Mittel für soziale Sicherungssysteme
aufbringen. Da können wir mitgehen, aber unter einer
Bedingung: Wir müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändern, und zwar dahin gehend, dass die
Entwicklungsländer Staatsaufgaben wie die soziale Absicherung der Bevölkerung eigenständig finanzieren
können. Das heißt, Schluss mit den EU-Freihandelsabkommen, die diese Länder zur Marktöffnung zwingen.
Stattdessen Anerkennung des Rechts, Schutzzölle zu erheben.
({6})
Dies ist die einzige Chance, den eigenen Markt vor
der Überflutung durch subventionierte Billigprodukte
wie Milch oder Hähnchenschenkel aus Europa zu schützen. Nur durch Zölle können außerdem Arbeitsplätze
vor Ort geschützt werden. Nur durch Zölle können Einnahmen geschaffen werden, um soziale Sicherungssysteme aufbauen zu können.
Außerdem müssen wir europäische Unternehmen, die
Menschen in Entwicklungsländern brutal ausbeuten, hier
zur Rechenschaft ziehen. Nur damit wir hier billige Klamotten tragen können, darf es doch nicht sein, dass auch
deutsche Konzerne die bangladeschische Näherin für
14 Cent die Stunde 15 Stunden am Tag unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten lassen. Unternehmen,
die das machen, verletzen Menschenrechte, torpedieren
soziale Sicherheit und gehören vor Gericht!
Zum Schluss möchte ich sagen: Private Unternehmen
haben beim Aufbau von Sozialsystemen nichts zu suchen. Dann gibt es kein Solidarprinzip. Dann werden
nicht alle Menschen erreicht. Geschäfte machen kann
man woanders. Soziale Sicherung ist Staatsaufgabe. Ich
teile es sehr, werte Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, dass es in Ihrem Antrag heißt: Starke Schultern
sollen mehr als schwache tragen. Aber ich finde es paradox, dass Sie sich jetzt als Vorreiter globaler sozialer Sicherungssysteme inszenieren.
({7})
Ich darf Sie erinnern: Sie haben Hartz IV eingeführt.
Sie haben den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent
gesenkt. Sie haben dafür gesorgt, dass hierzulande die
starken Schultern entlastet und die schwachen belastet
werden. Aber es ist gut, wenn Sie gelernt haben, dass die
Schere zwischen Arm und Reich weltweit geschlossen
werden muss, sonst wird es keine soziale Sicherheit geben. Nirgendwo!
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Movassat. Jetzt für die
Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Helga Daub.
Bitte schön, Frau Kollegin Daub.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! „Soziale Sicherung als Motor solidarischer
und nachhaltiger Entwicklungspolitik“ - das ist eine
Aussage, die wir durchaus unterstützen. Vielen Ansätzen
des Antrages stimmen wir zu. Es ist auch gut, dass die
Gesundheitspolitik viel Raum einnimmt. Gerade durch
mangelnde Gesundheit kommt es eben zu dem Teufelskreis Krankheit - Erwerbslosigkeit - Armut. Diesen
wollen wir durchbrechen. Aber auf dem Weg dorthin haben wir andere Instrumente.
Frau Roth, Sie haben gesagt, diese Regierung habe
die thematische Zielgröße Soziale Sicherung abgeschafft. Das stimmt aber nicht. Im Jahr 2009 hat die
Bundesregierung ein verbindliches Sektorkonzept eingeführt - Herr Kekeritz ist Zeuge; er hat im Gegensatz zu
Ihnen an der Veranstaltung teilgenommen -, das die Mittel in andere Programme integriert und ein wichtiges
Element einer Gesamtstrategie ist.
({0})
Es geht auch nicht immer nur um Geld, sondern auch
um Wirksamkeit und Nachhaltigkeit.
Übrigens kommen wir gerade bei der sozialen Sicherung ohne wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht aus.
Partnerschaftliche wirtschaftliche Zusammenarbeit
schafft Arbeitsplätze. Arbeitsplätze wiederum bringen
Menschen in Lohn. Lohn bringt Steuern, und mit Steuern lassen sich Sozialsysteme aufbauen. Die Voraussetzung ist natürlich, dass wir eine gute Regierungsführung
haben. In diesem Punkt müssen wir investieren.
({1})
Die Budgethilfe ist dabei nicht unbedingt unser Ansatz. Das wiederum steht nicht im Antrag. Sogar bei der
EU, die bislang quasi einen Schutzwall - ich verwende
das deutsche Wort - um die Budgethilfe errichtet hatte,
ist inzwischen ein Umdenken festzustellen. Die Positionen der EU und des BMZ haben sich inzwischen angenähert.
Sicherlich bedarf es zu Beginn einer Basisfinanzierung für die soziale Sicherung und speziell das Gesundheitssystem. Das findet, wie gesagt, zum Teil in andere
Programme integriert mit der finanziellen Zusammenarbeit statt. Das haben wir Dienstagmorgen gehört. Es sind
verschiedene Modelle, zum Beispiel mit Gutscheinen,
denkbar. Dazu kommen externe Geber wie Unicef, Global Fund und GAVI. Diese erhalten ihrerseits aus vielen
Ländern und nicht zuletzt in erheblichem Maße auch von
der Bundesregierung Mittel.
Im Übrigen bin ich sehr froh, dass den behinderten
Menschen im Ministerium nun mehr Beachtung geschenkt wird. Weltweit sind mehr als 15 Prozent der
Menschen behindert, davon 80 Prozent allein in Entwicklungsländern. Hier zu helfen ist eine große Herausforderung, der sich diese Regierung stellt.
({2})
Die WHO hat auch eine wichtige Rolle im Aufbau
von Gesundheitssystemen - das ist klar -, aber zunächst
einmal ist die WHO ihrerseits selber in einem umfassenden Reformprozess, weil ihr, wie es oft bei großen Organisationen der Fall ist, im Laufe der Zeit viel zu viele
Aufgaben zugewachsen sind. Wir wollen ihren Reformprozess abwarten, bevor wir unsererseits weitere Forderungen stellen. Die Regierung begleitet diesen Prozess
finanziell und auch ideell.
Ich sage an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich:
Die Zielgröße Soziale Sicherheit ist von dieser Bundesregierung keineswegs abgeschafft, sondern in andere
Programme integriert worden. Leider haben Sie wieder
einmal ein berechtigtes Anliegen genutzt, um gegen die
Regierung zu wettern.
({3})
- Ja, natürlich. Das muss so sein. Sie werden verstehen,
dass wir deshalb dem Antrag so noch nicht zustimmen
können.
({4})
Sie haben im Vorfeld gesagt, Sie könnten sich durchaus eine sektorale Budgethilfe vorstellen und damit einverstanden erklären. Sie haben meine Ausführungen
zum Integrieren in andere Programme und zur Gesamtstrategie gehört: An dieser Stelle ist auch die sektorale
Budgethilfe nicht unbedingt zielführend.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Genau so habe ich es mir vorgestellt: Die SPD und die Grünen werden sich mokieren, dass die unabhängige und
selbstständige Zielgröße „Aufbau von sozialen Sicherungssystemen“, die im Haushalt auch klar definiert
werden müsste, verschwunden ist. Ich habe auch erwartet, werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, dass Sie in Ihren Beiträgen sehr stark
die Notwendigkeit des Aufbaus sozialer Sicherungssysteme betonen werden. Das haben Sie gemacht, und zwar
sehr gut. Wir können Ihren Argumenten zu 95 Prozent
folgen. Ich finde, das ist eine gute Sache.
Die große Gap, die große Leere besteht allerdings
zwischen Ihren Ausführungen und der Position des
Ministers. Der Minister versucht oft, sich gegen vernünftige Entwicklungen und Tendenzen durchzusetzen. Aber
ich möchte an dieser Stelle die Position des Ministers
nicht überhöhen; denn international ist längst klar, in
welche Richtung es gehen muss. Wir brauchen einen eigenständigen, klar definierten Rahmen für den Aufbau
sozialer Sicherungssysteme. WHO, ILO, UNFPA, G 20,
Weltbank sowie afrikanische und asiatische Entwicklungsbanken lassen überhaupt keinen Zweifel mehr daran, dass der Aufbau von Sozialsystemen eine fundamentale Voraussetzung für Entwicklung ist. Es ist
eigentlich selbstverständlich, dass die deutsche Entwicklungspolitik den Aufbau sozialer Sicherungssysteme als
eigenständige Zielgröße im Haushalt klar definiert.
({0})
Wir finden seit Jahren folgende groteske Situation
vor: Die Wirtschaft wächst gerade in Schwellen- und
Entwicklungsländern rasant. Mindestens 16 afrikanische
Länder erreichen seit Mitte der 90er-Jahre ein jährliches
Wachstum von durchschnittlich 4,5 Prozent. Einige Länder erreichen zurzeit sogar 10 Prozent und mehr. Wir
können definitiv sagen: Afrika boomt. Allerdings bedeutet Wirtschaftswachstum nicht Armutsminderung. Im
Gegenteil: Die Zahl der Armen hat sich im gleichen
Zeitraum in vielen Ländern Afrikas deutlich erhöht.
Was wir über Jahre beobachten mussten und zu einem
nicht unwesentlichen Teil mit befördert haben, ist eine
dramatische Spaltung der Gesellschaften überall auf der
Welt. Schauen wir einmal nach China. Trotz eines langanhaltenden starken Wachstums hat sich der Gini-Koeffizient in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt. Das
besagt nichts anderes, als dass die Verteilung immer ungerechter wird. Auch die Tatsache, dass sich inzwischen
ein Mittelstand in China herausbildet, ändert daran
nichts. Die gleichen Entwicklungen haben wir in Afrika
und in den Industrienationen zu verzeichnen. In den
USA ist es am schlimmsten. Die Verteilungsverhältnisse
der USA sind heute auf dem Stand von 1920. Auch in
der Bundesrepublik gibt es Verteilungsungerechtigkeit.
Die untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher haben in den letzten zehn Jahren 22 Prozent ihres Einkommens verloren. Der Reichtum nimmt zu, während die
Menschen ärmer werden.
Ein solidarisches Miteinander und eine gerechte Verteilung sind nötiger denn je. Menschen brauchen sozialen Schutz, und dafür brauchen wir staatlich verantwortete Systeme sozialer Sicherung.
({1})
Wer heute noch immer glaubt, dass der Markt irgendetwas reguliert, hat die Marktprinzipien nicht kapiert. Ein
freier, unkontrollierter Markt kennt nur eine einzige Regel, und das ist das Recht des Stärkeren. „The winner
takes it all“ - die Ideologie von Margaret Thatcher - ist
das neoliberale Credo einer unkritischen Marktorientierung. Unsere Empfehlung an den Minister lautet: Versuchen Sie, aus den letzten 30 Jahren der Wirtschafts- und
Sozialgeschichte endlich vernünftige Schlüsse für die
deutsche entwicklungspolitische Agenda zu ziehen!
({2})
Wir müssen uns von der Annahme verabschieden,
dass soziale Sicherung in erster Linie ein Kostenfaktor
ist. In Deutschland wird zwar immer über Kosten geklagt. Krankenversicherung und Rentenversicherung
sind sicherlich kostspielig. Mit Geld muss vernünftig
und gerecht umgegangen werden; daran besteht kein
Zweifel. Aber stellen wir uns einmal vor, wie es in diesem Land aussähe, wenn es keine funktionierende Krankenversicherung und kein funktionierendes Rentensystem gäbe! Wie sähe Deutschland dann aus? Deshalb ist
es richtig, das seit 1948 bestehende Menschenrecht auf
soziale Sicherung als gesellschaftlichen Produktivfaktor
anzusehen. Die volkswirtschaftlichen Vorteile sind wohl
jedem bekannt.
Grundeinkommensmodelle haben sich - Frau Weiss
hat das bereits angesprochen - als unkomplizierte Instrumente mit geringem Aufwand und besten Ergebnissen in vielen Ländern erwiesen. Bereits 1997 gab es in
Mexiko das Programm Progresa, das 2002 den Namen
Oportunidades erhielt. Die Zusammenfassung der Evaluierungen, die stattgefunden haben, sind ganz einfach
als extrem positiv zu bezeichnen. Nach drei Jahren wurden deutliche Verbesserungen festgestellt: bei der Ernährungssituation der Kinder, im schulischen Bereich,
im gesundheitlichen Bereich. Die Kleinkriminalität ist
zurückgegangen. Die Sicherheit, die durch geringe Zahlungen an die Menschen erzielt worden ist, hat ökonomisch positive Auswirkungen: Handwerk, Handel und
andere Dienstleistungen haben zugenommen. Der Bürgermeister von New York, Bloomberg, hat dieses Programm für New York adaptiert. In Brasilien und in vielen anderen Ländern wird das System mit großem
Erfolg übernommen.
Ich finde, der Antrag der SPD-Fraktion kommt zur
richtigen Zeit. Wir dürfen nicht aus wirtschaftszentrierten Grundeinstellungen sinnvolle Entwicklungen boykottieren. Wir müssen den Aufbau sozialer Sicherungssysteme unterstützen. Länder mit funktionierenden
sozialen Systemen sind politisch stabile Länder. Ohne
soziale Sicherheit gibt es in keinem Land dieser Erde
Stabilität und auch keine positive Entwicklung. Deshalb
muss die eigenständige Zielgröße „soziale Sicherung“
wieder auf die Prioritätenliste unserer entwicklungspolitischen Agenda gesetzt werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Klimke von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich möchte betonen: Armutsbekämpfung war und ist eines der wichtigsten Ziele
deutscher und internationaler Entwicklungszusammenarbeit und wird dementsprechend in den Millenniumsentwicklungszielen gewürdigt. Dass wir beim Erreichen
dieser Ziele nicht genügend vorankommen, ist eine Tatsache. Es ist aber für uns Entwicklungspolitiker eine
Herausforderung, bis zum Jahre 2015 noch deutliche
Verbesserungen zu erreichen. Das haben wir uns vorgenommen, und das versprechen wir auch.
Es ist auch unbestritten, dass gerade in den am wenigsten entwickelten Ländern nur geringe Fortschritte
oder gar Rückschritte zu verzeichnen sind. Deswegen
halte ich es für einen überlegenswerten Ansatz, die ent16158
wicklungspolitische Unterstützung des Aufbaus von sozialen Sicherungssystemen zu überprüfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie merken, dass
ich mich etwas vorsichtig ausdrücke. Das liegt nicht
etwa daran, dass ich den Zusammenhang zwischen dem
Aufbau sozialer Sicherungssysteme und der Armutsbekämpfung nicht einsehe. Im Gegenteil: Ich glaube schon,
dass hier eine direkte Wechselwirkung besteht. Aber ich
möchte doch einige Bedenken äußern, die sich vor allem
auf Maßnahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit beziehen. Vier Punkte möchte ich ansprechen.
Erstens. Soziale Sicherungssysteme benötigen eine
Infrastruktur, die also vorhanden sein muss, und eine
leistungsfähige Bürokratie. Wenn es nicht einmal eine
wirksame Geburtenregistrierung, ein wirksames Ausweissystem oder eine Steuerverwaltung gibt, dann sind
dem Missbrauch von Sozialleistungen und der Korruption Tür und Tor geöffnet. Gerade die am wenigsten entwickelten Länder haben in diesem Bereich die größten
Probleme. Somit ist das Instrument gerade da nicht anwendbar, wo es am dringendsten benötigt wird.
Zweitens. Soziale Sicherungssysteme - das brauche
ich Ihnen nicht zu erzählen - kosten viel Geld. Ich will
nicht auf die Größe unseres Sozialetats hinweisen. Selbst
bei Basisleistungen muss viel mehr Geld eingesetzt werden, als uns heute zur Verfügung steht. Das scheint auch
der SPD bewusst zu sein; denn sie fordert in ihrem Antrag die Nutzung von Budgethilfe. Dieses sehen wir als
problematisch an.
({0})
Das gilt vor allem dort, wo wir es mit schlechter Regierungsführung zu tun haben. Das ist leider in dem einen
oder anderen Entwicklungsland der Fall.
({1})
Drittens. Soziale Sicherungssysteme schaffen nur in
begrenztem Maße einen selbsttragenden Aufschwung.
Einer möglicherweise besseren Motivation der Arbeitnehmer und einer Stärkung der Binnennachfrage stehen
höhere Arbeits- und Lohnkosten gegenüber, die erst
durch Effizienzgewinne erarbeitet werden müssen.
Wenn eine rückständige Wirtschaft soziale Sicherungssysteme finanzieren muss, wird das kaum aus eigenen
Kräften möglich sein. Wenn die soziale Sicherung
fremdfinanziert wird, klaffen Wirtschaftsleistung und
Lebensstandard irgendwann auseinander. Am Beispiel
Griechenland können wir uns vergegenwärtigen, wohin
das führt.
Viertens. Aus meiner Sicht muss man schrittweise vorangehen. Es geht zunächst darum, die Grundlagen herzustellen, also gute Regierungsführung und funktionierende staatliche Strukturen. Dann geht es um die
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung verlässlicher Steuereinnahmen. Erst dann ist die
Implementierung sozialer Sicherungssysteme in einem
größeren Umfang möglich. Die Kosten dafür müssen
zum überwiegenden Teil durch den jeweiligen Staat
selbst getragen werden, da dauerhafte Transferleistungen
Abhängigkeiten erzeugen. Insofern halte ich den Aufbau
sozialer Sicherungssysteme vor allem für weiterentwickelte Schwellenländer für ein sehr geeignetes Instrument der Armutsreduzierung.
Trotz dieser Zweifel sollte immer der Einzelfall geprüft werden. Es gibt sicherlich Fälle, in denen soziale
Basisleistungen erheblich zur Armutsreduzierung beitragen können und in denen Voraussetzungen zur Umsetzung gegeben sind. Grundsätzlich sehe ich auch in diesen Fällen die größten Chancen im Know-how-Transfer.
Vorteilhaft sind aus meiner Sicht vor allem internationale Ansätze, wie das Konzept des Social Protection
Floor. Ich sehe gerade hier den Ansatz, Menschen im informellen Sektor zu helfen, als wegweisend an. Ich erhoffe mir in dieser Frage vor allen Dingen von den Ausschussberatungen konstruktive Diskussionen.
Ich möchte noch auf einen anderen Bereich eingehen:
auf den Einfluss auf die soziale Situation vieler Menschen in den Entwicklungsländern. Es geht mir um das
Thema „menschenrechtliche Unternehmensverantwortung“; das ist hier vorhin kurz angesprochen worden.
Hier haben wir mit den Leitlinien der UNO bzw. der
OECD in diesem Jahr auf internationaler Ebene deutlich
klarere Rahmenbedingungen erreicht. Es geht darum, die
deutschen Unternehmen noch stärker zu sensibilisieren
und zur Einhaltung der aufgestellten Prinzipien anzuregen. Auch hier gibt es Bewegung. Immer mehr Unternehmen verpflichten sich zur Einhaltung der Leitlinien
im Rahmen der Corporate Social Responsibility, also zu
sozialer Verantwortung.
Ich vertrat schon immer die Auffassung, dass diese
Einsicht allein nicht ausreicht. Bei manchen Unternehmen kann man auf Einsicht lange warten. Hier sind zum
Beispiel die Medien gefordert, die Verbraucher zu informieren. Ich plädiere außerdem für ein europaweites Textilsiegel „social made“, an dem jeder erkennen kann, ob
bei Herstellung eines Textilproduktes bestimmte soziale
Mindeststandards eingehalten worden sind.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, derzeit erarbeitet
die Bundesregierung unter Federführung des Bundesarbeitsministeriums eine entsprechende Strategie. Diesen
Prozess begleiten wir als Entwicklungspolitiker, als
Menschenrechtspolitiker sehr intensiv. Ich vertrete die
Meinung, dass wir den Druck auch auf diejenigen Unternehmen erhöhen müssen, die nicht einmal die internationalen Übereinkommen zur Unternehmensverantwortung mittragen. Wenn ein großes Unternehmen in einer
der letzten Ausgaben von Test sagt, es sage nichts über
die Stätten der Produktion seiner Jeans - sie sind im Übrigen nicht schlecht; dieses Unternehmen heißt mit Vornamen „Hugo“ und mit Nachnamen „Chef“ oder so ähnlich -, dann ist das aus meiner Sicht einfach nicht zu
akzeptieren und muss verurteilt werden.
Ich erwarte von international tätigen Unternehmen,
dass sie sich ihrer sozialen Verantwortung verstärkt beJürgen Klimke
wusst werden und flächendeckend ernsthaft überprüfbare Schritte im Sozialbereich einleiten. Diesen Prozess
werden wir - Sie merken es - kritisch-konstruktiv begleiten.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Stefan
Rebmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema der heutigen Debatte liegt mir
nicht nur als Sozialdemokrat, sondern auch als Gewerkschafter sehr am Herzen. 2,8 Milliarden Menschen müssen am Tag von bis zu 1,50 Euro leben. 1,2 Milliarden
Menschen haben noch nicht einmal 75 Cent am Tag zum
Überleben zur Verfügung.
Etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung lebt heute ohne
Absicherung von Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit,
Krankheit, Alter, Scheidung oder Tod eines Ernährers
oder einer Ernährerin. Die Weltgesundheitsorganisation
sagt, dass Jahr für Jahr etwa 150 Millionen Menschen
Gesundheitskosten tragen müssen, die sie in den Ruin
treiben. Sie müssen die Medikamente, sämtliche Gesundheitsleistungen bis hin zum einfachen Gips für einen gebrochenen Arm aus der eigenen Tasche finanzieren.
Ich denke, wir sind uns hier im Bundestag einig: Wer
nur 75 Cent oder auch weniger als 2 Euro am Tag zum
Überleben zur Verfügung hat, der kann sich eine private
Krankenversicherung nicht leisten. Wenn er sich die
nicht leisten kann, hat er keine Wahl: Er muss sich den
Gips für den gebrochenen Arm vom Mund absparen und
dafür hungern.
Der Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme ist
deshalb aus unserer Sicht für die Armutsbekämpfung
von zentraler Bedeutung. Das fordern im Übrigen auch
zahlreiche internationale Vereinbarungen, die ILO und
die UN-Initiative für eine umfassende soziale Grundsicherung.
2008 wurde in diesem Hause ein von der SPD-Fraktion erarbeiteter Antrag verabschiedet, der zum Ziel
hatte, Entwicklungs- und Schwellenländer beim Aufbau
und bei der Reform von sozialen Sicherungssystemen zu
unterstützen. Unter einer sozialdemokratischen Entwicklungsministerin wurde die Bedeutung der sozialen Sicherung auch dadurch dokumentiert, dass sie als thematische Zielgröße im Haushalt des BMZ verankert war.
({0})
Während die Weltbank und andere Institutionen sich
diesem Ziel angeschlossen haben, hat Schwarz-Gelb die
soziale Sicherung als eigenständige Zielgröße wieder
aus dem Haushalt gestrichen. So ist es, meine Damen
und Herren! Das haben Sie getan, obwohl Sie wissen,
dass in den UN, der ILO und der WHO ein Konzept für
den universellen sozialen Basisschutz erarbeitet wurde.
2012 - die Kollegin Roth hat es schon erwähnt - soll die
Strategie zur Umsetzung dieser Ziele folgen.
Ich wiederhole gern noch einmal die vier Bereiche:
erstens eine garantierte Mindestgesundheitsversorgung
für alle, zweitens Mindesteinkommensgarantien für Kinder, um Kinderarbeit zu verhindern, drittens Unterstützung für Arme und Arbeitslose und viertens Mindesteinkommensgarantien im Alter und für Menschen mit
Behinderungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen endlich
begreifen, dass die Bereitstellung von sozialer Sicherheit
nichts mit Almosen zu tun hat und auch überhaupt nichts
mit Sozialduselei irgendwelcher Gewerkschafterinnen
und Gewerkschafter oder Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
({1})
Soziale Sicherung ist kein Kostenfaktor, sondern sie ermöglicht erst eine nachhaltige Entwicklungspolitik. Nur
wer Gewissheit hat, dass ihn eine für uns eigentlich
harmlose Erkrankung nicht in den Ruin treibt, wer Gewissheit hat, dass ihm geholfen wird, ohne dass er dafür
hungern muss, kann auf Dauer produktiv sein und zum
Wirtschaftswachstum beitragen.
Dazu gehören auch Arbeitsplätze, die menschenwürdig sind, damit echte Entwicklungschancen eröffnet werden.
({2})
Soziale Sicherungssysteme und gute Arbeit sind nicht
nur Ausgangsbedingungen für ein breitenwirksames
Wirtschaftswachstum, sondern auch ein Instrument zur
strukturellen Armutsbekämpfung. Dieser Ansatz wurde
auch auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm und danach
immer wieder bestätigt.
Das Recht auf soziale Sicherheit ist ein verbindlich
verankertes Menschenrecht. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten meinen: Es ist höchste Zeit,
dass wir uns aufmachen, den Menschen zu ihrem Recht
zu verhelfen.
({3})
Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. - In
Deutschland ist es uns gelungen, die Folgen der Finanzund Wirtschaftskrise durch unser Sozialversicherungssystem weitgehend aufzufangen,
({4})
auch wenn es im Gebälk gehörig geknirscht hat. In den
Entwicklungsländern ohne oder mit kaum entwickelten
sozialen Sicherungssystemen gelingt dies aber nicht.
Dort sind die Menschen bei herbeispekulierten Krisen,
wie wir es im Moment wieder erleben, von Armut und
schlimmstenfalls sogar von Hunger bedroht.
Wir gehören nach wie vor zu den reichsten Ländern
der Welt. Deshalb ist es nicht nur unmoralisch, nicht zu
helfen, sondern es ist auch in unserem ureigensten Interesse, beim Aufbau zuverlässiger sozialer Sicherungssysteme zu helfen.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, endlich in diesem Sinne aktiver zu werden.
Noch ein Hinweis an die Linken. Es wäre nett, wenn
Sie auch einen eigenständigen Antrag dazu vorlegen
würden.
An alle sage ich: Lassen wir es nicht bei dem guten
Vorsatz. Der gute Vorsatz ist ein Pferd, das oft gesattelt
wurde, aber nur ganz selten geritten.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die FDP hat jetzt das Wort der Kollege Joachim
Günther.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Roth, der Antrag von Ihnen und Ihrer Fraktion trägt die Überschrift:
Soziale Sicherung als Motor solidarischer und
nachhaltiger Entwicklungspolitik
Ich habe in der ersten Runde niemanden reden gehört,
der diesem Grundanliegen widersprochen hätte.
({0})
In dieser Situation geht es darum, welchen Weg wir gehen, wie wir den Weg gehen und wie es weitergeht. Um
es gleich vorweg zu sagen: In vielen Punkten der Analyse liegen wir nicht weit auseinander. Weil das so ist,
möchte ich die Punkte ansprechen, die wir meiner Meinung nach noch einmal diskutieren sollten, um gemeinsam vielleicht an der einen oder anderen Stelle doch
noch zu einer Lösung zu kommen.
In Ihrem Antrag heißt es unter anderem, dass ein
Mensch, der den Schutz sozialer Absicherung vor
Krankheit und Arbeitslosigkeit genießt, produktiver ist.
Dem kann man nicht widersprechen. Die Ausgangslagen
in den Ländern, um die es geht, sind aber ganz unterschiedlich.
({1})
Wir dürfen die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass gerade jene Staaten, in denen die ärmsten Menschen der Welt leben, meist am Rande der totalen Funktionslosigkeit stehen.
Ihr Antrag kommt deshalb zu der Schlussfolgerung,
dass die soziale Absicherung der Menschen in diesen
Ländern vor allem mit Geld der Geberländer finanziert
werden könnte.
({2})
Wie soll das aber - wenn auch nur zum Teil - praktisch
umgesetzt werden, wenn kaum funktionierende Systeme
in diesen Ländern vorhanden sind?
({3})
Deshalb ist die in Ihrem Antrag enthaltene Forderung,
die Unterstützung sozialer Sicherungssysteme sei auch
durch Budgethilfe zu gewährleisten, unserer Ansicht
nach ein einseitiger Ansatz. Meiner Meinung nach versickert viel zu oft das Geld in undurchsichtigen Kanälen,
weil ein kaum funktionierendes Staatswesen auch keine
Kontrolle zulässt.
({4})
Der Korruption sind dort Tür und Tor geöffnet. Das kennen wir alle; darüber müssen wir uns nicht gegenseitig
aufklären.
({5})
Um diese Korruption nicht weiter zu fördern, haben
CDU, CSU und FDP schon im Koalitionsvertrag die
Vergabe der Budgethilfe nur nach strengen transparenten
Kriterien festgeschrieben.
({6})
Das hat sich bewährt, und das wird fortlaufend überprüft. Wir sind sicher, dass wir damit zu einer Steigerung
der Wirksamkeit der Entwicklungspolitik und somit
auch der Sozialleistungen beitragen können.
({7})
Ich finde es richtig, dass die Anwendung oder - sagen
wir besser - die Einstiegskriterien für die allgemeine Budgethilfe konkrete Punkte berücksichtigen müssen: In dem
Empfängerland müssen ein positiver Entwicklungstrend,
eine glaubwürdige Armutsbekämpfungsstrategie, ausreichende treuhänderische Rahmenbedingungen, also effektives öffentliches Finanzmanagement - das hilft gegen
Korruption -, sowie stabile makroökonomische Rahmenbedingungen gegeben sein.
({8})
Budgethilfen stehen damit unter der Beobachtung durch
den Bundestag. Zudem berichtet uns das BMZ jährlich
darüber. Das finde ich gut.
Joachim Günther ({9})
Die Konsequenz ist aber, dass wir gegenwärtig nur
noch in zehn Ländern Budgethilfe leisten. Das ist ein
Rückgang gegenüber früher. Das ist richtig. Dass das
BMZ aber die Gewährung von Budgethilfen nicht an alle
Länder eingestellt hat, hat einen guten Grund. In einigen
Ländern gibt es einen wichtigen Hebel, den es allein
über Projektfinanzierung nicht geben würde. Dabei geht
es zum Beispiel um mehr Haushaltstransparenz, vermehrte Anstrengungen für erhöhte Eigeneinnahmen in
den Ländern selbst und eine stärkere Rechenschaftspflicht in den Ländern gegenüber dem Parlament und der
Zivilgesellschaft. Unsere Ansichten gehen also in vielen
Bereichen in die gleiche Richtung.
In kluger Kombination mit anderen Formen der Zusammenarbeit, zum Beispiel durch die Beratung des
Rechnungshofes, durch Nutzung von Budgethilfe für bilaterale Sektorenprogramme - das haben Sie angesprochen - und ergebnisabhängige Auszahlung kann die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit im Einzelfall einen sichtbaren und wirksamen Beitrag zu diesem übergreifenden Reformprozess leisten.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass sich das
BMZ aktiv an einem gemeinschaftlichen Evaluierungsund Budgethilfeprogramm der OECD in drei weiteren
Ländern beteiligt. Darüber ist auch nicht gesprochen
worden. Die Ergebnisse aus diesem Programm werden
Ende dieses Jahres erwartet. Wir werden sie sicherlich
im Ausschuss gemeinsam auswerten.
Handlungsbedarf besteht aus meiner Sicht weiterhin
im europäischen Kontext. Denn die EU-Kommission
vergibt die Budgethilfen noch immer zu sehr weichen
Konditionen. Deutschland ist gut beraten, unsere Vorschläge weiter voranzutreiben. Ich finde es gut, dass
Bundesminister Niebel darüber mit seinen Amtskollegen
in Verhandlungen eingetreten ist. Denn nur wenn im Bereich der Budgethilfe ein größerer Schwerpunkt auf
Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
vor Ort gelegt wird, haben wir die Chance, einer größeren Anzahl von Menschen zu helfen.
Insofern bin ich optimistisch, dass wir uns im Ausschuss über die Sachpolitik weiter annähern und vielleicht gemeinsam etwas auf den Weg bringen können.
({10})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
spricht jetzt der Kollege Florian Hahn von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Beim Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme stehen die Schwellen- und Entwicklungsländer
ganz ohne Zweifel vor großen Herausforderungen. Hier
hat Deutschland in der International Labour Organization mit dem 2006 verabschiedeten Social Protection
Floor internationale vertragliche Grundlagen für soziale
und gesundheitliche Standards geschaffen, die sich sehen lassen können und die als vorbildhaft gelten.
Während bei uns die Bevölkerungszahl stagniert oder
sogar schrumpft, wächst die Bevölkerung in den
Schwellen- und Entwicklungsländern unaufhaltsam an.
Damit nehmen auch die Probleme im Bereich der sozialen und gesundheitlichen Absicherung zu. Die Globalisierung und der demografische Wandel haben für diese
Gesellschaften unübersehbare Folgen: So funktionieren
beispielsweise jahrhundertealte Stammes- und Dorfgemeinschaften und Familiensysteme durch den weltweiten Wandel heute oftmals nicht mehr so, wie das einmal
war.
In Schwellen- und Entwicklungsländern mit annähernd demokratischen Gesellschaften mag der Wunsch
nach sozialer Sicherung noch breitere Unterstützung
auch vonseiten der Regierung finden. In undemokratisch
organisierten Ländern ist das Interesse meist deutlich geringer ausgeprägt. Gleichzeitig weisen viele Schwellenländer enorme wirtschaftliche Zuwachsraten auf. Einerseits bringt das die Länder in ihrer Entwicklung voran,
andererseits wachsen soziale Sicherungsmechanismen
nicht in ausreichendem Tempo mit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
knüpfen in Ihrem vorliegenden Antrag an den in der letzten Legislaturperiode mit breiter Mehrheit beschlossenen gemeinsamen Antrag aus dem Jahre 2008 an, in dem
wir begrüßen, dass dieses Thema in die Entwicklungsarbeit des BMZ implementiert wird.
Wir haben damals gemeinsam eine Strategie für diesen Bereich entwickelt. Wir wollten eine nachhaltige,
breitenwirksame Armutsbekämpfung, vor allem in den
Bereichen der Grundsicherung und der sozialen Sicherung. Das unterstützen wir auch heute noch, ebenso wie
diese Regierung. Dabei muss sich unser Augenmerk auf
die konkret betroffenen Menschen richten. Es reicht
nicht, nur in irgendwelchen Fünfjahresplänen zu denken
und zu handeln, sondern wir müssen uns konkret auf die
Hilfe hier und jetzt und auf den Einzelfall konzentrieren.
({0})
Ein Mangel an Finanzmitteln ist nicht die einzige Ursache für die Schwächen sozialer Sicherungssysteme.
Viele Schwellen- und Entwicklungsländer wenden nicht
unbeträchtliche Mittel für soziale Sicherung auf, setzen
diese aber nicht effizient und nicht sozial gerecht ein.
Daher muss jeder Ausbau, Aufbau oder Umbau sozialer
Sicherungssysteme auf das jeweilige Land zugeschnitten
sein. Wir können das deutsche Modell der sozialen Sicherung nicht beliebig eins zu eins exportieren.
({1})
Unsere Entwicklungszusammenarbeit ist unter anderem deshalb so erfolgreich, weil die schwarz-gelbe Koalition die finanziellen und personellen Mittel dank der
Bündelung der Aktivitäten in der neuen GIZ sinnvoller
und effektiver einsetzt. Wir führen einen Dialog mit den
Regierungen und können dank der Konzentration der
Kompetenzen bei der GIZ den Schwerpunkt unserer
Hilfe auf Projektförderungen setzen. So wollen wir uns
unseren Zielen besser koordiniert nähern. Die GIZ berät
und schult dabei die Fachkräfte und stellt finanzielle
Beiträge für die nötige Unterstützung bereit.
Das BMZ prüft darüber hinaus regelmäßig, ob die
Verwendung der eingesetzten Haushaltsmittel tatsächlich zielorientiert und effizient erfolgt. Zudem wird die
entwicklungspolitische Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen in externen Gutachten evaluiert und überprüft.
So können wir aus Rückschlägen lernen und Erfolge auf
andere Vorhaben und Projekte übertragen.
Über die beschriebene bilaterale Zusammenarbeit mit
den betroffenen Ländern hinaus setzt sich Deutschland
in den internationalen Gremien wie der EU, der WHO,
der ILO, der OECD oder der Weltbank weiterhin für den
Ausbau der sozialen Sicherungssysteme ein. Dabei gilt,
dass jedes Land eigenverantwortlich die Rahmenbedingungen für die Gewährleistung eines ausreichenden sozialen Schutzes seiner Bevölkerung schaffen muss.
Die ausführliche Beschreibung der Situation in vielen
Teilen unserer Welt im vorliegenden Antrag der SPD ist
sicher in großen Teilen zutreffend und leider schon lange
allgemein bekannt. Es ist wichtig, immer wieder auf die
Lage hinzuweisen; insofern ist dieser Teil des Antrags
sehr nützlich.
({2})
Allerdings ist die Umsetzung vieler Forderungen bereits
auf dem Weg oder sogar schon vollzogen.
({3})
Andere Forderungen sind aus unserer Sicht weniger
sinnvoll; wir haben sie in der Diskussion schon genannt.
Wir streben immer nach Erfolg, gerade auch in der
Entwicklungszusammenarbeit. Die deutsche Entwicklungsarbeit ist sehr erfolgreich. Wir wollen das fortsetzen. Es gehört aber zur Realität, dass der Erfolg gerade
auch von den Partnern abhängt, mit denen wir zusammenarbeiten.
Ich darf die Diskussion heute nutzen, um mich hier
bei allen Akteuren der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu bedanken und ihnen weiterhin Gottes Segen zu wünschen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7358 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur weiteren Erleichterung der Sanierung von
Unternehmen
- Drucksache 17/5712 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/7511 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Christian Ahrendt
Ingrid Hönlinger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel,
Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Insolvenzrechtsreform unverzüglich vorlegen Außergerichtliche Sanierungsverfahren stärken - Insolvenzplanverfahren attraktiver gestalten
- Drucksachen 17/2008, 17/7511 Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Christian Ahrendt
Ingrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben im Jahr 2009 gesehen, wie schnell eine Krise
eine eigentlich gut laufende Wirtschaft aus dem Tritt
bringen kann. Wir haben erlebt, dass es 2009 zu einem
negativen wirtschaftlichen Wachstum von etwa 5 Prozent kam, und wir haben erkannt, dass es wichtig ist, für
den Fall einer solchen plötzlich auftretenden Krise eine
gewisse Wetterfestigkeit herzustellen.
2010 hat Ihnen die schwarz-gelbe Koalition das Gesetz zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung
von Kreditinstituten vorgelegt, mit dem das Kreditwesengesetz im Hinblick auf die Strukturierung und ReChristian Ahrendt
strukturierung von Banken verbessert wurde. Heute legen wir Ihnen mit dem Entwurf eines Gesetzes zur
weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen
den zweiten großen Gesetzeskomplex vor, um zu erreichen, dass Unternehmen in der Krise besser saniert werden können.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle zunächst eine kleine
Änderung in Art. 10 Satz 1 des Gesetzentwurfes vorschlagen. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Wir haben gestern im Rechtsausschuss beraten und die vorgesehene Konzentration der Gerichte aufgegeben. Dabei
ist eine Vorschrift geändert worden mit der Folge, dass
die Vorschrift zum Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr
sinnvoll ist. Deswegen ist es erforderlich, die ersten vier
Worte in Art. 10 zu streichen. Ich bitte Sie, darüber
gleich mit zu entscheiden und dafür den erforderlichen
Fristverzicht zu erklären.
Ich darf das zugleich zum Anlass nehmen, mich beim
Bundesjustizministerium und bei der Bundesjustizministerin für diesen sehr komplexen Gesetzentwurf zu bedanken, den wir ein Jahr lang sehr intensiv mit Verbänden, Rechtsanwälten, Richtern und allen, die sich für das
Insolvenzrecht interessieren, beraten haben. Meine Kollegin Frau Winkelmeier-Becker und ich haben frühzeitig
angefangen, den Gesetzgebungsprozess zu begleiten.
Das, was uns mit diesem Gesetz gelingt, ist ein Paradigmenwechsel, der nicht zu unterschätzen und aus zwei
Gründen wichtig ist. Im Jahr 2009 sind in Deutschland
24 000 Insolvenzverfahren eröffnet worden; aber es hat
nur 360 Planverfahren gegeben, also Verfahren, in denen
es zu einer Sanierung des Unternehmens gekommen ist.
Nur in 150 Fällen gab es eine Eigenverwaltung. Noch
dramatischer ist: Im Jahr 2009 haben Gläubiger in diesen
Verfahren 85 Milliarden Euro an Forderungen angemeldet. Das ist fast die Hälfte des Betrages, den wir jetzt für
den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus
bereitstellen. Das sind 85 Milliarden Euro, die durch Insolvenzen faktisch vernichtet wurden, wenn man bedenkt, dass die Insolvenzquoten zwischen 5 und 10 Prozent liegen.
Das Zweite, was wichtig ist: Im Jahr 2009 sind über
250 000 Arbeitsplätze aufgrund von Insolvenzverfahren
vernichtet worden. Was an diesen Zahlen niemand sieht,
ist: Wenn ein Unternehmen schließt, gehen nicht nur Arbeitsplätze verloren, werden nicht nur Forderungen von
Gläubigern entwertet, sondern es wird auch all das entwertet, was sich um das Unternehmen herum aufgebaut
hat. Dazu gehören die Infrastruktur eines Unternehmens,
die Geschäftsbeziehungen, das Wissen der Geschäftsleitung und auch das Wissen der Arbeitnehmer. Dazu gehört all das, was man sich über Jahre in einem Unternehmen aufgebaut hat. Das ist es, was, wenn ein solcher
Betrieb geschlossen wird, sofort vollständig vernichtet
wird. Deswegen wollen wir einen Paradigmenwechsel
hin zu mehr Sanierungen, was im Rahmen der Insolvenzordnung in ihrer gut zehnjährigen Gültigkeit seit 1999
nicht erreicht wurde. Das ist das Ziel dieses Gesetzes,
und dieses Ziel erreichen wir, indem wir die bereits im
Gesetz angelegten Instrumente, die in den letzten zehn
Jahren nicht so zur Geltung gekommen sind, wie sich
der Gesetzgeber das bei Inkrafttreten der Insolvenzordnung gewünscht hat, schärfen und verbessern.
Lassen Sie mich die Instrumente kurz vorstellen und
sagen, weswegen wir uns für diesen Weg entschieden
haben. Wir schaffen als Erstes ein Schutzschirmverfahren. Dass wir ständig über Schutzschirme reden, weiß
die Öffentlichkeit; aber hier schaffen wir einen Schutzschirm für kleine und mittelständische Unternehmen.
Wir wollen, dass ein Unternehmer, der frühzeitig erkennt, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten auf ihn zukommen, der sagt: „Ich muss etwas tun, so kann es nicht
weitergehen; ich muss etwas ändern, ich will aus der
Krise heraus“, auch eine reelle Chance hat. Wenn er sich
hinstellt und sagt: „Ich habe diese Schwierigkeiten“,
dann soll er nicht bestraft werden, indem er die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Unternehmen
verliert, indem ihm jemand beiseitegestellt wird, der
sagt, wie die Richtung des Unternehmens künftig sein
soll. Vielmehr soll ein Unternehmer, wenn er einen Insolvenzantrag stellt, die Chance haben, in einer solchen
Krise sein Unternehmen weiter selber zu verwalten. Das
ist der Kern dieses Schutzschirmverfahrens.
Das, was 1999 noch unter dem Gesichtspunkt „Man
kann den Bock nicht zum Gärtner machen“ abgelehnt
worden ist, führen wir jetzt konsequent ein. Das ist Teil
des Paradigmenwechsels. Das gibt es aber nicht umsonst, und es soll auch nicht so sein, dass der Schuldner
noch schnell Vermögensgegenstände beiseiteschaffen
kann, um die Gläubiger zu benachteiligen. Er muss bestimmte Dinge beachten.
Er muss darauf achten, dass er nicht zahlungsunfähig
ist. Wer zahlungsunfähig ist, der sollte an diesem Verfahren nicht teilnehmen können. Er muss sich eine Bescheinigung besorgen, die belegt, dass sein Unternehmen
wirklich sanierungsfähig ist. Das ist deswegen wichtig,
weil das Gericht, das später die Anträge prüft, abschätzen können muss, ob geschummelt wird oder ob das,
was ihm vorgetragen wird, reell ist. Außerdem muss er
- das ist das Entscheidende - binnen drei Monaten einen
Insolvenzplan vorlegen, der aufzeigt, wie er zusammen
mit den Gläubigern, den Arbeitnehmern, den Kunden
und all jenen, die um den Betrieb herum aufgestellt sind,
das Unternehmen sanieren will. Das ist das Schutzschirmverfahren. Es macht planbar, was man in der
Krise tun kann, um sich sozusagen wie Münchhausen
selbst an den Haaren herauszuziehen. Aber das ist nur
ein Teil.
Ein anderer Teil ist das Insolvenzplanverfahren, das
auch seit 1999 in unserem Insolvenzrecht vorgesehen
und leider nicht so zur Geltung gekommen ist. Auch hier
schärfen wir die Instrumente, und zwar grundlegend und
ebenfalls mit einem Paradigmenwechsel. Wir sagen:
Verbindlichkeiten können in Gesellschaftskapital umgewandelt werden. Neudeutsch würde man sagen: Das ist
ein Debt-Equity-Swap. Wir wollen also die Möglichkeit
schaffen, dass sich Gläubiger über die Umwandlung ihrer Forderung am Unternehmen beteiligen und, wenn
das Unternehmen saniert ist, an den künftigen Erfolgen
partizipieren können.
Wir wollen, dass in die Gesellschafterrechte eingegriffen wird. Dafür schaffen wir die Rechtsgrundlagen.
Denn in einer Krise ist es wichtig, dass neue Investoren
an Bord kommen und Mitspracherecht im Unternehmen
erhalten. Das geht nur, wenn man in die Gesellschafterrechte eingreift. Außerdem schränken wir die Rechtsmittel ein, weil es nicht sein kann, dass ein Planverfahren,
das sehr komplex abläuft, am Ende durch Gläubiger behindert oder in die Länge gezogen wird, weil diese mit
Rechtsmitteln obstruieren, obwohl sie durch den Plan im
Grunde genommen bessergestellt werden, als wenn das
Unternehmen geschlossen und zerschlagen würde. - Das
sind die Verschärfungen im Insolvenzplanverfahren.
Der letzte wichtige Punkt, der im Gesetzgebungsverfahren besondere Aufmerksamkeit genossen hat, ist die
Frage: Wie werden die Gläubiger beteiligt? Wie ist es
um die Unabhängigkeit des Verwalters bestellt? Das sind
sehr spezielle Themen; aber auch sie gehören angesprochen, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens. Wir wollen, dass die Gläubiger früh am Verfahren teilnehmen; denn nur, wenn die Gläubiger früh in
das Verfahren einbezogen werden, kann die Sanierung
des Unternehmens erfolgreich sein.
Zweitens. Wir wollen sicherstellen - das habe ich
gestern im Rechtsausschuss ausdrücklich betont -, dass
der Verwalter eine unabhängige Person ist. Die Unabhängigkeit des Verwalters ist die Garantie dafür, dass ein
Insolvenzverfahren für alle Beteiligten fair abläuft und
alle Beteiligten optimal befriedigt werden. Deswegen
haben wir ausdrücklich in die Begründung des Gesetzentwurfes geschrieben, dass es nicht richtig ist, wenn
beispielsweise ein Anwalt einer großen Anwaltskanzlei
Mandanten vertritt, die gleichzeitig Gläubiger des Unternehmens sind, für das er das Insolvenzverfahren abwickelt. Dann besteht ein Interessenkonflikt, der nicht zum
Nachteil des Unternehmens, anderer Gläubigergruppen
und der Arbeitnehmer gelöst werden darf. Wir haben den
Richtern damit ein geeignetes Instrument an die Hand
gegeben.
({0})
Ich habe Ihnen die wesentlichen Punkte des ESUG
vorgestellt. Am Beispiel der Insolvenzordnung haben
wir gesehen, dass immer beobachtet werden muss, ob
der Gesetzgeber die Instrumente eines Gesetzes so geschärft hat, dass sie wirklich funktionieren. Deswegen
schlagen wir Ihnen im Rahmen eines Entschließungsantrages vor, eine Evaluierung dieses Gesetzes vorzusehen,
um zu prüfen, ob das, was wir jetzt machen, den Erfolg
hat, den wir uns wünschen: mehr Sanierungen, weniger
Zerschlagung, weniger Verluste für Gläubiger und mehr
Sicherheit für Arbeitsplätze. Das ist das Ziel des Gesetzes.
Ich danke meiner Kollegin und Ministerin für diesen
Gesetzentwurf. Ich freue mich auf die weitere Debatte.
Ich hoffe, dass Sie alle nachher zustimmen werden; denn
das, was die Koalition Ihnen hiermit vorgelegt hat, ist
ein sehr erfolgreiches Projekt.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Lischka von
der SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Gesetzentwurf verlässt das Parlament so, wie er eingebracht wurde. Das ist eine alte Binsenweisheit, die sich
auch dieses Mal bewahrheitet hat - zum Glück, muss
man sagen; denn der ursprüngliche Gesetzentwurf, der
von Ihnen, Frau Ministerin, eingebracht wurde, enthielt
einige eklatante Mängel, auf die wir Sozialdemokraten
bereits bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs im
Deutschen Bundestag hingewiesen haben.
So hatten Sie ursprünglich vor, fast die Hälfte aller Insolvenzgerichte in unserem Land zu schließen, und zwar
gegen den erklärten Willen aller Bundesländer. Das hätte
bedeutet, dass die betroffenen Bürgerinnen und Bürger,
die Unternehmer und die Rechtsanwälte teilweise
150 Kilometer oder mehr bis zum nächsten Insolvenzgericht hätten fahren müssen. Wir Sozialdemokraten haben
Ihnen bereits Ende Juni gesagt, dass das mit einer Modernisierung unseres Insolvenzrechts nichts zu tun hat.
Das wäre schlicht und einfach ein Abbruch der Justiz in
der Fläche und ein Akt der Bürgerunfreundlichkeit gewesen. Es ist gut, dass der Gesetzentwurf an dieser Stelle
verändert wurde und sich der Deutsche Bundestag gegen
Ihre ursprünglichen Vorstellungen durchsetzen wird,
Frau Ministerin.
({0})
Ein zweiter Kritikpunkt betraf das sogenannte Schutzschirmverfahren, das der Kollege Ahrendt eben angesprochen hat. Ihr Ansatz war durchaus richtig. Häufig
stellen Unternehmer viel zu spät einen Insolvenzantrag,
nämlich dann, wenn in dem Unternehmen gar nichts
mehr geht und das Kind quasi schon in den Brunnen gefallen ist. Das hat in der Vergangenheit in einer Vielzahl
von Fällen dazu geführt - das wissen wir alle -, dass eine
erfolgreiche Sanierung der Unternehmen behindert, wenn
nicht sogar unmöglich wurde.
Ihre Grundidee, dass über ein strauchelndes Unternehmen vor der eigentlichen Insolvenz eine Art Schutzschirm gespannt wird, unter dem der Unternehmer an
der Rettung seines Unternehmens arbeiten kann, war
und ist gut. In dem ursprünglichen Gesetzentwurf war
sie nur mangelhaft umgesetzt. Was wäre in der Praxis
passiert? Die Banken des Unternehmens hätten davon
Wind bekommen. Sie hätten alle Kredite gekündigt bzw.
fällig gestellt, und dann wäre der Unternehmer tatsächlich pleite gewesen. Frau Ministerin, in Ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf war vorgesehen, dass das Schutzschirmverfahren in einem solchen Fall automatisch
beendet ist. Sie hätten den Schutzschirm also weggezogen, und der Unternehmer wäre dann in die ganz normale Insolvenz gegangen. Das wäre kein Anreiz gewesen, frühzeitig einen Insolvenzantrag zu stellen und
Sanierungsmaßnahmen zu erarbeiten. Das wäre vielmehr im Grunde die Aufforderung gewesen, direkt in
den Abgrund zu springen. Es ist gut, dass dieser Unsinn
aus dem Gesetzentwurf herausgenommen wurde und
sich der Deutsche Bundestag auch an dieser Stelle gegen
Ihre ursprünglichen Vorstellungen durchsetzen wird,
Frau Ministerin.
({1})
Wer jetzt als Unternehmer einen Antrag stellt, der weiß,
dass er, ohne dass Vollstreckungsmaßnahmen drohen, an
der Rettung seines Betriebes arbeiten kann. Dadurch
werden Firmenpleiten verhindert und Arbeitsplätze erhalten. Es ist gut, dass wir diesbezüglich zu einer vernünftigen Regelung gekommen sind.
({2})
Bezüglich unseres dritten Kritikpunktes hat die
schwarz-gelbe Koalition aber allenfalls kosmetische Änderungen vorgenommen. Unsere Kritik betrifft die von
Herrn Kollegen Ahrendt angesprochene Unabhängigkeit
der Insolvenzverwalter. Die Unabhängigkeit der Insolvenzverwalter ist in unserer Insolvenzordnung bisher ein
hohes Gut gewesen. Der Insolvenzverwalter muss, wenn
er in ein strauchelndes Unternehmen kommt, im Einzelfall wirtschaftliche Missstände aufdecken und beseitigen. Er muss gegenüber Gläubigern, Geschäftspartnern
und, wenn die bisherige Unternehmensleitung Unsinn
gemacht hat, auch gegenüber dieser Ansprüche durchsetzen. Das ist die zentrale Aufgabe des Insolvenzverwalters. Diese Aufgabe kann er natürlich nur dann erfüllen, wenn er gegenüber all diesen Gruppen vollkommen
unabhängig ist.
Wir sind der Meinung, dass Schwarz-Gelb an dieser
Stelle einen Tabubruch begeht. Künftig kann jemand zum
Insolvenzverwalter bestellt werden, der das Unternehmen
vor der eigentlichen Insolvenz beispielsweise im Hinblick auf ein künftiges Insolvenzverfahren beraten hat.
Wie soll der Insolvenzverwalter wirtschaftliche Missstände aufdecken, wenn er zuvor möglicherweise an der
Entstehung dieser Missstände mitgewirkt hat? Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein Insolvenzverwalter
kraftvoll Ansprüche gegen die bisherige Unternehmensleitung durchsetzen wird, wenn er zuvor von genau derselben Unternehmensleitung bezahlt worden ist. Nein,
meine Damen und Herren, wenn der Bock zum Gärtner
gemacht wird, dann ist der Erfolg fraglich. Deshalb fordern wir: Unterbinden Sie jegliche Form von Interessengegensätzen in der Person des Insolvenzverwalters. Nur
dann können Unternehmenssanierungen erfolgreich durchgeführt werden.
({3})
Sie treiben es aber noch doller. In Ihrem Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass künftig Großgläubiger, zum
Beispiel Banken, die Möglichkeit haben, einen ihnen genehmen Insolvenzverwalter zu bestimmen. Die Banken
können künftig - jedenfalls, wenn sich alle einig sind im Regelfall einen ihnen wohlgesonnenen Insolvenzverwalter auch gegenüber dem Insolvenzrichter durchsetzen. Vor lauter Dankbarkeit gegenüber diesen Großgläubigern kann dieser Insolvenzverwalter doch nicht ganz
unabhängig agieren; denn die Übernahme eines solchen
Amtes ist im Regelfall finanziell durchaus attraktiv, und
der Insolvenzverwalter weiß, wem er das zu verdanken
hat.
Das ist eine ganz neue Art von Kungelei in unserer
Insolvenzordnung. Sie machen den Insolvenzverwalter
und damit auch das Insolvenzverfahren zumindest in
Einzelfällen zum Spielball von Einzelinteressen. Das ist
eine ganz neue Facette Ihrer Klientelpolitik. Das ist nicht
gut. Deshalb werden wir Sozialdemokraten diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Es ist also endlich so weit: Die erste Tranche
der Insolvenzrechtsreform in dieser Legislaturperiode
steht heute in zweiter und dritter Lesung an. Ich denke,
wir haben damit ein Versprechen aus der ersten Lesung
eingelöst. Wir haben damals versprochen, uns sehr genau
die Anregungen und Argumente aus der Praxis anzuhören. Wir haben uns in der Tat in einen gründlichen Austausch mit Wissenschaft und Praxis begeben und noch etliche Änderungen aufgenommen, die zur Qualitätsverbesserung beigetragen haben.
({0})
Unter anderem haben wir eine praktikable Lösung zur
Fehlerbeseitigung eingefügt. Wie schnell man so etwas
brauchen kann, zeigt sich schon heute; denn wir wollen
noch eine Kleinigkeit in der Beschlussempfehlung des
Ausschusses korrigieren.
Wir setzen, wie schon der Titel des Gesetzentwurfs
zeigt, einen starken Akzent auf die Sanierung. Neben
dem primären Ziel, der Gläubigerbefriedigung, senden
wir damit ein deutliches Signal für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für den wirtschaftlichen Wert und aus meiner Sicht auch für die Qualifikation des Unternehmers,
der in die Insolvenz geraten ist. Durch dieses Gesetz soll
erreicht werden, dass der Unternehmer weiter wirtschaftlich erfolgreich tätig sein kann. Wir brauchen eine
neue Insolvenzkultur, die auf Sanierung ausgerichtet ist.
Eine ganz klare Botschaft dieses Gesetzes ist auch, dass
demjenigen, der mit seinem Unternehmen oder privat insolvent wird, nicht automatisch das Vertrauen entzogen
werden soll. Er darf nicht abgestempelt werden, sondern
verdient eine neue Chance.
({1})
Dass wir neben den Gedanken der Gläubigerbefriedigung den Sanierungsgedanken stellen, ist der vorläufige
Höhepunkt einer langen Modernisierung des Insolvenzrechts. Ganz interessant ist ein aktueller Aufsatz von
Professor Thole von der Universität Tübingen in der JZ.
Darin wird ein Überblick über die Entwicklung des Insolvenzrechts gegeben, begonnen bei verschiedenen Methoden der Personalexekution in der Antike - Schuldturm, Ohrabschneiden - bis hin zu so beschämenden
Strafen, dass jemand, der in der Insolvenz war, bei
Hochzeiten oder Begräbnissen hinten bei den Frauen
sein musste. Es war ein weiter Weg, bis man zwischen
betrügerischen und glücklos handelnden Unternehmern
unterschieden hat und es erste Ansätze der Schuldenbereinigung und Sanierung gab. Dies alles ist heute natürlich überwunden und weit weg, aber trotzdem schwingt
dieses Stigma immer noch mit, wenn wir heute über Insolvenz sprechen. Dies wollen wir mit diesem Gesetz
überwinden.
Die Fortentwicklung des Insolvenzrechts mit dem Sanierungsansatz war im europäischen Vergleich längst
überfällig. Wir stärken damit den Insolvenzstandort
Deutschland. Dabei haben wir einen etwas anderen Ansatz als die anderen europäischen Länder. Wir setzen in
der vorhandenen Insolvenzordnung, also im vorhandenen Rechtsrahmen, neue wirksame Anreize für die Beteiligten, für die Gläubiger wie auch für den Schuldner,
sich frühzeitig um eine Sanierung zu kümmern.
Die dazugehörigen Verfahren hat Kollege Ahrendt
bereits genannt. Zum einen wird durch den vorläufigen
Gläubigerausschuss dafür gesorgt, dass die Gläubiger
mit ihrer Branchen- und Fachkenntnis zu einem deutlich
früheren Zeitpunkt in das Verfahren einbezogen werden.
Auf der anderen Seite gibt es das Schutzschirmverfahren.
Die Rolle der Gläubiger zu stärken, ist einer der Kernpunkte. Diese Stärkung muss sich bereits in einer sehr
frühen Phase, schon bei der Auswahl des Insolvenzverwalters und bei den ersten grundlegenden Entscheidungen, auswirken. Denn die Gläubiger entscheiden darüber, ob es zu einer Sanierung kommt oder ob das
Unternehmen liquidiert wird.
In Bezug auf den Gläubigerausschuss gibt es den
Zielkonflikt, einerseits ein repräsentatives Gremium zusammenzustellen - das dauert seine Zeit - und andererseits schnell handlungsfähig zu sein. Deshalb haben wir
für eine flexible Regelung gesorgt: Ab einer bestimmten
Unternehmensgröße kann das Gericht einen vorläufigen
Gläubigerausschuss vorgeben. Sollte schneller gehandelt
werden müssen, gewährleistet die Regelung, dass zunächst ein Verwalter bestellt werden und die Anhörung
des Gläubigerausschusses nachgeholt werden kann.
Weil es um Geld und um die Unabhängigkeit des Verwalters geht, war die Regelung, dass die Gläubiger bei
einstimmigem Votum dem Gericht vorgeben können,
welcher Verwalter bestellt wird, von besonderem Interesse. Herr Lischka, Sie haben hier zu bedenken gegeben, dass die Dominanz der Bankenvertreter dazu führen
könnte, dass ein nicht objektiver, ein befangener Verwalter eingesetzt wird. Ich sehe diese Gefahr nicht. Wir haben ein repräsentativ zusammengesetztes Gremium mit
dem Erfordernis der Einstimmigkeit. Das heißt, jeder
Einzelne hat ein Vetorecht. Außerdem geht der Einfluss
der Bankenvertreter in diesen Zeiten eher gegen null.
Zudem professionalisieren sich die Gläubiger. Insbesondere die, die nicht gesichert sind, bilden Gläubigerschutzvereinigungen. Sie werden den Bankenvertretern
daher auf Augenhöhe gegenüberstehen.
Ich sehe hier nur eine geringe Gefahr. Vielmehr sehe
ich die Chance, mit den Gläubigern zu einer treffsicheren Auswahl des Verwalters zu kommen. Außerdem
könnte sich unter den Verwaltern ein heilsamer Wettbewerb ergeben, indem sie sich daran messen: Wer schafft
die beste Quote? Wer agiert am besten? Wer hat das
fairste Verfahren? Genau das wollen wir erreichen.
Wir haben im Hinblick auf die Verwalterauswahl einige Tabuthemen angepackt. Es soll nicht so sein, dass
jemand als Verwalter ausscheidet, nur weil er vom
Schuldner oder Gläubiger lediglich genannt worden ist.
Auch die bloße allgemeine Beratung soll nicht automatisch zur Annahme der Befangenheit führen. Ganz klar
ist auch, dass sich das Gericht ohne Weiteres für einen
anderen Verwalter entscheiden kann. Es braucht diese
Entscheidung in der Regel noch nicht einmal zu begründen, es sei denn, der Gläubigerausschuss hat ihm das mit
einstimmigem Votum vorgegeben. Ich habe diesbezüglich wirklich keine Bedenken. Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich glaube, Sie heben das an dieser Stelle
hervor, um überhaupt einen Grund zu haben, unserem
Gesetzentwurf nicht zuzustimmen. Das ist Ihr einziger
Kritikpunkt; alles andere haben Sie gelobt.
({2})
Sie brauchen anscheinend das Haar in der Suppe.
({3})
Für den Schuldner - das wurde gerade ausgeführt bieten wir mehr Berechenbarkeit und mehr Klarheit,
auch nach außen hin. Er hat die Möglichkeit, weiterhin
in Eigenverwaltung tätig zu sein, wenn sein Unternehmen saniert werden muss. Das gilt für den Zeitpunkt,
wenn er in die Insolvenz geht und noch nicht zahlungsunfähig ist. In materieller Hinsicht wird dies durch den
Debt-Equity-Swap ergänzt. Dieser erweitert die Möglichkeiten, einen Plan zu erstellen, deutlich. Er ist auch
im internationalen Vergleich längst überfällig; er gehört
längst in unsere Insolvenzordnung.
Insgesamt handelt es sich hier um einen Ansatz, der
die Sanierung in das vorhandene Insolvenzrecht integriert. Das hat den Vorteil, dass man die Möglichkeiten
des Insolvenzrechts für eine Sanierung nutzen kann, sei
es die Nutzung des Insolvenzgeldes für die Arbeitnehmer oder die Anfechtung von zu teuren Liefer- oder
Mietverträgen. Das sind die Dinge, die man braucht, um
eine Sanierung überhaupt durchführen zu können, und
das war aus meiner Sicht längst überfällig.
Ich weiß, dass auf internationalen Fachtagungen mit
großem Interesse beobachtet wird, wie Deutschland dieses Verfahren implementiert. Ich bin überzeugt, dass wir
damit den Unternehmen in Deutschland ein effizientes
und sanierungsorientiertes Insolvenzrecht bieten.
({4})
Ein bisschen schade ist aus meiner Sicht, dass wir die
Konzentration der Gerichte nicht durchgesetzt haben.
({5})
Mich hat die Begründung des Bundesjustizministeriums
an dieser Stelle überzeugt. Ich finde es schade, dass wir
diese Regelung herausgenommen haben.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Aber der Appell an die Länder bleibt. Sie können das
trotzdem in eigener Verantwortung tun.
Schließen möchte ich mit dem Dank an das Justizministerium, den Berichterstatter der FDP, Herrn
Ahrendt, und die anderen Kolleginnen und Kollegen. Ich
denke, wir sollten uns motiviert an die nächste Stufe der
Insolvenzrechtsreform begeben.
