Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zur
heutigen Plenarsitzung des Deutschen Bundestages.
Ich habe einige Mitteilungen zu machen. Ich beginne
mit dem rundum erfreulichen Umstand, dass die Kollegin Sibylle Pfeiffer und der Kollege Willi Brase in den
vergangenen Tagen ihre 60. Geburtstage gefeiert haben,
wozu ich ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich
gratulieren möchte.
({0})
Nicht ganz so erfreulich ist, dass die Kollegen
Norbert Brackmann und Michael Brand aus jeweils unterschiedlichen, hier aber nicht erläuterungsbedürftigen
Gründen ihre Schriftführerämter niedergelegt haben. Die
Fraktion der CDU/CSU schlägt die Kollegen Dr. Peter
Tauber und Dr. Johann Wadephul als Nachfolger vor.
Können Sie sich damit einverstanden erklären? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegen
hiermit gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
Befugnisse und Instrumentarien von Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden im Internet
bei Verfolgung schwerer Straftaten ({1})
({2})
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zehnter Bericht der Bundesregierung über die
Aktivitäten des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der einzelnen Rohstoffabkommen
- Drucksache 17/3817 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglich
vorlegen und künftig ausführlicher gestalten
- Drucksache 17/7355 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 31
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Beate Müller-Gemmeke, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von
Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung ({6})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Richtlinie zur konzerninternen Entsendung
grundsätzlich überarbeiten
- Drucksache 17/4885 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen
für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung ({8})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Rechte der Saisonarbeitskräfte stärken
- Drucksache 17/5234 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Brandanschlagserie auf Bahnanlagen und
linksextremistisch motivierte Gewalt
ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat und zum Eurogipfel
am 23. Oktober 2011
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Kommission des Deutschen
Bundestages zur Regulierung der Großbanken
- Drucksache 17/7359 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 3 wird abgesetzt. Stattdessen soll jetzt gleich der Tagesordnungspunkt 26 beraten
werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 5 morgen zusammen mit der Regierungserklärung
der Bundeskanzlerin aufzurufen, um den Sachzusammenhang herzustellen. Die Tagesordnungspunkte der
Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 21. September 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({10}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 17/6764 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-
verstanden sind. - Dazu erhebt sich kein Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 a und b sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:
26 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Wirtschafts- und Außenpolitik für eine sichere
Rohstoffversorgung - Wachstum und Arbeits-
plätze in Deutschland, Europa und den Part-
nerländern
- Drucksache 17/7353 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({12})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine gerechte und entwicklungsförderliche
internationale Rohstoffpolitik
- Drucksachen 17/6153, 17/7151 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Joachim Günther ({13})
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zehnter Bericht der Bundesregierung über die
Aktivitäten des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der einzelnen Rohstoffabkommen
- Drucksache 17/3817 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann können wir
so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Ernst
Burgbacher.
({15})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Deutschland zählt zu den größten Rohstoffkonsumenten der Welt. Allein im Jahr 2010 haben wir für
fast 110 Milliarden Euro Rohstoffe importiert. Die Entwicklung auf den Rohstoffmärkten ist für uns deshalb
von allergrößtem Interesse. Hier ist in den letzten Jahren
sehr viel in Bewegung gekommen. Die Schwellenländer
China und Indien, aber auch viele andere Länder integrieren sich zunehmend in die Weltmärkte. Dies schlägt
sich in den Rohstoffpreisen und in Angebotsengpässen
nieder. Zwar hatten wir infolge der Weltfinanz- und
Weltwirtschaftskrise eine vorübergehende Verschnaufpause, aber jetzt ziehen die Preise wieder an. Die Situation ist durchaus kritisch. Die deutsche Wirtschaft
braucht Rohstoffe, um Arbeitsplätze zu sichern, um
Wachstum zu sichern, um als Exporteur erfolgreich zu
sein.
({0})
Dass wir nach wie vor einer der wichtigsten Industriestandorte in der Welt sind - darauf sind wir stolz -, hängt
ganz wesentlich davon ab, dass wir Rohstoffsicherheit
haben; sonst sind wir nicht wettbewerbsfähig. In dieser
Frage ist zuerst die Wirtschaft selbst gefordert. Sie hat
diese Herausforderung angenommen. Durch Kooperationen und Allianzen will sie ihre Rohstoffversorgung
auf eine breitere Basis stellen. Die Wirtschaft braucht
aber politische Schützenhilfe. Diese leisten wir mit Entschlossenheit und mit einer stimmigen Strategie.
Mit der Rohstoffstrategie setzt die Bundesregierung
wichtige rohstoffpolitische Akzente, und das unter strikter Beachtung unserer ordnungspolitischen Grundsätze.
Das ist für uns ganz entscheidend.
({1})
Wir können heute sagen: Die Rohstoffstrategie der Bundesregierung zeigt erste Erfolge. Wir kommen an wichtigen Stellen mit der Umsetzung voran. Ich will dies an
sechs Punkten verdeutlichen.
Erstens. Wir schließen Partnerschaften mit rohstoffreichen Ländern. Das Regierungsabkommen mit der
Mongolei wurde am 13. Oktober 2011 in Anwesenheit
der Bundeskanzlerin unterzeichnet. Die Verhandlungen
mit Kasachstan sind in einem fortgeschrittenen Stadium.
Noch in diesem Jahr könnte es zur Unterzeichnung eines
Abkommens kommen. Weitere Rohstoffpartnerschaften
planen wir derzeit. Eines möchte ich dabei klarstellen:
Rohstoffpartnerschaften sind immer im Interesse beider
Partner. Wir profitieren von den Rohstoffen, und in den
Partnerländern tragen sie zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung bei. Insofern garantieren solche Partnerschaften die Zukunftsfähigkeit beider Seiten; das ist ganz entscheidend.
({2})
Zweitens. Wir versorgen gerade kleine und mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer mit Informationen und Analysen. Die neue Servicestelle für
die Wirtschaft, die Deutsche Rohstoffagentur, ist hier zunehmend aktiv. Mit ihrem Rohstoffinformationssystem
verbessert sie die Transparenz auf den Rohstoffmärkten.
Dies ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen, die
selbst oft nicht dazu in der Lage sind, sich diese Informationen zu beschaffen, von ganz entscheidender Bedeutung für die künftige Entwicklung.
Drittens. Wir setzen uns energisch für offene Rohstoffmärkte ein. Die Anfang Juli veröffentlichte WTOEntscheidung gegen chinesische Exportbeschränkungen
für so wichtige Rohstoffe wie Zink und Magnesium ist
ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung. Dieses Verfahren haben wir, die EU, gemeinsam mit den USA und
Mexiko angestrengt. Es ist ein wichtiges Signal an alle
Länder, die den freien Handel mit unfairen Praktiken erschweren. Wir müssen jetzt am Ball bleiben. Wir drängen auf EU-Ebene darauf, Verzerrungen im internationalen Rohstoffhandel weiterhin konsequent zu begegnen.
In Verhandlungen zu EU-Freihandelsabkommen wird
das Thema Rohstoffe konsequent aufgegriffen und ist jeweils ein ganz wichtiger Faktor bei diesen Abkommen.
Viertens. Wir unterstützen die Wirtschaft, wenn es darum geht, neue Rohstoffvorkommen zu erschließen. Seit
50 Jahren gibt es die Garantien für Ungebundene
Finanzkredite. Damit sichern wir vertraglich die langfristige Lieferung strategischer Rohstoffe. Auch das ist
für viele ganz entscheidend. Zudem lassen wir im Augenblick bei der EU prüfen, ob wir für rohstoffpolitisch
geeignete Projekte bereits bei der Erkundung Zuschüsse
geben können; die Nachfrage danach ist groß.
Fünftens. Wir beschreiten neue Wege bei der Rohstoffforschung, insbesondere mit dem Ziel der Rohstoffeffizienz. Meine Damen und Herren, die Forschung ist
ein entscheidender Schlüssel für ein nachhaltiges Wirtschaften entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wir
setzen deshalb Impulse, zum Beispiel durch Innovationsberatung und durch technologieoffene Mittelstandsförderung. Allein im Zentralen Innovationsprogramm
Mittelstand, besser unter der Abkürzung „ZIM“ bekannt,
befassen sich circa 1 500 Projekte, für die 180 Millionen
Euro an Fördermitteln bereitgestellt worden sind, mit
Fragen der Material- und Rohstoffeffizienz sowie der
Entwicklung und Anwendung neuer Werkstoffe.
Sechstens: Recycling. Bei diesem Thema müssen wir
noch viel weiter vorankommen. Wir können es uns
schlichtweg nicht leisten, wertvolle Rohstoffe auf den
Müll zu kippen. Wir müssen so viel wie möglich wiedergewinnen.
({3})
Um dazu zwei Zahlen zu nennen: Wir verbrauchen im
Jahr Rohstoffe im Wert von circa 140 Milliarden Euro;
Rohstoffe im Wert von 10 Milliarden Euro gewinnen wir
durch Recycling. Das zeigt, wie wichtig dieses Thema
ist. Hier sind unsere Anstrengungen noch sehr stark ausbaubar.
Rohstoffpartnerschaften, Transparenz für kleine und
mittlere Unternehmen, offene Rohstoffmärkte, Finanzierungsinstrumente, Rohstoffeffizienz und Recycling sind
die Eckpfeiler der Rohstoffstrategie der Bundesregierung. Diese Rohstoffstrategie greift; das können wir
heute ganz eindeutig feststellen. Diese Bundesregierung
sorgt für gute Rahmenbedingungen. Wir öffnen Türen in
rohstoffreichen Ländern. Durch diese Türen muss die
Wirtschaft dann allerdings selbst gehen. Das wollen und
können wir der Wirtschaft nicht abnehmen. Das würde
unseren ordnungspolitischen Grundsätzen völlig widersprechen. Deshalb tun wir das auch nicht.
Ich bin überzeugt: Wenn wir, Wirtschaft und Politik,
gemeinsam den eingeschlagenen Weg weitergehen, dann
werden wir diese Probleme lösen. Eine sichere und auch
bezahlbare Rohstoffversorgung unserer Wirtschaft ist
absolute Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft und für die Wettbewerbsfähigkeit unseres
Landes. Deshalb sorgen wir hier für eine klare Linie und
für klare Rahmenbedingungen.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Kanzlerin war letzte Woche unterwegs, auf Reisen, und siehe da: Mit Erleichterung konnten die Koalitionsfraktionen feststellen, dass es diesmal
keine Meldung in Sachen Panzerexport oder Kriegsschiffexport gab, sondern dass es diesmal ein Abkommen in Sachen Rohstoffe zu vermelden gab. Das hat die
Koalitionsfraktionen natürlich sofort beflügelt, einen
entsprechenden Antrag, mit heißer Nadel gestrickt, in
den Bundestag einzubringen, über den heute auch gleich
abgestimmt werden soll. Ich sage Ihnen vorab: So wird
das nicht gehen. Sie müssen schon mit uns gemeinsam,
auch in den Ausschüssen, differenziert beraten. Dann
werden wir sicherlich zu differenzierten Ergebnissen
kommen. Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, springt
jedenfalls zu kurz.
({0})
Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Die Bedeutung dieses Themas für ein Land wie Deutschland
und eine Region wie Europa, die von Rohstoffen abhängig ist, kann überhaupt nicht überschätzt werden; der
Staatssekretär hat es gerade hervorgehoben. Es ist richtig, dass hier natürlich auch die Unternehmen eine große
Verantwortung haben. In den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten sind Fehler gemacht worden. Wenn ich bedenke, an welchen Rohstoffen bzw. Rohstoffvorkommen
deutsche Unternehmen Beteiligungen hatten, die mittlerweile aufgegeben worden sind, muss ich sagen: Das ist
erschreckend. Zu nennen sind da beispielsweise
Degussa, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis, in
den Bereichen Kupfer und Gold oder ThyssenKrupp
beim Eisenerz. Deutschland als Hightechland und
Europa als Hightechregion benötigen unter anderem
Coltan zur Herstellung von Handys, Neodym zur Herstellung von Festplatten oder Kernspintomografen,
Kobalt zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe und
Gallium zur Herstellung von Sonnenkollektoren. An der
Gewinnung dieser und vieler anderer Rohstoffe hatten
deutsche Unternehmen Beteiligungen, die mittlerweile,
wie gesagt, aufgegeben worden sind. Ich glaube, es ist
deutlich geworden, dass dies der falsche Weg war.
Insofern unterstützen wir alles - ich denke, das ist ein
richtiger Ansatz dieser Bundesregierung -, wodurch die
Rückwärtsintegration - so heißt das heute - der Unternehmen gestärkt wird, also die Versuche, sich wieder an
den entsprechenden Rohstoffvorkommen zu beteiligen.
Beispielsweise versuchen dies ThyssenKrupp im
Bereich der Seltenen Erden, Siemens im Bereich von
Neodym, was auch zur Herstellung von Dauermagneten
benötigt wird, usw. Wir unterstützen hier sicherlich den
richtigen Weg.
Anders sieht es mit Ihrer Politik auf den Rohstoffmärkten selbst aus, mit der Sie versuchen, deutsche Unternehmen auf fremden Märkten zu unterstützen. Das
Signal der Kanzlerin, das sie auf ihrer Reise nach Angola abgab, war absolut fatal. Angola liegt in einer Region am Golf von Guinea, die durch reiche energetische
und nichtenergetische Rohstoffvorkommen und gleichzeitig durch eine extreme Armutsentwicklung gekennzeichnet ist. Die rohstoffreichsten Länder sind zugleich
die ärmsten. Es kann nicht sein, dass das erste Signal,
das man ihnen dort sendet, ist: Wir stärken die Potentaten; wir machen sie stark gegen ihr eigenes Volk, indem
wir ihnen Waffen aus Deutschland schicken.
({1})
Nein, in Ländern wie Angola kommt es darauf an,
Transparenz hinsichtlich der Material- und Geldflüsse
einzufordern. Das ist eine Vorbedingung dafür, dass sich
deutsche Unternehmen dort überhaupt beteiligen können; denn deutsche Unternehmen - das haben wir nicht
zuletzt beim Unternehmen Ferrostaal sehen müssen unterliegen Compliance- und Corporate-GovernanceRegeln, durch die es absolut verboten ist, auf Märkten
tätig zu werden, auf denen Transparenz nicht gegeben
ist. Hier haben Sie bisher wenig geleistet, und hier gilt es
nachzusetzen.
Wir können nicht die Methode Chinas verwenden,
das die Rohstoffe zum Beispiel in den Ländern Afrikas
oder auch in Brasilien ausbeutet, die dortigen Märkte als
Spin-off für ihr Geschäft gleichzeitig mit ihren billigen
Industrieprodukten überschwemmt und damit verhindert, dass dort eine eigene Wertschöpfung entsteht, und
dafür sorgt, dass die Abhängigkeiten noch stärker werRolf Hempelmann
den, als sie es bisher schon waren. Wir werden in den
nächsten Jahren erleben - insbesondere dann, wenn die
Weltwirtschaft wieder rückläufig sein wird -, dass sich
gerade bei den Schwellenländern enorme Auswirkungen
zeigen werden, weil sie diese guten Jahre nicht genutzt
haben, um auf der Basis ihres Ressourcenreichtums eine
industrielle Wertschöpfung aufzubauen.
Meine Damen und Herren, die Kanzlerin war in der
Mongolei. Das Wirtschaftsministerium hat Abkommen
verhandelt, wie auch in Kasachstan. Das ist sicherlich
ein richtiger Ansatz. Das, was wir in den Texten dazu lesen können, ist für uns allerdings nicht ergiebig genug,
um wirklich erkennen zu können, welche Philosophie
dahintersteht. Wenn man die Kanzlerin hört - im Fernsehen beispielsweise -, dann überkommt einen schon der
Eindruck, dass das sozusagen die dritte Welle der Kolonialisierung ist
({2})
und dass es uns im Grunde genommen nur darum geht,
an die dortigen Rohstoffe heranzukommen und dafür ein
paar Glasperlen mitzubringen. Das darf nicht sein.
({3})
Wenn ich an das Abkommen mit einem Land wie der
Mongolei denke, dann vermisse ich die klare und konkrete Ausverhandlung genau der Dinge, die - jedenfalls
nach den Gesprächen, die ich dort geführt habe - am
dringendsten sind. Besonders dringend sind dort Investitionen in die Energieeffizienz, und zwar entlang der gesamten Kette.
({4})
Ulan-Bator, die Hauptstadt, ist die kälteste und zugleich auch schmutzigste Stadt der Welt. Es ist völlig
klar, wo dort die Aufgaben liegen. Die Heizperiode dauert dort acht bis neun Monate. In dieser Heizperiode
können Sie die Stadt von oben überhaupt nicht sehen; sie
liegt unter einer Smogglocke. Das hängt damit zusammen, dass die wenigen Kraftwerke dort uralte Braunkohlekraftwerke sind und mit einer Braunkohle geheizt bzw.
betrieben werden, die noch weniger effizient ist als die
deutsche, dass sie natürlich entsprechend emittieren und
dass das Nahwärmesystem nicht ausgebaut ist, sodass
die meisten mit Individualöfen heizen, wobei der Begriff
„Öfen“ völlig unsachgemäß ist, da das offene Feuerstellen sind.
Daraus lässt sich im Grunde ableiten, welches Effizienzprogramm für dieses Land angemessen wäre, nämlich ein Retrofit für die Kraftwerke, der Ausbau des
Nahwärmesystems und dort, wo Individualheizungen
unumgänglich sind, die Unterstützung bei der Anschaffung von dem, was man Ofen nennen könnte. Das werden keine Hightechöfen sein, sondern lediglich solche,
durch die eine geschlossene Beheizung möglich ist. Das
alles findet man in Ihrem Abkommen, jedenfalls in dieser Konkretheit, nicht wieder. Deswegen haben wir zu
diesem Abkommen eine ganze Menge Fragen.
({5})
Sie haben das Thema Ressourcen im eigenen Land
angesprochen. In der Tat ist das, was wir im eigenen
Land an Ressourcen haben, überhaupt nicht zu unterschätzen. Wenn wir ein sauberes Recycling und Downcycling aufbauen, durchaus auch eine Substitution von
Stoffen, die nicht ausreichend verfügbar sind, dann können wir hier im Lande sehr viel mehr an Rohstoffen heben, als wir über Importe hereinbekommen können. Anders ausgedrückt: Wenn wir dieses Feld vernachlässigen,
wenn wir es zulassen, dass Stoffe, die bei uns in technischen Geräten wie Handys und Computern vorhanden
sind, wieder aus dem Lande verschwinden, weil wir kein
vernünftiges Recyclingsystem haben, dann haben wir
unsere Hausaufgaben nicht gemacht.
Die entsprechenden Stichworte finden sich bei Ihnen
wieder, auch in Ihrem Antrag. Allerdings werden sie
nicht wirklich mit Inhalt gefüllt. Es geht letztlich darum,
die politischen Rahmenbedingungen dafür bereitzustellen, dass ein vernünftiges Kreislaufwirtschaftssystem
tatsächlich auch in diesem Bereich entstehen kann.
Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist und eine
Menge mit dem zu tun hat, was wir im Parlament in diesen Wochen ganz besonders häufig besprechen, betrifft
die internationalen Finanzmärkte. Auch die Rohstoffmärkte sind von Spekulationen nicht unberührt. Ein
Land, die USA, hat mit diesem Thema schon lange Erfahrungen gemacht und hat schon relativ früh reagiert.
Angefangen hat das dort im Agrarsektor. Vor kurzem hat
ein amerikanischer Abgeordneter festgestellt - den Satz
will ich gerne zitieren -:
Zwischen den Getreidebauern und den Brotessern
hat sich ein Parasit geschoben, der beide beraubt.
Gemeint sind die Rohstoffspekulanten.
Die Amerikaner haben in Form des Dodd-Frank Act
reagiert. Auch früher haben sie schon ähnliche Instrumente aufgelegt. Der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, Barnier, hat offenbar sehr genau hingeschaut und
macht jetzt Vorschläge, wie wir in Europa die Spekulationen auf den Rohstoffmärkten eindämmen können. Es
geht um Regeln für Händler, insbesondere zur Transparenz und zu den Berichtspflichten der Händler. Aber es
geht schlicht auch darum, Mengen von Transaktionen
auf den Rohstoffmärkten zu begrenzen, die letztlich
dazu führen, dass es Preisschwankungen und Verfügbarkeitsprobleme gibt, wie wir sie in den letzten Monaten
kennengelernt haben.
Ich kann Sie - damit richte ich mich an die Bundesregierung, aber auch an die Koalitionsfraktionen - nur auffordern, diese Anstrengungen der Europäischen Kommission aktiv zu unterstützen. Es ist so, dass viele
Mitgliedstaaten durchaus auf der Linie von Barnier sind
und solche Regelungen einführen wollen. Aber es gibt
natürlich auch einige, zum Beispiel Großbritannien, die
dem Ganzen sehr skeptisch gegenüberstehen. Ich bitte
Sie, Ihre Möglichkeiten auszunutzen, um dieses Thema
mit den Partnern in Europa voranzutreiben und dafür zu
sorgen, dass wir hier zu Lösungen kommen. Es kann jedenfalls nicht sein, dass wir dieses Thema vernachlässigen, dass wir letztlich zulassen, dass es, obwohl auf den
Weltmärkten ausreichend Rohstoffe vorhanden sind, zu
Verknappungen oder Verteuerungen und Preisschwankungen kommt, die unsere gesamte Wirtschaft betreffen
und ein Land wie Deutschland, das auf Hightechentwicklungen und Exporte angewiesen ist, in besonderem
Maße benachteiligen.
Ich habe am Anfang gesagt: Sie wollen Ihren Antrag
heute im Parlament durchpeitschen. Das sind wir gewohnt. Gestern haben wir ihn bekommen, vorgestern haben Sie ihn offenbar geschrieben, nachdem Sie sich das
Abkommen der Bundesregierung zu Gemüte geführt
hatten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden diesem
Antrag heute nicht zustimmen, einmal wegen des Verfahrens, aber auch, weil einige der Punkte einer Konkretisierung bedürfen, wie ich das gerade versucht habe anklingen zu lassen, und insbesondere weil das Thema der
Bekämpfung der Rohstoffspekulationen bei Ihnen völlig
unterbelichtet ist. Das ist offenbar ein Thema, mit dem
Sie sich auch an anderer Stelle ausgesprochen ungern
befassen. Aber um die Bekämpfung der Spekulationen
werden Sie nicht herumkommen, weder wenn es um
Währungsspekulationen noch wenn es um Rohstoffspekulationen geht.
Vielen Dank.
({6})
Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Rohstoffaußenpolitik und die Rohstoffsicherheit sind zentrale Fragen im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Deshalb haben
die Koalitionsfraktionen dieses Thema nicht nur heute,
sondern schon zu Beginn dieser Legislaturperiode auf
die Tagesordnung gesetzt. Wir versuchen, die bisher
nicht gebündelten Aktivitäten von Auswärtigem Amt,
BMZ und Bundeswirtschaftsministerium - hinzu kommen zahlreiche Einzelreisen von Abgeordneten - so zusammenzufassen, dass wir tatsächlich von einer Rohstoffaußenpolitik sprechen können. Wir wollen damit
unser wirtschaftliches Engagement im Außenwirtschaftsbereich unterstreichen.
({0})
Dass die Zukunftsfähigkeit massiv beeinflusst wird,
liegt auf der Hand; denn Rohstoffe sind nichts Abstraktes. Wenn wir über die mineralischen und nichtenergetischen Rohstoffe sprechen, muss jeder Verbraucher wissen, dass sein eigenes Handy, dass das, was wir jeden
Tag zum Arbeiten brauchen, dass jede technische Neuerung der letzten 20 Jahre darauf basiert, dass wir Rohstoffe brauchen, und zwar leider meistens solche aus
Ländern, die politisch sehr schwierig sind. Die Rohstoffabhängigkeit gilt nicht nur für Handys, für Windturbinen
und für Solaranlagen; es ist kaum ein großes, spezialisiertes Unternehmen in Deutschland ohne wichtige Rohstoffe, ohne wichtige Ressourcen denkbar; denn darauf
basieren ihre Produkte.
Als wichtige Industrienation zählt Deutschland daher
zu den größten Rohstoffkonsumenten der Welt. Das betrifft nicht nur die Metallrohstoffe, sondern vor allem Industriemineralien. Darauf gehen unser Antrag und auch
der Rohstoffkongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der kommenden Woche ausführlich ein.
Das Ganze ist ein Thema, das die Bürger und ihre Arbeitsplätze sehr stark angeht. Ohne Rohstoffe kann die
BASF in Ludwigshafen nicht arbeiten. Mit dem Einkauf
von Rohstoffen beginnt die Arbeit von weltweit über
100 000 BASF-Mitarbeitern. Volkswagen wäre ohne
Rohstoffe überhaupt nicht denkbar. Auch die erneuerbaren Energien und Unternehmen wie Solarworld gäbe es
ohne eine Ressourcen- und Versorgungssicherheit in diesem Bereich nicht. Wir brauchen also eine Rohstoffpolitik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter Führung
von Volker Kauder hat im vergangenen Jahr mit ihrem
Rohstoffkongress ein deutliches Signal an die Fachwelt
gesendet. Wir bauen darauf auf, wenn die Bundeskanzlerin auf unserem Fraktionskongress in der kommenden
Woche dazu vorträgt.
Bereits in der Zeit des Bundeswirtschaftsministers
Brüderle,
({1})
am 20. Oktober 2010, hat das Bundeskabinett eine Rohstoffstrategie gebilligt. Es ist gerade schon gesagt worden: Es wäre wünschenswert, wenn man auch auf europäischer Ebene weiterkäme. Dies gestaltet sich aber
- das ist zum Teil ein Vorwurf an unsere Freunde und
Partner in Europa - schwierig, da manche Länder, auch
engste Freunde von uns, der Meinung sind, dass zum
Beispiel in Afrika ihre Außenpolitik eher der eigenen Innenpolitik entspreche als einem gemeinsamen europäischen Ansatz. Das macht die Sache natürlich schwierig.
Wenn man eine gemeinsame europäische Rohstoffstrategie will, dann muss man an dieser Stelle Außenpolitik
aus einem Guss machen. Das gestaltet sich in Europa
sehr schwierig.
Die Opposition hat erkannt, dass dies ein wichtiges
Thema ist, und versucht, hier nachzuziehen.
({2})
Herr Hempelmann hat es gerade deutlich gemacht. Ich
begrüße das auch ausdrücklich. Es gab einen Antrag der
SPD zum Thema Rohstoffpolitik. Vieles darin finde ich
richtig und unterstütze ich. Sie könnten unserem Antrag
eigentlich getrost zustimmen, weil wir gar nicht so weit
auseinander sind.
({3})
Die Grünen haben am 1. September 2011 ihre „Grüne
Rohstoffstrategie“ präsentiert. Auch darin findet sich
vieles, dem wir zustimmen, zum Beispiel dem Punkt
Recycling. Unsere Zustimmung findet auch die Behandlung der Frage „Wie stellen wir uns im Hinblick auf
Rohstoff- und Ressourcensicherheit auf?“. Insofern lade
ich Sie ein, unseren Antrag zu unterstützen. Ich glaube,
wir sind gar nicht so weit auseinander.
