Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen zunächst zwei Mitteilungen zu machen:
({0})
Erstens. Die für den heutigen Morgen zunächst vorgesehene Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu den
Beratungen des europäischen Gipfels ist aus den Ihnen
bekannten Gründen abgesetzt. Es gibt eine Vereinbarung
der Fraktionen über die Aufsetzung eines neuen Tagesordnungspunktes und über die Vorziehung anderer für
den heutigen Tag ohnehin vorgesehener Beratungspunkte.
Zweitens. Die FDP-Fraktion hat mir soeben auf dem
Weg zum Mikrofon mitgeteilt, dass sie noch Beratungsbedarf habe und deswegen darum bitte, erst in einer halben Stunde mit den Plenarberatungen zu beginnen.
({1})
- Einen Augenblick. Wir haben gestern auf Wunsch verschiedener Fraktionen zu verschiedenen Zeitpunkten das
Plenum jeweils unterbrochen. Entweder bleiben wir bei
dieser schönen Tradition, dass wir auf Wunsch einer
Fraktion, wenn sie Beratungsbedarf hat, einvernehmlich
das Plenum unterbrechen,
({2})
oder wir kommen an dieser Stelle, was ich ausdrücklich
nicht empfehle, in die Situation, dass wir in Zukunft darüber durch Mehrheitsbeschluss verfügen. - Ich stelle fest,
dass wir einvernehmlich bei der bewährten Tradition bleiben und berufe deswegen das Plenum für 9.45 Uhr ein.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Frau Bundeskanzlerin, wir möchten gerne anfangen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wollen wir
die heutige Plenarsitzung mit der Beratung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Plenarbefassung
gemäß dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus“, der Ihnen auf der Drucksache 17/7410 vorliegt, beginnen. Danach zieht das Plenum des Deutschen
Bundestages vorsorglich die Befugnisse des Haushaltsausschusses gemäß § 4 Abs. 4 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes an sich. Anschließend wird die Plenarsitzung mit der Beratung des Tagesordnungspunktes 28,
Aktionsplan Nanotechnologie 2015, fortgesetzt. - Dazu
kann ich offenkundig Ihr Einvernehmen feststellen. Dann
verfahren wir so.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Plenarbefassung gemäß dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus
- Drucksache 17/7410 Nach dieser gerade genannten interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 30 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle in
Europa sind in einer schwierigen Situation. Es zeigt sich,
dass die umfassende Schuldenkrise - das ist mehr als
eine Staatsschuldenkrise - bis heute nicht bewältigt ist.
Es mehren sich die Anzeichen, dass zunehmend auch gegen Spanien und Italien spekuliert wird. Die Gefahr eines Downratings von Frankreich steht bevor.
Redetext
Ich sage sehr deutlich - an dieser Stelle soll klar sein,
dass das keine Kritik an der Bundesregierung, an Ihnen,
Frau Bundeskanzlerin, ist -, dass es in dieser Situation
eine schlechte Nachricht ist, dass die Widerstände innerhalb der Europäischen Union dazu geführt haben, dass
es auf dem Gipfel am Sonntag nicht zu einer Entscheidung kommt. Wir stehen in dieser Situation dazu, dass
schnell gehandelt werden muss. Zum schnellen Handeln
gehört nach unserer festen Überzeugung, dass die Stabilisierungsfaszilität, die wir in der letzten Sitzungswoche
beschlossen haben, ihre Mittel so effizient einsetzt, dass
die Spekulation gegen Spanien und Italien abgewehrt
werden kann.
({0})
Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil ich glaube,
dass man deswegen um ein bestimmtes Instrument, nämlich die sogenannte Hebelung dieser Mittel, nicht herumkommen wird. Das ist keine neue Botschaft. Das ist vielleicht eine neue Botschaft für Sie, Herr Brüderle.
({1})
Sie haben in der letzten Sitzungswoche hier erklärt,
diese Hebelwirkung sei mit - ich zitiere - „Massenvernichtungswaffen“ gleichzusetzen.
({2})
- Ja, das war ein Zitat von Warren Buffett. Ihr Wirtschaftsminister hat erklärt, diese Hebelung werde es nie
geben. Wir alle wissen, dass es diese Hebelung geben
wird.
Darauf bezieht sich der Kern unseres Antrages. Wir
finden, dass über ein solches Instrument hier im Deutschen Bundestag vor den Augen der Bürgerinnen und
Bürger entschieden werden muss und nicht hinter den
verschlossenen Türen eines wichtigen Ausschusses.
({3})
Das ist der Kern. Wir sagen: Wir werden diesen Hebel
brauchen. Wir werden darüber diskutieren müssen, wie
ein solcher Hebel auszugestalten ist. Aber wir möchten,
dass über diesen Hebel hier entschieden wird, damit sich
nicht wiederholt, was wir drei Wochen lang erlebt haben,
nämlich dass das, was jetzt kommt, von denjenigen, die
die ganze Zeit darüber verhandelt haben, zunächst für
unmöglich erklärt wird.
Als mein Kollege Schick Ihnen, Herr Schäuble, vor
drei Wochen die Frage gestellt hat, ob es Verhandlungen
über einen Hebel gibt, haben Sie allein die Frage danach
als unanständig und unangemessen bezeichnet. Ich
finde, Herr Schäuble, Sie sollten sich hier und heute bei
Herrn Schick für diese Äußerung entschuldigen.
({4})
Nun sagen Sie, Sie wollten am Sonntag nicht entscheiden. Das würden wir Ihnen gerne abnehmen. Meine
Fraktion würde das, was Sie bisher verhandelt haben,
werter Herr Schäuble, auch mittragen, wenn darin nicht
schon enthalten wäre, was Sie seit Wochen leugnen,
nämlich eben jener Hebel. Sie haben in den Unterlagen,
die Sie uns übermittelt haben, ausdrücklich vorgesehen,
dass die EFSF diese Anleihen bei Ankäufen auf dem Sekundärmarkt für sogenannte Repo-Geschäfte mit Geschäftsbanken nutzen darf. Für Rückkaufvereinbarungen
mit Geschäftsbanken darf sie diese auch für Ankäufe auf
dem Primärmarkt nutzen. Das ist nichts anderes als ein
Hebel, den Sie schon jetzt in die Guidelines aufgenommen haben, die Sie heute Nachmittag im Haushaltsausschuss beschließen wollen.
({5})
- Ich habe eben „Unfug“ gehört.
({6})
Ich kann Ihnen berichten, was Banker dazu sagen. Natürlich könnte der Hilfsfonds solche Repo-Geschäfte
auch mit Banken abschließen, allerdings würden diese
wohl deutlich höhere Sicherheiten fordern, womit der
Hebel weniger groß wäre. Das heißt, Sie wollen hier den
Weg freigeben. Sie können nicht ausschließen, dass
diese Passagen dazu genutzt werden, einen solchen Hebel, falls es keine Einigung über ein anderes Hebelmodell gibt, genau dafür zu verwenden.
Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass diese Entscheidung ins Plenum gehört.
({0})
Deswegen beantragen wir, dass diese Entscheidung unabhängig davon, wie Sie entscheiden, hier getroffen
wird.
Die Frage der staatspolitischen Verantwortung beantwortet sich darüber, ob die Vertreter des Souveräns ihre
Entscheidungen öffentlich vor den Bürgerinnen und
Bürgern vertreten und öffentlich treffen. Nehmen Sie
diese staatspolitische Verantwortung in dieser schwierigen Krise endlich wahr!
({1})
Norbert Barthle ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Trittin, ich glaube, man muss zuerst
wieder Ordnung in die Debatte bringen.
({0})
- Was gibt es da zu lachen? Das erschließt sich mir
nicht.
({1})
Erstens. Es ist festzustellen: Die Aufforderung an
Herrn Schäuble, sich zu entschuldigen, geht völlig an der
Sache vorbei.
({2})
Sie wissen genau, dass diese Äußerung des Finanzministers in einem Kontext gefallen ist, der ganz anders ist, als
Sie es dargestellt haben.
({3})
Deshalb geht das an der Sache vorbei.
Zweitens. Herr Trittin, ich halte es für ziemlich arrogant, hier zu sagen: Wir Grünen wissen ganz genau, was
es geben wird und was nicht. Sie sprechen über Dinge,
die noch längst nicht verhandelt sind.
({4})
Deshalb rate ich Ihnen dringend: Beraten Sie sich vielleicht etwas intensiver mit Ihrer Kollegin Priska Hinz,
die dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
angehört.
({5})
Sie hat gestern über viele Stunden hinweg alle Debatten
verfolgt. Das ist eine kluge Frau mit einer raschen Auffassungsgabe. Dann sind Sie besser beraten und wissen
vielleicht besser Bescheid.
Was ist der Stand der Dinge? Wir haben gestern von
der Bundesregierung den Entwurf dieser Leitlinien bekommen, in denen bestimmt wird, wie die vier neuen Instrumente der EFSF angewandt werden können. Diese
vier neuen Instrumente haben wir vor zwei Wochen hier
im Deutschen Bundestag - übrigens mit Ihrer Zustimmung - beschlossen. Darin steht, was alles neu gemacht
werden kann. Ich brauche das nicht zu wiederholen; aber
ich will es kurz referieren: Das sind die Sekundärmarktoperationen, das sind vorsorgliche Kreditlinien, das sind
Primärmarktankäufe, und es ist die Bankenrekapitalisierung.
Wenn man sich diese Leitlinien, die wir gestern ausführlich im Haushaltsausschuss beraten haben, vor Augen führt, dann kann man feststellen, dass sich in all diesen Punkten die Verhandlungspunkte, die die deutsche
Bundesregierung, der deutsche Finanzminister und die
Bundeskanzlerin in die internationalen Verhandlungen
eingebracht haben, vollumfänglich wiederfinden. Das
sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Darüber diskutieren
wir heute. Alle Journalisten, die gestern vor dem Sitzungssaal des Haushaltsausschusses versammelt waren,
haben begriffen, dass in diesen Leitlinien nichts über einen Hebel gesagt wird.
Die Grünen haben es nicht begriffen; denn die Grünen
reden jetzt von den sogenannten Repo-Geschäften, die
bei den Sekundärmarktaufkäufen als eine Maßnahme innerhalb dieser Leitlinien möglich sind. Nun muss man
Ihnen, Herr Trittin, glaube ich, zuerst einmal erklären,
was das ist. Repo-Geschäft ist ein Begriff aus dem Geldmarkt. Das ist nichts anderes als eine Aufkaufs- und Verkaufsverabredung unter festen Bedingungen. Die EFSF
wird also künftig auf dem Sekundärmarkt tätig sein können und dort Staatsanleihen aufkaufen. Nun kann sie
diese Staatsanleihen selbstverständlich auch wieder verkaufen. Wer aufkauft, muss auch verkaufen können. Anders macht das Ganze keinen Sinn. Wer atmet, muss
auch ausatmen; sonst platzt er irgendwann.
({6})
Die EFSF soll nicht platzen, sondern sie soll handlungsfähig sein. Dazu gehört, dass sie Anleihen zu vorher
vereinbarten Bedingungen auch wieder verkaufen und
sich dadurch kurzfristig Liquidität beschaffen kann kurzfristig. Das ist der entscheidende Unterschied, Herr
Trittin. Kurzfristige Liquiditätsbeschaffung ist nicht geeignet, um langfristig eine Hebelwirkung zu erzeugen
und damit die Wirksamkeit des Rettungsschirms zu vergrößern. Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages haben die Mitarbeiter des Bundesfinanzministers
Ihrer Kollegin Frau Priska Hinz gegenüber genau diese
Definition bestätigt, und zwar im Beisein des Bundesfinanzministers. Sie müssten es also begriffen haben. Offensichtlich haben Sie es immer noch nicht begriffen;
deshalb versuche ich, es Ihnen jetzt noch einmal zu erklären. Repo-Geschäfte sind nicht geeignet, um einen
langfristig angelegten Hebel zu erzeugen.
({7})
Das, was über Wochen hinweg unter dem Stichwort
„Hebel“ in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, hat mit
diesem Instrument überhaupt nichts zu tun.
({8})
Nun will ich auf etwas anderes hinweisen, was ich
schon bemerkenswert finde: Wir haben vor zwei Wochen
- ich glaube, in einem wirklich beispielhaften Vorgang die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages ausgeweitet und entsprechend gestaltet. Im StabMechG heißt
es unter § 4 Abs. 2:
Der vorherigen Zustimmung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages bedürfen:
1. die Annahme oder Änderung der Leitlinien des
Direktoriums der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität durch die Bundesregierung …
Uns werden jetzt Leitlinien vorgelegt, über die auf internationaler Ebene schon beraten wurde. Über die können wir abstimmen, und das werden wir auch tun. Wenn
es dazu Änderungen gibt, müssen sie uns wieder vorgelegt werden; so steht es im Gesetz. Dann werden wir zuvor zumindest im Haushaltsausschuss des Deutschen
Bundestages darüber beraten. Falls es notwendig sein
sollte, werden wir das selbstverständlich auch im Plenum des Deutschen Bundestages tun.
Warum Sie, Herr Trittin, jetzt vorsorglich etwas an
sich ziehen wollen, wofür es noch gar keine schriftliche
Unterlage gibt und wozu es noch keine Vereinbarung
gibt, erschließt sich mir überhaupt nicht; denn damit
konterkarieren Sie das Recht, das wir uns selbst ausbedungen haben, damit konterkarieren Sie die Geschäftsabläufe, die wir vorgesehen haben. Das unterminiert unsere Vereinbarungen, anstatt sie zu bestärken. Das ist der
Hauptvorwurf, den ich Ihnen mache.
({9})
Was wir derzeit auf europäischer Ebene und weltweit
brauchen, ist Vertrauen.
({10})
Was Sie hier betreiben, ist nicht geeignet, das Vertrauen auf deutscher Ebene und das Vertrauen in die
Bundesregierung zu stärken.
({11})
Wir brauchen aber gerade in diesen Verhandlungen Vertrauen. Das ist auch Ihre Verantwortung, bei allem Verständnis für Oppositionsspielereien.
({12})
Wenn die Bundesregierung auf europäischer Ebene
schwierige Dinge durchsetzen will, dann braucht sie den
Rückhalt des gesamten Parlaments und kein solches
Theater der Opposition.
({13})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Priska
Hinz das Wort.
Herr Kollege Barthle, ich freue mich grundsätzlich,
wenn Sie mich loben. Ich halte nur nichts davon, wenn
Sie mich zur Kronzeugin einer Falschdarstellung machen wollen, die Sie hier im Plenum geben.
({0})
Wir haben gestern im Haushaltsausschuss lange und
ausführlich über die sogenannten Guidelines gesprochen; das ist richtig. Allerdings ist das Bundesministerium bei unserem ständigen Bohren in Bezug auf die sogenannten Repo-Geschäfte ziemlich ins Schlingern
geraten. Entweder hat der Bundesfinanzminister selber
nicht gewusst, was da hineinverhandelt wurde, oder er
war irritiert, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind.
({1})
Das Bundesfinanzministerium musste zugeben, dass
diese Repo-Geschäfte dazu dienen können, die Liquidität zu steigern, eine sogenannte kleine Banklizenz zu erwerben, und dass damit natürlich eine Hebelwirkung
stattfinden würde. Die Aussage war, dass die EFSF dies
wahrscheinlich machen könnte, dass man aber davon
ausgeht, dass die EFSF es nicht tut.
({2})
Das war die Darstellung des Bundesfinanzministeriums.
Im Übrigen sollten wir bis heute Morgen eine schriftliche Klarstellung haben, ob wir das richtig sehen oder
ob das Bundesfinanzministerium ausräumen kann, dass
dieser Hebel so benutzt wird. Diese Klarstellung liegt
uns bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor.
({3})
Ich habe schon gestern im Haushaltsausschuss und
auf mehrfache Nachfrage Ihrer Kollegen deutlich gesagt:
Wir sind bereit, den Guidelines zuzustimmen, und wir
sind auch bereit, die Zustimmung dafür zu erteilen, dass
es Repo-Geschäfte gibt, wenn ausgeschlossen ist, dass
damit eine Hebelwirkung einhergeht; dann müsste dieser
Passus umformuliert werden. Wir haben bis zum jetzigen Zeitpunkt keine weitere Aussage des Finanzministeriums, außer dass die Befürchtung besteht, dass eine Hebelwirkung tatsächlich möglich ist, dass das nicht
ausgeschlossen werden kann. Von daher liegen wir völlig richtig, wenn wir sagen: Wir wollen diesen Guidelines zustimmen; aber wenn, wie bislang vorgesehen,
eine Hebelwirkung enthalten ist, wollen wir dafür einen
Parlamentsbeschluss, denn das ist ein neues Instrument
mit neuen Risiken, und darüber muss die Öffentlichkeit
informiert werden. Dann sind wir gerne bereit, zu unserer Verantwortung zu stehen und das mit zu beschließen,
({4})
hier im Plenum, wo wir auch der Öffentlichkeit nachvollziehbar erklären können, warum diese Erweiterung
und diese Hebelung für den Rettungsschirm notwendig
ist.
({5})
Bevor der Kollege Barthle Gelegenheit zur Replik erhält, möchte ich für den deutschsprachigen Teil der Bevölkerung ergänzen, dass die mehrfach erwähnten Guidelines Richtlinien sind.
({0})
- Der Bundesminister des Auswärtigen legt Wert auf die
Feststellung, dass es sich um Leitlinien handele.
({1})
Bitte schön, Herr Kollege Barthle.
Vielen Dank, Herr Präsident. - In den uns vorliegenden Leitlinien für die EFSF, die in der Haushaltsausschussdrucksache 3514 dargelegt sind, steht tatsächlich:
Nutzung von Anleihen für Repo-Geschäfte mit Geschäftsbanken, um das Liquiditätsmanagement der
EFSF zu unterstützen.
({0})
Das ist genau das, was ich vorhin ausgeführt habe.
Die EFSF muss die Möglichkeit haben, sich kurzfristig
Liquiditätsvorteile zu verschaffen, um damit ihre Tätigkeiten auf dem Sekundärmarkt entsprechend unterfüttern
zu können.
({1})
Wenn Sie diese Repo-Geschäfte ausschließen, dann verteuern Sie sozusagen die EFSF, und dann steht weniger
Kapital zur Verfügung, um die eigentlichen Aufgaben
der EFSF zu erfüllen.
({2})
Frau Kollegin Priska Hinz, daraus entsteht aber kein
Hebel. Ein Hebel würde nur dann entstehen, wenn man
das als Kaskadengeschäft dauernd fortführen würde, um
damit Liquiditätsreserven unendlich - unendlich geht es
zwar nicht, aber ein Stück weit - auszubauen. Sie benutzen eine sophistische Definition des Begriffs „Hebel“,
und daran hängen Sie diese Debatte auf.
Frau Kollegin Hinz, die Länge Ihrer Kurzintervention
zeigt schon, dass Sie vieles zu vernebeln haben.
({3})
Gestern hat Ihnen die Bundesregierung im Haushaltsausschuss klipp und klar gesagt, dass in den Vereinbarungen
für die Leitlinien genau diese Absicht, die Sie unterstellen, niemals verfolgt wurde und auch nicht verfolgt werden wird.
({4})
Die Bundesregierung ist sogar bereit, Ihnen das schriftlich zu geben und noch in die Leitlinien einzuarbeiten.
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen und nicht einen
Trick dahinter vermuten. Bauen Sie keinen Popanz auf!
Dafür gibt es keinen Grund.
Danke.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Thomas Oppermann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in der Tat in einer schwierigen Situation, in einer
Situation, die dieses Parlament so noch nicht erlebt hat.
Zum zweiten Mal ist ein europäischer Gipfel verschoben worden. Die Bundeskanzlerin hat die für heute angekündigte Regierungserklärung zum Gipfel abgesagt.
Heute Nachmittag soll in einer nichtöffentlichen Sitzung
des Haushaltsausschusses legitimiert werden, über was
am Wochenende beim Gipfel verhandelt wird. Da sagen
Sie, Herr Barthle, wir sollten Vertrauen in diese Regierung haben. Ich sage Ihnen: Wir haben kein Vertrauen in
diese Regierung.
({0})
Es ist richtig: Über die Leitlinien zum Rettungsfonds
wird nach dem Gesetz im Haushaltausschuss entschieden. Als wir aber vor drei Wochen dieses Gesetz im
Bundestag verabschiedet haben, sind alle davon ausgegangen, dass Leitlinien eine Art Geschäftsordnung, technische Regeln sind. Aber nach der Verabschiedung des
Gesetzes begann eine Debatte darüber, dass in diesen
Leitlinien gehebelt werden soll. Die Leitlinien sind jetzt
plötzlich der Ort, wo aus den Milliarden, die wir hier beschlossen haben, Billionen werden.
({1})
Das berührt selbstverständlich das Ausfallrisiko und das
Verlustrisiko. Dieses Verlustrisiko ist eine inhaltliche,
materielle Frage und keine Frage, die in einer Geschäftsordnung geregelt werden kann.
({2})
Wo kommen wir hin, wenn der Bundestag über Milliarden beschließen darf, aber die Entscheidung über die
Billionen im nichtöffentlich tagenden Haushaltsausschuss fällt?
({3})
Sie nähren doch mit diesem Verfahren den Verdacht,
dass Sie uns und der Öffentlichkeit etwas unterjubeln
wollen.
({4})
Es kann doch nicht sein, dass wir hier über einen Teil
der Richtlinien beschließen und nächste Woche der andere Teil kommt. Diese Richtlinien sind ein Torso. Der
Bundesfinanzminister hat gestern im Haushaltsausschuss noch gesagt, das sei der Entwurf eines Entwurfes.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Koalition: Können Sie wirklich alle Details überblicken, die in
diesen Leitlinien geregelt sind?
({5})
Haben Sie in diesen wenigen Stunden den notwendigen
Sachverstand hinzuziehen können, um das jetzt beurteilen zu können? - Nein, meine Damen und Herren, dies
ist kein angemessenes Verfahren.
Die Debatte über die Leitlinien gehört hier in den
Deutschen Bundestag. Vor den Augen der Bürgerinnen
und Bürger muss debattiert und entschieden werden, mit
welchem Haftungsrisiko wir in den Rettungsfonds
hineingehen.
({6})
Wir stehen zur Euro-Rettung. Wir haben der Entscheidung zum Rettungsschirm zugestimmt. Wir waren
auch diejenigen, die gesagt haben, dass die bewilligten
Mittel wahrscheinlich nicht ausreichen, um eine Stabilisierung unserer Währung herbeizuführen. Da haben Sie
widersprochen. Jetzt wollen Sie in den Leitlinien hebeln.
Sie wollen ein Verlustrisiko beschließen, ohne dass die
Öffentlichkeit genau weiß, was da passiert.
Frau Bundeskanzlerin, sagen Sie uns bitte nicht, Sie
stünden jetzt unter Zeitdruck. Auch wir meinen, dass
schnell entschieden werden muss, aber Sie hatten alle
Zeit der Welt.
({7})
Statt diese Zeit zu nutzen, haben Sie hier Regierungserklärungen gehalten und der Opposition vorgeworfen, sie
betreibe die Vergemeinschaftung der Schulden. Statt Ihre
Hausaufgaben zu machen, haben Sie gestern den Bundesfinanzminister und den Vizekanzler vor die Presse
treten und unverantwortliche Steuersenkungen verkünden lassen.
({8})
Wer inmitten der größten Schuldenkrise, inmitten der
größten europäischen Krise Steuersenkungen auf Pump
beschließt und damit die Schulden erhöht, der handelt
nicht verantwortlich. Deshalb, meine Damen und Herren: Über den Rettungsschirm und über die Richtlinien
muss im Parlament entschieden werden. Dies ist der Ort,
vor den Augen der Bürgerinnen und Bürger, die am
Ende mit ihren Euros für das haften müssen, was wir
hier tun.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Oppermann, ich kann bei den
Grünen die Fragen noch nachvollziehen.
({0})
Die werden wir im Haushaltsausschuss auch weiter beantworten und diskutieren. Ich sage das auch der Kollegin Hinz, weil ich versuchen will, liebe Kolleginnen und
Kollegen, am Ende auch ein Ergebnis zu bekommen, damit die Regierung mit einem durch das Parlament gestärkten Rücken verhandeln kann. Denn die schwierigste
Aufgabe ist nicht hier im Parlament; die schwierigste
Aufgabe hat die Bundesregierung, von der jeder in
Europa etwas will und die versuchen muss, einerseits
Führung zu zeigen und andererseits die anderen mitzunehmen. Aber da liegt unsere Verantwortung, ihr den
Rücken zu stärken und das nicht durch falsche Äußerungen, wie es der Kollege Oppermann jetzt wieder versucht hat, kaputtzumachen.
({1})
Herr Kollege Oppermann, der Kollege Trittin hat bewusst nicht das gesagt, was Sie versucht haben, zu sagen; er hat nicht gesagt, dass das Volumen erweitert
wird. Ich finde, Sie oder der Kollege Schneider - er ist ja
ebenfalls ein erfahrener Haushälter, also auch dem
Grundsatz von Klarheit und Wahrheit verpflichtet - sollten das noch einmal klarstellen. Das Volumen, mit dem
der deutsche Steuerzahler maximal haftet, wird durch
die Guidelines nicht erhöht, kann durch die Guidelines
auch nicht erhöht werden, weil die Leitlinien diese Möglichkeit nicht geben.
({2})
Sie wissen es doch ganz genau, dass über die Frage einer
Volumenerweiterung immer nur - das ist auch nach dem
Urteil des Verfassungsgerichts so - das Parlament entscheiden kann.
({3})
Deswegen sollten wir nach außen zumindest klarstellen: Was auch immer passiert, welcher Hebel oder welche Änderungen oder welche Optimierungen kommen,
eine Erhöhung des Risikos für den deutschen Steuerzahler - im Sinne eines höheren Volumens - wird es darüber
nicht geben.
({4})
Zu der Frage, die dann von Ihnen angedeutet worden
ist und die wir alle im Kopf haben: „Erhöht sich das Risiko, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit?“, sage ich Ihnen: Wenn Sie das wissen, sind Sie wahrscheinlich klüger als der Rest des Parlaments.
({5})
Dann wollen wir doch einfach einmal eine Sache festhalten. Das Problem, mit dem wir uns jetzt seit mehreren
Jahren beschäftigen, ist: Wie sorgen wir dafür, dass einerseits die Rettungspakete so groß sind, dass sie zur
Ruhe führen, aber andererseits auch so klar bedingt sind,
dass das Spiel der Neuverschuldung auf anderer Ebene,
in den Peripherieländern, nicht weitergeht?
Kollege Fricke, darf die Kollegin Hendricks eine
Zwischenbemerkung machen?
Ich würde diese Ausführung gern erst beenden. Danach gern.
Wenn der Schirm ohne die Maßnahmen Dritter zu
klein ist, dann würde er am Ende nichts nützen. Wenn er
groß genug wird, indem wir andere dazu bringen, in Risiken zu gehen, dann brauchen wir am Ende überhaupt
nichts zu zahlen. Daher ist die Frage, wie sich dieses Risiko auswirkt, von Ihnen und von uns auch nicht zu beantworten.
Am Ende wird es eine einzige Frage geben: Sind wir
durch die Verhandlungen, die die Bundesregierung führt,
in der Lage, den Ländern, die eine andere Finanzmentalität als die Deutschen, die Niederländer oder die Finnen
haben, klarzumachen, dass es so nicht weitergeht? Denn
eines möchte diese Koalition nicht: dass wir im Falle einer Krise so reagieren, wie es Rot-Grün damals getan
hat. Sie haben nämlich gesagt: Wir weichen die Regeln
einfach auf. Dann sind wir alle wieder glücklich. - Das
ist der Kampf, den diese Koalition und diese Regierung
gegenwärtig in Europa führen. Wir brauchen dafür Ihre
Unterstützung und keine falschen Aussagen.
({0})
Bitte sehr, Frau Hendricks.
Herr Kollege Fricke, ich stimme Ihnen darin zu, dass
das Risiko für die Bundesrepublik Deutschland durch
den aufgespannten Schirm auf 211 Milliarden Euro begrenzt ist. Stimmen Sie mir im Gegenzug zu und räumen
dies auch vor der Öffentlichkeit ein, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos innerhalb der 211 Milliarden Euro durch eine wie auch immer geartete Hebelung erhöht wird?
({0})
Frau Kollegin, ich habe eben bereits versucht, dies
darzustellen. Es gibt viele Möglichkeiten. Wenn der
Schirm die richtige Größe hat - in diesem Punkt würden
Sie mir wieder zustimmen -,
({0})
dann können wir dafür sorgen, dass im Falle der Insolvenz eines Mitgliedstaates eine Beruhigung auf den
Märkten eintritt und es nicht zu Verlusten kommt; ich
denke, darin sind wir uns beide einig. Wenn der Schirm
aber zu klein ist, dann kommt es zu einem Vollverlust.
Von daher kann man nicht sagen, dass sich das Risiko erhöht oder verändert. Wir versuchen, mithilfe einer Maßnahme gerade zu erreichen, dass sich das Risiko nicht
verwirklicht.
({1})
- Ja, ich weiß. Komplexe Antworten sind unangenehm.
Das ist an dieser Stelle einfach so.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle eines festhalten: Warum
debattieren wir hier heute eigentlich? Wir debattieren
deswegen, weil wir ein Gesetz beschlossen haben, dem
die Grünen und die SPD zugestimmt haben, in dem wir
gesagt haben: Wir übernehmen eine Verantwortung, die
dem Parlament in keinem anderen Land zugebilligt wird.
Wir als Koalition - nicht die Opposition - haben eine
Parlamentsbeteiligung durchgesetzt, Herr Kollege Trittin.
({3})
- Herr Kollege Trittin, Sie erklären das dem Kollegen
Oppermann jetzt wahrscheinlich noch einmal; das ist
auch nicht schlecht. - Diese Parlamentsbeteiligung sorgt
dafür - das ist das Wichtige -, dass wir die Sachen im
Detail besprechen. Wenn es um das Volumen, also den
Haushalt selber, geht, ist das Sache des Parlaments.
Wenn es um technische Vorgänge geht, ist das Sache des
Ausschusses.
Der Frau Kollegin Hinz möchte ich sagen: Was wollen wir heute im Haushaltsausschuss machen? Wir wollen die von Ihnen zu Recht gestellten Fragen beantworten. Die Regierung muss eine entsprechende Vorlage
machen. Ich bin mir sicher, dass der gegenwärtig im
Sonnenlicht sitzende Parlamentarische Staatssekretär
Kampeter diese strahlend präsentieren wird.