Danke schön.
({0})
Für die Linke hat jetzt der Kollege Richard Pitterle
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Allein im Jahr 2010 wurden 32 000
Unternehmensinsolvenzen registriert. Es haben mehr als
240 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeit verloren. Deshalb ist es umso dringlicher, dass insolvente Unternehmen saniert werden können. Das Insolvenzrecht, das wir haben, ist zäh. Gerade in Krisenzeiten brauchen wir ein Insolvenzrecht, das auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützt. Spätestens
wenn der Betrieb pleite ist, werden diese mit dem Insolvenzrecht konfrontiert. Das Ziel des Gesetzentwurfs ist,
dafür zu sorgen, dass Unternehmen, die finanziell straucheln, frühzeitig wieder auf den richtigen Weg kommen.
Das ist auch uns Linken ein ganz wichtiges Anliegen.
Denn nur die Unternehmen, die nicht abgewickelt werden, können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen und Arbeitsplätze sichern.
({0})
Bei den vorgeschlagenen Änderungen des Insolvenzplanverfahrens und bei der Eigenverwaltung gibt es gute
Ansätze. Aber in der Praxis ist beides bisher unbedeutend. Die Gründe dafür sind vielfältig; auch die Psychologie spielt eine wichtige Rolle. Vielfach steht die Insolvenz als Schreckgespenst über dem Betrieb. Sie wird
überhaupt nicht als Chance begriffen. Schön wäre es,
wenn hier ein Umdenken stattfände.
Ich möchte auf zwei Punkte, die auch in diesem Gesetzentwurf leider keine Beachtung gefunden haben, näher eingehen. Die Instrumente zur Sanierung können
helfen, Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten zu
retten. Aber die Abwicklung wird der Regelfall bleiben.
Hat man nur das Überleben eines Unternehmens im
Auge, vergisst man leicht die Probleme, denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgesetzt sind, vor allem dann, wenn es um die aussichtslose Sanierung von
Unternehmen geht.
1999 wurde die Konkursordnung durch die Insolvenzordnung abgelöst. Das hat zwei gravierende Verschlechterungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
gebracht.
Erstens. Noch nicht ausgezahlte Löhne und Gehälter
werden nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens
ohne Ausnahme zu Insolvenzforderungen, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden zu Insolvenzgläubigern. Was heißt das konkret? Die Pleite eines Unternehmens zeichnet sich für die Belegschaft oft schon
frühzeitig ab. Es gibt unregelmäßige Lohnzahlungen
oder gar Lohnausfall, eine zunehmende Zahl von Überstunden, den Verzicht auf Urlaub und andere Vergünstigungen. Die Liste der Zumutungen ist lang, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben keine Chance,
sich diesen zu entziehen. Ein ehrlicher und verantwortungsbewusster Arbeitgeber wird die Belegschaft auf die
schwierigen Zeiten vorbereiten und sie zu gemeinsamen
Anstrengungen motivieren, um den Betrieb und den Arbeitsplatz zu erhalten.
Muss dann trotzdem das Insolvenzverfahren eröffnet
werden, passiert Erstaunliches: Der ausstehende Lohn
verwandelt sich in eine Insolvenzforderung, die beim Insolvenzverwalter anzumelden ist. Die Forderungen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden ganz am
Ende einer langen Liste, auf der eine Vielzahl anderer
Gläubiger steht, eingereiht.
Was bleibt von ihrem Engagement beim Scheitern der
Sanierung übrig? Im Durchschnitt sind es 5 Prozent ihrer
Forderungen; so hoch ist in Deutschland die Insolvenzquote. Das heißt, wenn bei jemandem 1 000 Euro Lohn
ausstehen, bekommt er davon mit viel Glück 50 Euro.
Aber institutionelle Großgläubiger, zum Beispiel Banken, befriedigen bereits vorher einen Großteil ihrer Forderungen. Sie bekommen die Vermögenswerte des Unternehmens, weil sie sich diese als Kreditsicherung
vorher haben garantieren lassen.
Die zweite gravierende Verschlechterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die Insolvenzanfechtung. Selbst diejenigen, die vor der Eröffnung eines
Insolvenzverfahrens ihren Arbeitslohn verzögert erhalten haben, können nicht sicher sein, dass sie das Geld
behalten dürfen. Die Insolvenzverwalter können nach
diesem Recht Teile davon zurückfordern. Das Bundesarbeitsgericht und der Bundesgerichtshof haben diese
Möglichkeit zwar eingeschränkt, aber ausgeschlossen ist
sie nicht.
Zwar wollte das Bundesjustizministerium 2009 wenigstens die Insolvenzanfechtung gesetzlich einschränken, aber dazu kam es nicht. Jede Änderung zugunsten
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würde gegen
den Grundsatz der Gleichbehandlung von Gläubigern,
zu denen auch Banken zählen, verstoßen, hieß es als Begründung aus Fachkreisen. Andere würden sonst ebenfalls Sonderforderungen stellen, hieß es.
Bei dieser Einschätzung wird vernachlässigt, dass
eine Gleichbehandlung im Falle der Insolvenz ohnehin
nur eine Illusion ist. Banken haben bei der Kreditgewährung an eine GmbH sowieso oft einen zusätzlichen Zugriff auf das Privatvermögen des Geschäftsführers oder
des Inhabers des Unternehmens. In dieser komfortablen
Situation ist die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer
nicht.
Darüber hinaus gebietet es das Grundgesetz sogar,
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesondert zu behandeln. Es ist schon aufgrund der besonderen Stellung
dieser Gruppe zum pleitegegangenen Unternehmen sachlich nicht gerechtfertigt, sie mit sonstigen Gläubigern
wie den Banken zu vergleichen.
({1})
Dies gilt erst recht, wenn auch das Sozialstaatsprinzip
des Grundgesetzes als verfassungsrechtliches Leitbild
beachtet würde.
Nicht zuletzt gibt es das 173. Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, das 1995 in Kraft getreten ist. In Art. 5 wird eine bevorrechtigte Behandlung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers verlangt.
({2})
Das Übereinkommen wurde von Österreich, der
Schweiz, Finnland und Spanien ratifiziert - von
Deutschland bis heute nicht. Ich frage mich: Warum
nicht?
({3})
Das beste Insolvenzrecht taugt nichts, wenn der Insolvenzverwalter sein Handwerk nicht versteht. In dem
Entwurf wird zwar teilweise angesprochen, welche Mindestqualifikationen Richter und Rechtspfleger haben sollen, aber es gab keine wirklichen Auseinandersetzungen
über die Berufszulassungs- und Berufsausübungsregeln
für Insolvenzverwalter. Es ist schon paradox, dass eine
Friseurin oder ein Friseur ohne einen Meisterbrief nicht
selbstständig tätig sein darf, während sich jeder Mensch
ohne irgendeine nachgewiesene Qualifikation als Sanierer eines Unternehmens mit Hunderten oder Tausenden
Arbeitsplätzen versuchen und mit Forderungen in Millionenhöhe jonglieren darf. Das sollten wir ändern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Jahr 2010 gab es 32 000 Unternehmensinsolvenzen.
Hinter dieser nackten Zahl verbergen sich viele Arbeitsplätze, geplatzte Träume von Selbstständigkeit und natürlich Existenzen, auch Familienexistenzen.
Deshalb war für uns Grüne eine Reform des Insolvenzrechts schon immer ein großes Anliegen. Bereits
mit unserem Antrag vom Juni 2010 haben wir Vorschläge für die Verbesserung der Sanierung von Unternehmen unterbreitet. Ein Jahr später hat die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf vorgelegt.
Viele Komponenten des Gesetzentwurfs sind berechtigt. Zu nennen sind insbesondere der Ausbau des Insolvenzplanverfahrens und die Intention, Eigenverwaltung
und Gläubigerinteressen zu stärken. Umso bedauerlicher
ist es, dass Sie in einigen Punkten die Chance für eine
umfassende und ausgewogene Reform nicht genutzt haben.
Diese Defizite Ihrer Reform werde ich Ihnen in drei
Punkten aufzeigen. Sie betreffen erstens die Zuständigkeitsregelungen für Insolvenzgerichte, zweitens den vorläufigen Gläubigerausschuss und drittens die Stellung
des Insolvenzverwalters.
Die Zuständigkeiten für Unternehmensinsolvenzen an
den Gerichten stärker zu konzentrieren, halten wir für
eine richtige Maßnahme. Richter, die im Bereich Insolvenzrecht tätig sind, treffen Entscheidungen, die für die
Sanierungschancen von Unternehmen von großer Bedeutung sind. Genau deswegen brauchen die Richter
nicht nur juristisches, sondern auch betriebswirtschaftliches Fachwissen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht mit der
vorgesehenen stärkeren Konzentration der Insolvenzgerichte in die richtige Richtung. Bedauerlicherweise sieht
nun der Änderungsantrag der Koalition eine Streichung
dieser wichtigen Passage vor, obwohl wir zum Beispiel
116 Landgerichtsbezirke in Deutschland haben, dafür
aber viel mehr Insolvenzgerichte, nämlich 191.
({0})
Die Rücknahme Ihrer eigenen Planung können wir nicht
verstehen.
({1})
Auch bei der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss waren sich die Experten einig, dass Expertise an
den Gerichten gebündelt werden muss.
({2})
Oft wurde in diesem Zusammenhang vorgebracht, dass
zumindest größere Verfahren an den Landgerichten in
den Kammern für Handelssachen angesiedelt werden
könnten; denn hier ist das notwendige wirtschaftliche
Fachwissen bereits vorhanden. Die Qualitätssicherung
der Arbeit von Richtern und Rechtspflegern durch gezielten Aufbau von wirtschaftlichem Fachwissen lassen
Sie damit außer Acht. Mit dieser Entscheidung haben
Sie einer nachdrücklichen Forderung aus der Fachwelt
viel zu wenig Bedeutung beigemessen. Sie haben hier
eine Chance verpasst und sind zurückgewichen, meine
Damen und Herren von der Koalition.
({3})
Nun komme ich zu meinem nächsten Punkt, der Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses. Gläubigerinteressen sollen gestärkt werden. Das wollen natürlich auch wir. Sie scheinen aber zu übersehen, dass
die Gruppe der Gläubiger nicht homogen ist. Auch die
Interessen „kleinerer“, zum Beispiel nicht institutioneller Gläubiger müssen beachtet werden. Diesen Anspruch
erfüllt die jetzt vorgesehene Regelung nicht.
Nach bisheriger Rechtslage liegt es im Ermessen des
Insolvenzrichters, ob er einen vorläufigen Gläubigerausschuss einsetzt oder nicht. Der Regierungsentwurf hat
Regelungen für die Einsetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses aufgestellt. Diese orientieren sich an der
Größe der Unternehmen.
Schon mit diesen Regelungen wäre der vorläufige
Gläubigerausschuss nur in sehr wenigen Fällen eingesetzt worden. Das ergibt sich plastisch aus der Gesetzesbegründung. Die Verschärfung, die jetzt im Änderungsantrag der Koalition enthalten ist, wird diese Zahl noch
weiter reduzieren. Wenigstens mildern Sie diese Wirkung dadurch ab, dass einzelne Gläubiger einen vorläufigen Gläubigerausschuss beantragen können, wenn sie
dafür Mitglieder benennen. Dadurch erhalten zumindest
die Gläubiger von kleineren und mittleren Unternehmen
die Möglichkeit, sich im Rahmen eines vorläufigen
Gläubigerausschusses am Verfahren zu beteiligen.
Insgesamt sind wir allerdings skeptisch, dass die Neuregelung zu einer häufigeren Einsetzung von vorläufigen
Gläubigerausschüssen führen wird. Es wäre besser gewesen, hier keine Regelung zu treffen, sondern es bei der
bisherigen Rechtslage zu belassen.
({4})
Ich komme zu meinem dritten zentralen Punkt. Dieser
hat uns im Ausschuss und bei der Anhörung intensiv beschäftigt. Es geht um die geplanten Regelungen zur Auswahl des Insolvenzverwalters. Ich sage Ihnen mit Nachdruck: Die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters
muss umfassend gewährleistet werden. Eine Person, die
ein Unternehmen schon vor der Stellung des Eröffnungsantrags beraten hat, sei es auch nur in allgemeiner Form
über das Insolvenzverfahren oder über dessen Folgen, ist
nicht mehr unvoreingenommen. Deshalb sollte ein solcher Berater nicht mehr zum Insolvenzverwalter bestellt
werden können.
({5})
Auch sollte der Insolvenzrichter bei der Auswahl des
Verwalters durch ein einstimmiges Votum des Gläubigerausschusses nicht strikt verpflichtet sein. Hier besteht
die Gefahr, dass die institutionellen Gläubiger den Ausschuss und damit auch die Wahl des Verwalters dominieren.
Bei den Insolvenzverwaltern wiederum kann das dazu
führen, dass einzelne Verwalter, die häufig in Verfahren
mit institutionellen Gläubigern arbeiten, viele Aufträge
erhalten. Andere Verwalter, die in Verfahren mit „kleineren“ Gläubigern ihr Geschäftsfeld haben, könnten wenig
Aufträge erhalten. Es entsteht ein sogenannter Closed
Shop, der den Wettbewerb unter den Insolvenzverwaltern einschränkt. Deswegen sehen wir unsere hohen Anforderungen an die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters mit diesem Gesetzentwurf nicht gewahrt. Als
Rechtspolitikerin muss ich abschließend feststellen:
Zentrale Ansätze in der Vorlage der Regierungskoalition sind entweder nicht zu Ende gedacht oder einseitig auslegbar. Trotz vieler richtiger Ansätze, die die
Sanierungschancen von Unternehmen verbessern werden, können wir diesem Gesetzentwurf deshalb nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Heider
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Man ist in diesen
Tagen, wenn man sich mit der Materie des Insolvenzrechts befasst, versucht, eine Brücke zu den großen Ereignissen in Europa zu schlagen. Die Begriffe, mit denen
wir uns schon beschäftigt haben, wie dem vorläufigen
Gläubigerausschuss, dem Schutzschirmverfahren und
der Benennung eines Sachwalters legen gewisse Parallelen nahe. Ich will aber nicht der Versuchung erliegen,
mich damit zu beschäftigen und vielleicht darauf zu
schließen, was in Europa sinnvoll wäre.
Das Insolvenzrecht zeigt, dass wir viele Instrumente
ins Werk setzen, die durchaus der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen gerecht werden. Ich glaube auch,
dass ein Paradigmenwechsel, wenigstens aber ein großer
Wurf mit diesem Gesetz gelingt. Dafür ist der Initiative
und dem Impuls der Bundesregierung und der Frau Justizministerin zu danken, aber auch den Koalitionsfraktionen, die in intensiver Beratung dieses Gesetzgebungsverfahren begleitet und viele wichtige Punkte in ihm
hervorgehoben haben.
Ich will mich nicht so sehr mit den technischen Einzelheiten befassen; ich will etwas näher auf die wirtschaftlichen Herausforderungen eingehen. Wir machen
mit dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen durchaus einen wichtigen Schritt
zu einer nachhaltigeren Wirtschaftspolitik.
In der Wirtschaftspolitik geht es ohne Zweifel darum,
die Voraussetzungen für den Wohlstand in einer Gesellschaft und in einer Volkswirtschaft zu verbessern, das
heißt Grundlagen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu legen, effizientes und kostengünstiges Wirt16170
schaften zu ermöglichen sowie den Wettbewerb und den
Zugang zu den Märkten zu sichern.
Nachhaltige Wirtschaftspolitik betrifft weit mehr als
die Schonung von Ressourcen und den effektiven Kapitaleinsatz. Nachhaltig bedeutet auch, Werte zu schaffen,
langfristig Innovationen und Investitionen zu sichern,
Arbeitsplätze zu erhalten und das unternehmerische Risiko nach Möglichkeit kalkulierbar zu halten. Das bedeutet, eine dauerhafte und starke Position im Wettbewerb zu haben. Das braucht unsere Volkswirtschaft, und
das brauchen unsere Unternehmen.
Zum unternehmerischen Risiko gehört sicherlich die
Gefahr, insolvent zu werden. Unternehmenskrisen und
leider auch - im Volksjargon - Firmenpleiten gehören
zum Wirtschaftsleben dazu. Trotzdem wollen wir an dieser Stelle auch junge Unternehmerinnen und Unternehmer dazu ermutigen, etwas zu wagen und das Risiko der
Unternehmensneugründung einzugehen.
Junge und innovative Unternehmen können sich häufig nur dann erfolgreich am Markt etablieren, wenn sich
in der Gründungs- und Anlaufphase Investoren mit Kapital beteiligen. Hierfür dienen unter anderem - das nur
nebenbei gesagt - auch das KfW-Startgeld oder der
High-Tech-Gründerfonds, an dem sowohl das BMWi als
auch die KfW beteiligt sind.
Dennoch: Unternehmen sind während ihrer Aufbauphase besonders anfällig. Im Jahr 2010 war die Ausfallquote bei Unternehmen mit einem Betriebsalter von bis
zu sechs Jahren mit durchschnittlich 162 Insolvenzen auf
jeweils 10 000 Unternehmen fast dreimal höher als bei
etablierten Unternehmen. Knapp die Hälfte der insolventen Unternehmen, nämlich über 45 Prozent, wiesen im
Jahr 2010 ein Betriebsalter von bis zu sechs Jahren auf.
Ein Drittel der Fälle betraf Unternehmen, die älter waren
als zehn Jahre. Hier setzt das neue Insolvenzrecht entscheidende Akzente.
Wenn neu gegründete Unternehmen nach einigen Jahren während der Wachstumsphase in Schieflage geraten,
stehen mit dem ESUG jetzt Instrumente bereit, die dem
unternehmerischen Ausfall entgegenwirken.
Viele Unternehmer verstehen unter Insolvenz noch
immer ausschließlich die Liquidation des Unternehmens. Sie verkennen dabei, dass das betroffene Unternehmen zum Beispiel mithilfe des Insolvenzplans saniert
werden kann. Dass die bestehenden Möglichkeiten zur
Sanierung eines Unternehmens oft nur unzureichend genutzt werden, liegt daran, dass sich die meisten Unternehmen scheuen, einen Insolvenzantrag zu stellen, und
zuerst versuchen, die Unternehmenskrise ausschließlich
aus eigener Kraft zu lösen. Das kostet Liquidität und das
verbliebene Vertrauen von Kunden und Lieferanten, aber
auch von Mitarbeitern und vor allen Dingen von Kreditgebern. Für das Gelingen einer Sanierung ist es wichtig,
ob am Ende eines Insolvenzverfahrens das Unternehmen
liquidiert wird, ob die Unternehmerin oder der Unternehmer die selbstständige Tätigkeit beenden muss oder
wieder aufnimmt oder ob es Möglichkeiten gibt, das Unternehmen durch eine übertragende Sanierung oder mithilfe eines Insolvenzplans zu retten. Doch das muss entschieden werden, bevor die Kassen leer sind. Die
Rettungsmöglichkeiten verbessert das geänderte Gesetz.
Ich bin mir sicher, dass sich mit dem ESUG auch die
Chance für eine neue Insolvenzkultur bieten wird.
({0})
Das Gesetz gibt den Anreiz zu einer frühzeitigen Insolvenzantragstellung. Wie wichtig es ist, rechtzeitig den
Insolvenzantrag zu stellen, zeigt, dass alleine 2010 rund
13 000 Fälle, also nahezu 10 Prozent aller Insolvenzverfahren, mangels Masse abgewiesen werden mussten. Der
bei einem Eigenantrag vorgesehene Schutzschirm macht
zwar den Eröffnungsantrag nicht entbehrlich. Gleichwohl verstärkt er das Sanierungspotenzial. Alle Instrumente - diese hat die Kollegin Winkelmeier-Becker gerade vorgestellt - wie die Vereinfachung des Zugangs
zur Eigenverwaltung, der Ausbau und die Straffung des
Planverfahrens, die Mitbestimmungsrechte der Gläubiger im vorläufigen Gläubigerausschuss und die Einführung des Schutzschirmverfahrens sind wichtig für eine
nachhaltige Verfahrensgestaltung, die letztendlich auch
dem Schutz von Arbeitsplätzen dient. Deshalb kann ich
gar nicht verstehen, warum Sie auf der linken Seite des
Hauses so pessimistisch sind. Wenn alle Forderungen
von Arbeitnehmern zu Masseforderungen würden, dann
würde es kein sanierungsfähiges Unternehmen mehr geben. Dann müssten wir uns damit gar nicht mehr befassen. Schließlich gibt es die Möglichkeit des Konkursausfallgeldes.
In der Tat haben die Gläubiger eine starke Stellung
bei der Auswahl des Insolvenzverwalters. Herr Kollege
Lischka, ich glaube nicht, dass das eine Laterna magica
wird, in die man sich hineinbegibt.
({1})
Man muss in der Tat beobachten, wie sich das Verfahren
in der Praxis entwickelt und wie die Gläubiger davon
Gebrauch machen. Ich glaube nicht, dass es dazu verführt, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen. Die
Gläubiger haben ein großes Interesse daran, das Verfahren zu gestalten, gerade weil es um sehr spezifische
Branchen wie die Gesundheitswirtschaft oder die Automobilindustrie geht. Hier ist Know-how gefragt.
Ich komme zum Schluss. Weitere Reformen des Insolvenzrechts werden notwendig sein. Wir werden bereits
im nächsten Jahr über Regelungen zur Verbraucherinsolvenz sprechen. Ich bin der Auffassung: Wir schaffen mit
den im Gesetz verankerten Instrumenten ein gutes Verfahren und werden dem Insolvenzverfahren damit einige
Impulse geben.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die SPD hat jetzt das Wort der Kollege Ingo
Egloff.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zunächst anmerken, dass sich
dieses Gesetzgebungsverfahren positiv von anderen abgehoben hat; denn hier ist auf allen Seiten des Hauses
mit dem gebotenen Sachverstand verhandelt worden.
Die Sachverständigenanhörung hat gezeigt, dass wir in
der Praxis viele Probleme gemeinsam zu lösen haben.
Wir alle haben uns darum bemüht, eine sachgerechte Lösung im Gesetzgebungsverfahren zu finden, wenngleich
wir uns nicht in allen Punkten einig sind; das sei zugestanden. Darauf werde ich gleich noch eingehen. Trotzdem ist das ein positives Beispiel. Daran könnte man
auch in zukünftigen Fällen anknüpfen.
Das Ziel des Gesetzgebungsverfahrens - das ist hier
schon mehrfach gesagt worden -, das uns geleitet hat,
war und ist, die Fortführung von insolvenzbedrohten
Unternehmen zu ermöglichen, die Sanierung in den Vordergrund zu stellen und vor allen Dingen dem Insolvenzverfahren den Makel des unternehmerischen Versagens
zu nehmen. Deshalb haben wir uns ausführlich mit dem
Schutzschirmverfahren und der Praktikabilität desselben
beschäftigt. Der Kollege Lischka hat darauf hingewiesen, dass es positiv zu werten ist, dass wir im laufenden
Gesetzgebungsverfahren an dieser Stelle Änderungen
vorgenommen haben. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Neuland betreten wir bei § 225 a der Insolvenzordnung, der die Umwandlung von Forderungen in Unternehmensanteile vorsieht. Dies ist eine Möglichkeit, den
Unternehmen neue Chancen zu eröffnen. Aber gleichzeitig besteht auch die Gefahr - der müssen wir uns bewusst sein -, dass Unternehmen Forderungen von anderen Unternehmen aufkaufen, wenn klar ist, dass diese
Unternehmen notleidend sind, aber nicht mit dem Ziel,
das Unternehmen zu sanieren, sondern die attraktiven
Teile des Unternehmens zu nutzen, gegebenenfalls weiterzuverkaufen, also das Unternehmen auszuschlachten
und den Rest in die Insolvenz gehen zu lassen. Das
heißt, die Unternehmen würden dann filetiert werden.
Es gibt Beispiele - in Großbritannien gibt es diese Art
des Verfahrens schon länger -, dass das auch deutschen
Unternehmen passiert ist. Ich habe schon in der letzten
Debatte darauf hingewiesen, dass die Deutsche Nickel
- das ist das Unternehmen, das die 1-Euro-Münzen hergestellt hat - dieser Gefahr erlegen und anschließend in
die Insolvenz gegangen ist, nachdem man versucht hat,
durch das Ausweichen in das englische Recht ein entsprechendes Insolvenzverfahren einzuleiten. Wir wissen
auch, dass es in anderen Bereichen - auch in Deutschland wurden Mittelständler von Hedgefonds aufgekauft gängige Praxis ist, so zu verfahren, nämlich attraktive
Unternehmensteile zu verkaufen und den Rest in die Insolvenz gehen zu lassen, und eigentlich gesunde Unternehmen kaputtzumachen.
Deswegen ist es gut, dass wir im Berichterstattergespräch über diese Gefahren noch einmal gesprochen haben und sich alle Beteiligten einig waren, dass wir darauf achten müssen, wie sich dieser Punkt in Zukunft
entwickelt. Deswegen muss das evaluiert werden. Das
hatten wir Sozialdemokraten ausdrücklich vorgeschlagen. Ich finde es richtig, dass wir uns nach fünf Jahren
ansehen, wie sich das Gesetz an dieser Stelle ausgewirkt
hat. Dann erweist sich, ob die Befürchtung, die wir geäußert haben, richtig gewesen ist oder ob wir feststellen
müssen, dass wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens alles richtig gemacht haben, was am Ende dazu geführt hat, dass Unternehmen von dieser Möglichkeit profitiert haben und dann saniert und fortgeführt werden
konnten. Das wird die Zukunft zeigen.
Für uns ist § 56 der Insolvenzordnung der Knackpunkt. Herr Lischka hat darauf hingewiesen. Auch die
Kollegin von den Grünen hat darauf hingewiesen. Die
Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters ist ein hohes
Gut. Ich finde die Regelung richtig, die wir bisher in der
Insolvenzordnung hatten, nämlich dass der Insolvenzrichter den Insolvenzverwalter bestellt, und zwar in großer Unabhängigkeit.
({0})
Deswegen sind wir sehr skeptisch, was die Regelung des
§ 56 angeht. Wir nehmen das nicht als Vorwand, um dem
Gesetz nicht zuzustimmen. Hätten Sie sich an dieser
Stelle bewegt, wie wir es vorgeschlagen haben, hätten
wir diesem Gesetzentwurf in seiner Gänze auch zugestimmt. So werden wir uns enthalten, weil die Frage für
uns so wichtig ist. Auf die Gefahren, die damit verbunden sind, möchten wir noch einmal hinweisen. Dass jemand, der vorher schon ein Unternehmen in irgendeiner
Art und Weise beraten hat, später Insolvenzverwalter
werden kann und dann nicht die Unabhängigkeit hat, die
ein Insolvenzverwalter braucht, darauf hat der Kollege
Lischka schon hingewiesen.
Auch die Regelung des § 56 Abs. 3, die den Richter in
einer Art und Weise bindet, dass er so gut wie keine
Möglichkeit mehr hat, anders zu entscheiden, wenn es
einen einstimmigen Beschluss der Gläubigerversammlung gibt, lehnen wir ab.
({1})
Wir bauen hier keinen Popanz auf. Wer sich auf Veranstaltungen bewegt hat, die zur Insolvenzrechtsreform
stattgefunden haben, und dort mit Vertretern von Banken
und Versicherungen gesprochen hat, weiß, dass die
Großgläubiger in der Regel die Chance sehen, ihre Insolvenzverwalter immer durchzusetzen. Es ist die Frage, ob
das gut ist. Wir beantworten diese Frage eindeutig mit
Nein.
({2})
Wir sind der Auffassung, dass die Änderung von § 56
so nicht beschlossen werden sollte. Wir haben das im
Rechtausschuss beantragt. Sie sind dem nicht gefolgt.
Das ist für uns der Grund, warum wir uns hier heute im
Gesetzgebungsverfahren enthalten und Ihrem Gesetz
nicht zustimmen werden.
Vielen Dank.
({3})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich nun dem Kollegen Stephan Mayer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kollegen! Sehr
verehrte Kolleginnen! Mit dem heute zu fassenden Beschluss über die Novellierung der Insolvenzordnung
wird das ohnehin schon gute deutsche Insolvenzrecht
noch besser. Aber auch wenn es bisher schon gut war:
Gerade die schwerwiegendste Wirtschafts- und Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik hat gezeigt, dass
unser Insolvenzrecht Defizite aufweist. Ich empfinde es
als den größten Charme und auch den größten Mehrwert
der jetzt vorgenommenen Novellierung, dass der Zeitpunkt des Beginns der Sanierung und der Umstrukturierung deutlich nach vorn geschoben wird. Die Vergangenheit hat bewiesen, dass das bisherige Insolvenzrecht
leider nicht die erforderlichen Instrumentarien beinhaltet
hat, um möglichst frühzeitig mit der Sanierung und mit
der Umgestaltung eines Unternehmens beginnen zu können.
Ich kann mich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, des Eindrucks nicht erwehren,
dass Sie im Großen und Ganzen - das war auch Ihren
Reden zu entnehmen - mit den Zielen der Novellierung
des Insolvenzrechts durchaus konform gehen, dass Sie
sich auch mit den einzelnen Bestandteilen durchaus einverstanden erklären, dass Sie aber wirklich das Haar in
der Suppe suchen,
({0})
um diesem Gesetzentwurf ja nicht zustimmen zu müssen. Das finde ich persönlich durchaus bedauerlich, weil
meines Erachtens das Ziel hier in diesem Hause auf allen
Fraktionsbänken gleich sein sollte, nämlich alles dafür
zu tun, dass die Anzahl der Insolvenzen in Deutschland
zurückgeht und damit natürlich auch wertvolle und
wichtige Arbeitsplätze gesichert werden.
Ich bin auch sehr froh, dass der Entwurf einer novellierten Insolvenzordnung im parlamentarischen Verfahren eine deutliche Veränderung erfahren hat - meines Erachtens eine Veränderung zum Besseren. Es ist
erfreulich, dass die Eigenverwaltung, die bisher eher ein
stiefmütterliches Dasein gefristet hat, aufgewertet wird,
reformiert wird, gestärkt wird, dass ein Schutzschirm für
Schuldner geschaffen wird. Es ist aber bei diesem
Schutzschirm genauso wie bei anderen Schutzschirmen,
dass er nicht bedingungslos aufgespannt wird, sondern
nur unter ganz bestimmten Konditionen geöffnet wird:
Hierzu ist es erforderlich, dass der Unternehmer als
Schuldner rechtzeitig den Antrag stellt, also zu einem
Zeitpunkt, zu dem er noch nicht überschuldet ist, zu dem
noch nicht die Zahlungsunfähigkeit gegeben ist. Er hat
dann drei Monate Zeit, einen Insolvenzplan auszuarbeiten, und es besteht die Möglichkeit, einen vorläufigen
Gläubigerausschuss einzurichten. Gerade das Instrument, einen vorläufigen Gläubigerausschuss einrichten
zu können, ist aus meiner Sicht einer der großen Mehrwerte der Novellierung der Insolvenzordnung.
Ein weiterer positiver Bestandteil ist das schon erwähnte Insolvenzplanverfahren, weil damit die Möglichkeit gegeben wird, Betroffene zu Beteiligten zu machen.
Es wird die Möglichkeit gegeben, Fremdkapital zu Eigenkapital umzuwandeln und damit die Gläubiger zu
Mitwirkenden zu machen, natürlich durchaus mit dem
Anreiz, sich aktiv daran zu beteiligen, das Unternehmen
wieder in sichereres und besseres Fahrwasser zu führen.
Richtigerweise wird die Möglichkeit zu Blockaden zurückgefahren; diese wurden bisher teilweise von einzelnen Gläubigern, die Partikularinteressen verfolgt haben,
genutzt. Auch dies ist ein erheblicher Mehrwert, der in
der Novellierung der Insolvenzordnung steckt.
Ich bin auch froh, meine werten Kolleginnen und
Kollegen, dass es uns gelungen ist, durchaus auf berechtigte Wünsche und Forderungen des Bundesrates Rücksicht zu nehmen.
Zum einen wurden die Schwellenwerte, ab denen die
Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses verpflichtend ist, deutlich angehoben. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass für kleinere und mittlere
Unternehmen kein vorläufiger Gläubigerausschuss eingerichtet werden kann. Es liegt eben im Ermessen des
Richters. Ich glaube, es ist ein erheblicher Vorteil, dass
die Schwellenwerte hier deutlich erhöht wurden.
Ein weiteres Ergebnis infolge einer Forderung, die
vom Bundesrat meines Erachtens sehr berechtigt an uns
herangetragen wurde, ist, dass wir formal an den Zuständigkeiten der Insolvenzgerichte nichts ändern. Ich habe
dies schon in meiner Rede in der ersten Lesung am
30. Juni sehr deutlich formuliert: Ich bin der Meinung,
es ist richtig - gerade auch bei Verbraucherinsolvenzen -,
dass der Schuldner einen kurzen Weg zum Insolvenzgericht hat.
({1})
Gerade in den Flächenländern ist es wichtig, dass die
Wege nicht zu lang sind. Es geht häufig um Personen,
etwa Hartz-IV-Empfänger, die selbst nicht mobil sind.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Insolvenzgerichte als Dienstleister empfunden werden und dass
der Weg möglichst kurz ist.
Natürlich besteht für die Länder auch weiterhin, wie
bisher, die Möglichkeit, von der Öffnungsklausel Gebrauch zu machen; sprich: Sie können, wie bisher auch,
in jedem Landgerichtsbezirk ein Amtsgericht zum Insolvenzgericht bestimmen, aber sie müssen es nicht. Dass
den Bundesländern diese Freiheit belassen wird, ist richtig.
Ich habe persönlich in vielen Fällen, auch im Wahlkreis, die Erfahrung gemacht, dass es durchaus einen
Mehrwert bietet, wenn der Insolvenzrichter das Unternehmen und vielleicht auch die Unternehmer oder GeStephan Mayer ({2})
schäftsführer schon aus einer Zeit kennt, zu der es dem
Unternehmen noch besser ging. Auch bei Unternehmensinsolvenzen ist es gut, dass der Weg möglichst kurz
ist, dass also die Distanz zum Insolvenzgericht nicht so
groß ist.
({3})
Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass es uns gelungen ist, die bisherige Regelung, die sich meines Erachtens bewährt hat, beizubehalten.
({4})
Ich bin auch froh, dass es gelungen ist, in die von den
Koalitionsfraktionen eingebrachte Entschließung eine
Evaluierungsklausel aufzunehmen. Es sollte heutzutage
gang und gäbe sein, dass jedes Gesetz nach einer bestimmten Zeit auf seine Sinnhaftigkeit und auf seine
Wirksamkeit hin überprüft wird. Insofern ist es richtig,
dass wir uns hier verpflichten, nach fünf Jahren das neue
Recht auf seine Sinnhaftigkeit und auf seine Wirkung
hin zu überprüfen.
Insgesamt kann man wirklich sagen, dass mit dieser
Verbesserung des deutschen Insolvenzrechts dem berechtigten Ziel Rechnung getragen wird, dass Unternehmen möglichst frühzeitig saniert und umstrukturiert werden können. Vor diesem Hintergrund wäre es aus meiner
Sicht wirklich wünschenswert, wenn dieser sehr gelungene Gesetzentwurf eine möglichst große Zustimmung
in diesem Haus erfahren würde. Deshalb noch einmal
der dringende, aber auch sehr herzliche Appell an die
Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, dem Gesetzentwurf zuzustimmen!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren Erleichterung
der Sanierung von Unternehmen. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7511, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/5712 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der
Maßgabe der vom Berichterstatter Ahrendt mündlich
vorgetragenen Änderung des Art. 10 zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich gehe davon aus, dass wir sofort in die dritte Beratung eintreten können. Gibt es Widerspruch dagegen? Das ist nicht der Fall.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ebenfalls unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7511 empfiehlt der Ausschuss,
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Entschließung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/7511
fort. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2008 mit
dem Titel „Insolvenzrechtsreform unverzüglich vorlegen Außergerichtliche Sanierungsverfahren stärken - Insolvenzplanverfahren attraktiver gestalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Grünen und Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine moderne und zukunftsweisende
Familienpolitik
- Drucksache 17/6915 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor mit
dem Titel „Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik“.
({0})
Zunächst einmal ist natürlich zu fragen, was eine moderne Familienpolitik ausmacht. Daran muss man die
Frage anschließen, was eigentlich Familie ist. Ich
glaube, von der Beantwortung dieser Fragen hängt ab,
welche Konzepte man schreibt, wie man politische
Schwerpunkte setzt und wie man sich in dieser Frage
positioniert.
Unsere Bundesfamilienministerin sagt:
Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger …
stellt sich unter einer Familie nach wie vor verheiratete Eltern mit Kindern vor.
Das habe ich einem Interview im Onlinemagazin The
European im Oktober 2010 entnommen.
Wir müssen aber auch die Realität wahrnehmen. Danach wachsen immer mehr Kinder im Haushalt von
Alleinerziehenden auf. Allein im Jahr 2010 gab es rund
82 000 Scheidungen. Etwa 170 000 Kinder waren davon
allein in diesem Jahr betroffen. Für die Kinder von Alleinerziehenden sind nicht nur die Mutter, der Vater oder
die Geschwister, sondern auch Oma und Opa, selbst
Tante und Onkel ihre Familie. Das halte ich für einen
sehr umfassenden und sehr modernen Familienbegriff,
dem Politik Rechnung tragen muss.
({1})
So aber nicht die Bundesregierung. Was macht sie auf
dem Feld der Familienpolitik?
Es gibt immer noch das Relikt des Ehegattensplittings. Das heißt nicht, dass man sich den Ehegatten teilt.
({2})
Vielmehr handelt es sich um eine finanzielle Förderung
einer ganz speziellen Familienform, die von einem Alleinernährer, der das Geld nach Hause bringt, und einer
Frau, die vielleicht noch etwas nebenher verdient, ausgeht. Damit wird noch nicht einmal allgemein das Modell der Ehe gefördert, wie es der Name vielleicht suggerieren könnte, sondern es wird nur ein ganz bestimmtes
Ehemodell gefördert.
Dann gibt es das Elterngeld. Elterngeld wird aber
nicht allen Eltern gewährt. Für die Eltern, die Hartz IV
beziehen, ist das Elterngeld gestrichen worden,
({3})
obwohl 600 000 alleinerziehende Mütter auf Hartz IV
angewiesen sind, über die Hälfte davon schon seit 2005.
Diese leben also schon seit Jahren auf Armutsniveau und
kommen aus dieser Situation nicht heraus. Dann wurde
ihnen auch noch das Elterngeld gestrichen. Das ist ein
Skandal.
({4})
Die Bundesregierung weigert sich zudem tapfer, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der zumindest das Existenzminimum sichern und das Armutsrisiko
verringern könnte. Die Bundesregierung schaut tatenlos
zu, dass wir nach wie vor unsichere Beschäftigungsverhältnisse haben, dass Frauen schlechter bezahlt werden
und dass vor allem sie Minijobs ausüben; denn zwei
Drittel dieser Jobs entfallen auf Frauen. Die Kindererziehung und die Pflege von Familienmitgliedern wird
hauptsächlich von Frauen geleistet. Gute Arbeit sieht in
unseren Augen anders aus.
Ein weiterer Punkt ist der Ausbau der Kindertagesstätten. Die Bundesregierung will aber nur Plätze für
38 Prozent der Kinder schaffen.
({5})
Ich frage Sie, Frau Bär: Welche Kinder werden auch
2013 noch zu Hause sitzen, wenn die Plätze nicht für alle
reichen, obwohl der Rechtsanspruch für alle Kinder gelten soll?
({6})
Ich bin jetzt schon gespannt auf Ihre Einschränkung des
Rechtsanspruchs, die definitiv kommen wird.
Meine Damen und Herren, was versteht nun die Linke
unter Familie, und was leiten wir daraus ab? Ich zitiere
aus unserem Antrag:
Familie ist dort, wo Menschen füreinander soziale
Verantwortung übernehmen, unabhängig von Trauschein oder sexueller Orientierung.
Wir finden, das ist ein modernes Familienbild, das traditionelle Rollenbilder überwinden will und das auch einen besseren Blick auf die Realität der Familien in
Deutschland darstellt.
({7})
Unser Antrag beschreibt deshalb Rahmenbedingungen
und die Stellschrauben, die wir als Politik nutzen können, um allen Familien eine wirkliche Wahlfreiheit und
ein gutes Leben zu ermöglichen. - Was heißt das für die
Praxis?
Erstens. Wir brauchen zunächst einmal bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum
Beispiel durch ein individuelles Recht auf Teilzeitarbeit.
Individuell heißt, dass man selbst wählen kann und einem nichts aufgezwungen wird. Wir brauchen zugleich
einen Mindestlohn, um Armut durch Arbeit oder Armut
sogar trotz Arbeit zu verhindern.
({8})
Wir brauchen auch die Abschaffung des Ehegattensplittings, wir müssen zur Individualbesteuerung kommen.
({9})
Zweitens. Wir müssen Ausbildung familienfreundlicher gestalten; denn eine gute Ausbildung ist die Grundlage für gute Arbeit und damit für ein Einkommen, das
die Familie sichern kann.
Drittens. Wir brauchen eine Infrastruktur für Familien, Kinder und Jugendliche, zum Beispiel eine gebührenfreie, bedarfsdeckende Kinderbetreuung. Wir brauchen mehr Investitionen in Kinder- und Jugendhilfe.
({10})
Viertens. Wir brauchen die finanzielle Absicherung
von Familien mit geringem Erwerbseinkommen oder gar
keinem Einkommen. Die Kürzungen beim Elterngeld
müssen daher zurückgenommen werden. Wir müssen
verfassungsfeste Hartz-IV-Regelsätze schaffen. Und wir
wollen Kinder durch eine Kindermindestsicherung vor
Armut schützen.
({11})
Fünftens. Wir müssen Alleinerziehende unterstützen.
Vorhin habe ich schon angesprochen, wie viele Menschen in unserem Lande von den daraus resultierenden
Problemen betroffen sind, zum Beispiel bei der Rückkehr ins Berufsleben.
Sechstens. Wir müssen ein partnerschaftliches Leitbild in der Familienpolitik entwickeln. Das heißt, wir
müssen Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts abbauen. Wir brauchen die gleichen Teilhabechancen für
Frauen. Wir müssen die Grundlagen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung, also eine echte Wahlfreiheit,
frei von Rollenmustern, schaffen.
({12})
All dies umfasst nach unserer Auffassung eine moderne Familienpolitik.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Familienministerium hat in diesen Tagen eine Broschüre mit
einer Halbzeitbilanz der 17. Legislaturperiode vorgelegt.
Diese Broschüre trägt den Titel „Familie zuerst!“. Ich
finde, das sollte das Motto der Familienministerin bei
den derzeitigen Haushaltsdebatten sein. Dabei darf es
nicht darum gehen, bei den Familien zuerst den Rotstift
anzusetzen,
({13})
vielmehr muss es darum gehen, eine sozial gerechte Verteilung der Mittel vorzunehmen.
({14})
Beispiele dafür habe ich eben genannt. Ich sehe schon
am Unmut der Regierungsfraktionen, dass wir des Pudels Kern getroffen haben,
({15})
und freue mich auf eine interessante und spannende Debatte.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag,
den die Linke heute vorlegt, steht unter dem Motto: ein
lustiges Potpourri, ein Feuerwerk der guten Laune - einfach alles, was nicht finanzierbar ist und was Familien in
diesem Lande angeblich wollen.
Ich glaube, manchmal hilft es - es würde gerade auch
der Linken nicht schaden -, wenn man einfach einmal
das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in
die Hand nimmt. Ich kann Ihnen empfehlen, einmal einen Blick hineinzuwerfen. In Art. 6 Abs. 1 steht:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen
Schutze der staatlichen Ordnung.
({0})
Genau dieser Familienpolitik fühlen wir uns verpflichtet
- und zwar für alle Familien in diesem Lande, egal welches Modell sie leben -, und genau hierfür macht die
christlich-liberale Koalition Politik.
({1})
Wir machen Politik für diejenigen, bei denen beide
Eltern arbeiten gehen; wir machen Politik für die Eltern,
die sich entschließen, dass ein Ehepartner zu Hause
bleibt.
({2})
Wir machen selbstverständlich auch Familienpolitik für
diejenigen Frauen - Sie sagen, dass es sich dabei um ein
Modell von vorgestern handelt -, die sich entscheiden,
für einige Zeit zu Hause zu bleiben. Sich dann aber hier
hinzustellen, Frau Golze, und zu sagen: „Für diese Gruppen darf man keine Politik machen, denn wir, die Linke,
legen fest, was moderne Familienpolitik ist“,
({3})
das ist ein Skandal! Das ist ja Ihr Lieblingswort hier am
Pult.
({4})
Ich halte es für einen Skandal, wenn Sie hier festlegen
wollen, was das richtige Modell ist, und Sie alle anderen
Modelle für falsch halten. Das akzeptiere ich an dieser
Stelle nicht.
({5})
Das ist die Hauptursache dafür, warum es so wenige
Kinder in diesem Land gibt: Weil jedes Modell, das die
Nachbarfamilie lebt, immer als Kritik am eigenen Modell verstanden wird, weil Sie nicht nach dem Leitsatz
„Leben und leben lassen“ handeln,
({6})
sondern weil Sie sagen: So wie ich das mache - und ich
gehe in Vollzeit arbeiten -, so muss es jede Frau in diesem Land machen,
({7})
nur so ist es richtig. Das finde ich unsäglich, und das
wird von uns nicht mitgetragen.
({8})
Wir haben das Elterngeld eingeführt,
({9})
und das war eine völlig richtige Entscheidung. Wir sind
aber generell für Wahlfreiheit. Wir sind dafür, dass jede
Familie nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden soll.
Wir sind diejenigen, die nichts vorschreiben. Denn es
gibt nicht nur die zwei berühmten Modelle, von denen
Sie reden: auf der einen Seite das Modell, dass beide Elternteile Vollzeit arbeiten und das Kind täglich zwölf
Stunden in der Kita ist,
({10})
auf der anderen Seite das Modell, dass ein Elternteil
komplett zu Hause bleibt.
({11})
Fragen Sie doch einmal die Familien in Deutschland: Es
gibt dort absolut unterschiedliche Modelle; und diese ändern sich auch noch im Laufe der Zeit. Da gibt es nicht
nur Schema A und Schema B; das ist vielfältiger. Unsere
Familienpolitik hat den Anspruch, jedem einzelnen dieser Modelle gerecht zu werden.
({12})
Wir müssen selbstverständlich nicht nur für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr tun, die in vielen
Bereichen schon wunderbar funktioniert. Wir müssen
auch mehr für die Vereinbarkeit von Familie und
Karriere tun. Es muss selbstverständlich möglich sein,
Familie und Karriere miteinander zu vereinbaren. Wenn
ich mit Arbeitgebern rede, akzeptiere ich nicht, wenn es
beispielsweise heißt, eine Führungsposition könne nicht
von einer Frau ausgefüllt werden, die in Teilzeit arbeitet.
Allerdings muss das im gemeinsamen Gespräch und im
Einvernehmen geschehen.
Ich finde es darüber hinaus nicht in Ordnung, hier einen Antrag vorzulegen, den Sie nicht einmal durchgerechnet haben. Jetzt können Sie natürlich sagen: „Das
müssen wir nicht durchrechnen; wir können einfach auf
Kosten der nachfolgenden Generationen ohne Ende
Schulden machen.“
({13})
Eine solche Einstellung ist, um das Lieblingswort von
Frau Golze zu zitieren, „skandalös“. - Frau Golze, ich
finde es nicht in Ordnung, dass Sie hier lustig durch die
Reihen wandern. Ich habe Ihnen bei Ihrer Rede doch
auch zugehört.
({14})
Da sieht man halt, welche Kinderstube Sie haben, Frau
Golze.
({15})
Wir betreiben eine nachhaltige Familienpolitik. Wir
haben nämlich eine Schuldenbremse ins Grundgesetz
aufgenommen und sagen: „Wir verschulden uns nicht
neu.“
({16})
Wir wollen, dass unsere Kinder und Kindeskinder nicht
auf Schuldenbergen spielen, sondern später die Freiheit
haben, gestalten zu können. Sie wollen ohne Ende
Schulden anhäufen und den nachfolgenden Generationen jegliche Luft zum Atmen nehmen. Auch das ist verantwortungslos.
({17})
Sie hatten heute schon hier Ihre große Showveranstaltung, bei der Sie versucht haben, Ihr unsägliches Programm zu präsentieren.
({18})
- Es war eine Aktuelle Stunde.
({19})
- Ja, um einfach einmal die Maske herunterzureißen, damit man sieht, was das für eine Partei ist, deren Vertreter
auf der linken Seite des Hauses sitzen, die unverantwortlich handelt,
({20})
die den Menschen die Luft zum Atmen abschneidet und
die den Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben
haben. Frau Golze sagt ja: „So wie ich lebe, muss jede
einzelne Familie in Deutschland leben.“
({21})
Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich hoffe, dass uns möglichst viele Menschen draußen zuschauen,
({22})
damit sie sehen, welch verantwortungslose Politik auf
der linken Seite des Hauses gemacht wird.
Wir sagen: Wir schreiben niemandem vor, wie er zu
leben hat. Wir haben den Ausbau der Kinderbetreuung
vorangetrieben; wir machen das nach Bedarf, denn wir
wollen niemanden zwangsbeglücken. Wir wollen Familien nicht vorschreiben, was sie zu tun haben. Wir arbeiten auch an einer positiven Stimmung; das ist nämlich
ganz entscheidend.
({23})
Man kann sehr viel in die Betreuung investieren, man
kann sehr viel Geld in die Hand nehmen. Für mich ist es
aber auch entscheidend, in diesem Land ein Klima zu
schaffen, in dem es leichter fällt, Ja zu Kindern zu sagen.
Daran arbeiten wir. Sie sollten sich für Ihren Antrag
wirklich schämen.
({24})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Diana Golze das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Kollegin Bär, ich kann
ja verstehen, dass Sie nach der misslungenen Aktuellen
Stunde heute mehr als aufgebracht sind. Es ist Ihnen
eben nicht gelungen, uns hier als etwas darzustellen, was
wir nicht sind.
({0})
Da Sie mir schon nicht zugehört haben, würde ich Sie
bitten, sich meine Rede im Nachhinein noch einmal anzuhören. Dann merken Sie, dass ich all das, was Sie mir
unterstellt haben, überhaupt nicht geäußert habe. Ich
habe überhaupt niemandem ein Familienbild vorgeschrieben. Ganz im Gegenteil: Ich habe von „Wahlfreiheit“ gesprochen. Ich habe überhaupt niemandem vorgeschrieben, dass er seine Kinder betreuen lassen soll oder
auch nicht. Ich habe sogar ausnahmsweise nicht vom
Betreuungsgeld gesprochen; aber Sie spielen, weil Sie
Ihre Rede vorher geschrieben und bei meiner Rede nicht
zugehört haben, darauf an.
({1})
Es ist einfach erstaunlich, auf welche Art und Weise
Sie sich hier echauffieren. Ich habe eigentlich das Gefühl, eine sachliche Rede gehalten zu haben.
({2})
Man hätte sachlich darauf eingehen können. Dazu sind
Sie nicht in der Lage. Das allein sagt alles.
({3})
Auch ich wünsche mir übrigens, dass das viele gesehen haben.
Vielen Dank.
({4})
Zur Erwiderung. Bitte schön.
Aufgrund der großen Selbstüberschätzung der Kollegin erübrigt sich jegliche Antwort.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Liebe Frau Golze, keine Angst, ich möchte Ihnen nicht
die Maske vom Gesicht reißen wie Frau Bär. Im Gegenteil: Ich danke Ihnen für diesen Antrag; denn er gibt Gelegenheit, sich nach zwei Jahren Regierungskoalition
einmal in einer Bilanz damit auseinanderzusetzen, was
die Regierung bisher an Familienpolitik geleistet hat.
({0})
Ich sage Ihnen ganz eindeutig: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind klar positioniert. Wir
wissen ganz genau: Ohne eine moderne Gleichstellungspolitik gibt es keine moderne Familienpolitik, und ohne
eine moderne Familienpolitik gibt es keine moderne
Gleichstellungspolitik.
({1})
Das ist eine eindeutige Position, die wir bei Ihnen - Frau
Bär, es tut mir sehr leid - vergeblich suchen. Das ist
ganz klar; das zeigte Ihre aufgeheizte Rede vorhin ganz
deutlich.
Die Ministerin - Herr Kues ist da, die Ministerin nicht ({2})
sagt, sie möchte Wahlfreiheit. Das ist ein schöner Satz.
Aber gleichzeitig signalisiert die Bundesregierung mit
dem Betreuungsgeld: Mütter, bleibt doch zu Hause! Andererseits streitet sich die Bundesregierung - ich weiß
nicht, was dabei herauskommt - um das Elterngeld.
({3})
Sie möchte es eigentlich streichen. Welch fatales Signal
ist das für die Mütter, vor allem für die berufstätigen
Mütter! Das ist keine Wahlfreiheit, das sage ich Ihnen an
dieser Stelle; und zukunftsweisend ist das schon gar
nicht.
({4})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, was junge Männer und junge Frauen wirklich wollen, ist, nicht länger
auf eine Rolle festgelegt zu werden. Frau Bär, an dieser
einzigen Stelle würde ich Ihnen recht geben. Denn weder wollen die Männer Haupternährer sein, noch wollen
die Frauen maximal Zuverdienerinnen sein. Ich glaube,
hier hat sich vieles verändert. Es gibt kein entweder Familie oder Beruf, sondern es gibt nur Familie und Beruf.
({5})
Diese veränderten Lebensentwürfe nimmt die jetzige
Regierung nicht wirklich zur Kenntnis. Die veränderten
Lebensbedürfnisse verlangen eine völlig andere Politik;
der mutlose Zickzackkurs, den die Bundesregierung derzeit fährt, ist da völlig fehl am Platz.
Das bestätigt auch der von der Bundesregierung in
Auftrag gegebene Gleichstellungsbericht.
({6})
Dieser Bericht, so scheint mir, liegt bis jetzt leider in der
untersten Schublade, Herr Kues. Ich weiß nicht, was Sie
damit machen. Ich kann nur hoffen, dass Sie sich den
Bericht so schnell wie möglich vornehmen und abarbeiten. Denn dann kommen Sie am Schluss zu einer modernen Familien- und Gleichstellungspolitik.
({7})
Ich sage Ihnen, was dazugehört - Frau Golze hat ja
schon vieles genannt -: Erstens gehört natürlich Zeit für
die Familie dazu, das heißt Zeit für Männer und Frauen,
um für ihre Familie sorgen zu können. Zweitens gehört
natürlich auch dazu, dass der Lebensunterhalt bestritten
werden kann, und zwar durch Frauen und Männer gleichermaßen. Drittens gehört eine gute Ganztagsbetreuung
dazu. Aber wie sieht es konkret aus? Was macht die
Bundesregierung an dieser Stelle?
Nehmen wir uns den Punkt eins, die Zeit, vor. Wir
wissen, das sozialdemokratische Modell der Elternzeit
ist ein Erfolgsmodell. 25 Prozent der Väter nehmen die
Elternzeit in Anspruch. Man kann sagen, da hat sich
wirklich etwas bewegt. Aber man muss ein ehrliches
Bild zeichnen: 75 Prozent der Väter nehmen diese Zeit
leider nicht in Anspruch. Darum haben wir uns vorgenommen, das Konzept der Elternzeit zu verbessern und
es in einem ersten Schritt zu ermöglichen, dass Väter
und Mütter in Teilzeit arbeiten und gleichzeitig Elterngeld in Anspruch nehmen können. Das geht jetzt nur für
sieben Monate; wir wollen das für 14 Monate ermöglichen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht das zwar auch,
aber die Familienministerin ist vor dem Finanzminister
eingeknickt - schade!
({8})
Damit ist dieses wichtige Projekt auf Eis gelegt. Verlorene Zeit für die jungen Frauen und die jungen Männer,
denke ich.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, was Familien,
was Männer und Frauen wirklich brauchen, ist eine andere Arbeitswelt, andere Arbeitszeitstrukturen; das ist
sehr wichtig. Die Ministerin hat eine Initiative gestartet,
die Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“. Aber
diese Initiative beruht auf Freiwilligkeit. Das heißt, sie
hat sich Unterschriften geben lassen ohne irgendeine
Kontrolle. Wie soll das gehen? So etwas hatten wir doch
schon einmal. Vor 10 Jahren, also 2001, gab es eine solche Vereinbarung über familienfreundliche Betriebe.
Welches Ergebnis das zeigte, wissen Sie besser als wir,
nämlich gar keines.
({9})
- Sie haben offensichtlich nichts dazugelernt. Wir haben
eine freiwillige Vereinbarung getroffen in der Hoffnung,
dass sich etwas bewegt. Sie machen jetzt den gleichen
Fehler noch einmal.
({10})
- Frau Fischbach, Sie können mich so viel anschreien,
wie Sie wollen. - Wir brauchen gesetzliche Regelungen,
und zwar dafür, dass Frauen und Männer befristet Teilzeitarbeit annehmen können. Sie brauchen aber einen
Rechtsanspruch, wieder Vollzeit arbeiten zu können;
denn das hilft bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. In diesem Punkt sind wir einen wichtigen Schritt
weiter als Sie.
({11})
Wir wissen eines - das haben Sie noch nicht begriffen -:
Teilzeitarbeit ist heute eine Falle für die Frauen. Unsere
Regelung wird dafür sorgen, dass es eine solche Falle
nicht mehr gibt.
({12})
Frau Golze, ich betone an dieser Stelle: Es ist ein gutes Konzept für Alleinerziehende; denn sie brauchen ein
flexibles Arbeitszeitmodell und nicht 24 Monate Elternzeit, die Sie vorschlagen. Ich bin skeptisch, ob das wirklich eine Lösung wäre. Das wäre in der Tat für die
Frauen eine Falle in Bezug auf den Wiedereinstieg.
Frau Golze, Sie haben auch gesagt: Das Ehegattensplitting muss abgelöst werden. Ja, das ist richtig. Das
Ehegattensplitting ist ein überholtes Modell, es manifestiert vor allem die Rolle der Frau als Hinzuverdienerin.
Ich gebe Ihnen also völlig recht: Das Ehegattensplitting
muss endlich reformiert werden; denn dann hätten wir
Geld - das ist ein weiterer Aspekt - für das, was wir zusätzlich brauchen, nämlich mehr Infrastruktur.
({13})
- Das ist gut. Verantwortung kann man aber nur übernehmen, wenn das Geld dafür vorhanden ist. Wenn jeder
sein eigenes Geld verdient, Frau Bär - das wäre das
Wünschenswerte -, dann kann man gegenseitig Verantwortung übernehmen.
({14})
Dann können auch Frauen Familienernährerinnen sein,
wenn der Mann arbeitslos wird. Genau darum geht es.
Ich komme zu meinem letzten Punkt: Infrastruktur.
Frau Humme, das wird jetzt aber ganz schwierig.
({0})
Nur noch eine Bemerkung. - Ich bedaure es sehr, dass
die Familienministerin nicht aktiv wird und keinen Krippengipfel einberuft. Frau Bär, Sie haben gesagt: Alles ist
unterfinanziert. Nehmen Sie das Geld aus dem Topf für
das Betreuungsgeld - 2 Milliarden Euro -, nehmen Sie
die Begünstigung der Hoteliers zurück - 1 Milliarde
Euro -, und gehen Sie die Reform des Ehegattensplittings an. Sie haben so viele Möglichkeiten, bei den Familienleistungen umzuschichten. Dann hätten Sie genug
Geld. Viele familienpolitische Maßnahmen, die modern
sind, kosten eigentlich gar nichts, aber man muss es wollen und darf nicht ideologisch verblendet in irgendeiner
Ecke sitzen.
Danke schön.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin BrachtBendt das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Humme, Ihre Bewertung unserer Regierungsarbeit teile
ich natürlich nicht. Ich sehe das ganz anders als Sie.
({0})
Der Antrag der Fraktion der Linken enthält einige
Passagen zur Familienpolitik, die ich durchaus mittrage
- Frau Golze hat es schon erwähnt -, zum Beispiel:
Familie ist dort, wo Menschen füreinander soziale
Verantwortung übernehmen, unabhängig von Trauschein oder sexueller Orientierung. … Gemeinschaften, in denen Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, sind gleichzustellen.
({1})
Das sehe ich genauso wie Sie.
Dann heißt es weiter:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu stärken, ist wesentlicher Bestandteil einer sozialen und
geschlechtergerechten Familienpolitik.
Das hat die Koalition in einem gemeinsamen Antrag
längst beschlossen. Auch hierin sind wir uns also einig.
Aber dann gehen mit Ihnen in Ihrem Antrag wieder
einmal die Pferde durch. Woher das Geld für Ihren
Rundumwohlfühlstaat kommen soll, das sagen Sie natürlich nicht. Sie wollen auch noch Gesetze, die alle Einzelheiten des Zusammenlebens regeln - ich zitiere -:
So ist auch die ungleiche Verteilung von unbezahlter ({2})Arbeit und Erwerbsarbeit zu Lasten
der Frauen eine wesentliche Basis der bestehenden
Geschlechterverhältnisse. Trotz eines Neutralitätsanspruchs gegenüber verschiedenen Formen sozialen Zusammenlebens
- jetzt kommt es ist politisch aktiv auf die Beseitigung von geschlechterstereotypen Festlegungen und Rollenzuweisungen hinzuwirken.
Wollen Sie per Gesetz vorschreiben, wer welchen Beruf
ausüben soll, wer daheim den Müll runterträgt oder
spült? Ihr Antrag liest sich, als hätte die Koalition in Sachen moderner und zukunftsweisender Familienpolitik
bislang geschlafen. Was wichtig ist, haben wir aber
längst erkannt. Nicht nur das, wir handeln auch. Das
sieht man an allen einzelnen Bausteinen.
Sie werfen Frau Ministerin Schröder vor, sie halte an
überholten Rollenbildern fest. Das Gegenteil ist richtig:
In ganz unterschiedlichen Initiativen streichen wir immer wieder heraus, dass Stereotype bei der Berufswahl
veraltet sind. Junge Menschen sollen ermutigt werden,
sich nicht nur für vermeintliche Frauen- oder Männerberufe zu entscheiden. Schauen Sie sich den Erzieherberuf
an. Wir haben gezielt die Initiative „MEHR Männer in
Kitas“ auf den Weg gebracht. Oder denken Sie an unsere
Anstrengungen, um Mädchen für MINT-Berufe zu gewinnen.
Zentrales Anliegen der Koalition ist die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. In unserem Frauenantrag haben
wir eine klare Zielrichtung vorgegeben. Da ist die Rede
vom Ausbau der Kinderbetreuung - das ist bekanntlich
Sache der Bundesländer -, weil eine gut ausgestattete,
flexible Betreuung wichtig ist. Damit Eltern gleichberechtigt Familie und Beruf in Einklang bringen können,
hat der Bund den Ausbau mit 4 Milliarden Euro angestoßen.
Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für
jedes Kind ab drei Jahren ist kein Pappenstiel. Sie sagen,
dass „Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen …
überwiegend von Frauen übernommen“ werden. Das bedeute ein „erhöhtes Armutsrisiko im Alter“. Auch diesbezüglich hat die Koalition in Form eines Familienpflege-Gesetzes längst gehandelt.
({3})
- Wir sehen das so. Sie betrachten das natürlich anders. Damit Pflegende nicht in die Altersarmut abrutschen,
bleiben sie zwei Jahre lang sozialversichert. Ihre Rentenversicherungsbeiträge bleiben gleich.
Mit diesem Gesetz sprechen wir gezielt auch Männer
an. Von den berufstätigen Frauen mit pflegebedürftigen
Angehörigen nehmen übrigens 81 Prozent Pflegeaufgaben wahr. Von den berufstätigen Männern - hören Sie
bitte zu - sind das laut Allensbach-Institut immerhin
schon 54 Prozent.
Noch ein Wort zum Mindestlohn: Es ist richtig, dass
zum Beispiel in sozialen Berufen die Gehälter zum Teil
viel zu niedrig sind. Hier muss etwas geschehen.
({4})
Ich lehne es aber ab, dass sich die Politik an dieser Stelle
zu sehr einmischt. Die Tarifhoheit von Wirtschaft und
Arbeitnehmern darf nicht ausgehebelt werden.
({5})
In unserer Fraktion - hören Sie bitte genau zu - diskutieren wir mit unabhängigen Experten aus Wirtschaft und
Wissenschaft über Fragen des Mindestlohns; das ist sehr
interessant.
({6})
Liberale Politik setzt vor allem auf flexible Arbeitszeitmodelle für beide Elternteile.
({7})
Väter wie Mütter müssen neben dem Beruf Zeit für die
Familie haben. Dabei sind die Unternehmen in der
Pflicht. Auch hier haben wir geliefert: Die Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ des Ministeriums mit
dem DIHK verfolgt genau dieses Ziel.