Leider ist es so, dass sich die Linke sehr ideologisch
mit dem Thema Rohstoffe beschäftigt hat, Herr Gehrcke.
({4})
- Nein. Ich möchte Ihnen nicht den Tag verderben, indem ich Ihrem Antrag zustimme.
Bei Ihnen hat man den Eindruck, Sie hätten einen
Pawlow’schen Ideologiereflex: Sobald Sie das Thema
„Ressourcen, Industrie, Wirtschaft, Rohstoffe“ hören,
sagen Sie: Kein Krieg für Rohstoffe!
({5})
Darum geht es bei unserer Rohstoffstrategie nicht.
Bitte betrachten Sie das Thema etwas sachlicher! Beschäftigen Sie sich mit der Frage, und stellen Sie sich
vor, was wir ohne eine engagierte Rohstoffaußenpolitik
machen würden! Wenn wir Ihnen folgen würden und Ihr
Antrag umgesetzt würde, dann würden in Zukunft alle
Hightechprodukte teurer werden, und die Industrie in
Deutschland würde sterben. Deshalb lehne ich das ab.
({6})
Wir befinden uns in der Rohstoffpolitik grundsätzlich
in einem Zwiespalt zwischen wertegebundener und interessengeleiteter Außenpolitik. Das ist im Übrigen nicht
nur für diese Bundesregierung, insbesondere den Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin, eine Herausforderung, sondern es war auch für die vorherigen Regierungen eine ständige Herausforderung. Wenn Sie in
rohstoffreiche Länder reisen, dann treffen Sie - das ist
bereits angesprochen worden - häufig auf große Armut
und sehr schwierige politische Verhältnisse, meistens in
Verbindung mit der Missachtung von Menschenrechten.
Nichtsdestotrotz ist in dieser Frage realpolitisches
Handeln notwendig, weil dies unseren Interessen entspricht. Das heißt nicht, dass man alles andere über Bord
werfen darf. Sie können uns zwar Einzelbeispiele von
Reisen vorwerfen, über denen eher ein Grauschleier lag,
als dass sie ein leuchtendes Beispiel für die Menschenrechtspolitik gewesen wären. Ich könnte aber den Spieß
auch umdrehen und Ihnen aufzählen, wohin überall
Gerhard Schröder oder auch Politiker Ihrer vorherigen
Regierung gereist sind und was sie dort alles gemacht
haben. Das ist der Zwiespalt einer interessengeleiteten
und gleichzeitig wertegebundenen Außenpolitik. Dieses
Hin und Her gegenseitiger Schuldzuweisungen wird uns
nichts bringen, wenn es um die großen Fragen geht, die
wir in der Rohstoffpolitik zu bewältigen haben.
({7})
Eine zentrale Frage, in der man, glaube ich, ernsthaft
versuchen sollte, einen europäischen Konsens herzustellen, ist die Rohstoffgerechtigkeit. Im Frühjahr dieses
Jahres hat es durch Spekulationen sehr starke Verwerfungen auf den Märkten gegeben. Ich glaube, wenn wir
mit geballter Marktmacht und einer einheitlichen Strategie, die politisch entsprechend unterfüttert wird, in Europa auftreten würden, dann hätten wir die Chance, zumindest durch langfristige Partnerschaften mit einzelnen
Rohstofflieferanten der Spekulation etwas entgegenzusetzen. Wenn aber jeder Staat einzeln versucht, diese
große Herausforderung zu bewältigen, wird er scheitern.
Wenn wir einen Beitrag zur Rohstoffgerechtigkeit leisten wollen, dann muss Europa versuchen, von einzelstaatlichen Lösungen abzusehen, und sich darum bemühen, die gemeinsamen Themen auf einen Nenner zu
bringen.
Rohstoffpolitik hat aus unserer Sicht drei Handlungsfelder, die wir in unserem Antrag aufgeführt haben. Notwendig ist, erstens Wettbewerbsverzerrungen zu bekämpfen und zweitens zu einer Diversifizierung bei den
Rohstofflieferanten zu kommen, um sich nicht von einem Land abhängig zu machen. Dies ist ein großes Problem; ich erinnere nur an das Beispiel der Seltenen Erden aus China. Recycling und Rohstoffeffizienz sind
schon von Staatssekretär Burgbacher angesprochen worden. Diesen Themen müssen wir uns in Deutschland
stellen. Dafür sind die Außenpolitiker allerdings nicht
zuständig.
Das dritte Handlungsfeld ist die Rohstoffpolitik. Eine
kluge Rohstoffaußenpolitik muss Rahmenbedingungen
für Unternehmen und Arbeitsplätze in Deutschland setzen. Sie verlangt deshalb auch ein größeres Engagement
der deutschen Industrie, was aus meiner Sicht auf einem
guten Weg ist, aber trotzdem noch einer gewissen finanziellen Untermauerung bedarf. Denn es kann nicht sein,
dass letztlich der Staat alles regeln muss. Wir helfen der
Industrie gerne und stellen uns auch nicht dagegen, sie
mit Geld des Steuerzahlers zu unterstützen, aber die
größte Leistung muss aus der Industrie selbst kommen.
Wenn es beispielsweise um eine Rohstoffholding oder
eine Investmentgesellschaft in diesem Bereich geht,
muss das die Wirtschaft vor allem selber stemmen.
Wir sehen verschiedene Handlungsfelder in der Rohstoffaußenpolitik. Es geht um den Zugang zu Rohstoffen, damit wir nicht in technologische Abhängigkeit
kommen. Es geht um die Balance zwischen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und um die
Frage, wie wir uns in einem Wettbewerbsumfeld so platzieren können, dass deutsche und europäische Firmen in
der Lage sind, wettbewerbsfähig zu wirtschaften.
In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte wichtig,
die auch die Rahmenbedingungen setzen: Der Bedarf an
Rohstoffen nimmt weltweit zu, und es gibt stärkere
Preisschwankungen als früher. Ein dritter Punkt, den
man nicht unterschlagen darf, ist, dass es einige Länder
gibt, die konzentriert Rohstoffe für ihre Industrie brauchen. Dies kann dazu führen, dass außenpolitische Über15648
legungen zum Spielball von strategischer Rohstoffpolitik werden. Das ist eine sehr große Herausforderung, der
wir uns stellen müssen. China wird immer als Hauptbeispiel genannt. Es ist aber nicht nur China; es sind noch
viele andere Länder. Ich möchte an dieser Stelle nicht
nur China kritisieren.
Abschließend - Herr Burgbacher hat es richtigerweise
gesagt -: Wir brauchen Rohstoffpartnerschaften. Deshalb war die Reise der Kanzlerin in die Mongolei ein
voller Erfolg. Was wir mit Kasachstan auf den Weg zu
bringen versuchen, geht in dieselbe Richtung. Ich hoffe,
dass wir in diesem Jahr zu einem positiven Ergebnis
kommen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es liegen heute zwei Anträge vor, die
jeweils in eine völlig andere Richtung weisen, der Antrag der CDU/CSU und FDP und der Antrag der Linken.
Der Kollege Mißfelder hat völlig recht, und ich möchte
ihm gar nicht widersprechen: Wenn man unseren Antrag
und Ihren Antrag liest, dann stellt man fest, dass die beiden nicht zusammengehen. Ich finde es völlig normal
und richtig, das auszusprechen. Ich lege sogar großen
Wert darauf, dass wir in unterschiedliche Richtungen
denken und unterschiedliche Vorschläge machen. Das ist
mir wichtig. Es wäre schlimm, wenn unsere Anträge
gleich wären.
({0})
Schauen wir uns im Einzelnen an, welche Grundlagen
in den Anträgen betont werden. CDU/CSU und FDP formulieren in ihrem Antrag die philosophische und strategische Grundlage, den Prinzipien von Markt und Wettbewerb entsprechen zu wollen. Die Grundlage ist, dass
der Markt alles regelt, und im Wettbewerb wird sich bekanntermaßen der Stärkere durchsetzen. Die Vorschläge,
die Sie praktisch machen, weisen in diese Richtung. Die
Prinzipien von Wettbewerb und Markt decken sich mit
den Aussagen im Koalitionsvertrag. Es ist schon als
Grundprinzip der Außenpolitik formuliert worden, den
freien Welthandel durchzusetzen. Was Sie unter freiem
Welthandel verstehen, ist bekannt.
Wir betonen in unserem Antrag völlig andere Dinge.
Wir betonen in unserem Antrag die Solidarität als Handlungsprinzip zwischen Produzenten und Konsumenten
von Rohstoffen. Das ist außerordentlich wichtig. Wir
wollen Ausgleich und nicht Dominanz.
({1})
Wir legen Wert darauf, dass Menschenrechte nicht das
Beiwerk sind, mit dem man sich schmücken kann, wenn
es passt, sondern das Grundprinzip der Kooperation werden. Ich sage Ihnen sehr zugespitzt: Sie scheren sich einen Dreck um die Menschenrechte, wenn es um Profit
geht.
({2})
Wer Panzergeschäfte mit Saudi-Arabien abwickelt, soll
mir nicht mit Menschenrechten kommen. Sie haben sich
selbst entlarvt und haben offenbart, in welche Richtung
es geht.
({3})
Davon kommen Sie nicht weg. Ändern Sie Ihre Politik!
Dann brauche ich diesen Vorwurf nicht zu erheben.
Für uns ist wichtig, dass man sich den Kopf zerbricht
über die Arbeitsbedingungen der Menschen, die Rohstoffe fördern oder an der Verteilung von Rohstoffen beteiligt sind. Für uns ist wichtig, über Kinderarbeit und
über ökologische Verantwortung zu sprechen. Das alles
finden Sie in unserem Antrag, aber davon finden wir
nichts in Ihrem Antrag. Den Vorwurf, dass Sie sich in Ihrem Antrag überhaupt nicht mit der Spekulation mit
Rohstoffen und dem, was damit in der weltweiten Auseinandersetzung angerichtet wird, befassen, können Sie
nicht entkräften. Lesen Sie Ihre eigenen Papiere! Dann
werden Sie das begreifen.
Jetzt haben Sie als großen Knüller entdeckt - auch
das ist nichts Neues -, dass wir immer mit der Kriegsfrage kommen, wenn es um Rohstoffe geht. Das stimmt.
Ich bin fest davon überzeugt, dass mindestens ein Grund
- für mich ist das der dominierende Grund - für die Militäreinsätze die Rohstoffsicherung ist. Das will ich gar
nicht mit meiner Ideologie beweisen, auch wenn ich es
könnte. Ich lasse es aber sein, weil es keinen Zweck hat,
darüber mit Ihnen zu diskutieren. Schauen Sie in die
Pläne der Bundesregierung zum Umbau der Bundeswehr! Die Rohstoffsicherheit und die Sicherheit von
Handelswegen bilden ausdrücklich einen Schwerpunkt
der neuen Bundeswehrstrategie. Das ist Ihre Politik.
Also gibt es einen Zusammenhang.
Denken Sie an die Worte des Exbundespräsidenten
Köhler zu Afghanistan. Zu Guttenberg hat das Gleiche
formuliert, nur etwas eleganter. Es tut mir leid, wie man
mit Herrn Köhler umgesprungen ist. Er hat ausgesprochen, dass auch der Afghanistan-Krieg vor dem Hintergrund des Kampfes um Rohstoffe geführt wird.
({4})
- Das ist nicht mein Unsinn. Das war Herrn Köhlers Unsinn.
({5})
- Setzen Sie sich damit auseinander! Das können Sie in
zig Varianten lesen, übrigens auch in Anträgen der FDP.
Sie enthalten immer diesen Akzent, Rohstoffsicherheit
auch militärisch zu garantieren. Das entspricht ja auch
Ihrer praktischen Politik.
({6})
- Dass Sie ärgerlich sind, wenn das angesprochen wird,
verstehe ich, aber es ist ja nun einmal so.
({7})
Ich möchte Sie auch darauf aufmerksam machen, dass
man den verengten Blick, was Rohstoffe angeht - man
betrachte nur Öl und Gas -, aufgeben und die gesamten
Fragen der Auseinandersetzung auch um Wasser und um
Seltene Erden sehen muss. Was mich vor allem berührt,
ist die Auseinandersetzung um Wasser. Wenn ich sehe,
was dort an Konzentration, an Privatisierung, an Kampf
um die Preise läuft, dann komme ich zu dem Schluss,
dass wir von wenigen Wasserproduzenten abhängig werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die ganze Frage
des Kampfes um Wasser einmal eine der zentralen Fragen der Auseinandersetzung werden wird.
Schauen Sie dann doch auch einmal darauf, wie viel
Geld Sie im Rüstungsbereich verschwenden! Der Afghanistan-Krieg hat Deutschland bisher 17 Milliarden Euro
gekostet. Was hätte man damit an vernünftigem Ausgleich leisten können!
Zusammengenommen: Wir brauchen hier eine Politik, die einen fairen Ausgleich beinhaltet, bei der nicht
das Strategiepapier des BDI maßgeblich ist, sondern das,
was die Produzenten und die Konsumenten brauchen.
({8})
Wir brauchen eine Politik, nach der bestimmte Dinge
nicht mehr als Ware gehandelt werden dürfen - ich
nenne Gene von Pflanzen und von Menschen -, und wir
brauchen eine Entscheidung gegen Spekulation mit Nahrungsmitteln. Das wäre einem deutschen Parlament angemessen. Das erwarte ich bei den Mehrheitsverhältnissen hier nicht. Mit Ihrer Rohstoffpolitik werden Sie nur
dem alten Satz, der Truman zugeschrieben worden ist,
neue Nahrung geben: Wie kommt unser amerikanisches
Öl unter den arabischen Sand?
Was Sie hier anbieten, ist einfach zu wenig.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema Rohstoffe ist Gegenstand von Wirtschaftspolitik,
Technikpolitik, Außenpolitik und Entwicklungspolitik.
Ich will gern mit einer eher moralischen Fragestellung
beginnen: Was folgt aus der Tatsache, dass wir aufgrund
unserer Wirtschaftskraft so viele Rohstoffe brauchen?
Folgt daraus, dass wir ein besonderes Recht haben auf
einen besonderen Zugang zu vielen Rohstoffen in der
Welt - das ist die Hauptrichtung Ihres Antrags -, oder
folgt aus der Tatsache, dass wir besonders viele Rohstoffe verbrauchen, eine besondere Verpflichtung, effizient mit knappen Rohstoffen umzugehen? Ich finde,
Letzteres ist richtig
({0})
Das ist die zentrale Kritik an dem Konzept von
Brüderle aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister und an
Ihrem Antrag: Sie legen den Schwerpunkt zu sehr auf
Rohstoffsicherung - Klammer auf: nicht unwichtig und zu wenig auf Effizienz und Recycling und effektiven Umgang mit knappen Gütern, darunter - schon
sprachlich interessant - Seltene Erden.
({1})
Wir sagen: Sie müssen es anders machen. Im Schwerpunkt einer deutschen Rohstoffstrategie muss der effiziente Umgang mit Rohstoffen liegen, die Rohstoffproduktivitätssteigerung, wie man ökonomisch sagen
würde, damit wir unseren Wohlstand mit weniger Rohstoffen sichern können.
Ich sage in Ihre Richtung: Ich finde, das ist auch die
beste Sicherheitspolitik - darüber brauchen wir gar nicht
lange zu streiten -,
({2})
und das ist auch ein außenpolitisches und entwicklungspolitisches Thema, weil ein Fluch auf Rohstoffen liegen
kann, selbst wenn man sie besitzt.
({3})
Das wird entschärft, wenn die reichen Länder effektiv
mit Rohstoffen umgehen.
Deswegen ist Rohstoffpolitik Innovationspolitik. Es
gilt, unser Wissen, unser technisches Wissen so einzusetzen, dass wir unseren Wohlstand mit weniger Rohstoffen
erzeugen können. Da ist die Bundesregierung bisher
nicht besonders gut.
Ich will einmal ein Beispiel nennen. Es gibt ja ein
EU-Konzept, das gelegentlich auch zitiert wird. Die
Bundesregierung hat hier in Brüssel blockiert und tut es
noch immer. Die EU sagt: Wir wollen eine Innovationspartnerschaft für Rohstoffe und Ressourceneffizienz.
Lasst uns das in Europa gemeinsam machen und nicht
Land für Land! Wir brauchen eine gemeinsame Strategie. Da tritt die Bundesregierung auf die Bremse.
Ein interessanter Punkt ist übrigens: Auf EU-Ebene
seid ihr bei diesem Thema gar nicht gut aufgestellt. In
den EU-Debatten heißt es immer, man müsse zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik gemeinsam handeln. Herr
Mißfelder, hat die Kanzlerin die EU vorher über ihr Vorhaben in der Mongolei informiert? Hat man die Frage
gestellt, ob man das nicht auf europäischer Ebene regeln
kann? Oder hat man beim Thema Rohstoffe wieder den
Blick auf die nationale Wirtschaft? Das würde ich für
extrem falsch halten.
({4})
Übrigens - weil Sie gesagt haben, die Reise in die
Mongolei sei so toll gewesen -: Wenn man dort eine
Rohstoffpartnerschaft schließen will, kommt es auf das
Wie an. Das Erste, auf das man gekommen ist, ist die
Kohleförderung. Sie können mir viel erzählen, aber ein
richtiger Innovationsbrummer war diese Reise nicht; die
Ergebnisse sind eher ziemlich schwach.
({5})
Herr Kollege Kuhn, darf Herr Mißfelder Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, wenn es hilft, bitte.
Bitte sehr.
Meine Frage an Sie lautet: Sind Sie sich darüber im
Klaren, dass es eventuell notwendig sein könnte, jetzt zu
versuchen, eigene Partnerschaften zu etablieren, um europäische Partner auf einen gemeinsamen Weg zu zwingen?
({0})
Denn Nichtaktivität kann auch dazu führen, dass wir am
Wettbewerb gar nicht mehr teilnehmen. Sind Sie sich außerdem darüber im Klaren, dass eine Hilfe bei der Kohleförderung vielleicht zu mehr Effizienz in der Mongolei
selbst führen könnte? Es würde mich interessieren, ob
Sie, der Sie gerade von Effizienz gesprochen haben, bereit sind, unsere technologische Unterstützung der Mongolei, die auch zu mehr Effizienz führen soll, zur Kenntnis zu nehmen.
Zu Ihrer ersten Frage: Wenn man grundsätzlich der
Überzeugung ist, dass es gut ist, solche Innovationsstrategien auf europäischer Ebene abzustimmen - Klammer
auf: weil der alte Wettlauf zum Beispiel zwischen den
Franzosen, den Engländern und uns nicht besonders effizient und klug ist, da alle getrennt agieren -, dann wird
man das in Europa tatsächlich koordinieren müssen. Das
war der Sinn meiner Frage, ob auf europäischer Ebene
abgesprochen ist, dass man jetzt eine deutsche Rohstoffpartnerschaft initiiert. Die Frage ist, ob es nicht klüger
wäre, sich um europäische Rohstoffpartnerschaften zu
bemühen.
Sie haben gesagt, um auf europäischer Ebene etwas in
Gang zu bringen, müsse man erst einmal alleine handeln.
Das scheint mir etwas konstruiert. Das ist ein seltsames
Verständnis von europäischer Koordination, und ich
kann es überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn man in
Europa etwas machen will, dann spricht man in Europa
auch gemeinsam die Schwerpunkte ab.
({0})
Man entwickelt eine gemeinsame Strategie, und darauf
gründen sich dann Rohstoffpartnerschaften. So würde
ich das jedenfalls sehen.
({1})
Der große technologische Effizienzschub für die
Mongolei kommt nicht aus der Kohleförderung. Das ist
völlig absurd. Die Mongolei hat viele Möglichkeiten, gerade mit erneuerbaren Energien, die Energieversorgung
sicherzustellen. Dass man sich da noch einmal auf den
Kohletrip begibt, den wir uns gerade langsam abgewöhnen, halte ich für unnötig.
({2})
Jetzt würde ich gerne in meiner Rede fortfahren. - Sie
versäumen es, den Effizienzgedanken mit Instrumenten
zu versehen. Die Ökodesign-Richtlinie muss jetzt bearbeitet werden. Zum Beispiel muss in diese Richtlinie
auch die Recyclingfähigkeit von Produkten aufgenommen werden. Das blockieren Sie gerade. Wir müssen
beim Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz die Frage
nach dem Recycling stellen. Das wird ja gerade diskutiert. Sie allerdings bremsen da nur. Sie haben eine Wiederverwertungsquote von 65 Prozent hineingeschrieben,
die aber in vielen Bereichen schon erreicht wird. Es ist
eine völlig unambitionierte Politik, die Sie betreiben,
wenn es darum geht, Effizienz, Verwertung und auch
Substitution zu verbessern.
Ich komme zu einem Punkt, bei dem Sie sehr
schwach aussehen: Es geht um die Regulierung der Rohstoffmärkte. Das ist ein internationales Thema. Ich will
vorweg sagen: Die Rohstoffmärkte müssen stark reguliert werden. Was in den USA unter dem Begriff DoddFrank Act jetzt diskutiert wird, müssen wir auch in
Europa aufnehmen. Es bedeutet zum Beispiel, dass der
Over-the-Counter-Handel bei Rohstoffderivaten verboten werden muss. Es muss klar sein, wo Rohstoffe gehandelt werden, damit die Spekulation mit Rohstoffen,
die Sie angesprochen haben, zurückgeht.
Die Amerikaner haben auch formuliert, dass es ein
Positionslimit für einzelne Händler geben muss, um unkontrollierte Spekulation zu verhindern. Das wollen wir
einführen.
({3})
Sie aber reden nicht davon. Der Grund dafür ist bei der
FDP zu finden: Sie haben Angst, einen Bereich zu regulieren, der vernünftigerweise reguliert werden müsste.
Sie scheuen das Wort Regulierung wie der Teufel das
Weihwasser.
Rohstoffspekulationen sind sowohl für die deutsche
Wirtschaft als auch für Entwicklungsländer, die über
Rohstoffe verfügen, extrem schädlich und gefährlich.
Deswegen muss der Rohstoffmarkt jetzt vernünftig reguliert werden. Daran führt kein Weg vorbei. Dieses
Thema haben Sie in Ihrem Antrag allerdings nur am
Rande gestreift; denn Sie machen keine operativen Vorschläge dafür, wie das funktionieren soll.
Sie machen auch keine Vorschläge zum Thema Zertifizierung von Handelsketten. Dieses Thema haben wir in
dem von Ihnen zu Recht genannten grünen Konzept aufgenommen. Ich habe, nebenbei bemerkt, einige
Exemplare dabei. Sie können gegen eine geringe Schutzgebühr nachher ein Exemplar bekommen.
({4})
Die Zertifizierung von Handelsketten ist ein zentrales
Element, das wir brauchen. Auch darüber haben Sie
nichts gesagt.
Ich will zum Schluss feststellen: Es ist wichtig, dass
wir über dieses Thema diskutieren. Die Vermeidungsund Effizienzseite kommt bei Ihnen zu kurz. Deswegen
müssen Sie Ihren Antrag nachbessern.
({5})
Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege Klaus
Breil das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hatte bis in die 90er-Jahre einen weltweit erfolgreichen Rohstoffkonzern von beachtlicher
Bedeutung. Der Einfluss einer staatlich kontrollierten
Bank aus Nordrhein-Westfalen wirkte sich hier aber so
fatal aus, dass das gesamte Rohstoffgeschäft aufgegeben
wurde. Der Konzern entwickelte sich in eine völlig neue
Richtung. Seitdem ist unsere Wirtschaft an der Rohstoffflanke offen.
Heute hängt unsere Wirtschaft mehr denn je von Metallrohstoffen und Industriemetallen ab. Sie ist auf die
Importe dieser Rohstoffe nahezu vollständig angewiesen. Selbst wenn ein europaweit agierender Kupferhersteller schon fast 40 Prozent seiner Produktion aus Recyclingmaterial schöpft: Wir wollen und müssen das
Recycling noch in vielerlei Hinsicht steigern und die Effizienz beim Einsatz von Rohstoffen deutlich verbessern.
({0})
Herr Kuhn, wir haben das voll auf dem Radarschirm.
Rohstoffabhängigkeit ist und bleibt ein wirtschaftliches Urphänomen. Rohstoffhandel ist Prototyp wirtschaftlicher Interaktion - in Deutschland ganz besonders. Denn von der Sicherheit der Versorgung mit
Rohstoffen hängen hier in hohem Maße Arbeitsplätze
und Wirtschaftswachstum ab. Sie alle wissen: Im Jahr
2010 hatte das produzierende Gewerbe mit rund
720 Milliarden Euro einen Anteil von knapp 30 Prozent
am deutschen Bruttoinlandsprodukt. Diese Tatsache hat
uns einen florierenden Arbeitsmarkt und volle Sozialkassen beschert.
Die Vorstellung der Linken von einer Rohstoffstrategie, die nicht die Interessen der deutschen und europäischen Industrie zum Ziel hat, kommt einer Deindustrialisierung gleich. Daher ist ihr Antrag abzulehnen.
({1})
Die Rohstoffsicherung ist eine primäre Aufgabe der
Wirtschaft. Es ist erfreulich, dass dies die Wirtschaftsverbände genauso sehen. Die Politik muss sich allerdings um die erforderlichen Rahmenbedingungen kümmern. Sie kann Lieferabkommen schließen und
Vorhaben begleiten; sie kann Investitionsgarantien geben und Ungebundene Finanzkredite anbieten. Das wird
sie auch tun. Daneben wird sie noch zusätzliche Instrumente prüfen.
Die Politik muss darauf hinwirken, bestehende Handels- und Wettbewerbsverzerrungen gegenüber anderen
Staaten abzubauen. Das gilt ganz besonders für die Seltenen Erden. Dazu ist eine Partnerschaft zur industriellen
Entwicklung hilfreich, die von mehreren rohstoffreichen
Ländern seit einiger Zeit verstärkt gefördert wird. Die
Zusammenarbeit mit Kasachstan ist für den neuen Geist
der Partnerschaft ein gutes Beispiel.
({2})
Der „Interministerielle Ausschuss Rohstoffe“ arbeitet
hier im Übrigen eng mit der Wirtschaft zusammen.
({3})
Wir erleben einen echten Neubeginn, und der ist auch
notwendig. Denn heutzutage ist der Aufbau eines weltweit agierenden Rohstoffkonzerns im Alleingang finanziell nicht mehr zu schultern. Bei dem Bestreben der
deutschen Industrie, ihre Rohstoffversorgung wieder in
die eigene Hand zu nehmen, werden direkte Beteiligungen der Unternehmen an Rohstoffprojekten im Ausland
die Versorgungssicherheit erhöhen, selbst wenn dies kein
sofortiges Allheilmittel ist. Die Bundesregierung wird
durch den weiteren Aufbau von staatlich untermauerten
Rohstoffpartnerschaften diesen Weg flankieren.