Herr Kollege Oppermann, ich möchte noch Folgendes
festhalten: Jede Veränderung der Leitlinien muss durch
den Haushaltsausschuss. Das gilt nicht nur für den Beschluss der Basis, sondern auch für den Beschluss einer
eventuellen Erweiterung oder einer eventuellen Veränderung. Das werden wir in den nächsten Jahren wiederholt
machen müssen. Das ist das Wasserdichte dabei. Wir
sorgen dafür, dass das Parlament in jedem Fall auf der
jeweils zuständigen Ebene einbezogen wird.
In Richtung der SPD möchte ich noch sagen: Was ist
Ihr eigentliches Ziel? Darüber redet hier keiner gerne.
Sie möchten weitere Abstimmungen. Ich bin mir sicher,
dass Sie für die nächste Woche am liebsten auch schon
wieder eine namentliche Abstimmung haben wollen, obwohl es darum gar nicht geht.
({4})
- Dann sind wir uns einig, Herr Oppermann. Danke, es
ist gut, dass wir das festhalten. Wir brauchen keine namentliche Abstimmung. Wir brauchen auch keine Kanzlermehrheit.
({5})
Das alles ist in der nächsten Woche nicht notwendig. Ich
finde es sehr gut, dass Sie dem zustimmen. Das können
wir ja schon einmal festhalten.
({6})
Herr Kollege Oppermann, ich möchte einmal das
wahre Verhalten der SPD aufzeigen. Voraussetzung für
ein Handeln des Parlaments wäre das Neuner-Gremium
gewesen. Was aber hat die SPD gemacht? Sie sagt: Nein,
in Bezug auf das Neuner-Gremium können wir diese
Woche leider nicht entscheiden. Wir wissen zwar schon
seit drei Wochen, dass wir das wählen müssen, aber wir
können noch nicht entscheiden.
({7})
Die ehrliche Beantwortung der Frage ist doch: Sie
versuchen, hier zu verzögern; Sie versuchen, Politik zu
machen. Sie vergessen dabei leider Europa.
({8})
Das wird diese Koalition eben nicht tun.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die Fraktion Die Linke redet jetzt der Kollege
Roland Claus.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Barthle, Ihre erkenntnisreiche Aufklärung über
die Geheimnisse der Atemtechnik veranlasst mich zu der
schlichten Bemerkung: Bei dieser Koalition ist einfach
die Luft raus.
({0})
Die Beratung des Antrags der Bündnisgrünen - das
gehört auch zur Wahrheit - sollte ja zunächst verhindert
werden. Dabei muss hier daran erinnert werden, dass
sich die Grünen auf eine Regierungserklärung verlassen
haben und dachten: Dazu können wir einen Vorschlag
machen. Eine angesetzte Regierungserklärung - so
könnte man ja annehmen - ist sicher wie eine Staatsanleihe. - Dabei sind die Grünen reingefallen. Man darf
auch nicht ausblenden, dass sie diesem Gesetz zur neoliberalen Version der Euro-Rettung zugestimmt haben.
Ausgetrickste reagieren bekanntlich empfindlich.
Worum geht es hier? Wichtige Entscheidungen für die
Europäische Union stehen an. In Griechenland eskaliert
die Gewalt. Von heute bis Sonntag tagen die EU-Regierungen nahezu permanent. Das Parlament erwartet Klarstellung. Dafür taugt eine Regierungserklärung. Die
bleibt hier aus. Warum? Deutschland und Frankreich
können sich nicht einigen, in welches Kasino sie gehen
wollen. Denn - um das einmal so deutlich zu sagen „Hebel“ heißt doch nichts anderes als: Mach aus 1 Euro
3 Euro durch Beteiligung am spekulativen Finanzmarkt!
Frankreich will den Hebel durch eine Banklösung,
Deutschland durch eine Versicherungslösung.
Die Frage ist also, weshalb hier eine Regierungserklärung ausbleibt. Zocken wir so oder so? Da kann man
doch nur sagen: Wo leben wir denn? Das kann ein Parlament doch nicht hinnehmen!
({1})
Weil Deutschland und Frankreich sich nicht einigen können, welches Kasino besser ist, wird hier einfach entschieden, dass Volk und Parlament nicht informiert werden. Das ist nicht akzeptabel.
Nun sagt die CDU/CSU ebenso wie die FDP: Die Risikosumme bleibt gleich. Das mag ja stimmen. Es macht
aber verdammt noch mal einen Unterschied, ob ich das
Geld solide anlege oder ob ich es auf den spekulativen
Märkten anlege und den gleichen Weg gehe, der vor
2008 in den USA beschritten worden war, was dann völlig schiefgegangen ist. Das muss man Ihnen einmal so
deutlich sagen.
({2})
Die Linke wird dem Antrag der Bündnisgrünen zustimmen. Allerdings hätten wir etwas mehr Demut oder
wenigstens Selbstkritik erwartet. Liebe Bündnisgrüne,
man kann nicht mit der CDU in einem Boot auf hohe
See gehen und dann zugleich die Piraten geben wollen.
Das glaubt euch doch keiner.
({3})
Wenn man dann denkt, der Gipfel der Verwirrung sei
erklommen, dann hat man die FDP unterschätzt, die in
einer solchen Situation - sekundiert vom Bundesfinanzminister - doch ernsthaft Steuersenkungen einfordert.
Eine völlig verantwortungslose Politik, meine Damen
und Herren!
({4})
So kann es hier nicht weitergehen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Oppermann wie der Kollege Trittin
haben eingangs ihrer Reden davon gesprochen, dass wir
uns in einer ernsten Situation befinden würden. Umso
weniger habe ich dafür Verständnis, dass Sie einen
Popanz aufbauen, eine Vortäuschung falscher Tatsachen
vornehmen, um hier eine Scheindebatte loszutreten.
({0})
Ich denke, wir alle sollten uns so weit ernst nehmen,
dass wir unserer Verantwortung in dieser Situation gerecht werden wollen. Deswegen haben wir vor wenigen
Wochen das Gesetz beschlossen, das die Parlamentsrechte deutlich stärkt. Wir wollen diese Verantwortung
ernst nehmen. Das würde doch niemand abstreiten wollen.
Gestern - das war im Haushaltsausschuss schon zu
merken - hat man immer wieder versucht, künstlich etwas in die sogenannten Leitlinien hineinzuinterpretieren,
was darin nicht enthalten ist. Insofern müssen wir wieder
auf den Boden der Tatsachen zurückkehren.
Der Bundesfinanzminister hat gestern im Haushaltsausschuss ausdrücklich erklärt, dass über die Frage, wie
die Wirksamkeit der Instrumente erhöht werden kann,
weiter verhandelt werden muss und dass er danach entsprechend dem Gesetz, das wir verabschiedet haben,
selbstverständlich erneut auf das Parlament zukommen
wird; nichts anderes hat Schäuble gestern im Haushaltsausschuss gesagt und in Aussicht gestellt. Es versteht
sich von selbst, dass die Bundesregierung gesetzestreu
ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist doch
nicht verboten, darüber nachzudenken, wie man einen
vereinbarten Gewährleistungsrahmen so nutzen kann,
dass er die höchstmögliche Effizienz erhält; es ist aus
meiner Sicht sogar die Aufgabe, darüber nachzudenken.
Die Erhöhung der Effizienz, die Verbesserung der Wirksamkeit, hat noch lange nichts mit dem zu tun, was man
klassischerweise als Hebel oder, wie es im Englischen
heißt, als Leveraging bezeichnet.
({1})
Die Situation würde sich verändern - da kann ich die
Frage von Frau Hendricks durchaus verstehen -, wenn
eine Haftungskaskade eingeführt würde. In diesem Falle
müsste der Vorgang von uns im Parlament sicherlich neu
bewertet werden. Ich denke, auch darüber gibt es keinen
Dissens.
Ich will auf den Beitrag des Kollegen Oppermann zurückkommen. Herr Oppermann, Sie haben sich in zwei
Sätzen dreimal widersprochen: Sie haben in Richtung
der Bundeskanzlerin gesagt, sie habe alle Zeit der Welt
gehabt. Einige Sätze später haben Sie gesagt: „inmitten
der größten Schuldenkrise, inmitten der größten europäischen Krise“.
({2})
Irgendwie passt das nicht zusammen.
({3})
Wenn wir eine krisenhafte Situation haben, dann muss
sehr schnell krisenorientiert und sachgerecht gehandelt
werden.
({4})
Wenn wir wollen, dass die deutschen Positionen
durchgesetzt werden - da haben Sie sich von dem, was
eigentlich gute Parlamentstradition ist, verabschiedet -,
dann können Sie hier nicht erklären, Sie entzögen der
Bundesregierung sozusagen das Vertrauen. Wenn wir
wollen, dass die deutschen Positionen, über die wir uns
weitestgehend einig sind, durchgesetzt werden, dann
müssen wir, wie es Kollege Barthle und Kollege Fricke
schon gesagt haben, der Bundesregierung den Rücken
stärken, in unserem ureigenen Interesse.
({5})
Natürlich nehmen wir unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte sehr ernst; wir haben sehr viele Entscheidungen ins Parlament zurückgeholt. Auf der anderen Seite stärken wir der Regierung nicht den Rücken,
wenn wir nicht auch ein Mindestmaß an Vertrauen ge15900
genüber denjenigen aufbringen, die für uns auf der politischen Bühne in Brüssel und anderswo verhandeln.
Herzlichen Dank.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier ist viel
von „Vertrauen“ die Rede gewesen. Es ist richtig: Es
geht nicht nur um das Vertrauen des Parlaments in die
Regierung und ihre Aussagen, sondern auch um Vertrauen darauf, dass die Handlungen der Regierung in
Europa zu einem Ziel führen, durchdacht sind und gemeinschaftlich angegangen werden. Sehr geehrte Frau
Bundeskanzlerin, dieses Vertrauen kann man nach der
am gestrigen Nachmittag erfolgten Absage der Regierungserklärung nicht mehr haben.
({0})
Kollege Barthle und Kollege Kalb, Sie erwarten von
uns, der Opposition, dass wir der Bundesregierung, die
den Namen nicht wirklich verdient, den Rücken stärken,
obwohl Sie selbst ihr permanent in den Rücken fallen.
Das ist nicht wirklich Aufgabe der Opposition.
({1})
Wir haben gesagt: Wir stehen hier für ein wehrhaftes
Europa. Wir haben dem Euro-Rettungsfonds trotz dieser
Regierung zugestimmt, aber gesagt: Es muss klar sein,
worüber wir abstimmen. Ich habe, wie der Kollege
Schick, im Haushaltsausschuss und hier im Plenum an
Herrn Schäuble die Fragen gerichtet: Gibt es eine Hebelung oder nicht? Denken Sie darüber nach, die Mittel zu
hebeln? - Eine Hebelung bedeutet nicht, die Mittel nur
zu effektivieren; das ist ein Euphemismus. Letztendlich
bedeutet eine Hebelung, dass man, wie es der Kollege
Claus gesagt hat, wieder ins Kasino geht. Denn eine
CDO ist nichts anderes als eines dieser Produkte, die wie
Massenvernichtungswaffen wirken. Da haben Sie, Herr
Brüderle, gesagt: Auf gar keinen Fall! - Sie haben es geleugnet. Der Bundestag, die Öffentlichkeit und die Kollegen hatten den Eindruck, das alles gebe es gar nicht.
Währenddessen ist auf der IWF-Jahrestagung insgeheim
darüber verhandelt worden. Das ist der eigentliche Skandal, meine Damen und Herren!
({2})
Die Frage ist doch: Reicht das Volumen von insgesamt 440 Milliarden Euro aus, um überzeugende Signale
an die Finanzmärkte zu geben? Die klare Antwort lautet:
So, wie es ist, nein. - Das haben wir schon von Anfang
an gesagt. Sie haben doch nur, damit Sie noch halbwegs
eine Mehrheit in dieser Stümperkoalition zusammenbekommen, nichts mehr gesagt.
({3})
Sie haben das durch den Bundestag gepeitscht, ohne darauf einzugehen, dass Sie schon über eine Hebelung,
über eine Risikoausweitung der deutschen Haftung verhandelt haben. Es darf nicht sein, dass diese Diskussion
nur im Haushaltsausschuss unter „ferner liefen“, fernab
der Öffentlichkeit, geführt wird, sondern es muss so
sein, dass die entsprechenden Entscheidungen hier im
Bundestag getroffen werden.
({4})
Es ist vollkommen klar, dass, wenn Sie ein Volumen
in fünffacher Höhe der Fondsmittel generieren wollen,
damit auch ein höheres Risiko einhergeht. Das wird Ihnen auch jeder Ökonom sagen. Ich würde gerne das eine
oder andere Instrument bewerten, aber uns liegt dazu bis
heute noch nichts vor. Das ist der wahre Skandal. Bis
heute hat Herr Schäuble nichts weiter dazu gesagt, als
dass es Verhandlungen gibt. Das ist nicht akzeptabel.
Das ist nicht überzeugend und führt zu weiterer Verunsicherung.
Für uns stellt sich jetzt die Frage: Stimmen wir den
Richtlinien in der Fassung, wie sie uns seit gestern Mittag auf Deutsch vorliegen, heute in einer noch schnell
einberufenen Sitzung zu? Die neuen Richtlinien liegen
mir bislang nicht vor. Angeblich sollen sie noch kommen. Bei dem, was wir gestern bekommen haben, handelte es sich nur um einen Entwurf des Entwurfs.
({5})
Nun zu den Repo-Geschäften. Man wird gegenüber
dieser Regierung bösgläubig. Man wird auch, wenn man
all das sieht, gegenüber der EZB bösgläubig.
({6})
Warum kann die EZB Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt kaufen? Weil es in den Verträgen nicht ausdrücklich verboten wurde. Deswegen schauen wir uns ganz
genau an, was in diesen Richtlinien steht. Jetzt kann das
Finanzministerium hundertmal sagen, man wolle nur für
Liquiditätsgeschäfte zusätzliche Ausleihungen ermöglichen. Rechtlich verboten ist es allerdings nicht, auch in
anderen Fällen zu hebeln. Das ist der entscheidende
Punkt.
({7})
So wie Sie hier die ganze Zeit das Parlament, die Öffentlichkeit und die eigene Koalition an der Nase herumführen, tun Sie es auch in diesem Punkt. Deswegen sagen wir: Nur wenn das klargestellt ist, nur wenn der
Bundestag darüber entscheidet und abstimmt, nur dann
ist es möglich, die Tragweite wirklich zu begreifen und
auch die Öffentlichkeit angesichts all dieser MilliardenCarsten Schneider ({8})
summen halbwegs aufzuklären und mitzunehmen. Das
ist ja sowieso schon schwer genug. Dieses Signal muss
also vom Bundestag ausgehen. Deswegen stimmen wir
dem Antrag der Grünen zu.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7410
mit dem Titel „Plenarbefassung gemäß des Gesetzes zur
Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines
europäischen Stabilisierungsmechanismus“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koali-
tion abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 28 a und b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan Nanotechnologie 2015
- Drucksache 17/4485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Hahn, Albert Rupprecht ({1}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
({2}), Dr. Lutz Knopek, Dr. Peter Röhlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aktionsplan Nanotechnologie 2015 gezielt weiterentwickeln
- Drucksache 17/7184 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt eine Stunde
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich darf diejenigen, die an dieser Debatte nicht mehr
teilnehmen können oder wollen, bitten, entweder den
Plenarsaal zu verlassen oder auf andere Weise für eine
geordnete Debatte Sorge zu tragen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas
Rachel.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Deutschland steht ohne
Zweifel vor großen Herausforderungen. Uns fordert der
Klimawandel. Wir haben die Energiewende eingeläutet,
und wir spüren die ersten Auswirkungen der demografischen Entwicklung. Es ist die Nanotechnologie, die hier
wie kaum eine andere Technologie Chancen bietet.
Ich nenne Energieversorgung und Ressourcenschonung als Beispiele. Moderne Gebäudetechnik, zum Beispiel Dämmstoffe oder energiesparende Beleuchtungstechnologien, ist ohne nanotechnologische Materialien
nicht denkbar. Auch die Verfügbarkeit seltener Rohstoffe
ist ein großes Problem. Auch wenn in diesem Bereich
noch viel Forschungsbedarf besteht, so ermöglichen Nanomaterialien zukünftig die Nutzung von Einsparpotenzialen und werden ein Ersatz für seltene Rohstoffe sein.
Das Besondere und Spannende bei Nanomaterialien
ist, dass ein Material in dieser kleinsten Dimension eine
neue Eigenschaft und eine neue Funktionalität gewinnt.
Wir wollen die technologischen Innovationen nutzen
und damit zur Standortsicherung in Deutschland beitragen. Deshalb ist die Nanotechnologie ein wichtiger Bestandteil der Hightech-Strategie der Bundesregierung.
({0})
Wir können die Chancen, die uns die Nanotechnologie bietet, allerdings nur dann verantwortlich nutzen,
wenn die Anwendung der Nanotechnologie sicher ist,
sodass keine negativen Auswirkungen für die Gesundheit der Menschen oder die Umwelt entstehen können.
Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung den „Aktionsplan Nanotechnologie 2015“ beschlossen, der sechs
Aktionsfelder umfasst.
Erstens. Wir wollen die Forschung und den Technologietransfer fördern. Wir müssen die Lösung der globalen
Herausforderungen angehen. Ohne Zweifel kann die Nanotechnologie wesentlich zur CO2-Einsparung beitragen. Im Bereich der diagnostischen und therapeutischen
Ansätze in der Medizin oder im Bereich der Elektromobilität werden wir nur mithilfe von Nanotechnologie
weiterkommen. Deshalb hat die Bundesregierung im
vergangenen Jahr die Nanotechnologie mit 400 Millionen Euro im Rahmen von Projekten und institutionell
unterstützt. Dies entspricht einem Anstieg von mehr als
50 Prozent gegenüber den Ausgaben im Jahr 2006.
({1})
Zweitens. Wir möchten die Wettbewerbsfähigkeit des
Standorts Deutschland sichern. In Deutschland sind bereits über 960 Unternehmen mit der Nanotechnologie
beschäftigt. 63 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben hier ihre berufliche Grundlage. 75 Prozent
dieser Unternehmen sind kleine oder mittlere Unterneh15902
men. Sie haben wir fest im Blick. Die meisten von ihnen
sind jung. Der größte Teil, zwei Drittel, wurde erst nach
1990 gegründet. Weil das so ist, haben wir mit dem Förderprogramm „KMU-innovativ“ ein Flaggschiff aufgebaut, um die kleinen und kleinsten Unternehmen besonders zu fördern.
Drittens: internationale Kooperation. 90 Prozent des
Wissens weltweit entstehen nicht in Deutschland. Es
muss unser Ziel sein, dass wir am entstehenden Wissen
teilhaben. Umgekehrt muss Deutschland sein Wissen zur
Verfügung stellen, wenn es beispielsweise darum geht,
die Ergebnisse zu den Auswirkungen von Nanomaterialien auf Mensch und Umwelt auf internationaler Ebene
zusammenzufassen. Im Rahmen der OECD liefert
Deutschland deshalb konkrete Daten über industriell
gefertigte Nanomaterialien wie Nanosilber und Titandioxid.
Viertens: Risiken der Nanotechnologie erforschen.
Natürlich bewegen uns die Themen Gesundheitsschutz,
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ganz unmittelbar. Zumindest eine Antwort hat uns die Forschung in der Vergangenheit schon gegeben: Nano per se
ist kein Hinweis auf ein Risiko. Nein, es müssen stets die
chemische Zusammensetzung, die Struktur und die Konzentration eines Stoffes berücksichtigt werden. Erst dann
kommen wir zu klaren Aussagen. Wir werden deshalb
die Forschungen zu Auswirkungen auf die Menschen
und die Umwelt sowie zum Arbeitsschutz fortsetzen;
„Nanosilber“ und „Kohlenstoffnanoröhrchen“ nenne ich
hier als Stichworte. Wir werden dies nicht nur unter
technologischen Gesichtspunkten tun, sondern auch unter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten. Um eine
Zahl zu nennen: Die Mittel für die Risiko- und die Begleitforschung belaufen sich derzeit auf 14 Millionen
Euro im Jahr. Gegenüber dem Jahr 2006 ist dies ein Anstieg von über 60 Prozent seit dem Amtsantritt von Bundesforschungsministerin Annette Schavan.
({2})
Fünftens: Kommunikation intensivieren und Dialog
führen. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir mit
den Bürgerinnen und Bürgern über die Chancen, die Risiken und Fragen zur Nanotechnologie sprechen und diskutieren. Wir haben dazu verschiedene Foren, beispielsweise nanoTruck als ein wichtiges Instrument mit neuem
Gesicht, eingerichtet, um die Menschen anzusprechen.
Mit NanoNature und NanoCare stellen wir uns der Diskussion.
Sechstens. Wir möchten die Rahmenbedingungen
verbessern und weiterentwickeln. Ein wichtiges Stichwort ist in diesem Zusammenhang das Thema Regulierung, das, wie Sie wissen, weitgehend auf europäischer
Ebene, was auch Sinn macht, diskutiert wird.
({3})
In diesen Tagen hat die EU-Kommission erstmalig
- das war dringend notwendig - eine Definition für Nanomaterialien vorgelegt. Grundlage ist die Größe der
konstituierenden Partikel von 1 bis 100 Nanometer. Diese
Definition, die uns endlich ein gemeinsames Verständnis
in Europa gibt, schließt natürliche und künstliche Materialien ein. Diese Definition ist eine wichtige Grundlage,
die es uns ermöglicht, die Regelwerke anzupassen und
zum Beispiel die Chemikalienrichtlinie zu überarbeiten.
In diesem Zusammenhang wird immer wieder über
Produktregister und eine generelle Kennzeichnungspflicht gesprochen. Wenn wir über ein übergreifendes
Produktregister sprechen, sollten wir uns vor Augen führen, dass es bereits eine Vielzahl von sektorspezifischen
Registrierungs- und Zulassungspflichten gibt, und zwar
für Chemikalien, Lebensmittelzusatzstoffe, Lebensmittelkontaktmaterialien, Kosmetika, Biozidprodukte und
Pflanzenschutzmittel, um nur einige zu nennen. Natürlich fallen die Nanomaterialien und entsprechende Produkte unter diese spezifischen Regelungen.
Der Aktionsplan der Bundesregierung zielt darauf,
sektorspezifische Regelungen zu prüfen und dort, wo die
Eigenschaften von Nanomaterialien und -produkten
nicht ausreichend berücksichtigt werden, auf europäischer Ebene an notwendigen Anpassungen mitzuarbeiten. Mancher fragt sich: Macht es Sinn, alle Nanoprodukte zu kennzeichnen? Die entscheidende Frage lautet:
Was leistet eigentlich eine solche Kennzeichnung? Im
Einzelfall und bezogen auf die jeweiligen spezifischen
Produktklassen kann eine solche Kennzeichnung sachgerecht sein. Ich möchte Kosmetika als Beispiel nennen.
Die besondere Relevanz von Kosmetika für uns Verbraucherinnen und Verbraucher liegt auf der Hand. Hier
macht eine sektorspezifische Kennzeichnung ohne
Zweifel Sinn. Aber welchen Sinn macht es eigentlich,
wenn auf einem Laptop wegen der Elektronik „Nano“
steht oder wenn auf einem Brillenglas wegen der Beschichtung „Nano“ vermerkt ist? Nein, Nano an sich ist
weder eine Qualitätsaussage noch ein geeigneter Warnhinweis. Daher ist die Position der Bundesregierung, die
auch in den Aktionsplan Eingang gefunden hat: die
Kennzeichnung nach Produktklassen prüfen und im
Lichte neuer Erkenntnisse gegebenenfalls auf europäischer Ebene handeln. - Das ist ein vernünftiges und
sachgerechtes Vorgehen.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie sehen daran: Mit dem
Aktionsplan zur Nanotechnologie sind wir breit aufgestellt. Wir wollen die verschiedenen Facetten der Nanotechnologie berücksichtigen, von der Forschungsförderung über die Frage der wirtschaftlichen Verwertung in
den Betrieben, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer
kleinen und mittelständischen Unternehmen zu erhöhen
und um Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu sichern, bis hin zu Risikobetrachtung und Kommunikation
mit der Bürgerschaft.
In diesem Sinn wollen wir die Potenziale der Nanotechnologie nutzen, und zwar auf verantwortliche und sichere Weise. Dafür investieren wir in Forschung und
Entwicklung und haben die Mittel seit 2001 verdoppelt.
Es ist unser Ziel, die Nanotechnologie für und in
Deutschland zu einem Erfolg zu machen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich gebe zu: Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die Bundeskanzlerin einmal eine Regierungserklärung absagt, damit ich zu Nanotechnologie reden
kann.
({0})
Das könnte man fast lustig finden, wenn das Ganze nicht
so traurig wäre. Es zeugt von der dramatischen Situation,
in der sich die Regierung befindet, dass das nötig wurde.
({1})
Herr Hinsken, die Geschäftsordnung verlangt, dass
wir jetzt nicht über die große Finanzproblematik reden,
sondern über die kleinsten Teile, mit denen wir umgehen, über Nanotechnologie und den Aktionsplan der
Bundesregierung. Das wollen wir dann auch tun.
Der Bundestag war in den letzten Tagen Ausrichter
und Gastgeber einer Konferenz der Büros für Technikfolgenabschätzung in Europa. Einige von uns waren dabei. Ein geladener Gast aus dem österreichischen
Umweltministerium hat im Zusammenhang mit Nanotechnologie gesagt, dass ein Aktionsplan einer Regierung sinnvoll sei, weil er eine Positionsbestimmung für
diejenigen sei, die sich mit dem Thema befassen. Das ist
richtig. Deswegen begrüßen wir, dass der Aktionsplan
der Bundesregierung vorgelegt worden ist.
Die Erstellung des Berichts war eine Fleißarbeit; das
ist schon angeklungen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des BMBF sind durch die Labore gegangen und haben
sich Anträge und Projekte angeschaut. Sie haben zusammenfassend aufgeführt, was alles mit Nanotechnologie
möglich ist, welches Potenzial sie bietet, was geleistet
werden kann: von der beweglichen Solarzelle über die
„Bewältigung potenzieller Folgen bei Großunfällen“ bis
zur „intelligenten Straße“. Nebenbei: Mir sind intelligente Autofahrer immer noch lieber. Diese Aufstellung
zeigt aber in der Tat das große Spektrum und die Chancen auf, die die Nanotechnologie bietet. An der einen
oder anderen Stelle wurde vielleicht ein bisschen zu viel
unter Nanotechnologie eingeordnet, aber das sei verziehen. Das ist eine ausreichende und, wie ich finde, gute
Bilanz.
Erlauben Sie mir eine Bemerkung, weil in den politischen Debatten mitunter der Eindruck entsteht, als sei
die Politik für diese tollen Forschungsprojekte, diese
Ideen und Erfindungen verantwortlich. Das ist nicht der
Fall. Man muss ganz klar sagen: Die Beispiele, die in
solchen Berichten genannt werden, sind das Ergebnis
der Arbeit der Forscherinnen und Forscher. An dieser
Stelle ist es angebracht, die große Leistung der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu loben
und anzuerkennen.
({2})
Sie werden mir nachsehen, dass ich an diesem Aktionsplan nicht viel zu mäkeln habe. Das ist einfach so.
({3})
Ich finde, darin steht viel Richtiges. Auch die aufgezeigten Wege sind sicherlich richtig. Da gibt es wenig zu mäkeln. Wenn man den Aktionsplan unter dem Gesichtspunkt
einer Positionsbeschreibung, wie der österreichische
Wissenschaftler das formuliert hat, bewertet, dann stellt
man allerdings fest, dass ein paar Fragen offenbleiben.
Zur Kennzeichnung haben wir bereits einiges gehört. Den
Bereich Produktregister zum Beispiel finde ich durchaus
ausbaufähig.
Der Aktionsplan, über den wir heute beraten, ist ein
paar Monate alt. Er ist Anfang des Jahres veröffentlicht
worden. Ich finde es spannend, dass wir in diesem Zusammenhang auch über einen Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Aktionsplan Nanotechnologie
2015 gezielt weiterentwickeln“ beraten. Ich habe gedacht, wenn es einen Antrag gibt, mit dem das Ziel verfolgt wird, den Aktionsplan der Bundesregierung weiterzuentwickeln, dann enthält er vielleicht Antworten auf
die offenen Fragen im Aktionsplan, oder wir finden darin etwas Neues. Erstaunlicherweise finde ich in diesem
Antrag überhaupt nichts Neues, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Das ist eine Verbeugung vor der Regierung; mit dieser Feststellung können Sie umgehen. Das ist eine Inhaltsangabe des „Aktionsplans Nanotechnologie 2015“. Ich habe gehofft,
dass Sie wenigstens eine Schwerpunktsetzung vornehmen, aber nicht einmal das ist der Fall. Diesen umfangreichen Antrag hätten Sie sich sparen können; denn er
gibt nur das wieder, was bereits im Aktionsplan steht.
Ich möchte die längere Redezeit, die mir zur Verfügung steht, weil die Debattenzeit verlängert wurde, nutzen, um ein paar Ihrer revolutionären Forderungen, die
Sie in Ihrem Antrag mutig an die Regierung richten, aufzugreifen:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Stärkung der Nanotechnologie im
Rahmen des nationalen Aktionsplans … weiter voranzutreiben.
Alle Achtung! Die Bundesregierung hat jetzt also den
Auftrag, ihren Plan weiter voranzutreiben. Die Bundesregierung wird weiter aufgefordert, eine „geeignete Definition des Begriffs Nanotechnologie zu erreichen“. Das ist
ein wichtiger Punkt. Dies wurde aber schon längst gefordert. Sie, Herr Staatsekretär, haben deutlich gemacht, dass
die Europäische Kommission bereits eine Definition des
Begriffs „Nanotechnologie“ vorgelegt hat. Interessanterweise haben aber gestern diejenigen, die sich mit Technikfolgenabschätzung befassen, deutlich gemacht - dies
entspricht nicht Ihrer Einschätzung -, dass die von der
Kommission vorgelegte Definition für mehr Verwirrung
als für Klarheit sorgt.
Sie fordern die Bundesregierung des Weiteren auf
- das ist sehr mutig -, die „gezielte KMU-Förderung im
Bereich Nanotechnologie fortzusetzen und weiter zu
stärken“. Ich habe im Aktionsplan nicht gelesen, dass die
KMU-Förderung beendet werden soll. Warum fordern
Sie dann in Ihrem Antrag ihre Fortsetzung? Ich gehe davon aus, dass wir gleich noch etwas dazu hören werden.
Im Antrag wird die Bundesregierung ebenfalls aufgefordert, „Ressourcen für die Risikoforschung bereitzustellen“. Das finde ich gut, aber auch das ist im Aktionsplan enthalten.