Familienfreundlichkeit wird zunehmend zu einem
Wettbewerbsfaktor bei der Suche nach Fachkräften. Ein
gutes Betreuungsangebot und flexible Arbeitszeitmodelle sind das eine. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat die Koalition dafür gesorgt, dass Familien über die Erhöhung des Kindergeldes und die
Anhebung des Kinderfreibetrages direkt entlastet werden. Neben Wahlfreiheit und finanzieller Unterstützung
ist für mich ein früher Zugang zu Bildungs- und Betreuungsangeboten entscheidend. Bildung von Anfang an ist
Chancengerechtigkeit.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat ein klares und gutes familienpolitisches Konzept. Den Antrag
der Fraktion Die Linke, der völlig überzogene Forderungen enthält, lehnt die FDP-Fraktion natürlich ab.
Ganz herzlichen Dank.
({8})
Katja Dörner ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den andauernden Streitereien in der Koalition über das Betreuungsgeld und das Elterngeld in
den letzten Wochen wäre heute Abend eigentlich eine
gute Gelegenheit gewesen, um Klarheit zu schaffen. Es
wäre angemessen gewesen, den Menschen reinen Wein
einzuschenken und sie darüber aufzuklären, was die Koalitionsfraktionen tatsächlich planen, insbesondere beim
Betreuungsgeld. Aber was müssen wir erleben? Das ist
ein Mix aus unsachlicher Polemik und Süßholzgeraspel.
Ich finde, das ist in einer familienpolitischen Debatte
völlig unangemessen.
({0})
Ich möchte hier einiges in Erinnerung rufen: Fakt ist,
dass Kinder in diesem Land immer noch das größte Armutsrisiko darstellen. Ich gehöre nicht zu denjenigen,
die immer sofort „Skandal!“ schreien. An dieser Stelle
finde ich es aber absolut angemessen, von einem Skandal zu sprechen. Was hat die Regierung gemacht? Sie hat
den Kinderfreibetrag und das Kindergeld erhöht. Dagegen ist erst einmal nichts zu sagen.
({1})
Aber was war der Effekt? Familien mit einem hohen
Einkommen haben im Monat pro Kind 40 Euro mehr im
Portemonnaie, Familien mit einem durchschnittlichen
Einkommen haben 20 Euro mehr, aber Familien im
ALG-II-Bezug haben davon überhaupt nichts gehabt.
Sie gehen komplett leer aus.
({2})
- Genau. Das ist schwarz-gelbe Gerechtigkeit.
Es kommt noch schlimmer. Mit dem sogenannten
Sparpaket wurde - Kollegin Golze hat es schon gesagt den ALG-II-Beziehenden faktisch auch noch das Elterngeld gestrichen.
({3})
Das ist Politik nach dem Motto „Wer hat, dem wird gegeben“. Das ist nicht kinderfreundlich, das ist nicht familienfreundlich, das ist das Gegenteil von einer familienfreundlichen Politik.
({4})
Wir Grünen sagen ganz klar: Die Förderung von Kindern und Familien muss vom Kopf auf die Füße gestellt
werden, damit endlich bei denen das meiste ankommt,
die den größten Bedarf haben.
Jetzt wird von einigen aus der Koalition das Elterngeld sogar infrage gestellt. Ich weiß, dass die Ministerin
und einige Mitglieder Ihrer Fraktionen im Fachausschuss das immer dementieren, aber ich habe den Eindruck, dass das die Großkopferten in der CDU/CSU und
in der FDP nicht beeindruckt. Diese Debatte wird uns
weiter begleiten.
Die angekündigten Weiterentwicklungen beim Elterngeld, also das Teilelterngeld und der Ausbau der Vätermonate, liegen auf Eis. Dabei wären das genau die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt gewesen, nicht
nur um die materielle Absicherung von jungen Familien
zu verbessern, sondern auch, um die Gleichberechtigung
und die Beteiligung der Väter in der Familienarbeit zu
befördern.
({5})
Nächstes Thema - Stichwort „Dauerstreit“ -: das Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern. Die Justizministerin, die heute Abend sogar anwesend ist, hatte
den entsprechenden Gesetzentwurf bereits für den
Herbst 2010 angekündigt. Das ist jetzt ein Jahr her. Wir
warten immer noch. Auf ihrer Homepage verkündet die
Ministerin lapidar, sie habe einen Kompromissvorschlag
gemacht, aber die Union bewege sich nicht.
({6})
Ich finde, es ist ein sehr bezeichnender und ungewöhnlicher Vorgang, den Koalitionsstreit im Internet zu dokumentieren. Dies ist eine zu begrüßende Transparenzoffensive. Aber es ist offensichtlich: Der Frust sitzt hier
wohl tief.
({7})
Wir Grüne haben als einzige Fraktion bis dato einen
Vorschlag zum gemeinsamen Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern gemacht: eine Kombination aus
Antrags- und Widerspruchslösung. Unsere Lösung ist
sehr niedrigschwellig, weil es den Kindern letztlich egal
ist, ob die Eltern miteinander verheiratet sind, und weil
wir der Meinung sind, dass es keinen Grund gibt, verheiratete und nicht miteinander verheiratete Eltern per se
unterschiedlich zu behandeln.
({8})
Seitens der CSU wurde gegen einen solchen einfachen Weg zum gemeinsamem Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern eingewandt, dann sei die Ehe
bald gar nicht mehr attraktiv und so gut wie gar nichts
mehr wert. Diese Meinung teilen sicherlich nicht alle in
der Koalition, aber die schwarz-gelbe Familienpolitik
orientiert sich immer noch an einem veralteten Familienbild: verheiratete Paare mit Kindern, am besten sie zu
Hause oder in Teilzeit beschäftigt. Das hat aber schon
lange nichts mehr mit der Realität zu tun. In den letzten
zehn Jahren ist der Anteil der Kinder, die bei unverheirateten Eltern aufwachsen, um 32 Prozent gestiegen. Der
Anteil der Alleinerziehenden steigt. Homosexuelle Väter
und Mütter leben mit ihren Kindern in Regenbogenfamilien zusammen. Diese Pluralität der Familienformen, die
es in unserem Land gibt, spiegelt diese Regierungspolitik an keiner Stelle wider.
({9})
Für uns Grüne ist Familie da, wo Kinder sind und
Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Es
geht nicht an, dass Kinder und Familien immer noch
Nachteile in Kauf nehmen müssen, nur weil sie in familiären Strukturen leben, die einer konservativen Regierung nicht ganz geheuer sind. Die Familienpolitik muss
sich an den Familien orientieren und nicht umgekehrt.
({10})
Wenn sich die Koalition einmal nicht streitet, dann
steckt sie den Kopf in den Sand. Wir warten auf die Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes mit der angekündigten Ausweitung. Auch das kann man wohl in die
Kategorie Dauerstreit einordnen. Frau Laurischk hat
vorgeschlagen, statt des Betreuungsgeldes den Unterhaltsvorschuss auszuweiten. Das ist eigentlich eine ganz
vernünftige Idee, aber auch da kommen, glaube ich,
diese Regierung und diese Koalitionsfraktionen nicht zusammen.
Wo bleiben die dringend notwendigen Initiativen der
Bundesregierung, um sicherzustellen, dass der Rechtsan16182
spruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren
2013 tatsächlich Realität wird und die Kommunen, was
die Kosten angeht, nicht im Regen stehen bleiben, wenn
der Bedarf höher ist als das, was ursprünglich prognostiziert worden ist?
Angesichts all dieser Herausforderungen, über die wir
heute Abend gesprochen haben, leistet sich die Koalition
eine Diskussion über das Betreuungsgeld. Das ist bizarr.
Ich könnte auch sagen: Mir fehlen die Worte.
({11})
Das stimmt zwar nicht, aber ich denke, das ist eine gute
Schleife, um zum Ende meiner Rede zu kommen.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Peter Tauber für
die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familie ist
dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Das stimmt in der Tat. Dies gilt für Paare, die mit
ihren Kindern zusammenleben und sagen: Wir brauchen
dafür keinen staatlichen und auch keinen kirchlichen
Segen. - Dies gilt für verheiratete Ehepaare, bei denen
der eine den anderen nach 40 Jahren Ehe bis zum Tode
pflegt. Dies gilt genauso für das ganz klassische, traditionelle Familienmodell
({0})
- für viele andere Konstellationen auch, Frau Kollegin von verheirateten Paaren, die Kinder haben.
({1})
Wenn wir uns, ableitend von einem so weit gefassten
Familienbegriff, mit dem sehr weitläufigen und bunt
schillernden Antrag der Linksfraktion beschäftigen,
({2})
sollten wir zunächst einmal zwei grundsätzliche Aspekte
oder Ziele in den Blick nehmen.
Zunächst einmal gilt: Familie ist und bleibt ein Erfolgsmodell und ein Grundpfeiler dieser Gesellschaft.
({3})
Das zeigen auch alle Zahlen. Ich empfehle Ihnen die
Studie „Kinder in Deutschland 2010“ von World Vision,
in der sehr deutlich wird, dass weit über 70 Prozent der
Kinder nach wie vor in einer klassischen Familie mit
verheirateten Eltern groß werden.
({4})
Das ist eine gute Sache. So sehen nun einmal der Alltag
und die Realität aus. Was aber nicht heißt, dass man alle
anderen Formen von Familie ausblendet.
({5})
Das bedeutet auch Folgendes - darauf kann man in
dieser Debatte ruhig einmal hinweisen -: Dieses Modell
ist nach wie vor attraktiv. Viele wünschen sich das.
Wenn Sie junge Leute fragen, wie sie sich ihre Zukunft
vorstellen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Heiraten offensichtlich sexy ist. Man überlegt es sich vielleicht nur eine Weile länger.
Hinzu kommt, dass dieses Modell hervorragend funktioniert. Auch dazu kann ich die Studie „Kinder in
Deutschland 2010“ zitieren. Weit über 80 Prozent der
Kinder sagen: Ich glaube, mein Leben wird richtig
schön. - Das ist ein wunderbarer Satz aus Kindermund.
({6})
Auf die Frage, ob sie der Auffassung sind, dass die
Form der elterlichen Zuwendung, die sie erfahren, ausreichend ist, sagen ebenfalls weit über 80 Prozent der befragten Kinder - das ergibt sich bei allen Familienmodellen, von denen wir gesprochen haben -, dass sich die
Eltern, die alleinerziehende Mutter oder auch die Mutter
zusammen mit dem neuen Vater ausreichend um sie
kümmern. Auch das ist ein guter Befund. Deswegen gehört es sich an dieser Stelle, dass man den Eltern ein
herzliches Dankeschön sagt.
({7})
Es gehört ebenfalls dazu, dass man den Kindern ein
herzliches Dankeschön sagt; denn es gibt unheimlich
viele Kinder, die ihre Eltern bis zum Tode pflegen und
eben nicht wollen, dass sie in ein Heim kommen.
({8})
Nicht jeder kann das für sich frei entscheiden. Es gibt
aber viele, die diese Entscheidung für sich treffen. Das
muss man an dieser Stelle wertschätzen.
({9})
Damit komme ich zu den Rahmenbedingungen. Sie
haben dargestellt, was alles nicht geht. Lassen Sie uns
auch einmal rekapitulieren, was alles geht und ging. Es
beginnt bei der Kindergelderhöhung und der Erhöhung
des Kinderfreibetrags, was ebenfalls genannt worden ist.
Natürlich haben wir auch etwas für die Kinder aus sozial
schwachen Familien getan. Sie haben das Paket für Bildung und Teilhabe komplett ausgeblendet. Dieses Paket
bietet eine gute Chance, diesen Kindern eine Perspektive
zu eröffnen.
({10})
Weil Sie unterstellen, wir täten für diese Kinder
nichts, sage ich: Das setzt sich sogar noch fort. Mit der
Offensive Frühe Chancen sollen 4 000 Kitas gefördert
werden, die konkrete Hilfe und Unterstützung für benachteiligte Kinder ermöglichen. Damit haben wir einen
echten Meilenstein gesetzt.
({11})
Ich weiß, wovon ich rede. Allein in meinem Wahlkreis
gibt es über 15 solcher Kitas, die auf diesem Weg benachteiligten Kindern eine Perspektive eröffnen. Das ist
eine ganz tolle Sache.
({12})
Aus meiner Sicht muss an dieser Stelle auch das Bundeskinderschutzgesetz, das wir auf den Weg gebracht haben, genannt werden. Das sind schon einmal drei Dinge.
Sie können sie negieren. Das macht die Opposition nun
einmal so. Sie müssen aber damit leben, dass wir sie als
positive Beispiele herausstellen.
Wir können diese Aufzählung auch fortsetzen. Es gibt
noch etliche Beispiele. Ich beschränke mich jetzt aber
auf vier weitere Punkte.
Man kann den Bundesfreiwilligendienst nennen, weil
er einen Ort bietet, an dem Menschen lernen, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Man kann an dieser
Stelle auch das Gesetz zur Familienpflegezeit anführen.
Ich habe beispielhaft einen konkreten Fall genannt. Dieses Gesetz ist ein ganz wichtiger Meilenstein, weil es
dem Wunsch alter Menschen entspricht, möglichst zu
Hause und nicht in einer Einrichtung gepflegt zu werden. Deswegen ist auch das ein wichtiger Punkt.
({13})
Zu nennen sind auch die Mehrgenerationenhäuser.
Führen Sie sich einmal vor Augen, welch hervorragende
generationenübergreifende Arbeit dort geleistet wird;
({14})
viele von Ihnen kennen das aus dem eigenen Wahlkreis.
({15})
Auch ich habe mit dem „Kleinen Anton“ in Gründau ein
Mehrgenerationenhaus in meinem Wahlkreis. Das ist ein
ganz hervorragendes Beispiel. Es handelt sich um ein
gutes Projekt, das wir weiterführen. Letztlich ist auch
das Elterngeld zu nennen.
All dies sind wichtige Maßnahmen, die zeigen: Familie steht für uns an erster Stelle. Wir wollen
({16})
eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik machen, die Perspektiven eröffnet. Wenn man immer nur
meckert und alles schlechtredet,
({17})
dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn viele
Menschen in diesem Land den Eindruck haben: Es lohnt
sich nicht, Kinder zu kriegen. Es ist vielleicht sogar gefährlich.
({18})
Das Gegenteil ist der Fall. Schauen Sie sich in der Welt
doch einmal um! In welchem anderen Land gibt es solche Rahmenbedingungen für Familien,
({19})
und in welchem anderen Land können Kinder so behütet
groß werden wie in Deutschland?
({20})
Es ist doch eine Verunglimpfung des eigenen Landes
und der eigenen Gesellschaft, was Sie zum Teil hier
praktizieren.
Das heißt nicht, dass wir nicht auch über Probleme
sprechen sollten. Ich bin in manchen Punkten durchaus
Ihrer Meinung und sage: Hier gibt es noch Baustellen.
Hier müssen wir noch besser werden. Hier ist der Anspruch, den wir haben, noch lange nicht erfüllt. - Das
beginnt bei der Kinderbetreuung und geht weiter bis zu
den Ganztagsangeboten an Schulen.
An dieser Stelle merken wir allerdings sehr schnell:
Familie ist, wenn wir über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reden, eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, nicht nur eine des Bundes, sondern auch eine
der Länder, der Kommunen, der gesellschaftlichen
Kräfte und der Wirtschaft. Hier ist in der Tat noch einiges zu tun. Zum Beispiel brauchen wir flexiblere Arbeitszeitmodelle. All diese Punkte sind zu nennen.
Jetzt bin ich bei einem Punkt, den wir in dieser Debatte aus meiner Sicht viel zu selten berücksichtigen,
nämlich beim demografischen Wandel. - Herr Präsident,
da ich gerade meine Redezeit überziehe: Herr Jarzombek
schenkt mir bestimmt zwei Minuten seiner Redezeit,
({21})
weil ich diesen Gedanken gerne noch ausführen möchte.
Da er das mit strahlendem Kopfnicken bestätigt,
({0})
habe ich den Eindruck: Wenn Sie sagen würden, dass er
seine Redezeit komplett an Sie abtreten möge, würde er
die weiße Flagge hissen.
({1})
Wir wollen seinen Großmut nicht überstrapazieren. Der demografische Wandel ist, wie ich glaube, ein ganz
wichtiges Stichwort, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: Wenn sich der demografische Wandel so wie
in der Vergangenheit fortsetzt, dann schreiben wir auch
diese negative Entwicklung einfach fort. Das kann nicht
unser Ziel sein. Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung hat einen leichten Anstieg der Geburtenrate errechnet; das ist zunächst einmal ein gutes Signal.
Aber ich glaube, es bleibt dabei: Die Politik muss den
Menschen sagen, dass Kinder in dieser Gesellschaft willkommen sind und gute Rahmenbedingungen vorfinden.
An dieser Stelle vergleichen wir die Situation in
Deutschland gerne mit der in Frankreich, auch deshalb,
weil wir viele familienpolitische Maßnahmen und Leistungen der Franzosen inzwischen nachvollzogen haben.
Warum ist aber immer noch ein eklatanter Unterschied
bei der Höhe der Geburtenrate festzustellen? Hierzu gibt
es eine sehr lesenswerte Studie der Wissenschaftler
Stephan Sievert und Reiner Klingholz und ein sehr lesenswertes Buch des französischen Schriftstellers YvesMarie Laulan, in denen sich die Autoren mit dieser
Frage intensiv beschäftigt haben.
Alle drei kommen zu einem einheitlichen Ergebnis: In
Frankreich war die Familienplanung, so wie sie es formulieren, frühzeitig Teil der Staatsräson; die Förderung
von Familien ist also schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine zentrale Aufgabe der Politik geworden.
({0})
Außerdem hat die gesellschaftliche Wertschätzung von
Kindern in Frankreich ungebrochen fortbestanden, und
sie findet eine extrem hohe Anerkennung.
Der französische Schriftsteller Laulan bringt es am
Ende auf den Punkt, indem er schreibt:
({1})
Niemand wird sich Kinder wünschen, wenn er
nicht, wenn auch nur unbewusst, an die Zukunft
glaubt, wenn er sich nicht danach sehnt, dass seine
Nation und sein Vaterland über seine eigene Existenz hinaus fortbestehen.
Vielleicht ist da etwas dran. Wenn wir die Situation bei
uns immer nur schlechtreden und suggerieren, dass Kinder in diesem Land keine Zukunft und keine Chance haben, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich
junge Paare dagegen entscheiden, Kinder in die Welt zu
setzen.
({2})
Ich bleibe dabei: Es gibt nur wenige Länder auf diesem Planeten, in denen die Rahmenbedingungen für
Kinder so gut sind wie bei uns. Deutschland ist ein lebenswertes Land, auch und gerade für Kinder.
({3})
Das ist die Botschaft unserer Politik. Wenn Sie eine andere haben, ist das in Ordnung. Ich glaube, unsere ist die
bessere.
Herzlichen Dank.
({4})
Nun hat der Kollege Stefan Schwartze für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das war wieder einmal eine
ganz besondere Debatte, die wir hier und heute geführt
haben.
({0})
Ich denke, wir sollten versuchen, mehr Sachlichkeit in
die Diskussion zu bringen.
({1})
Alle sprechen von der Bedeutung der Familie und betonen: Familien müssen gestärkt werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss verbessert werden. All das wird in vielen Reden hier im Hause immer wieder betont.
({2})
Wir haben aber nicht den gleichen Familienbegriff. Das
ist hier heute noch einmal deutlich geworden.
({3})
Eine Familie besteht heute nicht mehr immer nur aus
Vater, Mutter und Kindern, sondern die Familie ist bunt,
es gibt sie in vielen Formen. Sie lassen sich nicht mehr
in das alte Familienbild zwängen.
({4})
Wer heute eine zukunftsweisende und moderne Familienpolitik machen will, der muss diesen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen und seinen Familienbegriff erweitern.
({5})
Familie ist für uns Sozialdemokraten dort, wo Menschen gemeinsam leben und füreinander Verantwortung
übernehmen: Verantwortung für Kinder, Ältere oder
Kranke, die zu dieser Partnerschaft gehören, Verantwortung losgelöst von der Verwandtschaft oder dem Trauschein, Verantwortung, die in Beziehungen zwischen
Frauen und Männern genauso gelebt wird wie in gleichgeschlechtlichen Beziehungen.
({6})
In den Familienformen von klassisch bis modern wird
ein großer Dienst für diese Gesellschaft und das Miteinander geleistet. Dieser neue Familienbegriff wird von
einem immer größeren Teil der Gesellschaft getragen
und geteilt.
({7})
All diese Familien, egal in welcher Form, stehen vor
einer ganzen Reihe von Herausforderungen. Für viele
junge Familien ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf von ganz besonderer Bedeutung. Viele junge Frauen
und junge Männer wollen eine wirkliche partnerschaftliche Aufteilung der Aufgaben in einer Familie. Junge
Frauen und junge Männer wollen beides: Verantwortung
für die Familie und Verantwortung für den Beruf.
({8})
Die SPD will die Rahmenbedingungen verbessern,
um eine wirklich partnerschaftliche Aufgabenteilung
von Familien- und Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Wir
wollen das Elterngeld partnerschaftlicher ausbauen, und
wir wollen gute Arbeit, von der man auch leben und die
Familie ernähren kann. Dazu gehört aber auch, dass wir
Arbeitsbedingungen schaffen, mit denen Freiräume für
die Familien ermöglicht werden.
Wir wollen eine Verbesserung der Teilzeitregelung
mit einem Rechtsanspruch auf eine befristete Teilzeit
und dem Rückkehrrecht auf Vollzeit. Teilzeitarbeit darf
keine Falle mehr sein.
({9})
Das geht nicht mit freiwilligen Regelungen, sondern nur
mit einem Rechtsanspruch. Dazu gehört auch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Studium. Ich glaube,
hier müssen wir auch noch einmal auf die BAföG-Regelungen schauen. Auch da muss für junge Familien, für
junge Väter und für junge Mütter mehr möglich sein.
Die Lebenswirklichkeit in den Betrieben ist noch
längst nicht so familienfreundlich, wie es nötig wäre.
Hier muss sich die Einstellung ändern. Familienfreundlichkeit muss zur Unternehmenskultur werden. Das
muss für die Chefs genauso wie für die Kollegen im Betrieb gelten. Wie lang dieser Weg ist, kann man heutzutage ganz schnell erleben.
Sprechen Sie als Angestellter einmal mit Ihrem Chef
über flexiblere Arbeitszeiten, weil Sie sich um Ihre Kinder kümmern wollen. Erklären Sie den Kollegen, dass
das nächste Projekt und die nächsten Aufträge ohne Sie
erledigt werden müssen, weil Sie in Elternzeit gehen. Sie
werden dann ganz schnell merken, was im Vordergrund
steht: die Betriebsabläufe oder die Familienfreundlichkeit im Unternehmen.
({10})
Hier muss die Politik entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Wir können diese Familienfreundlichkeit, diese Unternehmenskultur, nicht gesetzlich verordnen, aber wir können den Rahmen dafür geben. Dafür ist
es höchste Zeit.
({11})
Wir sind gegen die weitere Aushöhlung des Kündigungsschutzes. Auch wir wollen den Kündigungsschutz
ausweiten. Er soll wieder für Unternehmen ab fünf Beschäftigten gelten. Eine Ausweitung des Kündigungsschutzes für Eltern, der bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr des Kindes gilt, wie das von den Linken hier
vorgeschlagen wurde, können wir an dieser Stelle nicht
mittragen. Damit gehen Sie an der Wirklichkeit in den
Betrieben vorbei, und ich weiß auch nicht, warum Sie
auf das vollendete sechste Lebensjahr gekommen sind.
Eigentlich könnte man dann diesen Schutz auch bis zum
Berufsabschluss des Kindes ausdehnen. Das ist ein
schwieriger Teil.
Auch die Festlegung der Arbeitszeiten, die Sie gesetzlich regeln wollen, sehen wir weiterhin in den Händen
der Tarifpartner. An dieser Stelle sollte der Gesetzgeber
keine Vorschriften machen.
({12})
Politik muss sich auf den Ausbau der Infrastruktur
konzentrieren. Wir brauchen die Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Betreuung ab dem ersten Lebensjahr. Die
angestrebte Betreuungsquote von 35 Prozent reicht nicht
aus.
({13})
Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsangebote für Kinder im Vorschulalter. Wir brauchen eine
neue Initiative für die Einrichtung von Ganztagsschulen
und am Ende einen Rechtsanspruch auf den Besuch der
Ganztagsschule.
({14})
Das wären Meilensteine für eine familienfreundliche
Gesellschaft. Das würde die Familienpolitik in diesem
Lande wirklich weiterbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
geben Sie bitte endlich die furchtbare, unsägliche Idee
des Betreuungsgeldes auf.
({15})
Nehmen Sie das Geld und investieren Sie es in die Infrastruktur! Dort wird es dringend gebraucht, damit Eltern
wirklich die Wahlfreiheit haben. Für Wahlfreiheit müssen genügend Angebote vorhanden sein. Daran mangelt
es immer noch. Bis zu dieser wirklichen Wahlfreiheit haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Stampfen Sie
endlich die Idee ein, Eltern eine Prämie zu geben, wenn
sie ihre Kinder von den guten Angeboten der frühkindlichen Bildung fernhalten.
Vielen Dank.
({16})
Kollegin Laurischk hat jetzt für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir als Koalition haben gleich zu Beginn unserer
Regierungszeit einiges für die Familien getan: Wir haben
im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes das
Kindergeld erhöht, den Kinderfreibetrag angehoben und
den Kinderzuschlag gerade für Familien mit geringem
Einkommen erhöht und ausgeweitet. Unser erster Impuls
war also durchaus ein familienpolitischer. Das wird von
der Opposition gerne vergessen, aber so war es nun einmal. Wir sind weiter dran.
({0})
Wir haben gehört, dass es durchaus unterschiedliche
Meinungen geben kann, wie sich Familie definiert. Aber
immer sind Kinder dabei. Ich möchte dabei das Augenmerk auf ein Familienmodell richten, das leicht vergessen wird: Das sind die Alleinerziehenden. Es ist kein Zufall, dass ich daran denke. Ich habe drei Kinder
weitgehend alleine großgezogen. Insofern weiß ich, was
es heißt, Verantwortung allein zu tragen.
({1})
Es geht nicht nur um die Verantwortung, sondern Alleinerziehende haben auch eine große Belastung zu tragen: mental und körperlich. Deswegen ist es wichtig, darauf hinzuweisen, was wir dazu im Koalitionsvertrag
vereinbart haben. Wir haben uns vorgenommen, dass gerade die finanzielle Belastung nicht alleine von den Alleinerziehenden geschultert werden soll, sondern dass
hier Hilfestellungen ermöglicht werden.
Wir müssen realisieren, dass der Unterhalt für die
Kinder, die in alleinerziehenden Familien groß werden,
oftmals ausbleibt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, will ich
gar nicht bewerten. Aber ich habe das Gefühl, dass es
leider immer noch als Kavaliersdelikt angesehen wird,
keinen Unterhalt zu zahlen.
Immerhin haben wir in solchen Fällen eine staatliche
Leistung vorgesehen, den Unterhaltsvorschuss, der dann
für insgesamt sechs Jahre bis zum Höchstalter von
12 Jahren zu zahlen ist. Wir haben in den Koalitionsvertrag aufgenommen, diese Grenze von 12 Jahren auf
14 Jahre zu erhöhen; denn gerade in diesem Alter sind
Kinder kostenintensiv. Es gibt keinen logischen Grund,
zu sagen, dass mit 12 Jahren die Grenze erreicht ist. Die
Altersgrenze von 14 Jahren erscheint uns hier sinnvoll.
Daran arbeiten wir. Wir haben vonseiten der Liberalen
gerade wieder formuliert, dass wir diesen Wunsch haben. Ich denke, dass wir uns dabei auch in konstruktiven
Diskussionen mit dem Koalitionspartner bewegen.
Ein anderes Thema - Sie haben es zu Recht angesprochen, Frau Dörner - ist das Sorgerecht Nichtverheirateter. Wir gehen hier transparent vor. Es gibt keinen Streit,
sondern es geht nur um die Frage, welche Lösung wir
finden. Dass man erst einmal den gemeinsamen Weg
ausarbeiten muss, ist, glaube ich, keine Frage.
Wir haben allerdings die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, hier aktiv zu werden und eine Lösung
herbeizuführen. Ich bin der Meinung, dass das auch für
die vor uns liegende Zeit der Koalition eine dringende
Aufgabe ist; das steht außer Frage.
({2})
Das Verfassungsgericht hat interessanterweise bereits
eine Hilfestellung gegeben. Das Sorgerecht kann bereits
vom sorgeberechtigten Vater eingeklagt werden. Das geschieht auch bereits. Gerade deshalb wird von den Betroffenen stark nachgefragt, wann eine Lösung kommt.
Wie gesagt, die FDP ist in dieser Frage klar positioniert. Wir wollen das, und ich bin sicher, dass sich auch
die Union diesem Thema widmet, weil es nun einmal
eine Vorgabe des Verfassungsgerichts ist.
Insofern sind wir in den spezifischen Fragestellungen,
die Alleinerziehende und beim gemeinsamen Sorgerecht
nichtverheirateter Eltern vor allem die Mütter betreffen
- deren Interessenlage muss man sicherlich mit berücksichtigen, auch wenn das Kindeswohl allem voransteht -,
durchaus aktiv.
Wir sind seit Bestehen des Koalitionsvertrags klar
aufgestellt.
({3})
Insofern gibt es auch vonseiten der Linken nichts beizutragen, was uns in irgendeiner Form beeindrucken
könnte.
({4})
Ihre Forderungen sind allerdings Milliardenforderungen
ohne eine seriöse Gegenfinanzierung. Deswegen ist dieser Antrag mit den darin enthaltenen Forderungen
schlichtweg abzulehnen.
Danke schön.
({5})
Nun hat der Kollege Thomas Jarzombek noch das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als unser
erster Bundeskanzler, Konrad Adenauer, 1957 die gesetzliche Krankenversicherung auf Umlagefinanzierung
umstellte, hat er gesagt: Kinder kriegen die Leute sowieso. - Das war, glaube ich, der einzige große Irrtum,
dem Konrad Adenauer aufgesessen ist.
({0})
Denn wir haben in den letzten Jahren zwar sehr viel für
die Familien und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf getan.
({1})
- Doch, wir haben sehr viel getan, um alle technischen
Rahmenbedingungen für Familien zu verbessern. Meine
Kollegen haben es vorhin im Detail aufgezählt. Wir haben das Elterngeld eingeführt und Betreuungsplätze für
unter Dreijährige geschaffen. Zu Beginn unserer Regierungszeit vor zwei Jahren haben wir beschlossen, das
Kindergeld um 20 Euro zu erhöhen, und viele andere
Maßnahmen mehr durchgeführt.
Dennoch - das macht mich an dieser Stelle betroffen - ist die Geburtenrate in all diesen Jahren relativ unverändert geblieben. Natürlich ist das nicht alles, aber
die Geburtenrate ist das Ergebnis einer Familienpolitik,
über die wir reden müssen.
Als ich selber unlängst mit meinem Vater, der mittlerweile 82 Jahre alt ist, im Krankenhaus war, habe ich vieles begriffen. Man glaubt vielleicht, dass in unserer Gesellschaft heute vieles vom Staat übernommen wird,
dass vieles selbstverständlich ist und Sicherheit bringt.
Am Ende braucht man aber doch Kinder, die für einen
selbst eine große Stütze sind. Da habe ich begriffen, was
ich früher nicht in diesem Maße gesehen habe, nämlich
wie wichtig es ist, eigene Kinder zu haben. Der Sozialstaat heute kann das nicht alles ersetzen.
({2})
So wichtig es ist, über diese vielen technischen Faktoren, wie ich sie weiterhin nenne, wie Teilzeitarbeit, die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf und finanzielle Aspekte zu reden, gibt es noch eine Menge, was wir tun
können und auch tun werden. Ich habe vorhin gerne dem
Kollegen Peter Tauber Redezeit abgegeben; denn ich
habe es genossen, ihm zuzuhören.
({3})
Es geht dabei nicht nur um sogenannte technische Faktoren, sondern auch um unsere Kultur. Ich frage mich, warum die Familien in Frankreich mehr Kinder bekommen
als die in Deutschland.
({4})
- Es geht doch nicht nur um die Betreuung, Frau Kollegin. Sie können das doch nicht darauf reduzieren.
({5})
Ich jedenfalls finde, dass man das nicht kann.
Ich bin froh, dass wir heute über das Thema Familienpolitik einmal so grundsätzlich reden können und dass
Sie den Aufschlag dafür gemacht haben.
({6})
- Frau Kollegin, ich glaube, Sie werden dem Thema
nicht gerecht, wenn Sie die ganze Zeit dazwischenrufen.
({7})
Wir müssen eine Diskussion darüber führen, welche
Faktoren es noch gibt, die eine Kultur für mehr Kinder
und mehr Kinderfreundlichkeit begründen und die die
Menschen in diesem Land ermuntern, wieder mehr Kinder zu bekommen. Das ist die Herausforderung, der wir
uns stellen müssen. Die Geburtenrate muss wieder steigen. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die nur
noch aus alten Menschen besteht.
({8})
- Wir können das natürlich nicht anordnen, sondern
müssen auf diejenigen, die Kinder haben und Familie
und Beruf miteinander verbinden, als Vorbilder verweisen und ein positives Klima schaffen.
Wir müssen zeigen, wie wichtig es ist, Kinder zu haben, egal in welchem Lebensabschnitt, auch im Alter,
um wieder Lust auf Kinder zu machen. Daran fehlt es
bisher. Hier müssen wir viel mehr tun.
Vielen Dank.
({9})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Katharina Landgraf für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel
des Antrags der Linken lautet: „Für eine moderne und
zukunftsweisende Familienpolitik“. Gratulation, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, zu dieser
Formulierung! Sie ist außerordentlich treffsicher und geschickt. Als Familienpolitikerin der Union bleibt mir da
keine andere Wahl, als hier zuzustimmen.
({0})
Denn für eine moderne zukunftsweisende Familienpolitik bin ich auch. Wer will schon eine unmoderne und
rückwärtsgewandte Familienpolitik?
({1})
Dem Titel stimme ich also zu. Aber das war es dann
auch schon.
({2})
Was Sie da so aufgeschrieben haben, können Sie eigentlich mit gutem Gewissen nur auf einem Parteitag der
Linken einbringen. Das haben Sie ja gerade in Erfurt
auch irgendwie so gemacht.
({3})
- Ich glaube, das ist keine gute Idee. - Im Deutschen
Bundestag haben wir für solche Träumereien und Vergesellschaftungsorgien keinen Platz.
({4})
Wir sind keine Propagandisten. Aber Ihr Antrag gibt
mir wenigstens die Chance, hier über unsere Familienpolitik zu sprechen. Wir machen Politik für die reale
Welt und die reale Gesellschaft.
({5})
Für uns ist die Familie der Grundpfeiler der Gesellschaft. Studien verweisen immer wieder darauf, dass die
Mehrheit unserer Bürger großen Wert auf die eigene Familie legt. Kinder wachsen hier am besten auf. Jung und
Alt helfen sich. Das ist der Idealfall. Unsere Aufgabe in
der Politik beschreibt das Grundgesetz in Art. 6; das ist
nach wie vor aktuell. Kollegin Bär hat schon darauf hingewiesen. Genau genommen ignoriert Ihr Antrag die
schwarz-gelbe Koalition und deren Politik. Das ist sicherlich auch Ihre Absicht. Nehmen Sie doch endlich
wahr, was wir als Union tatsächlich erreicht haben! Wir
machen schon lange eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik.
({6})
Hier noch eine persönliche Empfehlung: Gehen Sie
doch einmal auf die Internetseite des Familienministeriums. Dort finden Sie alle Informationen. Dort können
Sie auch die druckfrische Broschüre Familie zuerst! bestellen. Die finde ich gar nicht so schlecht, Frau Golze.
({7})
- Das ist in der Tat ein hohes Lob. - Diese Broschüre ist
eine knackige Dokumentation realer und moderner Familienpolitik der Bundesregierung. Dieses Heft legen
Sie sich bitte einmal unter das Kopfkissen. Vielleicht
lassen Sie dann ab von Ihren unrealistischen Familienträumen.
({8})
Die Politik der Union setzt den Rahmen und gibt
Orientierung für das Leben der Familien und der familienähnlichen Verbünde. Darüber, wie die unterstützenden
Angebote von Gesellschaft und Wirtschaft angenommen
werden, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger selbst
in Freiheit und Verantwortung.
({9})
Wir ermöglichen Wahlfreiheit
({10})
zwischen verschiedenen Lebensentwürfen und Familienmodellen, Frau Lazar. Unser Ziel ist es, Eltern zu stärken, Kinder zu stärken, dafür Rahmen zu schaffen und
Netzwerke zu initiieren und zu stärken.
({11})
Da sind wir schon lange auf einem guten Weg.
({12})
Wenn Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus
der Linksfraktion, das Thema moderne Familienpolitik
so sehr am Herzen liegt, wie Sie behaupten, warum haben Sie dann dem neuen Kinderschutzgesetz nicht zugestimmt? Sich nur kraftvoll zu enthalten, ist zu wenig.
({13})
Ich komme zum Schluss. Wie ich Sie kenne, werden
Sie Ihren Antrag, den wir ablehnen, in die Schublade legen und irgendwann wieder herausholen.
({14})
In der Zwischenzeit sollten Sie ganz nebenbei Ihre Trauminsel suchen. Dort können Sie all Ihre unrealistischen Visionen propagieren und versuchen, andere Träumer zu
begeistern, aber bitte nicht hier in Deutschland.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6915 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie of-
fensichtlich einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen nun zu dem Tagesordnungspunkt 12 a
und b:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen
- Drucksachen 17/7141, 17/7171 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/7402 -
Präsident Dr. Norbert Lammert
Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit
von Städten, Gemeinden und Landkreisen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeindefinanzkommission gescheitert - Jetzt
finanzschwache Kommunen - ohne Sozialabbau - nachhaltig aus der Schuldenspirale
befreien
- Drucksachen 17/1744, 17/7189, 17/7514 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Bernd Scheelen
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und ein
weiterer der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine
Stunde vorgesehen. - Auch das ist offenkundig unstreitig. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen!
Werte Kollegen! Die Familienpolitiker haben in den Debatten heute Nachmittag mehrfach ausgeführt: Der heutige Tag ist mit der Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes ein Meilenstein für die Kinder. - Der
heutige Tag ist aber auch ein Meilenstein für die Kommunen, für die Städte, für die Gemeinden, für die Landkreise in unserem Land.
({0})
Wir stimmen heute in letzter Lesung über das Gesetz
zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen ab. Damit
wird der erste Schritt der Protokollerklärung von Bund
und Ländern im Rahmen des Vermittlungsverfahrens
zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur
Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vollzogen. An dieser Stelle möchte ich mich
bei allen bedanken, die an diesem Kompromiss mitgewirkt haben, auch bei den Genossinnen und Genossen
der SPD und natürlich bei unserer Regierung, heute vertreten durch beide Staatssekretäre, Herrn Kollegen
Fuchtel und Herrn Kollegen Brauksiepe, die sich mit
eingebracht haben.
Das Gesetz bringt erhebliche Erleichterungen für die
prekäre Finanzsituation unserer Kommunen. Mit den
umfangreichsten Entlastungen seit Bestehen der Bundesrepublik beweist die christlich-liberale Koalition nicht
nur, dass der Ernst der Lage, gerade für die Kommunen,
erkannt wurde, sondern auch, dass konstruktive Lösungen gefunden und umgesetzt werden. Das kann man von
der rot-grünen Regierung beim besten Willen nicht behaupten.
({1})
Damals, 2003, wurde die Altersgrundsicherung eingeführt und auf die Kommunen übertragen, ohne die notwendige Finanzierung zu sichern. Meine Damen und
Herren von der SPD, jetzt müssen Sie tapfer sein. 600
Millionen DM waren Ihnen die Kommunen damals wert.
Umgerechnet in Euro sind das 307 Millionen Euro.
({2})
Die Summe wurde im Vermittlungsausschuss auf
409 Millionen Euro aufgestockt, aber nicht nur durch
Ihre eigene Initiative, sondern auch durch unsere kritische Begleitung. Dies ist kurzfristig gedachte Politik.
Dies hat die schwierige Finanzlage der Kommunen auch
durch die enorme Steigerung der Kosten für die Grundsicherung in den letzten Jahren noch zusätzlich verschärft.
Darüber hinaus ist die Vorsorge gegen Altersarmut
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sachgerecht
richtig beim Bund angesiedelt sein sollte. Der Gesetzentwurf legt fest, dass der Bund bis 2014 schrittweise die
kompletten Kosten für die Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung übernimmt. Das sind erhebliche
Beträge. Die Kostenübernahme beginnt im Jahr 2012 im
ersten Schritt, über den wir heute entscheiden, mit
45 Prozent; das sind immerhin 1,216 Milliarden Euro.
2013 liegt sie bei 75 Prozent - das sind 2,67 Milliarden
Euro ({3})
und im Jahr 2014 bei immerhin 4,075 Milliarden Euro.
Im Jahr 2015 sind voraussichtlich Kosten von immerhin
4,35 Milliarden Euro zu übernehmen. Dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zunächst der erste Teil geregelt
wird, hat allein organisatorische Gründe und ändert
nichts an der inhaltlichen Realisierung des Gesamtvorhabens bis 2014 durch weitere Gesetzgebungsverfahren.
({4})
Legt man einen Zeitraum bis etwa 2020 zugrunde, so
ergibt sich aus heutiger Sicht ein Finanztransfer im Umfang von circa 54 Milliarden Euro vom Bund auf die
Kommunen: rund 15 Milliarden Euro Kompensation für
Bildung und Teilhabe durch zusätzliche Bundesbeteiligung an den Kosten für Unterkunft und rund 38,9 Milliarden Euro durch die zusätzliche Übernahme von Kos16190
ten der Grundsicherung im Alter. Sie sehen daran: Wir
kleckern nicht, wir klotzen zugunsten der Kommunen.
Für meine Wahlkreisstadt Würzburg bedeutet dies bereits im nächsten Jahr eine Entlastung von über 2 Millionen Euro. Mein Landrat freut sich immerhin über
600 000 Euro, über die er verfügen kann. Ich glaube, es
ist ganz wichtig, dass die Kommunen mehr Mittel haben,
über die sie in eigener, in kommunaler Zuständigkeit
entscheiden können.
({5})
Wir haben alle die besagten Briefe der Kommunalpolitiker nach dem harten Winter auf die Tische bekommen. Darin stand: Wir können unsere Straßen nicht mehr
sanieren. Wir haben einen Sanierungsstau bei den Brücken, bei den öffentlichen Straßen und Wegen. - Wir
glauben, dass wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs zumindest teilweise dazu beitragen können,
dass Kommunen wieder Luft zum Atmen haben, dass
Kommunen wieder ihre Aufgaben in eigener Zuständigkeit erfüllen können, und dass wir auf dem richtigen
Weg sind.
Meine Damen und Herren, die Gemeindefinanzkommission hat in ihrer Sitzung vom 15. Juni dieses Jahres
die Bundesbeteiligung an der Grundsicherung expressis
verbis begrüßt. Obwohl sich dadurch erhebliche Mehrkosten für den Bund ergeben, ist die Finanzierung sichergestellt. Wir wollen hier nicht den gleichen Fehler
machen wie die rot-grüne Regierung in dem zuvor gebrachten Beispiel.
Die zusätzlichen Kosten werden im Haushalt der
Bundesagentur für Arbeit im gleichen Umfang eingespart.
({6})
So wird die Bundesbeteiligung an den Kosten für Arbeitsförderung ab 2012 entsprechend abgesenkt, allerdings in der letzten Stufe maximal in Höhe eines halben
Mehrwertsteuerpunktes, um die BA nicht zu überlasten.
Dass wir das zumutbar machen können, zeigen die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesagentur ist
noch im März des laufenden Jahres von einem Defizit
von immerhin 5,4 Milliarden Euro ausgegangen, die sie
uns quasi als Darlehen erst nächstes Jahr zurückzahlen
kann. Dieser Betrag hat sich bis August auf 1,9 Milliarden Euro reduziert. Im aktuellen Regierungsentwurf
sprechen wir von 1,0 Milliarden Euro. Die heutigen Zahlen belegen, dass die Bundesagentur im nächsten Jahr
voraussichtlich bloß ganze 500 Millionen Euro an Darlehen zu tilgen hat. Das heißt, wir haben die geschätzten
Verbindlichkeiten der Bundesagentur durch die gute
Konjunktur, durch die richtigen Entscheidungen auf dem
Arbeitsmarkt, durch die richtige Regierung in einem
Zeitraum von weniger als einem Dreivierteljahr auf immerhin 10 Prozent reduzieren können.
({7})
Meine Damen und Herren, Einsparungen, auch bei
der Bundesagentur, werden durch Effizienzsteigerungen
erreicht, nicht durch Streichung des Angebots; auch darauf möchte ich hinweisen. Was die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente angeht, müssen zunächst
die Ergebnisse des Vermittlungsverfahrens abgewartet
werden. Die Finanzierung der Grundsicherung im Alter
ist gesichert. Wir setzen uns nachhaltig für die Kommunen ein. In diesem Jahr werden die Steuereinnahmen der
Kommunen um 3,3 Milliarden Euro steigen und sich insgesamt auf 73,7 Milliarden Euro belaufen.
({8})
Wir brauchen auch finanzstarke Kommunen, die nach
den bisherigen Zahlen voraussichtlich schon 2012 die
Chance haben, bei einer Gesamtbetrachtung einen ausgeglichenen Haushalt in unsere Schuldenbremse einzubringen, für die wir - Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam verantwortlich sind. Da wir zusammen einen
Schuldenberg von über 2 Billionen Euro haben, sind wir
gut beraten, dazu beizutragen, dass wir an allen Positionen versuchen, die Schulden im Griff zu haben. Wir,
aber auch die Kommunen sind, glaube ich, auf dem richtigen Weg. Wir wollen nicht das Schicksal bestimmter
Länder im Süden Europas erleiden, die derzeit große Finanzierungsschwierigkeiten haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Gabriele Hiller-Ohm ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute abschließend über die Übernahme der Kosten für die
Grundsicherung im Alter durch den Bund. Es ist gut,
dass es die Grundsicherung im Alter gibt. Lieber Herr
Lehrieder, sie wurde 2003 von Rot-Grün geschaffen und
trägt erheblich dazu bei, versteckte Armut in unserem
Land zu verringern.
({0})
Menschen, die keine existenzsichernde Rente haben,
mussten bis 2003 zum Sozialamt gehen und auch die
Einkommensverhältnisse der Angehörigen offenlegen.
({1})
Es galt der Grundsatz: Nicht nur Eltern stehen für ihre
Kinder ein, sondern auch Kinder für ihre Eltern. Viele
alte Menschen haben auf Sozialhilfe verzichtet und von
oft deutlich weniger als dem Existenzminimum gelebt,
um ihren Kindern nicht auf der Tasche liegen zu müssen.
Wir haben gemeinsam mit den Grünen diesen entwürdigenden Zustand beendet und die rückgriffsfreie
Grundsicherung eingeführt. Das, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist eine soziale Leistung, auf die wir stolz sein
können.
({2})
Für die Kommunen und Landkreise, die die Grundsicherung finanzieren müssen, war dieser Schritt allerdings mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden. Es
konnte ja nun nicht mehr auf die Angehörigen zurückgegriffen werden. Die Mehrkosten wurden durch eine Beteiligung des Bundes von 16 Prozent an der Grundsicherung im Alter aufgefangen.
Alles wäre gut, wenn nicht die Gesamtkosten kontinuierlich gestiegen wären und viele Städte und Landkreise an den Rand der Handlungsfähigkeit getrieben
hätten.
({3})
Auch für die Zukunft wird eine Steigerungsrate von
5 Prozent jährlich erwartet. Es musste also dringend etwas geschehen. Wir haben uns deshalb im Rahmen der
Verhandlungen über das Hartz-IV-Paket im Februar dieses Jahres für die klammen Kommunen starkgemacht
und die schrittweise Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den
Bund durchgesetzt.
({4})
Jetzt endlich, acht Monate später, liegt uns der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Schlussabstimmung vor. Lieber Herr Kollege Lehrieder, es wirkt so,
als wäre das für Sie eher ein Mühlstein als ein Meilenstein.
({5})
Der Gesetzentwurf wurde im Schweinsgalopp durchs
parlamentarische Verfahren gejagt ({6})
und das, obwohl es heftige Kritik sowohl von uns, von
der Oppositionsseite, als auch vonseiten der Länder und
Kommunen gibt. Sie haben nichts davon aufgegriffen
und legen uns den Gesetzentwurf heute in unveränderter
Fassung zur Abstimmung vor.
Wir kritisieren dieses Verhalten aufs Schärfste. Wir
haben deshalb auch einen Entschließungsantrag zu Ihrem Gesetzentwurf eingebracht, in dem wir unsere Position deutlich machen. Wir werden dem Gesetzentwurf
zähneknirschend zustimmen,
({7})
um das Verfahren nicht noch weiter aufzuhalten.
Unsere Kritik am Gesetz: Vereinbart war die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter
durch den Bund in drei Schritten bis 2014. Was finden
wir vor? Lediglich die Umsetzung der ersten Entlastungsstufe sowie eine für die Kommunen nachhaltige
Abrechnung auf Basis der Daten des Vorvorjahres!
({8})
Die Länder und Kommunen brauchen Planungssicherheit und haben, genau wie wir, ein Gesetz aus einem
Guss mit der Absicherung aller drei Stufen erwartet.
({9})
Diese Zusage haben Sie nicht eingelöst.
({10})
Wir fordern, dass die zweite und dritte Entlastungsstufe
nun spätestens bis April nächsten Jahres gesetzlich abgesichert wird.
Wie sieht es mit der umstrittenen Abrechnung der
Kosten für die Grundsicherung im Alter aus? Der Kollege Peter Götz aus der CDU/CSU-Fraktion
({11})
hat in seiner Rede zur ersten Lesung dieses Gesetzes am
29. September die Kostenübernahme als - ich zitiere „Einstieg in die größte Entlastung der Kommunen seit
Bestehen der Bundesrepublik“ gepriesen.
({12})
Wenn das tatsächlich so wäre, warum, so frage ich mich
und Sie, brechen die Kommunen dann nicht in Jubelstürme aus? Die Antwort ist einfach: Sie haben Ihr Versprechen an die Länder und Kommunen auch an dieser
Stelle nicht gehalten.
({13})
Durch die Abrechnung auf der Grundlage von Zahlen
des Vorvorjahres gehen den Städten und Gemeinden
viele Millionen Euro verloren. Das ist die traurige Wahrheit.
Wir erwarten, dass auch an dieser Stelle nachgebessert wird. Wir fordern in unserem Antrag einen Finanzierungsmodus, wonach die Abrechnung der Kosten der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
zeitnäher als bislang vorgesehen erfolgt.
Wie verhält es sich nun tatsächlich mit der von CDU/
CSU und FDP so gepriesenen größten Entlastung der
Kommunen seit Bestehen der Bundesrepublik durch die
schwarz-gelbe Bundesregierung?
({14})
Es ist richtig, dass der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter übernimmt. Dadurch erfahren die Kommunen tatsächlich eine erhebliche Entlastung. Sich aber
hier als Retter der Kommunen aufzuspielen, das ist weit
hergeholt und geht voll an der Wahrheit vorbei.
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP, ging es doch gar nicht schnell genug,
ebendiese Kommunen zu rupfen wie eine Weihnachtsgans und sie ordentlich zur Kasse zu bitten. Gleich zu
Beginn der Legislaturperiode haben Sie mit dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz die allseits bekannte
Mövenpick-Steuer für Hoteliers sowie weitere Steuersenkungen beschlossen.
({15})
Allein dadurch werden Länder und Kommunen mit
knapp 4 Milliarden Euro Mindereinnahmen pro Jahr belastet.
({16})
So sehen Retter nun wirklich nicht aus.
({17})
Unser Entschließungsantrag ist daher auch ein klares
Signal an die Kommunen, dass wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten zu unserem Verhandlungserfolg
stehen und die Entlastung wie verabredet durchsetzen
wollen.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
wenn Sie, wie es der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Brauksiepe in seiner Rede in der ersten Lesung
sagte, wirklich keinen Zweifel daran aufkommen lassen
wollen, dass der Bund seiner Zusage nachkommt, dann
stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu.
({18})
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der heutigen Verabschiedung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen kommen wir als Bundespolitiker einer im Rahmen des
Vermittlungsverfahrens zur Neuberechnung der Arbeitslosengeld-II-Regelsätze getroffenen Vereinbarung nach.
Damit entlasten wir die Kommunen nachhaltig, und
zwar in einer Höhe, in der die Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie entlastet worden
sind.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf beschließen wir den ersten
Schritt zur Erhöhung der Bundesbeteiligung an den Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die christlich-liberale Koalition sorgt
dafür, dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen
2012 und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden Euro entlastet werden. Würden wir keine gesetzlichen Änderungen herbeiführen, läge die Kostenübernahme durch den Bund im kommenden Jahr nicht bei
45 Prozent, sondern nur bei 16 Prozent. Wir gehen also
einen wichtigen Schritt im Sinne der Kommunen.
Nun äußern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, die Kritik, dass wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf nur die Entlastung für das Jahr
2012 in Höhe von 45 Prozent beschließen, aber die Folgejahre noch nicht berücksichtigen. Sie wissen aber
auch, dass das damit zusammenhängt, dass wir eine
Bundesauftragsverwaltung einrichten werden.
({1})
Die Einrichtung dieser Bundesauftragsverwaltung bedarf einiger Regelungen und Änderungen. Sie bedarf der
Verankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bundes
und der Einführung und Umsetzung einer ganzen Reihe
von Regelungen, was seine Zeit braucht. Seien Sie bitte
so ehrlich und weisen Sie nicht uns die Schuld zu für etwas, was Sie nicht anders hätten lösen können.
({2})
Sie sollten die Menschen und die Kommunen nicht
verunsichern. Sie wissen ganz genau, dass sich Bundestag und Bundesrat in einer Protokollnotiz zu diesen Erhöhungsschritten verpflichtet haben, und ebenso wissen
Sie ganz genau, dass diese Erhöhungsschritte kommen
werden. Verunsichern Sie also bitte nicht von hier aus
die Menschen in unserem Land.
({3})
Da wir davon ausgehen müssen, Frau Hiller-Ohm,
dass die Kosten für die Grundsicherung im Alter künftig
weiter ansteigen werden, stellt diese Kostenübernahme
durch den Bund im Bereich der Alterssicherung eine
nachhaltige und zukunftsorientierte Entlastung für die
Kommunen dar.
Wir sollten aber auch bedenken, was die Kommunen
finanziell am stärksten entlastet. Das ist nicht die Übernahme der Kosten für die Kinderbetreuung, für die der
Bund allein zwischen 2009 und 2013 4 Milliarden Euro
und ab 2014 770 Millionen Euro jährlich zahlt. Es sind
auch nicht die Mittel aus dem Konjunkturpaket II in
Höhe von 10 Milliarden Euro, von denen die Kommunen zu über 70 Prozent profitierten. All dies sind wichtige Entlastungen der Kommunen durch den Bund; keine
Frage. Die größte Entlastung für die Kommunen ist und
bleibt jedoch ein ordentliches und nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit den entsprechenden positiven Folgen.
({4})
Wirtschaftswachstum führt zu wachsenden Steuereinnahmen und zu weniger Ausgaben im sozialen Bereich.
Wenn man sich den Konjunkturverlauf und auch die ProPascal Kober
gnosen für das kommende Jahr anschaut, dann kann man
feststellen, dass hier eine echte Entlastung bevorsteht.
({5})
Das Defizit der Kommunen lag in den ersten sechs
Monaten dieses Jahres nur noch bei 4,8 Milliarden Euro
und damit um 3,5 Milliarden Euro niedriger als im vergangenen Jahr. Es ist ein Verdienst der wachstums- und
beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik dieser Regierungskoalition, dass von dieser Seite aus Entlastungen für die Kommunen stattfinden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Regierungskoalition macht eine verantwortungsvolle Politik im
Sinne der Entlastung der Kommunen. Wir haben darüber
hinaus noch eine ganze Reihe von anderen Maßnahmen
ergriffen, zum Beispiel im Bereich der Arbeitsvermittlung durch die Neuorganisation der Jobcenter vor Ort.
Wir haben im Bereich der Neuorganisation und Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente Voraussetzungen geschaffen, um künftig die Arbeitslosigkeit noch weiter bekämpfen zu können und damit
Entlastungen für die Kommunen zu generieren. Diese
Regierung ist den Kommunen verpflichtet. Wir arbeiten
mit den Kommunen vertrauensvoll zusammen, und zwar
im Sinne der Kommunen.
({7})
Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat Axel Troost für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Finanzlage in vielen Städten, Landkreisen und Gemeinden ist nach wie vor katastrophal. Zwar verzeichnen einige Gemeinden jetzt wieder steigende Gewerbesteuereinnahmen, trotzdem kann von einer Entwarnung
überhaupt keine Rede sein. Als Folge explodieren die
Kassenkredite weiter. Das sind die sogenannten Dispokredite der Kommunen, mit denen diese ihre Liquidität
sichern und laufende Ausgaben finanzieren. Wir haben
inzwischen einen Stand von über 40 Milliarden Euro erreicht. Das bedeutet eine Verdoppelung gegenüber dem
Jahr 2004.
Angesichts dieser untragbaren Situation hat man vonseiten der Regierung eine Gemeindefinanzreformkommission eingerichtet. Man wollte Lösungen finden, um
die Gewerbesteuer abzuschaffen. Das ist gnadenlos gescheitert. Die Gemeinden haben sich nicht auf diesen
Weg eingelassen. Damit sind alle Versuche, die Gewerbesteuer abzuschaffen und sich damit bei großen Unternehmen und Konzernen lieb Kind zu machen, gescheitert.
({0})
Es ist gut, dass die Gewerbesteuer bleibt und dass damit das jämmerliche Possenspiel dieser Kommission ein
Ende gefunden hat. Ich will aber noch einmal hervorheben: Die Finanzprobleme der Kommunen sind keineswegs gelöst. Deswegen bleiben wir dabei - das wird
auch in unserem Antrag deutlich -: Die Gewerbesteuer
muss zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickelt werden, damit die Einnahmen erhöht und stabilisiert werden können.
({1})
Das hilft den Kommunen unmittelbar.
Zudem benötigen die Kommunen mehr vom Steuerkuchen insgesamt. Die Lösung kann daher nur sein: Die
Politik der Steuersenkungen muss endlich beendet werden. Hierzu haben wir gestern eine Debatte geführt. Wir
brauchen ein Steuerkonzept, das die Staatsfinanzen
durch Mehreinnahmen nachhaltig stärkt
({2})
und Reiche und Vermögende als Profiteure mit zur
Kasse bittet.
Kommen wir jetzt konkret zu dem vorliegenden Gesetzentwurf, der ganz hochtrabend eine Stärkung der
Finanzkraft der Kommunen verspricht.
({3})
Wenn man sich den Inhalt im Einzelnen anschaut, stellt
man fest, dass es sich um eine massive Mogelpackung
handelt. Die Fraktion Die Linke hat die Zusage der Regierung, dass dem Bund bis 2014 die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung schrittweise übertragen werden sollen, zunächst begrüßt. Das
ist eine wichtige Maßnahme, die den Kommunen auf der
Ausgabenseite in der Tat erheblich hilft. Denn die
Grundsicherung ist einer der Ausgabenbereiche, in denen die Kosten am stärksten explodieren; inzwischen
machen sie schon über 10 Prozent der gesamten Sozialausgaben der Kommunen aus. Die Konsequenz daraus
ist - das ist hier nicht so genau thematisiert worden -,
dass immer mehr Menschen infolge von Altersarmut in
die Grundsicherung hineinrutschen. Es ist gut, dass der
Bund die entsprechenden Kosten in Zukunft übernimmt
und damit für eine Teilentlastung der Kommunen sorgt.
Die Lösung ist aber nur halbherzig - das ist hier
schon angesprochen worden -; denn die Frage des Abrechnungsmodus ist völlig offen bzw. unzureichend gelöst. Die Erstattung der Kosten richtet sich jeweils nach
den Ausgaben im Vorvorjahr. Dadurch geht den Ländern
und Kommunen viel Geld verloren. Vonseiten des Bundesrates, auf Betreiben der Bundesländer Berlin - damals noch von Rot-Rot regiert - und Brandenburg - Rot16194
Rot -, ist deswegen eine Initiative gestartet worden, um
an dieser Stelle eine Veränderung herbeizuführen und
ein zeitnäheres Abrechnungsverfahren zu erreichen. Natürlich muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass
die Kommunen wirklich die Gelder erhalten und sie
nicht an den sogenannten klebrigen Fingern der Landesfinanzminister hängen bleiben.
({4})
Zum Zweiten - das ist eigentlich das gravierendste
Problem - schafft der Gesetzentwurf die rechtliche
Grundlage für den Kahlschlag in Sachen aktiver Arbeitsmarktpolitik. Besonders schäbig ist, dass die sukzessive
Übernahme der Kosten der Grundsicherung durch drastische Kürzungen bei der Arbeitsförderung gegenfinanziert wird: In dem Maße, in dem der Bund die Kosten
der Grundsicherung übernimmt, werden der Bundesagentur für Arbeit Bundesmittel gestrichen. Bereits im
kommenden Jahr, 2012, werden der Bundesagentur laut
Finanztableau Kürzungen von rund 1,2 Milliarden Euro
zugemutet.
({5})
- Wenn Sie mit Vertretern der Bundesagentur für Arbeit
sprechen, dann sagen sie Ihnen, dass sich die Kosten der
Arbeitsförderung keineswegs proportional zum Rückgang der Arbeitslosigkeit senken lassen.
({6})
Dadurch, dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen steigt,
wird die Kostenbelastung pro Kopf immer größer. Die
Mittel für Weiterbildungsmaßnahmen und vieles andere
mehr werden gekürzt. Sie haben die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik völlig zusammengestrichen.
({7})
Der Kuhhandel, der hier praktiziert wurde, wird zumindest von uns sehr stark kritisiert. Noch einmal zur
Erinnerung: Die Gemeindefinanzreformkommission ist
Ende letzten Jahres gescheitert. Zufällig kam es dann zu
der Situation, dass im Vermittlungsausschuss im Zusammenhang mit der Hartz-IV-Erhöhung über die Frage entsprechender Regelungen gesprochen wurde.
({8})
Herr Kollege Troost, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Middelberg von der CDU/CSU-Fraktion?
Ja.
Lieber Herr Kollege Troost, weil ich Sie besonders
schätze, wage ich es kaum, Sie zu unterbrechen. Ich
möchte Sie aber doch fragen, ob Sie vielleicht zur
Kenntnis nehmen wollen, dass die Zahl der Arbeitslosen
unterdessen erheblich zurückgegangen ist.
({0})
- Warten Sie bitte ab. - Ich möchte Sie fragen, ob es zutreffend ist, dass die Eingliederungsmittel pro erwerbsfähigem Leistungsberechtigten von 715 Euro im Jahr 2005
auf 1 229 Euro im Jahr 2010 und die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit pro Arbeitslosem im SGB-II-Bezug, Herr Kollege Scheelen, von 1 651 Euro im Jahr
2006 auf 2 783 Euro im Jahr 2010 gestiegen sind,
({1})
also pro eingliederungsfähiger und eingliederungsbedürftiger Person am Arbeitsmarkt mehr Mittel zur Verfügung stehen.
Herr Kollege Troost, lassen Sie gleich noch eine weitere Zwischenfrage zu? Dann können Sie Ihre Redezeit
beträchtlich verlängern.
Ja, das können wir gern machen.
Kollegin Mast, bitte.
Herr Kollege Troost, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass 2005 die Reformen am Arbeitsmarkt gerade erst angelaufen sind und deshalb der Ansatz im
Haushalt noch nicht voll ausgenutzt worden ist und dass
man, wenn man die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik seriös vergleichen möchte, die Zahlen von 2008 und
nicht von 2005 verwenden muss?
({0})
Jetzt hat der Kollege die Möglichkeit zur Antwort. Herr Middelberg, Sie waren nicht gefragt.
({0})
Das ist ja beides erst einmal richtig.
({0})
- Moment, ich bin ja noch nicht fertig. - Aber wenn Sie
die Bundesagentur für Arbeit fragen oder sich Ihre letzte
Veröffentlichung zur Langzeitarbeitslosigkeit und zu den
damit verbundenen Problemen anschauen, dann werden
Sie sehr deutlich feststellen, dass die Mittel für die Arbeitsvermittlung dieser Personengruppe deutlich erhöht
werden müssen, weil die Ausgaben nicht proportional
zur Arbeitslosigkeit zurückgehen werden.
Machen wir uns doch nichts vor! Wir sind jetzt auf
dem Gipfel des Beschäftigungsniveaus angelangt. Wir
gehen doch nicht davon aus, dass sich jetzt noch viel tut,
sondern mit dem nächsten Abschwung geht es wieder in
die Massenarbeitslosigkeit hinein. Das heißt, die Mittel
der Bundesagentur sind noch geringer; und die Maßnahmen können nicht mehr ermöglicht werden. Das ist das
Problem.