Bemerkenswert finde ich die zunehmenden Klagen
von Schwellen- und Entwicklungsländern, denen sich
die Chinesen in unmissverständlicher Absicht aufdrängen. Unser Weg der umfassenden wirtschaftlichen Partnerschaften hingegen wird uns viele Chancen eröffnen.
Mit ihrer sprichwörtlichen Zuverlässigkeit und Korrektheit kann die deutsche Wirtschaft hier gegenüber Wettbewerbern überzeugend punkten.
({4})
Wir wollen die Interessen der Partnerländer wahren und
ihre eigene Ertragskraft durch den Rohstoffexport stärken. Damit gewährleisten wir unsere eigene Versorgungssicherheit zu dauerhaftem Nutzen.
Zu Herrn Hempelmann sei noch gesagt - er sprach
Spekulationen bei Rohstoffen an -: Die kräftigen
Preisanstiege bei metallischen Rohstoffen, die im Jahre
2002 begannen, waren eine Folge der Urbanisierung und
der Infrastrukturaufbaumaßnahmen in China, das damals
zum Nettoimporteur wurde. Die Nachfrage auf dem
weltweiten Kupfermarkt kommt zu 40 Prozent aus
China, bei nur 5 Prozent eigener Produktion. Herr
Hempelmann, nach meiner Beobachtung sind es die Lagerbestände und die Explorationskosten sowie die Produktionskosten, die die Preise beeinflussen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir in Deutschland an den Tankstellen unser Benzin zapfen und uns an Fernsehserien
wie Dallas erinnern, glauben wir, dass derjenige, der
über Öl verfügt, reich ist und in Saus und Braus leben
kann. Still und heimlich beneiden wir diejenigen, die auf
Land sitzen, unter dem solche Rohstoffe liegen.
Leider trifft das für Afrika und viele Entwicklungsländer aber nicht zu. Dort liegen zwar ganz viele Rohstoffe, und trotzdem leben Menschen in bitterster Armut.
Für viele Länder Afrikas haben sich die Rohstoffe nicht
als Segen, sondern als Fluch erwiesen. Obwohl pro Jahr
aus Rohstoffexporten fast zehnmal soviel Geld wie aus
der Entwicklungszusammenarbeit nach Afrika fließt,
gibt es dort Millionen Menschen, die von unter 1 Dollar
am Tag leben müssen oder - wie gerade jetzt in Ostafrika - vom Hungertod bedroht sind.
Da fragt man sich natürlich: Woran liegt das? Das
liegt sicherlich daran, dass es oft schlechte Regierungsführung gibt, die verhindert, dass die Gewinne, die beim
Abbau von Rohstoffen erzielt werden, den ärmsten Menschen oder zumindest den Menschen aus der Region, in
der diese Rohstoffe gefördert werden, zugutekommen.
Oft wird dann von uns mit erhobenem Zeigefinger die
Korruption benannt. Nur, zur Korruption gehören immer
zwei: derjenige, der die Bestechung annimmt, und derjenige, der besticht. Zu denjenigen, die bestechen, gehören
leider auch viele europäische und deutsche Firmen.
({0})
Deswegen können wir in Deutschland nicht so tun, als
gehe uns das Problem nichts an. Wir können den moralischen Zeigefinger nicht nur auf die Regierungen in
Afrika richten.
Ich glaube, dass es nicht reicht, wenn wir unseren Unternehmen sagen: Bitte seid doch freiwillig so nett, faire
Abkommen zu schließen und eure Zahlungsströme offenzulegen. - Ich glaube vielmehr, dass wir verbindliche
Regeln brauchen.
Herr Kollege Mißfelder, der Antrag von Union und
FDP unterscheidet sich sehr wohl von dem Antrag, den
die SPD-Fraktion bereits im Januar dieses Jahres vorgelegt hat und der im März hier diskutiert wurde. Wir
sagen nämlich, dass die Einhaltung der Transparenzregelungen der EITI, der - in Englisch - Extractive Industries Transparency Initiative,
({1})
verbindlich sein muss, damit es Außenwirtschaftsförderungen wie die Hermesbürgschaften geben kann. Es ist
ein großer Unterschied, ob man dies auch für die deutsche Außenwirtschaftsförderung zur Bedingung macht
oder ob man sagt: Wir glauben, dass ihr das schon einhaltet. - Wir brauchen strenge Regeln für Unternehmen,
damit in diesem Sektor Transparenz und Ehrlichkeit
herrschen.
({2})
Der sogenannte Dodd-Frank Act ist eine Maßnahme,
die in den USA getroffen wurde. Demnach müssen Rohstoffunternehmen, die an der Börse handeln, ihre Zahlungsströme offenlegen. Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung für mehr Transparenz und Gerechtigkeit in
diesem Sektor. Ein solcher Ansatz muss auch von der
Bundesregierung verfolgt werden.
({3})
Die Bundesregierung sagt zwar, dass sie solche Maßnahmen unterstützen will. Sie hat sich bisher aber leider
nicht für die projektbezogene Offenlegung dieser Zahlungsströme eingesetzt, die in den USA bereits praktiziert und die von Frankreich und Großbritannien angestrebt wird. Nur durch eine projektbezogene
Offenlegung kann man den lokalen Gemeinschaften, die
in diese Maßnahmen eingebunden werden müssen, sagen: So viel Geld verdient eine Firma, die Kupfer bzw.
Erz abbaut. Ihr habt Anspruch auf dieses Geld. - Wenn
allerdings nur auf das Land bezogen eine Gesamtsumme
genannt wird, vertut man eine große Chance, da man den
lokal betroffenen Menschen kein scharfes Schwert in die
Hand gibt. Wir fordern deshalb die projektbezogene Offenlegung aller Zahlungsströme, für die die Rohstoffunternehmen in Entwicklungsländern verantwortlich
sind.
Ich komme zu meinem nächsten Punkt. Transparenz
ist zwar wichtig. Es geht aber auch um die gerechte Verteilung der Gewinne. Voraussetzung dafür ist, dass die
Menschen und die Regierungen in den Entwicklungsländern gemeinsam für Transparenz sorgen. Die Menschen
müssen wissen, wie viel für Lizenzgebühren, für Konzessionsgebühren, für Steuern und für Gewinne gezahlt
werden muss. Wir müssen im Rahmen der EntwickDr. Sascha Raabe
lungszusammenarbeit mithilfe von Partnerschaftsabkommen darauf drängen, dass die Gewinne gerecht, also
auch an die ärmsten Menschen, verteilt werden. Dafür
setzen wir uns ein. Das haben wir in unserem Antrag
vom Januar bereits deutlich gemacht.
Wir dürfen aber nicht nur auf die Verteilung der Gewinne achten. Wir müssen auch die Arbeitsbedingungen
in den Entwicklungsländern betrachten. In einem Land
wie dem Kongo werden schon achtjährige Kinder gezwungen, in Minen zu arbeiten. Sie werden dort tagelang
unter der Erde gehalten und somit ihrer Kindheit beraubt. Oft wird ihnen auch noch ein großer Teil ihres
kläglichen Gewinnes von Milizen abgenommen. Wir
alle sollten uns schämen; denn auch wir Verbraucher hier
in Deutschland tragen zu dieser Situation bei, indem wir
Handys, zum Beispiel iPhones, und Flachbildschirme
kaufen, für deren Produktion sogenannte Blutmineralien
verwendet werden. Wir haben bis jetzt noch keine Regelungen getroffen, die es verhindern, dass Kinder im
Kongo in Bergminen arbeiten und verschüttet werden
und unzählige Menschenleben zerstört werden. All dies
kommt im wahrsten Sinne des Wortes nie ans Tageslicht.
Wir sind es den betroffenen Menschen schuldig, verbindliche Regelungen zu schaffen.
({4})
Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechte
und die sozialen Mindeststandards wie die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation - Verbot
von Kinderarbeit und Zwangsarbeit, Gewerkschaftsfreiheit - eingehalten werden. Wir müssen dafür sorgen,
dass durch Kontrollen bessere Arbeitsbedingungen in
den Abbaugebieten und den Minen geschaffen werden.
Das muss zur Voraussetzung für künftige Freihandelsabkommen werden, die die Europäische Union abschließt.
Dies sollte auch für die Welthandelsorganisation gelten.
Es nützt auch nichts, zu verhindern, dass deutsche
Unternehmen diese Erze verarbeiten. Denn wir wissen,
dass momentan 90 Prozent der Erze in Asien verarbeitet
werden. Mittlerweile haben die meisten Kollegen ein
iPhone. Schauen Sie einmal auf die Rückseite und lesen
Sie, wo es hergestellt wurde. Es steht „China“ darauf. Es
nützt nichts, zu glauben, dass deutsche Firmen damit
nichts zu tun haben. Denn das Eisenerz aus diesen „blutigen Minen“ wird in China verarbeitet. Wir kaufen es
dann und heizen die Nachfrage an. Damit verheizen wir
im wahrsten Sinne des Wortes die Kinder- und Menschenleben mit. Das müssen wir stoppen.
({5})
Deswegen darf international im Rahmen von Freihandelsabkommen nur dann gehandelt werden, wenn sichergestellt ist, dass die sozialen Bedingungen und die Menschenrechte eingehalten werden.
Weitere wichtige Aspekte, die wir entwicklungspolitisch unterstützen können, sind zum einen die Zertifizierung und zum anderen die Beratung von Regierungen,
sodass sie beim Abschluss von Verträgen mit Unternehmen mehr Know-how und Expertise haben und die Verträge so aushandeln, dass die Gewinne den Menschen
nützen. Das sind Dinge, die wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit leisten können.
Ich sagte aber schon: Unser Handeln wird nur dann
kohärent, wenn wir in der Handelspolitik entsprechend
agieren. Deswegen setzen wir, die SPD, uns dafür ein,
nicht nur die Entwicklungsprojekte, sondern auch die
Handelspolitik in den Blick zu nehmen, damit wir faire,
gerechte Handelsbedingungen erreichen.
Der Agrarrohstoffsektor, den mein Kollege
Hempelmann schon angesprochen hat, ist das himmelschreiendste Beispiel für die Ungerechtigkeit, die es im
Augenblick beim Handel mit Rohstoffen gibt. Viele denken bei Rohstoffen nur an Öl, Seltene Erden, Erze und
anderes. Nahrungsmittel sind mittlerweile zu Rohstoffen
geworden, die an den Börsen spekulativ gehandelt werden. Früher betrug das Handelsvolumen der Marktteilnehmer, die nicht wirklich ein Interesse an Preisstabilität
hatten und den Handel mit Nahrungsmitteln spekulativ
betrieben haben, 20 bis 30 Prozent. Heute werden
80 Prozent der Nahrungsmittel als Spekulation gehandelt, von Menschen, die gar kein Interesse an sicheren
Preisen haben, sondern nur einen Reibach machen wollen. Dazu gehört leider auch die Deutsche Bank; das
muss man Herrn Ackermann einmal sagen.
({6})
Es gibt die Kampagne: „Hände weg vom Acker, Mann!“
Wir tragen über die Deutsche Bank auf gewisse Art und
Weise eine Mitschuld daran, dass Menschen hungern;
das müssen wir verhindern.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam verbindliche Regeln finden, anstatt nur unverbindliche Absichtserklärungen abzugeben, wie sie im Antrag der
Union enthalten sind, dem wir deshalb nicht zustimmen
können. Lassen Sie uns gemeinsam unsere sozialdemokratischen Vorschläge umsetzen: verbindliche Regeln
für eine gerechte Welt und eine gerechte Verteilung der
Rohstoffe, damit auch die Menschen, die in den Minen
arbeiten, endlich zu ihrem Recht kommen, fair behandelt
werden und gut leben können.
Danke schön.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Christian Ruck für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erfolgreiche Rohstoffpolitik umfasst in der Tat viele Politikbereiche. Dazu gehört, lieber Herr Kuhn, sicherlich
auch die Frage der Effizienz. Auch ich bin für mehr Effizienz. Wir reden gerade über das Kreislaufwirtschaftsgesetz und die anschließenden Gesetze. Da können wir die
Effizienzgewinne, die wir erreichen wollen, in die Tat
umsetzen. Das kann in meinen Augen allerdings nicht so
weit gehen, dass man sagt: Wir werden so effizient, dass
wir die Rohstoffe aus Entwicklungsländern nicht mehr
brauchen. Das ist nicht das, was wir als Entwicklungspolitiker wollen.
Auf dem ersten Rohstoffkongress der CDU/CSUFraktion vor drei Jahren hat einer der führenden Experten auf dem Gebiet, Herr Professor Reller, eine Weltkarte mit der Lage der für die deutsche Wirtschaft wichtigen Rohstoffe, auch der Seltenen Erden, an die Wand
projiziert. Der Befund ist eindeutig: Die Entwicklungsund Schwellenländer haben hier eine überragende Bedeutung für die deutsche Wirtschaft, und zwar nicht nur
China und Indien, sondern auch viele arme Entwicklungsländer. Insofern ist es für uns eine strategische Herausforderung, in diesem Bereich eine erfolgreiche Entwicklungspolitik zu betreiben, zum Wohle unserer
eigenen Wirtschaft, aber vor allem auch zum Wohle dieser Entwicklungsländer.
Wir haben dabei in der Tat mit vielen Problemen zu
kämpfen. Lieber Kollege Raabe, ich gebe dir vollkommen recht: Der Rohstoffreichtum war in der Vergangenheit für viele Länder ein Fluch und kein Segen und ist es
zurzeit noch immer. Er war und ist in der Tat die Ursache
einer zum Teil überbordenden Korruption - Gesellschaften in der Hand von kriminellen Vereinigungen -, einer
Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit, einer völlig unausgewogenen Verteilung der Einnahmen, die der breiten Bevölkerung kaum Entwicklungsimpulse bietet, sowie von Kriegen und Bürgerkriegen, zum Beispiel in
West- und Zentralafrika.
Für uns sind diese Entwicklungen doppelt schlecht;
denn sie sorgen für eine unsichere Rohstoffversorgung
und machen uns von wenigen Staaten abhängig. In Zeiten des internationalen Terrorismus schaffen Gewalt und
rechtsfreie Räume immer mehr Probleme für unsere eigene Sicherheit. Deswegen ist eine erfolgreiche Rohstoffpolitik ein Gebot der Stunde. Wir müssen unsere
Möglichkeiten für eine bessere Entwicklung und für eine
Stabilisierung dieser Länder im positiven Sinne konzentriert einsetzen.
Es gibt viele Möglichkeiten, zum Beispiel in den Bereichen der Verbesserung der Regierungsführung und
der Transparenz - Herr Kollege Raabe, man kann sich
sicherlich über die eine oder andere Verbesserung unterhalten; damit haben wir überhaupt kein Problem -, beim
Aufbau demokratischer Strukturen, eines vernünftigen
Justizsystems, von Rechnungshöfen, einer funktionierenden Polizei und eines funktionierenden Zollsystems.
Ich darf darauf hinweisen, dass es bereits eine Fülle
von derartigen Programmen gibt. Das Beispiel Ostkongo
wurde bereits angesprochen. Dort sorgt ein deutsches
Entwicklungsprojekt für die Zertifizierung von wichtigen Mineralien, sozusagen von der Quelle bis zur Mündung. Das Wichtige ist, dass wir einen vernetzten Ansatz
verfolgen, der auch den Aspekt der Sicherheit in einem
Land beinhaltet. Das stellt uns jedoch vor gewaltige außenpolitische Aufgaben; denn in der Tat funktioniert vieles - auch das ist schon angesprochen worden - nach
Wildwestmanier. Die Geber spielen sich gegenseitig aus,
dazu gehören auch die neuen Geber, zum Beispiel China
und Indien.
Leider ist der Abbau von Rohstoffen oft mit gewaltigen Umweltsauereien verbunden, mit der Zerstörung der
Leistungsfähigkeit von Ökosystemen, zum Beispiel der
Wasserversorgung, mit gewaltigen volkswirtschaftlichen
Verlusten wie in Nigeria, mit Summen, die sich zurzeit
einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro nähern,
Tendenz steigend. Auch das ist eine Herausforderung für
eine verantwortungsvolle Rohstoffpolitik. Die Gefahr ist
groß, dass sich die unterschiedlichen Interessenten beim
Unterlaufen von Umweltstandards gegenseitig unterbieten. Deswegen ist es vollkommen richtig, dass sich die
deutsche Wirtschaft selbst strengen Regeln unterwirft.
Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass dies international gilt, weil sonst nichts gewonnen ist und nur die deutsche Industrie und die Umwelt verlieren werden.
Die CDU/CSU-Fraktion wird am nächsten Montag
einen Kongress für neue Impulse zum Schutz der Meere
veranstalten; denn nachhaltige Lösungen für die internationalen Nutzungskonflikte sind auch für unsere Meere
von entscheidender Bedeutung. In diesem Bereich gibt
es noch viele rechtsfreie Räume. Wir wollen versuchen,
Anstöße zu geben, weil wir die Gefahr sehen, dass eine
gewaltige Menge an Ressourcen zum Nachteil der kommenden Generationen verschwendet wird.
Insgesamt muss der in unserem Antrag angesprochene Beitrag zum Interessenausgleich zwischen rohstofffördernden und rohstoffimportierenden Ländern
Teil einer verantwortungsbewussten Rohstoffpolitik
sein, die zu einer Win-win-Situation führt, die den Menschen in den Entwicklungsländern durch den ordnungsgemäßen Verkauf der Rohstoffe etwas bringt, und zwar
mit Entwicklungsperspektiven für die allgemeine Bevölkerung und nicht nur für wenige. Auf der einen Seite
muss zudem dafür gesorgt werden, dass auch beim Abbau von Rohstoffen auf den Umweltschutz geachtet wird
und dass die rohstoffreichen Länder durch den Abbau
stabilisiert und nicht destabilisiert werden, sowie auf der
anderen Seite, dass für unsere Industrie auch in Zukunft
ausreichend Rohstoffe vorhanden sind, damit die Arbeitsplätze erhalten werden können.
Vor diesem Hintergrund halte ich die Ergebnisse der
Reise von Bundeskanzlerin Merkel nach Ulan-Bator in
der Tat für einen großen Erfolg. Man muss wissen, dass
wir seit langer Zeit eine sehr fruchtbare und erfolgreiche
Entwicklungszusammenarbeit mit der Mongolei haben.
Wir haben der Mongolei beim Aufbau demokratischer
Strukturen wesentlich geholfen, auch nach der Wende
dort. Es gibt sehr erfolgreiche Projekte in den Bereichen
des natürlichen Ressourcenschutzes, der Bioenergie, der
erneuerbaren Energien und einer nutzungsverträglichen
Landwirtschaft. Zu dem sehr erfolgreichen Gesamtpaket
gehört, dass wir jetzt auch im Bereich der Rohstoffe eine
bahnbrechende Zusammenarbeit suchen.
Mein Wunsch bzw. meine Hoffnung ist, dass wir nun
genügend deutsche Unternehmen finden - auch genügend mittelständische Unternehmen -, die in den Fragen
des Bergbaus, des Abbaus und der Prospektion von Seltenen Erden die erforderliche Arbeit leisten können;
denn hier hat sich in den letzten Monaten und Jahren ein
Engpass erwiesen. Es wäre schade, wenn sich gerade unsere mittelständische Wirtschaft völlig aus dem Bergbaubereich ausklinken würde. Das wäre dann ein Schuss
nach hinten, und das wollen wir natürlich nicht.
Insofern sind gerade der Besuch der Bundeskanzlerin
und die Abkommen mit der Mongolei ein positives Beispiel einer gelungenen Entwicklungspolitik, die auch in
anderen Ländern dieser Welt Schule machen sollte.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Heike Hänsel für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der dominierende Konflikt der Weltpolitik im
21. Jahrhundert wird
- so wörtlich der Kampf um Energie, Rohstoffe und Wasser sein.
Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus
des 19. Jahrhunderts kehren zurück …
({0})
Ich zitiere hier niemanden von der Linken, sondern
interessanterweise den ehemaligen außenpolitischen
Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Friedbert Pflüger. Er
schreibt weiter, der Basiskonflikt sei der mit allen Mitteln ausgetragene Kampf um die knappen Ressourcen
unserer Erde. Er warnt - ich bitte darum, dass die FDP
gut zuhört - vor Energiekrisen und auch Energiekriegen
in der Zukunft. Das hat er - wer dies nachlesen möchte bereits im Jahr 2010 in der Zeitschrift Internationale
Politik geschrieben.
Ich kann nur feststellen: Die Rohstoffstrategien
Deutschlands und Europas tragen zu diesem Kampf um
die Rohstoffe bei. Deshalb fordern wir ganz zentral, dass
diese Strategien zurückgezogen werden.
({1})
Auch sie wurden, ähnlich wie sämtliche Rettungspakete
für die Banken von der Finanzwirtschaft verfasst wurden, nicht im Kanzleramt geschrieben, sondern vom
Bundesverband der Deutschen Industrie. Das alles ist
nachzulesen. Es hat ja etliche Rohstoffkonferenzen gegeben.
Ich erinnere mich daran, wie eine 20-köpfige Delegation des BDI, Arbeitsgruppe Entwicklung, in der letzten
Legislaturperiode plötzlich bei uns im Entwicklungsausschuss aufgetaucht ist und uns erzählt hat, wie die Entwicklungspolitik aktiv zum Rohstoffzugang und zur
Rohstoffsicherung für die deutsche Industrie beitragen
solle.
({2})
Leider finden wir diese Konzepte jetzt auch sehr deutlich
im neuen unternehmerischen entwicklungspolitischen
Ansatz des Bundesministers Dirk Niebel wieder. Wir haben ganz klar gesagt: Wir lehnen es ab, die Entwicklungspolitik in den Dienst der deutschen Industrie zu
stellen.
({3})
Dieser Rohstoffhunger der Industriestaaten führt - das
wurde hier bereits mehrfach beschrieben - in vielen Ländern zu sozialen Verwerfungen und enormen Umweltproblemen. Viele Länder, die Rohstoffe besitzen, sind
gestraft - hier war von einem Fluch die Rede - ob ihres
sogenannten Reichtums.
Ich möchte ein Land nennen, zu dem Deutschland
sehr gute Beziehungen pflegt: Kolumbien. Deutschland
ist der zweitgrößte Importeur von Kohle aus Kolumbien.
Zu den Importeuren zählen auch die Konzerne Eon und
EnBW. Welche Auswirkungen der Kohleabbau in Kolumbien hat, interessiert die deutschen Energiekonzerne
wenig. Im Nordosten Kolumbiens gibt es eine große
Biodiversität, aber leider gibt es dort auch sehr viel
Kohle. Dort befindet sich die größte Kohlemine Lateinamerikas, Cerrejón. Sie wird betrieben von multinationalen Konzernen. Viele Kleinbauern wurden aus dieser Region vertrieben. Sie haben alles verloren: ihr Land und
ihr Vieh. Nur noch wenige leben dort. Sie leiden mittlerweile unter enormen Gesundheitsproblemen. Der Kohlestaub legt sich über die gesamte Region. Riesige Krater
entstehen. Ein Wasser-Methan-Gemisch bildet sich. Das
sind lebensbedrohliche Lebensbedingungen. Hinzu
kommt die Bedrohung durch Paramilitärs, wenn sich die
Menschen gegen diese Bedingungen wehren, wenn zum
Beispiel Gewerkschafter gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in den Minen protestieren. Wenn man es
mit Menschenrechtspolitik ernst meint, wäre es angesagt, dass die Kanzlerin bei Gesprächen mit Präsident
Santos solche unakzeptablen Zustände anspricht.
({4})
- Genau, das interessiert nicht.
Natürlich gibt es viele andere Themen, über die hier
auch zu debattieren wäre. Es ist jedoch aberwitzig, wenn
hier geleugnet wird, dass bereits seit Jahrzehnten Kriege
um Rohstoffe geführt werden; denn das liegt auf der
Hand. Ich brauche nur das Beispiel Irak zu nennen. Dort
wurde - das ist ganz klar - ein Rohstoffkrieg geführt.
Das gilt auch für Afghanistan, und wir erleben das jetzt
wieder in Nordafrika, in Libyen. Auch das ist ein ganz
klassischer Rohstoffkrieg. Wir erleben, dass Frankreich
und Großbritannien schon jetzt Verträge mit Libyen abschließen.
Genau deswegen sollte die Forderung - das ist der
zentrale Punkt - nach einer massiven Verringerung des
gesamten Stoffumsatzes, des Ressourcen-, des Rohstoffumsatzes in den entwickelten, in den Industriestaaten an
erster Stelle stehen. Nur wenn wir massiv umstellen und
ein anderes Wachstumsmodell entwickeln, können wir
eine verantwortungsvolle Rohstoffpolitik machen.
({5})
Dazu gehört übrigens auch, dass wir neue Ansätze unterstützen, zum Beispiel den, dass die Rohstoffe in der
Erde verbleiben und dafür Kompensationszahlungen seitens der Industriestaaten geleistet werden. In Ecuador
gibt es zum Beispiel ein wunderbares Projekt - das kann
ich nur noch einmal betonen -, das helfen soll, den
Yasuní-Park zu erhalten, indem Kompensationszahlungen für die Nichtförderung von Erdöl geleistet werden.
Das ist zukunftsweisend. Ich kann nicht verstehen, dass
sich die Bundesregierung, namentlich Dirk Niebel, nach
wie vor weigert, dieses Projekt zu unterstützen. Das ist
ein Zukunftsprojekt.
({6})
Wir setzen uns dafür ein. Eine Delegation war vor kurzem in Ecuador. Dieses Projekt braucht Unterstützung.
Das wäre eine neue Weichenstellung in der internationalen Rohstoffpolitik.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Krischer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, ich habe Ihren Antrag sehr aufmerksam gelesen.
({0})
Offensichtlich ist Ihnen selbst aufgefallen, dass das, was
Sie da abliefern, äußerst dünn ist.
({1})
Anders ist es nicht zu erklären, dass Sie heute hier direkt
abstimmen lassen und das Ganze nicht in die Ausschüsse
geben, dass Sie keine Anhörung durchführen lassen wollen, in der das, was Sie da vorgelegt haben, von den Experten im Detail bewertet werden könnte.
({2})
Das ist wirklich sehr dürftig. Ich finde das schade; denn
das wäre notwendig, um hier qualifiziert debattieren zu
können.
({3})
Schauen wir uns einmal an, was Sie in Ihrem Antrag
schreiben. Sie kritisieren China in langen Ausführungen,
schreiben dann aber - wenn auch mit wohlgesetzten,
schönen Worten -: Wir müssen es so machen wie die
Chinesen, nur ein bisschen besser angestrichen. Das ist
der Kern Ihrer Rohstoffpolitik. Alles andere, was sich in
dem Antrag findet, ist letztendlich Lyrik.
Es findet sich nichts zu dem, was Kollegin Hänsel
eben angesprochen hat, zum Beispiel zu Kolumbien.