An einer Stelle habe ich tatsächlich etwas Neues entdeckt, das Sie leider nicht weiter ausführen. Sie weisen
ausdrücklich darauf hin, dass die Fördermittel ausreichend sein müssen, „um die derzeit offenen Felder Umweltverhalten, Lebenszyklusanalysen und Langzeituntersuchungen abzudecken“. Einverstanden, das ist ein
wichtiger Punkt und im Vergleich zum Aktionsplan etwas Neues. Aber das ist nur ein Punkt Ihres sieben Seiten umfassenden Antrags.
Sie haben die Chance verpasst, sich zu positionieren.
Sie geben wieder, was der „Aktionsplan Nanotechnologie 2015“ schon enthält. Ihr Antrag ist eigentlich überflüssig. Ich bin gespannt, wie uns der Vertreter der Koalitionsfraktionen gleich erklären wird, warum dieser
Antrag nötig ist und uns in der Debatte weiterbringt.
Ich möchte eine Stelle aus dem Antrag zitieren, die
ich ausdrücklich gut finde, weil sie zeigt, dass wir in der
Diskussion insgesamt weitergekommen sind. Auf Seite 3
heißt es:
Es kann festgestellt werden, dass Deutschland hinsichtlich Forschungs- und Innovationsförderung,
Begleitforschung und vielfältiger Dialogaktivitäten
unter Einbeziehung aller Vertreter aus Gesellschaft,
Wirtschaft und Wissenschaft schon heute eine weltweit führende Rolle bei der Entwicklung der Nanotechnologie als sicherer und nachhaltiger Zukunftstechnologie einnimmt.
Das stimmt; dies ist ausdrücklich zu unterstützen. Aber,
liebe Koalitionskollegen, dies ist leider nicht Ihr Verdienst. Es ist richtig, dass die Nanotechnologie zu Beginn
der 90er-Jahre, also auch unter ihrer damaligen Regierungskoalition, gefördert worden ist. Aber die Diskussion über wichtige Themen wie Sicherheit, Akzeptanz
und Transparenz wurde nicht von Ihnen vorangetrieben.
Wenn ich mich nicht falsch erinnere, waren es im Wesentlichen die Kollegen Ulla Burchardt und Hans-Josef
Fell,
({4})
die damals darauf gedrängt haben, dass wir die Diskussion über die Chancen und die Risiken der Nanotechnologie führen. Das hat dazu geführt, dass das Büro für
Technikfolgenabschätzung schon im Jahre 2003 einen
ausführlichen Bericht dazu verfasst hat. In der Nachfolge haben wir dazu Veranstaltungen durchgeführt, um
zu zeigen, dass diese Technologie große Chancen bietet,
dass man aber auch rechtzeitig auf mögliche Sicherheitsprobleme achten muss.
({5})
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Vorwurf, wir
seien technologiefeindlich und überbetonten die Risiken.
Ich freue mich, dass Sie dazugelernt haben und wir jetzt
gemeinsam die Chancen und die Risiken betrachten können. Das ist ein guter Weg.
({6})
Wenn Sie in den TAB-Bericht aus dem Jahr 2003 geschaut hätten, hätten Sie Punkte finden können, die Ihr
Antrag nicht enthält. Meine Damen und Herren von der
Unionsfraktion, Sie hätten besser recherchieren können.
Dass Sie das nicht getan haben, mag vielleicht daran liegen, dass nicht mehr allzu viele Ihrer damaligen Kollegen Mitglieder des Parlaments sind. Aber es ist erst zwei
Jahre her, dass die damalige Große Koalition einen Antrag zur Nanotechnologie mit dem Titel „Nanotechnologie - Gezielte Forschungsförderung für zukunftsträchtige Innovationen und Wachstumsfelder“ vorgelegt hat.
Diesen haben wir im Juli 2009 beschlossen. Es war ein
Antrag der Großen Koalition, den die SPD-Fraktion und
die Unionsfraktion - Herr Kretschmer, Sie waren dabei gemeinsam eingebracht haben. Lassen Sie mich ein paar
der damaligen Forderungen, die inzwischen Beschlusslage des Deutschen Bundestages sind, vortragen. Dort
steht zum Beispiel:
Dabei sollten auch gesellschaftliche Bedarfsfelder
wie die Nutzung der Nanotechnologie in den Bereichen sauberes Wasser und Energieeffizienz/Klimaschutz in die Technologieförderung einbezogen
werden …
Das steht auch im Aktionsplan. Diese Forderung unseres
gemeinsamen Antrags wurde erfüllt.
Vor rund zwei Jahren wurde auch gefordert, Start-upUnternehmen mit genügend Risikokapital auszustatten.
Dazu steht eine Menge im Aktionsplan; das können wir
auch abhaken. Des Weiteren wurde gefordert, „Chancen
und Risiken der Nanotechnologie noch stärker in der Gesellschaft zu kommunizieren“. Auch darauf wird im Aktionsplan eingegangen. Aber damals wurde auch gefordert - das hätten Sie als neuen Punkt in Ihren Antrag
aufnehmen können -, eine Informationsplattform zu
schaffen, die die Bürger über Vorschriften, Bestimmungen und Empfehlungen informiert und die laufend aktualisiert wird.
({7})
Das taucht zwar irgendwo im Aktionsplan auf, ist aber
noch immer nicht umgesetzt, obwohl zwei Jahre Zeit
war.
({8})
Eine weitere wichtige von uns damals erhobene Forderung, die bereits Beschlusslage des Deutschen Bundestages ist und aus meiner Sicht bisher von der Bundesregierung nicht erfüllt wurde und in Ihrem vorliegenden
Antrag nicht aufgegriffen wird, ist, „zu prüfen, wie eine
sachgerechte Entsorgung von synthetischen Nanomaterialien sichergestellt werden kann, ohne dass gefährliche
Nanopartikel in die Umwelt gelangen“. Das ist keine
Kleinigkeit, sondern ein zentraler Punkt.
({9})
Diese Partikel sind relativ unproblematisch, solange sie
an Oberflächen gebunden sind und nicht freigesetzt werden können. Wenn aber zum Beispiel ein beschichteter
Anorak einfach verbrannt wird oder auf andere Weise
nicht sachgerecht entsorgt wird, werden diese Partikel
möglicherweise freigesetzt und verursachen eventuell
Umweltprobleme oder gesundheitliche Schäden, wenn
sie in die Lunge gelangen. Unsere damalige Forderung
nach einer sachgerechten Entsorgung ist daher von zentraler Bedeutung und hätte von Ihnen in Ihrem Antrag
aufgegriffen werden müssen. Wir erwarten nach wie vor
von der Bundesregierung, in diesem Bereich aktiv zu
werden.
({10})
Wir haben damals zu Recht auch bessere Messverfahren und Messtechniken zur Identifizierung von Nanomaterialien in Wasser, Boden und Luft gefordert. Es lassen
sich entsprechende Passagen im Aktionsplan finden, aber
nicht in Ihrem Antrag. Die meisten von Ihnen kennen vermutlich die jüngsten Studien - zum Beispiel die der Universität Landau -, die zeigen, dass die bisher angewandten Standardverfahren offenbar nicht tragfähig sind.
Danach verhalten sich Wasserflöhe, die für 48 Stunden
mit Titandioxidnanopartikeln in Kontakt gebracht wurden, einigermaßen normal. Verdoppelt man aber die Standardzeit auf 96 Stunden, stirbt eine große Zahl der Tiere.
Allein durch die Veränderung des Beobachtungszeitraums kommt man zu anderen Ergebnissen. Das heißt,
wir müssen die Messverfahren entsprechend anpassen. In
der gestrigen Expertendiskussion wurde zu Recht darauf
hingewiesen, dass in vielen Bereichen der Nanotechnologie zwar kein Risiko besteht, wohl aber Unsicherheit
herrscht und dass sämtliche Testverfahren im Labor und
nicht in der Umwelt durchgeführt werden.
({11})
Das ist ein großes Manko. Wir erwarten, dass das geändert wird.
Herr Rachel, ein Punkt, den Sie als positives Beispiel
hervorgehoben haben, ist die Risikoforschung. Wir haben bereits 2009 eine solche Forschung gefordert. Ich erinnere mich noch gut an die damalige Diskussion und
die Auseinandersetzungen in der Großen Koalition. Wir
haben Sie immer getrieben und darauf aufmerksam gemacht, dass eine Begleit- und Risikoforschung dazugehört.
({12})
Wir haben es damals nach großen Kämpfen geschafft,
dass in unserem gemeinsamen Antrag gefordert wurde
- das fordert auch die NanoKommission -, mindestens
10 Prozent der Mittel für die Risikoforschung zur Verfügung zu stellen. Die 14 Millionen Euro, die Sie erwähnten, Herr Staatssekretär, machen gerade einmal 6,2 Prozent aus.
({13})
Das sind die Zahlen, die ich der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage meiner Fraktion zur Nanotechnologie entnehme. 6,2 Prozent für die Sicherheitsforschung sind deutlich zu wenig. Deshalb bleiben wir
bei unserer Forderung.
({14})
Der gesamte Verbraucherschutz ist in Ihrem Antrag
völlig unterbelichtet. Ich finde es schade, dass Sie Ihren
Antrag vor der Anhörung eingebracht haben. Am kommenden Montag gibt es im Verbraucherausschuss eine
Anhörung zu Nanoprodukten und ihren möglichen Auswirkungen im Umweltbereich. Es liegt bereits eine
Reihe kluger Fragen und Stellungnahmen vor. Wenn Sie
ein bisschen länger gewartet hätten, hätten Sie die Aussagen der Stellungnahmen berücksichtigen können und
vielleicht nicht einen so substanzlosen Antrag vorgelegt.
Ich verweise auf die Stellungnahme des ehemaligen Vorsitzenden der NanoKommission, die aus Vertretern der
Wissenschaft, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und
der Umweltverbände zusammengesetzt war. Diese haben sich ihre Empfehlungen sehr genau überlegt. Wenn
Sie diese berücksichtigt hätten, hätte das Ihrem Antrag
sehr gutgetan.
Wir werden weiterhin mit allem Optimismus, aber
auch mit der nötigen Kritik die Nanotechnologie und vor
allen Dingen Ihre Regierung begleiten.
Vielen Dank.
({15})
Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Dr. Martin Neumann das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Röspel, Sie haben völlig recht:
Es geht um ganz kleine Teilchen, aber um ganz wichtige
Teilchen. Wir stellen fest, dass Deutschland nach wie vor
die treibende Wirtschaftskraft im europäischen Wirtschaftsraum ist. Unser Land erwirtschaftet allein 27 Prozent des gesamten europäischen Bruttoinlandsprodukts.
Diese Leistungsfähigkeit - an dieser Stelle muss man
nach den Ursachen fragen - ist natürlich maßgeblich von
Dr. Martin Neumann ({0})
den Potenzialen unseres Forschungs- und Innovationssystems abhängig. Jenes Potenzial zu erhalten, zu aktivieren und zu stärken, gelingt nur, wenn es auf einem
funktionierenden - ich bezeichne es einmal so - Innovationsdreieck beruht, das aus Forschung, Wirtschaft und
Politik besteht. Ich zähle die Politik ganz bewusst dazu;
denn die entscheidenden Weichenstellungen im Innovationssystem werden von der Politik vorgenommen.
Allerdings - darüber sind wir uns im Klaren - kann
die Politik Innovationen nicht erzwingen. Der Staat kann
Entwicklungen lediglich moderieren und begleiten; das
tut er. Viel entscheidender für die Durchsetzung von
Innovationen ist es, dass der Forschung die notwendigen
Freiheiten bewahrt bleiben. Die Nanotechnologie - das
haben wir in den bisherigen Diskussionen immer wieder
festgestellt - sieht sich wie kaum ein anderes Technologiefeld der Gefahr ausgesetzt, durch Überregulierung
oder Bürokratismus blockiert zu werden.
Meine Damen und Herren, die Nanotechnologie als
wirklich wichtige und wegweisende Technologie durchdringt alle Lebensbereiche. Im Jahr 2015 - davon gehen
wir aus - wird es in unserem Leben kaum noch einen
Bereich geben, in dem Materialien in Nanogröße keine
wichtige Rolle spielen. Nanomaterialien werden künftig
zu einer verbesserten und verträglichen Individualmedizin beitragen und somit auch verbesserte Diagnose- und
Therapieverfahren ermöglichen.
Wir werden neue Materialien für die effiziente Energieumwandlung - das Thema Dämmung ist angesprochen worden - und vor allen Dingen für das große
Thema der Zukunft, die Energiespeicherung, schaffen.
Ich denke - das ist vom Kollegen Röspel angesprochen
worden - an Verfahren zur Sanierung von Luft, Wasser
und Boden mithilfe von Nanomaterialien.
Die Potenziale und Möglichkeiten - ich glaube, auch
darin sind wir uns einig - sind vielfältig. Doch man spürt
- das ist an dieser Stelle deutlich anzusprechen -, dass
an diese Technologie in zunehmendem Maße zuerst die
Fragen gestellt werden: Wo sind die Risiken? Wie groß
sind die Risiken?
({1})
Chancen und Risiken werden in diesem Kontext möglicherweise nicht klar voneinander getrennt. Aus genau
diesem Grund ist es notwendig, sich mit der Frage der
Sicherheit zu beschäftigen. Denn die Potenziale der Nanotechnologie dürfen nicht leichtfertig verspielt werden,
indem wir überregulieren - diese Gefahr besteht - und
bürokratische Hürden aufbauen.
({2})
Im vorliegenden Antrag „Aktionsplan Nanotechnologie 2015 gezielt weiterentwickeln“ haben wir genau diesen Aspekt aufgegriffen und uns - neben den Chancen
und Potenzialen - vor allen Dingen mit der Sicherheit
der Nanotechnologie im Forschungs- und Innovationssystem deutlich sichtbar auseinandergesetzt. Wir messen
der Sicherheitsforschung - auch darauf ist mit Nachdruck hingewiesen worden - eine ganz wichtige Bedeutung bei.
Man muss an dieser Stelle aber auch die Feststellung
treffen, dass wir in der Sicherheitsforschung im Bereich
der Nanomaterialien im europäischen und weltweiten
Vergleich auf einem der vordersten Plätze stehen. Die
entscheidende Frage, auch in der heutigen Debatte, lautet: Was brauchen wir? Wir brauchen in Zukunft nicht
nur viel größere Transparenz in der Sicherheitsforschung
- ich glaube, dadurch würden viele Fragen beantwortet -,
sondern vor allen Dingen auch eine umfangreichere öffentliche und verständliche Bereitstellung relevanter Informationen. Mit dem BMBF-Projekt DaNa wurde bereits ein Anfang gemacht. Es wurde begonnen, die
Vermittlung und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit zu verbessern.
Nanomaterialien - das muss man deutlich hervorheben - sind nicht per se toxikologisch, wie das manchmal
hier und da in der Diskussion gesagt wird. Für eine Beurteilung des Potenzials von Nanomaterialien auf
Mensch und Umwelt fehlen bislang klare und eindeutige
Erkenntnisse. Die Wissenschaft und die Forschung können bisher kein einheitliches und generell verbindliches
Urteil über die Gefahren der einzelnen Nanomaterialien
fällen.
Ich erläutere das an einem Beispiel: Während durch
die einen Studien belegt wird, dass zum Beispiel Nanosilber krankhafte Veränderungen des Gewebes in Leber
und Lunge verursacht, wird durch andere Studien wiederum belegt, dass im menschlichen Körper aufgenommenes Silber nach einiger Zeit ohne toxikologische Effekte abgebaut wird.
({3})
- Das steht in den Studien, Herr Röspel. Ich glaube, wir
beide haben sie gelesen.
Durch diese disparate Datenlage wird vor allem deutlich, dass uns zur Beurteilung und Bewertung von Gefahren noch einheitliche und zudem geeignete Prüf- und
Messverfahren fehlen. Auf der EPTA-Konferenz habe
ich gestern einen entsprechenden Beitrag dazu geliefert
und gesagt, dass genau das die Stelle ist, wo wir stärker
als bisher ansetzen müssen.
({4})
Nur wenn wir standardisierte Verfahren für die Messung
und Prüfung besitzen, können wir eine entsprechende
Beurteilung und Bewertung vornehmen.
Deshalb stellt sich an dieser Stelle für die Wissenschaft und ganz speziell auch für die Sicherheitsforschung insbesondere die Frage, wie wir mit der Arbeit
an dieser Stelle konkret weitermachen. Ich will es noch
einmal auf den Punkt bringen: Es müssen geeignete
Prüf- und Messverfahren gefunden werden, und - das ist
ganz wichtig für die Auswertung - es muss eine VerDr. Martin Neumann ({5})
gleichbarkeit hergestellt werden, um klare Aussagen
über Risiken, die es ja gibt, treffen zu können. Erst wenn
wir diese Grundlage haben - das ist eine sehr wichtige
Voraussetzung -, können wir die Diskussion über Maßnahmen in der Gesetzgebung, die hier angesprochen
wurde, weiterführen.
Mir erscheinen - das will ich an dieser Stelle deutlich
sagen - Forderungen nach spezifischen Nanotechnologiegesetzen oder nach einem Nanoproduktregister im
Moment als nicht zielführend. Warum nicht? Ich hatte es
erläutert: Es ist jetzt natürlich wichtig, auch in der Forschung den entsprechenden notwendigen Spielraum zu
haben. Es gibt weitere Begründungen. Eine möchte ich
an dieser Stelle noch einmal erwähnen: Wir sind der
Auffassung - das kann man hier so zusammenfassen -,
dass die gegenwärtigen europäischen gesetzlichen Rahmenbedingungen greifen und zumindest zum jetzigen
Zeitpunkt als hinreichend bewertet werden können.
({6})
Mit REACH existiert bei der Europäischen Chemikalienagentur eine Verordnung, durch die Produktsicherheit ausreichend garantiert wird. Nanopartikel erfüllen
nach REACH die Anforderungen an den Stoffbegriff
- das ist ganz wichtig - und unterliegen deren Bestimmungen, vor allen Dingen auch den Tests zur Risikocharakterisierung bei der Registrierung. Daneben existieren
auch produktbezogene Regelungen, mit denen die gleichen Anforderungen an nanoskalige Materialien gestellt
werden.
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch kein
Nanoproduktregister, das den Verbraucher, glaube ich,
eher verunsichert - Staatssekretär Rachel hat es angesprochen -, weil es in dem entsprechenden Augenblick
nicht hilft, die Unbedenklichkeit eines Erzeugnisses einzuschätzen.
({7})
Was wir an dieser Stelle viel stärker brauchen, ist eine
konsistente Gesamtforschungsstrategie, wie ich es einmal bezeichnen will. Die Schwerpunkte dieser Gesamtforschungsstrategie - man kann sie nachlesen - sind in
dem hier vorgelegten „Aktionsplan Nanotechnologie
2015“ und in unserem Antrag enthalten.
Ich bedanke mich.
({8})
Die Kollegin Petra Sitte gibt ihre Rede zu Protokoll.1)
So rufe ich nun Krista Sager für Bündnis 90/Die Grünen
auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es
um die Nanotechnologie geht, dann ist sicher ein einsei-
1) Anlage 2
tiger Chancendiskurs genauso unangebracht wie ein einseitiger Risikodiskurs.
({0})
Es gibt zweifellos Chancen und neue Möglichkeiten
- das haben die Kollegen hier völlig zu Recht dargelegt,
das sehen wir auch so - durch nanotechnologische Verfahren und Produkte: in der Materialforschung und -entwicklung, der Kommunikationstechnologie, der Speichertechnik, bei den erneuerbaren Energien und in der
medizinischen Diagnostik. Hier gibt es wirklich interessante Anwendungen. Es gibt auch große Erwartungen an
das zukünftige Potenzial der Nanotechnologie im gesamten Bereich Ressourceneffizienz und Materialeinsparung.
Seit den 90er-Jahren fließen nicht nur in Deutschland,
sondern weltweit erhebliche Mittel in die Förderung der
Nanotechnologie, mit steigender Tendenz. Aber - das
haben auch die Expertinnen und Experten auf der hier
mehrmals erwähnten EPTA-Konferenz hervorgehoben -:
Was nicht stimmt, ist die Balance. Die Balance zwischen
den Mitteln, die wir einsetzen, um verschiedenste Anwendungen zu fördern, und den Mitteln, die wir einsetzen, um unsere gewaltigen Wissenslücken im Zusammenhang mit toxikologischen und ökotoxikologischen
Fragen zu schließen, ist nicht gegeben.
({1})
Wir wissen bei bestimmten Nanopartikeln sehr wenig
darüber, wie sie sich im gesamten Lebenszyklus, von der
Herstellung bis zur Entsorgung, verhalten werden und
welche Folgen sie für den Menschen und das Ökosystem
haben.
Jetzt hat die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan
erklärt, dass die Risikoerforschung besser werden solle.
Aber es gibt keine verbindlichen Festlegungen, in welchen Schritten die Mittel wie erhöht werden sollen und
wofür sie eingesetzt werden sollen. Wir haben in den
Haushaltsberatungen hier mehr Verbindlichkeit eingefordert, und zwar in Bezug auf das 10-Prozent-Ziel, das
die NanoKommission eingefordert hat. Was finden wir
in dem Aktionsplan? Keine Verbindlichkeit!
({2})
Das ist typisch für diesen Aktionsplan, muss ich leider
sagen.
({3})
Es fehlt an klaren Zielen sowie an klaren Aussagen über
die Schritte und die Mittel. Das ist wirklich ein ganz großes Problem dieses Aktionsplans.
({4})
Jetzt wird es wirklich interessant. Wie ist die Bundesregierung mit der von ihr selbst eingesetzten NanoKommission umgegangen, die Sie, Herr Rachel, mit keinem
Wort erwähnt haben? Die Mitglieder dieser Kommission
arbeiten seit 2006 im Auftrag der Bundesregierung und
haben in diesem Jahr ihren Abschlussbericht vorgelegt.
Kurz bevor sie ihren Abschlussbericht vorgelegt haben,
bringt die Bundesregierung ihren eigenen Aktionsplan
heraus mit der erkennbaren Absicht, sich auf die Empfehlungen und die verschiedenen Vorschläge aus dieser
Kommission nicht beziehen zu müssen. Das ist doch der
Sinn dieses Manövers gewesen. Sie haben Ihre eigenen
Experten, die Sie hier mit keinem Wort erwähnen, durch
dieses Manöver komplett verladen.
({5})
Ihrem Aktionsplan fehlt es an Action. Ich kann das
anhand der Themen Produktregister und Kennzeichnungspflicht darlegen. Die NanoKommission hat zu dem
Thema Produktregister kein einheitliches Votum abgegeben, was nicht verwunderlich ist. Aber sie hat sich mit
den verschiedenen Ansätzen und Modellen befasst und
mit den Fragen: Was kann das im Arbeitsschutz bringen?
Was kann das beim Verbraucherschutz bringen? Was
kann das für staatliche Behörden bringen? Was kann das
auf der europäischen Ebene bringen?
Bundesumweltminister Röttgen hat vor den Mitgliedern der NanoKommission gesagt, er wolle sich für ein
europaweites Produktregister einsetzen. Ich war bestimmt nicht die Einzige im Saal, die gesagt hat: Ich bin
gespannt, was da kommt. Ich habe ihm auch gesagt - er
ist heute leider nicht da -: Ich werde Sie daran erinnern,
dass Sie uns etwas schuldig sind. Dafür ist heute ein
ziemlich guter Tag. Was ist an Konzepten gekommen?
Gar nichts! Was steht im Aktionsplan dazu, welche Konzepte und welche Modelle weiterverfolgt werden? Gar
nichts! Das ist wirklich typisch für diesen Aktionsplan.
Gar nichts steht dazu darin.
({6})
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Kennzeichnungspflicht. Bei der Kennzeichnungspflicht geht es um
Freiheit, nämlich um die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn ich Hinweise darauf bekomme, dass bestimmte Nanomaterialien vielleicht negativ für das Ökosystem sind, möchte ich selber
entscheiden können: Kaufe ich mir Sportsocken mit diesen Stoffen, oder lasse ich das lieber? Dafür muss man
aber wissen, ob diese Technologie verwendet wurde.
Deshalb muss es eine Kennzeichnung geben.
Was sieht der Aktionsplan der Bundesregierung in
diesem Zusammenhang vor? Im Aktionsplan heißt es:
Eine Kennzeichnung kann zwar zu einer informierten Konsumentenentscheidung beitragen, allerdings
auch als Warnhinweis missverstanden werden.
Die Bundesregierung kommt damit zu Erkenntnissen,
wie sie in Büttenwarder weit verbreitet sind: Der eine
sagt dies; der andere das.
Ich erwarte von einem Aktionsplan aber mehr, als in
Unentschlossenheit zu verharren, wenn es um eine Frage
geht, die zur Entscheidung ansteht. Ein Aktionsplan
muss die Frage beantworten, was die Bundesregierung
in diesem Bereich machen will.
({7})
An dieser Stelle ist Action angesagt. Können Sie mir
erklären, warum zwar in der europäischen Kosmetikrichtlinie, nicht aber im Lebensmittelbereich, in der Novel-Food-Richtlinie, eine Kennzeichnungspflicht vorgesehen ist?
({8})
Das ist nicht logisch. Ich möchte wissen, welche Politik
die Bundesregierung dazu machen will.
Die Experten haben zu Recht gesagt, die Verbraucherinnen und Verbraucher hätten ein Recht darauf, dass sie
nicht erst Studien und wissenschaftliche Bücher lesen
müssen, um sicher zu sein, dass ihre Produkte sicher
sind. Gerade im konsumentennahen Bereich muss das
Vorsorgeprinzip eingehalten und die Verantwortung der
Produzenten vom Design des Produktes bis zur Entsorgung wahrgenommen werden.
Eine Expertin hat gesagt, dass wir Kriterien und
Spielregeln für faire Nanotechnologien brauchen. Die
NanoKommission hat eine ganze Menge vernünftiger
Ansätze entwickelt, wie wir zu fairen Kriterien und
Spielregeln kommen können. Sie hat zum Beispiel fünf
Prinzipien für einen verantwortlichen Umgang mit den
Nanomaterialien vorgelegt.
Sie haben einen Aktionsplan bis 2015 jetzt offensichtlich deswegen vorgelegt, damit Sie Ruhe vor Ihrer eigenen Kommission bekommen. Sonst müssten Sie nämlich
eine Antwort darauf geben, wie die Vorschläge der
Kommission weiterverfolgt werden. Werden zum Beispiel Förderentscheidungen an die Einhaltung der fünf
Prinzipien geknüpft? Das wäre eine interessante Fragestellung.
Ihr Aktionsplan folgt dem Motto: Geht uns nicht mit
unserer eigenen Kommission auf den Wecker, sondern
lasst uns wenigstens bis 2015 in Ruhe! - Das ist in dieser
Frage entschieden zu wenig.
({9})
Florian Hahn erhält jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nanotechnologie ist eine der spannendsten
und interessantesten Technologien unserer Zeit mit fantastischen Möglichkeiten für echte Neuerungen und Entdeckungen. Es gibt weltweit kaum noch ein Hightechprodukt, bei dem keine nanotechnischen Verfahren
angewendet werden. Schon jetzt wird Nanotechnologie
beispielsweise in der Krebstherapie, in der TrinkwasserFlorian Hahn
aufbereitung, beim Schutz vor Korrosion sowie bei der
Produktion besonders leichter und stabiler Windkraftrotoren verwendet.
Als exportorientiertes, rohstoffarmes Land braucht
Deutschland solche technischen Innovationen. Das gehört auch in Zukunft zur Grundlage unseres Wohlstands.
Bis zum Jahr 2015 erwartet die Branche ein Marktvolumen von weltweit bis zu 3 Billionen Euro. Europaweit
sind wir derzeit in der Nanotechnologie führend. Wir
dürfen daher unsere Vorreiterrolle nicht verlieren.
({0})
Seit nunmehr zehn Jahren laufen unsere Förderprogramme sehr erfolgreich, und das soll auch so bleiben.
Darum wird die Bundesregierung in ihrer Hightech-Strategie 2020 und im Aktionsplan 2015 diese Zukunftstechnologie in den kommenden Jahren weiter unterstützen
und vorantreiben. Die wirtschaftliche Nutzung und die
Erforschung der Nanotechnologie sollen intensiviert und
noch stärker ressortübergreifend abgestimmt werden.
Bis 2015 fließen jährlich rund 400 Millionen Euro Fördergelder, unter anderem in die Forschungsförderung und
in Hilfen für kleinere Betriebe und Gründer. Es gibt bereits fast 1 000 Nanotechnologieunternehmen in Deutschland. Davon sind etwa drei Viertel kleine und mittlere Unternehmen, sogenannte KMU. Diese KMU können
spezifische Förderprogramme für Forschung und Entwicklung beantragen. Das unterstützt den Mittelstand in
Deutschland, der Arbeitsplätze schafft.
({1})
Der Antrag „Aktionsplan Nanotechnologie 2015 gezielt weiterentwickeln“ skizziert, wie wir nachhaltig und
sicher die Potenziale in Bildung und Forschung und in
der Gesundheit nutzen sowie die Beiträge zu Umweltund Klimaschutz und zur Sicherung der Energieversorgung realisieren wollen. Vielleicht gelingt uns dabei ein
wichtiger Beitrag, um zu umweltfreundlicher und energiesparender Mobilität zu kommen.
Der Antrag zeigt auch die vielfältigen Möglichkeiten
der Nanotechnologie für eine nachhaltige Landwirtschaft und zur Sicherung der Ernährung. Des Weiteren
wollen wir mit dem Antrag eine Stärkung der Forschung
und eine Intensivierung des Technologietransfers sowie
eine Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit am Standort
Deutschland vorantreiben.
Zu Ihren Einwendungen, Herr Kollege Röspel,
möchte ich sagen: viel Lob - dafür vielen Dank. Dann
hatten Sie noch viel Zeit und haben den Antrag bei all
dem Lob und all dem Guten, das Sie zu der Initiative der
Bundesregierung sagen mussten, als unnötig bezeichnet.
Wir sind der Meinung, wir müssen Gutes bestärken.
Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Wenn Sie
dann darauf hinweisen, Sie hätten gerne noch dies und
das, kann ich nur sagen: Hätten Sie selber einen Antrag
eingebracht und um Ergänzung gebeten, dann hätten wir
sicherlich darüber reden können.
({2})
Zum Thema Sicherheitsforschung; es wurde heute
schon mehrfach angesprochen. Der Anteil des Fördervolumens, der für die begleitende Risikoforschung aufgewendet wird, beträgt 6,2 Prozent. Das ist im Übrigen
weit über dem internationalen Durchschnitt. Wir haben
auf der Konferenz, die auch von Ihnen erwähnt wurde,
gehört, dass die Amerikaner nur 3 Prozent dafür einsetzen. Ich glaube, wir sind hier auf dem richtigen Weg.
Man kann nicht sagen, dass hier die Balance nicht
stimmt, wenn wir doppelt so viel ausgeben wie die Amerikaner.