({1})
Sie bringen zulasten der Ärmsten der Armen, der Langzeitarbeitslosen, die Mittel auf, die Sie anschließend den
Kommunen zur Verfügung stellen. Das ist ein Kuhhandel, der mit uns nicht zu machen ist.
({2})
Deswegen werden wir dieses Gesetz ablehnen, obwohl wir wissen, dass die Übernahme der Kosten für die
Kommunen sehr sinnvoll ist. Aber so einen schäbigen
Kuhhandel zu machen und das eine mit dem anderen zu
koppeln, ist aus unserer Sicht eine nicht zulässige Maßnahme, unter der - um das noch einmal zu sagen - letztlich die Ärmsten der Armen, nämlich die Langzeitarbeitslosen, leiden werden und die dazu führen wird, dass
es keine aktive Arbeitsmarktpolitik mehr geben wird.
Deswegen haben wir einen eigenen Entschließungsantrag eingebracht, in dem wir fordern, dass auf der einen Seite die Grundsicherung übernommen wird und auf
der anderen Seite keine Kürzungen bei der Bundesagentur für Arbeit erfolgen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Wir befinden uns jetzt in der Mitte der
Debatte über den Gesetzentwurf zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen, und ich bin sehr froh, dass
bisher noch niemand aus den Regierungsfraktionen versucht hat, uns zu erklären, dass das der unglaubliche Erfolg der Gemeindefinanzkommission ist.
({0})
Das erleichtert mich ungemein. Bisher reden wir nur in
der Sache über das Gesetz; und das ist auch gut so.
({1})
Denn die Regierung hat sich in der öffentlichen Diskussion und auch in der Diskussion im Finanzausschuss
mangels Ergebnissen aus der Gemeindefinanzkommission - den Städten und Gemeinden war ja versprochen
worden, dort über ihre desaströse Finanzlage zu sprechen - und mangels Ergebnissen in den Fragen Abschaffung bzw. Änderung der Gewerbesteuer, Standards und
Rechtsetzung wild entschlossen auf die Ergebnisse gestürzt, die man schon im Februar im Vermittlungsausschuss im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebungskompromisse erzielt hat, und sie nun auch noch als Erfolg der
Gemeindefinanzkommission verkauft.
({2})
Ich glaube, das wird Ihnen in den Städten und Gemeinden niemand durchgehen lassen; und wir tun das auch
nicht. Deshalb erwähne ich das noch einmal vorweg.
({3})
Lassen Sie uns lieber beim Gesetz selbst bleiben, und
hören Sie auf mit der Lobhudelei, das sei das tolle Ergebnis der Gemeindefinanzkommission.
Jetzt möchte ich etwas zum Gesetz sagen. In der Tat
finde ich es richtig und gut, dass demnächst - das wird
eine Entlastung für die Kommunen sein - die Grundsicherung im Alter in drei Schritten vom Bund bezahlt
und finanziert werden soll und wir uns nicht mehr über
die Bundesanteile in unterschiedlichen Höhen streiten
müssen und darüber, ob die Anteile zu niedrig oder zu
hoch sind. Das wird perspektivisch - gerade im Hinblick
auf die steigende Altersarmut und die Tatsache, dass
nicht alle Menschen eine rentenfinanzierte Alterssicherung haben - eine Entlastung für die Kommunen darstellen.
({4})
Das ist gut so,
({5})
aber der Gesetzentwurf an sich ist schlecht.
({6})
Herr Brauksiepe hat die Gelegenheit, sowohl Ihnen,
meine Damen und Herren, die heute Abend zuhören, als
auch uns noch einmal zu erläutern, warum eine Ministerin bzw. ein Ministerium nicht in der Lage ist, innerhalb
von acht Monaten einen Kompromiss, der im Vermittlungsausschuss vereinbart wurde, umzusetzen.
({7})
Sie stehen nun unter Erklärungsdruck;
({8})
denn es ist klar, dass Sie sich nicht an die Vereinbarung,
die im Vermittlungsausschuss getroffen wurde, halten
werden. Sie legen keinen Gesetzentwurf vor, der eine
100-prozentige Entlastung bis 2014 vorsieht. Sie tun das
mit der Begründung, dass alles über 50 Prozent eine
Auftragsverwaltung im Bundestag nach sich ziehen
würde.
({9})
- Ja, aber dieses Argument gilt auch noch nächstes und
übernächstes Jahr.
({10})
Ich frage mich, warum das Ministerium nicht in der
Lage war, zwischen Februar und Oktober - alle, die bei
den Verhandlungen dabei waren, wussten es schon im
Februar - über dieses Problem nachzudenken und es zu
lösen.
({11})
Hier hat man genauso schludrig gehandelt wie bei vielen
anderen Gesetzen im Bereich Arbeitsmarktpolitik: Erst
einmal hat man es eine Weile liegen lassen; dann hat
man gemerkt, dass da ein Problem auftauchen könnte,
und dann hat man es einfach nur für das Jahr 2012 geregelt und offengelassen, was in den Jahren 2013 und 2014
passieren soll. Da kommen Sie nicht heraus.
({12})
Sie stehen unter Erklärungsdruck, sowohl gegenüber den
Ländern als auch gegenüber den Kommunen.
({13})
Ein zweiter Punkt. Sie haben den Kommunen in den
Hartz-IV-Verhandlungen im Vermittlungsausschuss eine
100-prozentige Entlastung zugesagt. Dadurch, dass Sie
sich auf die Zahlen des Vorvorjahres beziehen, kommt es
aber nicht zu einer 100-prozentigen Entlastung. Sie sollten so ehrlich sein und das den Kommunen sagen. Für
die Stadt Bielefeld, aus der ich komme, bedeutet das,
dass ihr durch Ihre Berechnungsmethoden jährlich
2,7 Millionen Euro entzogen werden, und das gilt auch
für andere Städte und Gemeinden.
({14})
Nicht umsonst erklärt heute der Deutsche Städtetag, dass
er die Länder auffordert, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Das ist auch richtig; denn Sie bleiben nicht bei
Ihrer Zusage, den Kommunen 100 Prozent zu erstatten.
({15})
Ein weiterer Fehler im Gesetz ist übrigens die Spitzabrechnung.
Mein dritter Punkt. Ich frage die Koalitionsfraktionen: Warum nehmen Sie eigentlich keine gesetzliche
Klarstellung vor, damit deutlich wird, wofür das Geld
vorgesehen ist? Warum regeln Sie das nicht gegenüber
den Ländern? Vorhin haben schon mehrere Kolleginnen
und Kollegen darauf hingewiesen, dass sich die Kommunen als letztes Glied in der Kette immer die Frage
stellen, ob sie das, was für sie vorgesehen ist, auch bekommen.
({16})
- Frau Reinemund, Sie sagen, das ist Länderverantwortung. So einfach kann man es sich machen, wenn man
hier in Berlin sitzt und den Bezug zur lokalen Ebene verliert.
({17})
Wir wissen, dass wir das gesetzlich regeln können und
auch regeln sollten. Deshalb meine Frage an Sie - die
kann der Staatssekretär gleich beantworten -: Warum sehen Sie eine solche Regelung nicht vor?
Ich habe bereits ausgeführt, dass ich es gut finde, dass
wir uns auf eine entsprechende Regelung einigen. In Bezug auf den Gesetzentwurf muss man aber insgesamt
feststellen: Sie haben nicht geliefert. Sie bleiben auch
eine Antwort auf die Fragen schuldig, was 2013 und
2014 kommt und wann Sie die Vorhaben umfänglich regeln wollen.
Mein letzter Punkt. Sie wissen, dass die Haushalte des
Bundes, der Länder und der Kommunen knapp sind. Wie
können Sie in einer solchen Situation - gerade angesichts der Debatte, die wir gestern im Parlament zur
Euro- und Schuldenkrise geführt haben - auf die Idee
kommen, Steuersenkungen in Höhe von 6 bis 7 Milliarden Euro zu versprechen?
({18})
Das gehört in eine Kommunaldebatte, Herr Lehrieder.
Ich weiß, dass eine solche Debatte Ihnen unangenehm
ist. Herr Seehofer, Mitglied der CSU, und Herr
Carstensen, Mitglied der CDU, haben Sie bereits gefragt, ob Sie wissen, was das für die Länder und die
Kommunen bedeutet. Eine solche Steuersenkung, die
Sie in dieser Legislaturperiode jetzt zum 25. Mal ankündigen, würde die Länder 3 Milliarden Euro kosten und
für die Kommunen eine Mindereinnahme in Höhe von
900 Millionen Euro bedeuten. Deshalb müssen wir an
dieser Stelle sehr vorsichtig sein.
Aus diesem Grund müssen wir eine solche Forderung
zurückweisen. Die Entlastung von den Kosten für die
Grundsicherung im Alter durch den Bund nützt den
Kommunen gar nichts, wenn Sie sich mit solchen Steuersenkungsplänen in irgendeiner Art und Weise durchsetzen können. Sie müssen endlich einmal Farbe bekennen.
({19})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ralf Brauksiepe.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen kommen wir hinsichtlich der
Umsetzung der Protokollerklärung des Vermittlungsausschusses vom Februar dieses Jahres ein gutes Stück voran, insbesondere hinsichtlich der schrittweisen Entlastung der Kommunen. Wir geben den Kommunen damit
ein großes Stück ihrer Souveränität zurück. Durch den
Entzug der finanziellen Grundlagen wurde das Prinzip
der kommunalen Selbstverwaltung jahrelang ausgehöhlt.
Das ändern wir heute.
({0})
Beim Studium der Rednerliste ist mir aufgefallen,
dass hier kein Vertreter von SPD oder Grünen spricht,
der schon in der 14. Wahlperiode dabei war, als über die
Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gesprochen wurde.
({1})
Aber es gibt ja zum Glück Protokolle, in denen man
nachlesen kann, was seinerzeit gesagt worden ist. Am
26. Januar 2001 - das war zu D-Mark-Zeiten - wurde
hier über den Gesetzentwurf zur Einführung der Grundsicherung im Alter debattiert. Die damalige rot-grüne
Bundesregierung hatte 600 Millionen D-Mark zur Entlastung der Kommunen vorgesehen.
({2})
Die Kollegin Erika Lotz hat damals gesagt:
Die den Kommunen dadurch entstehenden Kosten
- gemeint waren die grundsicherungsbedingten Mehrkosten werden vom Bund getragen. Die Kommunen werden also nicht belastet, wie es die CDU/CSU
fälschlicherweise in ihrem Entschließungsantrag
behauptet.
Das Protokoll vermerkt zur Rede der Kollegin:
({3})
600 Millionen D-Mark, das war Ihr schäbiges Angebot. Sie haben behauptet, das sei ausreichend für die
Kommunen. Ich kann verstehen, dass heute keiner redet,
der dafür verantwortlich war. Sie mögen zwar nicht persönlich verantwortlich sein, aber Sie stehen politisch in
der Verantwortung für die Ausplünderung der Kommunen; denn Sie haben das damals auf den Weg gebracht.
({4})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hiller-Ohm?
Gerne, Herr Präsident.
({0})
Bitte.
Herr Dr. Brauksiepe, können Sie bitte ausführen, wofür die 16-prozentige Beteiligung des Bundes an den
Kosten für die Grundsicherung im Alter damals gedacht
war? Ist es richtig, dass dies als Ausgleich dafür vorgesehen war, dass die Kommunen nicht länger auf die Familienangehörigen zurückgreifen konnten? Weil wir
diese Möglichkeit abgeschafft haben, ist die Grundsicherung im Alter ja überhaupt erst geschaffen worden. Können Sie das bestätigen? Warum vermitteln Sie hier den
Eindruck, dass die gesamten Kosten für die Grundsicherung durch den Bund hätten übernommen werden sollen? Das war damals gar nicht im Gespräch.
({0})
Frau Kollegin, ich muss Ihnen leider sagen, dass Ihr
wiederholter Hinweis auf die 16-Prozent-Beteiligung belegt, dass Sie vollkommen falsch orientiert sind. Sie haben keine 16-prozentige Beteiligung eingeführt.
({0})
Sie haben eine absolute Summe eingeführt: 600 Millionen D-Mark. Das sind umgerechnet 307 Millionen Euro.
Diese Summe wurde im Vermittlungsausschuss von der
damaligen Opposition in diesem Haus und der Mehrheit
im Bundesrat auf 409 Millionen Euro hochgesetzt. Das
war eine absolute Zahl.
({1})
Es ging nicht um 16 Prozent. Ich kann Ihnen sagen, woher die 16 Prozent kommen. Das gehört noch zur Antwort auf Ihre Frage, Frau Kollegin. Wir haben in der
Großen Koalition angefangen, hier aufzuräumen. Wir
haben in der Großen Koalition eine prozentuale Beteiligung eingeführt, weil wir gesehen haben, dass die Beteiligung des Bundes mit einer festen Summe angesichts
der steigenden Kosten relativ immer mehr abgenommen
hat.
({2})
In der Großen Koalition sind wir auf eine prozentuale
Beteiligung übergegangen, die wir schrittweise erhöht
haben. Sie sprachen - im Passiv - davon, dass eine Beteiligung in Höhe von 16 Prozent eingeführt wurde. Da
sind Sie leider in einem völlig falschen Film.
({3})
16 Prozent Bundesbeteiligung gäbe es dann, wenn der
jetzt vorliegende Gesetzentwurf durch eine Blockade
nicht in Kraft träte und im nächsten Jahr der Status quo
gelten würde.
({4})
In diesem Jahr liegt die Beteiligung bei 15 Prozent;
wenn sich nichts ändern würde, würde diese im nächsten
Jahr auf 16 Prozent steigen. Nicht Sie haben unter RotGrün eine Beteiligung in Höhe von 16 Prozent eingeführt, sondern die Große Koalition hat eine schrittweise
steigende prozentuale Beteiligung eingeführt, die im
nächsten Jahr auf 16 Prozent steigen würde, wenn nicht
das kommt, was wir wollen. Wir wollen im nächsten
Jahr keine 16 Prozent, sondern 45 Prozent. Das ist der
Unterschied.
({5})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Lühmann?
Bitte.
({0})
- Sie kommen auch noch dran, Frau Haßelmann.
Herr Dr. Brauksiepe, stimmen Sie mir zu, dass ein
Teil der Menschen, die damals in die Grundsicherung im
Alter kamen, vorher in der Sozialhilfe waren? Stimmen
Sie mir weiterhin zu, dass die zusätzlichen Kosten, die
durch die Menschen, die vorher nicht in Sozialhilfe waren und in dieses neue Konstrukt gekommen sind, mit
800 Millionen D-Mark richtig eingeschätzt wurden - damals hatte man noch keine Prognosen - und die Mittel
für das Jahr der Einführung ausreichend waren?
Frau Kollegin, Sie hatten nicht 800 Millionen D-Mark
vorgesehen. Ich sage noch einmal: Das war das Ergebnis
des Vermittlungsausschusses. Sie hatten 600 Millionen
D-Mark vorgesehen. Sie hatten kein Gesetz für die Einführung der Übernahme der Kosten der Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung gemacht. Eine Dynamisierung der Kostenübernahme war nicht vorgesehen.
({0})
Im Gegensatz dazu hatten wir in der Großen Koalition
eine prozentuale Beteiligung eingeführt und von vornherein eine Steigerung auf bis zu 16 Prozent vorgesehen.
Sie - ich meine nicht Sie persönlich; Sie waren ja damals offenbar nicht dabei - hatten keine Dynamisierung
vorgesehen. Sie reden ja gleich noch. Sie hatten beim
Gesetz für die Einführung der Grundsicherung im Alter
keine dynamische Kostenübernahme geregelt. Das Gesetz war auf Dauer angelegt, und darin war ohne Dynamisierungskomponente eine Beteiligung von 600 Millionen D-Mark vorgesehen. Das war viel zu wenig für die
Kommunen. Das haben Sie gemacht. Hier sollte man bei
der historischen Wahrheit bleiben.
({1})
Um die Entwicklung weiter aufzuarbeiten, will ich
daran erinnern, dass es Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble war, der in der Gemeindefinanzreformkommission als Erster den Vorschlag eingebracht hat,
({2})
dass der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung übernimmt. Deswegen ist
diese Kommission nicht gescheitert. Das war die Initiative des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble.
({3})
Ich finde, es ist wichtig, dass man sich noch einmal
vor Augen führt, was im Vermittlungsausschuss vereinbart worden ist. Im Vermittlungsausschuss ist nicht vereinbart worden, dass die stufenweise Übernahme der
Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in diesem Jahr in einem einzigen Gesetzgebungsverfahren umzusetzen ist. Das ist im Vermittlungsausschuss nicht vereinbart worden. Deswegen kann eine
solche Vereinbarung gar nicht gebrochen werden. Etwas
anderes ist vereinbart worden; da komme ich zu Herrn
Troost. Im Vermittlungsausschuss ist vereinbart worden,
dass parallel zu der Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eine entsprechende Absenkung der Bundesbeteiligung an den
Kosten der Arbeitsförderung erfolgt. Das ist Ergebnis
des Vermittlungsausschussverfahrens.
({4})
Herr Kollege Troost, Bundestag und Bundesrat sind Verfassungsorgane. Der Vermittlungsausschuss ist in unserer Verfassung für solche Auseinandersetzungen vorgesehen. Beim Ergebnis eines demokratisch zustande
gekommenen Vermittlungsverfahrens von einem Kuhhandel zu sprechen, zeugt von wenig Respekt für die
verfassungsmäßige Ordnung in diesem Land. Das ErParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
gebnis des Vermittlungsverfahrens hat nichts mit einem
Kuhhandel zu tun.
({5})
Nun hat sich die Kollegin Hiller-Ohm nicht nur bei
den 16 Prozent vergaloppiert, die es bis heute gar nicht
gibt und die wir auch gar nicht wollen, weil wir für
45 Prozent im nächsten, 75 Prozent im übernächsten und
100 Prozent im darauffolgenden Jahr sind.
({6})
Frau Kollegin Hiller-Ohm sagte auch, wir hätten acht
Monate gebraucht, um einen Gesetzentwurf vorzulegen,
({7})
und dann sprach sie vom Schweinsgalopp, in dem dieses
Verfahren durchgezogen wird.
Meine Damen und Herren, die Vereinbarungen im
Vermittlungsausschuss wurden am 25. Februar 2011 von
Bundestag und Bundesrat abgeschlossen. Am 20. Juli
2011 hat die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf beschlossen, der heute vorliegt. Den Kalender, auf dem
zwischen dem 25. Februar und dem 20. Juli acht Monate
liegen, müssen Sie mir einmal zeigen. Das muss sozialistische Mathematik sein. Für mich sind das keine acht
Monate.
({8})
Wenn Sie dann bei einem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung am 20. Juli 2011 beschließt und über den
heute, am 27. Oktober 2011, abschließend beraten werden soll, also bei einem über dreimonatigen Verfahren,
von einem Schweinsgalopp sprechen, sagt das viel über
Ihr parlamentarisches Verständnis aus, meine Damen und
Herren. Für mich ist das kein Schweinsgalopp. Das sage
ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich. Es ist eine richtige
Entscheidung.
({9})
Von den Kritikpunkten will ich noch einen wesentlichen Punkt aufgreifen. Da wird von der Erstattung orientiert an den Vorvorjahren gesprochen. Das ist wahr. Es
ist so vorgesehen, weil wir gar keine anderen statistischen Daten haben. Auf der Basis von Daten, die wir
nicht haben, können wir auch keine Entlastung der Kommunen vornehmen.
({10})
Das spielt natürlich dann keine Rolle, wenn ich es so
mache wie Rot-Grün und überhaupt nur eine feste
Summe vorsehe, seien es 600 Millionen D-Mark oder
800 Millionen D-Mark. Wenn ich nur eine absolute Zahl
vorsehe und keine Dynamisierung, spielt es keine Rolle,
welche Ausgaben im Vorjahr oder im Vorvorjahr tatsächlich angefallen sind.
Erst in der Großen Koalition haben wir die Dynamisierung vorgenommen. Erst dann spielte die Bezugsgröße eine Rolle. Da hatten wir die Daten des Vorvorjahres. Danach haben wir uns gerichtet. In der Zeit der
Großen Koalition war das der Sozialdemokratie genug.
Das waren auch die einzigen Daten, die wir hatten.
Sie handeln nach dem Motto: Das Sein bestimmt das
Bewusstsein. In der Regierung war es Ihnen recht; in der
Opposition ist Ihnen das gleiche Verfahren plötzlich unrecht. Das kann nicht Maßstab des Handelns dieser Bundesregierung sein und ist es auch nicht, meine Damen
und Herren.
({11})
Wir setzen das um, was im Vermittlungsausschuss
vereinbart worden ist. In diesem Jahr setzen wir es in einem ersten Schritt um. Der nächste Schritt wird mit der
Regelung zur Bundesauftragsverwaltung folgen.
Dies ist ein Sieg für die Kommunen. Damit erhalten die
Kommunen wieder die Handlungsfähigkeit, die sie brauchen. 1,2 Milliarden Euro beträgt die Entlastung allein im
nächsten Jahr. Sie haben mit 307 Millionen Euro angefangen. Wir sorgen jetzt dafür, dass die Kommunen endlich
die Ausstattung bekommen, die sie brauchen, um verantwortungsvoll handeln zu können.
Dies ist der Sieg für die Kommunen. Das ist das großartige Ergebnis dieser Politik. Dafür bitte ich um Zustimmung.
({12})
Das Wort hat Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Herren und Damen! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! 5 Milliarden Euro beträgt das
strukturelle Defizit, das die Kommunen dieses Jahr erwarten. Ein solches strukturelles Defizit bedeutet, dass
die Kommunen dieses Jahr 5 Milliarden Euro aufnehmen müssen, um allein ihre gesetzlich vorgeschriebenen
Aufgaben zu erfüllen.
Im nächsten Jahr werden wir sie um zusätzliche
1,2 Milliarden Euro entlasten.
({0})
Das ist ein wichtiger Schritt und ein guter Schritt.
Die Redner und Rednerinnen der Koalitionsfraktionen tun allerdings so, als hätten sie jetzt ein Allheilmittel
gefunden - eine Art Dukatenesel -, um die Kommunen
von allen Verpflichtungen und Nöten zu befreien. Die
Realität sieht aber ganz anders aus.
Das verdeutlicht schon die Anwendung einer einfachen Grundrechenart. 5 Milliarden Euro Defizit weniger
1,2 Milliarden Euro Bundeszuschüsse macht 3,8 Milliarden Euro Kredite.
Diese 3,8 Milliarden Euro, die über Kredite finanziert
werden müssen, sind wahrscheinlich die Luft zum Atmen, die Sie vorhin meinten, Herr Kollege Lehrieder.
Worüber reden wir heute? Herr Brauksiepe, wir reden
auch über die ehemalige Sozialhilfe, für die die Kommunen - auch unter Ihrer Regierung - in keiner Weise entlastet wurden. Sie hatten sie in voller Höhe zu tragen.
Das Gesetz, über das wir heute sprechen, hat zum ersten
Mal die Kommunen bei der - damals noch - Sozialhilfe
entlastet, und zwar jährlich um 800 Millionen D-Mark.
Das muss hier einmal deutlich gesagt werden.
({1})
Da dies nicht mehr ausreicht, behandeln wir heute die
erste Stufe der weiteren Entlastung bei den Kosten der
Grundsicherung im Alter. Das ist aber nur eine erste
Stufe. Die Bundesregierung ignoriert geflissentlich diese
Formulierung. Sie behauptet, sie hätte einen großen
Wurf getan, und verkennt dabei völlig die Realität. Die
Realität ist, dass die Übernahme der Grundsicherung im
Alter weder das Ergebnis noch der Erfolg der Gemeindefinanzkommission ist.
({2})
Das Gegenteil ist der Fall. Das ist ein Vorhaben, das die
Länder im Vermittlungsausschuss vom Bund erstritten
haben.
({3})
Der Finanzminister verkennt das völlig. Er geriert sich
hier als Retter der Kommunen. Man könnte meinen, man
habe eine Art Robin Hood der Kommunen vor sich,
wenn man ihn reden hört.
({4})
Wenn man aber die Verhandlungsführerin der SPD,
Manuela Schwesig, fragt,
({5})
dann wird einem sehr schnell klar, dass diese Bundesregierung eher zum Jagen getragen werden musste.
({6})
Wie sieht die generöse Entlastung aus? Ihr stehen zusätzliche Belastungen durch diverse Gesetzesvorhaben
dieser Regierung in den letzten zwei Jahren gegenüber.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Da ist zum
Beispiel das Gesetz zur Änderung des Vormundschaftsund Betreuungsrechts; dieses Gesetz bedeutet zum Beispiel für die Stadt Mönchengladbach, dass vier zusätzliche Stellen geschaffen werden müssen. Weitere Beispiele sind das heute verabschiedete Kinderschutzgesetz,
der elektronische Aufenthaltstitel, der neue Personalausweis und die Änderungen im Eichwesen - alles nicht gegenfinanziert.
({7})
Sogar in diesem Gesetzentwurf gibt es Belastungen,
die festgeschrieben sind. Ich zitiere:
Da beabsichtigt ist, dass der Bund ab dem Jahr
2014 die Nettoausgaben … für die Grundsicherung
im Alter … vollständig erstattet, stehen Ländern
und Kommunen dann ausreichend Finanzmittel zur
Verfügung, um dauerhaft auch die … kommunalen
Aufwendungen für Mittagessen und Schulsozialarbeit selbst finanzieren zu können.
({8})
Das, meine Herren und Damen, ist doch fast schon zynisch; das muss man so sagen.
({9})
Es würde mich nicht wundern, wenn der Finanzminister
die geplanten Steuersenkungen gegenüber den Kommunen rechtfertigt, indem er darauf hinweist, dass die Kommunen das schon verkraften können, weil sie durch die
Übernahme der Grundsicherung im Alter jetzt genug
Geld bekommen.
Und - ich wiederhole jetzt einige Punkte, die meine
Vorrednerinnen angesprochen haben -: Das Gesetz ist
auch noch schlecht gemacht. Die Hauptkritik, die übrigens nicht nur von uns, sondern auch vom Bundesrat
und von den kommunalen Spitzenverbänden geübt wird,
betrifft zwei Punkte. Die Vereinbarung regelt nur das
Jahr 2012. Da ich selbst Kommunalpolitikerin bin, weiß
ich: Wir können keine Doppelhaushalte verabschieden.
Eine seriöse mittelfristige Finanzplanung ist nicht möglich.
({10})
Was die Frage, warum Sie das in acht Monaten nicht geschafft haben, angeht, rate ich Ihnen: Schauen Sie einmal
in den Gesetzentwurf hinein. Was steht da drin? Da steht
drin: Wenn wir die zweite Stufe nicht rechtzeitig schaffen, bleibt es bei einer Übernahme von 45 Prozent. - Warum haben Sie das denn hineingeschrieben, wenn Sie das
nicht auch machen wollen?
({11})
Außerdem ist dieses Gesetz eine reine Mogelpackung. Denn es stellt auf die Ausgaben des Vorvorjahres
ab. Ich möchte kurz beleuchten, was das bedeutet.
({12})
Der Betrag für die Grundsicherung im Alter steigt jährlich um etwa 5 Prozent an. Das entspricht einem Volumen von über 200 Millionen Euro. Damit zahlen die
Kommunen jedes Jahr 500 Millionen Euro aus eigener
Tasche.
({13})
Ich möchte das einmal anders ausdrücken.
({14})
Das heißt, für das Jahr 2012 zahlt der Bund den Kommunen nicht die vereinbarten 45 Prozent der Grundsicherung im Alter, sondern nur 42 Prozent.
({15})
Das ist eine Mogelpackung.
({16})
Das könnte man auch das „Kleingedruckte“ dieser Vereinbarung nennen; das, was Sie hier machen, ist unlauter.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt diesem Gesetzentwurf zu. Allerdings hat sie auch einen Entschließungsantrag eingebracht. Was in diesem Entschließungsantrag steht, hat meine Kollegin Hiller-Ohm schon
dargelegt; ich möchte das nicht wiederholen. Wenn vonseiten der Bundesregierung wieder die Einlassung
kommt, es sei völlig unnötig, dass wir unsere Bedenken
hier darlegen, sage ich Ihnen aber: Dann dürfte es Ihnen
nicht schwerfallen, den Absichtserklärungen unseres
Entschließungsantrages zuzustimmen. Darauf freue ich
mich.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Lühmann, Sie sagten: Wir entlasten die Kommunen
im nächsten Jahr.
({0})
Nicht Sie entlasten die Kommunen. Wir entlasten die
Kommunen. Sie stimmen dem Gesetzentwurf zwar zu,
({1})
wollen aber einen Großteil seiner Regelungen durch Ihren Entschließungsantrag zurücknehmen. Wie ehrlich
sind Sie an dieser Stelle?
({2})
Nachdem die Opposition bisher hauptsächlich versucht hat, die technischen Details dieses Gesetzentwurfes zu zerpflücken,
({3})
möchte ich auf das Wesentliche zurückkommen. Noch
nie hat eine Bundesregierung die Kommunen finanziell
so nachhaltig entlastet wie diese christlich-liberale Koalition.
({4})
Bis zum Jahr 2014 übernimmt der Bund schrittweise
die kompletten Kosten der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung plus alle künftigen Kostensteigerungen plus die Verwaltungskosten für dieses Gesetz.
({5})
Für meine Heimatstadt Mannheim sind das ab 2014 immerhin 20 Millionen Euro pro Jahr plus alle Steigerungen von circa 5 Prozent pro Jahr, die noch folgen. Egal
was Sie gegenrechnen und kleinreden wollen: Das ist
eine Entlastung für Städte und Gemeinden in einer noch
nie dagewesenen Höhe.
({6})
Das ist richtig so und auch gerechtfertigt, und es war
auch höchste Zeit; denn diese Aufgaben wurden den
Kommunen bereits 2003 von Rot-Grün übertragen ohne einen angemessenen finanziellen Ausgleich. Dies
hat sich zu einem der größten Posten in den kommunalen
Haushalten entwickelt. Heute nörgeln Sie hier herum,
aber ehrlich ist das Ganze nicht.
Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs beschließen wir nun den ersten Schritt für 2012. Die Regelungen für 2013 und 2014 werden in Kürze folgen. Das
ist zugesichert und wird sicher auch eingehalten.
({7})
Das kommt gerade den klammen Kommunen mit problematischen Sozialstrukturen zugute.
Gleichzeitig wurde den Kommunen durch die solide
Wirtschaftspolitik der letzten beiden Jahre ein spürbares
Einnahmeplus beschert, wie es in dieser Höhe noch Anfang des Jahres kaum zu erwarten war.
({8})
Die historisch niedrige Arbeitslosenzahl führt gleichzeitig zur Entlastung bei den Sozialkosten. Die Steuereinnahmen der Kommunen stiegen in der ersten Jahreshälfte um 12,8 Prozent. Einige Kommunen erreichen
bereits dieses Jahr die Rekordeinnahmen des Vorkrisenjahres 2008. Gerade die Wachstumsdynamik der Gewerbesteuer im Aufschwung ist unbestritten und sehr erfreulich.
({9})
Gleichzeitig entstehen jetzt große Sorgen über die
Schwankungsanfälligkeit der Gewerbesteuer bei Konjunkturschwankungen.
Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass
sich die Lage regional und je nach Gemeindetyp weiterhin sehr unterschiedlich darstellt.
({10})
Viele Kommunen stehen nach wie vor mit dem Rücken
an der Wand. Ganz besonders schlimm ist es in Nordrhein-Westfalen.
({11})
Der Anteil der Kassenkredite nordrhein-westfälischer
Kommunen an allen an Kommunen vergebenen Kassenkrediten beläuft sich auf mehr als 50 Prozent; es sind
20 Milliarden Euro. Die Ursachen sollte man vielleicht
einmal analysieren. Sie liegen sicher nicht alleine in der
Bundespolitik.
({12})
Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwabe?
Der Herr Kollege Schwabe? Aber ja, gerne.
Frau Kollegin, da ich aus dem Ruhrgebiet komme
- ich bin Wahlkreisabgeordneter für die Städte Recklinghausen, Castrop-Rauxel und Waltrop, die auch von CDU
und FDP regiert werden - und Sie wahrscheinlich diese
Region gemeint haben, würde ich von Ihnen gerne einmal wissen, worin denn die Gründe dafür liegen könnten, dass es den Kommunen im Ruhrgebiet besonders
schlecht geht.
Ich denke, dass Sie das sicher besser analysieren können als ich, da Sie aus NRW kommen.
({0})
Ich möchte auch nicht behaupten, dass es alleine an den
Kommunen liegt. Es liegt sicher auch am Strukturwandel im Ruhrpott, aber auch an den Aufgaben des Bundes,
die vor allen Dingen Rot-Grün jahrzehntelang weitergegeben hat.
({1})
- Jetzt verstehen Sie die Rechnung. - Reicht das als Antwort?
({2})
Liebe Kollegen der Opposition, natürlich haben Sie
recht: Die Übernahme der Grundsicherung alleine führt
nicht zur dauerhaften Stabilisierung der kommunalen Finanzen. Wir brauchen eine umfassende Strukturreform.
Deswegen gab es im letzten Jahr eine Regierungskommission zur Reform der Gemeindefinanzen, und wir alle
bedauern außerordentlich, dass diese ohne Ergebnis auseinandergegangen ist. Bund, Länder und kommunale
Spitzenverbände sind zu keiner Einigung gekommen weder auf der Einnahmeseite noch auf der Ausgabenseite. Die Fronten sind geklärt und vor allen Dingen verhärtet.
Mit Ihren Anträgen bieten Sie keine substanziellen
Neuigkeiten. Sie tragen Ihre Forderungen, die ja ebenfalls Inhalt der gescheiterten Regierungskommission waren, immer und immer wieder hier vor. Dieses Zementieren hat uns bisher aber nicht wirklich weitergebracht.
Zum Ergebnis führt hier nur ein Kompromiss. Wer Kompromisse erzielen will, darf seine Forderungen nicht in
Stein meißeln.
Sehen Sie denn irgendwo ein konsensfähiges Modell
abseits der allseits bekannten Extrempositionen, die bereits mehrfach vorgetragen und abgelehnt wurden? Wir
sind offen für konstruktive Vorschläge, mit denen die
Chance besteht, alle Beteiligten zusammenzubringen.
Eine Wiederholung der immer gleichen, bereits abgelehnten Positionen ist einfach nicht ehrlich.
({3})
Das Wort hat nun Antje Tillmann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer! Liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD, jetzt hat sich Herr Brauksiepe so viel Mühe gegeben, Ihnen zu erklären, wie dieses Gesetz historisch zustande gekommen ist. Das hindert Sie, Frau Lühmann,
leider nicht daran, hier die gleichen Unwahrheiten, die
Frau Hiller-Ohm schon erwähnt hat, zu wiederholen.
({0})
Fakt ist, dass unser Finanzminister Schäuble das erste
Mal eine Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung ins Gespräch gebracht hat. Daraus können Sie
schließen, dass diese Idee nicht im Vermittlungsausschuss entstanden ist; denn Herr Schäuble ist gar nicht
Mitglied im Vermittlungsausschuss.
({1})
Daraus können Sie auch schließen, dass das keine Idee
der SPD war; denn Herr Schäuble ist gar nicht Mitglied der
SPD. Diese Idee ist ganz klar im Rahmen der Gemeindefinanzreformkommission aufgegriffen und dann im Vermittlungsverfahren verhandelt worden. Eindeutig ist, dass
es keine Idee der SPD-Länder war und leider auch nicht von
Ihnen stammt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber es ist
schön, wenn Sie heute mitmachen.
({2})
Fakt ist auch - das können Sie kleinreden, wie Sie wollen -: Das ist das größte Entlastungsprogramm für die
Kommunen: 12 Milliarden Euro allein in den nächsten
Jahren. Sie haben aber völlig recht, das allein löst das Problem nicht. Das ist auch nicht das einzige Programm. Daneben werden für das Bildungsprogramm 1,6 Milliarden
Euro, für die Kinderbetreuung 4 Milliarden Euro und für
die Sprachförderung von Kindern 400 Millionen Euro bereitgestellt. Weitere Stichworte sind: Mehrgenerationenhäuser, KfW-Sanierung, energetische Gebäudesanierung
und Konjunkturprogramme. Ich weiß, dass mein Kollege
Götz Ihnen jedes einzelne Programm gleich vorstellen
wird.
({3})
Von daher ist das ein kleiner Schritt in die richtige Richtung zur Entlastung der Kommunen.
Mir scheint, dass Sie die Lösung des Problems entweder in Steuererhöhungen sehen - so die Linken, Herr
Kollege Troost - oder in ständigen Neubelastungen des
Bundes. Mir ist nicht ganz klar, woher Sie die Zahlen
nehmen, nach denen der Bund so viel Geld zur Verfügung hat, dass er sowohl die Probleme der Kommunen
als auch die der Länder lösen kann. Nein, das können wir
nicht. Deutlich muss man sagen: Dieses Gesetz ist für
den Bund ein Kraftakt. Diese Finanzierung ist schwierig.
Wir haben sie zugunsten der Kommunen gemeistert.
({4})
Über die anderen Anträge ist noch gar nicht gesprochen worden. Wahrscheinlich war Ihnen selber peinlich,
was in Ihrem Antrag steht. Lieber Kollege Troost, in Ihrem anderthalb Jahre alten Antrag, in dem noch steht,
dass der Bund den Kommunen die Finanzierung für die
Grundsicherung überlässt, hätten Sie wenigstens das Datum und diesen Satz verändern sollen.
({5})
Was auch noch in dem Antrag gefordert wird, ist die
Abschaffung der Gewerbesteuerumlage, was wir auch
für die Länder regeln sollen. Das stimmt aber mit unseren demokratischen Grundregeln nicht überein. Diese
Abschaffung können nur die Landesparlamente beschließen. Aber Sie erinnern sich mit Sicherheit daran,
weil ich es Ihnen schon mehrfach dargestellt habe, dass
die Gewerbesteuerumlage eingeführt worden ist, weil
die Kommunen festgestellt haben, dass die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer sehr schwankungsabhängig sind.
Damals haben wir gesagt: Die Länder bekommen einen
Anteil an der Einkommensteuer und an der Umsatzsteuer. Dafür wurde im Gegenzug die Gewerbesteuerumlage eingeführt.
Die Gewerbesteuerumlage abzuschaffen, hilft den
Kommunen nicht. Wer zahlt denn die höchste Gewerbesteuerumlage? Das sind gerade die Kommunen, die sich
nicht über die Gewerbesteuereinnahmen beklagen müssen. Die Kommunen, die finanzielle Probleme haben,
zahlen so gut wie keine Umlage. Deshalb hilft ihnen
auch eine Abschaffung nicht.
({6})
Zu der immer wieder aufgestellten Forderung in den
immer selben Anträgen - leider auch von den Kolleginnen und Kollegen der Grünen -, auf Steuersenkungen zu
verzichten, kann ich nur sagen: Das ist einfach unehrlich. Sie hatten leider nicht die Freude, in der Familiendebatte dabei zu sein. Eine Stunde lang haben wir über
die Forderungen der Kollegen der Linken debattiert; alles, was Familien wünschenswert finden, wurde hier verlangt, unter anderem auch eine erneute Anhebung der
Hartz-IV-Regelsätze.
({7})
Nicht mit einem Wort haben Ihre Kolleginnen und Kollegen bei den Reden erwähnt, dass das massive Belastungen für die Kommunen bedeuten würde.
({8})
Das ist Ihnen völlig egal, wenn es um Ihre Interessen
geht. Aber in dem Augenblick, in dem wir die Steuerzahler, die diese ganzen Sozialleistungen bezahlen, entlasten wollen - Stichwort: „kalte Progression“ - schreien
Sie auf.
({9})
Schauen Sie sich Ihren Antrag zur Familienpolitik noch
einmal an und rechnen Sie nach, was den Kommunen
durch die Forderungen in Ihren Anträge an zusätzlichen
Kosten entstehen würden. Wenn Sie das tun, dann können Sie sich ehrlich machen und dann brauchen Sie hier
nicht zu jammern, dass die Kommunen kein Geld haben.
({10})
Letzter Punkt: Steuersenkungen lehnen Sie ab. Das
kann ich noch verstehen. Aber Steuererhöhungen, die
Sie immer wieder erwähnen, machen einfach keinen
Sinn.
({11})
Die Ausweitung der Gewerbesteuer auf freie Berufe
macht deswegen keinen Sinn, weil Sie dadurch unnötige
Bürokratie forcieren: 1 Million Steuerbescheide, 1 Million Gewerbesteuermessbescheide, 1 Million Steuererklärungen und 3 Millionen bürokratische Bescheide, um
was zu erreichen? Nichts. Denn die Gewerbesteuer wird
sowieso auf die Einkommensteuer angerechnet. Das
heißt, Sie erheben nicht einen müden Euro an Steuern
zusätzlich, verursachen aber 3 Millionen Bürokratiebescheide.
Deshalb ist es viel besser, die Kommunen auf dem
Weg zu entlasten, den wir gehen, nämlich ihnen das
Geld über die Finanzierungsübernahme der Grundsicherung direkt zuzuweisen. Dann kommt es auch bei ihnen
an, statt an klebrigen Händen hängen zu bleiben. Wir belasten auch nicht zusätzlich die Bürgerinnen und Bürger.
Sie haben noch die Chance, Ihre Meinung in dem
Punkt zu ändern und den rechten Weg einzuschlagen. Ich
würde mich darüber freuen. Ansonsten machen wir es
aber auch gerne alleine.
Wir stehen an der Seite der Kommunen und freuen
uns über diesen Tag. Damit haben wir die Entlastung
nämlich zu einem erheblichen Teil geschafft.
({12})
Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ob es Ihnen
von der Opposition gefällt oder nicht: Mit dem Gesetz
zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen beschließen wir heute die größte Entlastung der Städte, Gemeinden und Kreise seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland.
({0})
Auch wenn Sie es nicht mehr hören wollen, sage ich
es noch einmal: Allein bis 2015 entlastet der Bund die
Kommunen um nahezu 13 Milliarden Euro. Zusammen
mit dem bereits beschlossenen Bildungspaket übernimmt der Bund von den Kommunen bis zum Jahr 2020
Kosten in einer Größenordnung von mehr als 50 Milliarden Euro.
({1})
Dadurch entstehen vor Ort endlich wieder Gestaltungsmöglichkeiten.
({2})
Insofern ist das ganze Genörgel und krampfhafte Suchen
nach Negativem völlig unverständlich, Herr Kollege
Scheelen.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Kommunalpolitiker wissen ganz genau, wem sie die Kostenexplosion in den
vergangenen Jahren vor allem im sozialen Bereich zu
verdanken haben. Noch einmal zur Erinnerung - es
wurde vorhin schon ausgeführt -: 2003 hatte Rot-Grün
die Altersgrundsicherung eingeführt und den Kommunen übertragen, ohne für den notwendigen finanziellen
Ausgleich zu sorgen.
({3})
Sich jetzt als Retter der Kommunen aufzuspielen, ist ein
dicker Hund.
({4})
Sie haben mit einer Reihe kommunalfeindlicher Entscheidungen die Grundlagen für die schwierige Haushaltslage vieler Städte und Gemeinden gelegt. Seit der
Einführung der Grundsicherung im Alter haben sich die
Kosten verdreifacht. Sie belaufen sich auf derzeit über
4 Milliarden Euro, demografiebedingt mit dynamisch
steigender Tendenz.
Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, wird ein
weiterer kommunalfeindlicher Akt der Schröder-Regierung korrigiert.
({5})
Wir erfüllen damit ein Versprechen aus der Koalitionsvereinbarung, in der es unter anderem heißt - ich zitiere -:
Wir wollen in Deutschland starke Kommunen …
Zusammen mit den kommunalen Spitzenverbänden
werden wir nach Wegen suchen, Entlastungen für
die Kommunen … zu identifizieren.
Wir haben nicht nur gesucht, sondern wir haben in der
Gemeindefinanzkommission auch einvernehmlich mit
allen kommunalen Spitzenverbänden einen sehr guten
Weg gefunden.
({6})
Zum Thema kommunale Spitzenverbände. Die Vizepräsidentin des Deutschen Städtetags, Frau Petra Roth,
hat heute für den Deutschen Städtetag erklärt: „Städte
begrüßen Entlastung bei der Grundsicherung - Bundesrat muss Bundesmittel in voller Höhe für Kommunen sichern“. Das verstehe ich als Zustimmung.
({7})
Ich zitiere weiter, wenn Sie es hören wollen:
Die Zusage des Bundes, schrittweise die Ausgaben
für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu übernehmen, ist ein wichtiger Beitrag, um die Kommunen wieder handlungsfähiger
zu machen. Auf Dauer wird sich die drückende Last
der kommunalen Sozialausgaben dadurch spürbar
verringern.
({8})
Ich erspare Ihnen, weiter zu zitieren.
Lassen Sie mich noch auf einen inhaltlichen Aspekt
eingehen, der mir sehr wichtig ist: Von dem Gesetz profitieren verstärkt vor allem strukturschwache Kommunen. Das gilt unter anderem für das Ruhrgebiet. Dort, wo
die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist, müssen viele Menschen aufgrund ihrer Erwerbsbiografie mit einer niedrigen Rente rechnen. Viele sind im Alter auf die GrundPeter Götz
sicherung angewiesen. Folglich werden die kommunalen
Kassen überproportional belastet. Mit dem heutigen Gesetzentwurf schaffen wir somit auch eine überproportionale Entlastung vor allem der besonders finanzschwachen Kommunen.
({9})
Für meinen Heimatlandkreis Rastatt, der gewiss nicht
zu den strukturschwachen Kreisen gehört, bedeutet dies
in konkreten Zahlen eine Kostenerstattung in Höhe von
2,1 Millionen Euro im Jahr 2012, von 4,3 Millionen
Euro im Jahr 2013 und von 6,7 Millionen Euro im Jahr
2014. Wie Sie sehen, Frau Kollegin Lühmann, ist mein
Landrat sehr wohl in der Lage, Kostenerstattungen für
drei Jahre im Voraus zu berechnen.
({10})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der
mir etwas Sorge bereitet - ich habe Verständnis für die
Sorgen der kommunalen Spitzenverbände -, dass nämlich die Bundesmittel tatsächlich vor Ort ankommen und
nicht an den klebrigen Fingern von Landesfinanzministern hängen bleiben
({11})
oder, wie es sich in meinem Heimatland BadenWürttemberg bereits abzeichnet, über den kommunalen
Finanzausgleich der Länder wieder abgeschöpft werden.
({12})
Wir alle - dazu zähle ich nicht nur uns, sondern auch alle
anderen, die in der Politik Verantwortung tragen, auch
die kommunalen Spitzenverbände in den Ländern - sollten in den nächsten Jahren den Landesregierungen sehr
genau auf die Finger schauen. Das gilt für NordrheinWestfalen genauso wie für Rheinland-Pfalz oder BadenWürttemberg.
({13})
Zum Abschluss möchte ich das heute zu beschließende Gesetz in einen weiteren Zusammenhang stellen.
Deutschlands Wirtschaft ist trotz globaler Krise so stark
gewachsen wie noch nie seit der deutschen Wiedervereinigung. Die Zahl der Erwerbstätigen ist auf Rekordniveau. Städte, Gemeinden und Landkreise profitieren
von den positiven wirtschaftlichen Daten in vielfältiger
Weise. So steigen ihre Einnahmen bei der Gewerbesteuer, aber auch beim Gemeindeanteil an der Einkommensteuer; dazu hat übrigens auch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz maßgeblich beigetragen.
({14})
Ab 2012 wird diese erfreuliche Entwicklung zusätzlich
durch das zu beschließende Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen positiv flankiert.
Wir wissen, dass nur mit starken Kommunen, die sich
im Wettbewerb langfristig behaupten, Wohlstand gesichert werden kann. In diesem Sinne vertrauen wir auf
die Kraft und die Leistungsfähigkeit unserer Gemeinden,
unserer Städte und Kreise.
({15})
Wir wollen, dass die Menschen vor Ort ihre Heimat wieder selbst gestalten können. Dieses Gesetz stärkt die
kommunale Selbstverwaltung. Es ist Teil einer Kommunalentlastung in einer noch nie dagewesenen Größenordnung. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank, Kollege Peter Götz. - Da mir keine wei-
teren Redewünsche vorliegen, schließe ich die Ausspra-
che.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der Finanzkraft der Kommunen. Uns liegen
zwei Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer
Geschäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7402,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 17/7141 und 17/7171 anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt da-
gegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Die Links-
fraktion. Enthaltungen? - Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der Sozialdemo-
kraten auf Drucksache 17/7507. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Das ist die Fraktion der SPD.
Gegenprobe! - Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? -
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/7474. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Gegen-
probe! - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - So-
zialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 12 b: Be-
schlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksa-
che 17/7514. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1744 mit dem
1) Anlage 2
Vizepräsident Eduard Oswald
Titel „Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit von
Städten, Gemeinden und Landkreisen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7189 mit dem Titel „Gemeindefinanzkommission gescheitert - Jetzt finanzschwache
Kommunen - ohne Sozialabbau - nachhaltig aus der
Schuldenspirale befreien“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils
({0}) - Erweiterung des Kündigungsschutzes bei unter 25-Jährigen
- Drucksache 17/775 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Beate Müller-Gemmeke,
Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs
({1}) - Diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen
- Drucksache 17/657 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
- Drucksache 17/7489 Beichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Sie sind damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster in dieser Debatte hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Peter Weiß das Wort. Bitte schön, Kollege Peter Weiß.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es liegen uns
zwei Gesetzentwürfe von Oppositionsfraktionen vor,
die, kurz gesagt, feststellen wollen, dass das, was der Europäische Gerichtshof entschieden hat, rechtens ist. Das
ist eigentlich nichts Besonderes. Um was geht es?
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass
die Nichtberücksichtigung von Zeiten der Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr bei der Berechnung
der Kündigungsfristen, wie wir es im Kündigungsrecht
kennen, nicht mehr angewendet werden darf, weil das
angeblich eine Diskriminierung darstelle. Das ist seit
diesem Urteil geltendes Recht, dieses Recht wird angewandt, wir sind an diese Entscheidung gebunden, und an
dieser Entscheidung ist nach allgemeiner Auffassung
nichts zu ändern. Punkt. Damit könnten wir eigentlich
Schluss machen.
({0})
Allerdings möchte ich feststellen: Als damals in den
20er-Jahren - lange ist es her - diese Vorschrift in das
deutsche Arbeitsrecht kam, war es mitnichten Absicht
des Gesetzgebers, auch nicht der damaligen Regierung
- übrigens unter sozialdemokratischer Führung -, irgendjemanden zu diskriminieren. Vielmehr ging es der
damaligen Reichsregierung und dem damaligen Reichstag darum, mögliche Hürden beim Zugang ins Erwerbsleben abzubauen. Das war im Prinzip also eine durchaus
löbliche Absicht.
Das Thema ist auch nicht für große Aufregung geeignet; denn wenn man sich ausrechnet, was das eigentlich
bedeutet, stellt man fest: Die Kündigungsfristen werden
sich zum Beispiel für jemanden, der schon mit dem
21. Lebensjahr eine Festanstellung angetreten hat, je
nach Beschäftigungsdauer gerade einmal um ein bis
zwei Monate verlängern. Das, was da passiert, ist wahrhaftig nicht die Welt, und deswegen könnten wir bei diesem Thema den Ball eigentlich flachhalten.
Bei aller Einigkeit - die sicher unter allen Bundestagsfraktionen besteht -, dass wir Diskriminierung abbauen wollen, muss ich Ihnen allerdings deutlich sagen,
dass ich mich als Parlamentarier dadurch herausgefordert fühle, dass der Europäische Gerichtshof mit seiner
Entscheidung massiv in unsere innerstaatlichen Kompetenzen, das Arbeitsrecht zu regeln, eingegriffen hat. Ich
finde, das ist das eigentliche Thema, das man diskutieren
muss.
({1})
Hier liegt der eigentliche Klärungsbedarf. Gerade
deswegen hielte ich es für falsch, wenn wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages die Verteidigung unserer nationalen Gesetzgebungskompetenzen im Arbeitsrecht davon abhängig machen, ob uns eine Entscheidung
des EuGH einmal gefällt oder ein andermal nicht gefällt.
Es wäre deswegen meines Erachtens das vollkommen
falsche Zeichen, auf eine solche Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ohne jede Not reflexhaft gleich
mit einer Gesetzesänderung zu reagieren.
({2})
Ich meine, frei gewählte Abgeordnete des Deutschen
Bundestages müssen nicht über jedes Hölzchen springen, das ihnen der EuGH hinhält.
Peter Weiß ({3})
({4})
Deshalb gibt es meines Erachtens auch gar keine Notwendigkeit, diesem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das bei uns jetzt geltendes Recht ist, gleich eine
ausformulierte Gesetzesänderung hinterherzuschieben.
Wenn dies zwingend notwendig wäre, wie von der Opposition behauptet wird, dann müssten etliche andere
Vorschriften, die es im deutschen Recht gibt und die
ebenfalls nicht mehr zur Anwendung kommen, in einem
Großreinemachen beseitigt werden.
({5})
Doch dieser mutige Antrag, in einer Fleißarbeit alle Regelungen, die nicht mehr angewendet werden dürfen, mit
einem Schlag zu beseitigen, wird von der Opposition
nicht gestellt. Dass die Opposition diesen Mut nicht hat,
zeigt übrigens, dass sie ihre eigene Argumentation gar
nicht so richtig ernst nimmt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die deutschen Arbeitsgerichte, die Fachanwälte für Arbeitsrecht
in Deutschland, die Personalabteilungen in den Unternehmen, die Gewerkschaften und die Betriebsräte, die
ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beraten, sie
alle kennen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs;
sie alle wissen, dass die alte Regelung nicht mehr angewandt werden darf, und deshalb besteht keine Not, jetzt
und sofort die Gesetzgebungsmaschinerie anzuwerfen.
Deswegen werden wir die Gesetzentwürfe der Opposition konsequenterweise ablehnen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. - Jetzt spricht für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Anette Kramme. Bitte schön, Frau Kollegin Anette
Kramme.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Momentan reden alle über Europa. Ich kann
gut nachvollziehen, dass dabei generell ein flaues Gefühl
vorhanden ist. Aber es gibt auch Dinge, die aus Europa
kommen und die mehr als positiv sind. Im Januar 2010
befasste sich der Europäische Gerichtshof mit der Klage
einer jungen Frau. Diese war im Alter von 18 Jahren bei
einem Essener Unternehmen eingestellt und zehn Jahre
später entlassen worden. Dabei ist ihr nur ein Monat
Kündigungsfrist auf der Grundlage einer Regelung des
Bürgerlichen Gesetzbuches zugestanden worden, und
zwar mit dem Argument, es würden nur die Betriebszugehörigkeitszeiten seit dem 25. Lebensjahr berücksichtigt. Hätte man dagegen die volle Beschäftigungszeit angerechnet, hätte sie immerhin einen Anspruch auf vier
Monate gehabt.
Die Frau klagte gegen diese Ungleichbehandlung und gewann. Der Europäische Gerichtshof stellte fest,
dass § 622 Abs. 2 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches
gegen geltendes europäisches Recht verstößt. Der Europäische Gerichtshof hat weiter entschieden, dass die
Norm durch die nationalen Gerichte ab sofort nicht mehr
angewendet werden darf. Der Passus „Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor
der Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers
liegen, nicht berücksichtigt“ widerspricht schlicht und
einfach dem Verbot der Altersdiskriminierung, auch
wenn es in diesem Fall eine Jugenddiskriminierung war.
Dieser Passus ist auch ganz offensichtlich unfair. Gleiches soll gleich behandelt werden, und ein Arbeitsjahr
ist ein Arbeitsjahr, egal in welchem Alter es erbracht
worden ist.
Diese Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
war damit auch nicht richtig überraschend. Überraschend ist vielmehr, dass Sie, verehrte Damen und Herren von Schwarz-Gelb, es immer noch nicht geschafft
haben, dieses Urteil in deutsches Recht umzusetzen.
({0})
Wenn ich darüber nachdenke, überrascht mich das doch
nicht; es ist schlichtweg außerordentlich peinlich.
Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, seine Gesetzgebung dem Unionsrecht anzupassen und unionswidriges
nationales Recht zu ändern oder zu beseitigen. Von
sämtlichen EU-Neumitgliedern fordern wir das immer
wieder vehement ein, nur auf dem eigenen Hof wird
nicht gekehrt.
Das scheint Ihnen zumindest abstrakt bewusst zu sein.
Noch am Tag der Urteilsverkündung ließ Frau Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen durch eine Sprecherin verkünden, dass sie eine Gesetzesänderung vorbereite; genaue Festlegungen könnten jedoch erst nach
näherer Analyse des Urteils getroffen werden.
({1})
Am 11. Februar 2010 erklärte Herr Staatssekretär
Brauksiepe in einer schriftlichen Antwort auf eine Frage
meiner geschätzten Kollegin Lösekrug-Möller, das
BMAS bereite eine unionskonforme Änderung des
§ 622 Abs. 2 Satz 2 vor.
Dass Sie innerhalb von fast zwei Jahren noch nicht zu
Potte gekommen sind und es weder schaffen, ein kurzes
Urteil zu analysieren, noch es schaffen, einen einzigen
Satz im Bürgerlichen Gesetzbuch zu streichen, grenzt an
Arbeitsverweigerung.
({2})
Dabei ist die Lösung so einfach wie schnell umsetzbar. Wir haben sie in unserem Gesetzentwurf dargelegt.
Der kritisierte Satz muss einfach nur aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen werden. Künftig soll bei der
Berechnung von Kündigungsfristen jedes einzelne Arbeitsjahr gezählt werden, egal in welchem Lebensalter es
erbracht worden ist.
Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,
ich höre schon Ihre Worte: Wenn der Passus nicht mehr
anwendbar ist, können wir ihn auch im Gesetz stehen
lassen. - Genau so hat es der Herr Weiß von der CDU/
CSU auch formuliert. Nein, das können wir nicht! Wenn
wir einfach sagen: „Der Satz darf nicht mehr angewendet werden“, verlagern wir das Risiko für die korrekte
Umsetzung des europäischen Rechts auf die einzelnen
Beschäftigten in unserem Land.
({3})
Die Sachverständige Professor Körner von der Bundeswehruni in München hat das in der Anhörung auch
klargemacht. Die Nichtanwendung wird nur relevant,
wenn jemand gegen die Berechnung seiner Kündigungsfrist klagt; nur dann, sonst nicht. Viele Arbeitnehmer
werden den Weg zum Gericht scheuen und damit
schlechtergestellt sein, als europarechtlich gewollt ist.
Allein schon um der Rechtssicherheit willen ist es deshalb nötig, eine rechtswidrige Norm aus dem Gesetz herauszunehmen.
({4})
Ich kann auch keinen stichhaltigen Grund dafür sehen, dass eine Norm, die für europarechtswidrig erkannt
worden ist, im BGB stehen bleiben soll. Aus Nostalgie
soll das ja wohl kaum geschehen. Die Streichung ist
schlicht erforderlich. Der EuGH hat sich eindeutig geäußert.
Eine andere Frage ist, ob man den § 622 BGB insgesamt umgestaltet. Das haben Sie, Frau Connemann, in
der ersten Beratung unseres Gesetzentwurfs vertreten.
({5})
Überlegungen, den § 622 Abs. 2 Satz 2 europarechtskonform anzupassen und etwa eine Verlängerung der Kündigungsfristen generell erst ab Erreichen des 25. Lebensjahres vorzusehen, laufen auf eine genauso wenig
europarechtskonforme Lösung hinaus. Am Ende steht
unter dem Strich genau das gleiche Ergebnis: Junge
Menschen werden aufgrund ihres Alters diskriminiert.
({6})
Letztlich geht es bei der Debatte auch nicht um Altersdiskriminierung. Sie von den Regierungsfraktionen
stoßen immer in das gleiche Horn: Kündigungsschutz
behindere die Schaffung neuer Arbeitsplätze und müsse
deshalb, soweit es geht, minimiert werden. - Das konnte
noch nie bewiesen werden.
({7})
- Herr Weiß, wir hören es von Ihnen doch ständig.
({8})
Wenn Sie es in Ihrem Redebeitrag vorhin nicht gesagt
haben: Ich bin mir sicher, Frau Connemann wird an dieser Stelle noch nachlegen.
({9})
Deshalb noch einmal: Die Einstellungsbereitschaft
wurde durch erhöhte Flexibilität in der Vergangenheit
noch nie gesteigert. Das wird auch in Zukunft nicht geschehen. Ihre Argumentation beruht auf falschen Annahmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss noch einmal auf die Sachverständigenanhörung
zu sprechen kommen. Besonders amüsiert hat mich ein
Beitrag der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Herr Wolf lehnte die Initiative ab mit der
Begründung, sie sei kein Beitrag, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mag ja stimmen. Ich bin mir aber sicher, dass auch die heute ebenfalls anstehende Änderung des deutschen Gräbergesetzes nicht zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit beiträgt
und trotzdem die Mehrheit finden wird. Wenn das also
Ihr einziges Argument ist, dann stimmen Sie doch heute
einfach unserem Gesetzentwurf zu.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen herzlichen Dank, Frau Kollegin Anette
Kramme. - Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Kramme, ich möchte zunächst auf Ihren
Vorwurf der Arbeitsverweigerung eingehen. Das ist
wirklich unangemessen, weil wir in den letzten Jahren
sehr viel Zeit darauf verwendet haben, Ihre Baustellen
im Hartz-IV-Bereich aufzuräumen.
({0})
Dies betrifft die Jobcenterreform, die Regelsatzreform
usw. Sie wissen doch, wie uns das alles gebunden hat,
wie viel Zeit die Anhörungen im Ausschuss gekostet haben usw. Wir haben Sonderschichten gefahren. Wir hätten deshalb ein Lob von Ihnen verdient, aber nicht den
Vorwurf der Arbeitsverweigerung. Das will ich hier sehr
deutlich sagen.
({1})
- Hören Sie mir doch einmal zu!
Außerdem sagen Sie, die Einstellungsbereitschaft von
Arbeitgebern - das sei Ihre Erfahrung - sei durch erDr. Heinrich L. Kolb
höhte Flexibilität nicht gesteigert worden. Da frage ich
mich, wie blind Sie eigentlich sind. Die derzeitigen Riesenerfolge am Arbeitsmarkt zeigen sich doch gerade
deshalb, weil mehr Flexibilität geschaffen worden ist.
({2})
Zugegebenermaßen findet neue Beschäftigung auch in
Beschäftigungsformen statt, die Sie zwar im Wesentlichen eingeführt haben, mit denen Sie aber heute nichts
mehr zu tun haben wollen. Diese Flexibilität hat aber
nachweislich zu dem hohen Stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung geführt, den wir heute
erfreulicherweise feststellen können.
({3})
Deswegen ist es falsch, wenn Sie sagen, Flexibilität und
Umfang der Beschäftigung hätten nichts miteinander zu
tun.
Jetzt kommen wir zu dem, was konkret geschehen
kann. Wie Sie sehen auch wir einen gewissen Klarstellungsbedarf hinsichtlich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Allerdings - das ist in der Anhörung
von den Vertretern aller Verbände gesagt worden - besteht dieser nicht nur punktuell. Vielmehr gilt es, im
Lichte der Antidiskriminierungsgesetzgebung eine Normenbereinigung im Allgemeinen vorzunehmen. Das
heißt, es gilt, systematisch zu schauen, an welchen anderen Stellen möglicherweise auch Diskriminierungsgefahr besteht. Wir sollten also nicht darauf warten, bis irgendwann ein weiteres Urteil vom EuGH kommt,
sondern wir sollten uns selbst an die Arbeit machen. Das
ist auch ein Gebot der Stunde. Das will ich hier sehr
deutlich sagen.
({4})
- Darauf dürfen Sie auch gespannt sein.
Das ist etwas, was man nicht im Galopp machen
muss. Da stimme ich dem Kollegen Weiß zu.
({5})
- Nein, im Schweinsgalopp, mit der heißen Nadel gestrickt und übers Knie gebrochen - hat der Kollege
Hinsken früher immer gesagt -: Das muss nicht sein.
Eine Rechtsklarstellung auf Sicht halte ich sehr wohl
für erforderlich. Wir sollten uns aber ernsthaft Gedanken
darüber machen, wie diese Rechtsklarstellung aussehen
sollte. Die Väter des § 622 Abs. 2 Satz 2 haben eine bestimmte Intention gehabt. Es ging um eine Beschäftigungsförderung auch in einer bestimmten Altersklasse.
Gerade wenn es um die Übernahme von Jugendlichen in
ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis geht, mögen solche beschäftigungsfördernden Überlegungen bisher auch eine
Rolle gespielt haben.