Auch ich habe mir das angesehen. Dort findet Kohleförderung unter fragwürdigen Bedingungen statt. Sie machen keine Ausführungen dazu. Sie erklären nicht, wie
Sie mit dem Projekt betreffend den Yasuní-Nationalpark
umgehen wollen. Hier blockieren Sie. All das taucht in
Ihrem Antrag überhaupt nicht auf. Vor allen Dingen fehlt
das alles Entscheidende. Sie gehen nicht darauf ein, wie
wir hier im Land mit den Rohstoffen umgehen. Ich finde
in Ihrem Antrag - er umfasst acht Seiten - gerade einmal
eine gute halbe Seite zu den drei Kernpunkten Substitution, Effizienz und Recycling. Das ist viel zu dünn für einen solchen Antrag.
({4})
In Ihrem Antrag taucht überhaupt nichts dazu auf,
dass Ressourceneffizienz bzw. Rohstoffeffizienz eine
Chance für eine Innovationsstrategie ist. Die EU hat vor
einem Monat eine Roadmap dazu vorgelegt; darin sind
gute Ansätze enthalten. Auch das findet sich in Ihrem
Antrag überhaupt nicht; das erwähnen Sie nicht. Da ist
uns die Europäische Union ein ganzes Stück voraus.
({5})
Ressourceneffizienz hat eine mehrfache Dividende:
Wir reduzieren unsere Importabhängigkeit, wir schaffen
Wettbewerbsvorteile für die Industrie, wir schützen
Klima und Umwelt, und vor allen Dingen helfen wir damit, den Fluch der Rohstoffe loszuwerden. Das fehlt in
Ihrem Antrag völlig. Da, wo Sie das eine oder andere
sinnvoll andeuten, bleiben Sie unkonkret.
Sie liefern keine Antwort darauf, wie man mit dem
Problem umgehen sollte, dass wir alle zwei Jahre ein
neues Handy kaufen müssen, weil das alte zufällig nach
zwei Jahren, wenn der Vertrag ausläuft, kaputtgeht, und
wie wir dafür sorgen können, diese Handys in Deutschland, wenn möglich, zu 100 Prozent einzusammeln.
Dazu taucht in Ihrem Antrag nichts auf. Dazu finde ich
auch in den Papieren der Bundesregierung keine sinnvollen Vorschläge. Das wäre ein wichtiger Teil einer
Rohstoffstrategie; denn in Handys, in Elektronikschrott
finden sich teilweise höhere Metallgehalte als in den Erzen, die wir fördern. Das wäre eine richtige Effizienzstrategie.
({6})
Ich finde nichts dazu, wie Sie solche Recyclingquoten
wie beispielsweise in Norwegen beim Elektronikschrott
erreichen wollen, wo es eine Quote von 80 Prozent gibt.
Wir beraten in der nächsten Woche eine Novelle zum
Kreislaufwirtschaftsgesetz. Sie geben dort eine Recyclingquote von 65 Prozent vor.
({7})
Wir haben schon jetzt eine Quote von 63 Prozent. Sie
wollen in zehn Jahren 2 Prozentpunkte mehr erreichen.
Das sind 0,2 Prozent pro Jahr mehr. Ist das ein angemessenes Ziel für den Ressourcen- und Effizienzweltmeister
Deutschland?
({8})
Ich möchte nicht noch über andere Dinge reden.
Das wäre jetzt auch schwierig.
In der EU-Roadmap wird zum Beispiel die Einführung von Ressourcensteuern angedeutet. Es finden sich
Punkte wie das Top-Runner-Programm. Japan hat uns da
vieles voraus. Auch das ist in Ihrem Antrag nicht zu finden. Wir hören nur aus Brüssel: Die Bundesregierung
steht auf der Bremse und verhindert jede Innovation.
Wirtschaftsminister Rösler, der heute bezeichnenderweise wieder nicht anwesend ist,
({0})
hat gestern in der Fragestunde offen eingestanden, dass
die Bundesregierung bei der Energieeffizienzrichtlinie
nur verhindert.
Diesen Antrag und Ihre gesamte Rohstoff- und Ressourcenpolitik kann ich nur mit den Worten eines italienischen Fußballtrainers, der lange in Deutschland gearbeitet hat, kommentieren: Koalition - wie eine Flasche
leer.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war ja ein ziemlich dünner Beitrag.
({0})
Dies zeigt, dass Sie an dem Antrag, den wir vorgelegt
haben, relativ wenig zu kritisieren haben. Er ist sehr umfassend.
({1})
Dass für Deutschland als Exportweltmeister der kontinuierliche Nachschub von Rohstoffen existenziell
wichtig ist, kann, glaube ich, niemand hier im Hause bestreiten. Dies ist in den letzten Jahren ein Topthema geworden, das nur durch Griechenland oder die Euro-Krise
übertroffen wird. Das ist einfach ein Fakt. Die Koalition
- das hat noch keiner erwähnt - hat schon in ihrem
Koalitionsvertrag die nachhaltige Rohstoffversorgung
Deutschlands als eines der wichtigsten Ziele formuliert.
Die CDU/CSU-Fraktion hat schon im Juli 2010 einen
ersten Rohstoffkongress durchgeführt. In der nächsten
Woche wird sie den zweiten Rohstoffkongress durchführen. Ich möchte eine Partei in diesem Hohen Hause sehen, die sich diesem Thema so intensiv gewidmet hat.
({2})
Ich möchte kurz auf das Thema Rohstoffpartnerschaften zu sprechen kommen. Herr Hempelmann hat in einem
Nebensatz gesagt: Das ist moderner Kolonialismus. - Ich
glaube, Herr Hempelmann, Sie sollten wirklich einmal
einen Blick in das Abkommen über die Rohstoffpartnerschaft mit der Mongolei werfen.
({3})
Ich will zwei Passagen zitieren. In Art. 2 - „Ziele und
Schwerpunkte der Zusammenarbeit“ - steht ganz klar:
Die Vertragsparteien fördern die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Staaten, insbesondere mit dem
Ziel, die Rohstoffe der Mongolei durch Investitionen, Innovationen und Lieferbeziehungen sowie
Technologietransfer … einer umfassenden Nutzung
zuzuführen.
({4})
„Technologietransfer“ heißt ganz einfach, moderne
Technologien dorthin zu transportieren, wo die Rohstoffe gewonnen werden.
Das zweite Zitat, das ich anführen möchte, finden Sie
in Art. 6 Abs. 7:
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland unterstützt die Regierung der Mongolei bei der Erarbeitung von Maßnahmen für die Verbesserung der
Ressourcen- und Energieeffizienz
- das ist genau das, was Sie wollen sowie für die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards.
({5})
Genau das, worüber hier die ganze Zeit diskutiert wurde
und was wir Ihrer Meinung nach tun sollten, steht in der
ersten abgeschlossenen Rohstoffpartnerschaft mit der
Mongolei. Ich kann Ihre Kritik daran überhaupt nicht
nachvollziehen. Rohstoffpartnerschaften sind ein neues
Instrument. Sie müssen mit Leben gefüllt werden.
({6})
Vor allen Dingen muss die Wirtschaft jetzt dazu beitragen, diese Rohstoffpartnerschaft mit Leben zu füllen.
({7})
Meine Damen und Herren, ganz wichtig scheint mir
zu sein, dass es in Rohstoffpartnerschaften viel Raum für
den deutschen Mittelstand gibt. Während weltweit überall globale Konzerne agieren, versuchen wir im Rahmen
von Rohstoffpartnerschaften, auch den deutschen Mittelstand in dieses Geschäft zu bringen. Da passt es ganz
gut, dass die Commerzbank in den letzten Tagen die Ergebnisse einer interessanten Studie vorgestellt hat.
({8})
- Das ist klar. Für die Linken ist alles bestellt.
({9})
Wenn Sie die Ergebnisse dieser Studie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, müssen wir nicht darüber diskutieren. - In dieser Untersuchung wurden 4 000 mittelständische Unternehmen in Deutschland zum Thema
Rohstoffe befragt. Es ist interessant, welche Ergebnisse
dabei herauskamen. Es verwundert natürlich nicht, dass
im Mittelstand ein großes Problembewusstsein vorhanden ist. 52 Prozent der Unternehmer glauben allerdings,
dass Deutschland die Herausforderung knapper Ressourcen und weltweit steigender Nachfrage gut bewältigen
kann. Man kann also erkennen, dass zumindest ein gewisser Optimismus da ist.
Natürlich werden auch die Risiken zur Kenntnis genommen. Dazu gehören die global steigende Nachfrage,
die politischen Unsicherheiten in den verschiedenen Förderländern - darüber wurde in diesem Hohen Hause
heute schon diskutiert - und die Spekulationsgeschäfte;
auch darüber ist schon gesprochen worden.
({10})
Meine Damen und Herren, vonseiten der Fraktion der
Grünen wurde gerade der Vorwurf geäußert, im Hinblick
auf Rohstoffeffizienz, Recycling und Ähnliches werde
nichts getan. Wissen Sie: Der deutsche Mittelstand
braucht keine Aufforderung der Politik. Weil der Druck,
wettbewerbsfähig zu bleiben, sehr groß ist, entwickelt
der deutsche Mittelstand von sich aus einen unheimlich
hohen Innovationsgrad, um Energieeffizienz und Ressourceneffizienz zu erreichen. Die Wirtschaft braucht
keine Aufforderung der Politik. Sie ist in der Lage, selbst
sehr offensiv auf die vorhandenen Herausforderungen zu
reagieren. Ich kann Ihnen nur empfehlen, unseren Antrag zu unterstützen.
Vielen Dank.
({11})
Jürgen Klimke ist der nächste Redner, ebenfalls für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine Damen und Herren! Gerade als Entwicklungspolitiker bin ich von der Notwendigkeit einer sicheren,
verlässlichen und bezahlbaren Rohstoffversorgung
Deutschlands überzeugt. Wir sind eben ein Industrieland, in dem Rohstoffe in großem Umfang in Fertigprodukte umgewandelt werden. Wir haben also ein berechtigtes Interesse an einer sicheren und kostengünstigen
Versorgung mit Rohstoffen.
Insofern ist es gut, dass wir uns dieses Themas durch
den Antrag, durch den Kongress und durch die Debatte
hier heute angenommen haben; denn es geht auch um die
Grundlagen unseres Wohlstandes, um Millionen von Arbeitsplätzen, die von der Belieferung mit Rohstoffen abhängig sind. Deshalb haben wir Forderungen formuliert,
mit denen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und auch Deutschlands gesichert und gestärkt
werden soll.
Es gibt aber auch - und das ist wichtig - einen entwicklungspolitischen Aspekt der Rohstoffversorgung.
Uns Entwicklungspolitikern der Union geht es darum,
den Rohstoffreichtum von Entwicklungsländern auch für
die Menschen vor Ort stärker nutzbar zu machen. Über
50 Prozent der wichtigen Rohstoffvorkommen liegen in
Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von unter
10 Dollar pro Tag. Dieses zunächst erstaunliche Paradoxon der Armut trotz reicher Rohstoffvorkommen lässt
sich durch makroökonomische und politisch-institutionelle Defizite erklären.
Was meine ich damit? Im politischen Bereich gilt das
Stichwort „Bad Governance“, also schlechte Regierungsführung, das Versagen der politischen Institutionen
und das Fehlen von sozialen und ökologischen Standards. Ökonomisch wird die Situation durch den Begriff
„Dutch Disease“, Holländische Krankheit, beschrieben,
die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wirtschaft eines
reichen Landes trotz Handelsüberschüssen aus dem Rohstoffbereich verunsichert wird. Wir haben die Holländische Krankheit in den 60er-Jahren erlebt, als die Holländer aufgrund eines riesigen Erdgasaufkommens Erdgas
exportierten, während die anderen Teile der Wirtschaft
vernachlässigt wurden.
Ein weiteres Problem besteht in der Unsicherheit der
Entwicklungsländer. Mehr als die Hälfte der weltweiten
Rohstoffproduktion erfolgt in Ländern, die nach Auffassung der Weltbank instabil sind. Deshalb müssen wir die
Förderländer vor allen Dingen entwicklungspolitisch unterstützen. Es geht darum, Good Governance, also gute
Regierungsführung, zu stärken, Korruption zu bekämpfen und den illegalen Abbau von Rohstoffen zu verhindern. Deshalb fordern wir in unserem Antrag auch, mit
den entwicklungspolitischen Instrumenten verstärkt eine
transparente und nachhaltige Rohstoffwirtschaft in den
Entwicklungsländern zu fördern.
Es ist nicht so, dass bisher nichts unternommen
wurde, wie das hier teilweise gesagt wurde. Ich möchte
hier an die Extractive Industries Transparency Initiative
erinnern. Das ist eine beispielhafte Transparenzinitiative, mit der Zahlungsströme von rohstofffördernden
Unternehmen als Abgaben an den Staat und deren Verwendung transparent gemacht und veröffentlicht werden. Dadurch wird der Korruption entgegengewirkt und
eine gute Regierungsführung in den Entwicklungsländern gestärkt.
Ein anderes Beispiel ist unsere Arbeit in der Region
Große Seen in Afrika. Hier sind wir unter anderem im
Bereich der Zertifizierung von Handelsketten im Bereich
mineralischer Rohstoffe in Ruanda und bei der Entwicklung und Anwendung eines staatlichen Finanzierungssystems für mineralische Rohstoffe in der Republik
Kongo tätig; darauf ist hingewiesen worden. Wir unterstützen hier die transparente, effiziente und entwicklungsorientierte Verwendung von Rohstoffeinnahmen.
Gerade diese beiden Projekte sind vorbildlich, weil an
mehreren neuralgischen Punkten angesetzt und insbesondere auch der Aspekt der guten Regierungsführung
mit einbezogen wird.
Auch die Wirtschaft, die Unternehmen, können durch
eine stärkere Corporate Social Responsibility, also durch
eine stärkere soziale Verantwortung in Bezug auf ihr
Handeln, einen Beitrag leisten. Immer mehr Unternehmen beziehen ihre Lieferkette in ihre Überlegungen mit
ein und sichern damit soziale und ökonomische Mindeststandards bei der Rohstoffgewinnung für die Entwicklungsländer, und das ist sehr wichtig.
Es gibt auch indirekte Maßnahmen, die die Rohstoffsicherung in den Entwicklungsländern unterstreichen.
Ich begrüße die Ankündigung des BMZ, Investitionen
im Bildungsbereich zu verstärken. Hier ist ein Anstieg
von 68 Millionen Euro im Jahre 2009 auf 137 Millionen
Euro im Jahr 2013 zu verzeichnen. Das muss man sich
noch einmal vergegenwärtigen. Hier wird heftig investiert.
Wir unternehmen Anstrengungen, um für die Entwicklungsländer im Rohstoffbereich auch den entwicklungspolitischen Teil zu stärken. Wir versuchen, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Interessen Hand
in Hand gehen zu lassen. Das kann man von dem Antrag
der Linken überhaupt nicht behaupten. Hier geht es um
platteste Polemik. Wenn Sie eine Rohstoffstrategie fordern, die „nicht den Zugriff der deutschen und europäischen Industrie auf noch mehr Rohstoffe … zum Ziel
hat“, dann ist das glatter Unsinn. Das ist vielleicht Ihre
Strategie, die Strategie der Linken.
({0})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Sie wollen hier eine von oben verordnete Rohstoffmangelwirtschaft. Ich würde mich freuen, wenn Sie den
Mitarbeitern der Metall-, Chemie- und Elektroindustrie
einmal erklären, wie damit ihre Arbeitsplätze in
Deutschland gesichert werden sollen. Ihre Strategie gefährdet nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch unseren
Wirtschaftsstandort insgesamt. Das sollten Sie sich wirklich einmal vergegenwärtigen.
Herzlichen Dank.
({0})
Thomas Gebhart ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist eine starke Industrienation. Wir
wollen selbstverständlich, dass Deutschland eine starke
Industrienation bleibt. Aber wir müssen sehen: Wir sind
als Industrienation in hohem Maße von Rohstoffimporten abhängig. Deswegen ist sehr schnell klar, wie wichtig es ist, unsere Rohstoffversorgung zu sichern. Dabei
geht es um ganz verschiedene Maßnahmen, die hier erwähnt wurden: Handelshemmnisse abbauen, Rohstoffpartnerschaften eingehen und vieles mehr. All das sind
wichtige Wege, die wir gehen.
Ein Punkt, der natürlich auch in diese Diskussion
hineingehört - er ist mindestens genauso wichtig wie die
anderen Punkte - und in Zukunft eher noch an Bedeutung gewinnen wird, ist die Steigerung der Ressourceneffizienz. Das heißt, die Ressourcen so effizient wie
irgendwie möglich einsetzen.
Warum wird dieser Punkt an Bedeutung gewinnen?
Der Umfang und die Nutzung verschiedener Ressourcen
haben weltweit stark zugenommen. Bestimmte Ressourcen werden knapper, und sie werden in der Folge teurer.
Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass die Weltbevölkerung nach wie vor wächst. Wir sind heute knapp
7 Milliarden Menschen, und wir werden in einigen Jahren 9 Milliarden Menschen auf dieser Welt sein. Dieser
Trend wird dadurch verstärkt, dass auch jene, die heute
nicht so leben, mit Blick auf unser Wohlstandsniveau danach streben, Wachstum und Wohlstand zu generieren.
({0})
- Zu Recht. - Das heißt, die Nachfrage nach Rohstoffen
wird weiter wachsen und damit natürlich auch unter den
Gesichtspunkten des Umweltschutzes erhebliche Probleme verursachen.
In der Konsequenz ergibt sich daraus, dass die große
Herausforderung für uns sein muss, Wohlstand und
Wachstum auf der einen Seite mit dem schonenden Umgang mit knappen Ressourcen auf der anderen Seite in
Einklang zu bringen. Hierin liegt aber zugleich eine
große ökologische wie auch ökonomische Chance. In
Deutschland haben viele Unternehmen erhebliche Anstrengungen unternommen, die Ressourceneffizienz zu
steigern. Dieser Punkt wird weiter an Bedeutung gewinnen. Der effiziente Umgang mit knappen Ressourcen
wird künftig noch mehr über unsere Wettbewerbsfähigkeit entscheiden, und Effizienztechnologien werden sicherlich zu den Wachstumstechnologien von morgen
zählen.
Gerade weil wir darin diese Chancen sehen, begrüßen
wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung ein nationales Ressourceneffizienzprogramm, ProgRess, vorlegt.
Damit gehen wir ganz konkrete Schritte. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass es nicht darum geht,
die Wirtschaft in irgendeiner Weise zu bevormunden,
sondern es geht darum, Win-win-Situationen zu erkennen und diese auch tatsächlich zu nutzen.
({1})
Ich nenne drei Punkte, die in diesem Zusammenhang
wichtig sind und die wir auch in unserem Antrag, der
heute vorliegt, aufgreifen.
Der erste Punkt: Forschung und Entwicklung. Technologische Innovationen sind ein wesentlicher Schlüssel
zu mehr Ressourceneffizienz. Deshalb fordern und wollen wir, dass in den Forschungsprogrammen noch stärker
als bisher auf diesen Aspekt Rücksicht genommen wird.
Der zweite Punkt: Wir wollen darauf hinwirken und
unterstützen, dass die Ressourceneffizienz in der Normung stärker berücksichtigt wird. Dabei müssen wir den
gesamten Produktlebenszyklus im Auge behalten, nicht
nur den Ressourceneinsatz in der Herstellungsphase,
sondern auch die Nutzungsphase und die Entsorgungsphase.
Der dritte Punkt: Wir stärken die Kreislaufwirtschaft,
und wir stärken das Recycling. Mit dem neuen Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz werden wir weiter in
diese Richtung gehen. Wir werden künftig mehr Rohstoffe aus dem Abfall in den Wirtschaftskreislauf zurückführen. Insgesamt werden wir damit weiter zur
Schonung unserer Ressourcen beitragen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man
dies zusammennimmt, ist klar: Wir steigern die Ressourceneffizienz. Das ist für uns ein elementarer Baustein.
Wir nehmen diese Herausforderung konsequent an und
nutzen damit die Chancen, die in diesem Bereich liegen.
Auch deswegen bitte ich Sie, heute dem vorliegenden
Antrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächst
unter Tagesordnungspunkt 26 a zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
der Drucksache 17/7353 mit dem Titel „Wirtschafts- und
Außenpolitik für eine sichere Rohstoffversorgung -
Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland, Europa und
den Partnerländern“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? -
Das Erstere war die Mehrheit. Damit ist der Antrag an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung unter Tagesordnungs-
punkt 26 b über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Für eine gerechte und entwicklungsförderliche
internationale Rohstoffpolitik“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache
17/7151, den Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Be-
schlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich komme zu Zusatzpunkt 2. Hier wird interfraktio-
nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache
17/3817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Ich vermute, dazu besteht Ein-
vernehmen. - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun auf Tagesordnungspunkt 4 a bis c sowie
den Zusatzpunkt 3:
4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Ägypten endgültig
stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Libyen endgültig stop-
pen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Syrien endgültig stop-
pen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Präsident Dr. Norbert Lammert
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Tunesien endgültig
stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Oman stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern in den Jemen stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern in die Vereinigten Arabi-
schen Emirate stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien stop-
pen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Israel stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Marokko stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern in den Libanon stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Kuwait stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Jordanien stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Bahrain stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Katar stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Algerien stoppen
- Drucksachen 17/5935, 17/5936, 17/5937, 17/5938,
17/5939, 17/5940, 17/5941, 17/5942, 17/5943,
17/5944, 17/5945, 17/5946, 17/5947, 17/5948,
17/5949, 17/5950, 17/6335 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Keine Liberalisierung von Rüstungsexporten -
Für die Einhaltung und Stärkung einer re-
striktiven Rüstungsexportpolitik
- Drucksache 17/7336 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rüstungsexporte nicht zu Lasten von Menschenrechten genehmigen
- Drucksache 17/6931 ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglich
vorlegen und künftig ausführlicher gestalten
- Drucksache 17/7355 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich weise schon jetzt darauf hin, dass wir über die
16 Anträge der Fraktion Die Linke, den Antrag der Fraktion der SPD sowie den ersten der Anträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu diesen Tagesordnungspunkten namentlich auf einem gemeinsamen Stimmzettel abstimmen werden. Nach diesen Abstimmungen wird das
Plenum für voraussichtlich eine Stunde unterbrochen,
um der Fraktion Die Linke Gelegenheit zu geben, in einer Fraktionssitzung Themen zu beraten, die mit Blick
auf ihren morgigen Parteitag nicht zu einem späteren
Zeitpunkt behandelt werden können. - Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen, sodass Sie sich darauf bitte
schon einstellen können. Danach wird die Tagesordnung
in der vereinbarten Weise fortgesetzt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zu den gerade aufgeführten Tagesordnungspunkten eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen,
und wir können so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Wir
haben uns schon daran gewöhnt, dass wir uns ungefähr
jedes Vierteljahr erneut mit diesem Thema beschäftigen.
Immer wieder erstaunt dabei die Teilamnesie bei zumindest erheblichen Teilen der Opposition, wenn sie suggeriert: Seitdem Schwarz-Gelb regiert, seien Rüstungsexporte insbesondere in die heute hauptsächlich
interessierende Region dramatisch gestiegen.
In der Diskussion vor der Sommerpause hatte ich den
Eindruck, Sie wären satt. Aber Sie sind es immer noch
nicht. Deswegen will ich Ihnen neuerlich vorhalten, welche Exporte zu Ihren jeweils wechselnden Regierungszeiten erfolgten. Deutsche Rüstungsexporte nach Tunesien zum Beispiel erreichten im Jahr 2005 mit einem
Wert von über 33 Millionen Euro einen Spitzenwert. So
viele Exporte von Rüstungsgütern nach Tunesien gab es
weder davor noch danach.
({0})
Libyen 2007 - damals regierte auch die SPD, Herr
Barthel -: 23 Millionen Euro. Das war damals einsame
Spitze. Ich gehe davon aus, dass das noch zu rot-grüner
Regierungszeit genehmigt wurde.
Ägypten ragt mit über 22 Millionen Euro im Jahr
2004 besonders heraus. Was den Jemen angeht, war
2006 mit 4 Millionen Euro einsame Spitze.
Ich bitte Sie angesichts dieser Zahlen, ein wenig maßvoller und demütiger mit dem Thema umzugehen, als es
in den vorliegenden Anträgen der Fall ist.
({1})
Exportiert wurde die komplette Palette. Bahrain erhielt 1999 Kriegsschiffe und Patrouillenboote. Das hat
die CSU-Landesgruppe alles wunderbar zusammengestellt; Sie können sich das anschauen. Vielleicht zeigen
Sie dann in Ihrem nächsten Antrag, den ich um die
Weihnachtszeit herum oder im Januar erwarte, ein wenig
mehr Realismus und halten Rückschau auf die eigene
Regierungszeit.
({2})
Wenn Sie dieses schwierige Thema seriös behandeln
wollten, dann müssten Sie sich zu dem immer wieder repetierten Vorhalt, das Parlament sei zu wenig einbezogen und müsste sogar darüber hinaus über einen
bestimmten Ausschuss in Einzelentscheidungen eingebunden werden, fragen, ob Sie das wirklich sinnvoll finden können und was Sie zu Ihren jeweiligen Regierungszeiten daran gehindert hat, genau dies zu tun.
Es ist völlig ausgeschlossen, in einem so schwierigen
Umfeld, in dem es um Diskretion geht, die Nachrichtenlage von Geheimdiensten auszuwerten ist und bilaterale
Absprachen zu treffen sind, klares exekutives Handeln
ins Parlament zu bringen. Das werden wir nicht mitmachen. Wir haben seit der Aufklärung eine sich entwickelnde und seit über 150 Jahren in demokratischen
Staaten festgelegte klare Trennung zwischen exekutivem
und legislativem Handeln. Hier geht es um exekutives
Handeln, und dabei wird es auch bleiben.
({3})
Der nächste Punkt: Selbstverständlich sind auch diese
Regierung und die Koalition nicht für einen restriktionsfreien Handel mit Rüstungsgütern. Natürlich ist auch in
dieser Regierung das Thema Menschenrechte ein wesentliches Kriterium bei der Ausfuhr von Waffen. Ich
sage Ihnen aber auch ganz klar: Es ist nach den damals
von Rot-Grün festgelegten Regularien nicht das ausschließliche Kriterium, sondern ein wesentliches. Als
Allererstes geht es um die sicherheitspolitischen Belange
der Bundesrepublik Deutschland und unserer Verbündeten.
({4})
- Ja, Saudi-Arabien, Herr Heil. Das ist eine schwierige
Situation.
({5})
- Ja, aber seit Genscher haben sich die Zeiten gewandelt.
({6})
Vergessen Sie nicht, lieber Herr Heil, dass auch Helmut
Schmidt schon Anfang der 80er-Jahre liefern wollte und
nur durch die Intervention Israels daran gehindert wurde.
Sie müssen wenigstens Ihre eigene Parteigeschichte zur
Kenntnis nehmen.