({3})
Wir wollen nicht verschweigen, dass es viele Ungewissheiten in der Nanotechnologie gibt. Aber Ungewissheiten sind nicht automatisch Risiken oder Gefahren.
Wir nehmen diese Ungewissheiten sehr ernst. Aber - das
unterscheidet uns maßgeblich von Ihnen - wir wollen
solche neuen Technologien als Chance für uns alle begreifen und nicht gleich in das beliebte Bedenkenträgertum gegen alles Fremde und Neue verfallen.
Herr Hahn, Herr Röspel würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, Herr Röspel hatte genug Zeit. - Wir wollen Probleme und Vorbehalte als Herausforderung für Wissenschaft und Forschung verstanden wissen. Wir wollen uns
allen Herausforderungen stellen und Probleme lösen.
Das ist verantwortungsvolle und vorausschauende Politik.
({0})
Unser Ziel ist ein sicherer und verantwortungsvoller
Umgang mit neuen Technologien, der neue Chancen eröffnet und diese nicht verhindert. Dabei dürfen wir keine
wissenschaftlichen Erkenntnisse ungeprüft verwerfen
und damit bereits im Vorfeld die Nutzungspotenziale
und Marktchancen unbeachtet lassen. Ziel muss es sein,
die Risiken sachlich und frühzeitig zu erkennen und
mögliche Gefährdungen konsequent zu vermeiden.
Dazu brauchen wir erfahrene Forscher, aber auch neugierige und forschungshungrige junge Menschen. Wir
müssen daher qualifizierte Nachwuchs- und Arbeitskräfte frühzeitig gewinnen und ausbilden.
({1})
Dies hat die Bundesregierung früh erkannt. So fördern
wir unter anderem Informationsangebote für Schüler zur
Studien- und Berufswahl, aber auch zur beruflichen Weiterbildung. Da die Öffentlichkeit einen Anspruch auf
volle Teilhabe und maximale Transparenz bei all diesen
Prozessen hat, führt die Bundesregierung Bürgerdialoge.
Dies ist im Übrigen ein Instrument, auf das auch andere
Länder setzen, wie wir auf der EPTA-Konferenz in Berlin
hören konnten. Es entspricht unserem Demokratieverständnis, die Bürgerinnen und Bürger an der Suche nach
Antworten auf Zukunftsfragen zu beteiligen. Hierzu gehört aber auch eine vertrauensbildende Information über
diese Technologie, die einer pauschalen Verteufelung entgegenwirkt.
({2})
In diesem Zusammenhang ist es eine positive Entwicklung, dass wir voraussichtlich im November die
Gründung eines deutschen Verbands Nanotechnologie zu
erwarten haben. Ich habe mir das einmal angeschaut. Der
Verband, der dort gegründet werden soll, hat sich diverse
Ziele gesetzt. Ich will nur einige nennen: Für die Mitglieder soll ein starkes Netzwerk gebildet werden. Der Verband will in einen offenen Dialog mit Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft treten. Er will Debatten über Chancen
und Risiken der Nanotechnologie proaktiv führen. Er
will umfassende und sachliche Informationen über den
Einsatz der Nanotechnologie anbieten. Er will Richtlinien entwickeln, um den Arbeitsschutz all derer zu gewährleisten, die am Arbeitsplatz mit Nanomaterialien in
Berührung kommen. Er will wissenschaftlich-technische
Fragestellungen in Expertenhand legen. Er will die Ausund Weiterbildung von Fachkräften fördern.
Ich glaube, dass dies auch im Sinne der Verantwortung, die aus unserer Sicht bei der Wirtschaft liegt, ein
sehr guter Schritt ist.
({3})
Wir sollten außerdem festhalten: In dem kürzlich erschienenen Gutachten „Vorsorgestrategien bei Nanomaterialien“ des Sachverständigenrates für Umweltfragen
wird festgestellt, dass es keine Erkenntnisse und keine
Nachweise in Bezug auf pauschale negative Umweltund Gesundheitseinflüsse durch den Einsatz von Nanotechnologie gibt.
({4})
- Ja, das ist wichtig in der Diskussion, die wir öffentlich
führen. Darauf müssen wir immer wieder verweisen, damit diese Technologie nicht in eine Ecke gestellt wird, in
die sie schlicht nicht gehört.
({5})
In dieser Woche hat die EU-Kommission endlich eine
Empfehlung für eine gemeinsame Definition für Nanomaterialien vorgelegt. Das ist ein zentrales Anliegen in
unserem Antrag. Die Definition basiert auf einem Ansatz, bei dem die Größe der konstituierenden Partikel
und nicht etwaige Gefahren oder Risiken berücksichtigt
werden. Ich will die genaue Definition jetzt nicht vorlesen. Aber immerhin hat die Kommission diese Definition nach zwei Jahren endlich hinbekommen. Damit ist
ein wichtiger Schritt im Hinblick auf den Umgang mit
etwaigen Umwelt- und Gesundheitsrisiken gegangen
worden. Nanomaterialien sind daher immer, wie jeder
andere Stoff auch, einer Einzelfallprüfung zu unterziehen. Ich glaube, ebenso wie der Kollege Neumann, dass
ein Nanoproduktregister oder eine Nanodatenbank, vor
allem auf nationaler Ebene, nicht notwendig ist.
Lassen Sie uns die vorhandenen und bewährten Instrumente nutzen, beispielsweise die Chemikalienverordnung REACH, statt neue bürokratische Hemmnisse
aufzubauen. Das war auch die Empfehlung der Sachverständigen auf der von uns schon mehrfach erwähnten
Konferenz.
Dank der Definition wird es für Unternehmen leichter, ihre Registrierungsdossiers zu bewerten und exakt zu
bestimmen, wann sie ihre Produkte als Nanomaterialien
betrachten sollten.
In der Nanotechnologie warten noch viele Herausforderungen und - Gott sei Dank - noch viel mehr Chancen
auf uns. Packen wir es in diesem Sinne an!
Danke schön.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Franz Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Der demografische Wandel in Deutschland Handlungskonzepte für Sicherheit und Fortschritt im Wandel
- Drucksache 17/6377 Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Franz
Müntefering für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zahlen sind bekannt. Sie sind alarmierend. Aber die
Bundesregierung bleibt tatenlos. Der Tanker „Demografischer Wandel“ ist ohne plausiblen Kurs. Alle reden darüber,
({0})
aber niemand ist in der Regierung, der das Steuer neu
justiert. Genau das wäre jetzt aber nötig;
({1})
denn situativ sind die Probleme nicht zu lösen. Umsteuern dauert lange. Die Forderung, nachhaltige Politik zu
machen, ist hier an der Tagesordnung.
Die Fakten und Entwicklungen sind eindeutig: 2050
gibt es in Deutschland statt 81 Millionen nur noch rund
68 Millionen Menschen. Vielleicht werden es aber auch
nur 65 Millionen Menschen sein, wenn es mit der Zuwanderung von netto 100 000 Menschen pro Jahr nicht
klappt. Wir leben zehn Jahre länger als die, die 1960 vergleichbar alt waren. Das Durchschnittslebensalter beträgt 80 Jahre und bald 85 Jahre.
({2})
30 Prozent der 1970 geborenen Frauen und Männer haben keine Kinder. Statt jetzt 50 Millionen werden 2050
nur noch rund 38 Millionen Menschen im Erwerbsalter
sein. In den letzten 20 Jahren sind 18 Millionen zugezogen und etwa 14 Millionen Menschen weggezogen.
Die Zahl der Pflegebedürftigen verdoppelt sich. Die
Ausbildung zur Pflegekraft bleibt im Streit zwischen
Bund und Ländern aber weit hinter dem Bedarf zurück.
An vielen Orten unterbleibt der fällige Ausbau der palliativen Hospizdienste. Es fehlen altersgerechte Wohnungen und Quartiersvernetzungen. Minilöhne heute gefährden die Alterssicherung morgen, besonders bei Frauen,
beispielsweise bei den Alleinerziehenden.
Die Metropolen expandieren - auch bei ihren Wohnkosten. In immer mehr dezentralen Räumen in Ost und
West sinkt die Bevölkerung schrittweise um 30 bis
50 Prozent. Da stürzen Immobilienpreise ab. Die junge
Generation, die Zukunftsfähigkeit garantiert, geht und
bleibt weg. Alle Regionen sind betroffen. Defätismus ist
falsch. Man kann etwas tun. Zynismus wäre ärgerlich.
Krieg zwischen den Generationen ist Unsinn. Das Miteinander der Generationen ist das, was nötig ist.
({3})
Kann man etwas tun? Wir sagen: Ja, man kann etwas
tun. Das geht aber nicht ohne Bundesregierung. Deshalb
versuchen wir gerade, Sie wachzurütteln, Herr Staatssekretär.
({4})
Werden Sie heute hier konkret. Es genügt nicht, nächste
Woche mal wieder im Kabinett festzustellen, dass etwas
passieren muss. Wir wollen wissen, was passiert und
wann.
({5})
Vor gut vier Monaten haben wir der Regierung mit
63 konkreten Fragen Gelegenheit gegeben, gründlich
Stellung zu nehmen. Bisher null Antwort. Wir hoffen,
dass wir heute einen Schritt weiterkommen.
({6})
Es ist möglich, die Dinge zu gestalten. Wir wollen es.
Wir wollen uns nicht mit der Situation abfinden, sondern
wir wollen, dass dieses Land eine gute Zukunft hat.
Dazu brauchen wir Mut, den demografischen Wandel in
Deutschland zu organisieren, und eine gute Politik.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Der Kollege Dr. Günter Krings hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Manche Herausforderungen - ich nenne die Finanzmarktkrise und auch das, was wir heute Morgen gehört haben - kommen sehr plötzlich auf die Politik zu.
({0})
Sie haben recht, Herr Müntefering: Demografischer
Wandel ist ein Phänomen, auf das wir uns langfristig
vorbereiten können.
Dieses Phänomen geht weit über Deutschland und
Europa hinaus. Auch weltweit können wir Veränderungen in der Art und Weise des Bevölkerungswachstums
feststellen. Diese Tatsache dürfen wir nicht ausblenden.
In zehn Tagen werden die Vereinten Nationen verkünden, dass es jetzt 7 Milliarden Menschen auf der Erde
gibt. Dieses Wachstum wird in den nächsten Jahren weltweit Auswirkungen haben. Aber wir müssen auch den
Bevölkerungsrückgang bei uns, den es seit 2003 gibt, in
den Blick nehmen. Wir müssen die Risiken erkennen,
aber auch die Chancen begreifen. Wir dürfen allerdings
nicht verkennen, dass sich der demografische Wandel in
Deutschland regional sehr unterschiedlich auswirken
wird.
Der demografische Wandel ist wahrscheinlich einer
der zentralen Punkte, der darüber entscheidet, ob der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert noch funktioniert. Es ist wichtig, diesen Wandel
so zu meistern, dass die soziale Gerechtigkeit darunter
nicht leidet. Er ist wahrscheinlich die entscheidende soziale Frage des 21. Jahrhunderts.
Generationengerechtigkeit erfordert die Verbindung
mehrerer Lösungselemente. Die Interessen der immer
weniger werdenden Jüngeren und die Interessen der immer mehr werdenden Älteren müssen fair ausgeglichen
werden. Das setzt voraus, dass wir die nationalen wie internationalen Herausforderungen ernst nehmen.
Während in Deutschland die Bevölkerung abnimmt,
steigt sie weltweit. Aber die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums nimmt in den nächsten Jahren weltweit ab. Heute kommen noch etwa 75 Millionen Menschen Jahr für Jahr weltweit hinzu. In den 80er-Jahren
hatten wir mit etwa 88 Millionen Menschen mehr pro
Jahr den Höhepunkt erreicht. Im Jahr 2050 werden wir
weltweit nur noch ein Wachstum von 40 Millionen Menschen haben. Warum sage ich das? An diesen Zahlen
wird deutlich, dass wir in Deutschland der demografischen Wende, die ein globales Phänomen ist, einige
Jahrzehnte voraus sind. Wir in Deutschland müssen der
Welt zeigen, dass der demografische Wandel nicht zu
Katastrophen führen muss, sondern dass man seine Auswirkungen beherrschen kann. Wir tragen als Voran15912
schreitende eine Verantwortung über Deutschland hinaus. Wir tragen - wenn man so will - auch eine globale
Verantwortung, in diesem Prozess gute Lösungen zu entwickeln, die andere vielleicht kopieren können.
Die Große Anfrage der SPD-Fraktion hat mich zunächst, als sie kurz vor der Sommerpause kam, hoffnungsfroh gestimmt, dass wir das gemeinsam, auch über
Parteigrenzen hinweg, bewältigen können. Ich bin heute
- nicht hundertprozentig, aber ein wenig - enttäuscht,
dass Sie jetzt die Möglichkeit nach § 102 der Geschäftsordnung nutzen. Das ist Ihr gutes Recht. Aber das macht
mich ein bisschen skeptisch, ob es Ihnen da wirklich nur
um die Sache geht.
({1})
Sie wissen genau, in der nächsten Woche kommt der
große, umfassende Demografiebericht der Bundesregierung. Den hätte man noch abwarten können. Sie müssen
das nicht tun, aber wenn es Ihnen um die Sache geht,
hätte man das vielleicht tun sollen.
({2})
Die Ungeduld überrascht natürlich schon ein wenig,
denn die über zwei Wahlperioden tagende EnqueteKommission „Demographischer Wandel“ des Deutschen
Bundestages hat 2002 einen umfassenden, hochinteressanten Abschlussbericht vorgelegt. Der ist auch heute
noch lesenswert. Darin stehen auch die Fakten, die Sie
genannt haben. 2002 war mitten in der rot-grünen Regierungszeit. Man hätte also diesen Bericht 2002/2003 als
Ansatzpunkt nehmen können, hieraus eine Strategie zu
entwickeln.
Genau das machen wir, das macht die Bundesregierung mit dem Demografiebericht, der in der nächsten
Woche vorgelegt werden wird. Wir werden dann bis Ostern kommenden Jahres daraus eine umfassende Demografiestrategie entwickeln. Das geschieht übrigens unter
Federführung des Innenministeriums, weil es eine Frage
des sozialen Zusammenhalts und damit eine Querschnittsaufgabe der Politik ist.
Diese Strategie wird fast alle Politikbereiche erfassen:
neben Reaktionsnotwendigkeiten bei der Finanzierung
der sozialen Sicherungssysteme, der Rentenversicherung, Pflegefragen, aber auch Themen wie Bildungspolitik, Integrationspolitik, Arbeitsmarkt und vieles mehr. In
der Großen Koalition haben wir an einer ganz entscheidenden Stelle, nämlich bei der Frage der Finanzierung
der sozialen Sicherungssysteme - da spreche ich Sie,
Herr Müntefering, ganz persönlich an -, einen großen
Fortschritt erzielt, indem wir gesagt haben, wir müssen
das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre erhöhen. Das war auch mit Ihre Leistung. Deshalb sehe ich es
mit noch größerem Bedauern an der Stelle, dass Ihre
Fraktion davon jetzt Stück für Stück abrückt, dass sie
diesen Fahrplan verlässt, dass sie gerade diesen entscheidenden Schritt, den demografischen Wandel abzubilden,
aufzugreifen, daraus faire und gerechte Konsequenzen
zu ziehen, jetzt nicht mehr machen will. Die SPD verabschiedet sich von diesem Konsens. Das ist gegen Generationengerechtigkeit, gegen auf den demografischen
Wandel erforderliche Reaktionen gerichtet, meine Damen und Herren.
({3})
Ich wünsche mir deshalb, dass Menschen wie Sie,
Herr Müntefering, in der Fraktion standhaft bleiben und
andere noch überzeugen können, dass wir an der Stelle
bei den vernünftigen und gerechten Lösungen bleiben
und diese konsequent anwenden müssen.
({4})
Nur so werden wir auch das Thema Fachkräftemangel
in den Griff bekommen. Wir können gerade angesichts
des demografischen Wandels immer weniger auf erfahrene, ältere Arbeitnehmer verzichten. Wir werden das
Problem eben nicht allein durch Zuwanderung lösen.
Wenn wir das Arbeitskräftepotenzial komplett durch Zuwanderung konstant halten wollten, bräuchten wir nicht
die zitierten 100 000, sondern 400 000 pro Jahr. Ich
hoffe eigentlich, dass wir uns quer über die Fraktionen
einig sind, dass wir nicht wüssten, woher wir jedes Jahr
400 000 Zuwanderer nehmen sollten, und damit verbunden wäre eine Integrationsaufgabe, die unsere Gesellschaft wahrscheinlich überfordern würde. Von daher
brauchen wir eine maßvolle Zuwanderung, und wir
brauchen dafür ein modernes Zuwanderungsrecht. Aber
wir sollten das Zuwanderungsrecht nicht unnötig
schlechtreden. Wir haben in weiten Teilen schon ein modernes Zuwanderungsrecht.
({5})
Es hilft gar nichts, über imaginäre Gehaltsgrenzen zu
sprechen. Lediglich ein Spezialweg ist mit Gehaltsgrenzen ausgestaltet. Schon heute kann, wenn ein Arbeitsplatz nicht mit einem deutschen Arbeitnehmer zu besetzen ist, ohne Beachtung einer Gehaltsgrenze auch ein
ausländischer Zuwanderer auf diesen Arbeitsplatz kommen. Das Verfahren kann man sicherlich verbessern
- das ist richtig -, aber im Grunde haben wir ein sehr
modernes und ein sehr offenes Zuwanderungsrecht. Das
sollten wir nicht unnötig schlechtreden.
({6})
Es geht nicht nur darum, vollmundige Forderungen
aufzustellen, sondern darum, einfach zu schauen, welche
Möglichkeiten wir schon haben. Da ist natürlich auch
die Wirtschaft in der Pflicht. Wer aber meint, er könne
über ein neues Zuwanderungsrecht - egal, wie das ausgestaltet ist - erreichen, dass wir möglichst viele billige
und willige Arbeitskräfte nach Deutschland bekommen,
der hat die Union nicht mehr an seiner Seite.
({7})
Es kann nicht Zweck des Zuwanderungsrechtes sein,
hier in Deutschland die Löhne zu senken.
Seit ich Mitglied im Deutschen Bundestag bin, habe
ich mich in verschiedenen Funktionen - als Vorsitzender
der Jungen Gruppe meiner Fraktion, als Parlamentarischer Beiratsvorsitzender und jetzt auch in der Innenpolitik - mit der Frage des demografischen Wandels beschäftigt.
({8})
Ich habe gelernt, dass wir das Thema optimistisch angehen müssen. Es gibt viele positive Aspekte. Einer davon
ist, dass unsere Gesellschaft im Schnitt nicht nur älter,
sondern auch gesünder älter wird. Es handelt sich also,
wenn man so will, um gewonnene Jahre. Nicht nur werden dem Leben mehr Jahre hinzugefügt, sondern durch
unsere Lebensweise und die Gesundheitsvorsorge wird
auch den Jahren mehr Leben hinzugefügt.
Es ist richtig, dass es in Deutschland mehr pflegebedürftige Menschen gibt. Die Pflegebedürftigkeit tritt
aber immer später ein. Aus dem Grund bin ich sehr zuversichtlich, dass wir dieses Problem gemeinsam meistern werden. Wir müssen es vorausschauend angehen.
Wir müssen das politische Dilemma der Demokratie
überwinden, heute schon langfristig wirkende Entscheidungen treffen zu müssen. Es ist wichtig, auch darauf zu
achten, was in 20 oder 30 Jahren noch richtig ist, und
sich nicht nur mit der nahen Zukunft zu beschäftigen; ein
Beispiel dazu habe ich eben genannt. Wir dürfen nicht
nur auf aktuelle Umfragewerte achten. Denn es handelt
sich hierbei um ein Thema, das wir - hoffentlich gemeinsam - in langfristiger Verantwortung angehen werden.
Die christlich-liberale Koalition ist bereit, diesem
Thema in den nächsten Wochen eine hohe Priorität einzuräumen.
({9})
Wir warten auf den Demografiebericht und werden daraus eine Demografiestrategie entwickeln. Das hat die
frühere Koalition nicht geschafft. An dieser Stelle wird
es also deutlicher vorangehen, als das in den letzten Jahren der Fall war, Herr Müntefering.
Danke schön.
({10})
Heidrun Bluhm hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit Jahren befassen sich Experten, Institute, politische
Stiftungen und Enquete-Kommissionen mit der Analyse
und Beschreibung der Bevölkerungsentwicklung in
Deutschland und geben verschiedene Handlungsempfehlungen. Aktuell gibt es eine Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages mit dem Namen „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“, die sich selbstredend auch
mit den gesellschaftlichen Konsequenzen aus der demografischen Entwicklung befassen muss, wenn sie nicht
völlig an der Realität vorbeiirren will. Weiterhin gibt es
- Herr Krings hat das eben angedeutet - den interministeriellen Ausschusses „Demografie“, an dem alle Bundesressorts beteiligt sind. Dieser soll dem Kabinett noch
2011 einen Bericht zum demografischen Wandel vorlegen. Es ist davon auszugehen - auch das hat Herr Krings
eben gesagt -, dass das wahrscheinlich schon in der
nächsten Woche der Fall sein wird.
Der demografische Wandel ist längst Realität und hat
seine volle Wirkungskraft entfaltet. Er ist kein Phänomen. Denn „Phänomen“ bedeutet, dass wir uns nicht erklären können, was hinter den Beobachtungen steckt. Ich
glaube, dass längst wissenschaftlich begründet ist, worauf der demografische Wandel, den wir in Deutschland
beobachten müssen, zurückzuführen ist. Die Linke sagt:
Er ist die Antwort auf das Ende der klassischen Industrialisierung. Der Weg in die Industriegesellschaft erforderte zwingend eine Bevölkerungsexplosion. Somit ist
nur logisch, dass sich dieser Prozess am Ende umkehrt
und die klassischen Ursachen für das Bevölkerungswachstum wegbrechen. Anderswo in der Welt, wo versucht wird, dem europäischen Modell der Industriegesellschaft zu folgen, verzeichnen wir zeitgleich eine
anhaltende Bevölkerungsexplosion mit katastrophalen
Folgen für die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser,
Lebensmitteln und medizinischen Leistungen.
Zurzeit - auch das hat Herr Krings bereits erwähnt sind wir 7 Milliarden Menschen auf dieser Erde. Diese
Zahl wächst weiter. Manche Experten sagen, dass unsere
Erde maximal 10 Milliarden Menschen ernähren kann
und dass diese Zahl gegebenenfalls schon 2030 erreicht
werden könnte. Das ist eine Entwicklung, für die wir Europäer im Übrigen eine Mitverantwortung tragen und für
deren Folgen wir jetzt einstehen müssen. Jeder Ansatz
zu einer demografiegerechten Entwicklungskonzeption
muss deshalb über die nationale Nabelschau hinausgehen und die globale Dimension einbeziehen. Es kann
also nicht allein darum gehen, eine Demografiestrategie
für Deutschland zu erarbeiten. Vielmehr muss mit Hochdruck und aller politischer Verantwortung sowie Ernsthaftigkeit an einem neuen Gesellschaftsentwurf gearbeitet werden. Deshalb ist es so wichtig, sich der politischen
Gestaltungsnotwendigkeit bewusst zu werden. Dabei
geht es um das Primat der Politik und nicht um ein Reagieren auf Markterfordernisse.
({0})
Die Frage, welche Verwertungsbedingungen die
Märkte brauchen und welche politischen Rahmenbedingungen sie als Reaktion auf den demografischen Wandel
fordern, darf nicht mehr im Mittelpunkt stehen.
Die Finanzmärkte haben sich internationalisiert. Die
Absatzmärkte sind Welthandelsmärkte. Große Wirtschaftsunternehmen agieren als Global Player; die hierfür arbeitenden Menschen sind auf der ganzen Welt unterwegs.
All das führt zu Umweltproblemen, zu Klimawandel, zu
internationalisierten Kapitalverwertungsbedingungen bis
hin zum schnellen Verbrauch natürlicher Ressourcen.
Wir werden also mit einer nationalen Demografiestrategie scheitern - ja, scheitern müssen.
Die Grundsatzfragen für eine künftige Entwicklung
müssen lauten: Wie wollen die Menschen ihre Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten gestalten? Wie kann
die Politik den objektiven Erfordernissen nach gesellschaftlichen Veränderungen nicht nur gerecht werden,
sondern sie aktiv gestalten? Erst dann stellt sich die
Frage nach der Rolle der Märkte. Können diese Märkte
durch die Politik so reguliert werden, dass sie sich den
durch die demografischen Veränderungen hervorgerufenen künftigen Entwicklungsprozessen für die Gestaltung
einer globalen, humanen Gesellschaft anpassen?
Wollen wir weiter zulassen, dass die großen Märkte
- Marktbeherrscher, Global Player - weiterhin alle Lebensbereiche der Menschen dominieren und sie mithilfe
der Politik ihren Markterfordernissen unterordnen? Die
Bundesregierung - so hat es die Debatte heute Morgen
wieder gezeigt - ist weder in der Lage noch gewillt, einen solchen Paradigmenwechsel in ihrer Denkweise
überhaupt zuzulassen.
Selbst wenn statt eines echten Konzepts nur so etwas
wie ein Maßnahmenbündel von der Regierung oder einem Ausschuss vorgelegt werden sollte, dann gilt es
- aus unserer Sicht zumindest -, einige unverzichtbare
Leitplanken und Grundsätze festzuschreiben. Die demografische Entwicklung darf keinesfalls Argument für
Einschnitte in soziale Sicherungssysteme, für die Privatisierung der Daseinsvorsorge oder die Erhöhung des
Renteneintrittsalters missbraucht werden.
({1})
Die Linke ist der Überzeugung, dass die Folgen des
demografischen Wandels nur solidarisch bewältigt werden können - ja, müssen. Für die Stabilität der Finanzierungsbasis der sozialen Sicherungssysteme kommt es
eben nicht vordergründig auf das Verhältnis von Jungen
und Alten an, sondern auf die Anzahl und die Leistungsfähigkeit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung.
Notwendig wäre eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die mehr existenzsichernde sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze schafft, die Arbeitslosigkeit dauerhaft bekämpft, indem sie Arbeit
gerecht und sinnvoll neu definiert und organisiert, und
sie eben nicht als zwangsläufige Folge des Konjunkturverlaufs hinnimmt. Notwendig ist eine Politik, die prekäre Beschäftigung unterbindet und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angemessen am Wirtschafts- und
Produktivitätsfortschritt beteiligt.
({2})
Das wären zentrale Ansatzpunkte zur Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse aus den Erfordernissen des demografischen Wandels und der Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme.
Ein weiterer Ansatzpunkt läge in einer Politik, die es
wieder mehr Menschen ermöglicht - und zu deren
Lebensentwurf es selbstverständlich gehört -, ihren Kinderwunsch zu realisieren. Kinder dürfen niemals ein Armuts- oder Karriererisiko sein. Die Vereinbarkeit von
Berufstätigkeit und Kinderwunsch muss durch den Ausbau der Kindertagesbetreuung und eine flexible Gestaltung von Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen deutlich
verbessert werden. Lebensentwürfe, die das Kinderkriegen und das Großziehen von Kindern oder die Pflege bedürftiger Menschen im Mittelpunkt haben, müssen gesellschaftlich ebenso anerkannt und durch Einkommen
sichergestellt werden wie die heute dominierende und
idealisierte Karriere in bestimmten Lebensformen.
Die Lebens- und Verteilungsweise der Gesellschaft
muss sich grundsätzlich ändern, damit alle Generationen
und alle Lebensweisen gleichermaßen eine Perspektive
haben. Die dafür notwendige Produktivität hat die klassische Industriegesellschaft längst geschaffen. Der Kern
ist dabei nicht die Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums zwischen Jungen und Alten, sondern zwischen oben und unten.
Wir erwarten von einem Handlungskonzept der Bundesregierung für Sicherheit und Fortschritt im Wandel:
eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik als
zentralen Ansatzpunkt der Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme,
({3})
eine alters- und altengerechte Gestaltung der Arbeitswelt; Investitionen in personennahe Dienstleistungen;
den qualitativen und quantitativen Ausbau einer regionalen Daseinsvorsorge entsprechend der unterschiedlichen
regionalen Gegebenheiten; den Umbau der gesetzlichen
Rentenversicherung zu einer solidarisch finanzierten Erwerbstätigenversicherung; eine Stärkung öffentlicher
Dienste, die allen Generationen gerecht werden und allen Menschen ohne Einschränkungen zugänglich sind;
die Erweiterung sozialer und kultureller Dienstleistungen sowie eine Stadtgestaltung, die die Mobilität aller
Menschen unterstützt, ihnen den Zugang zu allen Angeboten gestattet, Familien und Jugendlichen Raum gibt
und das Miteinander der Generationen ermöglicht.
Gerade Letzteres - die Stadt- und Regionalentwicklung - könnte ein konkreter Indikator dafür sein, wie die
Bundesregierung die objektiven demografischen Entwicklungserfordernisse aufnimmt und mit Investitionsprogrammen darauf reagiert.
Hier wäre ein sehr konkretes Handlungsfeld für eine
vorausschauende, gestaltende Investitions-, Struktur- und
Sozialpolitik. Gerade hier zeigt sich leider, wie wenig
die Bundesregierung dazu in der Lage ist. Sie verschließt
sich aktuell jeder wirtschaftlichen Vernunft und kürzt die
Mittel für sich selbst refinanzierende Förderprogramme
im Städtebau und in der energetischen Gebäudesanierung. Hier ignoriert sie hartnäckig jegliches fachliches
Urteil und handelt stur an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
Wenn schon in einem relativ übersichtlichen und
praktikablen Politikfeld wie der Stadtentwicklung sichtbar wird, wie wenig die Bundesregierung von ganzheitlichen Entwicklungskonzepten hält, dann ist eine in sich
konsistente und vor allem nachhaltige Antwort auf die
komplexe Gesamtproblematik, wie sie heute nachgefragt
wird, sehr unwahrscheinlich. Ich bin deswegen wenig
optimistisch, dass die Bundesregierung auf die Große
Anfrage der SPD-Fraktion eine zukunftssichere Antwort
für die nachwachsenden Generationen geben wird. Dazu
braucht sie die Opposition. Ich verspreche Ihnen: Wir
stehen zur Verfügung.
Danke schön.
({4})
Manuel Höferlin hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Bluhm, vielen Dank für das Angebot; aber wir brauchen die Opposition nicht, um gute
Politik zu machen.
({0})
- Meine Herrschaften von der SPD, ich halte das, was
Sie bei Ihrer Großen Anfrage abliefern, für bezeichnend:
Herr Kollege Müntefering, Sie haben in Ihrer dreiminütigen Rede zur Einbringung der Großen Anfrage zu Beginn zweieinhalb Minuten lang Überschriften vorgelesen
({1})
und erst am Ende gesagt, was Sie sich erhoffen. Insofern
glaube ich, dass Sie zurückhaltender sein sollten.