Deshalb muss man sich die Frage stellen, ob man das
wirklich ersatzlos streicht oder ob man es auf andere
Weise europarechtskonform macht, zum Beispiel durch
späteres Nachholen; auch diese Anregung ist in der Anhörung gegeben worden. Wenn man sich dieser Aufgabe
so nähert, Frau Kramme, dann tut man das verantwortungsvoll. Das sollten wir tun; denn hohe Beschäftigungsstände fallen uns nicht auf Dauer anstrengungslos
in den Schoß. Vielmehr ist es erforderlich, dass wir ständig und dauerhaft prüfen, mit welchen Maßnahmen Beschäftigung gefördert werden kann und welche Maßnahmen Beschäftigung möglicherweise nicht so voranbringen, wie wir uns das wünschen. In diesem Sinne lade
ich Sie zur Mitberatung in der Zukunft - nicht heute;
heute werden wir Ihre Anträge ablehnen - ein.
({6})
Es wäre doch schön, wenn wir irgendwann gemeinsam
sagen könnten: Durch eine EuGH-konforme Neugestaltung des § 622 BGB haben wir für noch mehr Beschäftigung in Deutschland gesorgt. Ich fände es schön. Eingeladen sind Sie. Für heute bedanke ich mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Kolb. - Jetzt spricht für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Yvonne Ploetz.
Bitte schön, Frau Kollegin Ploetz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie lebt meine Generation eigentlich? Bevor ich zum
Thema Kündigungsschutz komme, möchte ich einige
Punkte klarstellen; denn ich glaube, es ist nicht jedem
bekannt, welche Probleme junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt eigentlich erwarten.
Erstens. Für 38,5 Prozent der Jugendlichen sind Befristungen, Leiharbeit, Niedriglöhne oder Praktikaschleifen ihr tägliches Brot. Jeder und jede Dritte unter 24 Jahren startet mit Leiharbeit ins Berufsleben, hangelt sich
von befristeter Stelle zu befristeter Stelle oder wird mit
Teilzeitjobs abgespeist, von denen man kaum leben
kann.
Zweitens. Diese Jugendlichen gehören zu den Beschäftigten, die neben Leiharbeitnehmerinnen und befristet Beschäftigten in Problemzeiten als Erste entlassen
werden.
Drittens. Sie haben nach ihrer Ausbildung enorme
Probleme, von ihrem Betrieb übernommen zu werden.
Nur rund die Hälfte der Auszubildenden wird übernommen; die andere Hälfte wandert zum großen Teil in die
Arbeitslosigkeit.
Viertens. Weit mehr als 10 Prozent der Jugendlichen
in Deutschland sind arbeitslos; das ist mehr als in jeder
anderen Altersgruppe.
({0})
Erklären Sie diesen jungen Menschen bitte, wie sie
sich in dieser Situation eine Zukunft aufbauen sollen,
wie sie ihr Leben planen oder gar eine Familie gründen
sollen.
({1})
Das können Sie nicht erklären.
({2})
Statt diese verheerende Ausgangslage endlich anzugehen, halten Sie an Gesetzesvorschriften fest, die jungen
Menschen noch zusätzlich Steine in den Weg legen und das, obwohl diese Vorschrift längst gekippt wurde.
Sehen wir uns kurz an, um was es heute geht: Bei der
Berechnung der Kündigungsfristen werden die Beschäftigungszeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
herangezogen. Das gilt für alle die, die 26 Jahre und älter
sind. Hat man das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet,
wird die Beschäftigungszeit nicht angerechnet.
Ich bitte Sie! Junge Menschen sind doch keine Arbeitnehmer zweiter Klasse. Gerade am Arbeitsmarkt
brauchen wir Regelungen, die jungen Menschen, wenn
sie ihren Start ins Berufsleben erfolgreich meistern sollen, besonderen Schutz geben, statt ihnen Steine in den
Weg zu legen.
({3})
Wie bereits erwähnt, hat der Europäische Gerichtshof
diese Diskriminierung aufgrund des Alters zum Glück
gekippt; diese Regelung darf nicht mehr angewendet
werden. Er hat im Januar 2010 entschieden, und Landesarbeitsgerichte sind ihm gefolgt. Das ist eine sehr wichtige Entscheidung, wie wir finden. Deshalb stimmen wir
den Gesetzesentwürfen von Grünen und SPD sehr gerne
zu.
({4})
- Herzlichen Dank. - Leider ist trotz dieser Urteile bislang nichts passiert. Wir reden heute - knapp zwei Jahre
später - immer noch darüber, dass diese Norm gestrichen werden muss. Eine solche Verzögerung ist der Problematik ganz und gar nicht angemessen.
({5})
Es ist höchste Zeit, dass Sie sich dafür starkmachen,
dass nicht nur die bestehenden Benachteiligungen - wie
die im Kündigungsschutz - angegangen werden, sondern dass auch dafür gesorgt wird, dass echte Perspektiven am Arbeitsmarkt geschaffen werden, mit fairen Löhnen und sicheren Arbeitsbedingungen.
({6})
Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,
es kann doch nicht sein, dass immer erst Gerichte Sie
zum Jagen tragen müssen, wenn es um soziale Gerechtigkeit oder um Aufhebung von Diskriminierung geht.
Das heißt konsequenterweise: Auf Sie warten - das
wurde bereits angesprochen - noch weitere Aufgaben.
Es gibt nämlich noch mehr Diskriminierungen am Arbeitsplatz, zum Beispiel im Bereich der Sozialplanabfindungen oder bei den Urlaubsansprüchen, aber auch bei
der betrieblichen Altersversorgung.
Frau von der Leyen sagt, sie wolle Zukunftschancen
im Blick behalten. „Im Blick behalten“ ist uns viel zu
wenig. Wo bleiben denn Ihr Engagement, Ihre Leidenschaft, Ihr Herzblut, wenn es um die Belange junger
Menschen geht?
({7})
Sie tragen mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik dafür die
Verantwortung, dass aus der derzeitigen Generation Prekär, der Generation Befristet, der Generation Abgehängt
eine Generation wird, die hoffnungsvoll in ihre eigene
Zukunft blicken kann. Ich bitte Sie: Setzen Sie mit der
Streichung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ein erstes ermutigendes Zeichen für diese jungen Menschen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ploetz. - Jetzt spricht für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Beate Müller-Gemmeke. Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle wissen: Diskriminierungen
aufgrund des Alters sind inzwischen tabu. Das gilt auch
in der Arbeitswelt, sowohl für ältere Beschäftigte als
auch für junge. Folgerichtig kam der Europäische Gerichtshof zu dem Schluss, dass es gegen europäisches
Recht verstößt, wenn junge Beschäftigte kürzere Kündigungsfristen haben als ältere.
Bisher konnte einer 28-Jährigen, die zehn Jahre in einem Betrieb gearbeitet hat, mit Frist von nur einem Monat gekündigt werden. Wäre sie älter und hätte später zu
arbeiten angefangen, läge die Kündigungsfrist, Herr
Weiß, eben nicht bei einem oder zwei Monaten, sondern
bei vier Monaten. Möglich wurde dies durch einen einzigen Satz in § 622 BGB. Diesen Satz wollen wir, genauso
wie die SPD, streichen, und zwar ersatzlos.
Seit dem Urteilsspruch des EuGH darf dieser Satz
- das wurde schon gesagt - in Deutschland nicht mehr
angewandt werden. Aber wer weiß das schon? Herr
Weiß, glauben Sie wirklich, dass alle Beschäftigten und
alle kleinen und mittelständischen Betriebe die Rechtsprechung des EuGH im Detail verfolgen? Wissen der
Handwerker und die Kleinunternehmerin, dass sie eine
falsche Auskunft bekommen, wenn sie einen Blick ins
Gesetzbuch werfen? Wer kommt schon auf die Idee, dass
in einem Gesetz etwas drinsteht, das gar nicht mehr gültig ist? So etwas ist meiner Meinung nach eines Rechtsstaates unwürdig.
({0})
Hier fordern wir klare Rechtssicherheit. Eine Norm, die
seit fast zwei Jahren nicht mehr anzuwenden ist, darf
auch nicht im Gesetz stehen.
Warum wollen Sie diesen Satz eigentlich nicht streichen? Es wurde schon angesprochen, dass man ein bisschen beleidigt ist, dass sich hierzu ein europäisches Gericht äußert. Es kann auch sein, dass Sie unseren
Gesetzentwurf ablehnen, weil er eben von uns kommt
- dann könnten Sie aber schnell tätig werden und selber
etwas vorlegen -, oder der Gesetzentwurf den alten Reflex ausgelöst hat, dass den Arbeitgebern keine Verschlechterung zugemutet werden kann. In den Debatten
ist schon angeklungen, dass es durchaus Alternativen
gibt: zwei Jahre Vorbeschäftigungszeit für alle, andere
Differenzierungen.
Es wurde auch die damalige Begründung angeführt,
dass junge Menschen leichter einen Job finden als ältere.
Das ist aber die Begründung aus dem Jahr 1926. Die Arbeitsrealität ist heute eine andere - immerhin sind seitdem 85 Jahre vergangen -: Mangelnde Berufserfahrung
wird zum Hindernis. Auszubildende werden nicht immer
übernommen. Befristete Verträge werden zur Regel. Neben der Generation Praktikum gibt es längst die Generation Befristung und Erprobung; Kollegin Ploetz hat es
eben ausgeführt. Viel zu viele Menschen jeglichen Alters kämpfen doch heute damit, dass ihre Arbeitsverhältnisse nicht mehr auf Dauer angelegt sind. Unsichere und
prekäre Beschäftigung nehmen zu. Es gibt sechs Monate
Probezeit und Leiharbeit. Phasen der Arbeitslosigkeit
gehören schon fast zu einer normalen Erwerbsbiografie.
Da müssen Sie, die Regierungsfraktionen, sich doch
nicht noch darüber Gedanken machen, die Kündigungsfristen zu verändern; da haben wir wahrlich ganz andere
Probleme.
Unser Arbeitsmarkt ist längst flexibel genug. Heute
kann es nicht mehr um weniger Sicherheit gehen; wir
brauchen stattdessen ein Mehr an Sicherheit für die
Menschen.
({1})
Da müssen nicht nur Sie endlich anfangen, umzudenken;
auch die Arbeitgeber müssen einsehen, dass es so nicht
weitergehen kann. Arbeitgeber brauchen doch loyale
und engagierte Beschäftigte. Sie brauchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Fähigkeiten in innovative Richtungen lenken können und so einen Wettbewerbsvorteil bringen. Sie brauchen Beschäftigte und
deren Fachkenntnisse, um einen Betrieb am Laufen zu
halten. Mit Blick auf den demografischen Wandel und
auf den Fachkräftemangel sollten Beschäftigte motiviert
werden. Mit längeren Kündigungsfristen wird das wahrlich nicht gelingen.
Ich appelliere also an die Regierungsfraktionen: Begraben Sie, vor allem die FDP, Ihren alten Reflex, immer
und immer wieder die Arbeitgeber schützen zu müssen.
Unser Gesetzentwurf bietet Ihnen die Möglichkeit, mit
einem ersten kleinen Schritt zu beginnen. Zeigen Sie
endlich etwas Empathie, wo Sie bisher noch keine zeigen. Sorgen Sie zugleich für ein gutes Stück Rechtssicherheit in unseren Gesetzbüchern. Überprüfen Sie endlich das Arbeitsrecht auf weitere Kollisionen mit
EU-Recht. Geben Sie sich einfach einen Ruck, und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. - Als
nächster Redner spricht unser Kollege Ulrich Lange für
die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Ulrich
Lange.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Problemstellung der heutigen Debatte,
das Urteil des EuGH, ist ausreichend beleuchtet. Ich
möchte unterstreichen, dass eine einzelne EuGH-Entscheidung keinen Automatismus in dem Sinne hat, dass
deswegen eine Norm oder der Teil einer Norm oder der
Satz oder Teilsatz einer Norm gestrichen wird. Frau Kollegin, Sie scheinen nicht allzu viel davon zu verstehen,
wenn Sie sagen, wir sollen die gesetzliche Regelung
streichen.
({0})
Ich möchte doch darauf hinweisen, dass es nicht automatisch zu einer Streichung kommen muss. Dass § 622
Abs. 2 Satz 2 - um das genau zu benennen - auf der
Agenda steht, ist ebenso unstreitig.
Aber, Kollegin Kramme, ich muss Ihnen in einem Punkt
schon widersprechen: Das Ganze ist keine grundsätzliche
Verlagerung eines Risikos zulasten der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Falsche Kündigungsfristen müssen
durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grundsätzlich angegriffen werden.
({1})
Wenn sie das binnen der bekannten Drei-Wochen-Frist
nicht tun, dann gilt die Kündigung auch mit der falschen
Frist. Insoweit ist diese Argumentation, glaube ich, nicht
schlüssig.
Auch die Tatsache, dass eine Norm oder der Teilsatz
einer Norm über mehrere Monate im Gesetz steht und
keine Anwendung findet, ist nicht gerade etwas Außergewöhnliches. Kollege Lehrieder und ich haben uns gerade an einen Spruch aus dem Studium erinnert. - Soll
ich ihn wirklich bringen?
Überlegen Sie bitte, ob Sie ihn wirklich bringen sollten.
({0})
Gut: Klagt die Maid aus dreizehnhundert, schaut der
Knabe ganz verwundert. - Für diejenigen, die es nicht
wissen: Es geht hier ums Kranzgeld.
({0})
Kommen wir aber zum Ernst der Debatte zurück. Allen Fachkundigen ist natürlich längst klar, dass § 622
Abs. 2 Satz 2 BGB keine Anwendung mehr findet. Aber
ich glaube, wir dürfen uns durchaus Professor Thüsing
anschließen, indem wir feststellen, dass die bloße Streichung fantasielos wäre.
Insgesamt gesehen, muss man das Problem natürlich
vielschichtiger betrachten. Es besteht letztlich ein Binnenkonflikt innerhalb eines Diskriminierungsverbotes;
denn über eines sind wir uns wohl einig: Schutz älterer
Arbeitnehmer ja, aber nur soweit nötig und zulässig. Wir
sind uns sicherlich auch darin einig, dass Differenzierungen per se nicht europarechtswidrig sind. Ich möchte in
diesem Zusammenhang nur an die Themenkomplexe Sozialauswahl, Urlaubsregelungen oder tarifliche Vereinbarungen erinnern. So einfach, wie Sie es hier darstellen
- einfach ein bisschen streichen, und dann ist das Problem gelöst -, ist das Ganze natürlich nicht.
Kollege Weiß hat schon daran erinnert, woher diese
Norm kommt. Sie stammt aus dem Jahr 1926 und ist natürlich vor einem anderen Hintergrund entstanden. Das
heißt aber nicht, dass wir als nationaler Gesetzgeber deswegen keine Möglichkeiten hätten, in die Beschäftigungspolitik, in den Arbeitsmarkt und in die berufliche
Bildung einzugreifen.
Ich will die grundsätzliche Kritik am EuGH aus der
ersten Debatte nicht vollumfänglich wiederholen. Aber
ich möchte in Richtung EuGH schon kritisch sagen: Die
Einmischung in primärrechtliche und privatrechtliche
Grundsätze bzw. der grundsätzliche Vorrang von Unionsrecht gegenüber primärrechtlichen und privatrechtlichen
Grundsätzen können von uns als nationalem Gesetzgeber
in dieser Form nicht immer widerspruchslos hingenommen werden.
({1})
Ich fordere den EuGH auch im Hinblick auf die europapolitische Debatte, die wir in Bezug auf andere Punkte
und auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere zum Rettungsschirm geführt haben,
auf, zu bedenken, dass man als Hüter der nationalen Gesetzgebung mitgliedstaatliche Abwehrreflexe hervorruft,
wenn man meint, in jeder Phase über den EuGH in die
nationalen Belange des Arbeitsmarktes eingreifen zu
können.
Ich fasse zusammen: Der Themenkomplex ist differenzierter und komplizierter, als der Antrag der Opposition glauben machen möchte. Ich kann Sie nur auffordern: Seien Sie gemeinsam mit uns fantasievoller. Wir
brauchen eine europarechtskonforme Regelung, die differenziert und den Schutz von Beschäftigungszeiten und
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die aufgrund ihres Alters längere Zeit brauchen, um sich auf
dem Arbeitsmarkt neu zu orientieren, gewährleistet. Wir
müssen beiden Seiten gerecht werden.
Liebe Kollegin Ploetz von den Linken, einfach zu sagen: Gebt den Jugendlichen eine Chance, ist zu wenig.
Wir haben Verantwortung für alle Generationen und
nicht nur für eine.
({2})
In diesem Sinne handeln wir nicht nach dem Motto
„Hier streichen wir was, und dann ist alles erledigt“.
({3})
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Lange. - Jetzt spricht für die
Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte
schön, Kollege Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
einfach ist es nicht: Wenn man über Fragen des Kündigungsschutzes spricht, dann sind die verschiedenen Interessen der Partner abzuwägen. Frau Kollegin MüllerGemmeke, es geht nicht, dass wir nur eine Perspektive
einnehmen. Natürlich geht es beim Kündigungsschutz
darum, die berechtigten Befürchtungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ernst zu nehmen. Die Befürchtungen sind berechtigt. Aber wir dürfen nicht vergessen, warum der Paragraf, über den wir heute
sprechen, vor vielen Jahren eingeführt worden ist. Er ist
eingeführt worden, um Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern.
({0})
Insofern müssen wir, wenn wir über Fragen des Kündigungsschutzes sprechen, berücksichtigen, dass ein veränderter Kündigungsschutz Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit haben kann.
({1})
Wenn wir ins europäische Ausland schauen, dann sehen wir, dass es in unseren Nachbarländern eine viel höhere Jugendarbeitslosigkeit gibt, als es in Deutschland
glücklicherweise der Fall ist. Experten bestätigen immer
wieder, dass die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa
auch mit einem relativ hohen Niveau beim Kündigungsschutz zusammenhängen kann.
({2})
Insofern sollten wir es uns nicht so einfach machen.
Vielmehr sollten wir uns mit den anstehenden Fragen
klug und im Detail befassen. Wir sollten uns die Zeit
nehmen, lange darüber nachzudenken, damit wir keine
voreiligen Entscheidungen treffen.
({3})
Die Proteste der Jugendlichen in Europa haben gezeigt: In manchen Ländern ist die Situation dramatisch. In
Deutschland liegt die Jugendarbeitslosigkeit glücklicherweise nur bei 9,1 Prozent. Damit haben wir die drittniedrigste Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der Europäischen
Union. Noch 2005, als Sie von den Grünen die Regierungsbeteiligung abgegeben haben, lag die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland bei 15,5 Prozent. In den
letzten Jahren ist viel geschehen, in den letzten beiden
Jahren, seit die christlich-liberale Koalition verantwortungsvoll regiert, noch viel mehr.
({4})
Die Kollegen vor mir haben es bestätigt: Wir werden
uns die Zeit nehmen, über die Bereiche Kündigungsschutz, Jugendarbeitslosigkeit und die Umsetzung einer
vielleicht völlig neuen Richtlinie nachzudenken. Wir bitten Sie, sich konstruktiv daran zu beteiligen. Einen
Schnellschuss, wie Sie ihn heute Abend präsentieren,
brauchen wir nicht.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. - Jetzt spricht für
die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Gitta
Connemann. Bitte schön, Frau Kollegin Connemann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mutlos
und fantasielos, das sind nur zwei Urteile von Sachverständigen über die vorliegenden Gesetzentwürfe. Das
Gros der Experten kam in unserer Anhörung zu dem Ergebnis: Die Gesetzentwürfe von Rot und Grün
({0})
sind nicht die richtige Antwort auf die Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs.
({1})
Nach dieser Entscheidung verstößt § 622 Abs. 2 Satz 2
Bürgerliches Gesetzbuch gegen Europarecht.
Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob Ihnen, liebe
Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Rängen, diese Vorschrift überhaupt etwas sagt. Ich gehe davon aus, dass
sie Ihnen nichts sagt.
({2})
Wie sollte sie auch?
Ich werde es trotzdem nicht abfragen, Frau Kollegin.
({0})
Zur Erklärung: In Deutschland gilt der Grundsatz: Je
länger ein Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt ist,
desto länger ist die Kündigungsfrist, die der Arbeitgeber
beachten muss. Die Vorschrift, um die es heute geht, besagt: Bei Berechnung der Beschäftigungsdauer müssen
Zeiten, die vor dem 25. Lebensjahr des Arbeitnehmers
liegen, nicht berücksichtigt werden.
({0})
Diese Regelung ist laut EuGH altersdiskriminierend. Sie
darf nicht mehr angewendet werden. Deswegen fordern
jetzt SPD und Grüne die ersatzlose Streichung der Vorschrift.
({1})
Wir haben darüber bereits einmal debattiert. In dieser
Debatte haben Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, suggeriert, dass die Streichung die einzige
rechtlich mögliche und denkbare Reaktion ist.
({2})
Weit gefehlt! Ich zitiere aus der Anhörung, die leider
wieder einmal nur wenige von den Oppositionsfraktionen besucht haben: Man sollte hier nicht den Eindruck
erwecken, dass die EuGH-Entscheidung eine Automatik
bedeute und alles andere als eine ersatzlose Streichung
europarechtswidrig wäre. So mahnte der Vertreter des
Deutschen Anwaltvereins Sie, die Sie diese Gesetzentwürfe eingebracht haben.
Der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit stellte fest, die Vorschrift solle neu gefasst werden. Dies könne auf unterschiedliche Weise erfolgen. Ich zitiere: Es ist möglich, den Paragrafen zu
streichen. Es ist aber auch möglich, eine Neuregelung
der Kündigungsfristen insgesamt zu fassen, sodass sie
nicht mehr eine Abhängigkeit vom Lebensalter darstellen.
({3})
Wir als Gesetzgeber können also ein vollkommen neues
Fristenregime vorsehen. Wir können auch nichts tun.
Halten wir fest: Es gibt mehrere rechtliche Alternativen.
({4})
Darüber müssen wir jetzt politisch entscheiden.
({5})
Es kommt zu einer Interessenabwägung, die der Kollege Kober gerade dargestellt hat. Auf der einen Seite
haben wir Bürgerinnen und Bürger, die einen Anspruch
auf Rechtssicherheit haben. Natürlich wissen die Arbeitsgerichte, dass diese Vorschrift unwirksam ist. Das
wissen auch die Rechtsabteilungen in den großen Unternehmen. Daher wenden sie diese Vorschrift nicht mehr
an. Hier geht es aber Gott sei Dank nicht nur um Juristen
- das sage ich als Juristin -,
({6})
sondern es geht auch um den Handwerker und die Einzelhändlerin im Geschäft um die Ecke. Sie schließen Arbeitsverträge im Vertrauen auf diese Vorschrift und werden fehlgeleitet. Darüber müssen wir natürlich sprechen,
und das tun wir.
Mit einer ersatzlosen Streichung der Vorschrift ist es
aber mit Sicherheit nicht getan.
({7})
Das wäre reine Gesetzeskosmetik. Die Arbeit des Gesetzgebers, des klugen Gesetzgebers beginnt mit der
Überlegung, wie wir den Grundgedanken dieser Regelung europarechtskonform neu fassen können.
({8})
Ich erinnere daran, warum diese Vorschrift ursprünglich eingeführt wurde. Sie wurde eingeführt, um jüngeren Arbeitnehmern den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern.
({9})
Dieses Ziel ist in Deutschland erreicht worden.
({10})
Frau Ploetz, ich muss Sie fragen, ob Sie sich über
Zahlen informieren.
({11})
Den Eindruck hatte ich nicht. Wenn Sie sich über die
Zahlen informiert hätten, dann wüssten Sie, dass das
Bild, das Sie vom deutschen Arbeitsmarkt gezeichnet
haben, ein Zerrbild ist, dann wüssten Sie, dass Deutschland die drittniedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in
ganz Europa hat. Die Abstände sind erheblich.
({12})
Frau Ploetz, kennen Sie wirklich die aktuellen Zahlen
von August 2011? In Spanien sind 46,2 Prozent der Jugendlichen arbeitslos.
({13})
In Litauen sind es 33 Prozent, in der Slowakei 31 Prozent
({14})
und in Großbritannien 20,9 Prozent. Dagegen haben wir
hier in Deutschland 8,9 Prozent. Das ist großartig.
({15})
Frau Ploetz, ich möchte Sie bitten, das zu akzeptieren.
Lesen Sie die Zahlen! Dann müssen Sie nicht länger diskutieren.
({16})
Die bloße Streichung der Vorschrift, um die es geht,
würde gerade die Unternehmen treffen, die sich bei der
Ausbildung junger Menschen besonders engagieren. Betriebe, die selbst ausbilden und die die Auszubildenden
im Anschluss weiterbeschäftigen, wären im Wettbewerb
viel schlechtergestellt als die Unternehmen, die selber
wenig oder gar nicht ausbilden und stattdessen ausgebildete Fachkräfte einstellen; denn die Betriebe, die intensiv ausbilden, hätten wesentlich längere Kündigungsfristen zu beachten. Das ist absurd.
({17})
Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Entweder würde
die Ausbildungsbereitschaft sinken oder die Übernahmebereitschaft.
({18})
Wollen Sie das wirklich? Ich sage: Wir wollen es nicht.
Deshalb werden wir etwas tun, das Sie leider nicht getan
haben.
({19})
Wir werden uns mit allen Interessen beschäftigen und zu
einer ausgewogenen Lösung kommen, die eines nicht
zur Folge haben wird: Arbeitslosigkeit in Deutschland
steigern. Dafür sind wir nicht zu haben.
Vielen Dank.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gitta Connemann. - Auf
meiner Liste findet sich kein weiterer Rednerwunsch.
Deshalb schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der Sozialdemokraten zur Umsetzung des
Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Erweiterung
des Kündigungsschutzes bei unter 25-Jährigen. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7489,
den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/775 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem GesetzVizepräsident Eduard Oswald
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Bürgerlichen
Gesetzbuchs ({0}) - Diskriminie-
rungsfreie Ausgestaltung der Kündigungsfristen bei
Arbeitsverhältnissen. Der Ausschuss für Arbeit und So-
ziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/7489, den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/657
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Sozialdemokraten
und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Auch
hier entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes
- Drucksachen 17/6925, 17/7172 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 17/7513 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Frank Hofmann ({2})
Dr. Dieter Wiefelspütz
Gisela Piltz
Jan Korte
Wolfgang Wieland
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Evaluierung von Sicherheitsgesetzen - Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit
wahren
- Drucksachen 17/5483, 17/3687, 17/7513 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Frank Hofmann ({4})
Dr. Dieter Wiefelspütz
Gisela Piltz
Jan Korte
Wolfgang Wieland
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Sie
sind damit einverstanden. Sie sind auch einverstanden,
dass ich die Namen der Rednerinnen und Redner nicht
verlese?1) - Gut.
Tagesordnungspunkt 14 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfas-
sungsschutzgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/7513, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 17/6925 und 17/7172 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Fraktionen
CDU/CSU und FDP, also Koalition, und Sozialdemokra-
ten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und
Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemo-
kraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen
und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetz-
entwurf ist angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussemp-
fehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/7513
fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/5483 mit dem Titel „Evaluierung be-
fristeter Sicherheitsgesetze“ für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und
Linksfraktion, also alle einstimmig. Vorsichtshalber
frage ich noch nach Gegenstimmen. - Keine. Stimment-
haltungen? - Auch keine. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/3687 mit dem Titel „Evaluierung
von Sicherheitsgesetzen - Kriterien einheitlich regeln,
Unabhängigkeit wahren“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Links-
fraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Edelgard
1) Anlage 3
Vizepräsident Eduard Oswald
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ({5}) weiterentwickeln und mitgestalten
- Drucksache 17/7360 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Innenausschuss Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind alle damit einverstanden. Die Namen der Red-
nerinnen und Redner liegen uns vor.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7360 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts
- Drucksache 17/6051 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 17/7453 Berichterstattung:
Abgeordneter Ralph Brinkhaus
Frank Schäffler
Dr. Barbara Höll
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD, der Fraktion Die Linke sowie der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist es so beschlossen.
Der erste Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Klaus-Peter Flosbach.
Bitte schön, Kollege Klaus-Peter Flosbach.
({8})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
unserem Koalitionsvertrag haben wir versprochen, dass
es nach den Krisen keinen Akteur, kein Produkt und kei-
nen Vermittler mehr im deutschen Finanzmarkt geben
darf, das bzw. der nicht reguliert wird. Dieses Verspre-
1) Anlage 4
chen haben wir eingehalten. Schon nach zwei Jahren setzen wir es heute mit diesem Gesetz um.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die erste Krise war
eine Bankenkrise. Die jetzige Krise ist eine Staatsschuldenkrise.
({1})
Es wird aber nie darüber gesprochen, wer in den Krisen
persönlich über Zertifikate betroffen war.
({2})
Wer heute Griechenland-Anleihen hat, wird einen großen Teil seines Vermögens verlieren. Wir haben deutlich
gemacht: Wir wollen alle Produkte, die es im Finanzmarkt gibt, aus Sicht des Verbrauchers regulieren. Wir
wollen den Verbraucherschutz im Finanzmarkt deutlich
stärken.
({3})
Deshalb wollen wir heute das Gesetzgebungsverfahren
zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts in zweiter und dritter Lesung abschließen.
Es geht hier um die Regulierung von Vermögensanlagen, aber auch um Vermittlerregulierung. Wir werden
zum ersten Mal einige Bereiche aus dem nicht regulierten Markt bzw. dem Graumarkt herausholen und einer
umfassenden Aufsicht unterwerfen. Hier geht es um
zwei Bereiche, um eine Produktregulierung und um Anforderungen an den Vertrieb. Das ist ein Quantensprung
gegenüber der bisherigen Situation und gegenüber dem,
was in elf Jahren von einem SPD-geführten Finanzministerium geleistet worden ist.
({4})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal auf
die inhaltlichen Schwerpunkte einzugehen. Vermögensanlagen, vor allen Dingen in geschlossenen Fonds, werden jetzt als sogenannte Finanzinstrumente definiert und
unterfallen deshalb der Aufsicht der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht.
Das heißt, diese Produkte werden jetzt stärker kontrolliert. Entsprechende Verkaufsprospekte müssen erstellt werden. Diese Prospekte werden auf Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit geprüft. Hinzu kommen
sogenannte Kurzinformationsblätter. Das sind gewissermaßen Beipackzettel, die dem Anleger ein neues Maß an
Transparenz und Information, das wir im deutschen
Markt bisher nicht kennen, bieten.
({5})
Auch bei der Vertriebsregulierung wird signifikant
angezogen. Alle freien Vermittler werden heute beaufsichtigt. Es geht in allen Bereichen darum, dass in Zukunft nur derjenige am Markt tätig werden kann, der registriert ist, eine Qualifikation nachweisen kann, eine
Berufshaftpflichtversicherung hat und seine Gespräche
dokumentiert und protokolliert. Das ist wirklicher
Schutz des Anlegers und Verbrauchers.
({6})
Wir werden gleich im Anschluss die Oppositionsredner hören, die natürlich darauf hinweisen werden, dass
die Regierungsparteien alles falsch gemacht haben. Gut,
das haben wir nach den Gesprächen, die wir geführt haben, erwartet.
({7})
Aber: Wir erleben zum ersten Mal eine Regulierung des
Vertriebs, und zwar für Produkte, die einer eigenen Aufsicht unterliegen. Das heißt, wir regulieren den Vertrieb
über Produkte, die selbst kontrolliert werden.
Hier wird uns der große Vorwurf gemacht, wir hätten
die Vermittler nicht der zentralen Aufsicht durch die
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht unterworfen. Das kann man selbstverständlich so sehen. Aber
es ist falsch. Wir gehen den richtigen Weg - wir sind ihn
auch im Hinblick auf die Versicherungsvermittlerordnung gegangen -: den Weg über die Gewerbeordnung.
Sonst hätten wir folgende Situation: Vermittler, die mit
Versicherungen, Investments, Immobilien oder geschlossenen Fonds zu tun haben, müssten jeweils einer unterschiedlichen Aufsicht unterliegen. Das wollten wir nicht.
Wir wollten keine Zersplitterung der Aufsicht, sondern
eine Zusammenfassung der Aufsicht.
({8})
Nun zu dem Besonderen im Hinblick auf die Opposition. Wir haben eine Expertenanhörung durchgeführt.
Die erste Frage ging an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Sie lautete: Sehen Sie sich in der
Lage, die Aufsicht über 80 000 Vermittler zu übernehmen? Die Antwort war:
({9})
Nein, wir sehen uns dazu nicht in der Lage. - Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ist nämlich
eine Institutsaufsicht. Sie ist keine Individualaufsicht,
sondern eine Institutsaufsicht für Versicherungsunternehmen, Banken und größere Institute. Deswegen sind
wir diesen Weg gegangen. Das ist genau der richtige
Weg.
Es wird auch kritisiert, die Aufsicht zwischen den
verschiedenen Gewerbeämtern und zwischen den Industrie- und Handelskammern würde nicht funktionieren.
Es gibt inzwischen ein bundesweit einheitliches Qualitätsniveau bei der Aufsicht, und zwar aufgrund von sehr
umfangreichen Musterverwaltungsvorschriften, es gibt
den sogenannten Bund-Länder-Ausschuss, und es findet
ein Informationsaustausch zwischen der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht und den Gewerbeämtern statt. Gerade dieser Informationsaustausch ist
entscheidend. Deswegen haben wir uns im parlamentarischen Verfahren für diesen Weg entschieden.
Für uns ist wichtig: Wir können den Finanzmarkt
nicht regulieren, indem wir nur an die Aufsicht glauben.
Ein System darf nicht vom Urteil und von der Weisheit
der Aufsicht abhängen. Wir müssen uns an der Praxis
orientieren und uns fragen: Wie sieht die Praxis aus, was
ist für den Vermittler richtig, und was ist vor allen Dingen für den Verbraucher wichtig? Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf gemacht.
({10})
Ein zweiter Aspekt ist von der Opposition sehr heftig
kritisiert worden, nämlich die sogenannte Alte-HasenRegelung, die wir auch im Versicherungsvermittlerrecht
eingeführt haben und die dort schon nach drei Jahren
galt.
({11})
Wer damals drei Jahre am Markt war, konnte bei den
Qualifikationsanforderungen eine Befreiung bekommen.
Wir erhöhen die Dauer, die man am Markt tätig gewesen
sein muss, bezogen auf den 1. Januar 2013, auf sieben
Jahre. Wer also sieben Jahre im Markt gearbeitet hat,
wer sich in diesen sieben Jahren auch der Prüfung durch
den Wirtschaftsprüfer unterzogen und eine Meldung
beim Gewerbeamt vorgenommen hat, der wird befreit.
Abgesehen von den sonstigen Qualifikationsanforderungen, die den Beruf betreffen, haben wir einen Weg aufgezeigt, der sicherstellt, dass diejenigen, die ihren Beruf
seit mindestens sieben Jahren ausüben, nicht mit einem
Berufsverbot belegt werden. Das ist ein wichtiger Aspekt für 80 000 Vermittler.
({12})
Aus unserer Sicht ist das schärfste Schwert in der
Aufsicht die neu eingeführte Berufshaftpflichtversicherung. Das war bisher nicht nötig. Jeder, der am Markt tätig sein will, muss zu einer Versicherungsgesellschaft
gehen, einen entsprechenden Antrag stellen und dann
erst einmal alles offenlegen, was er bisher gemacht hat,
damit er überhaupt Versicherungsschutz bekommt. Das
ist die erste und wichtigste Prüfung; denn hier werden
möglicherweise viele durch das Raster fallen. Deswegen
ist die Berufshaftpflichtversicherung die beste Kontrolle.
Sie ist besser, als eine staatliche Behörde mit der Kontrolle zu beauftragen.
({13})
Wir haben gesagt: Da dies ein neuer Weg der Aufsicht ist - bisher gibt es diese Aufsicht nicht; es gibt bisher keine Registrierung, keinen Qualifikationsnachweis,
keine Haftpflichtversicherung und keine Protokollierung -, wollen wir diesen Weg in wenigen Jahren überprüfen, also evaluieren. Ich denke, es ist gerade bei einem neuen Weg wichtig, zu prüfen, ob es der richtige
Weg gewesen ist.
Einen Punkt möchte ich abschließend noch erwähnen:
Im Bereich der privaten Krankenversicherung haben wir
in die bisherigen Provisionsregelungen im Markt eingreifen müssen. Es gab einige Gesellschaften und Ver16218
mittler, die Kunden für eine private Krankenversicherung geworben und diesen Vertrag schon nach 15 bis
18 Monaten wieder gekündigt haben, um erneut einen
Vertrag abzuschließen und im Grunde zweimal zu überhöhten Provisionen zu gelangen.
Wir haben dort auch in Abstimmung mit der Wirtschaft eingegriffen; denn sie sah sich selbst nicht in der
Lage, dies umzusetzen. Ich denke, das war einer der
wichtigsten Schritte, um einen sauberen Markt für die
Vermittlung von privaten Krankenversicherungen zu erreichen, und die Versicherungsbranche ist uns dankbar,
dass wir in den Markt eingegriffen und diesen Missbrauch beseitigt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf lösen wir, die Koalitionsparteien und
die Bundesregierung, ein weiteres Versprechen unseres
Koalitionsvertrags ein. Alle Märkte, alle Produkte, alle
Anbieter und alle Vermittler sollten der Regulierung unterliegen. Dem sind wir ein wesentliches Stück nähergekommen. Ich denke, darauf können wir sehr stolz sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Vielen Dank, Kollege Flosbach - angesichts der fortgeschrittenen Zeit auch dafür, dass Sie Ihre Redezeit bei
weitem nicht ausgeschöpft haben.
({0})
Für die Sozialdemokraten ist Kollege Dr. Carsten
Sieling der nächste Redner.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank für den Hinweis. Ich versuche, ihn aufzunehmen, aber ich muss erst einmal sagen, dass ich heute
Morgen, als ich den Wetterbericht hörte und berichtet
wurde, dass sich der Nebel auflösen würde, sehr frohgemut gestimmt war. Ich hätte nicht gedacht, Herr
Flosbach, dass es Ihnen mit Ihrer Rede hier gelingen
kann, diesen Nebel des Tages auch noch in den Plenarsaal zu tragen.
({0})
Wir haben in den Vorberatungen, in der ersten Lesung
usw. das ständige Gerede davon gehört, dass dieser Gesetzentwurf ein Meilenstein und ein Quantensprung sei,
und stolz sind Sie am Ende auch noch.
({1})
- All das erkläre ich Ihnen jetzt gleich. - Das ist natürlich nichts anderes, als dass Sie gute Stimmung für ein
durch und durch verfahrenes Verfahren machen, was
dazu führen wird, dass die Anlegerinnen und Anleger in
Deutschland gerade vor diesen gefährlichsten Produkten
nicht hinreichend geschützt werden, und das ist peinlich.
Darauf kann ich nicht stolz sein, und Sie sollten es auch
nicht sein, Herr Kollege Flosbach.
({2})
Der graue Kapitalmarkt zeichnet sich durch Intransparenz bei den Produkten und durch Vertriebsformen
aus, die immer wieder dazu geführt haben, dass Schäden
in Milliardenhöhe entstanden sind. Für die einzelnen
Personen waren das teilweise vielleicht auch einmal
kleine Summen, aber den Einzelnen macht das viel aus.
Viele Leute haben darunter gelitten. Der politische Anspruch musste doch sein, den grauen Kapitalmarkt zu
beleuchten, sodass dieser wichtige Bereich quasi ein
weißer Markt wird.
Ich will Ihnen sagen: Das, was Sie hier gemacht haben, ist nichts anderes als die Erzeugung einer schwarzgelben Sonnenfinsternis, durch die neue Schatten geworfen wurden. Das ist Stückwerk. Das reicht nicht, um den
Anlegerschutz in Deutschland zu stärken.
({3})
Bei jeder Sonnenfinsternis kommen auch ein paar
Sonnenstrahlen durch. Deshalb will ich hier sehr deutlich sagen, dass wir das, was Sie im Bereich der Produktregulierung gemacht haben, positiv finden. Hier
wird es dazu kommen, dass nun geschlossene Fonds und
Ähnliches von der BaFin geprüft werden.
({4})
Das ist ein entscheidender Punkt, aber es reicht nicht.
Anders sieht es im Bereich des Vertriebs aus. Da haben Sie die Normen des WpHG, des Wertpapierhandelsgesetzes, nicht angewandt, sondern geteilt.
({5})
- Zu der Eins-zu-eins-Umsetzung komme ich gleich sehr
gerne. Ich bitte Sie, da ein bisschen Geduld zu haben.
Sie wissen genau, dass Sie diese Regelungen nicht eins
zu eins umgesetzt, sondern diese Umsetzung nur angekündigt haben. Der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium - damals noch Herr Asmussen - hat eine
Eins-zu-eins-Umsetzung erbeten. Das Bundeswirtschaftsministerium, immer FDP-geführt, hält seine
Zusagen nicht ein. Sie haben keine Eins-zu-eins-Umsetzung erreicht.
Wenn Sie sich das genau anschauen, dann merken
Sie, dass es im Bereich der Offenlegungspflichten von
Zuwendungen nicht hinreicht. Auch eine Beschwerdestelle gibt es im Gegensatz zu den Regelungen, die wir
bei dem bisherigen Anlegerschutzgesetz hatten, nicht. Es
gibt keine Pflicht zur Meldung von Beschwerden.
({6})
Das Wichtigste ist: Es gibt - darauf komme ich
noch - keine Sanktionen bei Falschberatung. Das ist das
Allerschlimmste. Wir brauchen eine Regelung, damit die
schwarzen Schafe vom Markt verschwinden. Das leisten
Sie nicht. Damit haben Sie an dieser Stelle versagt.
({7})
- Ich habe Ihnen schon in der ersten Lesung gesagt: Ich
verstehe Ihre Aufregung. Dies ist ein Paradebeispiel dafür, wie bei Ihnen der Lobbyismus durchregiert. Bundesfinanzminister Schäuble hat im Frühjahr 2010 einen Vorschlag vorgelegt, der einen einheitlichen Anlegerschutz
gewährleisten sollte. Dieser Vorschlag ist im weiteren
Verfahren zwischen den Ministerien zerlegt worden,
weil es die Lobbyisten, die auf den grauen Kapitalmärkten, gerade im Vertriebsbereich, unterwegs sind - Sie
kennen das; sie sind mit einem ordentlichen Hebel ausgestattet -,
({8})
über den Kanal FDP geschafft haben, den Lobbyismus
in die Regierungspolitik zu hebeln.
({9})
Den Lobbyisten ist es jedenfalls gelungen, über Ihren
damaligen Bundeswirtschaftsminister, Herrn Brüderle,
entsprechende Regelungen hineinzuhebeln und Herrn
Schäuble leider umzuhauen. Die CDU/CSU hat sich dagegen leider nicht gewehrt. Darum werden wir einen gespaltenen Anlegerschutz bekommen. Das ist schlechter
Anlegerschutz. Das schadet den Menschen in Deutschland.
({10})
- Im Gegensatz zu Ihnen habe ich beides getan.
({11})
Das unterscheidet uns wahrscheinlich, Herr Kollege. Sie
müssen aber genau das erzählen, weil Sie wissen, was
Sie damit durchgesetzt haben, nämlich dass der Anlegerschutz damit unter die Gewerbeordnung und unter die
Kontrolle der Gewerbeämter fällt.
Ich sage Ihnen: Einen einheitlichen Anlegerschutz
und eine entsprechende Kontrolle können Sie mit 7 000
unterschiedlichen lokalen Gewerbeämtern nicht gewährleisten. Das wird zu keinen Verbesserungen führen.
({12})
- Wir reden hier über Kapitalmarktinstrumente. Wir
können gerne über einen Vorschlag Ihrerseits reden, den
Schutz auch im Versicherungsbereich zu verbessern.
Hier ist es jedenfalls so, dass Sie einen gespaltenen Anlegerschutz produzieren.
({13})
Fonds und ähnliche Produkte werden von der BaFin
kontrolliert. Auch Bankberater werden in Form von Registrierungspflichten kontrolliert. Aber beim Anlegerschutz beugen Sie sich der FDP-Politik und lassen die
Kontrollen von den Gewerbeämtern durchführen. Davon
werden in den kleinen Orten schwarze Schafe profitieren, weil die Gewerbeämter diese Kontrolle von ihren
anderen Aufgaben und ihrer Ausstattung her gar nicht
leisten können.
({14})
Wenn Sie mir hier erzählen wollen, dass 7 000 einzelne
Stellen stärker sind als eine starke BaFin, dann gehören
Sie zu den Märchenonkeln dieses Parlaments.
({15})
Sie haben an dieser Stelle einen falschen Weg eingeschlagen. Ich will gerne ergänzen, dass wir eine Reihe
von Vorschlägen gemacht haben, damit es nicht dazu
kommt, dass die einzelnen Vermittler und Berater aufgrund von Kostenbelastungen - dieses Argument höre
ich schon jetzt - Schwierigkeiten bekommen. Deshalb
haben wir als Lösung immer vorgeschlagen, sie aus gewissen Kostenanforderungen herauszunehmen. Das war
der sogenannte Kreditwesengesetz-light-Vorschlag.
({16})
Diesen Weg hätte man gehen können. Sie sind nicht
darauf eingegangen, weil Ihnen schon das zu viel war.
Sie wollen den grauen Kapitalmarkt gerne grau lassen.
Damit er auch wirklich grau und zahnlos bleibt, haben
Sie uns in den Beratungen durch die Koalitionsfraktion
eine Alte-Hasen-Regelung vorgelegt, die unangenehm,
peinlich und überzogen ist, weil sie nämlich dazu führt,
dass jemand, der, sagen wir mal, 30 Jahre alt ist und
schon die sieben Jahre, die Herr Flosbach angesprochen
hat, gearbeitet hat, bis zu seiner Pension ohne Prüfung
und weiteren Sachkundenachweis vermitteln kann. Das
halten wir für nicht hinreichend.
({17})
Wir hätten eine Härtefallregelung empfohlen. Das
wäre richtig gewesen. Das wäre guter und wirksamer
Anlegerschutz gewesen.
Ihr Gesetz lehnen wir ab, weil es für den Anlegerschutz in Deutschland nicht gut ist. Es ist in der Tat eine
Gefahr und Verlängerung der krisenhaften Entwicklung
und Gefährdung für die Leute.
Sie werden deshalb unsere Zustimmung nicht erhalten.
({18})
Ich bitte um Zustimmung für unseren Antrag, und ich
entschuldige mich, dass ich 13 Sekunden länger geredet
habe als vorgesehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Vielen Dank, Kollege Dr. Sieling. - Nächster Redner
für die Fraktion der FDP unser Kollege Frank Schäffler.
Bitte schön, Kollege Frank Schäffler.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz stärkt den Anlegerschutz durch mehr
Wettbewerb, und der Wettbewerb ist eigentlich der beste
Anlegerschutz.
({0})
Denn wenn wir den Vorschlägen der Opposition gefolgt
wären, hätten wir am Ende 80 000 Vermittler auf diesem
Markt in ihrer Existenz vernichtet. Am Ende hätte es nur
noch Banken und große Vertriebe gegeben, die in
Deutschland Finanzprodukte vermitteln können, auch
von den Kosten her.
Wozu hätte das geführt? Hätte das zu mehr Anlegerschutz geführt? Nein.
({1})
Es hätte zu weniger Anlegerschutz geführt, und es hätte
am Ende dazu geführt, dass die Produkte, die in der Vergangenheit, als es viele schwarze Schafe gab, nämlich
die geschlossenen Fonds, zu Recht kritisiert wurden, nur
noch von Banken vermittelt worden wären.
Schon heute werden geschlossene Fonds zu 60 Prozent nur von Banken vermittelt.
({2})
Das heißt, das, was in der Vergangenheit schiefgegangen
ist, ist in dem regulierten Bereich geschehen, den Sie so
hoch loben und über den die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Aufsicht geführt hat.
Ich finde, der beste Wettbewerbsschutz ist, wenn wir
einen Ordnungsrahmen schaffen, bei dem es keine Arbitrage-Effekte gibt und nicht der eine in das andere, weniger regulierte Segment ausweichen kann. Das war in der
Vergangenheit der Fall. Nach Ihrer Versicherungsvermittlerrichtlinie - die Sie im Übrigen in der Gewerbeordnung umgesetzt haben - konnte man sich in der Vergangenheit am Ende über die Vermittlung geschlossener
Fonds aus der Regulierung herausbewegen.
({3})
Das, was Sie damals eingeleitet haben und was richtig
war, vollenden wir jetzt also. Künftig wird es kein Finanzprodukt mehr geben, das nicht unter einheitlicher
Aufsicht mit einheitlichen Vermittlungsstandards, Ausbildungsstandards, Regulierungsstandards und Haftungsbedingungen vermittelt wird.
({4})
Das ist ein großer Erfolg dieser Koalition für den Anlegerschutz. Es ist ein Riesenerfolg. Denn es wird am
Ende dazu führen, dass Sie, egal ob Sie eine Versicherung, einen Fonds oder einen geschlossenen Fonds vermitteln, als freier Finanzvermittler den gleichen Bedingungen unterliegen.
Es ist klar, dass man dann auch Übergangsregelungen
schaffen muss. Wer weiß das besser als Sie? Sie haben es
bei der Umsetzung der Versicherungsvermittlerrichtlinie
genauso gemacht, wie wir es jetzt machen.
({5})
Jetzt kritisieren Sie diese Regelung und polemisieren dagegen. Das halte ich für nicht lauter. Lauter wäre, wenn
Sie akzeptierten, dass es genügend Menschen gibt, die
ordentlich gearbeitet haben, die vielleicht am Ende ihres
Berufslebens stehen und die man nicht mehr zwingen
kann, die Schulbank zu drücken, da sie jahrelang oder
jahrzehntelang auf diesem Markt erfolgreich tätig waren.
Das wäre unsozial. Das können wir nicht zulassen.
({6})
Ein entscheidender Faktor ist, dass es den Markt der
nebenberuflichen Vermittler nicht mehr geben wird;
denn wir haben die Latte bei den Ausbildungsstandards
und mit der Pflicht zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung so hoch gelegt, dass das ein Nebenberufler nicht mehr leisten kann. Allein das wird die
Qualität der Vermittlung entscheidend verbessern. Insbesondere die Pflicht, eine Berufshaftpflichtversicherung
abzuschließen, wird den Markt radikal bereinigen. Wer
ein-, zweimal einen Schadensfall verursacht hat, für den
bedeutet das faktisch das Ende seiner beruflichen Existenz als Finanzvermittler. Der Betreffende wird keine
Berufshaftpflichtversicherung auf dem Markt mehr bekommen. Das ist wahrscheinlich der notwendige Preis
dafür, dass wir die Marktkräfte wirken lassen. Durch
Wettbewerb schaffen wir zusätzlichen Anlegerschutz.
Insofern ist heute ein guter Tag für den Anlegerschutz in
Deutschland. Das haben wir gemeinsam zustande gebracht. Deshalb bedanke ich mich ausdrücklich bei unserem Koalitionspartner für die konstruktive Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Frank Schäffler. - Jetzt hat für
die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Caren Lay
das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es kann nicht sein, dass ein Teil des Kapitalmarkts so gut wie gar nicht reguliert wird.
({0})
Auf dem sogenannten grauen Kapitalmarkt werden Verbraucherinnen und Verbraucher Jahr für Jahr um Milliardenbeträge in zweistelliger Höhe geprellt.
Was ändert nun das Gesetz der Bundesregierung - das
ist der Streitpunkt - an dieser misslichen Lage? - Aus
unserer Sicht leider ausgesprochen wenig. Ich möchte
auf einige Schwächen des Gesetzentwurfs eingehen, der
heute zur Abstimmung steht. Zuerst zu den bereits angesprochenen Beipackzetteln. Die von Verbraucherschutzministerin Aigner immer so gerne angepriesenen Infoblätter für Finanzprodukte sind kaum standardisiert. Sie
unterliegen keiner Aufsicht. So können sie doch gar
keine zuverlässige Informationsquelle für Verbraucherinnen und Verbraucher sein.
({1})
Dann kritisieren wir die Reichweite des Gesetzes. Wir
sind der Auffassung, dass eine Ausweitung der Regulierung auf Schrottimmobilien dringend notwendig ist. Wir
sind als Linke selbstverständlich der Auffassung, dass
solche Produkte überhaupt nicht auf den Markt gehören.
Aus unserer Sicht ist der zentrale Kritikpunkt Folgendes: Freie Vermittler sollen nach dem Willen der Bundesregierung der Gewerbeaufsicht unterstellt werden
statt der Finanzaufsicht.
({2})
Damit wird eine kompetente und länderübergreifend einheitliche Aufsicht verhindert. Auf diesen Punkt werde
ich gleich näher eingehen.
Damit bleibt aus unserer Sicht der graue Kapitalmarkt
ein Einfallstor für Betrug und ein Tummelplatz für unkalkulierbare Risiken. Leidtragende dieser mangelhaften
Regulierung sind Kleinanlegerinnen und Kleinanleger,
die ihr Erspartes in sicheren Händen wissen wollen, also
Menschen, die über relativ wenig Geld verfügen und nur
geringe Anlageerfahrung haben. Wir sagen als Linke: Einen solchen grauen Kapitalmarkt darf es überhaupt nicht
mehr geben.
({3})
Mit unserem Entschließungsantrag legen wir ein
Maßnahmenpaket zur Überwindung des grauen Kapitalmarkts vor. Lassen Sie mich auf einige Aspekte eingehen. Wir fordern schon seit langem einen sogenannten
Finanz-TÜV. Wir möchten, dass alle Formen der Geldanlage geprüft und zugelassen werden müssen, bevor sie
auf den Markt kommen. Nur so kann verhindert werden,
dass sogenannte Finanzinnovationen, die sich später als
Finanzschrott herausstellen, ungeprüft auf den Markt gelangen.
Des Weiteren sagen wir: Nicht nur die Finanzprodukte, sondern auch die Finanzvermittler müssen einer
fachlich kompetenten und einheitlichen Finanzaufsicht
unterliegen. Ein Flickenteppich zwischen Finanzaufsicht
und Gewerbeaufsicht - das wäre die Konsequenz aus
dem Gesetz - kann die Anforderungen nicht erfüllen. An
dieser Stelle kann ich mich der Kritik von Kollegen
Sieling völlig anschließen.
Auch wir als Linke sind allerdings der Auffassung,
dass die BaFin an Interessenkonflikten leiden kann,
nämlich denen zwischen Unternehmen auf der einen
Seite und Verbraucherinnen und Verbrauchern auf der
anderen Seite. Deshalb schlagen wir als Linke mittelfristig eine eigene Verbraucherschutzbehörde für die Finanzmärkte vor.
({4})
Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen. Wir
Linke kümmern uns nicht nur um den Anlegerschutz,
sondern wir kümmern uns auch um die Menschen, die
gar kein Geld haben, das sie anlegen könnten, und die
darauf angewiesen sind, sich Geld am Markt zu leihen.
Es gibt nicht nur den grauen Kapitalmarkt, sondern es
gibt auch einen grauen Kreditmarkt. Anleger locken zum
Beispiel mit schufafreien Krediten und berechnen Vorleistungen, ohne dass überhaupt ein Kredit vermittelt
wird. Auch dagegen muss aus unserer Sicht dringend et16222
was geschehen. Das sieht auch die Verbraucherschutzministerkonferenz vor. Sie hat bereits vor einem Jahr,
und zwar einstimmig, also auch mit den Stimmen der
Koalition, ein Vorleistungsverbot bei der Kreditvermittlung gefordert. Geschehen ist seitdem nichts. Auch hier
muss die Bundesregierung endlich handeln.
Ich komme zum Schluss. Dieser Gesetzentwurf ist
aus unserer Sicht ein viel zu vorsichtiger Schritt. Ausreichend zur Überwindung des grauen Kapitalmarkts ist er
bei weitem nicht.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lay.
Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege
Dr. Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will als Erstes damit beginnen, zu klären, worüber wir
beim grauen Kapitalmarkt reden, und dazu ein Beispiel
schildern, das deutlich macht, wie krass manchmal die
Fehlberatung und wie schlecht die Produkte sind.
Eine Fondsgesellschaft sammelt für die Produktion
zweier Filme 180 Millionen D-Mark - jetzt etwa 92 Millionen Euro - ein. Das liegt schon einige Jahre zurück.
Freie Vermittler bringen das Produkt auf den Markt. Vor
kurzem haben die Anleger erfahren, dass die Filme für
etwa 250 000 Dollar verkauft werden konnten. Die Anleger können also mit einem Rückfluss im Promillebereich ihrer Einlage rechnen.
Das ist eines von vielen Beispielen im Bereich der
Medienfonds. Dort ist übrigens bekannt, dass man riskante und häufig auch schlechte Projekte am besten in
Deutschland finanziert. Man könnte andere Beispiele
aus dem Bereich der Schiffsfonds oder Ähnliches hinzufügen. Es handelt sich um ein großes Volumen. Die Gelder vieler Anleger werden in betrügerischer Weise fehlgelenkt. Das hat zwei Gründe. Der eine liegt auf der
Produktebene, der andere auf der Vertriebsebene.
Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben deswegen 2007, als es um die Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie ging, gesagt, dass dieser Bereich bei der
Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie einbezogen werden muss. Die Große Koalition - übrigens beide Fraktionen, Herr Flosbach, die CDU/CSU-Fraktion wie die
SPD-Fraktion - wollte damals diesen Bereich explizit
unreguliert lassen. Deswegen kommt das, was wir heute
tun, viereinhalb Jahre zu spät.
({0})
Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben dann
gefordert, dass zumindest im Ausschussbericht stehen
müsse, dass wir uns mit dieser Thematik noch einmal
beschäftigen. Wir haben das auch vorangebracht und im
Juli 2009 eine Anhörung initiiert, in der wir, glaube ich,
alle deutlich dazugelernt haben, welcher Regelungsbedarf besteht und was zum Schaden der Verbraucherinnen
und Verbraucher in Deutschland falsch läuft. Das ist die
Grundlage, auf der dann im Koalitionsvertrag völlig
richtige Punkte zur Regulierung dieses Marktes festgelegt wurden. Das muss man festhalten. Deswegen sind
einige von den Forderungen, die wir damals in unserem
Antrag vorgetragen haben, tatsächlich in diesen Gesetzentwurf eingegangen.
Trotzdem werden wir dem Gesetzentwurf heute nicht
zustimmen. Ich will das begründen. An zwei zentralen
Stellen - es gibt mehrere Beispiele - greift dieser Gesetzentwurf zu kurz. Ich zitiere in diesem Zusammenhang die Verbraucherministerin Aigner. Sie antwortete
auf die Frage, ob die Gewerbeaufsichtsämter den Vertrieb kontrollieren sollten - ich zitiere -:
Das ist aus meiner Sicht falsch. Die Finanzaufsicht
sollte komplett bei der Finanzaufsicht BaFin angesiedelt werden.
({1})
Der Vertreter der Bundesbank, die sicher eine relativ
neutrale Instanz in dieser Frage ist, beschrieb in der Anhörung zum Gesetzentwurf am 6. Juli 2011 - das zielt
auf den Kern und bringt zum Ausdruck, warum es so
nicht sein darf - die Gefahr - ich zitiere -,
dass gut gemeinte Anlegerschutzregelungen durch
eine unterschiedliche Beaufsichtigung möglicherweise zum Gegenteil dessen führen, was man beabsichtigt hat, und durch eine möglicherweise unzureichende Beaufsichtigung in der Fläche das
eigentlich intendierte Anlegerschutzniveau zumindest aufsichtlich eben nicht erreicht werden kann.
Das ist das Problem. Es besteht die Gefahr, dass manche der guten Normen, die im Gesetzentwurf stehen, ins
Leere laufen werden, und deswegen können wir nicht
zustimmen.
({2})
- Ja, die BaFin hat das natürlich gesagt. Stellen Sie doch
eine Zwischenfrage. Ich beantworte sie wirklich gerne.
Der Punkt ist doch einfach, dass die BaFin gesagt hat,
mit ihrer gegenwärtigen Ausstattung könne sie dieser
Anforderung nicht gerecht werden; sie brauche dafür
eine anständige Ausstattung. Das ist doch logisch. Das
gilt auch für die Gewerbeämter. Bloß diese werden die
entsprechende Kompetenz gar nicht aufbauen können.
({3})
Ein weiterer Punkt: Ihr Staatssekretär Heitzer hat gesagt, dass die anlegerschützenden Vorschriften des
Wertpapierhandelsgesetzes eins zu eins umgesetzt werden sollen. Das ist bisher nicht der Fall. Trotz des aggressiven Vertriebs, den wir in diesem Bereich gehabt
haben - provisionsorientierte Fehlberatung -, haben Sie
gerade bei der Offenlegung der Provisionen keine
Eins-zu-eins-Umsetzung vorgenommen. Angesichts dessen müssen wir einfach sagen: Es ist zu befürchten, dass
vieles von dem Falschen, was wir kritisieren, weitergeht.
Deswegen können wir hier nicht zustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. - Ich darf
nun die Aussprache hierzu schließen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7453,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/6051 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7475. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Das sind die Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Die
Linksfraktion. Der Entschließungsantrag ist somit abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7476. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Das ist die Fraktion
Die Linke. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7477.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Das sind
Bündnis 90/Die Grünen, Sozialdemokraten und Linksfraktion. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Somit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger
Arbeit gleichstellen
- Drucksache 17/7386 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben.1) - Alle sind damit einverstanden.
Dann ist das so beschlossen. Ich brauche Ihnen die Namen der Kolleginnen und Kollegen nicht vorzulesen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7386 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind alle damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom
24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems
- Drucksache 17/6255 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 17/7508 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) -
Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen uns vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/7508, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/6255 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichts-
halber frage ich noch: Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
1) Anlage 9
2) Anlage 5
Vizepräsident Eduard Oswald
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Der
Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen
- Drucksachen 17/7191, 17/7506 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Edelgard Bulmahn
Joachim Spatz
Jan van Aken
Kerstin Müller ({4})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Sie alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7506, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7191 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die
Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die
Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Umweltauditgesetzes
- Drucksache 17/6611 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
- Drucksache 17/7490 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
1) Anlage 6
ginnen und Kollegen liegen uns vor. Sie sind damit einverstanden.
Der Erdgipfel in Rio de Janeiro im Jahr 1992 hat mit
der Agenda 21 das Thema der nachhaltigen Entwicklung ins Rampenlicht gerückt.
Seither wird die Frage der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung in vielen Bereichen und durch viele
Instrumente adressiert. Im Vordergrund steht dabei, wie
es gelingen kann, die Bedürfnisse heutiger Generationen zu befriedigen, ohne die Chancen künftiger Generationen zu beeinträchtigen. Wie schaffen wir es, Ökonomie und Ökologie und die sozialen Aspekte miteinander
in Einklang zu bringen?
Wir stehen hierbei vor enormen Herausforderungen,
aber auch vor großen Chancen: Auf internationaler
Ebene setzen wir uns für ein verbindliches Nachfolgeabkommen des Kioto-Protokolls ein. Wir benötigen verbindliche Zielsetzungen der Staaten für die Mengenbegrenzungen ihrer Treibhausgasemissionen.
Deutschland bezieht bereits jetzt gut 20 Prozent seiner Stromversorgung aus erneuerbaren Energien. In den
kommenden Jahren werden wir den Ausbau der erneuerbaren Energien weiter forcieren.
Die Europäische Kommission hat im Rahmen ihrer
Europa-2020-Strategie eine Leitinitiative zum Thema
Ressourceneffizienz verabschiedet mit dem Ziel, die Effizienz der Wirtschafts- und Produktionsweisen in Europa
weiter zu erhöhen und den Verbrauch von Ressourcen zu
optimieren. Das geplante deutsche Ressourceneffizienzprogramm ProgRess verfolgt diese Zielsetzung auf nationaler Ebene.
Ein wichtiges Instrument der nachhaltigen Entwicklung, das nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht,
das aber bereits parallel zur Rio-Konferenz im Jahre
1992 auf EU-Ebene im 5. Umweltaktionsprogramm entworfen wurde, ist das Europäische Umwelt-Audit-System - kurz EMAS. Dieses freiwillige Umweltmanagementsystem, das mit dem Umweltauditgesetz in
Deutschland umgesetzt wurde, misst der Eigenverantwortung von Unternehmen und Organisationen beim
Umweltschutz eine große Bedeutung bei.
Mit diesem System erhalten Unternehmen und Organisationen eine Handhabe zur effektiven Selbstkontrolle.
Die durch ihre Tätigkeit entstehenden direkten und indirekten Umweltauswirkungen werden durch Umwelterklärungen transparent. Einerseits verpflichten sich die
Unternehmen und Organisationen, eine über ihre gesetzlichen Pflichten hinausgehende Verbesserung ihres
betrieblichen Umweltschutzes zu erreichen. EMAS-Organisationen werden durch staatlich zugelassene Umweltgutachterinnen und Umweltgutachter kontrolliert.
Andererseits werden innerhalb der Umsetzung von
EMAS regelmäßig - auch wirtschaftlich rentable - Umweltschutzmaßnahmen identifiziert, mit denen Ressourcen eingespart werden können. Win-win-Situationen
werden somit erschlossen.