({7})
Dr. Martin Lindner ({8})
Es ist richtig gewesen, in dieser Frage die heutige Situation zu beachten. Die heutige Situation ist eine andere. Der Iran zeichnet sich als Hegemon in der Region
ab. Es gibt eine Verschiebung der Achsen im Mittleren
Osten. Dies zu verkennen, zeugt von ideologischer
Blindheit.
Herr Kollege Lindner, darf Ihnen der Kollege
Ströbele eine Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Selbstverständlich. Gerne.
({0})
- Wir können hier Kindergarten spielen, aber das bringt
nichts.
Danke, Herr Kollege. - Wenn wir schon in die Geschichte abschweifen, was auch gut ist - man kann
manchmal aus alten Fehlern lernen -, möchte ich Ihnen
vorhalten, dass es die FDP war, wenn ich mich richtig
erinnere, die, als sie an der Regierung beteiligt war, die
Entscheidung von Helmut Kohl, an Saudi-Arabien
36 Fuchspanzer zu liefern, mitgetragen hat.
({0})
Können Sie sich daran noch erinnern?
({1})
Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich würde das
aber gar nicht abstreiten, Herr Kollege Ströbele. Die
Kontinuität aller Regierungen bestand darin, restriktiv
und maßvoll, aber auch unter Wahrung unserer sicherheitspolitischen und industriellen Belange Rüstungsgüter zu exportieren. Ihre Partei steht in dieser Kontinuität
genauso wie die SPD, die CDU/CSU und die FDP.
({0})
Alle haben sich aus Verantwortung vernünftig verhalten und vernünftige Abwägungen vorgenommen. Wir,
Herr Kollege Ströbele, drücken uns gar nicht vor dieser
Verantwortung. Sie drücken sich. Sie waren damals im
Fraktionsvorstand, Sie haben den Fraktionsvorstand damals nicht verlassen, und Sie haben die Fraktion nicht
verlassen. Sie haben letztlich alle Rüstungsexporte der
rot-grünen Bundesregierung mitgetragen.
({1})
Dann haben Sie sich hingestellt und gesagt: „Ich bin
Ströbele!“, und nach außen den Eindruck erweckt, als
hätten Sie mit den Grünen überhaupt nichts zu tun. Das
kann man so machen, aber seriös ist etwas anderes.
({2})
Die CDU/CSU hat sich in diesen Fragen der Realität
gestellt, wie es auch alle anderen Fraktionen, die seit
1949 an der Regierung waren, getan haben.
({3})
Das Entscheidende für mich ist, dass man bei den
Ausfuhren darauf achten muss, dass man instabilen Ländern nicht eine Technologie verschafft, die sie möglicherweise in die Lage versetzt, zu einer Bedrohung in
der Region zu werden. Auch diese Maßgabe wurde und
wird nach meiner Kenntnis und nach allem, was ich in
den Rüstungsexportberichten gelesen habe, immer eingehalten. Diese Regierung verhält sich verantwortungsbewusst. Auch alle bisherigen Regierungen haben sich
verantwortungsbewusst verhalten. Die Opposition betreibt Populismus. Das ist der Unterschied.
Zum Schluss ein Blick auf die Rüstungsindustrie in
Deutschland. Diese ist natürlich ein wesentlicher Faktor.
Ich verweise jetzt nicht auf Arbeitsplätze oder Ähnliches.
({4})
Es geht auch darum, uns ein Stück Unabhängigkeit im
Wehrbereich zu erhalten. Es geht auch um die technologischen Neuerungen wie beispielsweise bei der Drohnentechnologie. Diese militärische Technologie wird natürlich einmal im zivilen Flugverkehr, zum Beispiel im
Luftfrachtverkehr, eine Rolle spielen. Deswegen wäre es
sträflich, eine Politik zu gestalten, die sich gegen unsere
eigene Wehrindustrie richtet.
Gefragt ist etwas anderes. Entscheidend ist, dass wir
zu mehr Rüstungskooperationen in Europa kommen.
Nach wie vor sehr unbefriedigend ist die national orientierte Wehrpolitik, insbesondere von Ländern wie Frankreich und Großbritannien. Diese zeigen in den Gemeinschaftsunternehmen, die wir ja haben, zu wenig
Engagement und kümmern sich primär um ihre eigenen
nationalen Rüstungsschmieden. Das hat zur Folge, dass
die Stückkosten bei gesunkenen Wehretats exorbitant
steigen.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Dadurch ist der Druck auf
diese Unternehmen zum Export überproportional hoch.
Da ist eine sinnvolle Kooperation gefragt, die im Interesse dieses Landes ist. Das alles ist nichts für Populismus und Feldgeschrei, sondern etwas für seriöse Politik.
Diese werden wir auch weiterhin machen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rüstungsexporte in Staaten außerhalb der EU und der NATO sowie diesen gleichgestellte Staaten sollen nach dem Geist
und vor allen Dingen den Buchstaben unserer Gesetze
nicht die Regel, sondern die Ausnahme sein. Wenn man
allerdings die Rüstungsexportpolitik der jetzigen Bundesregierung betrachtet, dann kann man nur zu dem Ergebnis kommen, dass Schwarz-Gelb diese restriktive
Rüstungsexportpolitik früherer Jahre endgültig über
Bord werfen will. Das ist es doch, worum es heute geht.
({0})
Sie tut das offensichtlich in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Rüstungsindustrie. Wir haben gestern
erlebt, dass die Unternehmen der Rüstungswirtschaft
dem Verteidigungsminister eine klare Ansage gemacht
haben: Wenn die Bundeswehr wegen der Reform und
der knappen Mittel
({1})
weniger kauft, dann erwartet man dafür Erleichterungen
beim Export. Das kann es doch gerade nicht sein. Dann
würden gerade die Kriterien, die unsere Gesetze ausdrücklich als nachrangig festschreiben, nämlich die wirtschaftlichen Interessen, zum Leitmotiv für Genehmigungsentscheidungen von Waffenexporten.
({2})
Wir befürchten, dass uns gerade angesichts dieser Situation das Thema Rüstungsexport in nächster Zeit noch
häufiger beschäftigen wird - Herr Lindner, da können
Sie ganz beruhigt sein -, gerade wenn wir sehen, wie
sich diese Bundesregierung hier wieder zum Büttel von
kurzatmigen Lobbyinteressen zu machen scheint.
({3})
- Ja, ja, schauen wir doch, was passieren wird.
Wir wollen aber auch mit einer Unterstellung, die
dann kommt, gleich aufräumen: Es ist keineswegs so,
dass uns Sozialdemokraten die betroffenen Unternehmen und die Beschäftigten egal sind. Ganz im Gegenteil,
wir wollen die Betriebe, wir wollen das Know-how, wir
wollen die technologische Leistungsfähigkeit und die
Arbeitsplätze im Land halten.
({4})
Wir wollen aber aus leidvoller historischer Erfahrung
die Exporte nur im Rahmen restriktiver Exportgenehmigungspolitik, vor allem im Rahmen unserer außenpolitischen, menschenrechtlichen und entwicklungspolitischen Ziele, also ausdrücklich im Rahmen von strikten
politischen Vorgaben, zulassen.
({5})
Wir wollen den Staat gegenüber den Rüstungsproduzenten nicht in einer Lage wie gegenüber den Banken sehen,
nämlich in einer Situation von Erpressbarkeit und Abhängigkeit.
({6})
Gerade die jüngsten Erfahrungen mit deutschen Rüstungsexporten müssen uns - nicht nur uns; das wundert
mich eigentlich - und auch den letzten schwarz-gelben
Hardliner doch zum Nachdenken bringen. Was ist das
denn für eine Politik, die dazu führt, dass sich in Nordafrika, in Ländern der arabischen Halbinsel, aber zum
Beispiel auch in Mexiko deutsche Waffen gegen die jeweilige Bevölkerung dieser Länder, gegen soziale und
politische Opposition richten?
({7})
Was sind denn Ihre Reden am Tag der Menschenrechte wert, wenn sich heute noch Koalitionspolitiker
hinstellen und zum Beispiel Panzerlieferungen nach
Saudi-Arabien verteidigen?
({8})
Was heißt es denn für die Glaubwürdigkeit deutscher
Außenpolitik, wenn der Bundesaußenminister und der
Bundeswirtschaftsminister jetzt hektische Reisen nach
Ägypten und Libyen unternehmen und sich nach dem
Sieg der dortigen Oppositionsbewegungen selber zum
Sieger erklären, aber offensichtlich überhaupt kein Problembewusstsein dabei besitzen, dass es auch deutsche
Waffen waren und vielleicht wieder sein werden, die zur
Unterdrückung ebendieser Völker beigetragen haben?
({9})
Was ist es für eine Politik, die es zulässt, dass von den
25 Hauptabnehmerländern deutscher Waffen diejenigen
sogar mehr abnehmen, die als Repressionsstaaten gelten? Diese Repressionsstaaten nehmen momentan genauso viele Waffen wie unsere Partnerländer in der
NATO - USA, Frankreich, Großbritannien und Dänemark - ab. Das muss man sich einmal vorstellen.
({10})
Es kann schon sein, dass es auch in der Vergangenheit
Fehler gegeben hat,
({11})
die von früheren Regierungen, auch mit sozialdemokratischer Beteiligung, gemacht wurden. Der Amnesty-Bericht über frühere Waffenlieferungen - er ist gerade für
den Zeitraum 2005 bis 2009 erschienen - nach Nordafrika belegt das ja leider. Aber die Frage ist doch: Wollen wir diese Fehler fortsetzen und wiederholen, oder
wollen wir daraus lernen?
({12})
Das ist die Frage, die sich an die Koalition richtet.
Nach dem, was ich hier gehört habe, ist SchwarzGelb entschlossen, diese Fehler fortzusetzen. Zu den außenpolitischen Implikationen einer solchen Entwicklung
wird nachher sicherlich mein Kollege Mützenich noch
etwas sagen.
({13})
Ich möchte mich jetzt dem wirtschaftspolitischen Aspekt der Rüstungsexporte zuwenden. Die SPD kümmert
sich sehr wohl um die Betriebe und die Arbeitsplätze.
Aber wir wissen, dass es weder wünschenswert noch bezahlbar, noch sinnvoll ist, auf eine Beibehaltung aller
Rüstungskapazitäten im derzeitigen Umfang oder gar
ihre Ausweitung zu setzen. Das sollten auch die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition heute ganz klar zugeben. Wer es ernst meint mit den Arbeitsplätzen, der
muss sich Gedanken über andere Produkte und Marktsegmente machen. Viele Betriebe der Branche - auch in
der Region, aus der ich komme - haben mehrfach bewiesen, wie intelligent und flexibel man in Märkte außerhalb des Rüstungsbereichs umsteigen kann. Mit dem Zivilgeschäft ist man, zum Beispiel in der Luftfahrt,
oftmals viel besser gefahren als mit der Rüstungsproduktion.
Hier liegt die Verantwortung der Bundesregierung
und der Koalition: Anstatt irgendjemanden an Panzer für
Saudi-Arabien oder an U-Boote und Eurofighter für
Griechenland glauben zu lassen, sollten sie klare und
wahrhaftige Botschaften senden und den Strukturwandel
unterstützen.
Wir reden derzeit - auch morgen werden wir wieder
viel über dieses Thema hören - häufig über Staatsschulden und Finanzkrise. Am Beispiel der USA hat der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz den Zusammenhang von
Rüstungs- und Kriegskosten mit der US-Staatsverschuldung aufgezeigt. Die Kosten des Irak- und AfghanistanKrieges berechnete er 2008 mit rund 3 000 Milliarden
US-Dollar. Er wies schon damals auf die Schuldensituation und ihre Folgen hin.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brandl zulassen?
Aber sicher.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, vor wenigen Monaten hat
die SPD hier beantragt, dass wir im Parlament grundsätzlich über Voranfragen und Anfragen von Ländern in
Bezug auf Rüstungsexporte beraten und auch im entsprechenden Ausschuss darüber abstimmen. Vonseiten
der Industrie, aber auch von unserer Seite bestehen die
Bedenken, dass, wenn wir die Beratung über derartige
Voranfragen und Anfragen zum Gegenstand öffentlicher
Debatten machen, überhaupt kein Rüstungsexport mehr
stattfinden kann, weil die Länder nicht wollen, dass das
Thema in der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Wie sehen Sie das im Zusammenhang mit Ihrer Unterstützung
der Industrie?
Ich wollte später noch darauf zu sprechen kommen,
dass wir uns gerade mit der Frage der Transparenz und
der Parlamentsbeteiligung in den nächsten Wochen befassen wollen. Dazu liegt heute auch ein Antrag der Grünen vor. Wir müssen gemeinsam darüber sprechen, wie
das Parlament an solchen Entscheidungsprozessen beteiligt werden kann. Es gibt ja auch andere geheimhaltungspflichtige Dinge, die unter parlamentarischer Beteiligung stattfinden. Wir müssen sehen, wie in diesem
Bereich mehr Transparenz geschaffen werden kann. Wir
erleben ja gerade, wie notwendig das ist, um die restriktive Rüstungsexportpolitik aufrechterhalten zu können.
Wir werden Ihnen mit Sicherheit Vorschläge dazu machen; da brauchen Sie keine Sorge zu haben. In den
nächsten Wochen wird darüber zu reden sein. Gerade vor
dem Hintergrund der aktuellen Fälle können wir doch
feststellen, dass die Rüstungsexporte irgendwann immer
öffentlich werden,
({0})
spätestens wenn der Bericht vorgelegt werden muss.
Spätestens dann muss die Bundesregierung dem Parlament Begründungen liefern.
({1})
Dann werden die Rüstungsexporte ohnehin diskutiert.
Der Unterschied ist nur: In diesem Fall wird die Transparenz erst hergestellt, wenn es schon zu spät ist und
wenn man keinen Einfluss mehr nehmen kann.
({2})
Uns geht es darum, den Prozess rechtzeitig beeinflussen
und rechtzeitig Druck auf die Regierung, welcher Koalition auch immer, ausüben zu können, damit die restriktive Politik in diesem Bereich aufrechterhalten bleibt.
({3})
Ich komme zu den ökonomischen Zusammenhängen
zurück. Mit Genehmigung der Präsidentin möchte ich
den amerikanischen Nobelpreisträger Stiglitz zitieren. Er
sagte in einem Interview mit der Welt am 10. März 2008:
Defizite sind ein Ärgernis,
- also die Defizite aus den Rüstungsgeschäften 15666
weil sie am Ende Investitionen verhindern und
Schulden anhäufen, die in der Zukunft beglichen
werden müssen. Das schadet der Produktivität, weil
für öffentliche Investitionen in Forschung, Bildung
und Infrastruktur oder für private Investitionen in
Maschinen oder Fabriken nur wenig übrig bleibt.
Das ist der Zusammenhang, Herr Lindner, mit dem wir
es im wirtschaftlichen Bereich zu tun haben und den wir
hier betonen müssen. Es geht um Arbeitsplätze und
Wachstum in der Zukunft.
({4})
Mit Blick auf die US-Immobilienkrise fuhr Stiglitz
fort:
Jetzt, da wir über die Blase hinaussehen können,
wird die vom Irak-Krieg verursachte wirtschaftliche Schwäche voll zutage treten. Und wir werden
teuer dafür bezahlen - mit Zinsen.
Diese These hat er gerade erst wiederholt und aktualisiert.
Was hat das mit der Rüstungsexportproblematik zu
tun? Ganz einfach: Nennen Sie bitte ein Land der Welt,
das derzeit Rüstungsbeschaffung nicht auf Pump oder
nicht zulasten anderer viel sinnvollerer Ausgaben finanzieren müsste! Nennen Sie ein Rüstungsexportgeschäft,
das also nicht die Weltfinanzkrise verschärfen würde
oder das nicht zulasten von Investitionen und Wohlstand
gehen würde!
({5})
Was halten Sie von Berichten, wonach Frankreich vier
Tarnkappenfregatten nach Griechenland liefern will und
Deutschland womöglich dafür mit bezahlt? Sagen Sie
uns, welche Geschäfte die Bundesregierung gerade genehmigen will!
Es ist doch in dieser Situation völlig absurd, wenn die
Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen erklärt:
Die Erschließung von Märkten durch die wehrtechnische Industrie ist eine unternehmerische Entscheidung.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist eine politische Bankrotterklärung sondergleichen. Der Markt soll es regeln.
({6})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb für die heutige Debatte einen Antrag mit zwei Hauptforderungen
vorgelegt: erstens Beibehaltung der restriktiven Rüstungsexportpolitik und zweitens mehr Transparenz bei
den Entscheidungen der Bundesregierung zum Beispiel
durch Parlamentsbeteiligung. Dafür bitten wir Sie um
Zustimmung.
Dem Antrag der Grünen - Stichwort Menschenrechte - stimmen wir selbstverständlich zu; denn er
deckt sich in weiten Teilen, wenn auch nicht in jedem
Detail, mit unseren Vorstellungen. Das gilt auch für den
Antrag zum Rüstungsexportbericht, den wir eigentlich
gemeinsam einbringen wollten und der es wert gewesen
wäre, in den nächsten Wochen im Rahmen einer eigenen
Debatte hier behandelt zu werden.
({7})
Bei den 16 Anträgen der Linken enthalten wir uns,
({8})
weil wir diese Art der Rüstungsexportdebatte für wenig
systematisch und zielführend halten. Eine solche auf
Momentaufnahmen und Einzelanlässe bezogene Außenpolitik wird der Problematik, mit der wir es hier zu tun
haben, nicht gerecht.
({9})
Wenn wir böswillig wären, Frau Enkelmann, dann würden wir Sie fragen: Dürfen wir dann in alle Länder, die
Sie in Ihren 16 Anträgen nicht nennen, womöglich liefern?
({10})
Aber wir sind nicht böswillig.
Herr Kollege!
Deswegen werden wir Ihre Anträge nicht ablehnen
und uns nicht dem Verdacht aussetzen, wir wären für
Waffenlieferungen nach Nordafrika und in die anderen
genannten Länder.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Frau Präsidentin, ich bin bei meinem letzten Satz. Gerade heute brauchen wir ein klares Signal, dass es
keine Liberalisierung und Aufweichung der Rüstungsexportpraxis geben darf.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Erich Fritz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Anträge von der SPD und den Grünen
vorliegen. Es gibt auch eine Inszenierung; das sind die
16 Anträge von der Linken.
({0})
Es handelt sich deshalb um eine Inszenierung, weil Sie
eine Wirkung erzielen wollen, die dem, was dahintersteht, gar nicht entspricht. Sie wollen nämlich den Eindruck erwecken, Deutschland habe die arabischen Länder mit Kriegswaffen sozusagen überschüttet. Diese
Informationen geben die Anträge überhaupt nicht her.
Dadurch wollen Sie die Debatte über eine sinnvolle Rüstungsexportpolitik und deren Zusammenhänge überdecken. Deshalb werden, so glaube ich, diese Anträge vom
Rest des Hauses zu Recht abgelehnt.
Meine Damen und Herren, das Thema ist bisher Gott
sei Dank nicht ganz so polemisch diskutiert worden, wie
das sonst häufig der Fall ist; wenngleich Herr Barthel natürlich seiner Pflicht nachkommen musste, vergessen zu
lassen, dass eigentlich alle im Hause, die an Regierungen
beteiligt waren, eine Verantwortung getragen haben, die
so einfach nicht zu tragen ist.
Wir wissen, dass Rüstungsexporte in einem Zusammenhang stehen mit eigenen militärischen Fähigkeiten,
die in einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
in Europa eine Rolle spielen und die auch im Bündnis
eine Rolle spielen. Wir wissen auch, dass die Frage der
Kooperation und der militärtechnischen Zusammenarbeit nicht unabhängig ist vom politischen Einfluss in
einem Bündnis. Wir wissen, dass viele Fähigkeiten entwickelt werden, die beileibe nicht nur militärische sind.
In Deutschland gibt es Schlüsselfähigkeiten - Sie haben
es gesagt, Herr Barthel -, deren Zukunftschancen stärker
auf der zivilen als auf der militärischen Seite liegen. Insofern ist ganz klar: Es handelt sich um einen Wirtschaftszweig, den man nicht lupenrein auf der einen oder
der anderen Seite ansiedeln kann.
Mir geht es jetzt noch um die Frage, wie wir weiter
mit diesem Thema umgehen. Man kann es so machen
wie die Linke: Man kann das Ganze populistisch-emotional angehen, man kann es auch allein unter dem Aspekt „Menschenrechte“ betreiben. Das ist eine zulässige
Form der Auseinandersetzung und Kampagne. Das
Recht kann Ihnen keiner nehmen. Es hilft nur nichts;
denn jede Regierung muss bei jedem Begehren eines
Landes, bestimmte Ausrüstungen oder Waffen zu erhalten, eine Abwägung treffen. Die Entscheidungen werden
für jeden Einzelfall getroffen; sie sind nicht pauschal.
Man kann sich deshalb nicht davor drücken,
({1})
sich klarzumachen, dass es in jedem dieser Einzelfälle
- in einer ganz konkreten Situation - gilt, sowohl bündnispolitische als auch sicherheitspolitische, diplomatische,
aber natürlich auch menschenrechtspolitische Gesichtspunkte in Einklang zu bringen. Diese Gesichtspunkte sind
aber nicht immer in Einklang zu bringen.
Was mich heute dazu bringt, den SPD-Antrag abzulehnen und das auch meiner Fraktion zu raten, ist, dass
dieser Antrag aus einer Haltung heraus geboren ist, die
das Motto vertritt: Wir machen es jetzt ganz anders; alles, was wir vorher gesagt haben, interessiert uns jetzt
nicht mehr.
Ich möchte den Kollegen in allen Fraktionen noch etwas zum durchaus berechtigten Geheimhaltungsprinzip
im Bundessicherheitsrat sagen: Nach meiner Auffassung
kann man nicht jede Debatte, die sich mit anderen Ländern beschäftigt, öffentlich führen. Jeder weiß, dass das
nicht geht. Wir tagen beispielsweise im Auswärtigen
Ausschuss deshalb nichtöffentlich, weil wir genau wissen, dass es notwendig ist, solche Räume zu haben. Ich
habe insofern nichts gegen die Nichtöffentlichkeit des
Bundessicherheitsrates. Vielmehr halte ich sie für eine
wesentliche Voraussetzung, um alle Informationen auf
den Tisch zu legen und bestimmte Abwägungen überhaupt vornehmen zu können und nicht nur nach der öffentlichen Einschätzung handeln zu müssen.
Wenn ich dann aber fast wörtliche Abläufe von Sitzungen des Bundessicherheitsrates in der Presse lese und
wenn ich das Gefühl habe, dass diejenigen, die dort entscheiden, sich auf der einen Seite auf die Geheimhaltung
berufen, auf der anderen Seite aber von den Abgeordneten, die der Mehrheit angehören, verlangen, diese Entscheidung zu vertreten,
({2})
dann ist das für einen Parlamentarier - unabhängig davon, in welcher Fraktion er sitzt - schwer erträglich.
({3})
Ja. Es ist doch ganz einfach, die richtigen Schlüsse zu
ziehen.
Der Bundestag und die Bundesregierung sind auch in
Bezug auf andere Bereiche der Meinung, dass es besser
ist, bestimmte Dinge unter Geheimschutz zu behandeln.
Dennoch ist es möglich, das Parlament zu informieren.
Ich weiß das aus den Gremien, in denen das der Fall ist.
Bisher ist nur in den allerseltensten Fällen etwas an die
Öffentlichkeit gelangt. Ich meine, dass wir eine Debatte
dazu führen müssen. Denn mit der Rolle des Parlaments
ist es nur sehr schwer vereinbar, die derzeitige Situation
unverändert zu lassen.
({4})
Ich sehe, dass sowohl bei meiner Fraktion als auch bei
den Kollegen der FDP nicht alle klatschen. Ich glaube
dennoch, dass man beide Seiten betrachten muss.
Schließlich geht es darum, die Akzeptanz für notwendige Exporte aufrechtzuerhalten. Das Problem ist, dass
immer nur eine Debatte zur emotionalen Seite der Auseinandersetzung geführt wird. Die eigentlichen Interessen Deutschlands und die Begründungen für die Exporte
werden dagegen nicht öffentlich diskutiert. Da stimmt
das Verhältnis nicht. Das ist vor allen Dingen in parlamentarischer Hinsicht nicht zu akzeptieren.
Herzlichen Dank.
({5})
Jan van Aken spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Amnesty International hat vor zwei Tagen diesen Bericht
über Waffenexporte an arabische Länder vorgelegt. Ich
kann Ihnen wirklich nur wärmstens empfehlen, ihn einmal anzuschauen.
({0})
Der Bericht erinnert uns ganz drastisch daran, worum
es hier tatsächlich geht: Es geht um Tod, um Zerstörung
und um tausendfaches Leid. In dem Bericht wird zum
Beispiel ein Bild eines Demonstranten in Ägypten gezeigt, der von Kugeln zersiebt auf der Straße liegt. Es
wird auch berichtet, wie in Bahrain, in Syrien, natürlich
in Libyen und in Ägypten Tausende von Menschen, die
für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind, getötet
wurden, und zwar von Waffen, die aus Europa, den USA
und Russland geliefert worden sind. Deutschland war,
was diese Lieferungen angeht, ganz vorne mit dabei - an
vorderster Front sozusagen.
Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen zu den deutschen Rüstungsexporten der letzten zehn Jahre nennen:
Genehmigungen für Exporte von Rüstungsgütern nach
Saudi-Arabien in Höhe von 675 Millionen Euro, nach
Bahrain in Höhe von 22 Millionen Euro, in den Jemen in
Höhe von 12 Millionen Euro und nach Ägypten in Höhe
von 268 Millionen Euro. Insgesamt haben Sie Exporte in
Höhe von sage und schreibe 3,5 Milliarden Euro in die
Länder im Nahen Osten und Nordafrika genehmigt. Ich
finde das unerträglich.
({1})
Das sind alles Länder, von denen Sie genau wussten,
dass sie die Menschenrechte verletzen und sich in einer
Kriegs- und Krisensituation befinden.
Es gibt in diesem Bericht einen Lichtblick: Laut Amnesty International haben einige Länder wie Frankreich,
Großbritannien, Spanien sowie weitere europäische Länder die Waffenexporte nach Bahrain eingestellt, weil die
Demokratiebewegung dort so brutal niedergeschossen
wurde. Was aber macht die Bundesregierung? Was
macht Herr Westerwelle? Sie entscheiden, zusätzliche
200 Panzer nach Saudi-Arabien zu schicken. Sie haben
nichts, aber überhaupt gar nichts aus den Fehlern der
Vergangenheit gelernt.
({2})
Wir wollen es heute anders machen. Wir wollen, dass
endlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wird.
Deswegen haben wir 16 Anträge vorgelegt, durch die die
Waffenexporte in 16 Länder des Nahen Ostens und
Nordafrikas endgültig gestoppt werden sollen. Sie können sich heute entscheiden, ob Sie wirklich weiterhin
Waffen an Menschenrechtsverletzer liefern wollen, oder
ob Sie das nicht wollen.