({2})
Deutschland durchläuft eine tiefgreifende demografische Veränderung. Wir wissen das nicht erst seit gestern.
Bis in die 90er-Jahre waren Bevölkerungszahlen und Altersstrukturen noch einigermaßen stabil. Inzwischen
kennen wir das Problem schon länger, nicht erst seit gestern. Auch Vorgängerregierungen hätten das Problem erkennen können; aber sie haben es zu der Zeit nicht in allen Bereichen ausreichend gewürdigt und Möglichkeiten
ungenutzt gelassen.
Wir erleben eine dynamische Bevölkerungsentwicklung, die nicht so verläuft, wie wir es wollen, sondern in
die entgegengesetzte Richtung. Die Entwicklung ist regional stark differenziert: Wir haben in Deutschland Regionen, die sehr stark darunter leiden, dass sich die
Räume durch die Demografie verändern und Bevölkerungswachstum nicht stattfindet. Zum Beispiel ist der
Bevölkerungsrückgang in ländlichen Bereichen Niedersachsens, Nordhessens und Bayerns sehr stark. Das ist
bedenklich. Die Ungleichgewichte erfordern einen Eingriff, einen Plan.
Sie wissen selbst, dass nächste Woche der Demografiebericht der Bundesregierung vorgelegt wird
({3})
und die Bundesregierung dabei ist, eine Demografiestrategie zu entwickeln; sie wird in wenigen Monaten vorgelegt. Insofern ist Ihre Große Anfrage, über die wir heute
reden, wieder einmal ein Stück weit Schaufensterpolitik;
({4})
denn Sie wissen genau, dass die Strategie, die bald vorgelegt wird, die Antworten bringen wird, die wir benötigen.
({5})
Insgesamt lässt sich beobachten, dass die Bevölkerungszahl abnimmt. Die Bevölkerung wird älter.
({6})
- Ich liege bei meiner eigenen Arbeit für eine bessere demografische Entwicklung dieses Landes über dem
Durchschnitt. Insofern können Sie sich den unqualifizierten Einwurf sparen.
Das Statistische Bundesamt hat vor zwei Jahren erklärt, dass im Jahr 2060 ein Siebtel unserer Bevölkerung
80 Jahre und älter sein wird. Im Osten der Republik hat
die Entwicklung mittlerweile dramatische Ausmaße angenommen. Die Lebenserwartung ist stark gestiegen.
Gleichzeitig ziehen dort immer mehr junge Menschen
fort. Es kommen also zwei Entwicklungen zusammen,
die sich gegenseitig verstärken und zu dieser Überalterung führen.
Die Veränderungen bei der Altersstruktur wird sich
auch auf die Erwerbstätigkeit in Deutschland auswirken:
Wir werden mehr Rentner in Deutschland haben, Menschen, die glücklicherweise länger leben und später pflegebedürftig werden.
({7})
Das sind Herausforderungen, auf die wir mit Sicherheit
eine Antwort finden.
Ich bin überrascht, dass Sie Ihre Anfrage offensichtlich so lustig finden.
({8})
Ich bin vor allen Dingen deshalb überrascht, weil die
SPD doch in einem großen Teil der Länder und Kommunen auch Verantwortung trägt.
({9})
Es ist doch so, dass die Probleme, die im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel in den Kommunen auftreten, auch in der Verantwortung der dort Verantwortlichen liegen und Sie ja dort auch immer noch
Verantwortung haben. Vor diesem Hintergrund ist es
umso erstaunlicher, dass Sie selbst nicht Lösungen suchen und Antworten geben.
({10})
Deshalb verstehe ich wirklich nicht, wieso Sie das so
lustig finden.
({11})
Die Bundesregierung hat unter der Federführung des
BMI schon im Oktober ein Handlungskonzept zur Sicherung der privaten und öffentlichen Infrastruktur in den
vom demografischen Wandel besonders betroffenen
ländlichen Räumen vorgelegt. Liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion, wie Sie wissen und wie ich
auch schon gesagt habe, wird die Bundesregierung
nächste Woche den Demografiebericht vorstellen. Soweit ich weiß, ist geplant, im nächsten Jahr eine Demografiestrategie vorzulegen. Darum halte ich die Tatsache,
ausgerechnet jetzt eine solche Anfrage zu stellen, schon
für ein wenig scheinheilig. Wir werden gute Antworten
finden. Sie werden nachher noch zwei Kollegen von mir
hören; diese werden über andere Bereiche sprechen.
({12})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({13})
Die Kollegin Tabea Rößner spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn ich auf hoher See bin und Nebel aufzieht, dann
nehme ich ein GPS-Gerät zur Hand. Das weist mir dann
die Richtung.
({0})
- Das haben wir immer getan. - Aber wenn ich die Bundesregierung anschaue und auch die Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition höre, dann kommt es mir
eher so vor, als ob Sie damit beschäftigt sind, die Dichte
des Nebels zu messen.
Der demografische Wandel ist da. Die Auswirkungen
sind spürbar. Als Reaktion darauf erfordern sie ganzheitliches Denken und Gestaltungswillen. Beides kann ich
bei der Bundesregierung nicht erkennen.
({1})
Ich frage Sie: Was ist Ihr Lösungsansatz? Wenn ich
nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis genau so verfahren Sie. Sie haben eine interministerielle
Arbeitsgruppe gegründet, die ganz im Geheimen getagt
hat, und zwar so geheim, dass einzelne Mitglieder dieser
Arbeitsgruppe davon noch nicht einmal eine Ahnung
hatten.
Herr Krings, Sie sagten, Sie begriffen dieses Thema
als Querschnittsthema. Wenn es tatsächlich so ist, würde
ich mir wünschen, dass jetzt hier tatsächlich auch alle
Ressorts vertreten wären. Aber das ist leider nicht der
Fall.
Wäre es nicht sinnvoller, statt geheim zu tagen, eine
breite gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, wie
wir in Zukunft leben wollen? Nächsten Mittwoch gibt es
- das wurde ja schon angekündigt - den ersten Bericht
zur demografischen Lage der Nation. Seit zwei Jahren
ist nun diese Bundesregierung am Ruder. Alles, was zu
dieser Frage nun herauskommt, ist ein Bericht. Dabei
gibt es Demografieberichte wie Sand am Meer. Notwendig wären vielmehr die Entwicklung einer Strategie und
die Erstellung eines Handlungskonzepts. Sonst geraten
Sie noch viel, viel tiefer in dicke Nebel hinein und können nicht in die richtige Richtung steuern.
Das Absurde an der ganzen Sache ist: Es gibt ja Lösungsansätze. Dass Sie unsere Vorschläge nicht annehmen wollten - gut. Aber dass Sie nicht einmal danach
fragen, was Ihre eigenen Einrichtungen dazu zu sagen
haben, erstaunt mich schon sehr.
({2})
Seit Mitte der 90er-Jahre gibt es beim BBSR ein Aktionsprogramm mit dem schönen Namen „MORO - Modellvorhaben der Raumordnung“. In diesem Rahmen
sind zahlreiche Handlungsansätze erarbeitet worden: zur
nachhaltigen Siedlungsentwicklung, zur Infrastruktur,
zur Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge
und, und, und. Es gibt auch schon Empfehlungen, wie
die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändert werden
sollten. Schade nur, dass Sie an diese Arbeit nicht anknüpfen. Dabei wären diese Ansätze gute Bojen, an denen Sie sich ein bisschen orientieren könnten.
Wir sind jetzt gefragt: Steuern wir den Wandel, oder
lassen wir ihn über uns ergehen? Eines ist dabei wichtig:
Es darf kein düsteres Bild der Zukunft an die Wand gemalt werden.
({3})
Wir Grüne haben den demografischen Wandel immer als
Chance gesehen. Wenn das bei Ihnen auch der Fall wäre,
dann dürfte man erwarten, dass Sie das Thema deutlicher auf die politische Agenda setzen und öffentlich darüber diskutieren.
({4})
Der demografische Wandel verändert unsere Gesellschaft von Grund auf. Die Zahlen sind alle genannt. Dass
wir immer älter werden, ist erst einmal eine gute Nachricht. Aber auf eine Gesellschaft des langen Lebens müssen wir uns auch einstellen. Da würde es schon helfen,
wenn wir etwas von unserem Schwarz-Weiß-Denken abkämen. Es gibt nicht nur die Hilfebedürftigen, die Demenzkranken, die Alten mit Rollator auf der einen Seite
und die Fincabesitzer auf Mallorca auf der anderen
Seite. Alte Menschen in Deutschland bilden ein vielfältiges Spektrum ab. Sie haben unterschiedliche Bedürfnisse, und sie haben viele Potenziale. Die gilt es in Zukunft mitzudenken.
Nicht das Alter an sich ist das Problem, sondern oft
sind es die schwierigen Begleitumstände des Alterns.
Um ein selbstbestimmtes Leben und soziale Teilhabe sicherzustellen, brauchen wir nicht nur altengerechte Lösungen, sondern altersgerechte. Davon profitieren alle:
Familien, Jugendliche, Menschen mit Behinderung und
Alte.
({5})
Ein Beispiel zum altersgerechten Wohnen. Ältere
Menschen wollen möglichst lange zu Hause leben. Dafür brauchen sie Wohnungen, in denen das möglich ist.
Im Mai betonte Staatssekretär Jan Mücke bei der Vorstellung der Studie „Wohnen im Alter“ - ich zitiere -:
Die Anpassung von Wohnungsbestand … an die
Bedürfnisse älterer Menschen steht ganz oben auf
unserer wohnungspolitischen Agenda.
({6})
Hier hätte es eine konkrete Handlungsoption gegeben.
({7})
Aber was macht die Regierung? Das Thema wird im
Ausschuss immer wieder vertagt, und das KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ wird abgewickelt. So
sieht das also aus, wenn die Bundesregierung etwas ganz
oben auf die Agenda setzt.
Ein weiteres Beispiel ist der Ärztemangel auf dem
Land. Das ist ein wichtiges Thema. Das von der Bundesregierung vorgelegte Versorgungsstrukturgesetz wird
nicht dabei helfen, die gesundheitliche Versorgung zu
verbessern. Es kann doch nicht sein, dass junge niedergelassene Ärzte, die bereit sind, ein paar Dörfer weiter,
wo es keinen Arzt mehr gibt, eine Zweigniederlassung
aufzumachen, dafür keine Zulassung erhalten. Solche
dezentralen Lösungen sind doch zu begrüßen, aber sie
werden durch technokratische Verfahren erschwert oder
sogar verhindert.
Wir brauchen einen Perspektivwechsel und sollten
von den Bedürfnissen der Menschen ausgehen. Nicht der
Erhalt von Infrastruktur um ihrer selbst willen darf im
Fokus stehen. Vielmehr muss man sich fragen: Welche
Infrastruktur brauchen die Menschen, damit sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können? Da reicht es
eben nicht, Fachkräfte mit höherem Gehalt aufs Land zu
locken.
Ich komme wie auch Herr Höferlin aus RheinlandPfalz, wo einige Regionen vom demografischen Wandel
massiv betroffen sind. Wissen Sie, was mir die Ortsbürgermeister häufig berichten? Wenn sich junge Familien
ein Haus oder eine Wohnung in der Gemeinde anschauen, dann kommen immer drei Fragen: Erstens. Gibt
es Kinderbetreuung? Zweitens. Gibt es Einkaufsmöglichkeiten? Drittens. Gibt es Breitband? Das sind die
Bedürfnisse, um die wir uns kümmern müssen: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und echte Breitbandanschlüsse, die Homeoffice ermöglichen und viele
Dinge des Alltags erleichtern.
({8})
Stichwort Fachkräftemangel. In einigen Regionen
werden bereits heute händeringend Fachkräfte gesucht.
Einige kleine Betriebe stellen sogar Schulabgänger ohne
Berufsausbildung ein. Das ist falsch; denn diese jungen
Menschen machen später meistens keine Berufsausbildung mehr. Wir brauchen aber Fachkräfte, und deshalb
müssen wir dafür sorgen, dass kein junger Mensch mehr
ohne Ausbildung ins Berufsleben startet.
Wir müssen uns auch darum bemühen, dass Menschen gerne zum Arbeiten in unser Land kommen, das
heißt, wir müssen Zuwanderung positiv und nicht repressiv gestalten.
({9})
Dazu müssen wir die Einkommensschwelle für ausländische Fachkräfte senken und die im Ausland erworbenen
Abschlüsse anerkennen. Wir brauchen das Punktesystem. Viele Migrantinnen und Migranten arbeiten bereits
unter ihrem Qualifizierungsniveau. Das ist nicht nur herabwürdigend, sondern es vergeudet auch Potenziale.
Das sind nur einige Beispiele. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Unser Ziel muss es sein, eine Gesellschaft zu fördern, die wieder stärker zu einer Gemeinschaft zusammenwächst. Statt des oft beschworenen
Kampfes der Generationen - Herr Müntefering hat es
angesprochen - muss es den Dialog der Generationen
geben. Wir wollen eine Gesellschaft, die sich kümmert,
eine solidarische, faire und generationengerechte Gesellschaft. Dazu brauchen wir freiwilliges Engagement. Das
kann man aber nicht erzwingen, sondern man muss darum werben. Wir brauchen neue Partizipationsmöglichkeiten; denn die Menschen wollen mitgestalten. Dann
sind sie auch bereit, Veränderungen mitzutragen.
Es ist falsch, zu glauben, es gebe ein Patentrezept.
Was wir ganz sicher brauchen, ist eine Strategie, um gemeinsam mit den Ländern und Kommunen Maßnahmen
zu erarbeiten und umzusetzen. Wir brauchen eine Strategie, die über die Ressorts hinausdenkt, und wir brauchen
schnellstmöglich ein Handlungskonzept.
Ich rate Ihnen: Nehmen Sie endlich ein GPS-Gerät
- oder lassen Sie es auch nur einen Kompass sein - in
die Hand! Dann werden Sie den Nebel endlich hinter
sich lassen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt Manfred Behrens für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema
Manfred Behrens ({0})
„Der demografische Wandel in Deutschland“. Inhaltlich
stellt die SPD 63 Fragen, um die Sichtweise der Bundesregierung zu ergründen. Allerdings stelle ich mir bereits
hier die Frage: Was hat die SPD denn bisher getan? Ich
sage es Ihnen: Obwohl die Problematik längst bekannt
ist, haben Sie keine Konzepte.
Die Altersstruktur in Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass bereits seit über zwei Jahrzehnten die
Sterberate deutlich über der Geburtenrate liegt. Demnach schrumpft die deutsche Bevölkerung Jahr für Jahr.
Auch in der Zeit der Regierungsbeteiligung hat Ihre
Partei keine tragfähigen Maßnahmen auf den Weg gebracht.
({1})
Und nun, angekommen in der Opposition, versuchen Sie
das Thema „Demografischer Wandel“ als eigenes
Thema zu deklarieren. Mit Negativinterpretationen
schüren Sie Ängste innerhalb der Bevölkerung. Sie malen unnötig regelrechte Horrorszenarien an die Wand
und wundern sich anschließend, dass die Menschen verunsichert sind.
Um für die Zukunft seriöse Politik anbieten zu können, muss man wissen, was in den vergangenen 100 Jahren demografisch passiert ist.
({2})
Zum einen ist die Lebenserwartung um 30 Jahre gestiegen. Zum anderen hat sich der Anteil der Kinder an der
Bevölkerung von 40 auf 20 Prozent halbiert. Zudem hat
sich der Anteil von Menschen über 65 Jahren auf 15 Prozent verdreifacht. Alle diese Zahlen beweisen, dass
Deutschland bereits in der Vergangenheit enorme Veränderungen ertragen und überlebt hat. Ich will es ganz
deutlich machen: Deutschland steuert mit seiner demografischen Entwicklung nicht auf den Abgrund zu.
({3})
Als Bundestagsabgeordneter und Ortsbürgermeister
aus dem Wahlkreis Börde-Jerichower Land befasse ich
mich intensiv mit Fragen der demografischen Entwicklung und deren Auswirkungen auf Sachsen-Anhalt.
({4})
Es ist bekannt, dass es aufgrund geburtenschwacher
Jahrgänge zu einem Rückgang des Arbeitskräftepotenzials kommen wird. Es ist auch kein Geheimnis, dass bereits schwach besiedelte Gebiete mit einer geringen Bevölkerungsdichte vor Probleme gestellt werden; denn
hier, in ländlichen Gebieten, wird die Tragfähigkeit von
Infrastrukturen im öffentlichen Leben schnell unterschritten.
Auch die Infrastruktur auf dem gesundheitlichen Gebiet stellt Gemeinden zunehmend vor finanzielle Probleme. Aber an dieser Stelle von einer aussterbenden
deutschen Bevölkerung zu sprechen, halte ich für unangebracht.
Was ich für sehr angebracht halte, ist eine vernünftige
und glaubwürdige Politik. Die CDU/CSU befasst sich
gewissenhaft mit der Entwicklung und der Struktur der
Bevölkerung.
Gestatten Sie mir als Ortsbürgermeister einer kleinen
Gemeinde in Sachsen-Anhalt ein Beispiel: 1990 hatte
diese Gemeinde 800 Einwohner. Heute sind es über
2 000 Einwohner. Die Einwohnerzahl hat sich verdreifacht. Die Kindertagesstätte hatte in den 90er-Jahren weniger als 30 Kinder und konnte nicht mehr existieren.
Heute hat die Kindertagesstätte 120 Kinder. Jedes Jahr
haben wir einen Bevölkerungszuwachs von 25 neuen
Bürgern. Damit ist die Zukunft der Kindertagesstätte gesichert.
({5})
Für die Zukunft brauchen wir aber auch vernünftige
Konzepte, die den ganz speziellen regionalen Anforderungen gerecht werden. Wir brauchen gute regionale
Projekte. Daher ist es von großer Bedeutung, dass sich
die einzelnen Gemeinden ihrer eigenen Stärken und
Schwächen bewusst werden. Das Ziel kann lauten: Kooperation auf regionaler Ebene. An dieser Stelle können
Politik, Wirtschaft und Verbände zusammenkommen,
um ein regional gültiges Problembewusstsein zu entwickeln. Darüber hinaus können sich die regionalen Kooperationspartner in einem ständigen Informationsaustausch über kurz- und mittelfristige Ziele für ihre Region
abstimmen und versuchen, diese gemeinsam mit der
Politik zu erreichen. Die CDU/CSU-Fraktion wird diesen breiten Dialog fordern und fördern.
In meinem Heimatland, Sachsen-Anhalt, ist das
Thema seit zwei Jahrzehnten allgegenwärtig, unter anderem wurde die Stabstelle Demografische Entwicklung
und Prognosen neu geschaffen. Im Rahmen verschiedener Stadtumbauprogramme haben sich Städte konkret
mit den Bevölkerungsprognosen beschäftigt und ganzheitliche Konzepte erarbeitet. Durch effiziente Strukturen wird die Funktionsfähigkeit der Gemeinden in Sachsen-Anhalt auch zukünftig gesichert.
An dieser Stelle möchte ich aus meiner Gemeinde ein
Beispiel für die medizinische Versorgung nennen. Eben
wurde gesagt, dass es keine Zulassungen für Hausärzte
gibt. Fakt ist, dass wir sterbende Hausärzte und immer
weniger Hausarztpraxen vor Ort haben.
({6})
In meiner Gemeinde hat ein junges Arztehepaar ein
Landambulatorium gegründet. Sie haben mehrere von
der Schließung bedrohte Hausarztpraxen übernommen.
Somit ist die gesundheitliche Betreuung bei mir vor Ort
gesichert.
Zum Schluss möchte ich noch festhalten, dass die
CDU/CSU-Fraktion an ernsthaften und zukunftssicheren
Konzepten arbeitet. Die Bewältigung des demografiManfred Behrens ({7})
schen Wandels durch Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen und das Erkennen von Potenzialen ist
eine nationale Aufgabe. Die CDU/CSU-Fraktion hat
sich dieser Aufgabe angenommen. Sie wird diese auch
in Zukunft mit den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland erfolgreich gestalten.
Danke schön.
({8})
Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat jetzt
das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die ganze Welt redet in diesen Tagen über die
Zukunftsrisiken, die von den Finanzmärkten und den
überschuldeten Staaten ausgehen - mit Recht; denn es
geht um nicht weniger als um die Sicherung von Wohlstand, Lebensqualität und solidarischem Miteinander.
Genau darum geht es auch bei der Gestaltung des demografischen Wandels. Es geht um das Miteinander der Generationen.
({0})
Der demografische Wandel wird überall in unserem
Leben zu spüren sein. Er wird sich auf Kinder auswirken: Es wird immer weniger Kinder geben. Er wird sich
auf Jugendliche auswirken, wenn Freizeitangebote nicht
mehr aufrechterhalten werden können. Er wird sich auf
Familien auswirken, wenn die ältere Generation gepflegt, die jüngere erzogen und die Anforderungen des
Arbeitslebens erfüllt werden müssen. Politik sollte den
Menschen in einer solchen Situation Orientierung geben.
Sie sollten ihnen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, sondern sie unterstützen, wo das nötig ist.
({1})
Wir brauchen von daher gute und nachhaltige Bedingungen für Kinder, Jugendliche und Familien. Alle Kinder sollen gesund, materiell abgesichert und mit den
besten Bildungschancen aufwachsen. Wir wollen Jugendliche stark machen. Niemand darf zurückgelassen
werden. Sie brauchen notfalls auch eine zweite oder
dritte Chance, um die Schule, eine Ausbildung oder ein
Studium abzuschließen zu können.
({2})
Wir wollen Familien unterstützen. Sie erziehen die
Kinder und tragen zu einem großen Teil unser soziales
Sicherungssystem. Die Familienmitglieder übernehmen
Verantwortung füreinander und für die gesamte Gesellschaft. Egal ob Enkelin, Opa oder Mama, wir wollen für
alle Familienmitglieder eine Balance zwischen Ausbildung, Freizeit, Engagement und Beruf. Mit den richtigen
Ideen und modernen Zukunftsprojekten lässt sich der demografische Wandel gestalten.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der FDP: Haben Sie diese Konzepte? Bis
heute haben wir auf unsere Große Anfrage nichts von Ihnen gehört oder gelesen.
({3})
Wollen Sie sich diesem demografischen Wandel ohnmächtig und tatenlos ergeben? Ihre Plenarpräsenz und
Ihr Engagement in den Debatten sprechen Bände.
({4})
Ich werde manchmal darauf hingewiesen und angesprochen, es gebe keine Unterschiede mehr zwischen
den Parteien. Das sehe ich anders. Die Unterschiede
könnten teilweise gar nicht größer sein. So läuft die SPD
Sturm gegen die Einführung eines Betreuungsgeldes;
denn die negativen bildungs- und gleichstellungspolitischen Wirkungen wären fatal.
({5})
Was macht die Union? Sie hält - gegen die Meinung der
Experten - am Betreuungsgeld fest, nur um ein vermeintlich konservatives Familienbild zu erhalten,
({6})
in dem die Frau zu Hause am Herd steht und die Kinder
erzieht.
({7})
Bauen Sie nicht die Herdprämie aus, sondern das Elterngeld. Während die SPD das erforderliche Elterngeld
ausbauen will, nimmt die Union Kürzungen vor. Es werden sogar Forderungen nach einer Streichung laut.
({8})
Wir wollen niemanden zwingen, arbeiten zu gehen, statt
zu Hause bei den Kindern zu sein.
({9})
Aber Deutschland ist auf den Schatz gut ausgebildeter
Frauen auf dem Arbeitsmarkt angewiesen. Deshalb
brauchen wir Konzepte. Sorgen Sie dafür, dass es für
Mütter attraktiv ist, zu arbeiten, dass sie notfalls einige
Tage zu Hause bleiben und sich um ihre kranken Kinder
kümmern können, ohne Angst um den Arbeitsplatz haben zu müssen, und dass sie sich keine Sorgen machen
müssen, ob der Monat vor dem Gehalt oder das Gehalt
vor dem Monat zu Ende ist. Sorgen Sie dafür, dass für
die Väter die gleichen Regelungen gelten; denn moderne
Väter haben dieselben Probleme wie moderne Mütter.
({10})
Aber an solchen Konzepten mangelt es Ihnen; Sie
sind meilenweit davon entfernt. Bis jetzt haben wir von
Ihnen nur Beschreibungen des Status quo gehört.
({11})
Von daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Schwarz-Gelb, Sie brauchen einen Kurswechsel. Sie
müssen jetzt Orientierung geben, statt sich orientierungslos durchzuwursteln.
({12})
Sie müssen jetzt Gemeinwohl organisieren, statt Lobbyismus zu betreiben.
({13})
Sie haben in dieser Legislaturperiode schon so oft
Ihre Meinung geändert. Tun Sie es doch auch dieses
Mal. Es ist noch nicht zu spät, dem demografischen
Wandel richtig zu begegnen. Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr, entwickeln Sie Konzepte, so, wie es in
unserer Großen Anfrage gefordert wird. Denn es geht
um nicht weniger als um die Sicherung von Wohlstand
und von Lebensqualität sowie um das Miteinander der
Generationen.
Danke schön.
({14})
Johannes Vogel hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal müssen wir alle festhalten - ich freue mich,
dass auch die Kollegen der SPD darauf hingewiesen haben -: Wir reden hier über eine gute Nachricht. Wir reden darüber, dass wir alle tendenziell immer älter werden und dabei länger fit bleiben. Sie haben natürlich
recht: Dieser Prozess muss politisch gestaltet werden,
und zwar mit Jung und Alt zusammen. Die Kollegen
- Kollege Krings hat zuerst darauf hingewiesen - haben
schon dargestellt: Es ist bestenfalls Oppositionsgetöse,
dass Sie uns, nur weil seit vier Monaten die Antwort der
Bundesregierung ausbleibt, Handlungsunfähigkeit unterstellen; denn Sie wissen, dass nächste Woche nicht nur
ein Demografiebericht, sondern Anfang des Jahres auch
eine umfassende Demografiestrategie vorgelegt werden.
({0})
Ich glaube, wenn wir uns anschauen, was wir als Koalition hier machen, dann lässt sich dieses Bild nicht halten. Wir stellen uns dem demografischen Wandel, zum
Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Dort führt er ganz konkret zu Fachkräftemangel. Das wissen wir; das ist die
Herausforderung. Wir werden in Deutschland in 2025
6,5 Millionen Arbeitskräfte weniger haben. Das entspricht der Einwohnerzahl Hessens. Ich glaube, auf Hessen sollte die Bundesrepublik nicht verzichten müssen
und auch nicht auf die Arbeitskraft so vieler Menschen.
Wir stellen uns dieser Aufgabe, zum Beispiel durch
die Schaffung von Rahmenbedingungen für die bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf und dadurch, dass
wir mehr in die Qualifikation von Erwerbslosen investieren. Heute investieren wir 1 Milliarde Euro mehr als
2005, zum Ende der rot-grünen Regierungszeit,
({1})
obwohl es zu der Zeit 2 Millionen Arbeitslose mehr
gab, Frau Kollegin Mast. Wir stellen uns übrigens auch
der Aufgabe - das wissen Sie am besten, Frau Kollegin
Mast -, den Arbeitsmarkt der Zukunft zu bauen.
({2})
Diese Bundesregierung, diese Koalition hat erst vor zwei
Wochen eine Arbeitsmarktreform verabschiedet, bei der
wir erstmals die Möglichkeit ausgebaut haben, in die
Qualifikation Beschäftigter zu investieren.
({3})
Das hilft den Menschen auf dem Arbeitsmarkt; das hilft
auch bei der Bewältigung des Fachkräftemangels.
({4})
Wir alle wissen, dass die Menschen länger werden arbeiten müssen. Das ist auch richtig so. Wir kümmern uns
daher auch um die Rahmenbedingungen für einen flexiblen Renteneintritt.
Ich glaube, niemand kann sagen, dass diese Koalition
kein Konzept hätte oder sich der Herausforderung nicht
stellen würde. Was man aber sagen kann - das bedauere
ich wirklich - ist: Es ist schade, wie wenig konstruktiv
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, diesen Prozess begleiten.
({5})
Ich nenne als Beispiel den Fachkräftemangel. Wir wissen, dass es darum geht, die Potenziale hier in Deutschland zu stärken, wir wissen aber auch, dass wir ihn nicht
ohne mehr Zuwanderung beheben werden. Es wird nicht
ohne mehr Zuwanderung gehen. Wir müssen am Wettbewerb um die klügsten Köpfe der Welt teilnehmen.
Was hat Ihr Parteivorsitzender dazu beizutragen? Er
spielt das zu stärkende Potenzial im Inland und mehr Zuwanderung gegeneinander aus. Er sagt, wenn dieses Problem ausschließlich über Einwanderung gelöst werden
soll - was niemand gesagt hat -, so muss sich niemand
über Ausländerfeindlichkeiten wundern.
Johannes Vogel ({6})
({7})
Dieses Gegeneinanderausspielen hilft uns nicht. Das
hilft uns auch nicht dabei, Menschen nach Deutschland
zu holen. Denn eine Willkommenskultur, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, stellen wir uns definitiv
anders vor.
({8})
Ein letzter Aspekt. Ich würde mir mehr konstruktive
Begleitung insofern wünschen, als Sie einfach zu dem
stehen, was Sie selber für dieses Land erreicht haben. Lieber Kollege Müntefering, das ganze Land kann zum Beispiel Ihnen ganz persönlich und auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dafür dankbar sein,
dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben, dass
Menschen, wenn sie länger fit bleiben, älter werden, auch
länger arbeiten müssen. Deshalb war der schrittweise
Umstieg auf die Rente mit 67 richtig.
({9})
Davor laufen Sie jetzt davon. Dazu wollen Sie sich jetzt
nicht mehr bekennen. Statt uns vorzuwerfen, wir reagierten nicht auf den demografischen Wandel, wäre es ein
guter Anfang, wenn Sie zu dem stünden und sich dazu
bekennen würden, was Sie für dieses Land einmal positiv erreicht haben.
({10})
Das würde uns allen helfen, mehr jedenfalls als solche
Debatten mit der Behauptung, die Bundesregierung habe
kein Konzept.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Mechthild Rawert hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Vogel, Sie sollten
sich schämen.
({0})
Sie sollten sich wirklich schämen. Ich hatte nicht vor, in
dieser Rede zum Thema Demografie die Äußerungen
insbesondere der Union gegen Zuwanderung zu wiederholen, weil das ein rückwärtsgerichtetes Denken ist.