Mit dem nun vorliegenden Zweiten Gesetz zur Änderung des Umweltauditgesetzes werden aufgrund der
EG-Verordnung Nr. 1221/2009 und weiterer Beschlüsse
der Kommission weitere wichtige Neuregelungen umgesetzt. Ich will an dieser Stelle zwei Punkte nennen:
Erstens werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass nunmehr auch eine EMAS-Registrierung für
Organisationen mit Sitz außerhalb der EU angeboten
wird. Deutsche Umweltgutachter erhalten hierdurch ein
neues Betätigungsfeld. Wir eröffnen damit gleichzeitig
die Möglichkeit einer weiteren Durchdringung der
EMAS-Zielsetzungen über die Europäische Union hinaus.
Zweitens sieht das neue Gesetz vor, dass eine Registrierung von Teilstandorten abgeschafft wird. Das heißt
im Klartext, dass keine umweltrelevanten Teile einer Anlage aus der EMAS-Registrierung ausgelassen werden
können. Ein „Rosinenpicken“ kann es hierdurch nicht
mehr geben.
Alles in allem sind die Neuerungen zu begrüßen. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung.
Im Jahr 1993 wurde das erste und auf dauerhaften
Betrieb angelegte Umweltmanagementsystem mit festen
Regeln EG-rechtlich etabliert.
Damals wurden die Grundlagen gelegt, um den - relativ neuen - Gedanken, ökonomisch und ökologisch
sinnvolles Handeln miteinander zu verbinden, in die
Praxis umzusetzen. Unternehmen, Verwaltungen,
Dienstleister, die ihre Umweltdaten erfassten, bilanzierten und transparent darstellten, konnten durch das Umweltaudit die Umwelt und die Ressourcen schonen, Kosten einsparen, Genehmigungsabläufe verkürzen und mit
dem EMAS-Logo für sich und die gute Sache werben.
Das Vorhaben müsste eigentlich angesichts der Erkenntnis, dass unsere natürlichen Ressourcen begrenzt
und nicht immer und überall verfügbar sein würden,
eine Erfolgsgeschichte sein, ein Selbstläufer. Heute, fast
20 Jahre und einige Novellen später, ist Ernüchterung
eingetreten. Das Umweltaudit wird von einer zwar steigenden Zahl von Unternehmen, aber immer noch von
viel zu wenigen durchgeführt. Im Oktober 2009 hatte
EMAS europaweit gerade einmal 7 400 Teilnehmer. Darüber hinaus ist das EMAS-Logo aufgrund der geringen
Teilnehmerzahlen nach wie vor einem Großteil der Bürgerinnen und Bürger nicht bekannt, sodass der Werbeeffekt und damit der Anreiz für die Firmen gering sind.
Wir müssen leider feststellen: Das Umweltauditsystem ist bis jetzt nicht so erfolgreich, wie ursprünglich
angenommen und erhofft wurde. Es ist zwar mittlerweile
anerkannt, dass Ökonomie und Ökologie zwei Seiten einer Medaille sind. Leider ist diese Erkenntnis immer
noch nicht ausreichend ins tägliche Handeln umgesetzt
worden.
Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der EU-Kommission, die Anzahl der Teilnehmer innerhalb der nächsten
fünf Jahre zu verdreifachen, ein sehr ambitioniertes Ziel,
das wir unterstützen. Durch die Novellierungen hat die
Bürokratie für das Zertifizierungsverfahren abgenommen, und die Vorteile, Betriebe und Verwaltungen angesichts steigender Energie- und Ressourcenpreise umzustrukturieren, liegen auf der Hand. Halten wir
gemeinsam fest: Wir wollen diesen Prozess weiter beschleunigen.
So wichtig EMAS - gerade auch als Vorreiter für
nachhaltige Produktionsprozesse - ist, es ist nicht das
einzige Instrument, um zukünftiges unternehmerisches
Denken und Verwaltungshandeln auf einen nachhaltigen
Pfad zu setzen. Die Energieeffizienzrichtlinie, das CO2Gebäudesanierungsprogramm, Klimaschutzprogramme,
kommunale Aktionspläne oder nachhaltige Beschaffungsmaßnahmen bilden ein Bündel an Instrumenten,
die die Umwandlung der Wirtschaftsprozesse hin zu einer nachhaltigen ressourcenschonenden Wirtschaftsweise unterstützen und befördern können.
Wir erlauben uns hier leider eine allzu große Toleranz. Die Bundesregierung diskutiert über einen Nachhaltigkeitskodex für Unternehmen, kann sich aber zu
keiner Regelung durchringen. Ebenso fehlen kraftvolle
Zertifizierungssysteme, die Konsumenten Kaufentscheidungen überdenken lassen und so Unternehmen aus eigenem Gewinnstreben den gesamtstaatlichen Zielen verpflichten. Wo bleibt die Umweltgesamtkostenrechnung,
und was ist mit einem neuen Wachstumsbegriff abseits
des BIP?
Schwarz-Gelb setzt nach wie vor auf falsche Anreizsysteme und wundert sich später über die daraus resultierenden Marktentscheidungen. Leider blockiert die
Bundesregierung ernsthafte Anstrengungen in Richtung
messbarer Nachhaltigkeitsanreize. Allen voran das
FDP-geführte Wirtschaftsministerium bezeugt ein ums
andere Mal, dass das existenzielle Zusammenspiel und
die gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung von
Ökologie und Ökonomie noch nicht hinreichend verstanden wurden.
Das Umweltauditsystem muss zu neuer Stärke geführt
und vergleichbare Ansätze müssen ausgebaut werden.
Mittlerweile sollte eigentlich überall die Einsicht erreicht worden sein, dass nichtnachhaltige Produktionsweisen schlicht eine Externalisierung von Kosten bedeuten. So gewinnen Unternehmen, aber auch der Staat auf
Kosten der nächsten Generationen. Wir nehmen aktuell
einen kostenlosen Kredit auf, indem wir Gewinne heute
realisieren, Folgekosten dafür aber von kommenden Generationen tragen lassen. Die Absurdität dieser Wirtschaftsweise zeigt sich in Phänomenen wie dem Klimawandel. Einem liberalen Wirtschaftsminister müsste
diese Gleichung eigentlich klar sein.
Ich hoffe inständig, dass die schwarz-gelbe Regierung in den letzten Monaten ihrer Amtszeit dieser einfachen, aber folgenschweren Wahrheit deutlich mehr Beachtung schenkt, als sie es bisher getan hat. Eine
Belebung des Umweltaudits, am besten vereinheitlicht
auf Ebene der EU, wäre ein erster und richtiger Schritt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der vorliegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung
der Regelungsaufträge der Verordnung ({0}) Nr. 1221/
2009 in nationales Recht. Diese Verordnung über die
freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem
Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung hat die EMAS-Verordnung über die
freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem
Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und
die Umweltbetriebsprüfung abgelöst.
Das Umweltauditgesetz bezweckt die Verbesserung
der Umweltleistungen der teilnehmenden Organisationen. Es ist damit Grundlage und Anreiz für Unternehmen und andere Organisationen, ihre Umweltleistung
freiwillig, systematisch und effizient zu bewerten und zu
verbessern. Geprüft werden alle Umweltauswirkungen,
das heißt, alle positiven oder negativen Veränderungen
der Umwelt, die ganz oder teilweise aufgrund der Tätigkeiten, Produkte oder Dienstleistungen eines Unternehmens eintreten, zum Beispiel der Ressourcenverbrauch,
der aktuell aufgrund der Knappheit zahlreicher Ressourcen eine ganz wichtige Rolle spielt. Dabei wird der
Eigenverantwortung der Wirtschaft bei der Bewältigung
ihrer direkten und indirekten Umweltauswirkungen eine
große Bedeutung beigemessen. Genau das ist der richtige Ansatz für eine liberale, verantwortliche und nachhaltige Umweltpolitik.
Wesentliche Pfeiler zur Erreichung der Ziele des
Umweltauditgesetzes sind die Zulassung unabhängiger,
zuverlässiger und fachkundiger Umweltgutachter und
Umweltgutachterorganisationen sowie deren Aufsicht
und die Registrierung der geprüften Organisationen.
Eine der wichtigsten Neuerungen ist, dass die EU-Mitgliedstaaten nun die Möglichkeit haben, auch eine
EMAS-Registrierung für Organisationen anzubieten, die
ihren Sitz außerhalb der EU haben, Stichwort: EMAS
Global. Entsprechendes Interesse wurde von interessierten Wirtschafts- und Regierungskreisen von außerhalb
der Europäischen Union artikuliert. Zusätzlich eröffnet
sich auch ein weiteres Betätigungsfeld für die deutschen
Umweltgutachter. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
werden die Voraussetzungen hierfür geschaffen. Es enthält Vorgaben für die Erweiterung der Umweltgutachterzulassung und für das Registrierungsverfahren für
außereuropäische Standorte. Dies ist zu begrüßen, auch
wenn nach Schätzungen aufgrund der bisherigen Auslandstätigkeit von Umweltgutachtern höchstens 22 Umweltgutachter von dieser Ergänzung ihrer Zulassung auf
Drittländer einmalig Gebrauch machen werden. Außerdem wird durch den Gesetzentwurf die Registrierung
von Teilstandorten abgeschafft. Hier bestand die Problematik, dass so bisher teilweise umweltrelevante Teile
einer Anlage aus der EMAS-Registrierung ausgespart
wurden. Dem soll nun ein Riegel vorgeschoben werden.
Des Weiteren gibt es eine Neuerung im Bereich des
Umweltgutachterausschusses. Die bisher ununterbrochene Berufungsdauer der Mitglieder des Umweltgutachterausschusses wird auf 6 Jahre begrenzt. So erhalten auch andere Branchen und Gutachter die
Möglichkeit, sich zu beteiligen. Dies ist aus marktwirtschaftlicher Sicht sehr zu unterstützen. Bislang schließt
die Zulassung als Umweltgutachter die Befugnis ein,
Zertifizierungsbescheinigungen nach DIN EN ISO
14001:2004 zu erteilen. Diese wird nun auf die Erteilung von Zertifizierungsbescheinigungen für Energiemanagementsysteme nach DIN EN 16001:2009 ausgedehnt. Begründet wird dies im Gesetz damit, dass die
Anforderungen an ein Energiemanagementsystem in den
Anforderungen für ein Umweltmanagementsystem nach
EMAS enthalten seien und die entsprechende Kompetenz der Umweltgutachter daher bereits im Zulassungsverfahren abgeprüft würden. Auch dies ist als Verfahrensvereinfachung zu begrüßen.
Neu ist außerdem, dass im Fall von befristeten Arbeitsverhältnissen mit juristischen Personen des öffentlichen Rechts nun eine Ausnahme vom sonst zwingenden
Widerruf der Zulassung oder von der Fachkenntnisbescheinigung des Umweltgutachters besteht. Stattdessen
gibt es ein Ausübungsverbot für den Zeitraum des befristeten Arbeitsverhältnisses, danach muss jedoch kein erneutes Zulassungsverfahren durchgeführt werden. Im
Einzelfall kann auch eine Ausnahmegenehmigung erteilt
werden. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Berufsfreiheit eine richtige Neuerung.
Die Neuerungen des Umweltauditgesetzes sind
grundsätzlich zu begrüßen, beschränken sich jedoch
weitestgehend auf die notwendigen Korrekturen. Ich
möchte daher die Gelegenheit nutzen, auch insgesamt
ein Fazit zum Umweltauditgesetz zu ziehen und mich
nicht nur auf die Novellierungen zu beschränken.
Das Umweltauditgesetz ist ein gutes Beispiel für freiwilligen, aber rechtlich verbindlichen Umweltschutz, ein
freiwilliges Instrument des Umweltschutzes in Eigenverantwortung der betroffenen Wirtschaft. Dies ist sehr zu
begrüßen und der richtige Ansatz in der Umweltpolitik.
Gerade vor dem Hintergrund der Herausforderung von
Klimawandel und Ressourcenverknappung ist das Umweltauditgesetz ein wichtiger und richtiger Ansatz mit
seinen Maßnahmen zur Ressourcen- und Energieeffizienz.
Für ein ehrliches Fazit ist meines Erachtens jedoch
auch wichtig, die Bewährung des Umweltauditverfahrens an sich zu berücksichtigen. Dabei zeigt sich, dass es
trotz der grundsätzlich sehr positiven Bewertung weiterhin Verbesserungsbedarf gibt. Betrachtet man die
Bewährung des EMAS-Systems insbesondere auf EUEbene, so wird es hauptsächlich von vier Ländern
- Deutschland, Österreich, Spanien und Italien - richtig
angenommen. Diese Länder stellen 85,5 Prozent der am
EMAS teilnehmenden Unternehmen. Im Rest der EU
gibt es zusammen nur circa 607 vom EMAS zertifizierte
Organisationen.
Nach einer anfangs sehr regen Beteiligung der Unternehmen und Organisationen ist der Trend rückläufig.
Gründe hierfür liegen darin, dass das EMAS-System international nicht anerkannt ist. Außerdem wird auch der
zu hohe Bürokratieaufwand bemängelt.
Wichtig ist meines Erachtens auch eine weitere Verbesserung der Außenwirksamkeit. Das Einsparen von
Energie, Material, Abfall etc. ist ein wichtiger Erfolg
Zu Protokoll gegebene Reden
des Unternehmens und muss als solcher, nicht zuletzt
auch als Anreiz für andere Unternehmen, nach außen
kommuniziert werden. Wichtig ist auch, das Umweltauditsystem so gut wie möglich den Bedürfnissen der
großen Bandbreite an Unternehmen anzupassen und
insbesondere auch neuen Entwicklungen gegenüber offen zu gestalten.
Wünschenswert wäre, das Nebeneinander der bestehenden Managementsysteme abzuschaffen. Doppelspurigkeiten, hoher Abstimmungs- und Koordinationsaufwand, aber auch eine begrenzte Wirkung der
Maßnahmen im Umweltbereich sind die Folge. Ziel
muss es sein, ein flächendeckendes Umweltmanagement
einzuführen. Das Umweltauditgesetz leistet hierzu einen
wichtigen Beitrag.
Wussten Sie eigentlich, dass es Atomkraftwerke mit
dem Zertifikat „besonders umweltfreundlich“ gibt? Das
bayerische Atomkraftwerk Isar 1, das einen Tag nach
dem Unfall von Fukushima abgeschaltet wurde, gehörte
dazu. Auch Isar 2, das noch bis 2022 am Netz sein wird,
ist als umweltfreundlich zertifiziert.
Wie das?, frage ich mich. Was ist das für ein Unsinn?
Aber nein, alles ging nach Recht und Gesetz zu. Das
Umweltauditgesetz macht‘s möglich. Unternehmen, die
sich freiwillig zu umweltfreundlichen Maßnahmen verpflichten und diese von einem anerkannten Berater
überprüfen lassen, können sich von eben diesem Berater
zertifizieren lassen. Es gibt keine Mindestanforderungen, keine messbaren Kriterien für die Umweltleistungen eines Unternehmens. Nein, das Unternehmen setzt
ein Umweltmanagement ein, und das macht einen Plan
und setzt sich seine Ziele selbst. Da reichen oft schon
Energiesparlampen und Recyclingpapier im Büro.
Kommen wir auf die bayerischen Atomkraftwerke zurück. Der Betreiber Eon hat regelmäßig in einem Bericht seine Umweltbemühungen im Atomkraftwerk Isar 2
veröffentlicht, die von einem anerkannten Berater geprüft wurden. Zu den Umweltaktivitäten gehörten neben
der Pflege einer Orchideenwiese auch die saubere Mülltrennung. Na, das wollen wir doch hoffen, dass in einem
Atomkraftwerk der Müll getrennt wird. So jedenfalls
wurde das Atomkraftwerk Isar 2 als umweltfreundliches
Unternehmen zertifiziert.
Also, wenn das nicht des Kaisers neue Kleider sind!
Umweltgefahren, die von einem Atomkraftwerk ausgehen,
wurden nicht bewertet. Oder denken wir an die radioaktiven Abfälle, die produziert werden, und kein Mensch
weiß, wohin damit für die nächsten Millionen von Jahren.
All das spielt keine Rolle im Zertifizierungsverfahren, es
gehört nicht zum „Prüfauftrag“.
Von einer ökologischen Visitenkarte der Unternehmen sprechen die einen, von Lug und Trug die anderen.
Ich halte es da mit Immanuel Kant, der die Menschen
auffordert, den Mut zu haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Und ich stelle einfach mal in den
Raum, dass wir hier einem Zertifizierungswahn aufsitzen.
Nun gut, wenn Umweltaudit denn sein soll, dann sollten wir wenigstens versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber nein, die Zertifikate werden praktisch zum
Nulltarif verteilt, und Unternehmen können damit ihr
Image aufpolieren. Daran ändert leider auch der heutige Antrag nichts. Es geht um Formalien, um Zuständigkeiten und auch um Pfründe, die gesichert werden
wollen. Welcher Gutachter darf wo in Europa zertifizieren? Das wird jetzt geregelt. Um Inhalte geht es nicht.
Und das ist Wasser auf die Mühlen der kritischen Stimmen, denn substanzielle Umweltanforderungen an die
Unternehmen wird es auch künftig nicht geben, dafür
aber jede Menge grüne Mäntelchen aus der Ramschkiste.
Der heute hier zu beratende Gesetzentwurf ist wenig
spektakulär. Mit dem Vorschlag passt die Bundesregierung das Umweltauditgesetz an neue Vorgaben der europäischen EMAS-Verordnung an.
Die einzige maßgebliche inhaltliche Änderung, neben
vielen redaktionellen, ist die Einführung der Möglichkeit, dass deutsche Umweltgutachter zukünftig auch Organisationen im Nicht-EU-Ausland prüfen können. Dies
eröffnet den hochqualifizierten deutschen Umweltgutachtern ein neues Betätigungsfeld in Nicht-EU-Ländern
und trägt dazu bei, dass die Idee des Umweltaudits international verbreitet wird.
Wir begrüßen diese neu eingeführte Möglichkeit. Es
gibt hierfür ein Interesse von vielen Unternehmen mit
Sitz im Ausland, die das in Europa erprobte EMAS-System auch für ihr Umweltmanagement nutzen wollen.
Bisher galt gerade die fehlende internationale Anerkennung als ein großer Nachteil für EMAS. Mit der Neuregelung wird daher ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu
besserer internationaler Anerkennung gegangen.
Das Umwelt-Audit-System hat sich als effektives Instrument des Umweltmanagements in vielen Unternehmen und Institutionen bewährt und den betrieblichen
Umweltschutz nachhaltig verbessert. Wir sind sehr erfreut, dass das Umweltaudit heute in Deutschland allgemein anerkannt ist und vonseiten der Wirtschaft nicht
als unnötige Last, sondern als wichtige Chance angesehen wird.
Natürlich gibt es aber auch noch Verbesserungspotenzial bei EMAS und beim Umweltaudit. Den Vorwurf gegen EMAS, es würde allein dem Greenwashing
dienen, teilen wir zwar nicht, aber es gibt durchaus gute
Gründe, EMAS zu kritisieren. Das System erhält noch
immer zu wenige konkrete, verbindliche Anforderungen.
Die Berichtspflichten müssen erweitert und klar definierte Indikatoren für die Messung der Umweltleistung
eingeführt werden. EMAS muss stärker hin zu einem
echten Umweltzeichen für Betriebe entwickelt werden.
Das EMAS-Zeichen muss zukünftig nicht allein Beleg
für eine Auseinandersetzung mit Umweltmanagement
sein, es muss ein Zeichen für einen umweltfreundlichen
Betrieb werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Daher muss die Bundesregierung sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, EMAS weiter zu stärken.
Dazu bedarf es einer Anschärfung der Regeln, aber
auch die öffentliche Bekanntheit und Anerkennung des
Zertifizierungssystems müssen verbessert werden. Dafür
werden wir Grüne uns hier im Bundestag und im Europäischen Parlament einsetzen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7490,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/6611 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen
und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die gleichen Fraktionen wie zuvor. Wer stimmt
dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Das ist die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Silberhorn, Monika Grütters, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann,
Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
UNESCO-Welterbestätten in Deutschland
stärken
- Drucksache 17/7357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Sie haben Verständnis dafür, dass ich sie nicht vorlese.
„Was lange währt, wird endlich gut“, heißt es in einem schönen deutschen Sprichwort, und so sind wir erleichtert und auch froh, heute hier - nach langen Beratungen - diesen Antrag zur Stärkung der UNESCOWelterbestätten in Deutschland vorlegen zu können.
Weltkultur- und Weltnaturerbestätten besitzen einen
außergewöhnlichen Wert nicht nur für die eigene Nation, sondern für die gesamte Menschheit. Welterbestätten stehen beispielhaft für herausragende Kulturleistungen; und sie geben wichtige Impulse für die jeweilige
Region. Viele Generationen haben diese bis heute unter
oft schwierigsten Umständen geschützt, erhalten und zu
dem gemacht, was sie heute sind.
1972 hat die UNESCO das internationale „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der
Welt“ verabschiedet. Der Schutz von Kultur- und Naturdenkmälern mit „außergewöhnlichem universellen
Wert“ liegt nicht in der Hand einzelner Staaten, sondern
ist Aufgabe der gesamten Menschheit. Deutschland hat
dieses Übereinkommen 1976 ratifiziert; mittlerweile
wurde diese Konvention von 184 Staaten unterzeichnet.
Im kommenden Jahr begehen wir das vierzigste Jubiläum dieses Übereinkommens - und es ist eine großartige Erfolgsgeschichte.
Zum Kulturerbe gehören Baudenkmäler, Städteensembles, Kulturlandschaften, Industriedenkmäler und
Kunstwerke. Das Naturerbe umfasst neben geologischen
Formationen, Fossilienfundstätten und Naturlandschaften auch Schutzreservate der Tiere und Pflanzen, die
vom Aussterben bedroht sind.
Heute sind 936 Kultur- und Naturstätten in 153 Staaten auf der UNESCO-Liste des Welt- und Kulturerbes
verzeichnet: 725 Kulturdenkmäler, 183 Naturerbestätten
und weitere 28 Stätten, die zu beiden Kategorien zählen.
Ein Teil dieser Stätten ist aufgrund geografisch-historischer Gegebenheiten sogar grenzüberschreitend.
Die Bundesrepublik Deutschland ist mit insgesamt
36 Welterbestätten auf der UNESCO-Liste des Kulturund Welterbes vertreten. Zuletzt aufgenommen wurden
die Berliner Siedlungen der Moderne ({0}), das Wattenmeer ({1}), die „Oberharzer Wasserwirtschaft“ als Erweiterung der Welterbestätte Erzbergwerk
Rammelsberg und die Altstadt Goslar ({2}). In diesem
Sommer sind drei weitere Stätten hinzugekommen: das
„Fagus-Werk“ im niedersächsischen Alfeld ({3}), die „Alten Buchenwälder Deutschlands“ als serielle Erweiterung der
bereits 2007 in die Welterbeliste aufgenommenen Buchenurwälder der Karpaten und die „Prähistorischen
Pfahlbauten rund um die Alpen“ als grenzüberschreitendes Weltkulturerbe.
Die Verleihung des UNESCO-Welterbe-Titels ist nicht
nur eine große Chance, denn sie bedeutet internationale
Anerkennung - es ist zugleich die große Verpflichtung,
für den fortdauernden Schutz und den Erhalt des gemeinsamen Erbes der Menschheit Sorge zu tragen.
Daher unterstützt der Bund in großem Umfang die
deutschen Welterbestätten. So fördert der Beauftragte
der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM,
Welterbestätten institutionell: die Museumsinsel in Berlin, die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, die
Stiftung Weimarer Klassik etc.
Das Programm „National wertvolle Kulturdenkmäler“ gilt der Substanzerhaltung und Restaurierung geMonika Grütters
samtstaatlich bedeutender Baudenkmäler; beträchtliche
Mittel werden auch für denkmalpflegerische Maßnahmen im Bereich der UNESCO-Welterbestätten eingesetzt.
Im Rahmen der Programme „Städtebaulicher Denkmalschutz“ und „Städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen“ unterstützt der Bund die Welterbestätten seit Jahren finanziell - 2011 kommen weitere
Bundesfinanzhilfen in Höhe von 92 Millionen Euro zur
Förderung des städtebaulichen Denkmalschutzes dazu
({4}).
Besonders hervorzuheben ist das Programm zur Förderung von Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten: seit 2009 fördern wir die deutschen Welterbestätten durch zwei Sonderprogramme mit insgesamt
220 Millionen Euro in Umsetzung der Empfehlungen der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ({5}).
Die deutschen Welterbestätten verdienen es - mehr
noch als bisher geschehen -, in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt zu werden, um den
Erhalt des Welterbes für die künftigen Generationen zu
sichern und gleichzeitig ihr wirtschaftliches, baukulturelles und Stadtentwicklungspotenzial zu stärken. Hierauf hatte ja bereits der Abschlussbericht der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ hingewiesen.
Die UNESCO-Welterbestätten bergen ein vielfältiges
Potenzial, das wir schützen und stärken müssen. Wir
möchten mit unserem Antrag daher vor allem das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für diese Schätze
schärfen. So soll das touristische Potenzial der
UNESCO-Welterbestätten noch stärker ausgeschöpft
werden, zum Beispiel durch die Schaffung eines
„UNESCO-Welterbetickets“. Die Enquete-Kommission
empfiehlt den Ländern, den Bildungsauftrag der Welterbestätten durch engere Kooperation mit Schulen weiterzuentwickeln und den Welterbegedanken im Unterricht sowie in der außerschulischen kulturellen Bildung
zu verankern. Bedingung dafür ist aber natürlich, dass
die finanzielle Unterstützung von UNESCO-Welterbestätten auch in Zukunft ermöglicht wird.
Mit Sicherheit steht die Steigerung der wirtschaftlichen Profitabilität der deutschen Weltkulturerbestätten
nicht an erster Stelle unserer Überlegungen. Wichtig ist
die Anerkennung, dass kulturelle Güter und Dienstleistungen einen Doppelcharakter haben: den nämlich als
Wirtschaftsgüter einerseits und den als Ausdrucksform
der individuellen nationalen, regionalen oder auch lokalen Kultur andererseits. Art. 5 der Welterbekonvention
verpflichtet jeden Beitrittsstaat zu der Bemühung, seine
Welterbestätten im Rahmen der Gegebenheiten seines
Landes zu schützen, um „… zu gewährleisten, dass wirksame und tatkräftige Maßnahmen zum Schutz und zur
Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen Kultur- und Naturerbes getroffen werden …“. Es geht um nichts weniger als das Gesicht der Kulturnation Deutschland.
Diesem Schutzauftrag der Konvention entsprechend
stellen wir deshalb finanzielle Mittel für die Förderung
und Finanzierung der UNESCO-Welterbestätten bereit.
Ich bin dennoch überzeugt, dass wir vor allem zur Unterstützung des privaten Engagements zusätzlich auch
noch prüfen sollten, ob Welterbegebiete ähnlich wie Sanierungsgebiete nicht von einer höheren steuerlichen
Absetzbarkeit profitieren könnten ({6}).
In mehr als 70 Ihrer Wahlkreise befinden sich unsere
Welterbestätten - wenn das nicht geradezu eine Pflicht,
aber auch eine große Lust ist, mit Leidenschaft diese
kulturpolitische Trommel zu rühren!
Der vorliegende Antrag „UNESCO-Welterbestätten
in Deutschland stärken“ sendet ein klares Signal: Wir
bekennen uns zu unserem kulturellen Erbe und zu der
Verantwortung, die daraus entsteht. Unsere Kultur- und
Naturerbestätten für nachfolgende Generationen zu bewahren, ist eine Verpflichtung, die wir gerne eingehen.
Schaut man auf unsere heute bereits 36 UNESCO-Welterbestätten in Deutschland, so erkennt man, welche
Bandbreite an herausragenden Schätzen der Menschheit
wir besitzen: von Städten wie Bamberg, dem größten
zusammenhängenden Altstadtensemble Deutschlands,
über die Berliner Museumsinsel mit ihren einzigartigen
Meisterwerken aus 6 000 Jahren Menschheitsgeschichte
bis zum Wattenmeer als weltweit einmaligem Lebensraum für mehr als 10 000 Tier- und Pflanzenarten.
Aus diesem Reichtum entsteht eine große Verpflichtung. Nur ein Zusammenwirken aller Beteiligten aus
Bund, Ländern und Kommunen, von Kirchen, Stiftungen
und Privaten kann den Erhalt und Schutz dieser Stätten
gewährleisten. Den Ländern und Kommunen obliegt dabei die Hauptverantwortung. Sie haben den besonderen
Bedürfnissen der Welterbestätten bei ihren raumordnerischen und stadtentwicklungspolitischen Zielsetzungen
Rechnung zu tragen. Die Denkmalschutzgesetze der
Länder sollten daher vergleichbar hohe Standards gewährleisten.
Der Bund unterstützt bereits seit vielen Jahren in erheblichem Umfang die deutschen Welterbestätten. So
kamen etwa das Programm „National wertvolle Kulturdenkmäler“ des Beauftragten der Bundesregierung für
Kultur und Medien und die Städtebauförderung des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auch den UNESCO-Welterbestätten zugute. Vor allem aber ist es 2009 gelungen, bis 2013 150 Millionen
Euro zur Förderung von Investitionen in nationale
UNESCO-Welterbestätten bereitzustellen. Für die Jahre
2010 bis 2014 stehen weitere rund 70 Millionen Euro
zur Verfügung. Mit diesem Programm ist es gelungen,
die zuvor nur partielle Förderung einiger weniger Welterbestätten so zu erweitern, dass alle deutschen Welterbestätten nach denselben Kriterien davon profitieren
können. Noch nie ist in so kurzer Zeit so viel in den Erhalt unseres Kultur- und Naturerbes investiert worden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir sollten daher alles daransetzen, diese finanzielle
Unterstützung der UNESCO-Welterbestätten durch den
Bund über 2014 hinaus zu ermöglichen.
Die deutschen UNESCO-Welterbestätten und touristische Organisationen haben sich in dem Verein
UNESCO-Welterbestätten Deutschland zusammengeschlossen. Dessen Ziel ist es, die deutschen Welterbestätten bekannter zu machen, Denkmalschutz und Tourismus besser zu koordinieren und dadurch auch deren
wirtschaftliche Potenziale stärker als bisher auszuschöpfen. Ein wichtiger Schritt hierzu ist die Erstellung
von Managementplänen der einzelnen Welterbestätten,
die bisher nur für die ab dem Jahr 2000 aufgenommenen
Welterbestätten existieren. Auch sollten die Möglichkeiten der touristischen Erschließung besser genutzt
werden. Besonders hervorheben möchte ich die Idee eines UNESCO-Welterbetickets. Ein Sonderfahrschein
der Deutschen Bahn für Fahrten zu den verschiedenen
UNESCO-Welterbestätten würde die Entdeckung unseres Kultur- und Naturerbes zu einem ganz neuen Erlebnis für Besucher aus dem In- und Ausland werden lassen.
Von wachsender Bedeutung für die Träger der
UNESCO-Welterbestätten ist die Bildungs- und Forschungsarbeit. Sie bietet die Chance, durch fachgerechte und zeitgemäße Wissensvermittlung über die
jeweilige Welterbestätte den Einheimischen wie den Besuchern die Wertschätzung für diese besonderen Orte
nahezubringen und das öffentliche Bewusstsein für die
Bedeutung und die Bewahrung von Welterbestätten zu
fördern.
Ich will nicht verschweigen, dass der nun vorliegende
Antrag keine leichte Geburt war und einige Kompromisse beinhaltet. Ich bedaure es, dass mein Anliegen
nicht aufgenommen werden konnte, für Welterbegebiete
die gleiche steuerliche Absetzbarkeit von Investitionen
wie in städtebaulichen Sanierungsgebieten zumindest zu
prüfen. Da heute oft ganze Ensembles und nicht nur einzelne Gebäude zu Welterbestätten erklärt werden, sind
viele Privatleute Einschränkungen für Bau- und Sanierungsmaßnahmen unterworfen, ohne dass es sich um
Denkmäler handelt. Die Vergleichbarkeit von Welterbeschutzgebieten mit städtebaulichen Sanierungsgebieten
liegt daher nahe. Eine entsprechende steuerliche Absetzbarkeit zu prüfen, wäre ein wichtiges Signal zur Unterstützung des privaten Engagements für unsere Welterbegebiete. Denn es kann nur in unser aller Interesse sein,
dass Investitionen Privater zum Erhalt der Welterbestätten beitragen.
Der Schutz des UNESCO-Welterbes in Deutschland
entwickelt sich derzeit ausgesprochen positiv und verdient unsere weitere Unterstützung. Wir beglückwünschen die 2011 neu in die Liste aufgenommenen Welterbestätten Fagus-Werk in Alfeld, die in Deutschland
gelegenen prähistorischen Pfahlbauten rund um die Alpen sowie die Alten Buchenwälder Deutschlands. Auch
unterstützen wir die Neubewerbungen zur Aufnahme in
die Welterbeliste und die Kandidatur Deutschlands für
einen Sitz im Welterbekomitee. Ich freue mich zudem
über die positive Resonanz auf unsere Koalitionsinitiative zur Ratifizierung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe. Damit wird es fortan auch möglich sein, Bräuche, Handwerkstechniken, Volkslieder,
Märchen oder Minderheitensprachen, die unser kulturelles Erbe ebenso ausmachen wie die materiellen
Kulturleistungen, im Rahmen des immateriellen Kulturerbes der Menschheit zu bewahren. Auch zollen wir damit den Ländern in Afrika, Australien und Asien Respekt, die ihre Kulturleistungen von Generation zu
Generation überliefert und nicht in Stein gemeißelt haben.
Deutschland ist bekanntlich nicht reich an Bodenschätzen. Umso wichtiger ist es, dass wir unsere kulturellen Schätze und unser Naturerbe bewahren und fördern. Dazu bekennen wir uns ausdrücklich - nicht nur
mit Worten, sondern auch mit Taten.
Über die hohe Bedeutung des UNESCO-Übereinkommens für das Welterbe sind wir uns alle einig. International erfährt das UNESCO-Übereinkommen höchste
Anerkennung. Die UNESCO-Welterbestätten sind Zeugen der Geschichte, sie haben hohen Wert für die nationale und regionale Identität. Sie sind Tourismusmagneten und tragen in hohem Maße zur wirtschaftlichen
Entwicklung in den Kommunen und Regionen bei.
Meine Damen und Herren von Union und FDP, auch
in ihrem Antrag stellen Sie die Vorzüge der Welterbestätten in Deutschland heraus - und auch ihrer Förderung.
Dementsprechend fordern Sie, dass die Welterbestätten
auch in Zukunft finanziert werden sollen und die Bundesregierung die Welterbestätten nachhaltig fördern
soll. Man muss sich schon sehr wundern, dass Sie,
Union und FDP, gleichzeitig - sowohl in den Fachausschüssen als auch im Haushaltsausschuss - ablehnen,
das überaus erfolgreiche Investitionsprogramm zum
Weltkulturerbe nach 2014 fortzuführen. Das ist nicht nur
dreist, sondern doppelzüngig.
Auch Verkehrsminister Ramsauer betont ausdrücklich die Vorzüge des Investitionsprogramms in der Broschüre des Verkehrsministeriums - für die wirtschaftliche Entwicklung und die Stadtentwicklung, als
Erfolgsgeschichte. Das ist es auch. Nur ist das nicht das
Verdienst von Herrn Minister Ramsauer. Sein Vorgänger
Bundesminister Tiefensee hat es initiiert und eingesetzt,
es hat sich bewährt und es hat eine große Resonanz. Das
steht auch in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren
von Union und FDP. Aber wenn das so ist, nennen Sie einen Grund, warum Sie den vorliegenden Antrag einbringen, wenn Sie gleichzeitig dieses anerkannte, bewährte
und investiv ausgerichtete Programm, das im Ergebnis
Wertschöpfung schafft und das die kulturelle Identität
von Regionen stärkt, einstellen wollen. Das ist schlicht
unlogisch, oder Sie wollen die Wähler täuschen.
Wir sind stolz, dass Deutschland mittlerweile 36 Welterbestätten beheimatet. Der Aachener Dom mit seinem
karolingischen Erbe, die Berliner Museumsinsel mit ihren epochalen Kulturschätzen, das klassische Weimar,
das Welterbe in Trier sind Stätten mit weltgeschichtlicher Bedeutung, Zeugnisse der bewegten Geschichte
Zu Protokoll gegebene Reden
Ulla Schmidt ({0})
Deutschlands. Auch das wunderschöne Dresdner Elbtal
zählte zu diesen Welterbestätten. Ich finde es schon ein
wenig merkwürdig, dass in dem Antrag von Union und
FDP der Streit um die Aberkennung des Dresdner Welterbestatus oder die Debatten dazu aus der letzten Legislaturperiode mit keinem Wort Erwähnung finden. Ihr
Antrag ist auf dem Stand der letzten Legislaturperiode,
nahezu wortgleich. Da wollten wir schon einmal eine
gemeinsame Initiative starten, und da wollten Sie nicht
mitgehen, als es beispielsweise um ein Verfahren zur Lösung von Konflikten ging, wie sie sich beim Dresdner
Welterbe aufgetan haben. Wer die Vorzüge aufzählt, darf
die Probleme nicht weglassen. Auch eine mögliche Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens in Deutschland
findet mit keinem Wort Erwähnung. Ihr Antrag ist zum
großen Teil Makulatur und bleibt es, wenn Sie nicht für
die notwendige finanzielle Ausstattung sorgen.
Die SPD hat sich in den bisherigen Haushaltsberatungen entschieden dafür eingesetzt, das UNESCO-Investitionsprogramm auf dem bisherigen Niveau weiterzuführen. Das werden wir auch weiterhin tun, und wir fordern
Sie auf, endlich mit einer Stimme zu sprechen und nicht
bei der Finanzierung der Welterbestätten zu sparen.
Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen einen Text von der Webseite der Deutschen UNESCOKommission zitieren, der die Bedeutung der UNESCOWelterbestätten auf den Punkt bringt. Dort steht Folgendes geschrieben: „Was verbindet den Kölner Dom mit
den Pyramiden Ägyptens, den Mont Saint-Michel mit
dem Tadsch Mahal, oder die Inkastadt Machu Picchu in
Peru mit dem Ngorongoro-Krater in Tansania? Es sind
Zeugnisse vergangener Kulturen, künstlerische Meisterwerke und einzigartige Naturlandschaften, deren Untergang ein unersetzlicher Verlust für die gesamte Menschheit wäre. Sie zu schützen, liegt nicht allein in der
Verantwortung eines einzelnen Staates, sondern ist Aufgabe der Völkergemeinschaft.“
Deutschland allein kümmert sich derzeit um 36 von
weltweit über 900 UNESCO-geschützten Natur- und
Kulturstätten. Der Welterbetitel ist international bekannt, geachtet und als Gütesiegel ein Anziehungspunkt
für Menschen aus aller Welt. Dies ist für die christlichliberale Koalition zugleich Verpflichtung für den fortdauernden Schutz der Welterbestätten in Deutschland.
In angemessenem Rahmen bemühen wir uns auch, über
die Grenzen Deutschlands hinaus für die Welterbestätten Sorge zu tragen.
Mit unserem Antrag „UNESCO-Welterbestätten in
Deutschland stärken“ geht es uns darum, die Einzigartigkeit und Schönheit der Welterbestätten noch besser
herauszustellen, mehr Aufmerksamkeit auf sie zu lenken
und diese noch interessanter für ein breiteres Publikum
zu machen. Die Stärkung der nationalen Welterbestätten
ist für die christlich-liberale Koalition ein wichtiger
Pfeiler, um die touristische Attraktivität Deutschlands zu
sichern und weiter auszubauen. Deutschland ist das unangefochtene Urlaubsland Nummer eins der Deutschen,
und jedes Jahr steigt die Anzahl der Gäste aus dem Ausland, die die Vielfalt Deutschlands zu schätzen wissen.
Interessanterweise verzeichnen die Besucherzahlen aus
Indien und China laut der Deutschen Zentrale für Tourismus die größten Wachstumsschübe. Um diese erfreuliche Entwicklung positiv zu begleiten, sind Maßnahmen
zur Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung nötig.
Nur so kann der Tourismussektor auf seinem hohen Niveau gehalten werden. Hier weiß ich die Tourismuswirtschaft an unserer Seite; das wurde gerade erst auf dem
15. Tourismusgipfel, der letzte Woche in Berlin stattfand, deutlich. Sie arbeitet ständig daran, die an sie gestellten hohen Ansprüche auch zu erfüllen. Gerade die
vielen Kulturtouristen erwarten das. Deutschland sieht
sich zu Recht als Kulturnation. Dies kommt nicht nur in
dem reichen künstlerischen und literarischen Erbe, sondern durchaus auch in den Welterbestätten zum Ausdruck.
Bund, Länder und Gemeinden leisten schon heute einen großen Beitrag zum Schutz der Welterbestätten.
Trotz der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder für
die Bereiche der Kulturförderung und des Denkmalschutzes fördert auch der Bund die Welterbestätten, so
zum Beispiel durch den Haushalt des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien und des Bundesministeriums
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. So fördert der
BKM unter anderem die Berliner Museumsinsel, die
Klassik-Stiftung Weimar oder den grenzüberschreitenden Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau.
Wir sind durchaus zufrieden mit dem derzeitigen Stellenwert, den die 36 Natur- und Kulturstätten Deutschlands innehaben. Wir sind aber auch der Meinung, dass
man die Welterbestätten noch attraktiver für seine zukünftigen Besucher aus dem In- und Ausland gestalten
sollte. Dazu gehört neben einer verstärkten kulturtouristischen Anstrengung auch eine Ausweitung der Bildungsarbeit in den Welterbestätten. Darüber hinaus
sollte, so wie auch durch die UNESCO selbst gefordert,
die flächendeckende Erstellung von Managementplänen
für die Welterbestätten einer der nächsten Schritte sein,
um einen höheren Grad der nationalen und internationalen Vernetzung der Stätten zu erreichen. Ein Managementplan könnte auch hilfreich sein, um neue Finanzierungsquellen zu erschließen. Damit würde sich idealerweise ein neuer Spielraum bei der Gestaltung des Angebots rund um die UNESCO-Stätten auftun. Insbesondere
sollten die Synergien einer engeren Zusammenarbeit der
unterschiedlichen Handlungsebenen genutzt werden.
Wir wünschen uns von der Bundesregierung, das ihr
Mögliche zu tun, um das wirtschaftliche und kulturelle
Potenzial der Welterbestätten noch besser zu nutzen. Die
bessere Ausschöpfung des ohne Zweifel vorhandenen
touristischen Potenzials in Kombination mit stärkerer
Bildungs- und Forschungsarbeit sowie überzeugende
Managementpläne sollten es Deutschland ermöglichen,
die Welterbestätten für die Aufgaben der Zukunft wetterfest zu machen. Dies brächte im Ergebnis nicht nur das
Interesse und die Aufmerksamkeit neuer Besucherkreise,
sondern wäre auch im Interesse der kulturellen Vielfalt
Deutschlands. Auch volkswirtschaftlich ist dies sinnvoll,
insbesondere da in einigen Regionen in Deutschland der
Tourismus zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Welch großes Anliegen und welch schmalbrüstiger
Antrag, in dem alle wesentlichen Forderungen zur
UNESCO-Konvention fehlen. Worum es der Koalition
hier vor allem geht, ist die wirtschaftliche Auswertung
der Welterbestätten durch den Tourismus. Einem solchen Antrag können wir nicht zustimmen.
2006 schon hatte die Linke beantragt, dass Bundestag und Bundesregierung in Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen mit 30-jähriger Verspätung ({0})
Position beziehen müssten - ohne Erfolg. 2009 wurde
der Antrag der Grünen, ein Umsetzungsgesetz für das
UNESCO-Welterben, vorzulegen abgelehnt. Heute nun
haben wir uns mit einem Antrag von CDU/CSU und
FDP zu befassen, in dem noch immer die wesentliche
Forderung nach der Umsetzung der UNESCO-Welterbekonvention in deutsches Recht, also nach einem „Umsetzungs-“ oder „Ausführungsgesetz“, fehlt.
Als wäre die höchst bedauerliche Streichung des
Dresdner Elbtals von der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes 2009 nicht Grund genug, uns zu zeigen, dass
wir in Deutschland dringend ein solches Ausführungsgesetz benötigen.
Zwar hat der Denkmalschutz in fast allen Bundesländern Verfassungsrang. Es gibt aber keine konkreten landesgesetzlichen Regelungen zum Schutz des Welterbes,
geschweige denn ein Bundesgesetz. Innerstaatlich ist die
Welterbekonvention noch immer nicht durch ein Vertragsgesetz umgesetzt worden. In rechtlichen Konfliktfällen kann diese Konvention deshalb keine Wirkung
entfalten. Der Denkmalschutz ist dadurch deutlich geschwächt. Das muss dringend verändert werden.
In epischer Breite wird in dem vorliegenden Antrag
das finanzielle Engagement des Bundes bei den Welterbestätten geschildert. Kein Wort aber fällt zu der wirklich nötigen finanziellen Untersetzung. Das ist kein
Wunder, denn real will die Koalition die im Haushalt
2011 vollzogene Kürzung bei der Städtebauförderung
und damit auch bei den Denkmalschutzprogrammen
2012 fortsetzen. Notwendig wäre aber eine Erhöhung
der Städtebauförderung mindestens auf das Niveau von
2010. Und wo ist das deutliche Bekenntnis zur Fortsetzung des erfolgreichen Sonderförderungsprogramms
„Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten“
im bisherigen Rahmen? Auch hierzu kein klares Wort.
Dieser Antrag ist - fast vier Jahre nachdem der Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
mit umfangreichen Handlungsempfehlungen zu diesem
Thema mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedet
wurde - zutiefst enttäuschend. Denn an erster Stelle
stand schon damals die Forderung nach einem Ausführungsgesetz. Bei dieser Forderung sind wir als Linke,
wie auch die Grünen, strikt geblieben. Nicht so die anderen Parteien, die sich sehr wetterwendisch zeigten.
Ich erinnere daran, dass die FDP ihre Haltung zu
dieser gesetzlichen Regelung diametral verändert hat.
Noch 2009 erklärte sie öffentlich: „Die höchst bedauerliche Streichung des Dresdner Elbtals von der Liste des
UNESCO-Weltkulturerbes zeigt schwarz auf weiß, dass
wir in Deutschland dringend ein Ausführungsgesetz benötigen.“ Die geltenden rechtlichen Bedingungen genügten nicht mehr den Ansprüchen der Konvention.
Heute feiert sie nur noch den Beitrag, den die Welterbestätten zur Attraktivität des Tourismusstandortes
Deutschland leisten, und fordert vermehrte Anstrengungen, das wirtschaftliche Potenzial der Welterbestätten
stärker zu nutzen. Was für ein Sinneswandel!
Die SPD hat als damaliger Koalitionspartner laviert
und vermieden, eine klare Position zu beziehen. Ein Umsetzungsgesetz solle in der nächsten Wahlperiode geprüft werden. Wir sind gespannt, welche Haltung sie
heute hat.
Der entscheidende Grund für Ihren Antrag scheint
mir nicht die von Ihnen betonte „große Verpflichtung für
den fortdauernden Schutz und die Erhaltung des gemeinsamen Erbes der Menschheit“ zu sein, sondern hier
soll ganz ungeniert die wirtschaftliche Auswertung der
Welterbestätten befördert werden. So der Punkt zwei in
Ihrem Antrag - im Übrigen auch der weitaus konkreteste. Wir aber wollen das Kulturerbe nicht wirtschaftlichen Interessen untergeordnet sehen. Für uns steht der
Schutz der kulturellen Substanz klar im Vordergrund.
Das sollte sich auch in den Forderungen eines Antrages
zum Weltkulturerbe widerspiegeln. Die öffentliche
Hand, die Bundesregierung, muss endlich in angemessener Weise die Verantwortung übernehmen.
Ja: „Weltkulturerbestätten können nur erhalten, geschützt und entwickelt werden im Zusammenwirken mit
der Gesellschaft, die sie ererbt oder aus der sie kulturell
und materiell hervorgegangen ist“ - wie es in Ihrem Antrag heißt. Und es sind alle Beteiligten auf den verschiedenen Ebenen und mit verschiedenem Status im öffentlichen, privaten oder gemeinnützigen Sektor aufgerufen,
für den Erhalt des Welterbes zusammenzuarbeiten. Der
Bund aber hat in dieser Sache eine klare nationale Verantwortung, die er auch entsprechend wahrnehmen
muss: Er muss die entsprechenden rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen schaffen.
Im nächsten Jahr jährt sich zum 40. Mal die Verabschiedung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz
des Kultur- und Naturerbes der Welt. Die Bundesrepublik hat die Konvention vor 35 Jahren ratifiziert und ist
inzwischen mit 36 Stätten auf der Welterbeliste vertreten. Weitere Stätten stehen auf der Vorschlagsliste oder
sind auf dem Weg zur Bewerbung.
Wir müssen uns intensiv um die bestehenden Stätten
kümmern und sie im Rahmen unserer finanziellen und
gesetzgeberischen Möglichkeiten unterstützen. Und natürlich dürfen wir auch nicht nachlassen, weitere Bewerber zu ermutigen. Denn wir haben ein unvorstellbar
reiches Kulturerbe, das nicht nur uns gehört, sondern
auch den kommenden Generationen, allen Menschen
dieser Welt.
Wir begrüßen es, dass die Regierungskoalition sich
Gedanken darüber macht, wie wir das Welterbe weiter
Zu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
stärken und besser schützen können. Mit vielen Vorschlägen und Forderungen im Koalitionsantrag stimmen wir überein.
Tatsächlich müssen wir unsere Kräfte zum Schutz der
Stätten zusammenführen und koordinieren. Auch das
touristische Potenzial der Stätten sollte weiter erschlossen werden. Ebenso sollte die Bildungs- und Forschungsarbeit bei der institutionellen Förderung unterstützt werden, denn das ist ja ein wesentlicher Beitrag,
um die Stätten lebendig zu halten. Wichtig ist es auch,
auf Barrierearmut hinzuwirken, damit wirklich alle
Menschen Zugang haben. Und auch die Erstellung von
Managementplänen kann die Stätten organisatorisch
stärken.
Auch im Abschlussbericht der Enquete-Kommission
Kultur finden sich entsprechende Empfehlungen und es
ist gut, dass es hier einen tragfähigen Konsens zwischen
den Fraktionen gibt.
Doch bei aller Übereinstimmung sehen wir Grüne
zwei wichtige Punkte, die im Antrag fehlen bzw. zu kurz
kommen: Einmal werden keine Konsequenzen aus der
Aberkennung des Welterbestatus für Dresden gezogen.
Zum anderen werden die besonderen Probleme des Weltnaturerbes zu wenig berücksichtigt.
Die Aberkennung des Welterbestatus für Dresden, die
aus dem Bau der Waldschlößchenbrücke resultierte, war
ein Vorgang, der weltweit Aufsehen erregte. Das war ein
Fanal für die Stadt, für das Land Sachsen, für den Kulturstandort Bundesrepublik. Und es war nicht nur ein
„Politikum“, wie einige meinten, ein Einzelfall, aus dem
man keine allgemeinen Rückschlüsse ziehen müsste. Risiken für den Welterbestatus gab und gibt es auch anderswo: in Potsdam, in Köln, im Mittelrheintal.
Die Enquete-Kommission Kultur hat klare Empfehlungen zum Welterbe ausgesprochen, an erster Stelle die
Empfehlung an die Bundesregierung, in Abstimmung mit
den Ländern ein Vertragsgesetz zum Schutz des Welterbes auf den Weg zu bringen, um die Welterbe-Konvention mit einer innerstaatlich verpflichtenden Bindungswirkung auszustatten. Das haben seinerzeit alle
Fraktionen in der Enquete-Kommission unterstützt.
Ein Antrag unserer Grünen-Fraktion aus dem Jahr
2009, der nach Dresden mit dieser Empfehlung ernst
machen wollte, fand aber leider nur die Unterstützung
der damaligen Oppositionsfraktionen. Die Große Koalition lehnte ab, mit Begründungen, die nicht nur
für mich, sondern wohl auch für Kulturpolitikerinnen
und -politiker aus SPD und Union nicht ganz überzeugend sein dürften. Dass ein solches Umsetzungsgesetz
etwa Bürokratie schaffen würde, sehe ich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Bei Dresden wäre viel Bürokratie erspart worden, wenn das Welterbe einen klaren Schutzstatus hätte.
Dass man sich mit den Gründen für die Ablehnung eines Umsetzungsgesetzes seinerzeit nicht ganz sicher
war, zeigte sich auch daran, dass eine erneute Prüfung
eines solchen Gesetzes für die gegenwärtig laufende Legislaturperiode angekündigt worden war. Zu einer solchen - unvoreingenommenen - Prüfung möchte ich die
Koalition nun auffordern. Der Schutz des Welterbes ist
es wert.
Unser zweiter größerer Kritikpunkt am Antrag der
Koalition ist die unzureichende Berücksichtigung des
Weltnaturerbes. Mit dem Wattenmeer und jüngst auch
den Buchenwäldern haben wir bedeutende Naturerbestätten hinzugewonnen, die teilweise sogar grenzübergreifend sind. Darüber freuen wir uns. Auch wenn der
Naturschutz in die Zuständigkeit der Länder fällt, ist die
gesamtstaatliche und sogar internationale Relevanz dieser Stätten denkbar groß.
Wir sollten nun sehen, wie wir das Naturerbe angemessener in den Förderstrukturen berücksichtigen können. Wir begrüßen, dass das Wattenmeersekretariat
jüngst per Gesetz die Möglichkeit erhielt, selbst Fördermittel zu beantragen. Das ist gut für diesen Teil des Naturerbes, aber die Buchenwälder haben nichts davon.
Wichtig ist es, die Förderinstrumente besser auf die
relevanten Träger zuzuschneiden, ohne dabei jedem Träger per Gesetz einen passenden Rechtsstatus verpassen
zu müssen. Dazu sollte insbesondere das auf Kommunen
zugeschnittene Förderprogramm „Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten“ leichter für andere
Träger wie Nationalparkverwaltungen und grenzübergreifende Vorhaben zugänglich werden. Auch hier sehen
wir einen wichtigen Ergänzungsbedarf im Koalitionsantrag.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7357 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist dies
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Strategie gegen Lebensmittelverschwendung
entwickeln
- Drucksache 17/7458 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) -
Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen uns vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7458 an die in der Tagesordnung aufge-
1) Anlage 7
Vizepräsident Eduard Oswald
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie alle sind damit
einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie
sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften ({1})
- Drucksache 17/6263 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksachen 17/7469, 17/7524 Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Lothar Binding ({3})
Dr. Daniel Volk
Dr. Thomas Gambke
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7515 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({5})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({6})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben.1) - Sie sind damit einverstanden.
Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem
Präsidium vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sachen 17/7469 und 17/7524, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6263 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitions-
fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltun-
gen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? - Niemand. Enthaltungen? - Das sind die Fraktio-
nen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
1) Anlage 8
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mineralölhaltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Papier und Lebensmittelverpackungen verbieten
- Drucksache 17/7371 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Wir stimmen heute über einen Antrag der Linksfraktion ab, den wir - das wird Sie sicherlich nicht überraschen - ablehnen.
Wir lehnen diesen Antrag nicht ab, weil wir uns der
Problematik von durch Mineralölbestandteile verunreinigten Lebensmitteln nicht bewusst sind. Wir als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion wissen um die möglichen Folgen, welche durch aromatische Mineralölkohlenwasserstoffe in Lebensmitteln verursacht werden können. Die
Ablehnung des Antrags der Linksfraktion bedeutet im
Umkehrschluss jedoch nicht, dass wir den Plänen des
BMELV unkritisch gegenüberstehen.
Wir setzen bei der Lösung des Problems - anders als
die Linksfraktion - nicht auf Verbote und Vorschriften,
sondern wir sind der Überzeugung, dass nur eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Beteiligten zu einer
sinnvollen Lösung führen kann. Erzeuger von Lebensmitteln, die Papier- und Verpackungsindustrie, die
Druckindustrie und die Hersteller von Druckfarben sollen unserer Ansicht nach gemeinsam mit Parlament und
den beteiligten Ministerien auf Landes- und Bundesebene für eine praktikable und vor allem nachhaltige
Reduzierung von Mineralölbestandteilen in Packstoffen
sorgen, die für alle tragbar ist. Wir sind entgegen der
Meinung der Antragsteller der Ansicht, dass die beteiligten Unternehmen den Verbraucherschutz als hohes
Gut ansehen und an einer Reduzierung der Mineralölbestandteile ebenso interessiert sind wie wir alle hier in
diesem Hohen Haus.
Das eben Vorgestellte ist natürlich nur Zukunftsmusik, und wir müssen jetzt Wege finden, um das Risiko,
welches durch die Migration von Mineralöl in Lebensmitteln unbestritten entsteht, zu minimieren.
Ich gehöre der Generation an, die ihre Lebensmittel
noch lose gekauft und zu Hause in Blechdosen oder Ähnlichem aufbewahrt haben. Das ist heute sicherlich nicht
mehr modern, wäre aber eine kurzfristige Möglichkeit,
einer zu langen Aufbewahrung in eventuell gefährlichen
Materialien zuvorzukommen.
Einen ersten Schritt in die richtige Richtung hat die
Papierindustrie bereits getan, indem sie bei der Herstellung von Packstoffen für Lebensmittelverpackungen beCarola Stauche
wusst auf den definierten Eintrag von Zeitungsaltpapier
und auf mineralölbasierte Prozesshilfestoffe verzichtet.
Auch wird bereits - wie in dem Antrag gefordert, jedoch
freiwillig - mineralölfreie Druckfarbe durch die bearbeitende Industrie eingesetzt, um so eine weitere Belastung zu reduzieren.
Das BMELV hatte bereits im vergangenen Jahr viele
Gespräche mit Vertretern der Industrie geführt, in denen
deutlich wurde, dass technische Maßnahmen auf der
Verpackungsebene vordringlich sind, um das von uns
heute hier diskutierte Problem der Mineralölbelastung
von Lebensmitteln durch Verpackungen zu lösen. Möglich wären beispielsweise Innenverpackungen mit Barrierewirkung, wie sie bereits bei vielen Verpackungen am
deutschen Markt existieren. Dass viele dieser Innenverpackungen noch nicht den Schutz bieten, den wir uns
alle wünschen, wissen wir. Es wird bereits an Innenbeschichtungen für Recyclingpapier geforscht, die den
Übergang von Mineralöl auf Lebensmittel effektiv verhindern. Dies wird aktiv durch das BMELV unterstützt,
was wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich
befürworten.
Natürlich wäre es begrüßenswert, wenn die Zeitungsverleger mineralölfreie Zeitungsdruckfarben benutzen
würden. Dabei gibt es allerdings noch erhebliche Probleme. Angefangen bei der Umstellung der Druckverfahren bis hin zur Recyclefähigkeit des Papiers gibt es
viele Dinge zu beachten, die eine solche grundlegende
Veränderung mit sich bringt. Ein Verbot auszusprechen,
wäre sicherlich einfach, kommt aber unserem Ansatz,
eine gemeinsame Lösung mit allen Beteiligten herbeizuführen, nicht entgegen.
Was bei der Diskussion um die Mineralölminimierung in Lebensmitteln nicht vergessen werden darf, ist
der Anteil von Mineralölbestandteilen, der nicht durch
die Verpackung in die Lebensmittel gerät. Es wäre doch
möglich, dass es noch andere Quellen gibt als eine Verpackung, durch welche mineralölhaltige Bestandteile in
die Lebensmittel gelangen können. Diese gilt es zu untersuchen, und auch hier müssen Lösungsansätze erdacht werden, um dies zu verhindern.
Lassen Sie uns gemeinsam nach einer praktikablen
und nachhaltigen Lösung zur Reduzierung von Mineralölbestandteilen in Lebensmitteln suchen, die für alle Beteiligten tragbar ist.
Die Linke fordert in ihrem vorliegenden Antrag, dass
die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen soll,
in dem ein sofortiger Verzicht auf mineralölhaltige
Druckfarben festgelegt wird, eine Positivliste für unbedenkliche Druckfarben vorgibt und dafür sorgt, dass nur
Druckfarben verwandt werden dürfen, für die eine gesundheitliche Unbedenklichkeit vorliegt. Diese Forderungen sind alle richtig, genauso hatte der Verbraucherzentrale Bundesverband es übrigens auch in einer
Stellungnahme festgehalten.
Es ist auch richtig, dass in dem Entwurf zur 21. Verordnung zur Änderung der Bedarfsgegenständeverordnung der Bundesregierung nur ein teilweises Verbot von
Mineralölbestandteilen in Druckfarben und nur für Verpackungsaufdrucke vorgesehen ist. Recyclingpapier, das
ebenfalls für Lebensmittelkartons verwandt wird, wird
in dieser Verordnung nicht berücksichtigt, obwohl es als
Problem erkannt wird.
Auch ich finde es höchst bedenklich, dass Druckfarbenrückstände in Recyclingpapier oder -kartons für Lebensmittelverpackungen enthalten sind und gesundheitliche Schäden der Verbraucherinnen und Verbraucher
hervorrufen können. Es müssen aus unserer Sicht dringend Lösungen für eine Reduzierung der Übergänge von
Mineralöl aus Recyclingkartonverpackungen auf Lebensmittel gefunden werden. Dafür muss die Bundesregierung Regelungen treffen.
Untersuchungen in Schweizer Laboren und Warnungen des Bundesinstitutes für Risikobewertung haben
aufgezeigt, dass die schädlichen Stoffe für gesundheitliche Beeinträchtigungen insbesondere dann auftreten
können, wenn Lebensmittel wie zum Beispiel Reis oder
Nudeln lose in Kartons aus Recyclingpapier verpackt
sind. Die schädlichen Erdölreste gelangen vor allem
über die Verwendung von Zeitungen im Altpapiermix in
die Kartons. Druckfarben für Zeitungen bestehen bis zu
30 Prozent aus Mineralöl. Aus dem Lebensmittelkarton
verdampft dann der Stoff und schlägt sich auf den Nahrungsmitteln nieder.
Zur Zeit wird teilweise eine Minimierung der Schadstoffanreicherung durch Umverpackungen der Lebensmittel erreicht. Dies kann aber nur eine vorübergehende
Lösung sein. Denn erstens sollte aus Umweltschutzgründen noch mehr Verpackungsmüll vermieden werden.
Und zweitens gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse, dass selbst durch Plastik die Schadstoffe in die Lebensmittel übergehen können.
Wir brauchen also dauerhafte Lösungen und neue
technische Verfahren, um Verbraucherinnen und Verbraucher vor den Schadstoffen zu schützen. Durch
strenge Grenzwerte in einer Mineralölverordnung hat
das BMELV in einem Referentenentwurf vom Mai 2011
einen ersten Vorschlag zur Lösung des Problems vorgelegt. Darin wurde ein von der WHO festgelegter Grenzwert für gesättigte Kohlenwasserstoffe im Essen übernommen. Danach dürfte jeder im Schnitt nur 0,6 Milligramm pro Tag davon zu sich nehmen, die Untersuchungen in der Schweiz hatten aber 2010 bereits den vierzigfachen Wert in bestimmten Lebensmitteln festgestellt.
Der Vorschlag aus dem BMELV wird aber zur Zeit
noch diskutiert und, wie wir hören, könnte noch eine
Grenzwertänderung aufgrund von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgen. Auch soll dann der Verpackungsindustrie überlassen werden, wie sie die Einhaltung der Grenzwerte umsetzt. Das geht aus meiner Sicht
so nicht.
Wir wollen, dass innovative und neue Ansätze erforscht werden, mit denen auch weiterhin recyceltes Altpapier für Verpackungen zugelassen werden kann. Zum
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher muss das
BMELV klare Vorgaben für strenge Grenzwerte festleZu Protokoll gegebene Reden
gen und deren Einhaltung genau vorschreiben und kontrollieren. Selbst ein Verbot von allen mineralölhaltigen
Druckfarben für Zeitungen wäre nach meiner Meinung
durchaus angebracht.
Mineralölhaltige Druckfarben in Lebensmittelverpackungen sind in letzter Zeit ins Gerede gekommen, weil
in einigen Messungen erhöhte Übertritte von Mineralölrückständen in das Lebensmittel nachgewiesen wurden.
Wir als christlich-liberale Koalition nehmen diese Erkenntnisse sehr ernst. Denn wir wollen den Verbraucher
vor Gesundheitsgefahren schützen. Deshalb sind wir als
Koalition auch vorangegangen. Das Bundesministerium
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
hat inzwischen einen entsprechenden Verordnungsentwurf vorgelegt, der sich derzeit in der Anhörung befindet. Mit dieser Verordnung greifen wir das Problem auf
und wollen den Einsatz von mineralölhaltigen Druckfarben klarer regeln. Unser Ziel ist es dabei, zu erreichen,
dass durch Druckfarben keine Migration mehr in das
Lebensmittel erfolgen kann.