Sollten Sie sich wirklich dafür entscheiden, weiterhin
an diese Länder zu liefern, würde ich zu gern einmal hören, wie Sie das Ihren Wählerinnen und Wählern erklären wollen. Denn die Mehrheit der Wählerinnen und
Wähler ist gegen Rüstungsexporte. Das Meinungsforschungsinstitut Emnid hat vor zwei Wochen eine Umfrage gemacht, die ergeben hat, dass sich 78 Prozent der
Menschen - mehr als drei Viertel der deutschen Bevölkerung - grundsätzlich gegen jede Art von Rüstungsexporten aussprechen. Das geht quer durch die ganze
Bevölkerung. Das gilt auch für die Wählerinnen und
Wähler der CDU/CSU und FDP; denn von denen sind
auch 70 Prozent gegen jede Art von Rüstungsexporten.
({3})
Wenn Sie schon nicht auf Ihre eigene Moral hören, dann
hören Sie wenigstens auf die Leute, die Sie in den Bundestag gewählt haben! Lehnen Sie die Rüstungsexporte
endlich ab!
({4})
Amnesty International spricht sehr deutlich und richtig von einem totalen Versagen der Rüstungsexportkontrollen. Da muss man sich doch fragen, woran es liegt.
Ich möchte Ihnen dazu eine sehr erhellende Episode aus
dem Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung“ des Bundestages erzählen. Anfang
des Jahres, mitten im arabischen Frühling, gab es natürlich sehr kritische Nachfragen, übrigens auch von einem
Abgeordneten der Union, wie es denn sein könne, dass
deutsche Sturmgewehre an den Diktator Mubarak geliefert worden sind. Die lapidare Antwort der Bundesregierung war: „Es gab außenpolitische Interessen, die gegen
die Menschenrechtsbedenken abgewogen wurden. Am
Ende wogen die außenpolitischen Interessen schwerer.
Deswegen wurde geliefert.“ Genau das ist das zentrale
Problem der deutschen Rüstungskontrolle:
({5})
Die deutschen Rüstungsexporte werden nicht kontrolliert, sondern allenfalls verwaltet.
({6})
Es gibt zwar die viel zitierten Politischen Grundsätze
der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern. Da steht sehr viel Gutes
drin. Es wird von „Menschenrechten“, „Frieden“ und
„nachhaltiger Entwicklung“ gesprochen, aber eben auch
vom „außenpolitischen Interesse“. In der Praxis - das sehen wir immer wieder - verlieren die Menschenrechte
jedes einzelne Mal gegen die außenpolitischen Interessen. Deshalb fordern wir von der Linken: Die unverbindlichen Politischen Grundsätze reichen nicht aus; wir
brauchen gesetzliche Verbote.
({7})
Ich möchte Ihnen heute drei Vorschläge für sehr konkrete Verbote machen, mit denen wir es endlich schaffen
würden, die Flut der deutschen Waffen in der Welt zumindest ein wenig einzudämmen:
Der erste Vorschlag: kein Export von Kleinwaffen.
Kleinwaffen sind keine niedlichen, kleinen Handtaschenrevolver, sondern Sturmgewehre und Maschinenpistolen, die Kalaschnikows, die deutschen G 36 und wie
sie alle heißen.
({8})
Es gibt aus meiner Sicht drei extrem gute Gründe, den
Export von Kleinwaffen grundsätzlich zu verbieten:
Erstens. Kleinwaffen sind die tödlichsten Waffen der
Welt. Kofi Annan hat sie einmal als Massenvernichtungswaffen bezeichnet, weil sie tatsächlich massenhaft
töten. In den Kriegen dieser Welt gibt es mehr Tote
durch Kleinwaffen als durch jede andere Waffenart.
Zweitens. Wenn die Kleinwaffen einmal exportiert
sind, hat man null Kontrolle. Weil sie relativ klein sind,
werden sie von einem Land ins nächste verschoben; von
Krieg zu Krieg gehen sie um die Welt und werden überall zum Töten eingesetzt. Nur ein Beispiel: Sie alle wissen, dass im August dieses Jahres deutsche Sturmgewehre vom Typ G 36 in Libyen gefunden wurden.
Offiziell sind sie nie dorthin geliefert worden - nicht von
der Firma und nicht von der Bundesregierung -, aber
trotzdem tauchten sie dort auf. Wir beobachten das: Jedes Mal, wenn in den letzten Monaten und Jahren auf
der Welt ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen ist, haben wir uns die Fernsehbilder und die Fotos angeschaut,
und jedes einzelne Mal haben wir dort deutsche Waffen
gesehen. Das muss doch endlich einmal aufhören.
({9})
Drittens. Aus meiner Sicht ist das gewichtigste Argument dafür, endlich alle Exporte von Kleinwaffen zu
verbieten: Sie zeigen besonders deutlich, dass das bisherige System der Rüstungsexportkontrolle einfach nicht
funktioniert. Ich habe Ihnen hier eine Grafik mitgebracht. Auf dieser Grafik sehen Sie die Exporte von
deutschen Kleinwaffen und deutscher Kleinwaffenmunition unter den letzten vier Regierungen, in den letzten
vier Legislaturperioden. Das fängt mit der Regierung
Kohl - Schwarz-Gelb - an, dann folgen die beiden rotgrünen Regierungen, dann die Große Koalition. Jedes Mal
hat die jeweilige Regierung mehr Kleinwaffen und -munition in alle Welt verkauft als die Vorgängerregierung. Ich
denke, das müsste gerade Ihnen von SPD und Grünen zu
denken geben. Denn Sie haben 1999 das Problem der
Waffenexporte erkannt und deswegen die Politischen
Grundsätze eingeführt, und trotzdem wurden am Ende
mehr und mehr und mehr Kleinwaffen in alle Welt exportiert. Es reicht eben nicht, sich an der Regierungsspitze zu wünschen, dass die Zahl der Exporte sinkt;
denn im Alltag wird dann doch in der Verwaltung jeder
einzelne Antrag angenommen, abgestempelt, abgenickt
und abgelegt. Sie verhindern nichts, wenn Sie nicht tatsächlich ein echtes Verbot aussprechen. Das Wünschen
allein reicht nicht; wir brauchen hier ein Verbot.
({10})
Das zweite Verbot, das wir vorschlagen: kein Export
von Waffenfabriken. Ich war vor zwei Wochen in SaudiArabien, um mir da eine Reihe von deutschen Rüstungsprojekten anzuschauen; davon gibt es dort leider ziemlich viele. Eines der Projekte ist eine deutsche Waffenfabrik, die gerade von der deutschen Firma Heckler &
Koch südlich von Riad aufgebaut wird. Ende nächsten
Jahres wird diese Fabrik das hochmoderne deutsche
Sturmgewehr G 36 produzieren können. Ab dem Moment haben Sie überhaupt keine Kontrolle mehr: Wie
viele dieser Waffen werden produziert? Wohin werden
sie geliefert? Sie werden im Internet schon zum Verkauf
angeboten. Wer wird irgendwann irgendwo auf der Welt
jemanden damit töten? Das lässt sich gar nicht mehr
kontrollieren, wenn man einmal die Technologie aus der
Hand gibt. Wenn man einmal die Fabrik in Saudi-Arabien aufbaut, ist die Kontrolle vorbei. Da hilft nur, von
vornherein keine Waffenfabriken mehr zu exportieren.
Punkt.
({11})
Drittens. Es darf keine Waffenexporte an Menschenrechtsverletzer und in Krisengebiete geben. Genau
deshalb haben wir heute die 16 Anträge vorgelegt. Wir
fordern, in diese Region, die für Menschenrechtsverletzungen und als Kriegsgebiet bekannt ist, keine Waffen
mehr zu liefern. Auch hier reichen die politischen
Grundsätze nicht aus. Das Ganze muss Gesetz werden.
In einem Antrag der Grünen wird das erstmals gefordert.
Ich finde, das ist ein guter Ansatz. Deswegen werden wir
diesem Antrag der Grünen auch zustimmen. Ich würde
mir nur wünschen, dass Sie aus Ihrer eigenen Geschichte
lernen und endlich ein komplettes Kleinwaffenexportverbot und ein Waffenfabrikexportverbot beschließen
würden.
({12})
Ich möchte die Frage stellen, warum heute niemand
von der Regierung zu diesem Thema spricht. Dafür wird
ein Herr Lindner von der FDP in die Bütt geschickt, der
sowas von gar keine Ahnung von Waffenexporten hat,
dass es mich immer wieder schüttelt.
({13})
Nur zwei Beispiele aus Ihrer Rede.
Herr van Aken, Sie haben noch drei Sekunden Zeit,
um die Zwischenfrage von Herrn Gysi zuzulassen.
Möchten Sie das ?
Von Herrn Gysi? - Ja, die lasse ich zu.
({0})
Bitte schön.
Herr van Aken, es wird von den anderen Rednern so
getan, als ob man insgesamt gegen die Rüstung in alle
von uns genannten Staaten stimmen müsste. Besteht
nicht die Möglichkeit, dass jede Abgeordnete und jeder
Abgeordneter zu jedem Staat eine Haltung einnimmt und
beispielsweise sagt: Nach Bahrain keine Waffenexporte,
in andere Länder schon. - Gibt es diese Möglichkeit?
Warum wird davon kein Gebrauch gemacht,
({0})
sondern pauschal gesagt: „Wir verkaufen weiterhin Rüstungsgüter“?
Das ist eine suggestive Frage, die ich natürlich mit Ja
beantworte.
({0})
Sie alle haben es individuell in der Hand, auch Sie, Herr
Fritz. Sie müssen nicht mit Ihrer Fraktion stimmen. Sie
können gegen Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien
stimmen. Zeigen Sie heute endlich einmal Mumm und
sagen Sie Nein zu Rüstungsexporten.
({1})
Ich wurde unterbrochen bei meiner Kritik an Herrn
Lindner.
Sie wurden unterbrochen, aber sozusagen schon jenseits der Redezeit.
Aber ich habe doch eine Frage beantwortet.
Die Zeit habe ich auch gestoppt. Alles ist gut. Trotzdem ist Ihre Redezeit zu Ende.
Herr Lindner hat es wirklich verdient; denn er führt
aus: Es ist völlig ausgeschlossen, dass es eine Parlamentsbeteiligung bei der Frage von Rüstungsexporten
gibt. - Fahren Sie doch einmal in die USA! Dort gibt es
das. Wieso ist in Deutschland ausgeschlossen, was in
Washington möglich ist?
({0})
Sie haben keine Ahnung, Herr Lindner.
Ein zweiter Punkt, der mir wichtig ist. Beim Panzerdeal mit Saudi-Arabien tun Sie so, als ob der eigentliche
Gegner der Iran ist. Ich war in Saudi Arabien. Ich habe
dort mit vielen hohen Politikern und Generälen gesprochen. Sie haben keine Vorstellung, was für eine IsraelHetze ich da zu hören bekommen habe. Das ist unfassbar.
Herr van Aken?
Ein hoher Politiker hat ein Gespräch mit einer vollen
Breitseite gegen Israel begonnen, und Sie wollen uns
hier weismachen, der Gegner wäre der Iran.
Herr van Aken?
Ihr Panzerexport ist ein riskantes Manöver gegenüber
Israel.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte.
Im Übrigen ist die Zeit jetzt mehr als abgelaufen.
Aber dafür habe ich jetzt leider keine Zeit mehr.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin der Linken durchaus dankbar, dass sie
die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung wieder
einmal auf die Tagesordnung hat setzen lassen. Auch wir
Grünen sind der Meinung, dass die aktuelle Genehmigungspraxis weder mit der Rüstungsexportrichtlinie
noch mit dem Gemeinsamen Standpunkt der EU in Einklang zu bringen ist. Die Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern haben die Grünen im Jahr 2000 auf den
Weg gebracht. Seitdem sind wenigstens auf dem Papier
die Menschenrechte als maßgebliches Kriterium bei der
Genehmigung von Rüstungsexporten festgeschrieben.
Erstaunlicherweise berufen sich sowohl die jetzige Bundesregierung als auch die Linken in ihren Anträgen auf
diese Grundsätze.
Nicht hinnehmbar aber ist, dass die Bundesregierung
diese Grundsätze schlicht missachtet. Sie missachtet sie
so schamlos, weil niemand sie kontrolliert.
({0})
Auch die radikale Forderung der Linken nach einem totalen Exportverbot für alle wird daran nichts ändern,
wenn wir der Regierung weiterhin erlauben, im Geheimen zu agieren.
({1})
Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, Jan van Aken,
dann müssen wir Parlamentarier endlich Wege finden,
wie wir die Regierung in diesem Bereich effektiv kontrollieren. Diese Aufforderung richtet sich natürlich auch
an die andere Seite des Hauses. Auch als Mehrheitskoalition ist es Ihre Aufgabe, die Bundesregierung zu kontrollieren.
Gerade haben wir im Rahmen der Euro-Krise viel
über parlamentarisches Selbstbewusstsein gehört. Und
was ist hier? Wenn sich die Bundesregierung nicht mehr
bemüßigt fühlt, sich an die geltenden Grundsätze zu halten, weil sie alles geheim hält und sich damit jeder Kontrolle entzieht, dann versagen Sie, dann versagen wir alle
als Parlament bei unserer wichtigsten Aufgabe.
({2})
Es sollte uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg empören, dass wir auf Recherchen des Spiegels angewiesen
sind, um zu erfahren, welche Beweggründe die Regierung veranlasst haben, Kampfpanzer nach Saudi-Arabien zu exportieren.
Ich habe nichts dagegen, wenn sich acht Minister zu
einem Gespräch treffen und über den Inhalt ihres Gesprächs Stillschweigen vereinbaren. Wenn sie aber dann
auf der Grundlage dieses Gesprächs eine exekutive Entscheidung treffen,
({3})
dann muss die Regierung uns als Parlament nicht nur
mitteilen, was für eine Entscheidung sie getroffen hat,
sondern auch begründen, warum sie so und nicht anders
entschieden hat.
({4})
Wenn dabei industriepolitische oder beschäftigungspolitische Gründe eine Rolle gespielt haben, dann muss die
Regierung das eben vorbringen. Oder schämen Sie sich
etwa für Ihre Beweggründe?
Herr Brandl, wissen Sie eigentlich, dass im Ursprungsland der sogenannten Westminster-Demokratie
vierteljährlich alle Genehmigungen bekannt gemacht
und öffentlich in einem parlamentarischen Gremium diskutiert werden? Am heutigen Tag, etwa zur gleichen
Zeit, findet im britischen Parlament wieder einmal eine
öffentliche Debatte darüber statt, diesmal über den Exportbericht des zweiten Quartals 2011. Und wir warten
noch immer auf den Exportbericht für das Kalenderjahr
2010! Wissen Sie, dass dieser britische Parlamentsausschuss durch die Auflistung aller Genehmigungen für
Exporte in die Länder des arabischen Frühlings seit 2009
die Regierung veranlasst hat, 160 dieser Genehmigungen entschädigungsfrei zu widerrufen?
({5})
Wie viele Genehmigungen hat denn die Bundesregierung widerrufen? Hier ist die Antwort - ich zitiere -: Die
Bundesregierung hat keine Genehmigung über die Ausfuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in
arabische Länder aufgrund der Ereignisse des sogenannten arabischen Frühlings widerrufen. - Wir wissen nicht
einmal, was es zu widerrufen gibt. Nur aus den Medien
wissen wir inzwischen, dass die Voranfrage für die
Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien am 27. Juni genehmigt wurde. Die endgültige Entscheidung steht bei der
nächsten Sitzung zum Jahresende an. Ich fordere die Regierung daher heute noch einmal auf: Lehnen Sie diesen
Export ab!
({6})
Und behaupten Sie nicht, der Voranfrage käme Bindungswirkung zu! Wir wissen: Selbst abschließende Genehmigungen haben nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz keinen Bestandsschutz und können jederzeit
widerrufen werden.
Damit dieses Versteckspiel endlich ein Ende hat, fordern wir mit unserem heutigen Antrag quartalsweise Informationen von der Bundesregierung, und zwar vollständige Informationen. Wir wollen auch die Zahlen
über die tatsächlichen Rüstungsausfuhren, nicht nur die
Genehmigungszahlen. Wir wollen die Aufschlüsselung
der Sammelausfuhr- und Allgemeingenehmigungen sowie Angaben über bestehende Produktionslizenzen,
Bürgschaften und sogenannte Offsetgeschäfte. Erst dann
haben wir international vergleichbare Daten, die wir analysieren und zeitnah debattieren können. Das Parlament
muss frühzeitig und rechtzeitig in den Entscheidungsprozess über Rüstungsexporte einbezogen werden.
({7})
Mit unserem zweiten Antrag, über den wir heute
ebenfalls abstimmen werden, fordern wir eine stärkere
Berücksichtigung der Menschenrechte in den Empfängerländern, und zwar so, wie es der Wortlaut der Exportrichtlinie eigentlich vorsieht; denn auch jenseits von
Saudi-Arabien ist keine Kohärenz zwischen der Rüstungsexportpolitik und dem Menschenrechtsbericht der
Bundesregierung zu erkennen.
Jedes Mal, wenn wir die Bundesregierung in unseren
Fragen damit konfrontieren, heißt es, die Entscheidung
für einen Exportantrag werde im Einzelfall getroffen.
Soll heißen: Die Lage in einem Empfängerland ist nicht
im Allgemeinen, sondern nur im Hinblick auf die konkrete Waffe ein Kriterium. Da, Herr Kollege Fritz, bin
ich nicht mit Ihnen einer Meinung. Diese Argumentation
ist nicht haltbar. Wenn die Bundesregierung ausreichend
Kenntnisse darüber hat, dass in einem Empfängerland
innere Repression oder schwere Menschenrechtsverlet15672
zungen drohen, dann muss sie dies bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.
({8})
Für Kriegswaffen, die ohnehin nur im Ausnahmefall
an Drittstaaten geliefert werden dürfen, heißt das faktisch den konsequenten Ausschluss solcher Exporte. Das
betrifft in der Tat die meisten der hier genannten 16 Länder, ohne deswegen alle von Marokko bis Saudi-Arabien
über einen Kamm scheren zu wollen. Ich würde noch
weiter gehen und fordern, dass in diesen Fällen auch der
Genehmigungsanspruch für den Export von sonstigen
Rüstungsgütern aufgehoben werden muss.
Aber: Die völlig Gleichstellung von Kriegswaffen mit
sonstigen Rüstungsgütern, wie sie die Linke in ihren Anträgen vornimmt, halte ich für kontraproduktiv.
({9})
Es macht nämlich durchaus einen Unterschied, ob es
sich um den Export von Kriegswaffen wie Panzer oder
Maschinengewehre handelt oder zum Beispiel um Minenräumgeräte und Schutzwesten. Nicht umsonst bezieht sich unser Grundgesetz in Art. 26 ausdrücklich auf
Kriegswaffen.
Sie differenzieren weder zwischen den einzelnen Ländern noch zwischen Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Deshalb werden auch wir uns nicht die
Mühe machen, zu differenzieren, und uns zu allen Ihren
16 Anträgen enthalten.
({10})
Für Syrien, Libyen, Tunesien und Ägypten fordert die
Linke sogar einen Exportstopp, obwohl bereits ein geltendes Waffenembargo besteht. „Endgültig“ soll dann
wohl heißen, dass auch die weitere politische Entwicklung keine Rolle spielen soll. Das finde ich wirklich wenig überzeugend.
({11})
Überzeugend ist das nur für die, die ohnehin ein totales
Verbot von Rüstungsgütern fordern, auch wenn es um
Schutzwesten oder Sanitätsfahrzeuge geht, und zwar für
immer und überall.
({12})
Das heißt konsequenterweise auch: Abschaffung der
Bundeswehr und Austritt aus der NATO. Das ist doch in
Wirklichkeit Ihre Position.
({13})
Der arabische Frühling spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Aber da machen wir nicht mit.
({14})
Wir stehen zum staatlichen Gewaltmonopol und zum
Gewaltmonopol der UNO. Deshalb können wir Waffen
zur Durchsetzung des Gewaltmonopols auch nicht
grundsätzlich verbieten.
({15})
Was wir aber tun müssen, ist, die Verbreitung von Waffen so gering wie möglich zu halten. Dazu brauchen wir
einerseits internationale Vereinbarungen, aber nicht zuletzt auch strenge nationale und vor allem europäische
Kontrollen. Das trifft natürlich die deutschen Herstellerfirmen. Die Rüstungsbranche wird aber ohnehin umrüsten und abrüsten müssen; denn EU- und NATO-Staaten
werden nicht mehr wie bisher als Abnehmer zur Verfügung stehen. Unser Verteidigungsminister hat gestern
bekannt gegeben, dass er 42 Hubschrauber NH-90,
125 Kampfpanzer und 60 Transportpanzer weniger anschaffen will. Der Bestand von Eurofightern und
Kampfhubschraubern soll erheblich verringert werden.
Das ist gut so. Wir können aber nicht zulassen, dass alles, was europäische Staaten in der Krise im Militärhaushalt einsparen, in Spannungsgebiete wie Indien und Pakistan oder auf die arabische Halbinsel geliefert wird.
({16})
Wir dürfen nicht die Exportkriterien aufweichen, um den
Haushalt zu konsolidieren.
Besser als die Forderung nach Totalverboten ist aus
Sicht meiner Fraktion die Beendigung der Geheimniskrämerei und die Herstellung von Transparenz im Genehmigungsverfahren; denn die schärfste Norm nützt
nichts, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert wird.
Vielen Dank.
({17})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Rainer
Stinner das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich sehe hier im Raum aufseiten der Opposition vier ehemalige Regierungsmitglieder, Frau Ministerin a. D.
Wieczorek-Zeul, Frau Ministerin a. D. Bulmahn, Frau
Staatsministerin a. D. Müller und Herrn Staatsminister
a. D. Gloser. Sie alle haben in Ihrer Regierungszeit vor
denselben Problemen gestanden, vor denen die heutige
Bundesregierung und die jetzt aktiv Handelnden stehen.
Sie hatten Anfragen zu Rüstungsexporten vorliegen, und
Sie haben sich die Mühe gemacht, diese Anfragen in jedem Einzelfall zu prüfen. Bei einem großen Teil der Anfragen haben Sie sich dafür entschieden, die Anfrage positiv zu bescheiden. Niemand von uns hat jemals
unterstellt, dass Sie sich dabei nicht die nötige Mühe gemacht haben. Bitte gehen Sie davon aus, dass die heute
Handelnden sich dieselbe Mühe machen.
({0})
Sie haben natürlich auch Rüstungsexporten in kritische Länder zugestimmt. Ich gehe davon aus, dass Ihre
Begeisterung bei Rüstungsexporten in einige Länder
schon damals eingeschränkt war. Sie können davon ausgehen, dass das den heute Handelnden ganz genauso
geht, wie es Ihnen damals gegangen ist.
Herr Barthel hat das, was Sie getan haben, als Fehler
bezeichnet. Er ist leider nicht mehr da.
({1})
- Er ist doch noch da. - Ihr Kollege Barthel hat Sie beschuldigt, Fehler gemacht zu haben. Jetzt fordert er uns
auf, diese nicht zu begehen. Sie sollten intern darüber ins
Reine kommen, ob das, was Sie damals gemacht haben,
fehlerhaft war.
Herr Kollege, möchten Sie die Frage des Kollegen
Ströbele zulassen?
Der Herr Ströbele ist mir lieb und teuer, aber da er
von seiner eigenen Fraktion seit Jahren keine Redezeit
mehr bekommt, denke ich nicht daran, ihm jedes Mal
Redezeit zu gewähren.
({0})
Die Rüstungsexportrichtlinien sind eindeutig. Sie besagen: Wenn nicht in verbündete Staaten wie EU- und
NATO-Staaten oder ihnen gleichgestellte Staaten wie
Neuseeland und Japan geliefert wird, dann gilt Folgendes - ich lese das einmal vor, weil das sehr deutlich ist -:
Der Export von Kriegswaffen … wird nicht genehmigt, es sei denn, dass im Einzelfall besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung
der Bündnisinteressen für eine ausnahmsweise zu
erteilende Genehmigung sprechen.
({1})
Das ist eine klare Sprache.
Herr Kollege, Frau Wieczorek-Zeul würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne, bitte schön.
Bitte, Frau Wieczorek-Zeul.
Ich wollte eine Zwischenbemerkung machen,
({0})
was nach der Geschäftsordnung möglich ist.
Auch Zwischenbemerkungen sind erlaubt, und der
Redner kann dann darauf reagieren.
So ist es.
Gerne.
Sie haben angesprochen, wer dem Bundessicherheitsrat angehört hat und Entscheidungen getroffen hat. Ich
möchte auf einige Punkte hinweisen.
Erstens. Sie können nicht all das, was in den Zeiten
vorher, auch in den Zeiten der Großen Koalition, stattgefunden hat, mit der katastrophalen Entscheidung,
200 Kampfpanzer an Saudi-Arabien zu liefern, vergleichen; das ist unvergleichbar.
({0})
Bitte stellen Sie das nicht in einen Kontext.
({1})
Das ist der eine Punkt.
({2})
Zweitens. Es hat immer unterschiedliche Entscheidungen gegeben, übrigens auch Mehrheitsentscheidungen. Ich bin gerne bereit - Sie sprechen ja immer mich
an -, die Bundeskanzlerin aufzufordern, mich von der
Geheimhaltungspflicht zu entbinden, damit ich deutlich
machen kann, wie sich Ihre Kollegen in diesen Fragen
teilweise verhalten haben.
Drittens. Wir haben eine andere Situation. Wir haben
ja jetzt Veränderungen im arabischen Raum. Früher gab
es die Vorstellung, eine Stabilisierung Ägyptens und anderer Länder sei hilfreich. Ich lege Wert darauf, deutlich
zu machen, dass ich immer die Position vertreten habe,
dass man solche Länder nicht beliefern darf, weil es
Spannungsgebiete sind und dort die Menschenrechte
verletzt werden.
({3})
Außerdem haben wir durch den arabischen Frühling gelernt, welche katastrophalen Auswirkungen Stabilisierungspolitik in der von mir beschriebenen Form haben
kann. Deshalb stelle ich Ihnen die Frage: Haben auch Sie
daraus gelernt und Ihre Position verändert? Nein, das
Gegenteil ist der Fall. Sie wollen jetzt noch zur Unterdrückung der dortigen Bevölkerung 200 Kampfpanzer
nach Saudi-Arabien liefern. Das halte ich für unerträglich.
({4})
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich habe bewusst nicht
Sie alleine angesprochen, sondern die Handelnden in der
damaligen Regierung. Ich bin davon ausgegangen - hoffentlich auch zu Recht -, dass Sie, alle vier, die ich angesprochen habe,
({0})
sich damals sehr wohl intensiv Gedanken gemacht haben
und nach der Abwägung der Pros und Kontras zu dem
Schluss gekommen sind, die Rüstungsexporte zu genehmigen. Mehr habe ich hier im Augenblick nicht angesprochen.