({1})
Aber es rächt sich heute, dass gerade die Union ({2})
wenn Sie uns beschuldigen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen Zuwanderinnen und Zuwanderer auszuspielen, haben Sie in Ihrem jugendlichen Leichtsinn
die Historie nicht richtig verfolgt - so lange gezögert
hat, bis sie anerkannte: Deutschland braucht Zuwanderinnen und Zuwanderer, Deutschland ist ein Einwanderungsland.
({3})
Der mittel- und der langfristige Fach- und Arbeitskräftemangel beruht auf dem demografischen Wandel.
Der jetzige Fachkräftebedarf liegt begründet in verpassten Chancen, mangelnder Frauenerwerbstätigkeit, mangelnder Beschäftigung von Migrantinnen und Migranten
und mangelnder Beschäftigung von Älteren.
({4})
Zum Kontext der Zuwanderung im Bereich der Fachkräfte sage ich Ihnen: Das moderne Zuwanderungsrecht,
das hier reklamiert worden ist, haben wir noch nicht. Ich
sage ausdrücklich: Eine gelingende Integrationspolitik
ist die beste Werbung für gezielte Zuwanderung. Für
meinen Bereich, für Gesundheit und für Pflege, sage ich:
Für den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge brauchen wir nicht Billigkräfte, wie es vorhin schon gesagt
worden ist,
({5})
sondern wir brauchen qualifizierte Fachkräfte, zugewanderte und hiesige. Wenn Sie sich für den Bereich Arbeitsmarktpolitik stark machen, indem Sie den Mindestlohn für alle Branchen bekräftigen, schüren Sie auch
keine weiteren Ängste von Hiesigen und Zuwanderern.
({6})
Diesen Schritt sollten Sie schlicht und ergreifend zusammen mit uns gehen.
Faktum ist: Zuwanderer werden in Zukunft nicht
mehr vorrangig aus der Europäischen Union kommen,
auch nicht mehr aus Osteuropa. Denn die europäischen
Länder sind selbst vom demografischen Wandel betroffen. Junge, gut ausgebildete und migrationswillige Menschen könnten aber aus den Maghreb-Staaten, aus Fernost, aus Asien und auch aus Indien und Afrika kommen.
Laden wir diese herzlich ein!
({7})
Zeigen wir ihnen, dass wir sie hier tatsächlich brauchen!
Integrieren wir sie offenen Herzens in unsere Gesellschaft, aber nicht als Billigkräfte!
({8})
In der Zuwanderungspolitik müssen wir sehr schnell
den Wechsel zu einer offenen, auf Vielfalt beruhenden
Willkommens- und Anerkennungskultur schaffen. Wir
brauchen eine differenzierte Zuwanderungssteuerung
mittels eines Punktesystems. Sie haben dies in der Vergangenheit vorrangig verhindert.
({9})
- Nein, nicht zu Recht.
Wir brauchen gute und qualifizierte Arbeit, insbesondere in den sozialen Bereichen, im Gesundheitsbereich
und in der Pflege. Nur das Zusammenspiel von gut ausgebildeten hiesigen und noch zuwandernden Fachkräften
wird die Sicherstellung einer würdevollen Pflege für
alle, um die wir die ganze Zeit ringen und die wir von Ihnen fordern, ermöglichen. Anders schaffen Sie es nicht,
den demografischen Zusammenhalt zu gewährleisten.
Frau Kollegin.
Wer diesen solidarischen und attraktiven Zusammenhalt will, steht aufseiten der SPD.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ewa Klamt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit der Großen Anfrage zum Thema „Der demografische Wandel in Deutschland“ haben Sie, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sich wieder einmal mit einer der größten Herausforderungen, die unsere
Gesellschaft zukünftig zu bewältigen hat, befasst. Wir haben es hier schon mehrfach gehört: Das Bundeskabinett
verabschiedet nächste Woche den Demografiebericht. Insofern will ich Ihre Große Anfrage positiv werten, und
zwar als konstruktive Begleitung der Bundesregierung
auf einem Weg, den diese richtigerweise eingeschlagen
hat. Denn der demografische Wandel - in diesem Punkt
gebe ich Ihnen vollkommen recht - ist eine der größten
Herausforderungen für unsere Gesellschaft.
Der Rückgang der Bevölkerungszahl und die zunehmende Alterung werden nicht nur im Bereich der sozialen Sicherungssysteme, bei der Pflege und im Hinblick
auf den Fachkräftebedarf, sondern auch bei der erfolgreichen Gestaltung einer älter werdenden Gesellschaft in
den Bereichen Bildung und Forschung eine entscheidende Rolle spielen. Dort bildet der demografische Wandel bereits heute einen zentralen Themenschwerpunkt,
wie Sie, wenn Sie die Arbeit des Ausschusses, mit der
wir uns hier immer wieder beschäftigen, aufmerksam
verfolgt haben, bereits festgestellt haben.
({0})
Genau diese Bereiche, Bildung und Forschung, sind der
Schlüssel, um Produktivität, Innovationskraft und Wohlstand auch in einer älter werdenden Gesellschaft sicherzustellen.
({1})
Die Bundesregierung hat die Weichen gemeinsam mit
den Bundesländern richtig gestellt, und zwar mit der
Vereinbarung, dass die öffentliche Hand, die Wirtschaft
und Private bis zum Jahr 2015 insgesamt 10 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung aufwenden werden. Es wurden nicht nur Vereinbarungen
getroffen. Da, wo die Bundesregierung von sich aus allein tätig werden konnte, hat sie gehandelt. Zusätzlich
wurden bis zum Jahr 2013 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung bereitgestellt. Darum, meine Damen und Herren von der Opposition, lassen wir uns nicht
sagen, dass wir noch nicht tätig geworden sind.
({2})
Im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung, die unter Federführung des Ministeriums für Bildung und Forschung entwickelt wurde, wurde der demografische Wandel als ein die verschiedenen Bedarfsfelder
durchziehendes Querschnittsthema prominent aufgegriffen.
({3})
Weil Bildung und Forschung eine Schlüsselfunktion haben, fördert das Ministerium Maßnahmen, die auf eine
Erhöhung der Erwerbsbeteiligung und der gesellschaftlichen Teilhabe älterer Menschen abzielen, ebenso wie
Maßnahmen zur Erhöhung des Bildungsstandards. Sie
sehen an diesem Punkt auch, dass sich viele der 63 in der
Großen Anfrage enthaltenen Fragen eigentlich schon erledigt haben, weil wir längst entsprechende Maßnahmen
ergriffen haben.
Ein weiteres zentrales Thema ist die Sicherung des
Fachkräftebedarfs. Dazu gehört sicher auch die
Erhöhung der Innovationspotenziale und der Erwerbsbeteiligung zugewanderter Menschen. In diesem Zusammenhang liegt mir das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz besonders am Herzen.
({4})
300 000 Menschen in Deutschland warten darauf, dass
die von ihnen im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen endlich in einem vereinfachten Verfahren und anhand einer klaren Regelung geprüft werden können. Damit soll gewährleistet werden, dass sich diese Menschen
mit ihren Potenzialen und Fähigkeiten einbringen können.
({5})
Daher hoffe ich sehr, dass das derzeit im Bundesrat zur
Beratung anstehende Gesetz nicht blockiert wird, und
ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, ihren
Einfluss in den Ländern geltend zu machen, damit dieses
wichtige Gesetz in Kraft treten kann.
({6})
Weiteren Herausforderungen unserer älter werdenden
Gesellschaft nimmt sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits seit mehreren Jahren in unterschiedlichen Förderschwerpunkten an. Dazu gehört
insbesondere das Thema Pflege. Vor dem Hintergrund
der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen unterstützt
das Ministerium die Entwicklung von Prozessen - das
sind Dinge, die Sie konkret angesprochen haben -, durch
die zum einen Pflegemaßnahmen erleichtert und zum anderen pflegende Angehörige und professionell Pflegende
entlastet werden und mehr Raum für menschliche Zuwendung ermöglicht wird.
Sie alle kennen auch das Programm „Informationsund Kommunikationstechnologie 2020“. Gefördert werden damit neuartige Lösungen für altersgerechte Mobilitäts- und Kommunikationstechnologien, mit denen älteren Menschen eine bessere Teilhabe ermöglicht wird.
Wenn ich den Reden hier zuhöre, dann stelle ich immer
wieder fest, dass ganz viele Kolleginnen und Kollegen
überhaupt nicht wissen, was von dieser Bundesregierung
längst auf den Weg gebracht worden ist.
({7})
- Dafür haben Sie mich jetzt gerade hier. Ich erzähle Ihnen das alles ja gerade.
Ich sage Ihnen Folgendes: Trotz vieler bereits getroffener Maßnahmen steht natürlich fest, dass bei der Bewältigung des demografischen Wandels noch viele Aufgaben vor uns liegen und langfristige strategische
Antworten notwendig sind. Daher wird der anstehende
Demografiebericht, den das Bundeskabinett verabschieden wird, sicherlich nicht nur eine Analyse, sondern
auch Ansätze in Bezug auf den weiteren Handlungsbedarf enthalten.
Ich bin überzeugt, dass man den demografischen
Wandel mit gezielter Forschung und Entwicklung aktiv
und positiv gestalten kann, und ich denke, dass das doch
wirklich ein Thema ist, bei dem wir alle konstruktiv mitarbeiten können.
Ich danke Ihnen.
({8})
Sebastian Körber spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Durch keine andere Entwicklung wird unsere
Gesellschaft so stark und auch nachhaltig beeinflusst wie
durch den demografischen Wandel. Dieser wird sich in
Deutschland regional sehr unterschiedlich auswirken:
auf der einen Seite im ländlichen Raum, wo es Abwanderungsbewegungen gibt, und auf der anderen Seite in
den Ballungsgebieten, wo es Zuwanderungstendenzen
gibt. Wir werden merken, wie sich das überall in
Deutschland und überall unterschiedlich bemerkbar machen wird.
Die Stärkung der Innenstädte und der Ortskerne, die
Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur, die
medizinische Versorgung und gerade auch die Pflegeeinrichtungen im ländlichen Raum stehen ganz oben auf der
Agenda.
Zur Freiheit jedes Einzelnen gehört es schließlich
auch, sich selbstbestimmt fortbewegen zu können, sodass in jeder Lebenssituation eine aktive Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben möglich ist und die damit
verbundenen Einrichtungen besucht werden können.
Ziel muss hierbei stets die Barrierefreiheit sein, wo immer sie technisch und auch wirtschaftlich möglich ist.
Wo sich dies nicht realisieren lässt, muss ein hoher Grad
an Barrierearmut ermöglicht werden. Hierzu sind wir
insbesondere auch durch die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, die hier ja mit breiter Mehrheit angenommen worden ist. Die Umsetzung der Barrierearmut ist ein dynamischer Prozess, der nur schrittweise
unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit vollzogen werden kann.
Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr, sagt ein
Sprichwort. Es ist doch ein verständlicher Wunsch, dass
Menschen im Alter möglichst lange zu Hause in der vertrauten Umgebung bleiben möchten, wo sie sich sicher
fühlen.
({0})
Hier ergibt sich Handlungsbedarf. Aktuell sind nur
1,2 Prozent der Wohnungen in Deutschland altersgerecht. Wir brauchen aber bis 2020 etwa 2,5 Millionen
Wohnungen. Wünschenswert wäre also eine deutliche
Erhöhung der Quote auf etwa 20 Prozent bis 2030.
Die ambulante Pflege in den eigenen vier Wänden ist
deutlich günstiger als die stationäre Pflege und damit
gleichermaßen entlastend für die Pflegeversicherung und
somit auch ein Beitrag für mehr Generationengerechtigkeit.
({1})
Zukunftsfähige Baupolitik kommt daher an einer Fortführung des KfW-Programms „Altersgerecht Umbauen“
nicht vorbei; darüber sind wir uns als Fachpolitiker in
der Koalition einig.
Kommen wir kurz zur Großen Anfrage der SPD. Dabei fällt mir insbesondere die Frage 34 auf; Sie sollten
jetzt genau aufpassen.
({2})
Ich zitiere:
Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die Infrastrukturen, insbesondere für
den Verkehrsbereich?
Nun, ein persönlicher Beitrag der SPD dazu war wohl
die Anschaffung eines eigenen Kreuzfahrtschiffes
„MS Princess Daphne“. Ich habe mir das einmal angeschaut, weil das schon sehr bemerkenswert ist. Ich will
das inhaltlich nicht weiter werten; Sie können als Partei
Ihr Geld investieren, wo Sie möchten. Aber da wir uns
mit der demografischen Entwicklung und der Barrierefreiheit befassen, stelle ich leider fest, dass es auf Ihrem
Schiff keine Behindertenkabinen gibt. Sie sollten also
dringend bei sich selber anfangen.
Wie glaubwürdig ist das denn? Ich darf noch einmal
aus Ihrer Großen Anfrage zitieren:
Deutschland muss sich vor dem demografischen
Wandel nicht fürchten.
Vor Ihrer Doppelmoral an dieser Stelle aber sehr wohl!
({3})
Der Demografiebericht ist angesprochen worden. Lassen Sie uns auf Grundlage dieses Berichts ein sinnvolles
Konzept erarbeiten, um gemeinsam den Menschen in
Deutschland so lange wie möglich ein selbstbestimmtes
und generationengerechtes Leben zu ermöglichen.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat Petra Crone für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Der demografische
Wandel hat natürlich nicht nur, aber eben auch zu einem
großen Teil damit zu tun, dass wir immer älter werden.
Wir gewinnen Lebenszeit. Die meisten Älteren bleiben
länger fit und gesund. Neulich ist beim Marathon hier in
Berlin ein 75-Jähriger aus meinem Wahlkreis mitgelaufen. Wunderbar!
({0})
Die Älteren haben Erfahrung, Wissen und wichtige
Qualifikationen. Sie bieten ein großes Potenzial, das sie
für sich und unsere Gesellschaft nutzen wollen und auch
können. Eine möglichst lange Teilhabe an der Gesellschaft hält länger gesund und rege.
({1})
Doch dafür brauchen wir Anreize und Angebote, die
Ältere attraktiv finden. Wir haben schon etwas vorzuweisen, was noch weiterzuentwickeln wäre. Ich nenne
als Beispiel den Aufbau der Mehrgenerationenhäuser
- das war erfolgreich - und die „Freiwilligendienste aller Generationen“. Doch das entsprechende Programm
wird Ende 2011 ohne Not auslaufen, und diese Dienste
werden vom Bundesfreiwilligendienst ausgebootet. Ein
viel zu unpassendes, zeitintensives Angebot für Ältere!
({2})
Das reicht aber bei weitem nicht aus. Ältere Menschen haben es verdient, dass die Bundesregierung ihnen
passende Angebote vorlegt, wenn sie sich engagieren
und einen Teil ihrer Zeit für die Gemeinschaft verwenden wollen oder auch wenn sie sich weiterbilden möchten. Die Gesellschaft erwartet von der Bundesregierung
Antworten auf die Fragen: Wie können gute Bedingungen geschaffen werden, damit die Menschen ihre Lebenszeit nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gestalten können? Was wird getan, um der Altersarmut
vorzubeugen? Wie wird Pflege zukunftsfest?
Stattdessen ruft die Bundesregierung das Jahr der
Pflege aus, verschiebt wieder einmal die längst angekündigte Pflegereform, dieses Mal bis ins nächste Jahr.
({3})
Ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
gar nicht klar, wie dringend notwendig sie ist?
Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon vor der Sommerpause ein umfassendes Pflegekonzept auf den Markt
gebracht.
({4})
Es umfasst neben der Finanzierung von Pflege die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Pflegeausbildung, die Infrastruktur für Beratung und ambulante
Pflege, die Voraussetzungen für eine würdevolle Sterbebegleitung und die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.
Übrigens verzichtet es anders als der gestern verabschiedete Entwurf eines sogenannten Familienpflegezeitgesetzes nicht auf einen Rechtsanspruch.
({5})
Nehmen Sie sich ein Beispiel daran! Denn es ist ein
Skandal, dass Sie auf die drängendsten Fragen der Zeit
keine Antworten haben.
Ich danke Ihnen.
({6})
Michael Frieser hat für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! So leid es mir tut, muss ich feststellen, dass wir
zu diesem Thema eine Schaufensterdebatte führen.
Meine Vorredner haben auch schon darauf hingewiesen:
({0})
Wenn man weiß, dass die Antwort der Bundesregierung
noch kommt und ein Demografiebericht ansteht, und
wenn man sogar an einem Großteil der Diskussionen beteiligt war, aber trotzdem die heutige Debatte nutzt, um
mit dieser Fleißarbeit an zusammengestellten Fragen in
der Großen Anfrage in irgendeiner Art und Weise das
Thema zu besetzen,
({1})
dann muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, dass
das eher strategischer als inhaltlicher Natur ist. Diese
Bemerkung wollte ich mir erlauben.
Frau Kollegin Crone, ich finde das, was Sie zu der
gestrigen Debatte über die Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf gesagt haben, der Sache nicht ganz angemessen.
Ich glaube, dass unser Vorhaben in die richtige Richtung
geht.
({2})
Einen Punkt, in dem Nachholbedarf besteht, muss ich
der SPD vorhalten. In der gesamten Großen Anfrage finden sich kein einziges Mal die Wörter „Integration“ oder
„Migration“. Das ist überraschend. Ich will Ihnen zugutehalten, dass es darin um den Zu- und Abwanderungssaldo geht; aber es beschränkt sich auf diesen Kontext.
Wir müssen eine erfolgreiche Integrationspolitik und
eine erfolgreiche Bewältigung der Migration, die in unserem Land stattfindet, hinbekommen; darum handelt es
sich. Es wäre völlig verkehrt, zu glauben, dass Zuwanderung die einzige mögliche Antwort auf die Herausforderungen des demografischen Wandels ist.
({3})
Wichtig ist aber, dass alle Einflüsse des Integrationsprozesses auf eine Gesellschaft im demografischen Wandel
berücksichtigt werden. Ich bin deshalb der Frau Kollegin
dankbar, dass sie auf das Berufsqualifikationsfeststellunggesetz hingewiesen hat.
({4})
Das ist das integrationspolitische Ziel. Es muss doch
klar sein, dass wir dem Umstand, dass Menschen, die
eine ordentliche Qualifikation haben, diese in unserem
Land nicht nutzen können, möglichst schnell und möglichst gründlich ein Ende machen.
({5})
Wie Sie wissen, beträgt beispielsweise in Berlin der
Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund 43 Prozent. Ich komme aus Nürnberg, einer Stadt mit einem
Anteil von Menschen ausländischer Herkunft oder mit
Migrationshintergrund von 34 Prozent. Das zeigt deutlich, dass auch dies ein Ansatzpunkt ist.
Wir müssen über die Frage der Ab- und Zuwanderung
reden. Was wollen wir nicht? Wir wollen keine automatische Zuwanderung in Sozialsysteme. Zuwanderung hat
nur dann Sinn - darin sind wir sicherlich einer Meinung -,
wenn Teilhabe und Teilnahme der Menschen, die hierherkommen, dieser Gesellschaft und damit mittelbar
oder unmittelbar auch ihnen selber etwas bringt.
({6})
Deshalb sollte sich jeder, der hierherkommt, optimal
in dieser Gesellschaft einbringen können. Er soll Beiträge leisten, aber nicht die Sozialsysteme belasten. Er
soll Steuern zahlen und das, was er von der Gesellschaft
empfangen hat, an diese zurückgeben können. Das ist für
mich optimale Integration. Diese kann positive Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Gesellschaft haben. Auch das hat etwas mit demografischem Wandel zu
tun.
Ich will deutlich machen - das fehlt in diesem Fragenkatalog -, dass es keine Abkopplung von der Gesellschaft und keine Spaltung der Gesellschaft geben darf.
Das hat Auswirkungen auf die Integrationspolitik. Es hat
schon seine Gründe, warum die Bundesregierung ein
Modellprojekt auf den Weg bringt, mit dem Teilhabe und
Teilnahme, Fördern und Fordern individualisiert werden.
Es soll keine automatischen Prozesse, über die Menschen integriert werden, geben, sondern individuell gestaltete Programme, in deren Rahmen von Mensch zu
Mensch darüber geredet wird, welches die beste Form
der Zuwendung und welcher Zeitpunkt der beste ist, um
jemanden abzuholen.
Es ist wichtig, dass wir das schnell tun. Sprache als
das Betriebssystem einer Gesellschaft muss schnell weitergegeben werden, damit wir diejenigen, die hier leben,
in diese Gesellschaft optimal integrieren und sie in die
Lage versetzen, ihrerseits einen positiven, kreativen und
konstruktiven Beitrag zu leisten. Deshalb ist mir besonders die Ausbildung wichtig. Darin sind wir uns einig.
Eine Gesellschaft, die dem demografischen Wandel unterliegt, in der die Zahl der Menschen abnimmt und die
Menschen älter werden, eine Gesellschaft, die bunter
wird, muss immer größeren Wert auf die Ausbildung
legen. Es ist immer noch Fakt, dass Menschen mit Mi15926
grationshintergrund gerade bei dem entscheidenden
Übergang zwischen der Schule und dem Beginn der
Ausbildung dem Staat verloren gehen. Um diese Frage
geht es. Um dem entgegenzuwirken, hat die Bundesregierung meines Erachtens schon die entscheidenden
Schritte getan.
({7})
Ich darf Sie bitten, die Integration und die Migration
nicht ganz zu vergessen. Bei der Diskussion über den demografischen Wandel ist diese Frage ganz wesentlich.
An der Lösung der Probleme sollten wir gemeinsam arbeiten.
Danke.
({8})
Petra Ernstberger hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Da Sie von der Koalition dauernd darauf abgehoben haben, dass uns nächste
Woche ein Bericht der Bundesregierung vorgelegt wird,
weise ich darauf hin: „Bericht“ beinhaltet berichten. Das
heißt noch lange nicht, dass in dem Bericht auch die
Handlungsoptionen vorgelegt werden. Das verlegen Sie
in den Januar nächsten Jahres.
({0})
Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der
heute noch nicht im Mittelpunkt gestanden hat, nämlich
die Situation der Städte und Gemeinden in Deutschland.
({1})
Gerade diese sind besonders vom demografischen Wandel betroffen, und zwar in zwei Bereichen: Auf der einen
Seite geht es um das Wachsen, auf der anderen Seite um
das Schrumpfen. Beides stellt ungeheure Herausforderungen für die Kommunalpolitiker und die Menschen,
die in diesen Regionen leben, dar. Besonders betroffen
sind Regionen, die an Substanz verlieren. Es gibt Regionen in Deutschland, die bis 2030 30 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren werden. Das hat katastrophale Auswirkungen auf die Infrastruktur und die Menschen, die in
diesen Regionen leben. Es sind die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, welche die Situation vor
Ort und damit die Bedürfnisse der Menschen kennen und
die passgenaue und zukunftsfähige Problemlösungen
entwickeln müssen.
Eine besondere Chance bietet die Zusammenarbeit
von Kommunen über die Grenzen hinweg. Dazu ist
schon einiges vorbereitet worden, was wir den wirklich
guten Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern zu verdanken haben, die das schon angepackt haben. Aber das reicht nicht. Sie brauchen auch eine nachhaltige finanzielle Unterstützung, aber nicht eine mit der
Gießkanne, sondern eine individuell auf die einzelnen
Bedürfnisse zugeschnittene.
({2})
Der Schwerpunkt muss im Bereich Stadtplanung und
Stadtumbau liegen.
({3})
Und was macht diese Bundesregierung? Sie wird dieser
Verantwortung in keinster Weise gerecht.
Ich weiß: Die direkten Beziehungen zwischen Kommunalpolitik und Bundespolitik sind ein bisschen
schwierig. Aber das kann doch keine Ausrede sein.
Wenn die Regierung und die Koalition nicht gerade damit beschäftigt sind, sich mit sich selbst zu streiten oder
Klientelpolitik zu betreiben,
({4})
zeigt ihre Politik eine eindeutige Handschrift: Es wird
gekürzt und gestrichen, zum Beispiel bei der Städtebauförderung. Im Bereich Städtebauförderung sind die
Mittel von 570 Millionen Euro in 2009 auf 455 Millionen Euro in 2011 gekürzt worden.
({5})
Das geschah vor allem in den Einzelprogrammen: beim
Stadtumbau West Kürzung um ein Fünftel, beim Stadtumbau Ost Kürzung um 31 Prozent.
({6})
Das Programm „Soziale Stadt“ erfuhr eine Kürzung von
drei Viertel der Fördermittel.
({7})
Das bedeutet, dass dieses Programm im Grunde eingestampft worden ist und nur noch zur Gesichtswahrung
weiterexistiert.
({8})
Wer kümmert sich um die Folgen dieser Politik?
Meine Fraktion hat dazu eine Kleine Anfrage an die
Bundesregierung gerichtet. Diese hat darauf geantwortet:
Gemäß der Aufgabenverantwortung für die Städtebauforderung obliegt die Entscheidung über die
konkreten Maßnahmen vor Ort und damit auch die
Entscheidung über mögliche Schwerpunktsetzungen den Ländern.
({9})
Das ist nachzulesen in Drucksache 17/5972.
Das bedeutet doch: In Berlin streicht diese Regierung,
die Länder bekommen den Schwarzen Peter zugeschoben, und die Kommunen stehen im Regen.
({10})
Das Gleiche gilt für die Mehrgenerationenhäuser und für
die Projekte im Rahmen von „BIWAQ“, des Programms
„Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier“.
Wir brauchen ein Konzept, das den Kommunen wirklich hilft, das sie unterstützt und den Regionen eine
Chance für die Zukunft gibt.
Frau Ernstberger, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, mache ich. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist fünf vor zwölf. Sie haben die Verantwortung.
An dem Beispiel, das ich gerade aufgezeigt habe, wurde
deutlich, dass Sie dieser Verantwortung nicht gerecht geworden sind.
Frau Kollegin.
Kümmern Sie sich um die Städte, die Wachstum bewältigen müssen, ebenso wie um die, die mit Abwanderung und Leerstand konfrontiert sind.
Danke schön.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich bitte Sie, zum vorhergehenden Tagesordnungs-
punkt, TOP 28, noch die Überweisung durchzuführen.
Hier wurde interfraktionell verabredet, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4485 und 17/7184 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. -
Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ver-
fahren wir so.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Kathrin Senger-Schäfer,
Harald Weinberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Gesundheit und Pflege solidarisch finanzieren
- Drucksache 17/7197 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und Patienten entlasten
- Drucksachen 17/241, 17/7152 Berichterstattung:
Abgeordneter Harald Weinberg
Verabredet ist hierzu, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Antrag „Gesundheit und Pflege solidarisch
finanzieren“ legen wir Ihnen heute ein durchgerechnetes
Konzept vor. Solidarität ist für die Mehrheit der Bevölkerung - trotz all Ihrer Versuche der Unkenntlichmachung, sodass man manchmal gar nicht mehr weiß, was
das ist - überaus wichtig.
({0})
So findet der Vorschlag einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung für Gesundheit und Pflege als solidarische
Alternative zu Kapitalstock und Kopfpauschale auch
viel Anklang.
Die Fraktion Die Linke verfolgt unseres Erachtens
das konsequenteste Konzept im Reigen der Oppositionsfraktionen.
({1})
Es ist gut, dass die Bündnisgrünen künftig vermutlich
von ihrem Kapitalstock „Demografiereserve“ für die
Pflege absehen. Sie wollen dem Rat ihres Experten folgen, der ihnen bescheinigt hat, dass damit nur eine
Scheinnachhaltigkeit verbunden ist.
({2})
Nun sind wir noch auf die Ergebnisse des SPD-Modells
gespannt. Mal sehen, wann wir diese bekommen.
Sie und auch viele Bürgerinnen und Bürger kennen
unser Konzept. Deshalb will ich nur kurz darauf eingehen. Es sieht vor, alle einzubeziehen, also die „Last“ auf
viele Schultern zu verteilen. Dazu ist es aber erforderlich, der Zweiklassenmedizin endlich das Wasser abzugraben. Die private Krankenversicherung wollen wir auf
das Zusatzgeschäft beschränken.
({3})
Wir wollen, dass alle Einkommen, über die die Menschen verfügen, ohne Beitragsbemessungsgrenze verbeitragt werden. Die Beitragsbasis soll also erweitert werden.
({4})
Selbstverständlich soll endlich Parität wiederhergestellt
werden: Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil sind
gleich hoch. Die Praxisgebühr und sonstige einseitige
Zuzahlungen sollen abgeschafft werden. Das würde endlich Gerechtigkeit schaffen.
({5})
Während sich die Koalitionäre nur streiten und diskutieren, ließen wir in diesem Jahr von einem unabhängigen Gutachter die Potenziale berechnen, die unser
Konzept hat. Der Berechnung wurde ein makroökonomisches Simulationsmodell mit 811 Gleichungen, allein
155 für das Submodell Gesundheitsökonomie, zugrunde
gelegt. Wir haben darin 50 Jahre Stützzeiträume und
Mehrrundeneffekte berücksichtigt. Bei der Pflege haben
wir nicht, wie es bei der Gesundheit der Fall war, das Niveau bei der Versorgung eins zu eins beibehalten, sondern wir haben auch noch ein Sofortprogramm eingetaktet, durch das der Preisverlust in Höhe von 15 Prozent
seit 1995 ausgeglichen werden soll und in dem die Sachleistungen um 25 Prozent höher liegen. Dies ist der dringende Handlungsbedarf, der sich ergibt, bevor Sie es
schaffen, die neue Pflegedefinition umzusetzen.
({6})
Was ist nun dabei herausgekommen? Das Ergebnis ist
hervorragend. Beiträge von jeweils 5 Prozent für Arbeitnehmer und Arbeitgeber würden ausreichen, um all das
zu bezahlen, was heute in der Gesundheit erforderlich
ist. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil könnten also
um rund ein Drittel gesenkt werden. Bei der Pflege
könnte man trotz der sofortigen Leistungsverbesserung
stabil bei einem Beitrag von unter 2 Prozent bleiben.
Wer Interesse hat, unsere Studie zu lesen, kann das auf
www.linksfraktion.de tun.
({7})
Ein Vergleich mit der jetzigen Belastungslage zeigt,
dass vor allen Dingen die unteren 60 Prozent der Bevölkerung massiv entlastet würden. Außerdem würden wir
noch Spielraum für Leistungsverbesserungen und für
Verbesserungen der Arbeitsbedingungen der im Gesundheits- und Pflegesystem Beschäftigten gewinnen. Das ist
dringend erforderlich.