Ist also ein Verbot solcher mineralölhaltiger Druckfarben, wie es die Linke in ihrem Antrag fordert, notwendig und sinnvoll? Da bin ich sehr skeptisch und ich
möchte auch gerne ausführen, warum. Bisher ist noch
Vieles ungeklärt. Es muss erst einmal anhand wissenschaftlicher Daten geprüft werden, welche Höchstwerte
aus Gründen des Gesundheitsschutzes überhaupt erforderlich sind. Darüber hinaus müssen aus Gründen der
Rechtssicherheit validierte Analyseverfahren festgelegt
werden.
Ebenfalls unklar ist, woher denn die Einträge von Mineralölspuren überhaupt stammen. Quellen sind offenbar im Rahmen des Altpapierrecyclings in den Karton
gelangte Zeitungsdruckfarben sowie mineralölhaltige
Farben, mit denen die Kartonverpackung bedruckt
wurde. Darüber hinaus gibt es aber auch noch weitere
mögliche Quellen wie Transport-, Verarbeitungs- und
Lagerbedingungen von Lebensmittelrohmaterialien, die
nicht ausgeschlossen werden können. Auch der Übergang von Mineralölspuren von Umverpackungen in die
eigentliche Lebensmittelverpackung und darüber in das
Lebensmittel ist nicht auszuschließen.
Die Folgen eines grundsätzlichen Verbots von mineralölhaltigen Druckfarben bei wiederverwertbarem Papier wären jedoch für die Zeitungsherstellung erheblich.
Zeitungsverleger würden vor erhebliche Probleme gestellt, da sie zu einer Umstellung ihrer Drucktechnik gezwungen wären. Dabei trägt der Zeitungsverleger keine
Verantwortung dafür, dass sich Zeitungen als Recyclingprodukte in Lebensmittelverpackungen wiederfinden.
Man könnte sich zwar auf den Standpunkt stellen, dass
Zeitungen zukünftig separat recycelt werden müssen, um
einen Eintrag von Mineralölen in Lebensmittelverpackungen zu vermeiden. Dabei muss man aber aufpassen,
das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Denn eine
Trennung von Zeitungen und anderen Papierprodukten
bei der Altpapiererfassung stellte den gesamten Prozess
des in Deutschland vorbildlichen Papierrecyclings infrage.
Deshalb verfolgen wir als christlich-liberale Koalition ein Minimierungskonzept, um den Übergang von
Mineralölrückständen in Lebensmittel zu vermeiden.
Zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor
möglichen Gesundheitsgefahren werden Höchstmengen
für den Übergang von gesättigten und aromatischen
Kohlenwasserstoffen aus Lebensmittelbedarfsgegenständen, die unter Verwendung von Altpapierstoff hergestellt
sind, auf Lebensmittel festgelegt werden.
Es bleibt aber dabei, dass mehr Evaluation nötig ist,
auf welchem Wege diese Rückstände in die Lebensmittel
gelangen bzw. welche Grenzwerte zum Schutz der Verbraucher notwendig sind. Die Europäische Kommission
geht diesen Fragen derzeit ebenfalls nach. So führt die
Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA,
eine entsprechende Risikobewertung durch.
Die von ihnen geforderte Positivliste wird es im Übrigen geben. Einen entsprechenden Verordnungsentwurf
hat das BMELV auch bereits vorgelegt und diskutiert ihn
mit den beteiligten Akteuren. In die Positivliste sollen
nur solche Stoffe aufgenommen werden, für die eine Risikobewertung oder hierfür geeignete und ausreichende
toxikologische Daten verfügbar sind, sodass ihre Auswirkungen auf die Gesundheit vom BfR geprüft und auf
dieser Basis sichere Höchstmengen abgeleitet werden
können. Stoffe, zu denen keine für eine gesundheitliche
Bewertung ausreichenden Unterlagen vorhanden sind,
sollen zwar auch verwendet werden dürfen. Die Zulassung wird jedoch an die Maßgabe geknüpft, dass diese
Stoffe aus Druckfarben nicht auf Lebensmittel übergehen, das heißt, in Lebensmitteln nicht nachweisbar sind.
Als Nachweisgrenze ist ein Wert von jeweils 0,01 Milligramm pro Kilogramm Lebensmittel vorgesehen. Auf
Grund ihres besonderen Gefährdungspotenzials sollen
von der Verwendung allerdings CMR-Stoffe, also Stoffe
mit krebserregenden, erbgutverändernden oder fortpflanzungsgefährdenden Eigenschaften ausgeschlossen
werden. Damit verbunden wird auch sein, dass keine
Druckfarben mit mineralölhaltigen Bestandteilen bei
der Bedruckung von Lebensmittelverpackungen verwendet werden dürfen.
Die Verpackungsindustrie selbst ist unterdessen nicht
untätig geblieben und hat auf das Problem bereits reagiert. Die Wirtschaftsverbände Papierverarbeitung ({0})
und die angeschlossenen Mitgliedsverbände haben beispielsweise eine Selbstverpflichtung erarbeitet, beim
Bedrucken von Verpackungen aus Papier, Karton und
Pappe nur noch mineralölfreie Druckfarben einzusetzen, die auf dem Markt verfügbar sind. Das ist ein ausgezeichneter Ansatz.
Aus meiner Sicht lässt sich das Problem vor allem
durch technische Maßnahmen auf der Verpackungsebene selbst lösen. Beispielsweise können auch durch
die Verwendung von Innenverpackungen mit Barrierewirkung Mineralölübergänge minimiert werden. Ein
Müsli kann zum Beispiel in einen Innenbeutel verpackt
werden, so dass es mit der Umverpackung gar nicht
mehr in Berührung kommt. Diese bietet einen effizienten
Zu Protokoll gegebene Reden
Schutz, ohne dass wir den gesamten Zeitungsmarkt vor
Probleme stellen, die dieser gar nicht zu verantworten
hat.
Der Antrag der Linken schießt also weit über das Ziel
hinaus. Daher lehnen wir diesen ab.
Wir behandeln einen Antrag meiner Fraktion Die
Linke, der zum Ziel hat, mineralölhaltige Farben bei
Druckerzeugnissen zu verbieten. Der Grund: In kartonverpackten Lebensmitteln finden sich gesundheitsschädliche Bestandteile dieser Druckfarben wieder, und zwar
in Dosierungen, die die Grenze der Unbedenklichkeit
bei Müsli, Mehl oder Nudeln zum Teil um das Hundertfache überschreiten. Diese Stoffe lagern sich im menschlichen Organismus ein, in den inneren Organen und in
den Lymphknoten. Dies kann zumindest zu Vergiftungen
und Schädigungen dieser Organe führen und auch weitergehende gesundheitliche Beeinträchtigungen nach
sich ziehen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung,
BfR, kommt daher zu dem Schluss, „dass der Übergang
von Mineralölen auf Lebensmittel dringend minimiert
werden sollte“.
Das Problem entsteht nicht erst durch die Werbeaufdrucke auf den Verpackungen. Sie machen lediglich ein
Fünftel der Schadstoffbelastung aus. Die Hauptgefahr
steckt im Papier bzw. im Karton selbst. Die Kartonagen
bestehen zum größten Teil aus wiederverwendetem Altpapier, das mit Mineralölfarben bedruckt war. Die
gesundheitsschädlichen Farbbestandteile können beim
Recycling jedoch nur zu einem Teil herausgewaschen
werden. Es ist hervorzuheben: Ohne Recycling geht in
der Papierindustrie heute gar nichts mehr. Aus Gründen
des Umweltschutzes und der Wirtschaftlichkeit ist die
Wiederverwertung unverzichtbar. Der Anteil von Recyclingpapier und -karton beträgt im Lebensmittelbereich
bereits 70 Prozent und macht jährlich nahezu 3 Millionen Tonnen aus. Um den hohen Bedarf der Papierindustrie an Altmaterial auch unter wirtschaftlichen Aspekten
zu sichern, ist ein sofortiger Verzicht auf mineralölhaltige Druckfarben erforderlich, und zwar für alle
Druckerzeugnisse aus Papier und Karton.
Die von der Druckindustrie vorgeschlagene Trennung der Recyclingware zwischen Druckpapier und Verpackungen ist logistisch kaum machbar und wirtschaftlich unsinnig. Zudem werden auf dem Markt vielfältige
unbedenkliche und mineralölfreie Druckfarben angeboten. Nun muss ein rasches Verbot mineralölhaltiger
Druckfarben dafür sorgen, dass innerhalb der nächsten
Jahre die Schadstoffe aus dem Verwertungskreislauf verschwinden. Aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes wird es vorübergehend, bis zum Erreichen
der Unbedenklichkeit der Schadstoffwerte, nötig sein,
die Lebensmittel mit einer zusätzlichen Folienverpackung in der Kartonage abzuschirmen.
Die jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Einundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Bedarfsgegenständeverordnung - Druckfarbenverordnung - sieht
aber nur ein Verbot von mineralölhaltigen Druckfarben
für die Aufdrucke der Lebensmittelverpackungen vor.
Die weitaus größere Schadstoffquelle, das vormals bedruckte Recyclingpapier, findet darin keine Berücksichtigung. Die Belastung von Lebensmitteln durch gesundheitsschädliche Druckfarbenbestandteile wird damit
nicht verhindert.
Das Vorhaben der Bundesregierung ist daher für einen wirksamen gesundheitlichen Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher völlig ungeeignet.
Deshalb fordern wir, die Linke, mit unserem Antrag
die Bundesregierung auf, den Einsatz mineralölhaltiger
Druckfarben bei wiederverwendbaren Papier- und Kartonmaterialien umgehend zu verbieten. Wir brauchen
für die Firmen eine Positivliste unbedenklicher Druckfarben, die für Lebensmittelbedarfsgegenstände verwendet werden dürfen. Um eine geringstmögliche Freisetzung von Schadstoffen und den Schutz der Menschen vor
unnötigen gesundheitlichen Gefahren zu erreichen, sollen die Regelungen für Lebensmittelkontaktmaterialien
nach dem anerkannten ALARA-Prinzip, „As Low As
Reasonably Achievable“ - so niedrig wie vernünftigerweise zu erreichen, zugrunde gelegt werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Schützen Sie
die Gesundheit der Bevölkerung und nehmen Sie den
Verbraucherschutz ernst. Nur ein Verbot von mineralölhaltigen Druckfarben macht unsere Lebensmittel sicher.
Bereits 2009 hat das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, vor der Verunreinigung von Lebensmitteln
durch Verpackungen aus Recyclingpapier gewarnt,
Quelle für die Verunreinigung sind nach Studien des BfR
mineralölhaltige Druckfarben. Das Problem ist ernst.
Mineralöle enthalten gesundheitsschädliche Kohlenwasserstoffe, die sich im Körper anreichern und zu
Schäden an inneren Organen oder zu Krebs führen können. Solche Mineralölreste finden sich nun in unseren
Lebensmitteln. Durch Lebensmittelverpackungen aus
Recyclingpapier werden die darin verpackten Lebensmittel offensichtlich verunreinigt.
Eine Untersuchung der Stiftung Warentest vom
Herbst 2010 brachte hervor, dass von 31 Fertigkloßprodukten neun Ölverschmutzungen enthielten. Bei manchen Klößen reichte bereits eine Portion, um den in Ihrem Verordnungsentwurf vorgelegten Grenzwert von
0,6 Milligramm zu erreichen. Auch das Expert Committee on Food Additives, JECFA, der World Health Organization, WHO, hat einen Grenzwert für Mineral Oil
Saturated Hydrocarbons - kurz MOSH - von
0,6 Milligramm pro Kilogramm in Lebensmitteln beschlossen. Bei Studien in der Schweiz und in Deutschland sind Überschreitungen dieses Wertes um einen
Faktor 10 bis 100 gefunden worden.
Recyclingpapier ist ökonomisch und ökologisch notwendig, Verpackungen aus Frischfasern herzustellen,
wäre ökologisch kaum verantwortbar. Daher muss die
Bundesregierung umfassende Regelungen schaffen, die
den Verbraucher vor weiteren Schäden bewahren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das BMELV hat erst in diesem Sommer einen Verordnungsentwurf zum Bedarfsgegenständegesetz vorgelegt.
Wo bleibt hier der vorsorgliche Verbraucherschutz? Das
Problem ist seit langem bekannt. Entsprechende Schutzmaßnahmen sind bisher ausgeblieben. Dabei hält das
Bundesinstitut für Risikobewertung es für „dringend geboten“, die Diffusion von Mineralöl in Lebensmittel so
gering wie möglich zu halten.
Gefragt sind Lösungen, die auch ökologisch Sinn machen: Es liegt an den beteiligten Industriezweigen,
- Druckfarben, Zeitungsdruck, Erfassung von Altpapier,
Papierherstellung, Verpackungsmittelherstellung, Lebensmittelabfüllung -, gemeinsam ökologisch vertretbare Lösungen zu finden, welche den strengen rechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Konsumenten
gerecht werden. Der Gesundheitsschutz muss aber
höchste Priorität haben. Wenn die Grenzwerte akut nicht
ohne Innenbeutel einzuhalten sind, ist das vorübergehend hinzunehmen.
Letztlich hilft allerdings nur eines: mineralölhaltige
Druckfarben durch gesundheitlich unbedenkliche zu ersetzen. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen.
Die Druckindustrie muss sich bewegen.
Die Industrie scheint nicht in der Lage zu sein, die
Verunreinigung von Lebensmitteln mit Mineralölen einzudämmen. Nicht zuletzt der Umgang mit ITX-Druckfarben aus dem Jahr 2006 hat gezeigt, dass die Industrie
sich mit freiwilligen Vorgaben schwertut. Hier muss die
Bundesregierung Vorgaben für die Druckindustrie machen. Freiwilligkeit hilft hier nicht weiter.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7371 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind alle damit
einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes
- Drucksache 17/6207 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0})
- Drucksache 17/7424 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Florian Bernschneider
Till Seiler
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der
Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Auf unserer Tagesordnung steht heute der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes.
Bevor ich genauer ausführe, welche Änderungen im Einzelnen vorgesehen sind, möchte ich zunächst auf den eigentlichen Kern der Gräbergesetzes zur sprechen kommen.
„Der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in besonderer Weise zu gedenken und für zukünftige Generationen die Erinnerung daran wach zu halten, welche
schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben“ - so ist der genaue Wortlaut des § 1 Abs. 1 Gräbergesetz. Mit dem in diesem Gesetzestext festgelegten Ruherecht wollen wir insofern all jener gedenken, die
Opfer des nationalsozialistischen Regimes waren: Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen,
Kranken, aus politischen oder religiösen Motiven Verfolgten, Homosexuellen und all deren, die sich nicht den
genannten Gruppen zuordnen lassen. Gedenken wollen
wir außerdem der Opfer von rechtswidrigen Maßnahmen des kommunistischen Regimes oder den Vertriebenen gemäß § 1 des Bundesvertriebenengesetzes. Wir
wollen aber auch die Erinnerung an den Soldaten, der
bei seinem militärischen Dienst oder in Kriegsgefangenschaft verstarb, wachhalten.
Diese Gräber haben einen nicht messbaren Wert für
uns, und ihr Erhalt ist unverzichtbar. In absehbarer Zeit
wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die zukünftige Generationen daran erinnern, welche schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben. Das dauerhafte
Bestehen der Gräber kann dies.
Ich komme nun zu dem vorliegenden Dritten Gesetz
zur Änderung des Gräbergesetzes. Ziel ist erstens, die
Kosten der Ruherechtsentschädigung zu stabilisieren
und transparent zu gestalten, und zweitens das bisher
aufwendige Verwaltungshandeln zu vereinfachen. Mehr
Transparenz und Effizienz statt überflüssiger bürokratischer Regelungen.
Es ist seither so geregelt, dass die finanziellen Mittel
für eine Ruherechtsentschädigung - die dann gezahlt
wird, wenn durch den dauerhaften Bestand eines Grabes
im Sinne des Gräbergesetzes, Ruherecht, dem Eigentümer des betroffenen Grundstücks ein Vermögensnachteil
entsteht, § 3 Absatz 1 des Gräbergesetzes - den Ländern
vom Bund zur Verfügung gestellt wird. Die Bundesländer prüfen die von Friedhofsträgern geltend gemachten
Ansprüche und leisten sodann Zahlungen in Höhe des
jeweiligen Anspruchs.
Dieses bürokratische Verfahren lässt sich einfacher
gestalten: Mit der vorliegenden Gesetzesänderung ist
vorgesehen, dass der Bund den Ländern die Ruherechtsentschädigung in Form einer Pauschale zahlt. Diese
wird formal der bewährten Praxis bei der Zahlung von
Pauschalen zur Instandsetzung und Pflege der Gräber
angeglichen.
Die Umstellung auf eine Pauschale trägt dem Gebot
der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung Rechnung
und führt zu mehr Effizienz im Verwaltungshandeln. Die
Neuregelung ist außerdem bereits erprobt, da die ZahMarkus Grübel
lung der Instandsetzungs- und Pflegekosten nach § 10
Abs. 4 des Gräbergesetzes schon 2005 auf Pauschalen
umgestellt wurden. Insofern verfügen wir über einen Erfahrungswert.
Der Gesetzentwurf zur Änderung des Gräbergesetzes
steht in Einklang mit der Zielsetzung der Bundesregierung, Verwaltungsverfahren effizienter zu gestalten.
Profitieren können davon sowohl Bund als auch Länder.
Die geplante Novellierung trägt zudem dem Wunsch der
Länder Rechnung, dass mit ihr keine Änderung von bewilligten Ruherechtsentschädigungen einhergeht.
Ich bitte um Ihre Unterstützung für die geplante Änderung des Gräbergesetzes.
Das Dritte Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes
- Drucksache 17/6207 - dient dem Ziel, die Kosten der
Ruherechtsentschädigung stabil zu halten. Wir stimmen
dem Anliegen zu. Das gilt auch für einen neuen Art. 2 a.
Mit ihm wird klargestellt, dass in näher bezeichneten
Fällen zur Klarstellung die Dienststelle für die Benachrichtigung der Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, WASt, angerufen werden
kann.
Also: Zustimmung in der Sache. Trotzdem ist die Entstehung dieses Gesetzes nicht voll befriedigend verlaufen. Dazu diese Anmerkung und Ankündigung:
Im Zusammenhang mit den Beratungen im zuständigen Familienausschuss kamen auch eine Intervention
des Zentralrates der Sinti und Roma und eine Einzelpetition zur Sprache, mit denen Neuregelungen zum Erhalt
der Grabstätten von NS-verfolgten Sinti und Roma angestrebt werden. Leider blieb keine Zeit, die Problematik
gründlich zu vertiefen und Lösungen zu entwickeln. Das
bedauern wir. Vereinbart wurde aber, in einem Expertengespräch alle in diesem Zusammenhang aufgeworfenen
Fragen zu erörtern, die Positionen der Kommunen ebenfalls zu bedenken und so zu klären, ob der Ausschuss und
mit welchem Inhalt er einen Vorschlag formulieren
kann, der eine akzeptable Lösung garantiert. Die SPD
legt großen Wert darauf, dass diese Beratungen bald
stattfinden mit dem Ziel, das ehrende Gedenken an die
Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft dauerhaft zu sichern und die Erinnerung daran festzuhalten, welche
schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährte sich in diesem Jahr zum 65. Mal. Nicht zuletzt die nationale und
internationale Kriegsgräberfürsorge hat dafür gesorgt,
dass die Wunden dieser Zeit weitgehend verheilen konnten. Angst und Schrecken sind der Versöhnung über den
Gräbern gewichen. Dennoch sind Kriegsgräber sowohl
stumme Zeugen als auch mahnende Institutionen einer
lebendigen Erinnerungskultur.
Instandhaltung und Pflege dieser Gräber werden bereits seit langem über Pauschalen vom Bund an die Länder abgegolten. Da in der Regel die Kommunen als
Friedhofsträger für den Unterhalt der Gräber zuständig
sind, wird die Pauschale direkt an die kommunalen
Kämmerer weitergeleitet. Dieses Pauschverfahren hat
sich durch seine Einfachheit in der Verwaltungspraxis
gut bewährt. Allerdings ist die sogenannte Instandhaltungs- und Pflegepauschale nur ein Teil der mit den
Kriegsgräbern verbundenen Ausgaben des Bundes.
Per Gesetz steht den in den Kriegsgräbern bestatteten
Opfern das ewige Ruherecht zu. Die Friedhofsträger
sind daher verpflichtet, die Begräbnisstätten dauerhaft
zu erhalten. Dies kann in Gemeinden mit vielen Weltkriegsopfern zu einer erheblichen Flächeninanspruchnahme führen, was wiederum mit finanziellen Einbußen
für die Friedhofsträger verbunden ist. Daher erhalten
die Träger eine Ruherechtsentschädigung.
Bisher meldeten die Länder die Anzahl der jeweils
vorhandenen Kriegsgräber an den Bund und erhielten
für jedes Grab die entsprechende Entschädigung. Dieses
Verfahren war dem Umstand geschuldet, dass auch viele
Jahre nach Kriegsende immer noch Opfer der Weltkriege gefunden wurden und sich die Zahl der Kriegsgräber damit ständig erhöhte. Insbesondere mit der Wiedervereinigung stieg die Zahl der Kriegsgräber noch
einmal erheblich. Grund hierfür waren vor allem nichtdeklarierte Massengräber im Umfeld ehemaliger Konzentrationslager in den neuen Bundesländern.
In den letzten Jahren gab es jedoch kaum noch Funde
in nennenswertem Umfang, und damit hat sich auch die
Zahl der Kriegsgräber kaum mehr verändert. Von vereinzelten Funden abgesehen, ist nach derzeitigem
Kenntnisstand davon auszugehen, dass sich hieran über
65 Jahre nach Kriegsende kaum mehr etwas ändern
wird.
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes wird diesem Umstand Rechnung getragen. Die
Neuregelung sieht vor, dass die Ruherechtsentschädigung an die Länder zukünftig in Form von Pauschalen
geleistet wird. Das entspricht exakt dem Verfahren, das
bei der Festsetzung der Instandsetzungs- und Pflegepauschale für die Kriegsgräber bereits vorgesehen ist und
sich in der Praxis lange Jahre bewährt hat.
Die neue Regelung soll die Finanzierung der Ruherechtsentschädigung stabilisieren und sie haushaltsrechtlich besser planbar machen. Auch für den Fall,
dass die festgesetzte Pauschale in einzelnen Kommunen
nicht zur Deckung der Ansprüche auf Ruherechtsentschädigung ausreicht, ist in der Gesetzesnovelle vorgesorgt: Auf Antrag wird ein Zuschlag in Höhe von bis zu
10 Prozent der Pauschale gewährt, um eventuell nicht
abgedeckte Kosten aufzufangen. Damit kommt die Bundesregierung dem Wunsch der Länder nach, durch die
Reform keine finanziellen Einbußen hinnehmen zu müssen.
Die Anwendung von Pauschalen hat sich in vielen anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung bewährt
und an zahlreichen Stellen die umständliche Einzelfallbewilligung abgelöst. Für eine solche Verschlankung
und Vereinfachung bürokratischer Verfahren hat sich die
FDP seit jeher eingesetzt. Es ist daher auch ihr VerZu Protokoll gegebene Reden
dienst, dass die Finanzierung der Kriegsgräber nun auf
zeitgemäßen und soliden Füßen steht - damit die Versöhnung auch in Zukunft über würdigen Gräbern stattfinden kann.
Ziel der heute zu verabschiedenden Novelle ist in erster Linie eine Verwaltungsvereinfachung. Hiervon unberührt bleibt jedoch die Frage, bis zu welchem Stichtag
die Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft
unter den Geltungsbereich des Gräbergesetzes fallen
und damit das ewige Ruherecht zugesprochen bekommen können. An die Parlamente von Bund und Ländern
wurde vonseiten der Sinti und Roma verschiedentlich
der Wunsch herangetragen, den derzeitigen Stichtag
31. März 1952 im Zuge der Novelle zu verändern.
Sinti und Roma argumentieren, dass Angehörige ihrer Gemeinschaft zum Teil deutlich später als 1952 an
den Folgen ihrer erlittenen Misshandlungen gestorben
seien. Aus Sicht dieser Menschen ist die Frage, warum
ihren verstorbenen Angehörigen das ewige Ruherecht
verwehrt wird, also durchaus berechtigt. Es ist ein Gebot der Fairness für uns als Politiker, diese Frage ernst
zu nehmen und in der gebotenen Tiefe zu behandeln.
Dabei lassen sich jedoch schon heute einige Problemfelder identifizieren. So müsste eine Änderung des
Stichtages in gleicher Weise für alle anderen Opfergruppen gelten und wäre voraussichtlich mit einem deutlich
erhöhten Prüfaufwand verbunden. Und auch wenn wir
uns entschließen sollten, diesen Prüfaufwand in Kauf zu
nehmen, stünde einer Erweiterung des Ruherechts auf
nach dem 31. März 1952 verstorbene Opfer weiterhin
die Tatsache entgegen, dass die Gräber dieser Opfer von
den Familien der Angehörigen gepflegt werden. Nach
§ 9 Abs. 2 Gräbergesetz können privatgepflegte Gräber
jedoch nicht in die öffentliche Obhut übernommen werden.
Nichtsdestotrotz müssen diese Fragen diskutiert werden. Deswegen haben auch wir den Vorschlag gemacht,
im Kreise der Berichterstatter ein Expertengespräch
zum Gräbergesetz durchzuführen, um die skizzierten
Fragen und mögliche Lösungen zu erörtern. Wir können
nicht in einem „vorauseilenden Gesetzesgehorsam“ die
berechtigten Anliegen, Gefühle und Werte der Sinti und
Roma übergehen. Vielmehr sollten wir uns noch einmal
ergebnisoffen und in aller diesem sensiblen Thema angemessenen Breite damit auseinandersetzen.
Für die FDP schließt an diesen Themenkomplex zudem die Frage an, wie wir mit Opfern umgehen, die in
heutigen Einsätzen ums Leben kommen. Ich würde mich
freuen, wenn wir im Sinne einer lebendigen und aktuellen Ereignissen angemessenen Erinnerungskultur auch
diese Frage ausführlicher erörtern würden. Auch hierfür bietet das geplante Expertengespräch einen guten
Rahmen.
Bisher schützt der Staat mit diesem Gesetz die Gräber
aller Opfer aus Krieg und Gewaltherrschaft, unabhängig davon, ob sie als deutscher Soldat oder als Opfer des
deutschen Faschismus gestorben sind. Durch diese Gesetzesänderung wird dieser Schutz aus Kostengründen
heruntergeschraubt.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Bei Bauarbeiten auf
Ihrem Grundstück finden Sie menschliche Überreste.
Wenn Sie diese melden, kann es passieren, dass Sie einen
Teil ihres Grund und Bodens verlieren, da sie nach
§ 2 Abs. 2 GräbG dazu verpflichtet sind, „das Grab bestehen zu lassen, den Zugang zu ihm sowie Maßnahmen
und Einwirkungen zu seiner Erhaltung zu dulden“. Bisher erhalten sie dafür eine finanzielle Entschädigung.
Wenn heute dieser Gesetzentwurf beschlossen wird,
gibt es bei neu gefundenen Grabstellen keine Entschädigungszahlungen mehr. Das bedeutet, dass sich Grundstückseigentümer wohl zukünftig sehr genau überlegen
werden, ob sie einen Fund melden oder nicht. Und da
muss man sich dann fragen, wie das Ruherecht zukünftig
wirkungsvoll gewährleistet werden soll.
Zum Zweiten kritisiere ich, dass zukünftig für schon
bestehende Gräber den Ländern nur noch eine pauschalierte Kostenerstattung für die Grabpflege gewährt wird.
Konnten die Kommunen bisher die realen Kosten ersetzt
bekommen, so steht Ihnen zukünftig nur noch ein Betrag
von circa 20 Euro pro Jahr für ein Grab zur Verfügung;
Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums
für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vom
19. Mai 2011 Az.: IV1/6491.03-1/4. Somit versucht die
Bundesregierung, 65 Jahre nach Kriegsende die Finanzierung des Gräberschutzes und das Niveau der Gedenkkultur abzusenken.
Wir sind der Meinung, dass demokratische Politik in
Deutschland immer der bis heute einzigartigen Verbrechensgeschichte des deutschen Faschismus und der daraus erwachsenen historischen Verantwortung gerecht
werden muss. Dazu gehört auch der Erhalt und der Ausbau der Gedenkstätten und der Gedenkstättenarbeit.
Besonders wichtig ist aus meiner Sicht der Erhalt der
Opfergräber der Sinti und Roma. Seit 2009 fordert der
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Gräber der
verfolgten Sinti und Roma unter den Schutz des Gräbergesetzes zu stellen.
Bisher ist leider nichts geschehen. Bundeskanzlerin
Merkel und die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
nahmen sich auch nicht der Bitte des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma an, in dieser Frage zu vermitteln.
Im Januar 2011 sprach Zoni Weisz im Deutschen Bundestag zum Völkermord an den Sinti und Roma. Er bedauerte, dass dieser in den Medien, aber auch in der
Politik immer wieder vergessen wird. Bis heute ist es immer noch nicht gelungen, die Gedenkorte von den Sinti
und Roma für ihre verstorbenen Holocaust-Überlebenden zu erhalten. Viele Sinti und Roma haben nicht die finanziellen Mittel, diese wichtigen Gedenkorte für die
Nachwelt zu erhalten.
Die Begründung, warum Grabstätten von Sinti und
Roma nicht mithilfe des Gräbergesetzes erhalten werden
sollen, ist immer dieselbe: Wenn man eine bundesgesetzliche Regelung für die Erhaltung der Gräber von Sinti
und Roma treffen würde, so müsste man ja auch alle anderen Opfergruppen in einer solchen Regelung beachZu Protokoll gegebene Reden
ten. Das kostet Geld, und das will die Bundesregierung
nicht ausgeben. Da stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung wirklich die Gedenkkultur an die Opfer des
deutschen Faschismus aufrechterhalten möchte.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wünscht
sich den Erhalt von circa 2 000 Grabstätten als geschützte Gedenkorte. Diese sind für die Sinti und Roma
von großer Bedeutung, weil es für die meisten vom deutschen Faschismus ermordeten Angehörigen keine weiteren Grabstellen gibt.
Der Schutz dieser Gräber wäre ein wichtiges Zeichen
für die Demokratie. Ich möchte an dieser Stelle daran
erinnern, dass heutzutage Sinti und Roma in Rumänien,
Bulgarien, Ungarn und Tschechien wieder verfolgt werden. In diesen Ländern werden sie schikaniert und bedroht. Ihre Häuser werden angezündet, sie werden vertrieben und manchmal auch brutal ermordet. Und in
dieser Situation werden Sinti und Roma gruppenweise
vor allem nach Rumänien ausgewiesen. Besonders
Frankreich treibt diese Handhabung gerade voran. Angesichts dieser zunehmend gegen Sinti und Roma gerichteten Angriffe in Europa muss es uns ein Anliegen
sein, dass Grabstätten der Sinti und Roma geschützt
werden. Aus meiner Sicht hat gerade Deutschland eine
besondere Verpflichtung für soziale Gerechtigkeit und
Frieden. Und man sollte darüber nachdenken, ob wirklich alle im Gesetz genannten Gruppen geschützt werden
müssen. Denn wer Täter und Opfer gleichbehandelt,
verharmlost die Verbrechen.
Ich denke, wir alle sehen es als wichtige gesellschaft-
liche Aufgabe an, eine vielfältige Erinnerungskultur zu
pflegen und am Leben zu erhalten, die die Opfer von
Krieg und Gewaltherrschaft angemessen ehrt und nach-
folgenden Generationen das Ausmaß der Gewalt und
Verfolgung des letzten Jahrhunderts begreiflich macht.
Gerade in Zeiten, in denen es immer weniger Zeitzeugen
gibt, muss Erinnerung sichtbar und als Mahnung erhal-
ten bleiben. Hierfür setzen wir uns ein.
Die heute zur Abstimmung stehende Änderung des
Gräbergesetzes allerdings zielt nicht nur auf eine Ver-
waltungsvereinfachung, sondern auch auf eine Eindäm-
mung von Kosten. In der Gesetzesbegründung heißt es,
dass 65 Jahre nach Kriegsende nicht mehr mit einem
wesentlichen Anstieg der Zahl von Kriegsgräbern zu
rechnen sei. Dies scheint auf den ersten Blick plausibel,
doch haben wir, die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die
Grünen, hierzu noch offene Fragen.
Schwerwiegendere offene Fragen ergeben sich zu
weiteren Aspekten des Gräbergesetzes, die von der an-
stehenden Gesetzesänderung nicht berührt werden. Sehr
ernst nehmen wir die vorliegende Petition, die das An-
liegen der Sinti und Roma betrifft, für die im National-
sozialismus verfolgten Sinti und Roma ein ewiges Ruhe-
recht zu erwirken. Der Völkermord an den Sinti und
Roma muss in der Erinnerungskultur eine angemessene
Rolle spielen. Hierzu gehört, dass ihre Gräber erhalten
bleiben.
Angesichts dieser und anderer zu klärender Fragen
begrüßen wir es, dass wir uns fraktionsübergreifend ver-
ständigen konnten, mithilfe von Experten zu klären, ob
es weitergehenden Bedarf gibt, das Gräbergesetz zu än-
dern. Auf dieser Grundlage stimmen wir dem Dritten
Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes zu. Sollten bei
dem anstehenden Expertengespräch praktikable Lösun-
gen für die anstehenden Probleme gefunden werden, die
mit einer weiteren Änderung des Gräbergesetzes umge-
setzt werden können, so muss diese zeitnah auf den Weg
gebracht werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7424, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/6207 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? -
Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? - Das sind die
Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenstimmen? -
Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine wirksame und stichtagsunabhängige
gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz
- Drucksache 17/7463 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine neue Bleiberechtsregelung
- Drucksache 17/7459 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsident Eduard Oswald
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Das Thema Bleiberecht für langjährig in Deutschland lebende ausreisepflichtige Ausländer war in den
letzten Jahren sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene immer wieder Gegenstand von Anträgen, parlamentarischen Anfragen und kontrovers geführten Diskussionen, insbesondere auch jetzt wieder vor dem
Ablauf der verlängerten Regelungsfrist zum 31. Dezember 2011. Auch heute ist das Thema Bleiberecht wieder
Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag. Zugrunde liegen dieser Debatte zum einen ein Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Antrag der
Fraktion Die Linke.
Mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird die
Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes vorzulegen, der Menschen nach spätestens fünfjähriger Aufenthaltsdauer ein
dauerhaftes Bleiberecht gewährt, bei Familien mit Kindern nach drei Jahren und bei besonders schutzbedürftigen Personen auch früher. Weiterhin wird unter anderem
gefordert, dass das Kriterium der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts keine unüberwindbare Hürde
darstellen dürfe, ernsthafte Bemühungen müssten ausreichen. Zudem sollen vorhandene Deutschkenntnisse
nicht zur Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis
gemacht werden. Die Regelung in § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsgesetz, wonach begangene Straftaten eines in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienmitglieds die
Versagung der Aufenthaltserlaubnis für andere Familienmitglieder zur Folge hat, soll gestrichen werden.
Der Antrag der Fraktion Die Linke entspricht inhaltlich im Wesentlich dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Die Linke fordert mit ihrem Antrag die Bundesregierung ebenfalls auf, eine Bleiberechtsregelung zu schaffen, die Menschen nach spätestens fünfjähriger Aufenthaltsdauer ohne wesentliche zusätzliche Bedingungen
ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt, bei Familien mit
Kindern nach drei Jahren und bei besonders schutzbedürftigen Personen auch früher. Außerdem fordert sie
die Bundesregierung auf, gesetzliche Änderungsvorschläge vorzulegen, die bereits im Ansatz verhindern,
dass Kettenduldungen über Jahre hinweg entstehen, vor
allem in Fällen, in denen Abschiebungen aus rechtlichen
oder tatsächlichen Gründen ohnehin unmöglich sind,
und sich im Rahmen der Innenministerkonferenz für eine
sofortige Übergangsregelung einzusetzen, mit der zum
Jahreswechsel ein Rückfall von Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ in den Duldungsstatus
beziehungsweise deren Abschiebung verhindert wird.
Zusammenfassend enthalten beide Anträge eine deutliche Herabsenkung der Kriterien für ein dauerndes
Bleiberecht. Begründet werden die Forderungen beider
Anträge insbesondere damit, dass von den Beschlüssen
der IMK aus den Jahren 2006 und 2009 und der Altfallregelung des Jahres 2007 eine nur sehr geringe Zahl an
Menschen tatsächlich profitiert und eine Aufenthaltserlaubnis erlangt habe, da die dabei aufgestellten Anforderungen, insbesondere die Bedingung einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung, übermäßig restriktiv
seien. Hinsichtlich der Änderungen verweist die Fraktion Die Linke auf ihre eigenen Vorschläge zur Neugestaltung des § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz vom Mai
2010. Eine besondere nachvollziehbare Begründung für
die geforderte Fünfjahresfrist bieten der Entwurf und
seine Begründung allerdings auch diesmal nicht.
Es ist unbestritten - die Zahlen sind uns auch bekannt -,
dass wir eine große Anzahl von Menschen mit Duldungsstatus in Deutschland haben. Wir stimmen auch
darin überein, dass die aus der Bleiberechtsregelung in
bestimmten Fällen resultierenden Kettenduldungen für
die Betroffenen und auch für die Allgemeinheit einen
sehr unbefriedigenden Zustand darstellen. Dennoch verkennen beide Anträge die Systemwidrigkeit ihrer Forderungen und gehen meiner Meinung nach an der Realität
vorbei. Die bloßen Zahlen lassen für mich nicht automatisch den Rückschluss zu, dass die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes ungeeignet sind oder dass hier eine Regelungslücke besteht.
Ein geduldeter Aufenthalt ist zwar ein strafloser, aber
dennoch ein rechtswidriger Aufenthalt. Dieser Umstand
bleibt meiner Meinung nach in der Diskussion um ein
Bleiberecht allzu häufig unbeachtet. Alle Menschen mit
einer Duldung sind grundsätzlich ausreiseverpflichtet,
aber aus unterschiedlichen Gründen kommen sie dieser
Ausreiseverpflichtung nicht nach. Der Staat wiederum
ist häufig nicht in der Lage, diese Menschen mit Duldung abzuschieben, also Zwang anzuwenden - ebenso
aus unterschiedlichen Gründen. Dabei wird durch die
Antragsteller nicht berücksichtigt, dass in sehr vielen
Fällen die Ursache für die Kettenduldungen von den Betroffenen selbst herbeigeführt wird. Denn ein Hauptgrund ist oft, dass Unklarheit in Hinblick auf die Identität der Geduldeten besteht, dass die Papiere fehlen und
die Betroffenen oft nicht dabei mitwirken, das Problem
zu lösen, oder gar aktiv verhindern, dass ihre Identität
ermittelt wird.
Ich bin im Gegensatz zu Ihnen davon überzeugt, dass
dies in einer nicht geringen Anzahl durchaus bewusst
bzw. vorsätzlich geschieht, um eben nicht ausreisen zu
müssen. Sollen wir nun diejenigen, die ihre Mitwirkungspflichten, die ich im Übrigen für durchaus zumutbar halte, vorsätzlich verletzen und ihre Ausreise dadurch hintertreiben, nun auch noch belohnen? Ich
denke, es ist richtig, dass wir hier unterscheiden zwischen denen, die nicht ausreisen können, und denen, die
nicht ausreisen wollen, und Letzteren auch die Erteilung
der Aufenthaltserlaubnis versagen. Denn ansonsten ist
am Ende der Ehrliche der Dumme. Insofern sehe ich es
als sehr problematisch an, dass die beiden hier vorliegenden Anträge die Voraussetzungen für die Erteilung
eines Aufenthaltstitels an Geduldete im Vergleich zur
Altfallregelung des § 104 a Aufenthaltsgesetz in einem
nicht vertretbaren Umfang herabsetzen wollen.
Gleiches gilt für Ihre Forderung nach einer stichtagsunabhängigen Lösung: Übereinstimmend fordern die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Linke die Einführung einer dauerhaft stichtagsfreien, einer sogenannten rollierenden gesetzlichen Bleiberechtsregelung. Eine solche stichtagsunabhängige Regelung
lehnen wir ab, weil das in § 1 Aufenthaltsgesetz bestimmte Ziel, die Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen, nicht mehr erreicht würde und die Ausnahme
zur Regel würde. Die Aufenthaltslegalisierung Geduldeter muss auch in Zukunft die Ausnahme bleiben. Vorschriften, die ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund des
Zeitablaufs vorsehen, würden wieder diejenigen begünstigen, die ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sind. Dies hätte eine falsche Signalwirkung zur
Folge, nämlich die, dass jeder in Deutschland bleiben
kann, wenn er nur lange genug durchhält. Das wiederum müsste von vielen einreisewilligen Ausländerinnen und Ausländern geradezu als Aufforderung zur illegalen Einreise und zur Inanspruchnahme der hiesigen
Sozialsysteme aufgenommen werden. So einen Anreiz
wollen wir nicht schaffen. Damit würden im Übrigen
auch die Bemühungen zur Bekämpfung von Schlepperbanden konterkariert.
Abgelehnt wird von uns außerdem Ihre Forderung
nach einem Verzicht auf die Voraussetzung der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung. Ein Verzicht auf
diese Voraussetzung würde einen Pull-Effekt mit nicht
vorhersehbaren Konsequenzen für die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme entfalten und die kommunale
Ebene mit weiteren zusätzlichen Kosten belasten. Die
Lebensunterhaltssicherung der Betroffenen war und ist
Kern jeder Bleiberechtsregelung und muss es meiner
Meinung nach auch künftig bleiben. Der Erfolg am Arbeitsmarkt als wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Integration muss auch weiterhin entscheidender Maßstab für die Beantwortung der Frage sein,
wer dauerhaft in Deutschland bleiben darf, obwohl ein
legaler Anspruch nach den einschlägigen gesetzlichen
Bestimmungen nicht besteht. Es gibt kein Bleiberecht
durch Aussitzen.
Das bedeutet in der Konsequenz auch, den Aufenthalt
derjenigen beenden zu können und zu müssen, die keinerlei Bemühungen um ihre Integration nachgewiesen
haben. Diese Maxime ist im wohlverstandenen Interesse
gerade auch jener, die sich in Deutschland legal aufhalten bzw. sich ernsthaft um ihre Integration in Deutschland bemüht haben. Ansonsten ist nämlich, wie ich es
anfangs bereits sagte, der Ehrliche der Dumme. Solch
eine Ungerechtigkeit birgt meiner Meinung nach einen
gesellschaftlich nicht vertretbaren Zündstoff.
Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, vorhandene Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung für eine
Aufenthaltserlaubnis zu machen, lehne ich ebenfalls ab.
Wir alle haben in den letzten Jahren erfahren müssen,
dass eine Integration in Deutschland ohne hinreichende
Deutschkenntnisse nicht möglich ist. Es ist deshalb auch
nicht im Interesse der Betroffenen selbst, die Anforderungen an deren Sprachkenntnisse herabzusetzen. Ohnehin sind die jetzigen Anforderungen als Mindeststandard anzusehen.
In der Konsequenz führen der Forderungen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
zu einem quasi bedingungslosen Daueraufenthaltsrecht.
Die in diesen Fällen auf der Grundlage des geltenden
Rechts bestehende Ausreisepflicht der Betroffenen liefe
damit ins Leere. Die Frage, die sich mir dann immer
wieder aufdrängt, ist: Können wir uns eine solche Konsequenz als Gesetzgeber leisten und widerspricht dies
nicht auch dem Gerechtigkeitsgefühl der Allgemeinheit?
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich denke nein. Die
hier vorgelegten Forderungen stellen in meinen Augen
keine sachgerechte Lösung dar. Ich bin außerdem der
Auffassung, dass die von uns geschaffenen Regelungen
humanitären Standards genügen. Im Frühjahr haben wir
ein ganzes Gesetzespaket geschnürt, das eine Reihe von
Verbesserungen enthält. Das Bleiberecht für gut integrierte ausländische Jugendliche ist eine enorme Verbesserung und bedeutet eine realistische Perspektive für
viele junge Menschen mit Migrationshintergrund. Den
Ländern stehen ausreichende Möglichkeiten zur Verfügung, um auf das Auslaufen der nach dem IMK-Beschluss verlängerten Aufenthaltserlaubnisse reagieren
zu können, zum Beispiel § 25 Abs. 4 und Abs. 5 sowie
§ 23 a Aufenthaltsgesetz. Es sollte ihnen überlassen
werden, ob und wie sie von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen.
Wir sprechen heute über einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und einen der Fraktion Die Linke,
die beide ein uns allen altbekanntes Thema behandeln.
Im Kern geht es um den Umgang mit Menschen, die seit
Jahren mit uns in Deutschland leben, keinen gesicherten
Aufenthaltsstatus und keine gesicherte Lebensperspektive haben und die wir auf der anderen Seite jedoch auch
nicht haben abschieben können. Es geht also um den
Umgang mit langjährig sich bei uns aufhaltenden Geduldeten.
Immer wieder haben die Innenminister der Länder
mit verschiedenen Altfall- bzw. Bleiberechtsregelungen
versucht, Menschen, die lange Voraufenthaltszeiten in
Deutschland haben, unter bestimmten, genau definierten Bedingungen dann einen gesicherten Aufenthalt zu
ermöglichen. All diese Regelungen waren allerdings
Stichtagsregelungen, ebenso wie die im Jahr 2007 über
§ 104 a und b in das Aufenthaltsgesetz aufgenommene
Bleiberechtsregelung und die damit verbundene Aufenthaltserlaubnis auf Probe. Wie wir alle wissen, ist diese
Aufenthaltserlaubnis auf Probe auf der Innenministerkonferenz bis zum 31. Dezember 2011 verlängert worden.
Alle diese Maßnahmen haben im Ergebnis, obwohl
sie durchaus auch Wirkung gezeigt haben, das Problem
der Kettenduldungen nur zum Teil beheben können. Mit
jedem Jahr, das seither verstreicht, wächst wiederum die
Zahl der Menschen mit einer ungesicherten Aufenthaltsperspektive, deren Aufenthaltszeiten sich summieren.
Wir teilen die Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke, dass die bisherigen Bleiberechtsregelungen vor allem deshalb ihr Ziel nicht vollständig
Zu Protokoll gegebene Reden
erreichen konnten, weil zum einen die Anforderungen an
die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts zu
hoch waren und es sich eben durchweg um Stichtagsregelungen gehandelt hat.
Wir haben daher bereits im Dezember 2009 einen eigenen Gesetzentwurf für eine Altfall- bzw. Bleiberechtsregelung in den Bundestag eingebracht, die jedoch leider am 17. März 2011 abgelehnt worden ist. Darin
haben wir zur Vermeidung künftiger Kettenduldungen
eine gesetzliche Regelung vorgeschlagen, die auf einen
festen Stichtag verzichtet und die Anforderungen an die
Lebensunterhaltssicherung dahin gehend absenkt, dass
auch das ernsthafte Bemühen um Arbeit ausreicht.
Außerdem wollten wir eine Regelung für Minderjährige
schaffen. Diese sollten bei günstiger Integrationsprognose nach vier Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Menschen, die einen Schulabschluss in Deutschland gemacht haben, sollten mit einer eigenständigen
Regelung ebenfalls privilegiert werden. Schließlich
wollten wir für Altfälle mit einem Aufenthalt von einem
Jahrzehnt und mehr eine noch weitreichendere Ausnahme von den allgemeinen Voraussetzungen einführen.
Wir werden unseren eigenen Antrag in etwas überarbeiteter Form, aber mit den gleichen politischen Forderungen demnächst erneut in den Geschäftsgang einbringen. Unser Antrag und die Anträge von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke unterscheiden sich
vor allem in einem Punkt: der Dauer der Voraufenthaltszeiten. Die beiden heute zu beratenden Anträge wollen
ledigen Ausländerinnen und Ausländern mit einer Voraufenthaltszeit von fünf Jahren und Ausländerinnen und
Ausländern mit minderjährigen Kindern nach einer Voraufenthaltszeit von drei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. In unserem Antrag sehen wir dagegen Fristen von acht Jahren für alleinstehende Ausländerinnen
und Ausländer und sechs Jahre für Ausländerinnen und
Ausländer mit minderjährigen Kindern vor.
Ich persönliche habe große Sympathie für die kürzeren Fristen der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion; das will ich
hier gar nicht verheimlichen. Allerdings waren und sind
wir bemüht, unsere Vorstellungen mit den sozialdemokratischen Innenministern und Senatoren abzustimmen,
damit wir uns nicht spätestens im Bundesrat auch noch
mit deren Argumenten auseinandersetzen müssten, sodass die von uns vorgeschlagenen längeren Fristen
trotzdem noch einen sehr guten Kompromiss darstellen.
Daher werde ich meiner Fraktion empfehlen, sich bei
den beiden vorliegenden Anträgen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke der Stimme zu enthalten.
Die Innenministerkonferenz hat Ende 2009 die Bleiberechtsregelung um zwei Jahre verlängert. Die FDP
hat das nachdrücklich begrüßt.
Eine dauerhafte Regelung zu finden, die das Problem
der Kettenduldungen nachhaltig löst, ist nach wie vor
eine Herausforderung und gleicht der Quadratur des
Kreises.
Die Sachlage bleibt unverändert: Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung
nicht mehr vertretbar ist, muss dieser Tatsache durch
eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rechnung getragen werden. Die „Kettenduldungen“ müssen
einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden; wir brauchen für alle, insbesondere für die bisher „Geduldeten“,
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleiberechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren
Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu
steuern, dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den
Bürgerinnen und Bürgern findet.
Die vorliegenden Anträge thematisieren zum wiederholten Male zwar tapfer das erstgenannte Problem, zeigen aber keine Lösung für das zweite auf. Tatsächliche
Integration in Deutschland muss das zentrale Kriterium
sein. Der eigenständige Lebensunterhalt ist dabei, anders als es die vorliegenden Anträge sehen, sehr wohl
von entscheidender Bedeutung. Der Antrag der Linken
verneint die Notwendigkeit einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen. Es hilft niemandem
weiter, wenn die Fraktion Die Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche Zuwanderungssteuerung zu
verzichten. Vielmehr erweist die Linke damit den Bemühungen um Ausländerintegration einen Bärendienst.
Wer einem schrankenlosen Daueraufenthaltsrecht in
vermeintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet,
riskiert die steigende Ablehnung der Bevölkerung gegen
Zuwanderer.
Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist sehr wohl
ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Das
dient der Integration. Wer das, wie die Linken es tun, in
die Nähe von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus
rückt, verabschiedet sich aus dem Spektrum des demokratischen Diskurses.
Unter Demokraten muss es möglich sein, Sachfragen
zu diskutieren, ohne unter Rechtsextremismusverdacht
gestellt zu werden. Die Linken beleidigen mit dieser Diffamierung nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, die mit
Recht von jedem Zuwanderer erwarten, für seinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen, sondern auch alle Demokraten im Parlament, die dieses Bürgeranliegen hier
vertreten. Human ist nicht die Zementierung eines Bittstellerstatus für immer mehr Menschen in unserem
Land, wie die Linken es wollen, sondern die Eröffnung
von Lebenschancen, wie die Koalition aus CDU/CSU
und FDP es tut.
Zuwanderer sind zu fördern, sie sind aber selbst auch
klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demokratie und
Rechtsstaat, die Grund- und Menschenrechte sind das
für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft.
Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz
von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozialsysteme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und
die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie falZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
sche Erwartungen weckt und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. Auf einen fundierten Beitrag von
Linken oder auch Grünen zur Lösung der sehr realen Integrationsprobleme in Deutschland, der nicht nur auf
Wunschdenken und Ideologie beruht, warten wir nun
schon, seitdem es diese Parteien gibt. Durch die Wiederholung der immer gleichen Anträge wird leider kein
Problem gelöst.
Wir Liberalen wollen dagegen eine neue Kultur des
Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir geben Menschen Chancen. Darauf sind wir stolz.
Weiterhin gibt es 87 000 Menschen in der Bundesrepublik, deren Aufenthalt lediglich geduldet wird. 60 Prozent dieser Menschen leben bereits seit sechs und mehr
Jahren in Deutschland. Unter ihnen befinden sich annähernd 10 000 Roma aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, denen in ihren Herkunftsstaaten massive Ausgrenzung und Diskriminierung drohen. Tausende
kommen aus Syrien, dem Irak und weiteren Staaten, deren Regierungen ihren Bürgern keine Sicherheit geben
wollen oder können.
Neben der Lage in den Herkunftsländern ist für uns
ein anderer Punkt von entscheidender Bedeutung. Egal,
ob diese Menschen nun die deutsche Sprache beherrschen oder in den Arbeitsmarkt integriert sind, sie sind
faktisch verwurzelt; sie haben sich in Deutschland eingelebt. Das gilt in besonderem Maße für die Kinder und
jungen Heranwachsenden, die immerhin ein Drittel aller Geduldeten ausmachen. Im Sommer wurde eine Regelung für besonders gut integrierte Jugendliche geschaffen. Für ihre Eltern gilt aber weiterhin: Können sie
keinen eigenständigen Lebensunterhalt nachweisen,
bleiben sie in der Duldung und müssen mit Abschiebung
rechnen, wenn die Kinder volljährig sind. Dass viele Familien auf dieses vergiftete Geschenk verzichten, verwundert daher nicht.
Die im Sommer in Kraft getretene gesetzliche Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche war die
letzte in einer langen Reihe von Regelungen, mit denen
langjährig Geduldeten ein Aufenthaltstitel verschafft
werden sollte. Seit 2006 ist fast kein Jahr ohne neue
Bleiberechtsregelung ausgekommen. 2006 gab es einen
Beschluss der Innenminister, 2007 eine gesetzliche Regelung, 2009 folgte ein weiterer Beschluss der Innenminister. All diese Beschlüsse sind nur unter dem großen
Druck von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden entstanden. Sie haben - das wollen wir nicht bestreiten - vielen
Menschen auch einen sicheren Aufenthaltsstatus gebracht. Zugleich sind parallel zu diesen Altfallregelungen wieder neue Duldungen entstanden. Der Anteil der
langjährig Geduldeten an der Gesamtzahl aller Menschen mit einer Duldung stieg zwischenzeitlich sogar
auf 64 Prozent und liegt heute bei 59 Prozent. Das heißt,
dass für die Betroffenen von Kettenduldungen die Gefahr groß ist, über viele Jahre hinweg in diesem unsicheren Status gefangen zu bleiben.
Eine neue, gesetzliche Regelung zu beschließen, ist
von großer Dringlichkeit. Denn mit der gesetzlichen Altfallregelung von 2007 wurde die sogenannte Aufenthaltserlaubnis auf Probe eingeführt. Wer bis zu einem
Stichtag keinen eigenständigen Lebensunterhalt, aber
immerhin Bemühungen um eine Beschäftigung nachweisen konnte, erhielt diesen neuen Aufenthaltstitel. Kaum
einer schaffte es aber, in die reguläre Aufenthaltserlaubnis zu wechseln. Deshalb haben dann die Innenminister
der Länder und des Bundes 2009 entschieden, dass für
die über 30 000 Betroffenen auch eine Verlängerung um
zwei Jahre möglich sein soll. Diese zwei Jahre laufen
Ende des Jahres ab. Darum besteht dringender Handlungsbedarf, um ein erneutes Abgleiten dieser Personengruppe in die Duldung und letztlich sogar die Abschiebung zu verhindern.
Die Einführung einer sogenannten Probeaufenthaltserlaubnis und die Verlängerung dieses Aufenthaltstitels
werten wir als Eingeständnis der Unionsparteien und
der FDP, dass mit dem Festhalten am Erfordernis der
eigenständigen Lebensunterhaltssicherung eine befriedigende Lösung nicht erreicht werden kann. Die Betroffenen sind jahrelang bewusst vom Arbeitsmarkt ferngehalten worden. Die Beschäftigungsverhältnisse, die
ihnen offenstehen, sind meist nicht existenzsichernd.
Davon sind mittlerweile auch weit über 1 Million Bundesbürger betroffen, die ihren Verdienst mit Hartz-IVLeistungen aufstocken müssen, um von ihrer Arbeit leben zu können.
Die Lösung dieser Probleme - Entstehung neuer Kettenduldungen durch Stichtage und zu hohe Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung - kann nur in
einer einfachen und stichtagsungebundenen Bleiberechtsregelung bestehen. Dafür wollen wir ein gesetzliches Bleiberecht für all jene schaffen, die sich seit fünf
Jahren geduldet in einem Asylverfahren oder als Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland befinden. Für Familien, Kinder, Traumatisierte und weitere Härtefälle
sollen auch kürzere Fristen gelten. Bis zum Inkrafttreten
einer neuen gesetzlichen Regelung fordern wir Übergangsbestimmungen zur Verlängerung der geltenden
Aufenthaltstitel. Damit soll verhindert werden, dass
Menschen abgeschoben werden, die möglicherweise in
den Genuss der neuen Bleiberechtsregelung kommen
könnten.
Mit verschiedenen Altfall- und Bleiberechtsregelungen haben Bund und Länder in den vergangenen Jahren
versucht, zu bestimmten Zeitpunkten langjährig Geduldeten unter engen Voraussetzungen einen legalen Aufenthalt zu ermöglichen. Eine grundlegende Lösung fehlt
jedoch weiterhin.
Die Zahl der langjährig in Deutschland geduldeten
Personen ohne gesicherte Aufenthaltsperspektive ist
weiterhin hoch. Ende Juni 2011 lebten 87 000 Geduldete
in Deutschland, davon über 51 000 bereits länger als
sechs Jahre.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die 2007 über §§ 104 a, 104 b in das Aufenthaltsgesetz
aufgenommene - stichtagsgebundene - Bleiberechtsregelung und die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf
Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz durch
Beschluss der Innenministerkonferenz vom Dezember
2009 haben die weithin kritisierte Praxis der „Kettenduldungen“ nicht wirksam beenden können. Zudem wird
diese Regelung am 31. Dezember 2011 auslaufen.
Gründe für die Defizite der bisherigen Bleiberechtsregelungen sind die strikten Ausschlusskriterien, willkürlich festgesetzte Stichtage und überzogene Anforderungen, insbesondere an die eigenständige Sicherung
des Lebensunterhalts. Die bisherigen Regelungen berücksichtigen zudem humanitäre Härtefälle nicht ausreichend; denn gerade alte und kranke Menschen, die
auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, sowie kinderreiche Familien werden von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen.
Stichtagsregelungen führen immer wieder zu neuen
humanitären Härtefällen. Daher ist eine dauerhafte
gleitende Bleiberechtsregelung ohne festen Stichtag notwendig, die auch auf zukünftige Fälle Anwendung finden
kann.
Zwar trat zum 1. Juli 2011 mit dem neuen § 25 a Aufenthaltsgesetz eine stichtagsunabhängige Regelung in Kraft,
die gut integrierten Jugendlichen eine Bleiberechtschance
bieten soll. Die konkreten Bedingungen führen jedoch
dazu, dass erneut nur eine kleine Zahl davon profitieren
wird.
Mit dem Auslaufen der Bleiberechtsregelung Ende
2011 droht vielen in Deutschland lebenden Menschen,
die derzeit nur über eine Aufenthaltserlaubnis „auf
Probe“ verfügen, ein Ende ihres vorläufigen Bleiberechts. Ihnen droht der Rückfall in die Duldung.
Der vorliegende Antrag fordert daher die Bundesregierung auf, zeitnah eine stichtagsunabhängige sogenannte rollierende gesetzliche Bleiberechtsregelung zu
schaffen. Damit soll zum einen Ausländerinnen und Ausländern, die bisher lediglich eine Aufenthaltserlaubnis
auf Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes erhalten haben, eine gesicherte Perspektive eröffnet werden. Zum anderen gilt es, die Zahl der Kettenduldungen für Personen, die sich seit mehreren Jahren hier
aufhalten, deutlich zu reduzieren.
Insbesondere an der Bedingung einer eigenständigen
Lebensunterhaltssicherung scheitern bisher viele Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, daher
müssen die Kriterien gesenkt werden. Denn bisher gefordert wird nicht nur ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis,
sondern auch ein regelmäßiges Arbeitseinkommen in
Höhe des Arbeitslosengeldes II - zuzüglich zusätzlicher
Freibeträge. Während fast 1,4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland aufstockende
Hartz-IV-Leistungen erhalten - für Beschäftigte im Niedriglohnsektor ist das sogenannte Aufstocken ein Normalfall -, wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
von der vollständigen Lebensunterhaltssicherung abhängig gemacht. Dies sind überzogene und unrealistische Anforderungen; ernsthafte Bemühungen, den Lebensunterhalt überwiegend zu sichern, müssen
ausreichend sein.
Unter die gesetzliche Bleiberechtsregelung sollten
auch Menschen fallen, die nicht arbeiten können, etwa
weil sie alt, krank, traumatisiert oder behindert sind
oder weil sie Angehörige pflegen oder Kinder erziehen.
Bei besonders verletzlichen Personen, wie unbegleiteten Minderjährigen, Traumatisierten und Opfern von
rassistischen Übergriffen, sind zudem die Aufenthaltszeiten als Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis deutlich zu verkürzen. Bei Traumatisierten bestätigen alle Experten, dass ein gesichertes
Aufenthaltsrecht zwingende Voraussetzung für eine Genesung ist.
An die Erfüllung von Mitwirkungspflichten dürfen
keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwiegende
Verletzungen von Mitwirkungspflichten können zum
Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
führen. Insbesondere die Frage, ob eine Passlosigkeit
selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht eindeutig zu beantworten. Asylfolgeanträge sind in vielen Fällen aufgrund der politischen Entwicklungen im Herkunftsland
oder einer Änderung der Rechtsprechung sinnvoll und
gerechtfertigt. Das Ausschöpfen des Rechtsweges darf
im Rechtsstaat nicht negativ sanktioniert werden.
Im Hinblick auf Straftaten als Ausschlussgrund sollte
nicht die ganze Familie aufgrund einer Straftat durch
ein Familienmitglied von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen bleiben ({0}).
Vorhandene deutsche Sprachkenntnisse sollten nicht
zur Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemacht werden. Viele langjährig geduldete
Personen verfügen zumindest über Grundkenntnisse der
deutschen Sprache. Personen, die nach dieser Regelung
eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, sollte die Teilnahme
an den Integrationskursen ermöglicht werden.
Nur eine großzügige Bleiberechtsregelung, die auch
humanitären Grundsätzen genügt, ist auf Dauer geeignet, das Problem der Kettenduldungen zu lösen und den
betroffenen Menschen eine gesicherte Lebensperspektive zu eröffnen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7463 und 17/7459 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit einverstanden. Dann ist das auch so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Kathrin Vogler, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte
- Drucksache 17/7460 Vizepräsident Eduard Oswald
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor.
Die Gesundheitswirtschaft hat eine sehr große Bedeutung in unserem Land. Wir haben rund 4,6 Millionen
Beschäftigte im Gesundheitswesen. Der Bereich Gesundheit ist somit ein riesiger Wirtschaftsfaktor. Damit
dies so bleibt, dürfen wir uns Entwicklungen, egal in
welchem Bereich, nicht verschließen; wir brauchen
nicht nur Produkt- sondern auch Prozessinnovationen.
Zu Letzterem gehört auch die Informationstechnik. Sie
bietet für das Gesundheitswesen große Chancen und
gute Perspektiven für eine bessere Versorgung und bessere Abläufe. Es ist völlig klar, dass die moderne Informationstechnologie auch Eingang in das Gesundheitswesen erhalten muss. Ein wichtiger Teil davon ist die
elektronische Gesundheitskarte.
Der Start der elektronischen Gesundheitskarte erfolgte jedoch unter schwierigen Bedingungen. Mit den
vielen Funktionen wie dem elektronischen Rezept, dem
elektronischen Arztbrief und der Patientenakte war das
Projekt schlicht überfrachtet und daher nicht umsetzbar.
Das hat die christlich-liberale Koalition erkannt und ist
es deshalb neu angegangen.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, vor einer
weitergehenden Umsetzung der elektronischen Gesundheitskarte eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, bei der
Geschäftsmodell und Organisationsstruktur der Gematik sowie die bisherigen Erfahrungen in den Testregionen überprüft und bewertet werden. Diese Bestandsaufnahme wurde erfolgreich abgeschlossen. Folgende
Anwendungen sollen nun umgesetzt werden: der Notfalldatensatz, das moderne Versichertenstammdatenmanagement und die sichere Kommunikation der Leistungserbringer. Wir konzentrieren uns also zunächst auf
die Kernfunktionen der elektronischen Gesundheitskarte. Alle weiteren Funktionen werden zunächst zurückgestellt, bis praxistaugliche und sichere Lösungen
vorgelegt werden.
Die Linken fordern nun mit ihrem Antrag ein Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte. Dieser Antrag entspricht nahezu wortwörtlich einem Antrag der
Fraktion der FDP aus der letzten Wahlperiode. Soviel
FDP war noch nie bei den Linken. Das bedeutet ja ein
ganz neues Lebensgefühl. Herzlichen Glückwunsch dafür.
Allerdings hätten Sie Ihr Plagiat ruhig kennzeichnen
können. Aber von Fußnoten halten Sie wohl nicht viel.