Es sind jeweils Einzelentscheidungen. Die Genehmigungen müssen die verschiedenen Aspekte berücksichtigen. Der Export von Rüstungsgütern hat sehr wohl - das
ist natürlich ohne jeden Zweifel - Auswirkungen in der
Region. Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass
auch der Nichtexport von Rüstungsgütern Auswirkungen haben kann. Dies ist in jedem Einzelfall abzuwägen.
Hier ist die Bundesregierung exekutiv verantwortlich
- das ist gar keine Frage -, aber die Arbeitsteilung funktioniert nicht, dass wir hier im Parlament für das Gute
und Schöne dieser Welt zuständig sind - speziell dann,
wenn man in der Opposition ist - und dass die Grauzone,
die Interessenvertretung und die schwierige Abwägung,
also die unangenehmen Entscheidungen, ausschließlich
bei der Bundesregierung liegen. Nein, auch wir Parlamentarier müssen uns mit diesen Themen inhaltlich auseinandersetzen, und das tun wir.
({1})
Das tun auch Sie; das ist wunderbar.
Ich habe nichts gegen die Debatte, die Sie hier führen,
aber, Herr Barthel, bei Ihnen habe ich einige Widersprüche festgestellt. Sie sagten, dass auch Sie für Beschäftigung sind. Ich gehe davon aus, dass mit Ausnahme der
Linken alle übrigen vier Parteien dafür sind, dass die
Bundeswehr nach wie vor existiert. Eine Bundeswehr
ohne Waffen ist relativ sinnfrei, also wird die Bundeswehr auch in Zukunft mit Waffen auszustatten sein. Die
Bundeswehr schrumpft.
({2})
Die Frage, die wir uns stellen müssen, Herr Barthel - diese
Frage müssen Sie sich genauso stellen, wie ich und
meine Kollegen sie sich stellen müssen -, lautet: Sind
wir der Meinung, dass es sinnvoll ist, dass die Bundeswehr in Zukunft ausschließlich mit Importwaffen ausgerüstet wird, oder sind wir der Meinung, dass es sinnvoll
ist, dass wir auch in Zukunft in Deutschland eine wehrtechnische Industrie haben, die auch die Bundeswehr
ausrüstet?
({3})
Der Teil des Hauses, der die Koalition bildet, kommt
zum heutigen Tage jedenfalls zu dem Schluss, dass die
Aufrechterhaltung einer wehrtechnischen Industrie in
Deutschland durchaus in unserem eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interesse ist; sie ist also nicht nur,
aber auch in unserem wirtschaftlichen Interesse.
({4})
Herr Barthel, Sie kommen aus dem schönen Ort Kochel am See.
({5})
Ich kann aber nicht davon ausgehen, dass in Zukunft auf
dem schönen Kochelsee deutsche U-Boote eingesetzt
werden können oder dass der Gemeinderat von Kochel
deutsche U-Boote einsetzt.
({6})
Von daher müssen wir uns schon überlegen, wohin wir
diese U-Boote verkaufen können.
({7})
Meine Damen und Herren, wir müssen jeweils eine
Abwägungsentscheidung treffen. Ich rege an, dass wir
uns über die Zielkonflikte und Interessenkonflikte, die es
ohne Zweifel gibt, im Parlament intensiv auseinandersetzen. Aber für das Handeln ist die Exekutive zuständig. Wir haben großes Vertrauen, dass diese Bundesregierung in ähnlicher Offenheit und vor allen Dingen mit
ähnlicher Gewissenhaftigkeit handelt, wie es die vergangenen Regierungen getan haben. Insofern besteht für
Aufregung keinerlei Anlass.
Schönen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans-Christian Ströbele.
({0})
Herr Kollege Stinner, Sie haben sich in unsere Fraktionsangelegenheiten eingemischt
({0})
und behauptet, ich hätte für die heutige Debatte kein Rederecht bekommen. Das ist nicht wahr. Mir ist Rederecht
angeboten worden. Ich habe es aber nicht gewollt,
({1})
weil ich dachte, dass die Kollegin Keul, die in unserer
Fraktion für dieses Thema federführend zuständig ist,
acht Minuten Redezeit braucht, um ausführlich darzustellen, was wir mit unseren zwei Anträgen beabsichtigen. Das ist aber nicht der Grund, warum ich mich gemeldet habe.
({2})
Sie haben angekündigt, dass Sie, die FDP-Fraktion,
und möglicherweise auch Teile der CDU/CSU-Fraktion,
die Rolle der Grünen und von Teilen der SPD-Fraktion
unter Rot-Grün einnehmen wollen. Ich finde, das ist eine
sehr gute Idee. Dann fordere ich Sie aber auf: Handeln
Sie so, wie wir unter Rot-Grün gehandelt haben! Auch
damals ging es um eine Panzerlieferung, die von der
Bundesregierung noch nicht genehmigt, aber gewollt
war. Damals sollten 1 000 Panzer in die Türkei geliefert
werden. In der Öffentlichkeit fanden viele Diskussionen
darüber statt. Die grüne Fraktion und zahlreiche Mitglieder der SPD-Fraktion haben gesagt: Das geht nicht. Dabei machen wir nicht mit. Das darf unsere Regierung
nicht machen.
({3})
Der Erfolg dieser standhaften Haltung besteht darin,
dass bis heute nur einer der 1 000 Panzer geliefert worden ist, ein Demonstrationspanzer.
Ich fordere Sie auf: Machen Sie bitte dasselbe, wenn
es um die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien geht!
Sie haben dafür viel mehr Gründe, als wir sie hatten, als
es damals um die Panzerlieferungen in die Türkei ging.
Stehen Sie auf, seien Sie mann- und frauhaft und sagen
Sie: Bundesregierung, das ist unmöglich. Das ist ein Verrat an den Prinzipien, auf die sich die Fraktionen und Regierungen geeinigt haben. Das wäre ein grober Verstoß
gegen die Menschenrechte. - Stehen Sie auf, halten Sie
durch, und fordern Sie Ihre Regierung auf, diese Panzerlieferungen endgültig zu stornieren!
({4})
Oder wollen Sie, dass Ihr Außenminister nach all
dem, was man ihm schon jetzt vorwirft, eines Tages nach
Saudi-Arabien oder nach Bahrain reisen und den Menschen klarmachen muss, warum mit Panzern, die
Deutschland geliefert hat und deren Lieferung Sie zugestimmt haben, dort Demokratiebewegungen niedergewalzt und blutig niedergeschlagen worden sind? Wollen
Sie, dass der Außenminister - der jetzige oder wer auch
immer dann Außenminister sein mag - in eine solche Situation kommt? Das können Sie nicht wollen. Deshalb:
Verhindern Sie diese Panzerlieferungen!
({5})
Herr Stinner, bitte, zur Erwiderung.
Vielen Dank. - Herr Ströbele, vielen Dank für die Information zu Ihrem Rederecht. Ich warte dann auf weitere feurige Reden von Ihnen im Namen Ihrer Fraktion
im Deutschen Bundestag in den nächsten Wochen und
Monaten.
Zu dem anderen Thema. Ich kann Ihnen versichern,
dass wir Sie uns unter gar keinen Umständen zum Beispiel nehmen werden. Ich kann Ihnen versichern, dass
wir bei unserer Linie bleiben werden: Wir werden an den
Forderungen, die wir in Oppositionszeiten erhoben haben, und an dem Verhalten, das wir damals zum Thema
Rüstungsexporte an den Tag gelegt haben, in unserer Regierungszeit festhalten.
({0})
Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihrem Beispiel nicht
folgen werden. Sie haben große Reden gehalten. Aber
Ihre Vertreter in der Bundesregierung haben sämtlichen
Rüstungsexporten zugestimmt, auch denen in die kritischen Länder, um die es heute geht. Dieses Verhalten
werden wir uns nicht zum Beispiel nehmen. Wir werden
die schwierigen Abwägungsentscheidungen jeweils in
voller Verantwortung treffen. Sie sind für uns kein Beispiel, weder heute noch morgen.
({1})
Der Kollege Dr. Rolf Mützenich hat jetzt das Wort für
die Fraktion der SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde, das ist eine wichtige und in weiten
Teilen auch eine sehr ernsthaft geführte und angemessene Debatte. Ich danke dem Kollegen Fritz und auch
anderen Kollegen, die im Rahmen der Möglichkeiten eines frei gewählten Abgeordneten immer wieder versuchen, über das hinauszugehen, was in den Fraktionen
und vielleicht auch in der Koalition möglich ist.
Umso überraschter war ich, als ich gestern Abend auf
www.tagesschau.de ein Gespräch nachgelesen habe, das
das Verteidigungsministerium mit der Rüstungsindustrie
offensichtlich geführt hat. In diesem Interview antwortete der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der
Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, Herr
Adamowitsch, auf Fragen des ARD-Hauptstadtstudios.
Ich zitiere ihn:
Klar ist, wenn weniger bestellt wird, hat das auch
Konsequenzen für die Unternehmen, für den Zulieferer-Bereich und wir werden dann mit dem Vertei15676
digungsministerium auch über die Frage von Export nachdenken, wo wir sicherlich Unterstützung
brauchen, aber auch zugesagt bekommen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere des
Kabinetts und des Verteidigungsministeriums, erklären
Sie uns heute hier im Parlament, was Sie der Rüstungsindustrie gestern Abend zugesagt haben!
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Kossendey, sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie belasten eine wichtige Bundeswehrreform und betreiben
ein Koppelgeschäft, das weder politisch noch moralisch
zulässig ist. Ich finde, Sie müssen hierzu heute noch
Stellung nehmen.
({1})
Das verlangen wir und auch dieses Parlament.
({2})
Es gibt in der Tat einen unmittelbaren Zusammenhang - Herr Stinner, das ist richtig - zwischen einer demokratischen Außenpolitik, also der Außenpolitik eines
demokratischen Staates, und einer transparenten Rüstungsexportpolitik. Deswegen sollten Regierung und
Parlament in dieser Frage zusammenwirken. Auch ich
will nicht, dass das Parlament einzelne Rüstungsgeschäfte genehmigt, ich will aber mehr Informationen. Ich
will gar nicht hören, was Frau Merkel und Herr
Westerwelle im Bundessicherheitsrat im Einzelnen möglicherweise gesagt haben; aber wenn die Entscheidung
getroffen worden ist, dann müssen Sie hier Rede und
Antwort stehen und erklären - sowohl gegenüber dem
Parlament als auch gegenüber der Öffentlichkeit -, warum Sie einem so sensiblen Geschäft, wie 200 Panzer
nach Saudi-Arabien zu liefern, zugestimmt haben.
Deshalb haben wir heute hier erneut einen Antrag
vorgelegt, mit dem wir unseren Antrag vom März wieder aufgenommen haben, worin wir beantragt haben,
über die Beweggründe informiert zu werden. Wenn Sie
als Bundesregierung uns über diese Beweggründe informieren müssten, dann bräuchten Sie auch nicht wieder
Hilfsargumente einzuführen, die ich persönlich wirklich
als hochpeinlich empfunden habe.
({3})
Die Bundesregierung hat Israel für ein Rüstungsgeschäft mit Saudi-Arabien als Argument angeführt. Das
war weder der Situation noch den Herausforderungen,
vor denen wir zurzeit in der arabischen Welt stehen, angemessen. Nehmen Sie dieses Rüstungsgeschäft Ende
des Jahres, wenn Sie wieder darüber befinden werden,
zurück!
({4})
Es geht nicht nur um Beteiligung und Begründung. Sie
sollten sich insbesondere auch die Erfahrungen aus anderen Parlamenten zum Vorbild nehmen. Mehr machen wir
doch auch nicht, Herr Stinner, weil auch wir Fehler gemacht haben. Wir glauben, dass die Rüstungsexportrichtlinien richtig sind, aber jetzt aufgrund der Erfahrungen
der Überarbeitung bedürfen. Deshalb versuchen wir,
diese Informationen zu bekommen. In Schweden, in
Großbritannien, in den USA und in anderen Ländern ist
das der Fall. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, als
dass Parlament und Öffentlichkeit informiert werden,
fordern wir hier.
({5})
Ich glaube, das ist richtig und hilft einer demokratischen
Außenpolitik weiter.
({6})
Wenn wir heute über Rüstungsexporte sprechen, dann
dürfen wir meiner Meinung nach nicht nur über die Anbieterseite reden, sondern wir müssen auch über die
Seite der Nachfrager diskutieren. Das betrifft insbesondere den Nahen und Mittleren Osten. Der Nahe und
Mittlere Osten ist in der Tat ein Pulverfass, das nicht an
zu wenig Rüstung, sondern an zu viel Rüstung leidet.
Wir haben über die Panzerlieferungen gesprochen. Wir
haben hier schon über den 240-Milliarden-Deal gesprochen, den die USA mit Saudi-Arabien abgeschlossen haben. Ich finde, wenn wir eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik in Europa betreiben, dann müssen wir
versuchen, genau das Prinzip einzuführen, das Europa
sicherer gemacht hat, nämlich Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Es ist mein Angebot vonseiten der Opposition, zusammen mit den Parlamentariern und auch dieser Bundesregierung zu sagen: In dieser Region ist Vertrauensbildung notwendig, sind konventionelle Abrüstung und
Rüstungskontrolle notwendig, ist ein Frieden zwischen
Israel und Palästina existenziell. Es geht nicht nur um
Rüstung und Rüstungsexporte, sondern auch um Abrüstung. Beide Dinge gehören zusammen und müssen heute
auf den Tisch.
Das ist doch auch der Grund, warum wir so froh über
das sein müssen, was junge und mutige Menschen in der
arabischen Welt vorantreiben. Es geht nicht allein um
Demokratie, sondern auch um freiere und gerechtere Gesellschaften. Unsere Erfahrung ist: Freiere, gerechtere,
demokratischere Gesellschaften sind der Abrüstung und
Rüstungskontrolle zugeneigter.
({7})
Deswegen setzen wir große Hoffnungen in das, was dort
passiert. Es geht letztlich auch um Europa und um das
Thema, das wir heute hier behandeln, um Rüstungsexporte. Wir als Parlament, das demokratische Außenpolitik will, haben aufgrund dieser Veränderungen die
Chance, das Thema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“
dort einzubringen.
Es gibt dazu Initiativen in dieser Region, die langsam
wachsen. Der Golfkooperationsrat hat sich dafür ausgesprochen, eine kernwaffenfreie Zone im Persischen Golf
einzurichten. Unterstützen wir ihn dabei!
({8})
Ich glaube, das ist richtig. Darüber müssen wir mit den
Franzosen und den Briten sprechen. Wenn die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Rahmen der Überprüfungskonferenz zum Kernwaffensperrvertrag entschieden hat, eine von Massenvernichtungswaffen freie
Zone im gesamten Nahen und Mittleren Osten zu installieren, dann bedarf dies der Unterstützung dieses Parlaments, aber auch dieser Regierung. Wir werden dann
nicht mehr nur über Rüstungsexporte diskutieren müssen, sondern auch darüber, dass in dieser Region weniger Rüstung insgesamt besser ist. Insofern dürfen wir
diese Region nicht mit mehr Waffen ausstatten. Wenn es
gelingt, Transparenz und Zurückhaltung bei Rüstungsexporten zu erreichen und das Instrument „Abrüstung und
Rüstungskontrolle“ einzuführen, haben wir mehr davon.
Dann stärken wir eine demokratische Außenpolitik.
Wir wollen dazu beitragen. Deswegen haben wir diesen Antrag vorlegt. Ich hoffe, dass Sie diesem Antrag
zustimmen.
Vielen Dank.
({9})
Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Reinhard
Brandl jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Hintergrund dieser Debatte steht die mögliche
Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien. Über diesen
Vorgang liegen keine offiziellen Fakten vor; über ihn
wird, ausgehend von der Presseberichterstattung, munter
spekuliert.
({0})
Ich kann dazu nichts sagen, weil ich genauso wenig
wie Sie über den Vorgang informiert bin. Diejenigen, die
dazu etwas sagen könnten, die Mitglieder des Bundessicherheitsrats, dürfen dazu nichts sagen, weil sie zur
Geheimhaltung verpflichtet sind.
({1})
Ich gebe Ihnen recht: Das ist eine unbefriedigende Situation.
({2})
Aber das heißt nicht, dass sich die Mitglieder des Bundessicherheitsrats niemals für ihre Entscheidungen
rechtfertigen und verantworten müssen. Sollte eine solche Lieferung tatsächlich stattfinden, wird sie natürlich
veröffentlicht:
({3})
erstens im jährlichen Rüstungsexportbericht - Frau
Keul, ich bin mit Ihnen einig, dass dieser schneller vorliegen sollte -, zweitens über Pressemitteilungen, sofern
es sich bei dem Lieferanten um ein börsennotiertes Unternehmen handelt, und drittens natürlich über die Medienberichterstattung. Eine Lieferung von Panzern oder
ähnlichem Gerät lässt sich doch gar nicht geheim halten.
({4})
Es geht also nicht darum, grundsätzlich etwas zu verheimlichen.
Die Frage ist, ob es tatsächlich in unserem deutschen
Interesse wäre, wenn wir im Deutschen Bundestag bereits im Vorfeld eines möglichen Auftrags über das Für
und Wider diskutierten, so wie es hier in Ansätzen versucht wird. Ich meine, nein. Das möchte ich auch begründen: Dadurch, dass Anfragen und Voranfragen geheim behandelt werden, behält die Regierung einen
größeren Entscheidungsspielraum. Sie hat dadurch insbesondere eine größere Freiheit, auch einmal Nein zu sagen. Wenn jede Anfrage veröffentlicht würde, wäre jede
Ablehnung eine öffentliche Brüskierung des betreffenden Landes. Das wäre vor allem innenpolitisch öffentlichkeitswirksam. Für jede weitere Zusammenarbeit mit
dem Land und damit auch für die Möglichkeit der Einflussnahme, um dort wirklich etwas zu verändern, wäre
das sicherlich nicht hilfreich.
Unsere großen Partnerländer - ich nenne als Beispiel
die USA - treiben es genau andersherum auf die Spitze.
Sie nutzen die Lieferung von Rüstungsgütern, um Einfluss zu nehmen und Abhängigkeiten zu schaffen. Denn
für jedes komplexere Waffensystem braucht ein Land für
den langfristigen Betrieb die Logistik, die Wartung und
die Ersatzteile vom Lieferanten. Wenn es ein System importiert, ist es abhängig von der Zustimmung des Landes, das exportiert.
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Frau Keul
zulassen?
Gern.
Das ist der Fall. - Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Kollege Brandl, Sie haben gerade gesagt, wir könnten hier nicht öffentlich über ablehnende Entscheidungen sprechen, weil das diplomatischen Schaden verursachen würde. Glauben Sie denn,
dass der diplomatische Schaden in irgendeiner Weise
größer wäre, als wenn wir zum Beispiel über den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung sprechen, in
dem Menschenrechtsverletzungen in all diesen Ländern
haarklein aufgeführt sind?
({0})
Es geht mir nicht darum, die Themen, die Sie ansprechen, nicht öffentlich anzusprechen und im Parlament zu
debattieren. Was ich sage, ist, dass, wenn wir im Vorfeld
über solche Anfragen - es werden sehr viele Anfragen
gestellt, im Jahr ungefähr 16 000 - immer debattierten
und sie auch auswählten, der Entscheidungsspielraum,
den die Regierung hat - einmal sagt sie Nein, einmal Ja,
vielleicht stellt sie auch einmal Bedingungen -, verkleinert würde.
({0})
- Aber ich glaube nicht, dass es immer in Ihrem Interesse ist, diesen Entscheidungsspielraum zu verkleinern.
Unabhängig davon geht es bei der Frage, ob wir über
Anfragen nach Rüstungsgütern öffentlich oder nichtöffentlich debattieren, nicht nur um die Abhängigkeiten anderer Länder, sondern indirekt auch um unsere eigene nationale Souveränität. Denn unabhängig von der Chance
auf Genehmigung würde doch kein Land mehr bei einem
deutschen Unternehmen anfragen, wenn es wüsste, dass
diese Anfrage dann Gegenstand einer öffentlichen Debatte würde. Hinter einer solchen Anfrage stecken ja immer auch langfristige nationale Sicherheitsinteressen und
strategische Überlegungen, die man nicht auf dem Markt
ausgetragen haben möchte. Zudem würden mit der Öffentlichkeit mögliche Wettbewerber unterrichtet, die ihre
Aktivitäten entsprechend darauf abstellen könnten.
Wenn man möchte, dass aus Deutschland grundsätzlich kein Rüstungsexport mehr stattfindet, dann kann
man ein solches Verfahren wählen. Dann muss man ehrlicherweise aber dazusagen, dass man keine wehrtechnische Industrie mehr in Deutschland haben möchte. Ohne
die grundsätzliche Möglichkeit zum Export könnte kein
Unternehmen der Branche existieren. Der nationale
Markt ist dafür viel zu klein.
Herr Kollege, der Kollege Duin möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie die zulassen? Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Kollege Dr. Brandl, bevor Sie
zum Schluss kommen: Der Kollege Mützenich hat gerade ein Thema angesprochen, das ich für von besonderer Bedeutung halte. Deswegen frage ich Sie: Können
Sie uns aufklären, was gestern Abend zwischen dem
Verteidigungsminister und der Rüstungsindustrie verabredet wurde? Mich interessiert insbesondere, was darunter zu verstehen ist, die sich aus der Bundeswehrreform
ergebenen Veränderungen würden kompensiert, eventuell durch verstärkten Export.
Nein, ich kann Sie nicht aufklären. Ich war bei dem
Gespräch nicht dabei.
({0})
- Mir geht es nicht grundsätzlich darum, mit der Rüstungsindustrie Arbeitsplätze zu erhalten. Einen Arbeitsplatzverlust könnten wir volkswirtschaftlich verkraften.
Nicht so einfach verkraften könnten wir aber den Verlust
technologischer Fähigkeiten
({1})
und den damit verbundenen Verlust an nationaler Souveränität.
({2})
Denn dann wären wir bei der Kernaufgabe unseres Staates, der Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit,
plötzlich abhängig vom guten Willen anderer Länder.
Das ist nicht im Interesse Deutschlands.
Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass wir jeden Export genehmigen müssen. Im Gegenteil: Wir verfolgen sogar eine restriktive Exportpolitik. Die Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte haben deswegen ein
Verfahren entwickelt, um die verschiedenen Interessen
der Außenpolitik, der Menschenrechte, der Wirtschaft,
des Parlaments und der Öffentlichkeit in vernünftiger
Weise auszubalancieren.
Die jetzige Regierung hat das Verfahren und die zugrunde liegenden Richtlinien unverändert von Rot-Grün
übernommen.
Möchten Sie noch eine Frage von Herrn Barthel zulassen? - Nein.
Die Entscheidungen erfolgen einzelfallbezogen unter
besonderer Berücksichtigung der außenpolitischen Situation und der Menschenrechtslage im Empfängerland.
Jede Regierung ist damit bisher verantwortungsvoll umgegangen. Das gilt auch für die Regierung von Angela
Merkel.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Johannes Selle hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Für mich ist es nicht einfach, zu diesem
Thema zu sprechen; denn als Mitglied im Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
möchte ich gern beim Aufbau einer friedlicheren Welt
mitarbeiten, die Potenzen Deutschlands in Technologie
und Wirtschaft dafür nutzen und Demokratie und Menschenrechte fördern.
({0})
Ich sehne mich nach einer Welt ohne Waffen, ohne
Furcht und ohne Feindschaft.
Es ist klar: Waffen verschärfen Konflikte. Also lautet
die einfache Lösung: keine Waffen. So einfach sieht die
Welt von links aus, wie die zahlreichen Anträge zeigen.
So einfach ist die Welt aber nicht. Grundlage für die Entscheidung über Rüstungsexporte sind die sehr restriktiven politischen Grundsätze der Bundesregierung für den
Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern
und die gemeinsamen Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern des Rates
der Europäischen Union. Der Kollege Stinner hat eindrücklich daraus zitiert. So wird es auch in den Vorbemerkungen der Anträge von SPD und Grünen gesehen.
Diese Grundsätze sind wesentlich unter Grün mitgestaltet und von der Bundesregierung nicht aufgeweicht, sondern fortentwickelt worden. Aufgrund dieser Regelungen sind Rüstungsexporte in die kritischen Regionen
zurzeit ausgesetzt.
Bei dem Versuch, demokratische Staaten aufzubauen
- insbesondere nach einem Regimewechsel -, geht es
nicht nur um Bildungsstrukturen, Brunnenbohren und
Impfkampagnen, sondern ganz zu Beginn um die Schaffung von Sicherheitsstrukturen, den Aufbau einer demokratischen Polizei und Armee und um Grenzsicherung.
({1})
Nicht vergessen werden darf die Terrorismusbekämpfung, bei der man auf immer stärkere Waffen trifft.
({2})
Das wird auch in Nordafrika so sein. Es stellt sich
schon die Frage, warum für diese Länder ein grundsätzliches Waffenexportverbot gelten soll. Auch werden wir
das Recht eines Landes auf Selbstverteidigung nicht aufgeben können. Leider muss auch die zunehmende Piraterie in manchen Regionen der Welt erwähnt werden, deren Bekämpfung im Interesse aller ist.
Das Thema Rüstungsexport ist vielgestaltig und nicht
leicht abzugrenzen. Bei internationalen Kooperationen
erreichen deutsche Zulieferungen für Rüstungsprodukte
über andere Staaten kritische Regionen. Zu diesen Gütern werden im Übrigen auch Motoren, Getriebe, Fernrohre und teilweise sogar Sitze gezählt. Problematisch
sind die Lizenzen für die Produktion von Produktteilen
oder vollständigen Produkten.
Wenn von einer vertrauensvollen internationalen Zusammenarbeit ausgegangen werden kann, dann werden
auch Wünsche nach Produkten der deutschen Rüstungsindustrie geäußert. In der Vergangenheit sind möglicherweise Entscheidungen getroffen worden, die im Lichte
der weiteren Entwicklung zu bedauern sind. Im politischen Handeln wird das wohl nie gänzlich zu vermeiden
sein, obwohl deutsche Entscheidungen sorgfältig abgewogen werden. Die deutsche Politik zieht aus solchen
Fällen Lehren. Auf jeden Fall ist der Vorwurf einer unkritischen Beurteilung ungerechtfertigt.
So einfach, wie es im Antrag der Grünen steht, ist es
nicht. Dort heißt es:
Durch deutsche Rüstungslieferungen werden oft
noch Jahre und Jahrzehnte nach der erfolgten Lieferung bestehende Spannungen und Konflikte ausgelöst …
({3})
So einfach ist die Welt nicht. Diese vereinfachende
Sichtweise können wir vernünftigerweise nicht übernehmen.
({4})
Das Fehlen deutscher Waffen führt bestimmt nicht dazu,
dass Konflikte beseitigt werden. Waffen werden von
Menschen eingesetzt. Es ist ein langer und mühevoller
Weg, Menschen davon zu überzeugen, dass die friedliche Lösung von Konflikten und die Überbrückung unterschiedlicher Auffassungen für die Menschen und die Natur besser wären.