({8})
Mit der steigenden Binnenkaufkraft entstünden langfristig außerdem rund 500 000 Arbeitsplätze außerhalb
von Gesundheit und Pflege. Die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ist damit ein Paradebeispiel für linke
Umverteilungspolitik, und zwar mit positiven Wirtschaftsimpulsen. Ich lade alle, die mögen, zum Diskurs
darüber ein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Willi Zylajew ist jetzt der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fangen wir mit dem Positiven an: Frau Dr. Bunge, ich
bestätige Ihnen gern, dass der Antrag der Linksfraktion
eine Reihe von richtigen Aussagen enthält,
({0})
die ich auch gern aufzeige und hervorhebe. Allerdings
kommen Sie in Ihrem Antrag durch eine Reihe fehlerhafter Ableitungen zu einem völlig falschen Ergebnis,
({1})
zu völlig falschen Forderungen. Daher werden wir dem
Antrag - das wird Sie nicht überraschen - nicht zustimmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Linksfraktion
hat recht, wenn sie im gleich im ersten Satz des Antrags
schreibt:
Die Kostenexplosion im Pflege- und Gesundheitssystem ist ebenso ein Mythos wie der drohende
finanzielle Kollaps.
Das stimmt deshalb, weil wir mit unserem Partner in der
christlich-liberalen Koalition eine gute Politik machen,
sorgfältig hinschauen und handeln und uns um eine Stabilisierung des Systems bemühen. Es gibt keine Kostenexplosion, weil wir Unwirtschaftlichkeiten reduzieren.
Es gibt sicherlich überzogene Ansprüche; die lehnen wir
aber ab. Wir stärken die redlichen Kräfte in der Selbstverwaltung, und im Gegensatz zur Linksfraktion beobachten
und beeinflussen wir sowohl die Ausgabenseite als auch
die Einnahmeseite.
({2})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, beschäftigen sich nur mit der Ausgabenseite.
({3})
- Natürlich muss ich da lachen. Ich wollte den Schreckmoment nutzen. - Sie schauen natürlich nur auf die Einnahmen; das ist Ihr einziges Anliegen. Sie wollen die
Einnahmeseite verbessern.
({4})
Ich sage: Damit allein wird es nicht funktionieren.
Uns ist wichtig, Frau Kollegin Bunge, dass wir sowohl in der gesetzlichen als auch in der privaten Krankenversicherung sowie in der Pflegeversicherung eine
ordentliche Balance zwischen verlässlichen Leistungen
sowie persönlich und volkswirtschaftlich verkraftbaren
Versicherungsbeiträgen erreichen. Diese Balance ist uns
wichtig. Dadurch sichern wir eine gute Versorgung im
Gesundheits- und Pflegebereich.
({5})
Wir wollen dies auch weiterhin verlässlich tun, weil wir
glauben, dass unser Handeln Patientinnen und Patienten
und ihren Angehörigen hilft, gut ist für Arbeitgeber und
für Arbeitnehmer, für die gesamte Versichertengemeinschaft und für den Staat.
({6})
Mit Ihrem Antrag präsentieren Sie letztlich nichts anderes - ich behaupte, er ist noch nicht einmal durchgerechnet - als mehr Leistungsversprechen, höhere Leistungsvergütungen und höhere Kosten, und zwar ohne
jede kritische Betrachtung. Das ist unverantwortlich und
hat nichts mit Solidarität zu tun.
({7})
Außerdem ist es, wie gesagt, nicht durchgerechnet.
({8})
Jetzt komme ich zu Ihrem Zauberwort „Bürgerversicherung“. Das war ursprünglich eine Erfindung der SPD.
Es ist schon rührend, zu sehen, wie die Grünen und jetzt
auch die Linken versuchen, dieses Modell zu vitalisieren. Es ist ein Versuch, der einen, aus der Ferne beobachtet, schon ein Stück aufmerksam macht. Sie stellen die
Bürgerversicherung als ein Patentrezept zur Lösung aller
Probleme dar, was aus meiner Sicht aber nicht zutrifft.
Ich will auf einige Gesichtspunkte aufmerksam machen.
Zum einen würde man nicht mit einem Beitragssatz
von 15,5 Prozent zurechtkommen. Sie müssen außerdem
bedenken, dass neben den 15,5 Prozent, die eine erhebliche Belastung darstellen, der Rentenversicherungsbeitrag allein um 0,2 Prozentpunkte erhöht werden müsste,
wenn Sie die hälftige Mitfinanzierung möchten. Das
würde doch auch wieder erheblich belasten.
({9})
Sie fordern die Abschaffung des Kinderlosenzuschlags in der Pflegeversicherung. Das stellt aus unserer
Sicht eine Mehrbelastung dar. Wenn Sie das Leistungsniveau beibehalten und Vorteile für eine bestimmte Personengruppe abschaffen, dann führt dies letztlich dazu,
dass andere unter dem Strich mehr belastet werden.
({10})
Sie wissen, dass die Beiträge zur PKV nach Aufzehrung der Altersrückstellung deutlich steigen müssten.
Ich glaube, das ist Ihr eigentliches Anliegen.
({11})
Sie versuchen, mit der Studie volkswirtschaftlich vernünftige Entwicklungen ein Stück weit auf den Kopf zu
stellen und aus einer völlig falschen Ecke zu beleuchten.
Ich denke, unser Gesundheitswesen und insbesondere
die Pflege sind ordentlich und solide finanziert. Dazu bedarf es keiner Initiative und keiner Anträge Ihrerseits.
({12})
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Edgar Franke von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute Morgen um kurz nach halb acht habe ich
nichtsahnend den Fernseher angestellt. Frau Bunge, wen
sehe ich da? Den Vorsitzenden der Linken, Klaus Ernst,
in einem Interview zum Parteitag. Herrn Ernst zufolge
sind alle Sozialleistungen bezahlbar, wenn man nur richtig umverteilt. Sie haben das vorhin auch gesagt: Es liegt
an der Umverteilung.
({0})
So einfach stellen sich die Linken Politik vor. Es wäre
schön, wenn es so einfach wäre. Ich hatte nie den Eindruck - Sie waren auch Sozialministerin -, dass, wenn
die Linken an einer Regierung beteiligt waren, automatisch der Sozialismus ausgebrochen ist und sich die Sozialleistungen von selbst finanzieren.
({1})
Sie haben heute Ihren Parteitag. Deswegen wird unsere Debatte leider nicht auf Phoenix übertragen. Wenn
man Ihre beiden Anträge betrachtet, kommt man zu dem
Schluss, dass sie auch Vorlagen für Ihren heutigen Parteitag sein könnten. Abschaffung der Praxisgebühr und
aller Zuzahlungen sowie eine solidarische Finanzierung
der Pflege und Gesundheit, das hört sich natürlich gut
an.
({2})
Sie haben gesagt, dass es sich um ein konsequentes Konzept handelt. Allerdings ist es ein Konzept, das Mindereinnahmen in Höhe von 5 Milliarden Euro bedeuten
würde. Diese Summe muss man aber seriös gegenfinanzieren.
Frau Bunge, ich komme gleich zu Ihnen. Wir kennen
uns ja schon länger.
({3})
- Na ja, so lange nun auch wieder nicht. - Richtig ist auf
jeden Fall, dass wir eine Bürgerversicherung einführen
und die Einnahmen steigern müssen; darin sind wir einer
Meinung. Richtig ist auch, dass die unteren und mittleren Einkommensgruppen benachteiligt sind und die
Hauptlast unseres Sozialversicherungssystems tragen.
({4})
Die Gutverdienenden und die Selbstständigen, die im
Regelfall die Gesündesten sind, können sich der Solidarität entziehen und sich privat versichern. Das ist nicht
richtig. Daher müssen wir eine Bürgerversicherung einführen.
({5})
Der Kollege Spahn hat - unrasiert wie heute - bei
Frontal 21 ein Interview gegeben und gesagt, dass es in
Deutschland spätestens 2020 keine private Krankenversicherung mehr geben wird.
({6})
Ich glaube, Herr Spahn, Sie wollen auch eine Bürgerversicherung. Das freut uns alle sehr.
Frau Bunge, auch das Thema Pflege wurde angesprochen. Grundsätzlich ist zu sagen: Eine solidarische Bürgerversicherung im Bereich Pflege ist notwendig. Es
muss endlich gehandelt werden. Von Herrn Rösler und
anderen der FDP ist das Jahr der Pflege angekündigt
worden. Was ist dabei herausgekommen? Ein Jahr des
Nichtstuns, ein Jahr des Streits.
({7})
Von einem Kapitaldeckungsverfahren, das angekündigt wurde, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
sehe ich auch nichts. Eines aber muss man sagen - in diesem Punkt haben die Linken ebenfalls recht -: Eine Kapitaldeckung, eine Finanzierung aus Fonds oder Aktien
wäre der falsche Weg. Das muss man aus der Krise gelernt haben. Wir brauchen ein Umlagesystem.
({8})
Deswegen brauchen wir eine solidarische Bürgerversicherung für die Pflege.
({9})
Geschätzte Frau Kollegin Bunge, noch zwei oder drei
Anmerkungen zum Bürgerversicherungskonzept: Ich
glaube, dass man sich gut überlegen muss, ob man die
Beitragsbemessungsgrenzen erhöht. Warum muss man
sich das gut überlegen? Vorhin habe ich gesagt: Die
Hauptlast tragen die Bezieher mittlerer Einkommen.
Wenn man die Beitragsbemessungsgrenzen erhöht - ich
weiß, dass die Grünen das auch gefordert haben -, sind
es gerade die Bezieher mittlerer Einkommen, die am
meisten darunter leiden.
({10})
Wenn man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kennt, die eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen als Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip ansieht, dann weiß man, dass man damit nur
den Mittelstand treffen würde. Die Leute, die richtig
Kohle haben, erreicht man dadurch gerade nicht. Eine
Umverteilung, Frau Bunge, muss in erster Linie über das
Steuerrecht erfolgen und darf nicht über das Beitragsrecht geschehen. Das Steuerrecht ist dafür das geeignete
Instrumentarium.
Hier hat auch die Sozialdemokratie Handlungsbedarf.
Wir müssen die Abgeltungsteuer erhöhen. Wir müssen
über die Erhebung der Vermögensteuer nachdenken. In
Deutschland wird Vermögen wesentlich geringer besteuert als in den angloamerikanischen Ländern. Insofern
wäre die Erhebung der Vermögensteuer auch ein Beitrag
dazu, eine Bürgerversicherung zu finanzieren.
({11})
Die Praxisgebühr hat nicht die steuernde Wirkung gehabt, die sie haben sollte; das muss man zugestehen. Sie
haben in Ihrer Begründung erwähnt, dass die Praxisgebühr viele schlechtergestellte Versicherte vom Arztbesuch abschrecken würde. Das ist dann natürlich nicht
ganz logisch. Es ist aber auf jeden Fall so, dass 2 Milliarden Euro als Einnahmen aus der Praxisgebühr ein Riesenbetrag sind. Wir können jedoch erst umsteuern, wenn
geprüft ist, wie hoch die Einnahmen aus der Bürgerversicherung sein werden. Außerdem, Frau Bunge,
({12})
man muss fairerweise sagen, dass man die Bürgerversicherung nur schrittweise einführen kann; denn es gibt
Bestandschutz für diejenigen, die momentan in der privaten Krankenversicherung sind. Insofern wird sich
auch die Einnahmebasis nur langsam verbreitern. Vor
diesem Hintergrund muss man sagen, dass auch die Einführung der Bürgerversicherung nicht dazu führen wird,
dass man von heute auf morgen auf 5 Milliarden Euro
verzichten kann. Das Ganze muss schrittweise und sachbezogen geschehen; alles andere wäre aus meiner Sicht
wirklich unseriös.
Ich glaube, das SPD-Konzept der Bürgerversicherung
ist das richtige Konzept für die Pflege- und Krankenversicherung. Politik ist immer die Kunst des Möglichen:
Was kann ich praktisch realisieren? Versicherte kann
man aber erst dann entlasten, wenn das Bürgerversicherungskonzept in die Praxis umgesetzt wird. Erst wenn
man weiß, wie viel Geld übrig bleibt, kann man prüfen,
ob Zuzahlungen beschränkt bzw. abgeschafft und die
Praxisgebühr abgeschafft werden können.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat der Kollege Lars Lindemann von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherung der
solidarischen Krankenversorgung und Pflege in Deutschland ist in der Tat eine der ganz großen Aufgaben unserer
Zeit. Sie erfordert Ehrlichkeit in der Analyse, Sachkenntnis bei den Lösungen und die Berücksichtigung der Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen auf alle miteinander zusammenhängenden Bereiche der Gesellschaft.
Dabei kommt, sehr geehrter Herr Kollege Franke, die Eile
sicherlich nicht vor der Sorgfalt. So viel zu dem Thema,
wie schnell diese Koalition mit ihren Vorschlägen ist.
Verlassen Sie sich darauf: Sorgfalt spielt bei uns eine größere Rolle als Ihre Eile beim Behaupten, dass wir das
nicht könnten.
In diesem Zusammenhang sind die Anträge der Fraktion der Linken ein Manifest des Scheiterns an dieser
Aufgabe. Sie genügen keinem Anspruch außer dem, den
man an Utopien knüpft.
({0})
Liebe Frau Bunge, Utopien scheuen den Blick auf die
Realitäten, die Wirklichkeit, weil ihre Autoren damit
überfordert sind.
Weil Sie stets und ständig daran festhalten, dass Solidarität
({1})
in diesem Land eben nur die größtmögliche Institutionalisierung des Verteilens des Geldes anderer Leute sein
kann, gebe ich hier meine Rede zu Protokoll, damit Sie
schnell zu Ihrem Parteitag kommen, wo Sie sich weiter
Ihren Utopien hingeben können.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Lindemann, es ist schon interessant, dass die FDP
jetzt schon gar keinen Bock mehr hat, hier zu sprechen.
({0})
Offensichtlich glauben Sie nicht an Ihre weitere parlamentarische Existenz. Übrigens: Wenn sich Leistung
lohnen soll, dann darf man sich auch am Freitagmittag
die Mühe geben, zu sprechen.
({1})
Jetzt kommen wir zum Antrag der Linken. Da muss
ich sagen: Nicht überall, wo „Bürgerversicherung“
draufsteht, ist auch Bürgerversicherung drin. Manche
Konzepte sind eher geeignet, den Weg zur Bürgerversicherung zu erschweren als ihn zu erleichtern. Sie machen sich nämlich nicht die Mühe, einmal ein Konzept
zu durchdenken und es tatsächlich in ein Gesamtkonzept
einzubetten. Ich werfe Ihnen von der Linken vor, dass
Sie zumindest denkfaul sind.
({2})
Ich begrüße hingegen sehr - der Kollege von der SPD
hat schon darauf hingewiesen -, dass es jetzt langsam
auch bei der CDU einen Umdenkungsprozess gibt. Kollege Spahn sagte im Fernsehen, er glaube, dass es bis
2020 sicherlich einen einheitlichen Versicherungsmarkt
geben werde. Dazu muss ich sagen: Das dauert mir zwar
zu lang, aber immerhin ist die Erkenntnis da. Ich finde,
wir sollten uns darauf verständigen, diesen Weg zu gehen.
Aber was tut die Linke? Wenn Sie es mit einem Bürgerversicherungskonzept ernst meinten, dann hätten Sie
Ihren alten Antrag, den Sie hier mit aufgesetzt haben, zurückziehen müssen. Das Ziel, die Zuzahlungen abzuschaffen, teilen wir wohl; aber mit diesem Antrag sagen
Sie einfach nur: Weg mit den Zuzahlungen! Die 5,5 Milliarden Euro, die dann fehlen, holen wir geschwind bei
den gutverdienenden Angestellten. - Damit würden alle
abhängig Beschäftigten, die über 3 712 Euro im Monat
verdienen, auf einen Schlag zusätzlich belastet, auch ihre
Arbeitgeber. Das betrifft übrigens viele mittelständische
Betriebe. Mit dem Mittelstand haben Sie es nicht so;
deswegen ist es Ihnen vielleicht egal. Aber man muss
das im Hinblick auf die Arbeitsplätze bedenken. Sie fordern eine einseitige Belastung, wollen mal eben Geld abgreifen und sich dann an der Basis dafür feiern lassen.
Das ist nicht unser Konzept. Auch Sie wissen es eigentlich besser. Das ist nicht in Ordnung.
({3})
Die Abschaffung der Zuzahlungen muss in ein Bürgerversicherungskonzept eingebettet sein, das bei der
Erhebung der Beiträge alle Einnahmen aller Bürgerinnen
und Bürger einbezieht, wodurch es einen Zufluss an Mitteln gibt, der es ermöglicht, unter anderem auf die Zuzahlungen zu verzichten. Dann macht es Sinn, die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen; denn man kommt
dann bei denjenigen, die abhängig beschäftigt sind, aber
zusätzliche Einkünfte haben, an alle Einnahmen heran.
So sehen wir das.
({4})
Das bedeutet eine Zusatzbelastung für die gehobene Mittelschicht; dazu stehen wir. Wir wollen mehr Solidarität.
Da muss ich an die Adresse der SPD sagen: Sie versuchen, sich davor zu drücken, weil auch der sozialdemokratische Facharbeiter Einnahmen zum Beispiel aus der
Miete für die Einliegerwohnung in seinem Häusle hat.
Sie sagen dann: Wir beziehen die anderen Einkommensarten nicht ein, aber erhöhen die Abgeltungsteuer. - Da
kann ich nur sagen: Wir sind hier im Bundestag; wir, die
wir hier sitzen, wissen doch ganz genau, wie das bei jeder Haushaltsberatung läuft.
({5})
Da können Sie die Steuern erhöhen, wie Sie wollen: Die
Einnahmen sind nicht zweckgebunden. Also wird jedes
Jahr wieder darüber geredet, ob es diesen Zufluss ins
Gesundheitssystem weiter geben wird. Das heißt, damit
machen Sie die Finanzierung nicht sicherer und nachhaltiger, sondern erhöhen - im Gegensatz dazu - die Unsicherheit.
({6})
Auch das ist kein guter Weg, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Sozialdemokratie.
Jetzt zurück zur Linken. Sie wollen, dass die privaten
Krankenversicherungen in Zukunft nur noch Zusatzversicherungen anbieten; Sie wollen ihnen also das Vollversicherungsgeschäft wegnehmen. Ich muss Ihnen sagen:
Damit bekommen Sie ein verfassungsrechtliches Problem; aber damit wollen Sie sich offensichtlich nicht
auseinandersetzen. Es gibt auch gar keinen Grund dafür.
Warum soll man denn der PKV nicht die Chance geben,
auf dem Markt der Bürgerversicherung nach den für alle
geltenden Spielregeln - diese lauten: Kontrahierungspflicht, einkommensabhängige Beiträge, keine Risikozuschläge, Beteiligung am Risikostrukturausgleich - daran
teilzunehmen? Viele PKVen empfinden das als eine Zumutung. Ja, dann sollen sie sich dieser stellen. Unser
Ziel ist es jedenfalls nicht, die PKV als Vollversicherung
in diesem Segment plattzumachen.
({7})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Wir wollen auch keine „AOK für alle“. Sie wollen die Einheitsversicherung mit einem Einheitsbeitrag.
Das ist dann aber gar keine richtige Versicherung mehr.
Ich habe den Eindruck, da schimmert so ein bisschen
Sehnsucht nach den Verhältnissen in der früheren DDR
durch. Wir wollen einen echten Wettbewerb um die
beste Versorgung. Wir wollen, dass Kassen, und zwar
sowohl die ehemals gesetzlichen wie die ehemals privaten, miteinander um die beste Versorgung der Versicherten konkurrieren. Diesen Wettbewerb wollen wir und
darüber hinaus eine nachhaltige und gerechte Finanzierung. Erst dann handelte es sich um eine Bürgerversicherung, die diesen Namen auch verdient.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als diese Koalition angetreten ist, wurde für die
gesetzliche Krankenversicherung ein Defizit in Höhe
von 9 Milliarden Euro prognostiziert. Wir haben das
Blatt gewendet.
({0})
Im ersten Halbjahr 2011 erzielte die gesetzliche Krankenversicherung einen Überschuss in Höhe von 2,4 Milliarden Euro.
({1})
Vom Defizit hin zum Überschuss - das ist die Leistung,
die die christlich-liberale Koalition vollbracht hat. Wir
machen etwas, was trägt.
({2})
Wir schaffen einen Finanzrahmen, der stabil ist. Eine
Bürgerversicherung, wie sie die gesamte Opposition im
Sinn hat - von den Grünen angefangen über die SPD hin
zu den Kommunisten -,
({3})
ist das krasse Gegenteil von dem, was trägt. Sie haben
nicht mehr auf der Pfanne als Umstiegsrhetorik.
({4})
Es beginnt ja schon damit, dass Sie gar keine Vorstellung davon haben, wie der Weg dorthin konkret gegangen werden soll. Ich habe mir den Antrag der Linken
einmal sehr genau durchgelesen. Darin sind alle Heilsversprechen enthalten, die man sich vorstellen kann.
({5})
Die Frage aber, wie das genau gehen soll, soll nach Meinung der Linken lieber die Bundesregierung beantworten. Sie haben da wahrscheinlich mehr Zutrauen in uns
als in sich selber.
({6})
Daran wird schon deutlich, wie hier vorgegangen wird.
({7})
Die Bürgerversicherung ist nichts anderes als eine
zwangsweise Einheitsversicherung für alle.
({8})
Nehmen Sie einmal den Mantel weg, und schauen Sie
sich an, was das im Ergebnis bedeutet: Dahinter steckt
nichts anderes als Zweiklassenmedizin. Genau das wollen Sie - Zweiklassenmedizin -, weil Sie genau wissen,
dass es in dem Moment, wo Sie den Wettbewerb begrenzen und das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung aufheben und damit den Innovationsmotor, den die private Krankenversicherung
darstellt, wegnehmen, um die Gesundheitsversorgung in
diesem Lande insgesamt schlechter bestellt sein wird.
({9})
Dann werden ganz viele in die Zusatzversicherung ausweichen wollen. Somit zementieren Sie die Zweiklassenmedizin mit Ihrem Vorschlag, eine Bürgerversicherung einzuführen, egal, von welcher Seite er tatsächlich
kommt.
Schauen wir uns einmal die Haltung zur Beitragsbemessungsgrenze an. Die Linke sagt, dass sie diese
perspektivisch ganz abschaffen will.
({10})
Dass das verfassungsrechtlich gar nicht geht, erwähnen
Sie mit keinem Wort. Sie würden auf diese Weise nämlich das Äquivalenzprinzip verlassen.
Der Vorschlag der Grünen, diese Grenze auf 5 500 Euro
anzuheben, würde eine Erhöhung um rund 50 Prozent bedeuten. Natürlich hat der Kollege von der SPD vollkommen recht, wenn er sagt, dass das zunächst einmal die
breite Mittelschicht in diesem Lande trifft, nämlich die
Angestellten, die Facharbeiter und die Selbstständigen.
All diese würden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze treffen.
({11})
Damit träfen Sie die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Sie fallen dummerweise auch noch auf Ihre eigene Rhetorik herein. Ansonsten würden Sie erkennen,
dass nur 1,2 Millionen Privatversicherte davon betroffen
wären.
({12})
In ganz überwiegendem Maße träfen Sie dagegen die gesetzlich Krankenversicherten, die schon jetzt im System
sind. Rund 4,5 Millionen von diesen würden Sie durch
Ihr Modell der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze
treffen.
({13})
Das ist also alles andere als solidarisch und gut organisiert.
Ich halte auch nichts davon, dass Krankenkassen jetzt
zu einer Art Finanzamt werden. Genau das steckt hinter
dem Vorschlag von der Oppositionsbank, und zwar jeglicher Couleur, auch Einkommensarten wie Zinsen, Pachten und Mieteinnahmen einzubeziehen.
({14})
Das verursacht nur erheblichen Aufwand. Außerdem
treffen Sie damit nicht die Vermögensmillionäre - das ist
wieder nur Rhetorik; es steckt nichts dahinter -;
({15})
denn deren Einkommen liegt auch bei einer Erhöhung
über der Beitragsbemessungsgrenze. Sie treffen auch
hier wieder den kleinen Mann mit seinen Ersparnissen.
Ihn wollen Sie schröpfen. Das steckt hinter der Bürgerversicherung.
({16})
Sie sagen selbst, dass Sie maximal 0,4 Beitragspunkte
durch die Einbeziehung von Mieten, Pachten und Zinsen
requirieren könnten. Das sind doch allenfalls kurzfristige
Effekte.
Da unsere Gesellschaft weiter altert und es immer weniger Nachwuchs gibt, werden die Finanzbelastungen im
Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung um ein
Vielfaches höher werden. Genau deswegen wollen Sie
geschlossen an die Töpfe und sagen: Wir wollen die private Krankenversicherung auflösen und am liebsten alle
Personenkreise in die gesetzliche Krankenversicherung
einbeziehen.
({17})
Reden Sie einmal mit den Zuständigen von Kommunen,
Ländern und Bund. Wenn Sie alle erfassen wollen, bedeutet das jenseits der verfassungsrechtlichen Problematik zunächst einmal Mehrausgaben. Die Bürgerversicherung wäre ein Belastungsprogramm für Kommunen,
Länder und Bund, nichts anderes,
({18})
da die Arbeitgeber neben dem höheren Arbeitgeberbeitrag auch noch entsprechende Gehälter zahlen müssten,
damit der Arbeitnehmeranteil getragen werden kann.
Das steckt dahinter. Das ist alles andere als beglückend.
Die Linken sind ganz witzig. Sie wollen alle Versicherten in das gesetzliche System hineinnehmen
({19})
und die kostenfreie Mitversicherung auflösen. Da kann
ich nur sagen: Vielen herzlichen Dank.
({20})
Sie sollten auf Ihrem Parteitag deutlich machen, dass Sie
die Ehegatten und die Kinder als eigenständig Versicherte begreifen und diese entsprechende Beiträge zahlen dürfen.
Grüne und Linke wollen, dass unsere Gesundheitsversorgung unabhängig vom Aufenthaltsstatus gewährleistet wird. Ich bin wirklich dafür, dass wir niemandem im
Notfall medizinische Behandlung versagen; aber ich
habe nicht vor, unsere hervorragende medizinische Gesundheitsversorgung auch denen zuteilwerden zu lassen,
die uns ausnutzen, nämlich denen, die illegal hier sind.
({21})
Dazu reichen Sie die Hand, indem Sie sagen: Versicherungsschutz besteht unabhängig vom Aufenthaltsstatus.
Das zeigt: Die Bürgerversicherung ist der falsche Weg.
Er führt nicht dazu, dass die Gesundheitsversorgung in
unserem Land besser wird. Deswegen werden wir da
nicht mitmachen. Die christlich-liberale Koalition hat
die besseren Handlungsansätze.
({22})
Herzlichen Dank.
({23})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7197 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Praxisgebühr
und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und
Patienten entlasten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7152, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/241 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({0}), Ingrid Hönlinger,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu einer rechtsstaatlichen und
bürgerrechtskonformen Ausgestaltung der
Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaßnahme
- Drucksache 17/7033 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung der Strafprozessordnung ({2})
- Drucksache 17/7335 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jerzy Montag von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
19. Februar dieses Jahres haben die NPD und andere
neofaschistische Organisationen in Dresden eine Demonstration durchgeführt. Dagegen haben Bürgerinnen
und Bürger aus ganz Deutschland, viele Tausende von
Menschen, demonstriert. Dort ist es auch zu Straftaten
gekommen. Deswegen haben die Ermittlungsbehörden
am 18. und 19. Februar an vier Orten in Dresden
896 000 Datensätze, 257 000 Rufnummern und 40 732 Bestandsdaten, also Namen, Adressen und weitere persönliche Daten von Bürgerinnen und Bürgern, erhoben, die
mit den Straftaten nicht das Geringste zu tun hatten. Am
19. Februar sind bei weiteren Funkzellenabfragen an
weiteren 14 Orten in der Innenstadt zusätzlich 138 000 Datensätze von 65 645 Anschlussnummern dazugekommen.
Das alles ergibt zusammen circa 1 Million Datensätze.
Betroffen sind Zehntausende von völlig unschuldigen
und unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern.
Umfasst waren örtlich ganze Straßenzüge im dicht besiedelten Innenstadtgebiet. Die Funkzellen wurden zeitlich zum Teil nur einige Minuten, zum Teil 13 Stunden
lang abgeschöpft. Die Daten wurden nicht nur für die
Aufklärung der Straftaten verwendet, für die sie erhoben
worden sind, sondern zum Teil auch bei Verstößen gegen
das Versammlungsgesetz sowie bei einfacher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung.
Dies alles wissen wir nicht deshalb, weil die Ermittlungsbehörden in Dresden dies offengelegt hätten. Dies
alles wissen wir dank einer umfassenden, vollständigen
und exzellenten Analyse des Sächsischen Datenschutzbeauftragten, Herrn Schurig. Ich möchte Herrn Schurig
an dieser Stelle für mich und meine Fraktion einen ausgesprochenen Dank dafür sagen, dass er diese Arbeit geleistet hat.
({0})
Er muss sich dafür in Sachsen und in Dresden anfeinden
lassen. Deswegen sage ich an dieser Stelle: Wir werden
solche Anfeindungen des Datenschutzbeauftragten wie
überhaupt Anfeindungen des Datenschutzes in Deutschland nicht hinnehmen.
({1})
Nun war diese Maßnahme richterlich angeordnet,
könnte man sagen. Aber ich frage an dieser Stelle: Wie
war sie angeordnet? Bei den Anordnungen fehlte jegliche substanzielle Auseinandersetzung mit den Punkten,
die nach den gesetzlichen Regelungen notwendig sind:
Eingrenzungen nach Ort und Zeitraum der Maßnahme,
Stellungnahme zum subsidiären Charakter der Maßnahme, zum Ausmaß Drittbetroffener und zu den Grundrechtseingriffen.
Das Ganze war von der Staatsanwaltschaft vorgefertigt und musste vom Ermittlungsrichter nur noch unterschrieben werden. In Dresden besteht der böse Schein,
dass es überhaupt keine ermittlungsrichterliche Prüfung
gegeben hat; denn in Dresden gibt es überhaupt keine
hauptamtlichen Ermittlungsrichter. Nach den Geschäftsverteilungsplänen in Dresden übernehmen diese schwierigen grundrechtsrelevanten Aufgaben ganz normale
Richter, die zu ihrem Deputat noch ein Zehntel ermittlungsrichterliche Tätigkeit bekommen. Dass sie nicht
mehr können als zu unterschreiben, was man ihnen vorlegt, ist klar.
Diese Fehler in Dresden sind nicht nur Fehler bei einer einzelnen Maßnahme, sondern sie sind auch Fehler
des von uns hier im Bundestag zu vertretenden Bundesrechts. Deswegen müssen wir uns im Bundestag darüber
unterhalten, ob wir den § 100 g StPO, also die Rechtsgrundlage für die Funkzellenabfragen, nicht reformieren
sollten. Wir Grüne haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Funkzellenabfrage nicht abschaffen will,
wie es die Linken fordern - ein absurder Vorschlag, wie
ich finde -,
({2})
sondern der eine Einhegung, eine rechtsstaatliche Eingrenzung, dieser Maßnahme vorsieht. Mir fehlt hier und
heute die Zeit, Ihnen die einzelnen Punkte dazu vorzutragen. Dafür werden wir aber im Rechtsausschuss
Gelegenheit haben. Ich finde, wir haben vernünftige, rationale, angemessene Vorschläge zur Änderung des Bundesrechts unterbreitet.