Außerdem frage ich Sie, wo Sie die letzten drei Jahre seit
dem Antrag der FDP waren. Wie so häufig offensichtlich
nicht im Hier und Jetzt, sondern im ewigen Gestern. Mit
dem Projekt und den Fortschritten der elektronischen
Gesundheitskarte haben Sie sich jedenfalls nicht beschäftigt. Nur so ist es zu erklären, dass Sie den Antrag
eins zu eins übernommen haben, ohne auch nur mit einem einzigen Wort auf die Veränderungen des Projektes
einzugehen. Das Einzige, was Sie können, ist abschreiben. Das ist politisch nicht gerade anspruchsvoll.
Die christlich-liberale Koalition hat sich vorgenommen, eine Telematikinfrastruktur zu schaffen, um medizinische Daten im Bedarfsfall sicher und unproblematisch
austauschen zu können. Ich bin davon überzeugt, dass
die elektronische Gesundheitskarte dazu einen sinnvollen Beitrag leisten kann. Die rechtliche Grundlage für
die Karte wurde bereits im Jahr 2004 geschaffen, die
flächendeckende Einführung war ursprünglich für das
Jahr 2006 geplant. Weil Testergebnisse damals noch
viele Unzulänglichkeiten zeigten, wurde die Einführung
der Karte verschoben. Das war auch richtig so. Seitdem
sind jedoch weitere fünf Jahre vergangen und die damaligen Schwächen wurden behoben. Warum Sie in Ihrem
Antrag immer noch vor einer übereilten Einführung der
Karte warnen, ist mir daher völlig unverständlich. Der
Vorwurf ist absurd. Mir ist kaum ein anderes Projekt bekannt, das über so lange Zeit diskutiert wurde. Allerdings kommt man mit bloßem Diskutieren nicht weiter.
Erforderlich sind Taten. Deshalb bin ich froh, dass wir
in der christlich-liberalen Koalition die Weichen so gestellt haben, das das Projekt entscheidend vorankommt.
Die Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte ist
sinnvoll, denn sie bietet den Versicherten erhebliche
Vorteile. Ich will drei nennen:
Erstens trägt sie mit dem Lichtbild dazu bei, die missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen einzudämmen. Nach Schätzungen gehen bislang jedes Jahr
rund 800 Millionen Euro an Versichertengeldern durch
Betrug verloren. Jeder so gesparte Euro ist eine echte
Entlastung für die Beitragszahler.
Zweitens haben wir die Einführung des neuen Versichertenstammdatendienstes beschlossen. Dadurch werden bei jeder erstmaligen Inanspruchnahme von Leistungen im Quartal die Versichertenstammdaten bei den
Leistungserbringern online mit den Krankenkassen abgeglichen und gegebenenfalls aktualisiert. Auch dies
dient vor allem der Eindämmung des Missbrauchs, aber
auch der Kostenreduzierung; denn bei einer Änderung
der Daten bedarf es nun keiner Ausstellung einer neuen
Versichertenkarte mehr.
Drittens ist die Karte technisch so vorbereitet, dass in
weiteren Ausbaustufen auch medizinische Daten wie
zum Beispiel Notfalldaten sowie Hinweise auf Patientenverfügungen und Organspendeerklärungen gespeichert werden können. Ausdrücklich betonen möchte ich
dabei: Dies gilt nur bei dem ausdrücklichen Wunsch der
Versicherten. Die Versicherten können selbstverständlich in eigener Verantwortung darüber entscheiden, in
welchem Umfang Daten gespeichert oder gelöscht werden sollen und wem sie diese Daten zugänglich machen
wollen. Für die Versicherten gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Daran wird nicht gerüttelt.
Diese Vorteile überzeugen. Und deshalb ist es richtig,
dass die gesetzlichen Krankenkassen seit Oktober dieses
Jahres die elektronische Gesundheitskarte an ihre Versicherten ausgeben. Ermöglicht wurde auch dies durch
Maßnahmen der christlich-liberalen Koalition. Wir
haben bei den gesetzlichen Krankenkassen die nötigen
Anreize zur zügigen Einführung der elektronischen Gesundheitskarte gesetzt und damit den Ausgabeprozess
beschleunigt. Diese Anreize werden wir auch im Versorgungsstrukturgesetz weiterführen.
Im Rahmen des gesamten Prozesses der Einführung
der Gesundheitskarte mit ihren Anwendungen haben wir
alle geäußerten Anliegen und Sorgen ernst genommen,
und wir werden dies auch weiterhin tun; denn für uns
haben die Datensicherheit und die Selbstbestimmung
des Patienten über seine Daten die höchste Priorität.
Wir werden auch in Zukunft die Datensicherheit ganz
genau im Auge behalten. Eine enge Abstimmung mit
dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die
Informationsfreiheit sowie dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ist für uns selbstverständlich. Mit der Bestandsaufnahme haben wir uns bewusst die Zeit genommen, die Karte nochmals einer
gründlichen Überprüfung und Bewertung zu unterziehen. Wir haben die bisherigen Schritte sehr genau geprüft, und wir werden auch weiter prüfen, wann wir was
machen. Das betrifft auch den Datenschutz. Die Linke
fordert in ihrem Antrag, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte zurückzustellen, bis sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen der Datensicherheit
erfüllt sind. Dabei übersehen Sie jedoch eins: Durch die
Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und
der damit verbundenen Sicherheitsinfrastruktur werden
die Gesundheitsdaten ab sofort sicherer als bisher. Wir
haben mit der elektronischen Gesundheitskarte einen
höheren Sicherheitsstandard als bei der jetzigen Versichertenkarte. Das Datenschutzniveau wird also deutlich
angehoben. Darüber besteht in der Fachöffentlichkeit
Einigkeit. Dies haben auch die Sachverständigen in der
Anhörung in der letzten Wahlperiode bereits bestätigt.
Dieser Gewinn für die Versicherten würde durch ein
Moratorium zunichtegemacht. Das werden wir nicht
unterstützen.
Ich freue mich, dass wir nach Jahren des Stillstands
nun endlich erreicht haben, dass das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ entscheidende Schritte vorankommt. Deutschland ist ein modernes Land, ein Hightechland. Davor darf sich auch das Gesundheitswesen
nicht verschließen. Ich hoffe, dass wir die elektronische
Gesundheitskarte in ein paar Jahren als Selbstverständlichkeit begreifen, so wie wir heute Handys, SMS, Computer und E-Mails als Selbstverständlichkeit begreifen
und uns ein Leben ohne kaum noch vorstellen können.
Und die Linken? Sie denken, dass Sie die Entwicklung
der elektronischen Gesundheitskarte durch ein Moratorium verbessern können. Ich sage Ihnen: Das ist falsch.
Die Entwicklungen im technischen Bereich schreiten
sehr schnell voran. Für ein so anspruchsvolles Projekt
wie die elektronische Gesundheitskarte bedeutet dies,
dass es immer weiterentwickelt, verbessert und an neue
Anforderungen angepasst werden muss. Aus diesem
Grund kann man nicht, wie Sie es gerne hätten, zu einem
Zeitpunkt X alles festlegen, um erst dann den Startknopf
zu drücken. Die schrittweise Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, wie sie jetzt beschlossen wurde,
ist eine vernünftige, verantwortbare und die einzig richtige Lösung.
Die elektronische Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur sind wesentliche Voraussetzungen für eine
grundlegende Modernisierung des Gesundheitswesens
und bilden die Plattform für eine vernetzte Versorgung.
Dies erfolgt mit dem Ziel, die Qualität und Effizienz der
Patientenversorgung zu verbessern. Dieses Ziel wird die
christlich-liberale Koalition konsequent weiterverfolgen. Der Antrag der Linken widerspricht diesem Ziel
und deshalb werden wir ihn ablehnen.
Wir beraten heute den Antrag „Moratorium für die
elektronische Gesundheitskarte“ der Fraktion Die Linke.
Genau genommen ist es ein Antrag zur Verhinderung der
Einführung der elektronischen Gesundheitskarte. Die
Fraktion Die Linke will mit diesem Antrag ihre Kampagne gegen die elektronische Gesundheitskarte mit der
Folge der Verunsicherung der Bevölkerung in das Parlament tragen. Das ist zurückzuweisen. Ich will namens
meiner Fraktion auch sagen: Es ist unredlich und wider
besseres Wissen. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, es ist das Gegenteil von Politik, die sich
an den Bedürfnissen der Menschen in unserem Land
orientiert. Es ist das Gegenteil von konstruktiver Politik.
Ich bin überzeugt, dass es richtig ist, die elektronische Gesundheitskarte jetzt endlich einzuführen. Worum
geht es? Zunächst: Für die Patientinnen und Patienten
unterscheidet sich die neue Karte lediglich in zwei Dingen von der alten: Auf der Vorderseite ist ein Foto des
Versicherten. Die Rückseite ist so gestaltet, dass sich die
Besitzer damit auch im europäischen Ausland behandeln lassen können. Alles Weitere wie elektronische Rezepte, Speicherung von Allergiedaten oder gar eine elektronische Patientenakte ist reine Zukunftsmusik, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
Wenn in dem uns heute vorliegenden Antrag so getan
wird, als sei die neue Krankenversicherungskarte bürokratischer und datenschutzrechtlicher Irrsinn, will ich
auf einen Vergleich hinweisen: Die bisherige Krankenversichertenkarte ist eine reine Speicherkarte mit einem
Magnetstreifen. Ihre Informationen können zurzeit mit
einfachen Mitteln kopiert, gelöscht oder auch manipuliert werden, da sie keinerlei Schutzmechanismen bietet.
Dagegen sind die gespeicherten Daten der neuen Gesundheitskarte verschlüsselbar. Selbst der Datenschutzbeauftragte des Bundes ist von der Sicherheit der Karte
überzeugt, indem er erklärt hat, dass sie hundertprozentigem Schutz nahe kommt. Auch das Fraunhofer-Institut
FOKUS kommt zu derselben Erkenntnis. Sie von der
Linken sollten also aufhören, an dieser Stelle die Menschen zu verunsichern!
Wenn, frühestens 2015, medizinische Angaben auf
der Karte gespeichert werden können, werden diese
doppelt abgesichert sein. Der Patient verwendet eine
persönliche Identifikationsnummer, PIN, - wie bei der
EC-Karte -, und der behandelnde Arzt muss sich per
Heilberufsausweis identifizieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Lassen Sie mich einen Satz sagen zum Status quo: Wo
befinden sich aktuell die hochsensiblen Daten von Patientinnen und Patienten? Was geschieht mit Arztberichten? Und vor allem: Wie sieht eine Arzneimitteldokumentation aus?
Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Datensicherheit aktuell nicht eben hoch ist. Denn meist sind die
Daten handschriftlich auf Karteikarten festgehalten, die
sich in einem Schrank in der Praxis befinden.
Im übrigen, so meine ich, gerade in der Frage der
Dokumentation kann die neue elektronische Gesundheitskarte Gutes für die Bürgerinnen und Bürger leisten.
Künftig können die jeweils den Patienten behandelnden
Mediziner sehr einfach nachvollziehen, welche Medikation der Patient bereits bekommt, und können dann entscheiden, inwieweit sich diese mit weiteren Arzneimitteln für die akute Behandlung verträgt. Ebenso können
durch die Angaben auf der Karte bzw. auf dem zentralen
Server künftig Doppeluntersuchungen vermieden werden. Das spart nicht nur Kosten. Es ist vor allem auch
gut für die Patientinnen und Patienten.
Kosten werden im übrigen auch dadurch gespart,
dass der Kartenmissbrauch mit der neuen Karte erheblich eingeschränkt werden kann. Dieser Missbrauch
durch Nutzung abgelaufener oder fremder Versichertenkarten kostet jedes Jahr erhebliche Millionenbeträge
und geht letztlich zulasten der Patienten, die den Missbrauch durch ihre Beiträge bezahlen müssen.
Ich möchte an dieser Stelle auch einen Punkt ansprechen, der mir besonders wichtig ist. Ich meine den beabsichtigten Hinweis auf der Karte, wenn es eine Organspendebereitschaft des Karteninhabers gibt. Wir sind
uns doch alle einig, dass wir in dieser Frage in Deutschland Handlungsbedarf haben.
Abschließend will ich eines besonders deutlich machen: Alle personenbezogenen Daten, die auf der elektronischen Gesundheitskarte künftig gespeichert werden
können, die also über die Stammdaten hinausgehen, bedürfen bei der Erhebung immer der Einwilligung des
Karteninhabers. Alle Patienten entscheiden selbstständig und freiwillig, ob sensible Patientendaten gespeichert werden.
Wahr ist aber auch: Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte bietet die Möglichkeit, medizinische Versorgung in Zukunft für alle zu optimieren. Die
Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke sollten ihre Kampagne gegen die elektronische Gesundheitskarte beenden. Der Antrag ist purer Populismus.
Aber wir sind von den Linken nichts anderes gewöhnt.
Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte
ist die Möglichkeit, medizinische Versorgung in Zukunft
für alle zu optimieren. Sie dient der Missbrauchsbekämpfung, der Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung und der Wirtschaftlichkeit. Das ist gut
für alle Patientinnen und Patienten, denn deren Interessen müssen im Mittelpunkt stehen.
Bekanntermaßen macht es sich die Linke immer sehr
einfach: ein simpel gestricktes Weltbild mit eindeutig
bösen und eindeutig guten Akteuren. Es bedarf aber
schon ein wenig Dialektik, wenn eine Forderung der - in
ihren Augen - Bösen nun plötzlich einer guten Sache
dienlich sein soll. Aber genau das sehen wir auch hier:
In ihrem Antrag, der bis hin zur Überschrift ziemlich genau einem drei Jahre alten Antrag der FDP-Fraktion
entspricht und dem keine eigene Leistung zugrunde
liegt, kritisieren sie die Einführung der elektronischen
Gesundheitskarte, die die christlich-liberale Koalition
jetzt schrittweise einführt, nachdem die 2008 von uns
kritisierten Schwierigkeiten und Probleme beseitigt worden sind. Insgesamt ist der Antrag der Linken ein Plagiat, das zudem drei Jahre zu spät kommt und deshalb
inhaltlich völlig überholt ist.
Die elektronische Gesundheitskarte hat, was unbestritten ist, gegenüber der jetzigen Versichertenkarte
mehrere Vorteile: Der Austausch medizinischer Daten
erfolgt im Interesse der Patienten viel leichter und vor
allem sicherer als bisher. Damit das hohe Datenschutzniveau auch gewährleistet ist, werden der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik weiterhin bei der technischen Umsetzung mitwirken.
Aufgrund des besseren Datenaustausches wird die
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen erhöht, weil die
Ärzte zukünftig viel effektiver zusammenarbeiten können
und gerade die Betreuung von Patienten mit mehreren
Krankheiten besser erfolgen kann. Dabei haben - darauf legen wir allergrößten Wert - sowohl Datenschutz
als auch informationelle Selbstbestimmung der Patienten höchste Priorität. Der jetzige Datenaustausch zwischen den Ärzten per Fax oder E-Mail ist erheblich unsicherer - das verschweigt die Linke in ihrem Antrag.
Das auf der Gesundheitskarte abgedruckte Lichtbild
verhindert zukünftig den Leistungsmissbrauch zulasten
der Versichertengemeinschaft, der heute einen erheblichen Schaden anrichtet.
Die konkrete Kritik an der Gesundheitskarte, die die
Linken in ihrem Antrag - der ja, wie bereits erwähnt, bis
auf Kleinigkeiten dem Antrag der FDP-Fraktion von
2008 entspricht - üben, wurde bei der nun stattfindenden Umsetzung voll berücksichtigt.
Sie verlangen zum Beispiel - und dies auch aus unserer Sicht natürlich zu Recht -, die Zugriffssicherheit der
sensiblen Daten vor staatlichen Stellen, Industrieunternehmen und weiteren Dritten zu gewährleisten. Bei der
Gesundheitskarte haben wir genau deshalb sichergestellt, dass die Daten nur zum Zweck der medizinischen
Behandlung verwendet werden dürfen. Ein Zugriff Dritter ist ausgeschlossen; das hat im Übrigen der Bundesdatenschutzbeauftragte ausdrücklich bestätigt.
Weiterhin wird die Freiwilligkeit der Nutzung aller
über die Identifikation hinausgehenden Funktionen der
elektronischen Gesundheitskarte für Patienten und Leistungsanbieter gefordert. Genau dazu wurde doch gesetzZu Protokoll gegebene Reden
lich geregelt, dass jeder Versicherte selbst entscheiden
kann, ob seine Gesundheitsdaten gespeichert werden
oder nicht.
Auch die Minimierung des bürokratischen Aufwandes
liegt in unserem Interesse. Die Gesundheitskarte erhöht
neben einer besseren Patientenversorgung auch die
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen durch bessere
Kommunikation zwischen den behandelnden Ärzten. Die
elektronische Gesundheitskarte führt grundsätzlich
auch im Praxisbetrieb zu keinem wesentlichen Mehraufwand.
Die Forderung nach einer Prüfung durch unabhängige Sachverständige, ob alternative Speicherungsmöglichkeiten praktikabler und sinnvoller sind als eine Speicherung auf zentralen Servern ist doch längst erfolgt.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat die Tauglichkeit
der elektronischen Gesundheitskarte geprüft und bestätigt.
Die Regierungskoalition hat im Koalitionsvertrag
vereinbart, die elektronische Gesundheitskarte unter
bestimmten Bedingungen einzuführen. Ich zitiere:
„Deutschland braucht eine Telematikinfrastruktur, die
die technischen Voraussetzungen dafür schafft, dass medizinische Daten im Bedarfsfall sicher und unproblematisch ausgetauscht werden können. Die Arzt-Patientenbeziehung ist ein besonders sensibles Verhältnis und
daher ausdrücklich zu schützen. Datensicherheit und informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und
Patienten sowie der Versicherten haben für uns auch bei
Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte
höchste Priorität. Vor einer weitergehenden Umsetzung
werden wir eine Bestandsaufnahme vornehmen, bei der
Geschäftsmodell und Organisationsstrukturen der Gematik und ihr Zusammenwirken mit der Selbstverwaltung und dem Bundesministerium für Gesundheit sowie
die bisherigen Erfahrungen in den Testregionen überprüft und bewertet werden. Danach werden wir entscheiden, ob eine Weiterarbeit auf Grundlage der Strukturen möglich und sinnvoll ist.“
Dieser Zeitpunkt ist nun gekommen. Die Gesundheitskarte wird sukzessive eingeführt. Sie können sich
aber darauf verlassen, dass wir im weiteren Verfahren
sehr genau prüfen werden, ob die Punkte, die sich derzeit noch in der Vorbereitung befinden, auch unseren hohen Anforderungen an Qualität und Sicherheit genügen.
Noch vor zwei Jahren gebärdete sich die FDP als
strikte Gegnerin der sogenannten elektronischen Gesundheitskarte: Viel zu teuer, kein ausreichender Datenschutz, die Freiwilligkeit nicht gewährleistet - das waren nur einige Kritikpunkte im Antrag der FDP-Fraktion
von 2008, den die Linke mit dem vorliegenden Antrag
Wort für Wort übernommen hat. Wir wollen Ihnen damit
ein Angebot machen, dem Sie eigentlich nur zustimmen
können.
Ich weiß, Sie werden einwenden, dass Sie doch eine Bestandsaufnahme gemacht hätten. Aber es wurde keine Ihrer früheren Forderungen umgesetzt. So sind Ihre Kritikpunkte von damals auch heute hochaktuell. Dazu kommt
noch, dass die abgespeckte Variante, die jetzt kommt, erst
einmal nicht mehr kann als die alte Versichertenkarte: Sie
bekommt ein Foto und wird sechsmal teurer. 150 000 Arztpraxen müssen neue Lesegeräte anschaffen, 70 Millionen
Versicherte sollen Passfotos machen lassen, und wofür?
Nachdem die FDP das Gesundheitsministerium übernommen hatte, schöpften die Kritiker der E-Card Hoffnung, doch die Lobbyisten der IT-Industrie haben ihre
guten Drähte zum ehemaligen niedersächsischen Wirtschaftsminister Rösler erfolgreich genutzt. Nach einer
kurzen Schamfrist ging es bruchlos weiter, und zwar
ohne eine wirkliche Überprüfung der Risiken von zentral
gespeicherten Gesundheitsdaten und von dezentralen Alternativen. Unabhängige Expertinnen und Experten wurden nicht zu Rate gezogen. Nur die Betreiberfirma Gematik selbst durfte einen Winter lang über andere
Speichermöglichkeiten nachdenken, kam aber, wie zu erwarten war, zu keinem Ergebnis.
Das Gesundheitsministerium drückte nun mit mehreren Gesetzesänderungen, jeweils verschämt an andere
Gesetzesvorhaben angehängt, aufs Tempo, und neue
Funktionen der E-Card befinden sich in der Ausarbeitung. Dass die gesetzlich vorgeschriebenen Tests in verschiedenen Regionen mit zunächst 10 000 und später
100 000 Personen vielfach gar nicht stattfanden oder zu
desaströsen Ergebnissen führten und abgebrochen werden mussten, interessierte Sie dabei nicht.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, warum Sie Ihre eigenen Forderungen von 2008
und 2009 völlig aufgeben und es der Linken überlassen,
Sie daran zu erinnern?
Sie wollten ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis sicherstellen. Davon ist gar nichts übrig geblieben. Das
elektronische Rezept und andere Funktionen der neuen
Karte, mit denen Ausgaben gesenkt werden sollten, sind
auf Eis gelegt oder gestrichen worden. Aber später soll
die E-Card neue Einnahmequellen für die Krankenkassen erschließen: Über sogenannte Mehrwertdienste sollen Gesundheitsdaten an die Industrie verkauft werden.
Den Mehrwert davon haben nicht die Versicherten, sondern allein die Unternehmen; gleichzeitig riskieren Sie
den gläsernen Patienten. Das ist nicht akzeptabel.
Darum forderte die FDP in der letzten Legislaturperiode völlig zu Recht, dass weder Kostenträger noch
staatliche Stellen oder Industrieunternehmen Zugriff auf
sensible Gesundheitsdaten haben dürften. Das ist absolut notwendig, und darum hat die Linke auch diese Forderung wieder aufgegriffen.
Das Prinzip der Freiwilligkeit haben Sie vollends
aufgegeben: Rösler und Bahr zwingen die Kassen dazu,
den Versicherten die E-Card schnellstens aufs Auge zu
drücken. FDP und Union haben per Gesetz finanzielle
Sanktionen gegen Kassen verhängt, die es nicht schaffen, bis Ende dieses Jahres mindestens 10 Prozent ihrer
Versicherten mit der E-Card auszustatten. Zwar sind
bislang keine Zwangsmittel direkt gegen die Versicherten vorgesehen, aber die Techniker Krankenkasse ließ
schon verlauten, dass die Geduld mit Fotoverweigerern
Zu Protokoll gegebene Reden
und E-Card-Gegnern irgendwann erschöpft sei. So ist es
um die Freiwilligkeit schlecht bestellt.
Dann forderte die FDP damals, dass eine Prüfung
durch unabhängige Sachverständige erfolgen müsse.
Sehr richtig! Das fordern wir auch in unserem Antrag,
und deswegen hat Die Linke im Gesundheitsausschuss
eine eigene Anhörung zu der neuesten Gesetzesänderung, dass bis Ende nächsten Jahres 70 Prozent der Versicherten die E-Card haben sollen, beantragt. FDP,
Union und SPD haben dies mit vereinten Stimmen abgelehnt. Das ist undemokratisch und intransparent!
Die privaten Krankenversicherungsunternehmen sind
übrigens längst aus dem Projekt E-Card ausgestiegen.
Wieder einmal müssen allein die gesetzlich Versicherten
mit ihren Mitgliedsbeiträgen das Milliardengrab füllen.
Das ist das Stuttgart 21 der Gesundheitspolitik!
Abschließend möchte ich Daniel Bahr zitieren: „Wir
wollen nicht, dass ein Druck zur schnellen Umsetzung
dieses umfassenden Konzepts der elektronischen Gesundheitskarte entsteht, das immer noch viel Fragen und
Sorgen aufwirft. … Die Einführung muss so lange zurückgestellt werden, bis wirklich sichergestellt ist, dass
die Voraussetzungen der Datensicherheit erfüllt sind.
Das ist aus unserer Sicht noch nicht gegeben. Deswegen
darf hier nicht mit Druck an der Umsetzung gearbeitet
werden. Wir sollten uns vielmehr so viel Zeit für die Umsetzung lassen, bis alle offenen Fragen geklärt sind.“
Herr Minister Bahr, dem ist nichts hinzuzufügen.
ELENA ist wegen zu hoher Kosten und Datenschutzproblemen gestoppt worden. Die Linke fordert: Stoppen Sie
die E-Card, machen Sie den Stresstest, und klären Sie
endlich die offenen Fragen!
Linke und FDP eint, dass sie in der Opposition vollmundige Versprechungen machen, die bei einer Regierungsbeteiligung nicht eingehalten werden können. Der
FDP führt die Linke dies gerade vor. Sie hat den von
Ende 2008 stammenden, vom jetzigen Gesundheitsminister Daniel Bahr zu verantwortenden Antrag der FDP,
von dem diese heute nichts mehr wissen will, einfach abgekupfert. Bei der Linken wäre dies nicht anders - linke
Rhetorik und das Regierungshandeln in Bundesländern
liegen auch dort weit auseinander.
Die FDP bot damals eine Morgengabe für ihre Klientel in der Ärzteschaft. Das trifft sich nun mit einer fundamentalen Haltung: der Ablehnung der Linken in Bezug
auf die elektronische Gesundheitskarte.
An beide Adressen sei gesagt, dass es Aufgabe von
Politik ist - und aus meiner Sicht nicht nur in der Regierungsverantwortung, sondern auch in der Opposition -,
Forderungen anderer nicht ungeprüft aufzugreifen, um
sich beliebt zu machen, sondern eine eigene Haltung zu
entwickeln und zu begründen. Ein Blick ins Gesetz ist
dabei behilflich: Gerade beim Projekt der elektronischen Gesundheitskarte klafft ein großer Widerspruch
zwischen den vermeintlich offenen Punkten und den klaren, bereits von Anfang an im Gesetz zu findenden Regelungen. Es gibt kaum ein IT-Großprojekt, in dessen
Entwicklung der Bundesdatenschutzbeauftragte so eng
eingebunden ist wie in dieses und für dessen Einführung
dieser sich stark macht. Die von allen geforderte Freiwilligkeit der Teilnahme der Versicherten, zum Beispiel
an der für die Zukunft geplanten Patientenakte, ist bereits vor Jahren gesetzlich verankert worden.
Selbstverständlich muss immer wieder neu überprüft
werden, ob die elektronische Gesundheitskarte dem Datenschutz genügt, in der Anwendung praktikabel ist und
ob die Freiwilligkeit auch in der Praxis Bestand hat,
wenn es in Zukunft um den Ausbau der für die Versorgung relevanten freiwilligen Zusatzmodule geht. Es darf
darüber aber nicht vergessen werden, dass es gegen die
bestehende Versicherungskarte massive datenschutzrechtliche Bedenken gibt und im Moment immer mehr
Anwendungen, zum Beispiel internetbasierte elektronische Patientenakten entstehen, die datenschutzrechtlich
fragwürdiger sind als das, was als Anwendung im Kontext der e-Card geplant ist.
Ein zentrales Argument der Kritikerinnen und Kritiker der e-Card ist die Befürchtung, dass Gesundheitsdaten in großem Umfang abgelegt werden und es dann keinen Schutz gegen entsprechende Begehrlichkeiten etwa
von gesetzlichen Kassen oder privaten Versicherungen
gebe. Das technische Risiko, dass Verschlüsselungstechnologien veralten und durch neue, sicherere ersetzt werden müssen, haben wir im Blick, und wir setzen uns dafür ein, dieses Risiko so weit wie möglich zu minimieren.
Auch rechtlich besteht ein gewisses Restrisiko, da niemand von uns ausschließen kann, dass in Zukunft gänzlich andere demokratische Entscheidungen im Bundestag fallen. Ich setze jedoch darauf, dass sich die Grünen
auch in Zukunft für den Schutz persönlicher Daten stark
machen werden. Darüber, ob Daten aus der Patientenakte für die Kassen wirklich so attraktiv sind, wie die
Kritiker vermuten, sollte ein realistischer Diskurs geführt werden. Den gesetzlichen Krankenkassen liegen
bereits heute alle ambulanten und stationären Diagnosen sowie Informationen über die verordneten Arzneimittel vor - der gegenüber den gesetzlichen Krankenversicherungen gläserne Patient existiert bereits heute.
Private Versicherer haben beim Abschluss von Versicherungsverträgen im Versicherungsvertragsrecht geregelte Auskunftsrechte über in der Vergangenheit
liegende Erkrankungen und Behandlungen. Aus der Debatte um das Gendiagnostikgesetz weiß ich, dass hierbei
den rechtlichen Grenzen nicht immer Rechnung getragen wird. Es kommt immer wieder vor, dass Ärztinnen
und Ärzte nicht den Fragebogen der Versicherung ausfüllen, sondern die ganze Patientenakte kopieren und
weitergeben. Das sind klare Verstöße gegen den Datenschutz, die dazu führten, dass via Gendiagnostikgesetz
privaten Versicherern verboten wurde, „zufällig“
erlangte Informationen zu genetischen Erkrankungen zu
verwenden.
Es gibt einiges zu tun, um im Gesundheitswesen dem
Datenschutz und dem informationellen Selbstbestimmungsrecht der Versicherten Genüge zu tun. Erst auf
unsere grüne Intervention hin wird sich der Gesundheitsausschuss in der nächsten Sitzung mit datenschutzrechtlichen Aspekten des Versorgungsstrukturgesetzes
Zu Protokoll gegebene Reden
befassen. Zu klären ist etwa, ob die vorgeschlagene Änderung der §§ 303 a bis f SGB V, mit der ein sehr breiter
Personenkreis Zugang zu den im Risikostrukturausgleich genutzten Gesundheitsdaten von Versicherten bekommt, dem Datenschutz umfassend Rechnung trägt
oder ob hier nachgebessert werden muss.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7460 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind alle damit
einverstanden. Dann ist das somit auch beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs
- Drucksache 17/7196 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt.
Der Antrag ist bereits in der Darstellung des Sachverhalts falsch. Der Konsum illegaler Drogen ist weder
eine Alltagserscheinung, noch wird er es jemals sein.
Tatsächlich lag der Anteil der Personen mit Cannabisabhängigkeit unter den 18- bis 59-Jährigen bei
1,3 Prozent im Jahr 2009. 4,8 Prozent der Bevölkerung
zwischen 18 und 64 Jahren geben an, in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis konsumiert zu haben. Von
einer „Alltagserscheinung“ zu sprechen, ist bereits bar
jeder Realität.
Sie wollen angeblich eine progressive Drogenpolitik.
Der Vorschlag zur Legalisierung des Besitzes von Cannabis und zur Legalisierung des Anbaus, insbesondere
für Dritte, ist keine progressive Drogenpolitik, sondern
führt zu gesetzlich zugelassenen Drogendealern.
Eine sinnvolle Suchtpolitik stellt den Menschen in den
Mittelpunkt, mit seinen spezifischen, meist suchtstoffübergreifenden Problemen. Es geht um die Fragen der
Entstehung von Sucht, der meist ein komplexes Geflecht
aus Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, Störungen im emotionalen Gleichgewicht oder Misshandlung zugrunde liegt.
Wir stellen mit unserem Verständnis von Drogen und
Suchtpolitik deshalb Prävention, Therapie, Hilfe zum
Ausstieg und die Bekämpfung der Drogenkriminalität in
den Mittelpunkt. Unser christliches Menschenbild geht
vor allem vom freien, unabhängigen Menschen aus.
Denn wer abhängig ist, kann nicht frei über sein Leben
entscheiden. Genau deshalb stehen wir zuerst für Prävention und im zweiten Schritt für Hilfe zum Ausstieg.
Staatliche Strafverfolgung ist und bleibt notwendig, um
den Schutz der Gesundheit Dritter, aber vor allem auch
von Kindern und Jugendlichen zu sichern.
Der Bund fördert mit diesem Verständnis von Sucht
zahlreiche Initiativen und Projekte, die sich insbesondere an jugendliche Konsumenten wenden. Ich verweise
hier zum Beispiel auf das Internetangebot der BZgA
„drugcom.de“.
Wir wollen die Menschen mit riskantem Cannabiskonsum so früh wie möglich mit unterschiedlichsten Angeboten erreichen, um so den Ausstieg zu ermöglichen
oder zumindest den Konsum reduzieren. Das ist für mich
der richtige Weg.
Konkret zu Ihrem Antrag stelle ich fest:
Illegale Drogen wie Cannabis stellen nachgewiesenermaßen und entgegen Ihrer Darstellung für die Gesundheit der Menschen eine erhebliche Gefahr dar.
Während in anderen europäischen Staaten, allen voran
den Niederlanden, der Konsum von Cannabis, Haschisch, Marihuana, immer weiter eingeschränkt wird,
wollen Sie mit Ihrem Antrag „Cannabis-Clubs“ in
Deutschland künftig erlauben. Damit befinden Sie sich
auf einer drogenpolitischen Geisterfahrt!
Wir reden heute konkret von 600 000 Personen, die
Cannabismissbrauch betreiben oder von Cannabis abhängig sind. Es ist uns deshalb ein wichtiges Anliegen,
den Missbrauch von Cannabis zu verhindern; denn Cannabis ist eine berauschende Substanz, deren Konsum gesundheitsgefährdend ist.
Nicht zuletzt gehen wir sehr differenziert vor: Mit der
Fünfundzwanzigsten Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften haben wir neben anderen wichtigen Regelungen zur Verbesserung der betäubungsmittelrechtlichen Rahmenbedingungen auf dem
Gebiet der Palliativmedizin auch die betäubungsmittelrechtlichen Voraussetzungen für die Zulassungs- und
Verschreibungsfähigkeit cannabishaltiger Fertigarzneimittel geschaffen. Eine allgemeine Legalisierung des
Cannabiskonsums lehnen wir ab.
Die von mehr als 180 Staaten unterzeichneten Suchtstoffkonventionen der Vereinten Nationen verpflichten
die Bundesrepublik Deutschland überdies, die Verwendung von Cannabis und anderen Suchtstoffen auf ausschließlich medizinische oder wissenschaftliche Zwecke
zu beschränken sowie den Besitz, Kauf und Anbau für
den persönlichen Verbrauch mit Strafe zu bewehren.
Deshalb ist in Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten, die allesamt Vertragsstaaten der
Suchtstoffkonventionen sind, der Verkehr mit Cannabis
- dazu zählen insbesondere Anbau, Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe, Veräußerung, Erwerb und Besitz
von Pflanzen oder Pflanzenteilen - nach dem BtMG
grundsätzlich strafbar. Hiervon umfasst ist auch der
„Eigen-“ Anbau.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat bereits früh
in seiner bekannten „Cannabis-Entscheidung“ vom
9. März 1994 die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen
Cannabisverbote anerkannt. Mit seinen Beschlüssen
vom 29. Juni 2004 und 30. Juni 2005 hat das Bundesverfassungsgericht seine früheren Entscheidungen zur
Strafbarkeit in aller Deutlichkeit bestätigt und unsere
Haltung ausdrücklich gestärkt.
Das Gericht hat lediglich die Strafverfolgungsorgane
aufgefordert, von der Verfolgung der in § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes - einer damals noch sehr jungen
Vorschrift - bezeichneten Straftaten unter den dort genannten Voraussetzungen nach dem Übermaßverbot abzusehen bzw. die Strafverfahren einzustellen. Die Länder
wurden aufgefordert, für eine einheitliche Einstellungspraxis bei Strafverfahren wegen Cannabisbesitz, zum
Beispiel hinsichtlich der „geringen Menge“, zu sorgen.
Dieser Verpflichtung sind die Länder im Wesentlichen
nachgekommen. In der Regel fand eine Verurteilung wegen des Besitzes kleiner Mengen Cannabis - bis zu
6 Gramm - unter den übrigen Voraussetzungen nicht
statt.
Wenn Sie überdies die Gewerkschaft der Polizei zu
Kronzeugen Ihrer Forderung machen wollen, mit dem
Hinweis, dass man auch dort zu neuen Wegen in der
Drogenpolitik rät, ist dies vorsichtig ausgedrückt unredlich. Denn dort wird betont, dass es eben gerade nicht
um die Freigabe illegaler Drogen gehe, sondern um die
effektive Nutzung polizeilicher Ressourcen in der Polizeiarbeit.
Bezüglich des Anbaus, Handels und Besitzes von
Cannabis ist die Rechtslage unverändert. Dies ist auch
richtig! Denn die grundsätzliche Strafbarkeit beruht auf
der Gefahr der Weitergabe an Dritte und dem Ziel des
Gesundheitsschutzes des Einzelnen und der Bevölkerung. Auch neuere Studien haben Cannabis nicht als unbedenklich bewertet; vielmehr wird auf eine Reihe akuter und langfristiger Risiken des Cannabiskonsums
hingewiesen. Die Gefährlichkeit des Cannabiskonsums
wird in den letzten Jahren sogar eher höher eingeschätzt
als früher, zumal eine stetige Steigerung des THC-Gehalts bei Cannabisprodukten zu beobachten ist. Die Gesundheitsgefahren des Cannabismissbrauchs gerade bei
Jugendlichen und Heranwachsenden sind medizinisch
erwiesen. Ich bin auch dankbar, dass sich in jüngster
Zeit grundsätzlich ein Rückgang im Konsum und in der
Verbreitung von Cannabis zeigt. Dies zeigt doch vor allem, dass unsere zahlreichen Initiativen und Projekte
Wirkung zeigen. Dies gilt es fortzusetzen. Dafür stehen
dem Bund im Jahr 2012 rund 12,6 Millionen Euro und
insbesondere rund 7 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung.
Abschließend bleibt festzuhalten:
Mit dem Willen unserer Fraktion werden auch künftig
der Handel und die Verwendung von Cannabis zu
Rauschzwecken verboten bleiben. Durch die präventive
Wirkung der Strafdrohung soll die Verfügbarkeit und
Verbreitung der Substanz weiterhin eingeschränkt bleiben.
Wir werden kein „Modellprojekt“ unterstützen, das
die Grenzen zur Illegalität weit überschreitet. Insbesondere lehne ich alle Maßnahmen mit dem Potenzial zur
unmittelbaren und aktiven Förderung des Konsums von
Drogen ab. Ein „Cannabis-Club“ könnte von Jugendlichen als Aufmunterung zum Drogenkonsum verstanden
werden. Ebenso suggeriert ein solcher Club eine vermeintliche Sicherheit. Bei den Jugendlichen kann somit
der falsche Eindruck entstehen, dass es sich bei Cannabis um ein „unbedenkliches“ Produkt handelt.
Für eine wirksame Drogenprävention werden mit einem solchen Club kontraproduktive Botschaften transportiert. Angesichts der nachgewiesenen gesundheitlichen Folgen und Nebenwirkungen von Drogenkonsum
ist die Legalisierung von Cannabiskonsum und -besitz
der deutlich falsche Weg. Der effektivste Schutz vor illegalen Substanzen besteht vielmehr darin, den Konsum
dieser Substanzen konsequent zu unterlassen. Das erfordert unsere Anstrengungen in der Prävention und vor allem auch dahin gehend, die Lebensbedingungen für
junge Menschen in Deutschland so zu gestalten, dass
eine Flucht aus der Realität in die Sucht erst gar nicht
als Ausweg in Betracht gezogen wird. Genau in diesem
Bereich ist die christlich-liberale Koalition mit ihren
Anstrengungen zum Beispiel für Arbeitsplatzsicherheit
und daraus resultierend zum Beispiel einer der besten
Quoten für Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf dem
richtigen Weg.
Die Bundesregierung wird überdies in Kürze die Nationale Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik vorstellen.
Die Situation im Zusammenhang mit dem Cannabisgebrauch in Deutschland ist immer noch besorgniserregend. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht Cannabis nicht
als harmlose Droge an. Der Cannabiskonsum bei jungen Menschen ist zwar leicht rückläufig, doch immer
noch auf einem relativ hohen Niveau.
Der Wert für die jungen Erwachsenen im Alter von
18 bis 25 Jahren, die mindestens einmal im Leben Cannabis konsumiert haben, lag im Jahre 2010 immer noch
bei 35 Prozent. Das zeigt der aktuelle Drogen- und
Suchtbericht der Bundesregierung.
Junge Männer kommen auf Werte von 41 Prozent,
junge Frauen auf 28,8 Prozent. Und sogar 12- bis 15-Jährige haben bereits eine nennenswerte Konsumerfahrung.
Man sieht an den Zahlen, dass gerade junge Menschen
mit der sogenannten weichen Droge Cannabis Erfahrungen machen. Daher müssen wir hier ganz genau hinschauen.
Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag, sowohl
den strafrechtlich relevanten Wert für den Eigengebrauch stark zu erhöhen, als auch Cannabis-Clubs einzuführen. Wir sollten dies vor dem Hintergrund ihres
Parteitagsbeschlusses am vergangenen Wochenende,
sämtliche Drogen, sowohl weiche als auch harte, zu legalisieren, betrachten.
Wegen der hohen Suchtgefahr, die harte Drogen mit
sich bringen, halte ich es für gefährlich, die Verfügbarkeit dieser Drogen erleichtern zu wollen. Es steht für
mich außer Frage, dass eine Legalisierung eine deutliche Ausweitung der Zahl der Erstkonsumenten und daZu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
mit der Süchtigen zur Folge hätte. Auch diejenigen, die
einen Gang zum Dealer scheuen oder gar keinen kennen, könnten problemlos harte Drogen erhalten.
Wer den Weg der Legalisierung harter Drogen gehen
will, muss die Konsequenzen bedenken. Wenn harte Drogen auf eine Ebene mit Alkohol und Tabak gehoben werden sollen, warum sollen dann Crystal, Heroin, Kokain
und Ecstasy nicht offiziell in Clubs oder Kneipen oder
am Kiosk erhältlich sein? Wer legalisieren will, kann
nicht nur ein „bisschen“ legalisieren. Sollen CannabisClubs ein erster Schritt für diese Komplettlegalisierung
nach dem Wunsch der Linksfraktion sein? Welchen Geist
atmet dieser Antrag, frage ich mich angesichts der
jüngsten Beschlüsse dieser Partei? Wo werden Grenzen
gezogen? Eine Grenze, die des Eigenbedarfs, soll schon
in Ihrem Antrag ordentlich angehoben werden. Die eigentlich „geringe Menge“ soll in Ihrem Antrag jetzt
schon auf 30 Gramm angehoben werden - ein Wert, der
damit sämtliche Eigenbedarfsgrenzen in den Ländern
kräftig übertrifft.
Die Alternative zur Legalisierung von harten Drogen
ist die Entkriminalisierung der Süchtigen. Diese müssen
wir insbesondere bei der weichen Droge Cannabis in
der Tat vorantreiben. Entkriminalisierung ist aber etwas
anderes als Legalisierung. Ich fordere die Linksfraktion
auf, den heutigen Antrag zum Anlass zu nehmen, auch
Grenzen zu definieren und nicht allein dem Pseudotrend
und Wettbewerb hinterherzurennen, die „spaßfreundlichste“ Partei zu sein - zumal die gesundheitlichen Folgen von Drogensucht alles andere als spaßig sind. An
der FDP können Sie sehen, wie schief das mit dem Spaß
gehen kann, wenn es zur realen Politik kommt. Die Reputation der gesamten Politik gerät dabei leider auch
immer in Gefahr.
Ausgehend von der grundsätzlichen Strafbarkeit des
Besitzes von Cannabis befürworte ich deshalb eine einheitliche Regelung zur Festlegung der Kriterien für die
Einstellungspraxis nach § 31 a BtMG. Ich möchte betonen, dass die damalige SPD-geführte Bundesregierung
als Reaktion auf die sogenannte Haschisch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 bei den
zuständigen Landesjustizministerien insbesondere die
Festlegung einer „geringen Menge“ für den Eigenkonsum anregte. Auf diese Regelung beziehen Sie sich in Ihrem Antrag. Vor allem die starre Haltung der unionsgeführten Bundesländer, die bis heute leider immer noch
eine destruktive Rolle bei einer Vereinheitlichung der
„Geringe-Mengen-Regelung“ spielen, führt dazu, dass
wir immer wieder unterschiedliche Gerichtsurteile in
den einzelnen Gerichtsbezirken zur Kenntnis nehmen
müssen. Nichtsdestotrotz gibt es heute in Deutschland
zur Verfahrenseinstellung nach § 31 a BtMG eine im Wesentlichen einheitliche strafrechtliche Praxis und Rechtsprechung inklusive einer Festlegung für eine „geringe
Menge“ für den Eigenkonsum in den Ländern. Ohne den
Anstoß der damaligen SPD-geführten Bundesregierung
würden wir noch heute darauf warten. Und mit Anträgen, die die Cannabislobby offenbar für die Linksfraktion schreibt, werden wir weiter auf bundeseinheitliche
Regelungen warten, da die schwarz-gelbe Regierungskoalition diese Thematik fürchtet wie der Teufel das
Weihwasser.
Wissenschaftlich nachvollziehbare THC-Grenzwerte
für den Straßenverkehr sind absolut wünschenswert.
Eine grundsätzlich unterschiedliche Behandlung zwischen Cannabiskonsumenten und Alkoholkonsumenten
ist im Grunde nicht hinzunehmen. Auch die SPD-Bundestagsfraktion will helfen, Parameter zu entwickeln,
mit deren Hilfe zuverlässige Rückschlüsse auf die Fahrtüchtigkeit von Cannabiskonsumenten im Straßenverkehr gezogen werden können.
In der Antwort der Bundesregierung vom 26. Januar
2011 auf meine Anfrage wird bezüglich dieser Frage
festgestellt, dass die gesetzliche Einführung eines THCGrenzwertes für den Straßenverkehr analog zu Alkohol
auf absehbare Zeit nicht möglich sei, weil immer noch
unter anderem die „Dosis-Konzentrations-Wirkungsbeziehungen weitgehend unbekannt sind“, so die Bundesregierung. Bei Drogen wie Cannabis handele es sich um
eine Vielzahl von Mitteln und Substanzen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Fahrleistungen.
Diese Auswirkungen würden von einer Vielzahl von Faktoren, wie zum Beispiel Konsumgewohnheiten und Konsumform, beeinflusst und hingen nicht allein von der
festgestellten Substanzmenge im Körper ab. Wir müssen
daher immer noch auf wissenschaftlich valide Parameter warten, die für die Polizeibehörden auch im Alltag
praktikabel umsetzbar sind. Daher ist die Forderung in
Ihrem Antrag, eine Höchstgrenze für den THC-Gehalt
im Blut für den Straßenverkehr einzufordern, unrealistisch und erscheint mir schlichtweg zu einfach.
Es gibt, wie gesagt, gute Gründe für eine Entkriminalisierung von Cannabis. Doch zu einem erhöhten Schutz
im Straßenverkehr und zu einer Abnahme des Konsums
insgesamt würden Ihre vorgeschlagenen Maßnahmen sicherlich kaum beitragen. Die SPD-Bundestagsfraktion
ist weiterhin dafür, die Problematik sowohl beim Cannabis-Eigengebrauch als auch bezüglich der Abgabe von
Cannabis sorgfältig abzuwägen. Schnellschüsse und
ungeprüfte Vorschläge ins Blaue hinein wie die im vorliegenden Antrag der Linksfraktion oder in Ihrem Parteitagsbeschluss zur Legalisierung aller Drogen - ob
hart oder weich - sind leider dabei nicht hilfreich.
Die Legalisierung von Cannabis ist ein drogenpolitischer Dauerbrenner, der in regelmäßigen Abständen immer wieder auf der Tagesordnung erscheint. Auch die
FDP-Bundestagsfraktion hat sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Nach Abwägung aller Argumente sind
wir zu dem Schluss gekommen, dass wir eine grundsätzliche Legalisierung von Cannabis ablehnen.
Was wir befürworten und mittlerweile auch umgesetzt
haben, ist die Freigabe von Cannabis als Arzneimittel.
Das ist richtig und wichtig und hilft insbesondere
Schmerzpatienten.
Eine Freigabe von Cannabis als Konsumgut lehnen
wir jedoch ab. Denn die in der Öffentlichkeit oft geäußerte völlige Unbedenklichkeit des Hanfkonsums entZu Protokoll gegebene Reden
spricht nicht den vorliegenden wissenschaftlichen
Erkenntnissen. Experten warnen insbesondere, dass
Cannabis immer stärker und immer giftiger wird. Der
THC-Gehalt ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen. Beispielsweise weisen Experten auf die Gefahr von schizophrenen Psychosen hin.
Allerdings halte ich den Weg, den Gelegenheitskonsumenten zu entkriminalisieren, für richtig. Meiner Meinung nach muss angemessen und verhältnismäßig auf
die Tatsache reagiert werden, dass das gelegentliche
Rauchen eines Joints ein gesellschaftliches Phänomen
ist. Das muss nicht repressiv und mit aller Staatsmacht
angegangen werden. Hier sollte nach praktikablen Lösungen gesucht werden, die auch die Behörden und Gerichte so wenig wie möglich belasten. Die derzeitige
Rechtslage hinsichtlich der Strafverfolgung bei Eigenbedarfsmengen bietet hierfür einen ausreichenden Rahmen.
Interessant ist aber, wie die Linke mit dem Thema
Drogenpolitik grundsätzlich umgeht. In ihrem ersten
Parteiprogramm setzt sich die Linke für die Legalisierung aller Drogen ein - egal, ob harte oder weiche.
Auch Ihr Versuch, den Beschluss ein wenig zu relativieren, kann über Ihre drogenpolitische Irrfahrt nicht hinwegtäuschen.
Denn es ist bemerkenswert, dass Ihre Argumentation
nicht schlüssig ist. In Ihrem Antrag zum Thema „Legalisierung von Cannabis durch Einführung von CannabisClubs“ behaupten Sie: „Cannabis durch ein Verbot gesetzlich auf eine Ebene mit harten Drogen wie Heroin zu
stellen, wird seinem Gefährdungspotenzial nicht gerecht.“ Sie wollen also eine Klassifizierung in harte und
weiche Drogen. Sie erkennen also an, dass es sehr wohl
einen Unterscheid zwischen Cannabis und Heroin gibt,
ganz besonders hinsichtlich des offenkundigen Gefährdungspotenzials.
In Ihrem Parlamentsantrag ist dies noch einigermaßen nachvollziehbar hergeleitet. In Ihrem neuen Programm heißt es dann jedoch: „Die Unterscheidung in
legale und illegalisierte Substanzen ist willkürlich.“
Fest steht aber: Es ist absolut gerechtfertigt, dass
Suchtmittel oder Produkte mit Suchtpotenzial unterschiedlich bewertet, klassifiziert und entsprechend als
legal oder illegal eingestuft werden. Und die tatsächliche Unterscheidung ist alles andere als willkürlich.
Cannabis bewerte ich als Einstiegsdroge. Denn es
gibt Studien, die nachweisen, dass der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol, THC, der in Cannabis enthalten ist, das
Gehirn viel anfälliger für Opiate macht. Der Weg zum
Heroin ist dann leider oft sehr kurz.
Sicherlich, der übermäßige Konsum legaler Produkte
mit Suchtpotenzial wie alkoholhaltige Getränke ist auch
schädlich. Doch die überwiegende Mehrheit der Menschen genießt Bier, Wein etc. in verantwortungsvoller
Weise und ohne abhängig zu werden. Deshalb sind diese
Produkte auch legal.
Bei den nach aktueller Rechtslage illegalen Substanzen kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass
deren Konsum dauerhaft verantwortungsvoll und unschädlich bleibt. Der Zeitraum vom ersten Gebrauch bis
zur Abhängigkeit ist bei illegalen Stoffen um ein Vielfaches kürzer als beispielsweise bei alkoholhaltigen Getränken.
Cannabiskonsum bewirkt eine deutliche chemische
Veränderung des Belohnungssystems im Gehirn. THCKonsum hinterlässt Spuren. Das Belohnungssystem
braucht wegen seiner veränderten Chemie deutlich
mehr Drogen, bis es einen Zustand von Zufriedenheit
vermitteln kann. Das ist die Suchtspirale, die zu immer
kürzeren Konsumintervallen und immer stärkeren Dosierungen führt. Das wollen wir nicht legalisieren.
Deshalb halte ich die Unterscheidung in legale und
illegale Substanzen für gerechtfertigt, und deshalb halte
ich es für richtig, dass Cannabis nicht legalisiert wird.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat eine klare Linie und
wird den vorliegenden Antrag ablehnen.
Mit dem Antrag zur Einführung von Cannabis-Clubs
möchten wir als LINKE dazu beitragen, dass die Kriminalisierung des Cannabiskonsums beendet wird. Zwar
ist der Konsum nicht verboten, die Beschaffung und der
Besitz hingegen schon.
Als Kriminaloberkommissar habe ich selbst in der
Drogen-Strafverfolgung gearbeitet und ich bin zu dem
Ergebniss gekommen, dass die bisherige Praxis der
Strafverfolgung den Konsum von Cannabis nicht verringert, dafür aber die Konsumierenden kriminalisiert.
Die Bundesregierung verweist in ihrer Beantwortung
von Kleinen Anfragen zu diesem Thema immer wieder
darauf hin, dass die aktuelle Verbotspraxis dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung dienen soll. Ich bin hingegen zur Einschätzung gekommen, dass die aktuelle Verbotspraxis einen funktionierenden Gesundheitsschutz
verhindert.
Während der Verbraucherschutz dafür Sorge trägt,
dass in einer Flasche Bier auch nur das enthalten ist,
was auf dem Etikett steht, werden 4 Millionen Cannabiskonsumenten - von denen nur ein relativ kleiner Teil ein
problematisches Konsumverhalten aufweist - der Gefahr ausgesetzt, durch Streckmittel schwere gesundheitliche Folgen zu erleiden. Das Wort Streckmittel klingt
erst einmal harmlos, ich möchte ihnen daher aufzählen,
was bisher in Cannabis an Streckmitteln gefunden
wurde: Brix - eine Mischung aus Zucker, Hormonen und
flüssigem Kunststoff -, Sand, Talkum, Zucker, Haarspray, Glas, Gewürze, Blei, Phospor/Kaliumdünger sowie Schimmel. Wahrscheinlich gibt es noch andere Arten
von Streckungen, aber das sind diejenigen, die vom
Deutschen Hanfverband, DHV, dokumentiert wurden.
Nach Informationen des DHV haben sich seit Mai 2009
fast 3 000 Konsumierende an den DHV gewendet, nachdem diese Streckmittel in Cannabis festgestellt hatten.
Von Streckmitteln geht eine erheblich größere Gefahr für
die Gesundheit der Konsumierenden aus als vom Cannabiskonsum an sich. So müssen Betroffene einer Bleivergiftung teilweise noch jahrelang Medikamente zu
Zu Protokoll gegebene Reden
sich nehmen, um das Blei, das sich in den Knochen festsetzt hat, abzubauen.
Wir müssen uns an dieser Stelle nichts vormachen:
Durch die bestehende Illegalität helfen wir dem Dealern, riesige Gewinnen zu erzielen. Unter diesen gibt es
natürlich auch Fälle, in denen versucht wird, mit der
Beimischung von anderen Substanzen das Gewicht und
damit den Preis der Ware zu manipulieren. Eine Legalisierung nach unserem Modell würde denen aber die
komplette Handelsgrundlage entziehen.
1994 war der strafrechtliche Umgang mit Cannabisprodukten Gegenstand eines Vorlagebeschlusses des
Landgerichts Lübeck. Dort wurde die Strafverfolgung
bei Besitz von geringen Mengen Cannabis als Eigenverbrauch als unverhältnismäßig beurteilt. Die Folge daraus war leider ein Flickenteppich von 16 verschiedenen
gesetzlichen Regelungen in Deutschland, was die Strafverfolgung von Cannabiskonsumierenden angeht. Während in Berlin ein Strafverfahren aufgrund des Besitzes
von bis zu 15 Gramm Cannabis von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden kann, ist das in Bayern nur bis
6 Gramm möglich. Dieser Unsinn muss dringend beendet werden. Wenn Sie diesem Antrag schon nicht zustimmen, dann sorgen Sie doch wenigstens für eine einheitliche Rechtspraxis, in dem Sie eine geringe Menge im
Betäubungsmittelgesetz festlegen!
Mittlerweile hat sich die Verfolgung von Cannabiskonsumierenden vom Strafrecht auf das Straßenverkehrsrecht verlagert. Deshalb benötigen wir endlich
einen wissenschaftlich fundierten Grenzwert von Cannabisleitsubstanzen, der die tatsächliche Beeinflussung der
Fahrtüchtigkeit widerspiegelt. Klar ist, ein Verkehrsteilnehmender unter Cannabiseinfluss muss rechtlich sanktioniert werden. Aber es ist nicht nachvollziehbar, warum
bei gelegentlichem Cannabiskonsum der Führerschein
entzogen werden kann, wenn Spuren von Cannabiskonsum im Blut nachweisbar sind, obwohl eine Rauschwirkung zum Zeitpunkt der Kontrolle längst nicht mehr vorliegt.
Mit unserem Vorschlag zur Einführung von Cannabis-Clubs wollen wir zudem auf ein Modell zurückgreifen, zu dem es in der Europäischen Union bereits gute
Erfahrung gibt. In Spanien wurden die Cannabis Social
Clubs im Jahr 2005 ermöglicht.
Der Cannabisanbau in diesen Clubs unterliegt Qualitätskontrollen. Das angebaute Cannabis dient zudem
nur dem Eigenverbrauch und darf nicht verkauft werden. Damit haben wir den Handel mit Cannabis verhindert und ermöglichen gleichzeitig, dass sich interessierte Konsumentinnen und Konsumenten zusammenfinden können, um gemeinsam Cannabis anzubauen und
Erfahrungen auszutauschen. Werbung dafür bleibt verboten, so wie es im Übrigen auch ein generelles Werbeverbot für andere legale Drogen wie Alkohol und Nikotin geben sollte. Denn eine liberale Drogenpolitik
besteht aus progressiven, aber auch repressiven Instrumenten.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der mit Einführung von
Cannabis-Clubs Unterstützung finden würde, ist die
Prävention vor Drogenmissbrauch. Umso stärker sich
offen mit Drogen auseinandergesetzt wird und die jeweiligen Gefahren und Wirkungsweisen verstanden werden,
umso erfolgreicher funktioniert die Prävention. So hat
beispielsweise die Liberalisierung der Drogenpolitik in
Portugal gezeigt, dass dadurch nicht mehr Drogen konsumiert wurden, dafür aber der Missbrauch und damit
auch die Zahl der Abhängigen zurückgegangen ist.
Nutzen Sie diese Gelegenheit und diskutieren Sie mit
uns über neue Wege in der Drogenpolitik. Ich freue mich
auf die Diskussionen dazu im Ausschuss und hoffe, dass
wir die Debatte darüber sachlich führen können.
Nach dem drogenpolitisch turbulenten Wochenende
bei den Linken liegen nun Ihre konkreten Vorschläge auf
dem Tisch. Es gibt die berechtigte Fragestellung, die in
ihrem Antrag aufgeworfen wird, ob die derzeitige repressive Drogenpolitik überhaupt die gewünschten Wirkungen entfaltet. Diese Frage wird durch die Realität
nicht nur bei uns in Deutschland tagtäglich beantwortet:
Der Konsum bestimmter Drogen wird durch ihr strafrechtliches Verbot nicht nennenswert verhindert. Schon
allein deswegen ist ein solches Verbot mindestens verzichtbar.
Aber ich finde andere Fragen in diesem Zusammenhang noch wesentlich wichtiger: Welche negativen Folgen hat eigentlich die repressive Drogenpolitik, wie wir
sie hier in Deutschland praktizieren? Welche Folgen hat
sie für die Anbauländer, welche für die Transitländer
und vor allem: Welche Folgen hat sie für die Konsumentinnen und Konsumenten dieser Drogen? In welcher
Weise behindert das Verbot etwa eine zielgerichtete Prävention riskanter Konsumformen? Welche Auswirkungen hat der durch das Verbot geschaffene Schwarzmarkt
für die Gesundheit der Konsumentinnen und Konsumenten?
Wenn man sich diese Fragen stellt, wird recht schnell
klar, warum dieser Antrag nicht konsequent genug ist:
Die Legalisierung von Cannabis durch sogenannte Social Clubs, so wie die Linken dies vorschlagen, ist gerade nicht eingebunden in ein sinnvolles Konzept aus
Prävention, Schadensminderung und Therapie. Die
Zahlen zum Cannabiskonsum zeigen deutlich, dass es
nur wenige Menschen gibt, die Cannabis in riskanter
Form gebrauchen. Die übergroße Mehrheit betreibt offensichtlich einen selbstverantwortlichen Konsum. Aber
gerade wegen dieser Wenigen muss eine wie auch immer
geartete Abgabe von Cannabis oder anderer weicher
Drogen eingebunden werden in ein Präventionskonzept.
Dazu gehört schon etwas mehr als ein bisschen Lebensertüchtigung in Schulen und ein Werbeverbot für die
Clubs.
Wir haben bereits in der vergangenen Wahlperiode in
unserem Antrag deutlich gemacht, wie aus unserer Sicht
eine Entkriminalisierung von weichen Drogen wie Cannabis so umgesetzt werden könnte, dass dabei die Prävention im Vordergrund steht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich habe darüber hinaus erhebliche Zweifel, ob das
unter anderem in Spanien praktizierte Modell der Cannabis Social Clubs ohne Weiteres auf Deutschland übertragbar ist. Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit diesem
eher romantisierenden Ansatz wirklich weiterkommen.
Was geschieht zum Beispiel mit Konsumentinnen und
Konsumenten, die es ablehnen, sich in einem solchen
Verein namentlich registrieren zu müssen? Was machen
Konsumentinnen und Konsumenten, die keinen Eigenanbau betreiben können oder wollen? Für sie ändert sich
gar nichts. Sie müssen ihr Cannabis weiter illegal auf
dem Schwarzmarkt erwerben.
Wer nicht nur die Entkriminalisierung von Cannabis,
sondern sogar die Legalisierung von Cannabis fordert,
der muss sich auch Gedanken darüber machen, wie
dann dem Umstand Rechnung getragen wird, dass internationale Übereinkommen diesem Legalisierungsanliegen entgegenstehen. Hier vermisse ich in Ihrem Antrag
wenigstens einen Hinweis, wie Sie mit diesem Problem
umzugehen gedenken.
Darüber hinaus wirft der Antrag der Linken weitere
Fragen auf. Sie fordern beispielsweise, für den Straßenverkehr eine wissenschaftlich begründete THC-Höchstgrenze im Blut einzuführen. Damit werden sie das Problem aber nur teilweise lösen. Denn unabhängig davon,
wie hoch der Grenzwert ist und ob bei Cannabiskonsumenten der Nachweis von THC mit einem akuten Rausch
gleichgesetzt werden kann, kann regelmäßigen Cannabiskonsumentinnen und -konsumenten heute der Führerschein entzogen werden, auch dann, wenn sie gar nicht
unter Einfluss von Cannabis Auto fahren. Nach meiner
Auffassung ist hier auch eine Änderung der Führerscheinverordnung notwendig. Damit lassen sich dann
auch die häufig willkürlichen MPUs vermeiden.
Nun will ich nicht behaupten, dass wir Grünen drogenpolitisch gesehen die Weisheit mit Löffeln gefressen
haben. Zu einer verantwortlichen Drogenpolitik gehört
es für mich aber auch, sich dafür zu interessieren, welche Wirkungen eine bestimmte Politik in der Praxis hat.
Deswegen haben wir in der vergangenen Wahlperiode in
unserem Antrag ein wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt vorgesehen, mit welchem die Wirkungen einer
kontrollierten Abgabe beispielsweise in lizenzierten Abgabestellen überprüft wird. Eine solche Regelung fehlt
leider ebenfalls in Ihrem Antrag.
Wir Grünen sind klar für eine grundlegende Reform
der Drogenpolitik. Dazu gehört auch eine Entkriminalisierung von Cannabis und anderen weichen Drogen. Wir
sehen diesen Antrag daher vor allem als Chance, die
derzeitige Drogenpolitik und deren negative Folgen auf
den Prüfstand zu stellen und notwendige Alternativen zu
thematisieren. Denn anders als etwa im angelsächsischen Raum wird in Deutschland viel zu wenig die Frage
nach dem Preis gestellt, den unsere Gesellschaft, aber
auch andere Gesellschaften für die repressiv ausgerichtete Drogenpolitik zahlt. Ich würde mich freuen, wenn
wir dieser Frage auch in den Ausschussberatungen und
in einer Anhörung nachgehen können.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7196 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist auch das so beschlossen.
Sie werden es nicht glauben, meine Kolleginnen und
Kollegen: Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 28. Oktober dieses Jahres,
9 Uhr, ein.
Es sind alle herzlich eingeladen, auch morgen früh
schon da zu sein.
Die Sitzung ist geschlossen.