({3})
Ich würde mich sehr freuen, wenn die Koalition in
diesem Punkt nicht mauern, sondern mit uns diskutieren
und mit uns zusammen das Gesetz verändern würde.
Danke.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Patrick Sensburg
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass die Debatte nach dem
Hin und Her - findet sie statt, oder findet sie nicht statt? heute doch noch zustande gekommen ist, weil das ein
guter Anlass ist, über den § 100 g StPO zu diskutieren.
Ich freue mich auch über den Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen. Deswegen habe ich eben geklatscht. Grund war insbesondere, dass Sie gesagt haben,
dass das Abfragen der Funkzellen selber nicht infrage
steht. Ich denke, das sollte Konsens sein. Das ist ein probates Mittel, an dem wir nicht rütteln sollten. Über das
Wie kann man reden; das machen wir heute. Deswegen
bin ich für Ihren Gesetzentwurf dankbar.
Bevor ich auf den Gesetzentwurf zu sprechen komme,
lassen Sie mich bitte zwei Sätze zum Verhältnis des
Staates zu seinen Bürgern sagen - am Mittwoch, als es
um die Quellen-TKÜ ging, haben wir bereits mehrere
Stunden intensiv darüber debattiert, und darüber reden
wir auch heute im Zusammenhang mit der Frage der
Funkzellenüberwachung -: Ich habe manchmal den Eindruck, dass von der einen oder anderen Seite versucht
wird, das Verhältnis „Staat - Bürger - Kriminelle“ auf
den Kopf zu stellen, als sei der Staat derjenige, den es zu
überwachen gilt, den es ständig zu kontrollieren gilt. Es
steht der Vorwurf im Raum, der Staat würde alle seine
Bürger überwachen, nach dem Motto: Big brother is
watching you. Es wird der Eindruck vermittelt, dass die
Maßnahmen, die der Staat durchführt, per se wahrscheinlich rechtswidrig sind. Weil dieser Vorwurf im
Raum steht, muss man dreimal so genau hinschauen.
({0})
Ich glaube, es ist umgekehrt. Das hat man auf europäischer Ebene erkannt, Frau Kollegin. Da diskutieren
wir über einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts.
({1})
Diese Dinge hängen zusammen: Freiheit und Sicherheit
gibt es nicht, wenn ich das Recht nicht auch durchsetze,
wenn der Staat seine Bürger nicht in Schutz nimmt.
Sonst haben wir Anarchie.
({2})
Sonst haben wir keine Kontrolle. Das ginge zulasten der
Schwächeren, weil sie dann nicht mehr den Schutz des
Staates genießen würden. Es ist wichtig, dass wir Ermittlungsmaßnahmen haben, um Straftäter zu überführen,
die Straftaten zulasten der Bürger vornehmen.
({3})
Zum konkreten Fall, Herr Kollege Montag - eigentlich wollte ich nicht detailliert darauf eingehen, weil wir
im Juli ausgiebig über dieses Verfahren diskutiert haben,
aber ich habe ja ein bisschen mehr Zeit -: Es hat viele
Straftaten gegeben, bis hin zu einem Vorgehen gegen einen Polizeibeamten mit einer Eisenstange. Daraus hätten
lebensgefährliche Verletzungen resultieren können, bis
hin zum Tod. In Ihrer Rede damals haben Sie gesagt,
dass wir bei solchen Straftaten keine Toleranz üben sollten.
({4})
Genau darum geht es: Wie können wir solche Straftäter
verfolgen? Wie können wir auswerten, wer an diesen
Straftaten beteiligt war?
({5})
Auf Zwischenrufe hin habe ich damals gesagt: Was ist
eigentlich mit denen, die an solchen Demonstrationen
teilnehmen? Könnten diese Leute nicht auch einmal eine
Strafanzeige erstatten, wenn sie sehen, dass gegen Polizeibeamte, gegen Staatsorgane vorgegangen wird? Ich
frage mich: Warum gibt es nicht auch einmal Anzeigen
aus der Demonstration heraus?
({6})
Wenn es solche Anzeigen nicht gibt, dann muss der Staat
Möglichkeiten haben, um die Sicherheit der Demonstrierenden, um die Sicherheit der Bürger sicherstellen zu
können. Das halte ich für wichtig. Deswegen gibt es probate Mittel dafür.
({7})
Herr Kollege, zur Verhältnismäßigkeit werde ich gleich
noch etwas sagen. Keine Sorge.
({8})
Die Funkzellenüberwachung ist aus meiner Sicht ein
probates Mittel. Das hat der Kollege Montag, wenn ich
ihn richtig verstanden habe, eben schon gesagt. Sie stützt
sich auf § 100 g StPO. Dass es sich dabei um ein probates Mittel handelt, hat sich auch in verschiedenen Verfahren abseits von Demonstrationen gezeigt. Ich weiß
nicht, ob Sie das Verfahren aus dem Jahr 2005 - der Fall
Moshammer - kennen. Innerhalb weniger Stunden, innerhalb eines Tages konnte damals durch eine Funkzellenauswertung der Täter ermittelt werden. Der Mörder konnte überführt werden. Mord ist ein schweres
Delikt. Frau Kollegin Enkelmann, Sie schütteln den
Kopf. Das war so. Sie können das in einem Beitrag von
Frau Rauschenberger in der Zeitschrift Kriminalistik
nachlesen. Darin wird dieser Fall wunderbar dargelegt.
({9})
- Daraus schließe ich, dass Sie der Meinung sind, dass
§ 100 g StPO grundsätzlich ein probates Mittel ist. Auch
aus Ihrer Sicht sollte die Funkzellenauswertung stattfinden. Sonst würden Sie ja darauf abstellen, dass das nicht
nur bei Tausenden Menschen infrage zu stellen ist, sondern schon bei Einzelnen. Wenn das Konsens ist, dann
können wir sicherlich über vieles reden; denn die Funkzellenauswertung ist ein pragmatisches und probates
Mittel.
Es geht dabei um Straftaten von erheblicher Bedeutung. Es wird immer wieder kritisiert, das Merkmal
„Straftat von erheblicher Bedeutung“ sei nicht hinreichend definiert. Lesen Sie einmal die Kommentierungen
in den einschlägigen StPO-Kommentaren nach. Dort
wird eindeutig auf § 100 a Abs. 2 hingewiesen, in dem
es einen Straftatenkatalog gibt. Ergänzend wird das Wort
„insbesondere“ verwendet, was für Juristen bedeutet:
Straftaten gleicher Qualität werden einbezogen.
({10})
Von daher haben wir bezüglich der erheblichen Straftaten eine klare Ausweisung im Gesetz, der man nachkommen sollte.
Plus - jetzt komme ich gleich auf die Verhältnismäßigkeit zu sprechen -: Es muss ein räumlicher und zeitlicher Zusammenhang bestehen.
({11})
Es findet also keine Funkzellenauswertung ins Blaue hinein statt, in Räume, in denen keine Straftaten stattfinden. Es muss tatsächliche Anhaltspunkte für täterbezogene Kommunikation geben. Auch da gilt: Keine
Abfrage ins Blaue hinein, keine Abfrage, um nur einmal
zu schauen, ob man möglicherweise Straftaten findet.
All das wird von einem Richter bestätigt. Sie haben
gerade auf Dresden bezogen gesagt, es gebe keine Ermittlungsrichter. Das haben Richter genehmigt, die genau die gleiche Ausbildung, genau die gleiche Qualifikation, zwei Staatsexamen haben. Was möchten Sie noch?
({12})
Noch ein drittes Staatsexamen für den Ermittlungsrichter? Die entsprechenden Richter in Dresden haben genau
die gleiche Qualifikation. Es hat eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit stattgefunden.
({13})
Diese hat auch stattzufinden.
({14})
So steht es in jedem Kommentar; Sie lesen diese anscheinend nicht.
Sie wollen eine Gesetzesänderung. Sie diskutieren
nicht darüber, ob die Einzelmaßnahme in Dresden rechtmäßig oder rechtswidrig war, Sie wollen einen Paragrafen ändern,
({15})
obwohl jedem klar ist, dass bei § 100 a Strafprozessordnung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen
ist.
({16})
Deswegen erachte ich Ihren Gesetzentwurf - das muss
ich ganz ehrlich sagen - ein bisschen als einen Scheingesetzentwurf, als PR. Denn wenn man sich einmal anschaut, was wir bisher geregelt haben und was Sie möchten, dann sieht man, dass die bisherige Regelung völlig
ausreichend ist. Sie möchten einen Verweis auf § 477
Abs. 2 Satz 2; Sie wollen also keine Zufallsfunde mehr
ermöglichen. Das steht explizit in Ihrem Gesetzentwurf
- das lese ich Ihnen einmal vor -:
Satz 1 wird wie folgt gefasst:
§ 100 a Absatz 3 und § 100 b Absatz 1 bis 4 gelten,
auch in Fällen des § 477 Absatz 2 Satz 2 und 3, entsprechend.
So haben Sie es formuliert.
Herr Kollege Sensburg, lassen Sie die Frage des Kollegen Montag zu?
Ich lasse die Frage des Kollegen Montag natürlich zu.
Bei zwölf Minuten Redezeit wird die Zeit ja auch
manchmal etwas knapp.
({0})
- Das liegt jetzt nicht an mir, sondern am Kollegen
Montag.
Jetzt bin ich dank der Verfügung des Herrn Präsidenten dran.
Sehr gerne.
Herr Kollege Sensburg, unseren Gesetzentwurf gilt es
nicht nur zu lesen - das haben Sie geschafft -, Dr. Patrick Sensburg ({0}):
Danke.
- sondern auch zu verstehen. Weil Sie ihn offensichtlich nicht verstanden haben - ich befürchte, nicht verstehen wollten -, will ich es Ihnen an dieser Stelle noch einmal erklären. § 477 regelt die Übertragung gewonnener
Ermittlungserkenntnisse aus einem bestimmten Verfahren in ein anderes Verfahren. Das ist zulässig und soll
nach unserem Gesetzentwurf zulässig bleiben.
Die Sache ist die: Wenn im Ausgangsverfahren eine
ermittlungsrichterliche Anordnung notwendig ist, finden
wir, sollte für die Übertragung der Erkenntnisse in ein
anderes Ermittlungsverfahren auch eine ermittlungsrichterliche Anordnung nötig sein. Bisher ist es so, dass die
Polizei diese Übertragung der Erkenntnisse von einem in
ein anderes Verfahren alleine vornehmen kann. In Dresden führte das dazu, dass man aufgrund einer ermittlungsrichterlichen Maßnahme diese Funkzellendaten in
einem Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs
abgefragt hat, und dann hat die Polizei sie ohne gerichtliche Überprüfung in ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz übertragen.
Wir meinen: Wenn die Daten ursprünglich einer richterlichen Überprüfung bedürfen, dann soll auch die
Übertragung einer richterlichen Überprüfung bedürfen.
Nicht mehr und nicht weniger bedeutet der von Ihnen zitierte Satz. Es wäre mir ganz recht, wenn Sie nicht nur
lesen, sondern mitdenken würden, lieber Kollege.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege Montag, ich habe bei Ihren Ausführungen zwar noch keine Frage gehört,
({0})
aber ich habe einen Hinweis gehört. Ich habe nicht nur
den Gesetzestext gelesen, den Sie vorschlagen, sondern
auch die Begründung, die Sie anfügen.
({1})
Es sind genau die Fälle, in denen zufällig Erkenntnisse
zum Beispiel wegen Verstoß gegen das Versammlungsgebot, Landfriedensbruch entdeckt werden - man könnte
sich aber auch viele andere Fälle denken -, in denen Sie
eine höhere Hürde fordern, dass Ermittlungsmaßnahmen
stattfinden können. Dann sage ich: Wenn solche Maß15938
nahmen möglich sind, wenn durch eine Funkzellenabfrage Erkenntnisse gewonnen werden, müssen die auch
zeitnah und schnell von der Polizei genutzt werden. Ich
glaube, Sie wollen wieder eine höhere Hürde einbauen
- es ist übrigens die erste Hürde, die ich festgestellt
habe; zu den anderen komme ich gleich noch -, die an
dieser Stelle nicht angezeigt ist. Aber wir werden im
Ausschuss darüber diskutieren. Von daher bin ich gespannt, wie die Diskussion weitergeht.
Der nächste Punkt, den Sie ansprechen, ist die Begründungspflicht der Anordnung. Es mag sein, dass Sie
Probleme mit der konkreten Anordnung in Dresden haben. Wenn Sie aber die Anforderungen sehen, die - inklusive der Verhältnismäßigkeitsprüfung; das können
Sie in aller Literatur nachlesen, auch in der Gesetzesbegründung - an eine Begründung gestellt werden, dann
sehen Sie, dass diese einzelnen Schritte stattfinden müssen. Sie meinen, wir müssen ein Gesetz schaffen, weil
Sie der Ansicht sind, damals sei etwas nicht richtig gelaufen. Das kann eigentlich nicht der Ansatz sein,
({2})
aufgrund dessen der Gesetzgeber ein Gesetz macht.
({3})
Das Dritte ist die Übersicht, dass Sie alle Funkzellenabfragen in einer Übersicht dokumentiert haben wollen.
Das ist die PKS. Das ist die Polizeiliche Kriminalstatistik der Länder und des Bundes. Da werden solche Dinge
dokumentiert.
({4})
Wenn Sie ständig ergänzende Dokumentationen fordern,
wird das doch nicht besser, nicht transparenter. Lassen
Sie uns diese Maßnahmen in der PKS, in der Polizeilichen Kriminalstatistik, dokumentieren. Da sind sie richtig aufgeführt.
Wenn man sich das alles einmal anguckt, zeigt Ihr
Gesetzentwurf eigentlich, dass Sie aufgrund der Ereignisse in Dresden jetzt Aktionismus zeigen wollen, sich
gerieren wollen als diejenigen, die etwas ändern, die etwas verändern.
({5})
Das ist meiner Meinung nach nicht der richtige Ansatz.
Lassen Sie uns in den kommenden Sitzungen darüber
diskutieren, ob etwas Gehaltvolles drin ist. Dann bin ich
gern bereit, das eine oder andere vertieft zu diskutieren,
({6})
vielleicht sogar zu übernehmen. Aber die Punkte, die ich
angesprochen habe, sehe ich nicht als gehaltvoll an.
Ich danke Ihnen für das Zuhören. Ich weiß nicht, ob
Sie noch eine Nachfrage haben. Aber ich glaube, es ist
klar geworden, welches unsere Position zum Thema
Funkzellenabfrage ist.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Kollege Sensburg, es wäre sicherlich ganz hilfreich
gewesen, wenn Sie seitens der Union deutlich gemacht
hätten, dass wir hier nicht im luftleeren Raum diskutieren, sondern dass es einen konkreten Anlass gibt. Der hat
etwas mit den problematischen Vorgängen von Dresden
zu tun.
Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Ich
glaube, dass man auch im Rahmen dieser Debatte sagen
muss, dass die vielen Tausend Menschen, die dort regelmäßig mit demokratischer Gesinnung friedlich auf die
Straße gehen, um die Straßen und Plätze eben nicht den
Neonazis zu überlassen, unsere Ermutigung und Unterstützung bekommen sollten
({0})
und nicht einem Generalverdacht unterworfen werden
dürfen.
Ich selber war im Februar in Dresden dabei. Wenn
man sich die Vorschriften anschaut, stellt man fest, es
gibt rechtlichen Präzisierungsbedarf von § 100 g der
Strafprozessordnung. Wir müssen zur Kenntnis nehmen,
dass die Auslegung dieses Paragrafen, wie sie in Dresden praktiziert worden ist, offenkundig weder dem Text
noch dem Geist der entsprechenden Norm entspricht. Es
ist ganz klar rechtswidrig gehandelt worden.
({1})
Man kann nicht von Zehntausenden Bürgerinnen und
Bürgern Verbindungsdaten speichern, um in zweistelliger Anzahl Verfahren einzuleiten. Es sind ja sogar Verfahren - entgegen der Bestimmung des Paragrafen in der
Strafprozessordnung - wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht, was keine besonders schwere Straftat
darstellt, eingeleitet worden.
Wenn wir aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass
dort falsch gehandelt worden ist, müssen wir uns auch
die Frage stellen: Hat das nur etwas mit einer falschen
Umsetzung des Paragrafen zu tun, oder ist dieser Paragraf verbesserungswürdig und bedarf er der Präzisierung?
Ich will hier gern Folgendes erwähnen, weil ich finde,
man muss schon zur Kenntnis nehmen, was für interessante Bundesländer wir haben: Als ich im Februar in
Dresden war, habe ich im Vorfeld den sächsischen Innenminister gebeten, mir zu ermöglichen, mir als Abgeordneter des Deutschen Bundestages von der Leitung
des Polizeieinsatzes einen persönlichen Eindruck zu machen. Das ist fernmündlich abschlägig beschieden worden. Ich habe dann um eine schriftliche Begründung gebeten. Das hat drei Monate gedauert.
({2})
Auf mehrfache Nachfragen meines Büros antwortete mir
das Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen:
Auf Ihre Anfrage möchte ich Ihnen mitteilen, dass
grundsätzlich Besuchen von Mandatsträgern in den
Führungsstäben der sächsischen Polizei während
bestehender Einsatzlagen nicht zugestimmt wird.
Vor dem Hintergrund, dass es während des Einsatzes für die im Führungsstab beschäftigten Bediensteten und insbesondere auch für den Polizeiführer
des Einsatzes
- jetzt kommt es möglichst wenig Störungen und damit einhergehende Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit geben soll,
({3})
haben wir uns entschlossen, entsprechende Besuchsanfragen abschlägig zu beantworten.
({4})
Also: Die gewählten Volksvertreter stören bei der Polizeiarbeit. Das ist eine sehr spezifische sächsische Haltung. Ich halte sie für ausgesprochen bedenklich.
({5})
Ich habe im Nachgang zu meinem Besuch in Dresden
den sächsischen Innenminister gebeten, mir mitzuteilen,
ob auch meine Verbindungsdaten für den Zeitraum, in
dem ich mich dort aufgehalten habe, gespeichert worden
sind. Diese Frage hat er nicht beantwortet, aber gesagt:
Wie Ihnen bekannt ist, sind neben dem friedlichen
Protest gegen die rechte Demonstration an vielen
Orten der Stadt erhebliche Straftaten begangen worden. Ein demokratischer Rechtsstaat ist in seinem
Bestand darauf angewiesen, dass die Strafverfolgungsbehörden solche Straftaten aufklären können.
Wer es für den Bestand des Rechtsstaates für existenziell
hält, eine massenhafte Funkzellenabfrage durchzuführen, um einer Handvoll Straftäter auf die Spur zu kommen, der hat, glaube ich, ein falsches Rechtsstaatsverständnis.
({6})
Der hat auf jeden Fall die Verhältnismäßigkeit der Mittel
völlig aus den Augen verloren.
Das Interessante an diesem Thema ist Folgendes - ich
weiß nicht, ob Sie, Herr Sensburg, das nicht zur Kenntnis genommen haben -: Uns liegen nicht nur ein Gesetzentwurf der Grünen und ein Gesetzentwurf der Linksfraktion vor. Selbst die sächsische Landesregierung
({7})
hat über den Bundesrat einen Gesetzesantrag zur Präzisierung des § 100 g der Strafprozessordnung vorgelegt,
ich will nicht sagen, aus schlechtem Gewissen - obwohl
es relativ naheliegend wäre - vielleicht aber aus Erkenntnis. Man muss sich angesichts des Gebahrens in
Dresden an den alten Satz von Georg Christoph
Lichtenberg erinnern: Wenn ein Affe in ein Buch schaut,
kann in der Regel kein Philosoph zurückschauen.
({8})
Es gibt, wie gesagt, verschiedene Initiativen, von der
Linkspartei bis hin zu Schwarz-Gelb in Sachsen. Ich
halte es für zwingend erforderlich, dass wir bei den anstehenden Beratungen im Rechtsausschuss sehr intensiv
über dieses Thema reden und dazu auch eine öffentliche
Expertenanhörung durchführen.
Ich will hierzu nur einige kurze Bemerkungen machen.
Meine Fraktion, die SPD, ist nicht der Auffassung der
Linkspartei, dass man auf dieses Instrument gänzlich verzichten kann. Im Gesetzentwurf des Bündnisses 90/Die
Grünen wird zwar, wie ich finde, zu Recht erkannt, dass
die Bestimmung „besonders schwere Straftaten“ - das
gilt insbesondere für § 100 a Strafprozessordnung - relativ unkonkret ist und in der Tat der Substantiierung bedarf. Aber der Gesetzentwurf der Grünen hat auch
Schwächen. Er hätte zum Beispiel zur Folge, dass eine
Funkzellenabfrage selbst bei besonders schweren Fällen
des Landfriedensbruchs nicht mehr möglich wäre;
§ 125 a des Strafgesetzbuches wäre dann nicht mehr erfasst.
({9})
Darüber kann man aber sicherlich reden. Der Gesetzesantrag des Freistaates Sachsen zielt im Wesentlichen darauf ab, zu einer Präzisierung des Gesetzes zu kommen.
Mir scheint auf jeden Fall Beratungsbedarf gegeben. Es
besteht die Notwendigkeit, sich diesem Thema intensiv
zu widmen und sich darum zu kümmern, dass sich so etwas wie in Dresden nicht wiederholt.
Ich möchte nicht, dass wir im Bundestag zu der Auffassung kommen, die der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Sommer im heute-journal vertreten hat.
Herr Kollege Kauder - leider ist er heute nicht da - hat
wörtlich gesagt:
Es ist Mode geworden, die Freiheitsrechte des Bürgers in den Vordergrund zu stellen.
({10})
- „Kauderwelsch“ habe ich nicht gesagt, Herr Kollege
Lischka. - Das ist nicht Mode. Das ist demokratischer
Rechtsstaat.
({11})
Wir müssen feststellen, dass wir es offenkundig mit
einer Norm der Strafprozessordnung zu tun haben, die
zumindest missbrauchsanfällig ist, unabhängig davon,
ob in Dresden gegen geltendes Recht verstoßen worden
ist oder nicht; selbst bei rechtskonformer Umsetzung
dieser Norm ist sie missbrauchsanfällig. Deshalb sollten
wir uns die nötige Zeit nehmen, intensiv zu beraten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Ahrendt für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Der Kollege
Edathy hat es mir leicht gemacht, mit meiner kurzen Redezeit auszukommen, und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil Sie sehr zutreffend darauf hingewiesen haben, dass im Bundesrat bereits seit Beginn September
ein Antrag der christlich-liberalen Koalition aus Sachsen
vorliegt, die sich mit dem gleichen Thema, das auch Gegenstand des Entwurfs der Grünen hier ist, beschäftigt
hat. Insofern verfolgen wir hier ein wichtiges Anliegen.
Schauen Sie sich an - die Kollegen haben es schon
beschrieben -, was in Dresden passiert ist: Hunderttausende gerieten durch die Abfrage einer Funkzelle in die
Überwachung der Polizei, ohne eine Straftat begangen
zu haben, weil andere in dieser Funkzelle an Straftaten
beteiligt waren und sie sozusagen ein Beifang bei dieser
Ermittlungsmöglichkeit waren.
Das Problem hinsichtlich dieses Beifangs ist nicht die
Vorschrift des § 100 g Strafprozessordnung, sondern
dass wir über die Weiterverwendung dieser Verkehrsdaten faktisch eine Rasterfahndung zulassen; denn dadurch, dass diese Daten auch in anderen Ermittlungsverfahren genutzt werden können, indem sie weitergereicht
werden können, kommt es zu einem wesentlich intensiveren Eingriff auch schon bei Straftaten, bei denen die
Erfassung von Verkehrsdaten selbst gar nicht zugelassen
ist. Das ist die Schwierigkeit. Dies greifen die Grünen in
ihrem hier vorliegenden Entwurf auf, das greifen aber
insbesondere auch die CDU und die FDP in ihrem Antrag im Bundesrat auf. Vor diesem Hintergrund müssen
wir überlegen, ob wir § 477 Abs. 2 StPO ändern müssen.
Ärgerlich ist - das muss an dieser Stelle auch gesagt
werden -, dass dieses Gesetzgebungsverfahren erst vier
Jahre alt ist; denn 2007 ist das alles hier beraten worden.
Wenn man sich die Protokolle des Rechtsausschusses
anschaut, dann sieht man, dass genau darauf, dass wir
dieses Problem bekommen werden, hingewiesen worden
ist. Es ist schade, dass man damals - wir selbst waren in
dieser Zeit in der Opposition - nicht auf die Opposition
gehört und dieses Problem mit aufgegriffen hat, sondern
dass man sozusagen erst die negativen Erfahrungen in
Dresden machen musste, um jetzt zu einer Beratung dieser Vorschrift zu kommen. Ich halte es für klug, die Beratungen, die jetzt im Bundesrat aufgrund des sächsischen Antrags stattfinden, abzuwarten. Wir werden dann
im Rechtsausschuss den Vorschlag der Grünen beraten.
Ich glaube, der Aspekt, den auch der Kollege
Sensburg genannt hat, ist wichtig: Auf der einen Seite
geht es immer darum, Straftaten aufzuklären - Landfriedensbruch ist eine Straftat, und wenn ich mich in der
Nähe des Ortes aufhalte, an dem eine solche Straftat
stattfindet, dann muss ich mir darüber im Klaren sein,
dass ich in ein Ermittlungsraster hineingeraten kann,
weil es zwingend ist, Straftaten wie Landfriedensbruch
aufzuklären -, auf der anderen Seite muss aber genauso
sichergestellt sein, dass die Daten, die bei einer solchen
Ermittlung in Massen anfallen, nicht einfach weiterverwendet und quasi im Rahmen der Ermittlungstätigkeit
für eine Art Rasterfahndung genutzt werden, bei der gefragt wird, ob jemand noch eine andere Straftat begangen hat, die man damit gleichzeitig erfassen kann. Das
darf nicht passieren.
Vor diesem Hintergrund ist uns zu empfehlen, die Beratungen im Bundesrat abzuwarten, den Antrag sorgfältig zu beraten und dann zu entscheiden, ob wir hier zu
Änderungen der Strafprozessordnung kommen müssen
oder nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Rede des Kollegen Jan Korte von der Fraktion
Die Linke ist zu Protokoll gegeben worden.1) Deswegen
hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt und vermutlich auch an diesem Tag der Kollege
Manuel Höferlin von der FDP das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Kollegen! Die Überarbeitung des § 100 g
der Strafprozessordnung habe ich in einer Aktuellen
Stunde selbst auch schon in Betracht gezogen. Darum
freue ich mich, heute mit Ihnen darüber reden zu kön-
nen.
1) Anlage 3
Durch die genaue Lektüre Ihrer Anträge zeigt sich,
dass Sie die Kernprobleme, die wir damals am 1. Juli
2011 hier besprochen haben, damit nicht wirklich ganz
lösen können. Der Gesetzentwurf ist teilweise nicht so,
dass damit das Kernproblem, das der Kollege Ahrendt
gerade eben angesprochen hat, gelöst werden kann. Die
Problematik in Bezug auf § 100 g StPO lässt sich mit
diesem Vorschlag nicht richtig bewältigen. Das geht daran vorbei.
Um es noch einmal genau zu sagen: Beim konkreten
Fall in Dresden wurde ein IMSI-Catcher eingesetzt. Es
ging um fünf Linksextremisten, die wohl eine kriminelle
Vereinigung gründen wollten. Die Ermittlungen gingen
in diese Richtung.
Danach wurde eine großangelegte Funkzellenabfrage
durchgeführt. Dass diese Maßnahme sehr weitgehend ist
und tief in die Rechte eingreift, weil mit ihr sehr viele
Daten eingesammelt werden, ist völlig unstrittig. Ob das
jetzt rechtmäßig ist oder nicht, ist letztlich die Kerndiskussion. Wir glauben, dass der hierzu erfolgte Richterbeschluss rechtmäßig war.
({0})
Aber nachher stellen sich folgende Fragen: Was passiert
mit den Daten? Wofür werden sie weiter genutzt? Die
danach angeordneten Einzelmaßnahmen wurden - das
ist das Kernproblem - erst dann problematisch, als sie in
Bezug auf einfache Verfahren, wie zum Beispiel beim
Verstoß gegen das Versammlungsrecht, herangezogen
wurden.
Herr Sensburg, Herr Ahrendt, Sie haben schon zu
Recht gesagt, dass es dazu einen Antrag der christlich-liberalen Koalition aus Sachsen gibt. Ich glaube, dass dieser Antrag der Sache besser gerecht wird. Wir werden
uns das im Ausschuss genau ansehen. Der Punkt mit der
Funkzellenabfrage wurde zu Recht aufgegriffen. Aber
so, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf formuliert haben,
löst er das Problem mit § 100 g StPO nicht.
Es geht darum, dass hier massenhaft Daten vorrätig
gehalten wurden. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, liebe Kollegen von den Grünen, zeigen Sie
sich in den Koalitionsverträgen mit Ihrem Koalitionspartner, der SPD, gegenüber der Vorratsdatenspeicherung inzwischen sehr aufgeschlossen. Daher muss man
schon einmal überlegen, ob man hier beim Sammeln von
Daten sparsamer sein muss. Die Frage ist: Wie kann man
solche weitgehenden Funkzellenabfragen so gestalten,
dass solche großen Mengen an Daten nicht so lange gespeichert, sondern schneller gelöscht werden?
({1})
- Das machen Sie in diesem Gesetzentwurf eben nicht
zureichend.
({2})
Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion
- um auch darauf in den letzten Sekunden meiner Redezeit einzugehen - wollen im Prinzip die Massenfunkzellenabfrage komplett abschaffen, so wie Sie das in dem
Gesetzentwurf formulieren. Ich glaube, dass diese Maßnahme völlig ungeeignet und auch scheinheilig ist. Es ist
völlig unstrittig, dass eine Maßnahme wie diese in engen
Schranken nötig ist. Deswegen sind wir dafür, dass wir
uns diese Sache ganz genau ansehen. Wir brauchen einen § 100 g StPO, der den Anforderungen an Datenschutz und Datensparsamkeit gerecht wird, wir brauchen
keine schlechten Versuche, die an dem Thema vorbeigehen, und schon gar nicht eine Sabotage des Rechtsstaates, bei der ihm ein solches Mittel ganz genommen wird.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7033 und 17/7335 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Oktober 2011, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.