Herr Selle, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duin zulassen?
Nein, das möchte ich nicht.
({0})
Dem stehen starke Kräfte wie Macht, Einfluss und
Geld gegenüber. Gerade am Beispiel Libyens können
wir sehen, wie vor keiner Gräueltat haltgemacht wird,
um Macht zu retten. Wir werden es leider nicht erleben,
dass Waffen auf der Erde keine Rolle mehr spielen.
Der politischen Realität am nächsten kommt noch der
Antrag der SPD in seiner Kürze. Aber aus ihm weht uns
das Misstrauen gegenüber der Regierung entgegen,
wenn er von einer Hintertür spricht, die es gebe. Herr
Kollege Barthel hat dieses Misstrauen explizit ausgedrückt. Es gehört zum bekannten parlamentarischen Verhalten, dass die Opposition der Regierung misstraut.
Dem Verhalten werden wir nicht folgen. Sorgfältige Abwägung, europäische und internationale Abstimmungen
und auch kritische Begleitung sind dem Thema angemessen.
({1})
Andreas Lämmel hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Es wäre für den Redner wunderbar, wenn wir noch etwas ruhiger sein könnten, als wir es schon sind.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das ist die fünfte Debatte zum Thema Rüstungsexporte in diesem Jahr, und es soll immer noch etwas
Neues geben.
({0})
- Es ist noch nicht die letzte. Wir haben noch zwei Monate und fünf Sitzungswochen. Ich denke, es wird schon
noch ein interessanter Antrag von Ihnen kommen.
In der ganzen Debatte sind keine wirklich neuen Gesichtspunkte aufgetaucht. Ich möchte darauf hinweisen,
dass sich Deutschland eine strenge Selbstbeschränkung
bei Rüstungsexporten auferlegt hat.
({1})
Diese politischen Grundsätze der Bundesregierung wurden im Jahr 2000 beschlossen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und von den Grünen, es sind also
die Grundsätze einer rot-grünen Regierung. Wenn Sie
diese Grundsätze jetzt kritisieren, dann kritisieren Sie Ihr
eigenes Tun.
({2})
In diesen Grundsätzen ist auch die jährliche Vorlage eines Rüstungsexportberichts enthalten. Sie hätten damals
die Möglichkeit gehabt, den Rüstungsexportbericht vierteljährlich erstellen zu lassen. Sie haben es nicht gemacht. Also bitte: Die Kritik läuft erst einmal ins Leere,
auch wenn ich zugebe, dass der jährliche Rüstungsexportbericht dem Parlament natürlich wesentlich zeitnäher überstellt werden könnte.
({3})
Wenn man sich einmal die Struktur der deutschen
Rüstungsexporte anschaut, dann stellt man fest, dass
über die Hälfte aller Exporte in europäische Staaten gehen, in NATO-Staaten oder in der NATO gleichgestellte
Länder. Der Anteil von Waffenexporten in Entwicklungsländer liegt unterhalb von 10 Prozent. Das muss
man ganz einfach zur Kenntnis nehmen.
({4})
Ich will noch auf zwei Aspekte kurz eingehen. Zum
einen an die Linken gerichtet: In Ihren Reihen sitzen
noch genügend Kolleginnen und Kollegen, die früher
Mitglied der SED waren. Sie erinnern sich vielleicht an
den 3. Dezember 1989, als in Kavelstorf bei Rostock eines der größten Waffenlager ausgehoben wurde, das
Herr Schalck-Golodkowski damals unterhalten hat.
Wenn man sich die Liste der belieferten Staaten anschaut,
({5})
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
dann sieht man, dass Sie die Staaten, die Sie heute in Ihren Anträgen aufführen, mit Waffen in Größenordnungen aller Kaliber - mit leichten Waffen, mit schweren
Waffen, mit Panzern - beliefert haben.
({6})
Die DDR hat dazu beigetragen, dass die Welt mit Waffen
überschwemmt wurde. Da können Sie doch jetzt nicht
den Friedensengel spielen.
({7})
Wer im Glashaus sitzt, sollte schon gelegentlich einmal
darüber nachdenken, mit welchen Aktionen man an die
Öffentlichkeit tritt.
Nun hat sich Herr Mützenich über das Interview ereifert, das gestern im Rahmen der ARD gelaufen ist. Ich
bin bei dem Gespräch natürlich auch nicht dabei gewesen;
({8})
aber zwei Dinge muss man doch einmal festhalten.
Da wurde Herr Adamowitsch, Hauptgeschäftsführer
des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und
Verteidigungsindustrie, angesprochen. Daran kann man
natürlich sehen, wie kurz der Weg von einem sozialdemokratischen Staatssekretär zum Waffenlobbyisten geworden ist.
({9})
Herr Adamowitsch ist Mitglied der SPD und war auch
Staatssekretär für die SPD. Verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, Sie werden doch Herrn
Adamowitsch nicht unterstellen, dass er illegale Geschäfte betreibt.
({10})
Aber Ihre Unterstellung, dass der deutsche Außenminister die wehrtechnische Industrie dahin gehend unterstützt, illegale Geschäfte zu machen, finde ich schon
ein starkes Stück, muss ich Ihnen sagen. Das geht,
glaube ich, etwas zu weit; das sollten Sie zurücknehmen.
Es geht ja nicht bloß darum, dass Waffen exportiert werden; es werden auch Leistungen exportiert, zum Beispiel
Ausbildungsleistungen. Es geht sehr viel in unsere Partnerländer, in NATO-Staaten. An einem solchen Interview festzumachen, es ginge hier um illegale Geschäfte,
das sollte die SPD nicht weiterverfolgen. Auch der Bundeswirtschaftsminister setzt sich im internationalen
Maßstab für Exporte deutscher Unternehmen in die Welt
ein - und das erwarten wir auch von ihm.
Zusammenfassend sage ich: Die Debatte heute hat
nicht viel Neues erbracht. Die Anträge, die gestellt worden sind, sind schon genügend kommentiert worden. Ich
glaube, es ist Zeit, dass wir jetzt zur Abstimmung kommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Ich weise darauf hin, dass ausweislich des Protokolls
der Kollege Martin Lindner die Kollegin WieczorekZeul als Heuchlerin bezeichnet hat. Das weise ich als unparlamentarischen Ausdruck ausdrücklich zurück.
Wir kommen zu den namentlichen Abstimmungen
über 16 Anträge der Fraktion Die Linke, über den Antrag der Fraktion der SPD und über den ersten Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, alle zur Rüstungsexportpolitik. Verabredet ist, diese insgesamt 18 namentlichen Abstimmungen auf einem Stimmzettel durchzuführen. Die Stimmzettel erhalten Sie, falls das noch
nicht geschehen ist, von den Parlamentsassistentinnen
und -assistenten hier im Saal. Schreiben Sie bitte zunächst Ihren Namen und die Bezeichnung Ihrer Fraktion
deutlich für andere lesbar in Druckbuchstaben auf den
Stimmzettel. Stimmzettel, die keinen Namenszusatz haben, sind ungültig.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter den Buchstaben a bis p seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6335 die Ablehnung der Anträge der Fraktion Die Linke. Bitte beachten Sie: Es ist
verabredet, dass unmittelbar über diese Anträge und
nicht über das jeweilige Votum der Beschlussempfehlung abgestimmt wird. Sie stimmen also direkt über die
Anträge ab.
Zu dem Antrag der Fraktion der SPD sowie zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liegen keine
Beschlussempfehlungen vor.
Auf dem Stimmzettel finden Sie eine Auflistung der
18 abzustimmenden Anträge. Sie können bei jedem einzelnen mit Ja, Nein oder Enthaltung stimmen, indem Sie
das entsprechend ankreuzen. Einzelne Abstimmungen
mit mehr als einem Kreuz sind ungültig, auch solche, die
kein Kreuz enthalten.
Sie können die Kreuze auf Ihrem Stimmzettel gern an
Ihrem Platz machen. Nachdem Sie den Stimmzettel ausgefüllt haben, werfen Sie ihn bitte in eine der vorgesehenen Urnen - sobald die Schriftführerinnen und Schriftführer das ermöglichen. Jene bitte ich, jetzt ihren Platz
einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seinen Stimmzettel nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Da die vollständige Auswertung der Stimmzettel einen erheblichen Zeitaufwand erfordert, werden die
Schriftführerinnen und Schriftführer zunächst noch kein
zahlenmäßiges Ergebnis ermitteln, sondern nach Sichtung der Stimmzettel feststellen, ob die Anträge angenommen oder abgelehnt wurden. Das vorläufige Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen später bekannt
gegeben.
Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 3. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7355
an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Auf Verlangen der Fraktion Die Linke unterbrechen
wir wegen einer Fraktionssitzung die Plenarsitzung für
circa eine Stunde. Der Wiederbeginn der Sitzung wird
rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich komme zurück zu dem Tagesordnungspunkt 4 a
bis c. Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben
mir mitgeteilt, dass die 16 Anträge der Fraktion Die
Linke auf den Drucksachen 17/5935 bis 17/5950, der
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7336
und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6931 zum Rüstungsexport mehrheitlich
abgelehnt worden sind. Das detaillierte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung wird später im Stenografi-
schen Bericht veröffentlicht.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis h sowie
den Zusatzpunkt 4 a und b auf:
31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes und zur Änderung des
Unterlassungsklagengesetzes
- Drucksache 17/7235 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2012 ({1})
- Drucksache 17/7236 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 17. Juni 2010 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
dem Ministerrat der Republik Albanien über
die Seeschifffahrt
- Drucksache 17/7237 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Vizepräsident Eduard Oswald
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufas-
sung des Erdölbevorratungsgesetzes und zur
Änderung des Mineralöldatengesetzes
- Drucksache 17/7273 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vergaberechts für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit
- Drucksache 17/7275 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 3. Februar 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem König-
reich Spanien zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und zur Verhinderung der Steuer-
verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/7318 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
g) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA
- Drucksache 17/7354 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ewa
Klamt, Albert Rupprecht ({5}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger,
Dr. Martin Neumann ({6}), Sylvia Canel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung
- Drucksache 17/6504 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Beate Müller-Gemmeke, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von
Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung ({8})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Richtlinie zur konzerninternen Entsendung
grundsätzlich überarbeiten
- Drucksache 17/4885 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von
Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung ({10})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Rechte der Saisonarbeitskräfte stärken
- Drucksache 17/5234 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Vizepräsident Eduard Oswald
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis h auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 32 a:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 6. April 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Albanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen
- Drucksache 17/6613 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
29. Dezember 2010 zur Änderung des Abkommens vom 24. August 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/6614 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12})
- Drucksache 17/7300 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({13})
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
mit der Republik Albanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der
Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7300, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/6613 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit Mehrheit angenommen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll zur
Änderung des Abkommens mit der Republik Österreich
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der
Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7300, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/6614 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({14}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Claudia Roth ({15}), Dr. Frithjof Schmidt, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
wiederbeleben
- Drucksachen 17/5042, 17/7385 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Bareiß
Dietmar Nietan
Michael Link ({16})
Andrej Hunko
Manuel Sarrazin
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7385, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5042 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion.
Gegenprobe! - Fraktion der Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 32 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 318 zu Petitionen
- Drucksache 17/7201 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht
318 angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 319 zu Petitionen
- Drucksache 17/7202 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die
Sammelübersicht 319 angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 32 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 320 zu Petitionen
- Drucksache 17/7203 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Linksfraktion und sozialdemokratische Fraktion.
Wer stimmt dagegen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 320 angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 321 zu Petitionen
- Drucksache 17/7204 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/
Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 321 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 322 zu Petitionen
- Drucksache 17/7205 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 322 angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 323 zu Petitionen
- Drucksache 17/7206 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht
323 angenommen.
Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 5:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Brandanschlagserie auf Bahnanlagen und
linksextremistisch motivierte Gewalt
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion der
CDU/CSU hat sich als erster Redner unser Kollege
Dr. Jan-Marco Luczak gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege.
({23})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wieder einmal ist es so weit: Ganz Deutschland
blickt auf Berlin. Leider, muss man sagen; denn wieder
einmal geht es um linksextremistische Gewalt. In letzter
Zeit mussten wir uns im Deutschen Bundestag damit
schon mehrfach befassen. Ich nenne nur den Sprengstoffanschlag auf Berliner Polizisten anlässlich einer Demonstration, bei dem zwölf Beamte verletzt wurden,
oder auch die gewalttätigen Ausschreitungen bei der
Räumung des besetzten Hauses in der Liebigstraße 14.
Damals sind linksextremistische Gewalttäter in Guerillamanier durch die Stadt marodiert.
({0})
Heute blicken wir auf die jüngsten perfiden Brandanschläge auf den Berliner Schienenverkehr. Insgesamt
17 Brandsätze waren es, nicht alle sind detoniert. Zum
Glück ist daher größerer Schaden nicht eingetreten. Zum
Glück sind keine Menschen verletzt oder gar getötet
worden.
Die Frage ist nun: Wie ordnen wir diese Brandanschläge ein? Es lohnt sich, einen Blick auf das Bekennerschreiben zu werfen, das im Internet veröffentlicht
worden ist. Danach geht es den Tätern um den Krieg in
Afghanistan, um den Einsatz der Bundeswehr. Sie
schreiben: „Deutsche Soldaten morden weltweit.“ Das
nehmen sie als Rechtfertigung dafür, die Deutsche Bahn
als Transporteur von Rüstungsgütern zu sabotieren. Ich
finde es wirklich unerträglich, wie über unsere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gesprochen wird.
({1})
Diese Soldaten sind dort, weil wir, der Deutsche Bundestag, sie dorthin gesandt haben. Wir haben sie dorthin
gesandt, weil sie dort für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Menschenrechte sorgen sollen.
({2})
Sie haben es nicht verdient, in dieser Weise beschimpft
zu werden.
Diese Gemengelage aus Brandanschlägen und Kriegskritik weckt ganz besondere Erinnerungen. Es gibt eine
bemerkenswerte Parallele zu den Anfängen der Rote-Armee-Fraktion. Auch die RAF hat einmal „nur“ mit
Brandanschlägen angefangen. Auch damals hieß es, der
Protest gegen den Krieg in Vietnam rechtfertige die
Brandanschläge. Wir wissen alle, wie die Entwicklung
der RAF endete: mit Blut, mit Tränen, mit Tod. Ich sage:
Diese Zeiten wollen wir nicht noch einmal erleben.
({3})
Nun ist ganz klar: Man muss sicherlich genau analysieren, ob man die Taten der RAF mit den jüngsten
Brandanschlägen vergleichen kann. Andernfalls würde
man deren Opfern nicht gerecht werden. Ich selber - das
sage ich Ihnen ehrlich - kann das noch nicht abschließend beurteilen. Aber eines weiß ich sicher: Die Zahl der
linksextremen Straf- und Gewalttaten in unserem Land
nimmt zu. Es ist noch nicht lange her, dass in meiner Heimatstadt Berlin fast jede Nacht ein Auto gebrannt hat. Es
gibt auch immer mehr gewaltbereite Linksextreme. Das
alles bedeutet nicht, dass wir einen zweiten heißen Herbst
vor uns haben. Für mich bedeutet das aber, dass wir
wachsam sein müssen. Der Verfassungsschutz sagt uns
ganz eindeutig, dass eine signifikant erhöhte Aggressivität und Gewaltbereitschaft unter den Linksextremen zu
beobachten ist. Darauf müssen wir reagieren. Davor dürfen wir unsere Augen nicht verschließen. Daher ist es gut
und richtig, dass die Bundespolizei verstärkt vorgeht und
konsequent Präsenz zeigt. Als Berliner bin ich dafür besonders dankbar.
Richtig ist aber auch: Unsere offene und freie Gesellschaft ist verletzlich. Einen absoluten Schutz können weder technische Einrichtungen wie die Videoüberwachung
noch der verstärkte Einsatz von Polizei gewährleisten.
Umso wichtiger ist es daher, dass unsere Gesellschaft einen Konsens darüber hat, dass solche Brandanschläge
unmissverständlich und mit allem Nachdruck verurteilt
werden. Das erwarte ich auch von allen Fraktionen hier
im Deutschen Bundestag.
({4})
Wenn man genau hinschaut, können einem an der einen oder anderen Stelle Zweifel kommen. Da gibt es
zum Beispiel den Kollegen Ströbele von den Grünen. Er
hat, wie wir alle wissen, eine besondere Kompetenz in
Sachen RAF.
({5})
Er sagt, dass hier völlig unterschiedliche Sachverhalte
und gesellschaftliche Situationen miteinander in Verbindung gebracht werden. Er muss es ja wissen. Es sei ihm
auch gegönnt, den gesellschaftlichen Oberlehrer zu spielen und allen anderen Unwissen zu unterstellen. Aber
was ich an dieser Stelle zumindest erwartet hätte, wäre
ein klares Bekenntnis gewesen, dass auch er den Terrorismus ächtet. Das habe ich von ihm aber nicht vernommen. Deswegen sage ich: Das, was er hier macht, ist eine
Verharmlosung. Damit wird er - er ist leider nicht hier seiner Verantwortung als Mitglied des Deutschen Bundestages nicht gerecht.
({6})
Was nicht fehlen darf, wenn wir über Linksextremismus sprechen, ist die Haltung der Linken. Ihre NochBundesvorsitzende Gesine Lötzsch ist bekannt dafür,
dass sie mit ehemaligen RAF-Terroristen auch einmal
Wege zum Kommunismus sucht und Geburtstagsgrüße
an Fidel Castro sendet. Angesichts dessen kann man vielleicht nichts anderes erwarten.
Die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla
Jelpke - sie ist hier -, verharmlost die Brandanschläge
mit den Worten, die Ziele der Gruppe seien durchaus
richtig. Frau Jelpke, Sie werfen Kritikern vor, es gehe ihnen um die Diffamierung jeglicher linken Politik, die
über den tagespolitischen Tellerrand hinausgeht.
({7})
Wenn ich das höre, kann ich nur sagen: Ich bin wirklich
richtig froh, dass die Linke nach wie vor vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wer auf diese Weise öffentlich Solidarität mit linken Gewalttätern bekundet
und Widerstand ausdrücklich als notwendig bezeichnet,
ermutigt diese Gewalttäter zu weiteren Anschlägen, er
ermutigt dazu, weitere Menschen zu gefährden. Wer so
etwas macht, hat im Deutschen Bundestag nichts zu suchen.
({8})
Zum Schluss lassen Sie mich als Berliner Abgeordneter noch Folgendes sagen: Ich bin sehr froh, dass die
Linke nach den Wahlen hier in Berlin nicht mehr an der
Regierung beteiligt sein wird.
({9})
Unter dem rot-roten Senat mit den Linken als Koalitionspartner ist die linksextremistische Szene leider sehr
vernachlässigt worden; das muss man auch einmal sagen. Das rächt sich nun. Deswegen ist es ein gutes Signal für die deutsche Hauptstadt, dass CDU und SPD
über eine große Koalition der Demokraten miteinander
verhandeln.
({10})
Wir als Union werden im Senat sicherstellen, dass die
Berlinerinnen und Berliner vor jeglicher Gewalt geschützt werden, vor religiös motivierter, vor rechtsextremer, aber eben auch vor linksextremer.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Für uns ist und bleibt klar: Niemand darf Opfer blinder Gewalt werden - egal woher sie kommt.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner für die
Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Wolfgang Gunkel. Bitte schön, Kollege Wolfgang
Gunkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An und
für sich hatte ich mir vorgenommen, eine staatstragende
Rede zu halten.
({0})
Ich glaube aber, dass man nach der Rede eben einiges
richtigstellen muss.
Ich will vorwegschicken, dass mit den Taten kriminelles Unrecht begangen worden ist. Es geht also nicht
um eine reguläre Form der politischen Auseinandersetzung, sondern um kriminelle Straftaten, die von der Polizei entsprechend verfolgt werden müssen. Darüber gibt
es keinen Dissens. Es kann auch niemand ernsthaft annehmen, dass dies kritikwürdig wäre.
Das, was hier vorgetragen worden ist, sind meiner
Ansicht nach aber unzulässige Vermengungen mit Vorfällen, die vor 30 oder 40 Jahren stattgefunden haben.
Mit Verlaub, Herr Kollege, ich habe schon in Berlin in
Ermittlungsgruppen zur Terrorismusbekämpfung gearbeitet, als Sie gerade geboren waren.
({1})
Ich kann Ihnen deshalb sagen: Wenn Sie die Vorfälle früher mit denen von heute vergleichen, dann liegen Sie
meterweise daneben.
({2})
Die Bewegungen, die damals eine Rolle gespielt haben - ob man die RAF, die Revolutionären Zellen oder
die Bewegung 2. Juni nimmt -, sind von einer völlig anderen organisatorischen Struktur, politischem Rückhalt
und anderen Dingen geprägt gewesen, als es heute bei
den Politspinnern der Fall ist, die übrigens auch in der
linken Szene auf heftige Kritik an dieser Verfahrensweise stoßen.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter zurückblicken, um das alles zu rekapitulieren. Herr Ströbele wäre
sicherlich der Richtige, um sehr profund darüber Auskunft zu geben.
({4})
Man sollte sich dann aber auch anhören, was er dazu zu
sagen hat.
Jetzt will ich aber das machen, was man üblicherweise tut, nämlich nach vorne schauen. Was die Strukturen in Berlin mit der Landespolizei, mit Brandenburg als
Umfeld und mit der Bundespolizei angeht, kann man nur
eines sagen: Wenn man den Ball einigermaßen flachhalten
und vernünftig argumentieren will, dann kann man das
nur so machen wie der Bundesinnenminister - übrigens
ein besonnenes Mitglied Ihrer Regierungskoalition -, der
gesagt hat, dass das nichts mit Terrorismus zu tun hat,
sondern eine Gewaltstufe der linksextremen Ausrichtungen ist, die entsprechend bekämpft werden muss. Er tut
richtigerweise auch etwas: Er verstärkt den Einsatz der
Bundespolizei.
Wir kommen in diesem Zusammenhang auf einen
Punkt zu sprechen, den man als ursächlich dafür sehen
muss. Wenn Länder und Bund an Polizei und innerer Sicherheit sparen, dann muss man sich nicht wundern,
wenn nicht mehr genügend Ermittlungskapazitäten zur
Verfügung stehen, um solche Straftaten von vornherein
einzudämmen.
Wenn Sie in Berlin zu einer Großen Koalition kommen sollten,
({5})
dann kommen auch Sie in die Gefahr, den Innensenator
zu stellen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie solche Taten verhindern können. Sie können das genauso
wenig verhindern wie jeder andere. Ich bin gespannt,
wie Sie sich dann darstellen wollen.
({6})
Die Maßnahmen, die der Innenminister angekündigt hat,
sind ein richtiger Schritt auf dem Weg zu dem, was man
als Ziel im Blick behalten muss.
Aber zurück zu dem, was tatsächlich geschehen ist:
Bisher gab es ein Bekennerschreiben, das die Vermutung
nahelegt, dass man die Taten dem linksextremen Spektrum zuordnen muss.
({7})
Das ist völlig klar und lässt sich nicht von der Hand weisen.
Die Ermittlungen sind aber noch nicht abgeschlossen.
Der Generalbundesanwalt hat das Verfahren an sich gezogen. Das BKA wird die Ermittlungstätigkeit unterstützen und federführend durchführen. Das bedeutet: Wenn
alle drei Institutionen - die Landeskriminalämter in Berlin und Brandenburg und das BKA - in dieser Sache ermitteln, dann wird man wohl hoffen dürfen, dass es zu
einem vernünftigen und konkreten Ergebnis kommt.
In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Dr. Uhl
zitieren. Herr Dr. Uhl, Sie werden nicht sehr oft von
SPD-Abgeordneten zitiert, aber Sie haben gestern im Innenausschuss etwas sehr Gutes gesagt. Sie haben gesagt,
Sie hätten Vertrauen in das BKA und dessen Präsidenten, der übrigens ein SPD-Mann ist. In diesem Sinne
sage ich: Haben Sie einfach Vertrauen in die polizeilichen Ermittlungen und warten Sie ab, was die Ermittlungen ergeben!
({8})
Dann wird sich vielleicht herausstellen, wer diejenigen
sind, die diese Anschläge verübt haben. Eines ist richtig:
Wenn man das richtig einordnen will, dann muss man
sagen, dass wirklich der Bedarf besteht, das herauszufinden. Denn die Gefahr, dass irgendwann Menschen zu
Schaden kommen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir hoffen alle, dass man bald fündig wird und die
Täter stellen kann.
Die Institutionen, die damit befasst sind, verdienen
unser Vertrauen. Ich glaube, dass wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen werden. Dann hat auch eine solche Dramatisierung, wie sie hier erfolgt und wie wir sie
auch schon vorher im Zusammenhang mit der Liebigstraße 14 und Ähnlichem erlebt haben, ein Ende.
({9})
Sie wollen derartige Vorfälle hochspielen, offenbar
um der Bevölkerung zu suggerieren, dass die SPD und
andere Parteien nicht in der Lage sind, die innere Sicherheit zu gewährleisten.
({10})
Das ist an dieser Stelle lächerlich und auch fahrlässig.
Schönen Dank.
({11})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Jetzt hat für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Stefan Ruppert das Wort. Bitte schön, Kollege
Dr. Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss sagen: Das waren neue Töne von der SPD.
Das kann man einmal hervorheben. Wir führen in diesem Hause seit zwei Jahren, seit im Koalitionsvertrag
steht, dass Linksextremismus, religiös motivierter Extremismus und Rechtsextremismus gleichermaßen zu verfolgen und mit entsprechenden Programmen zu bekämpfen sind, eine merkwürdige Debatte. Sie läuft immer
nach dem gleichen Muster ab: Die Koalition sagt: Alle
Phänomene des Extremismus sind gleichermaßen in den
Blick zu nehmen. Wir müssen schauen, was auf der
rechten Seite, auf der linken Seite und beim religiös motivierten Extremismus passiert. - Immer kommt der gleiche Reflex der Grünen, der SPD und der Linken: Sie
werfen uns vor, wir wollten nur vom Rechtsextremismus
ablenken und diesem wichtigen Phänomen nicht ins
Auge blicken.
({0})
Heute hat der Kollege Gunkel eine Rede gehalten, in der
er als Vertreter der Sozialdemokratie zumindest anerkennt - zum ersten Mal nach meiner Wahrnehmung -,
dass auch der Linksextremismus ein zunehmend gravierendes Problem in Deutschland ist. Auf dem Weg sollten
Sie weitergehen.
({1})
Diese Einsicht teilen die Kolleginnen und Kollegen
der Linken leider nicht. Wir erleben nach der Befreiung
von Auschwitz bei Antisemitismusdebatten und Debatten über Linksextremismus immer wieder das Gleiche.
Ich bin jedes Mal fassungslos, wenn ich von Frau Jelpke
höre, dass die politischen Ziele, die diesen Brandanschlägen zugrunde liegen, durchaus nachvollziehbar und
richtig sind. So etwas ist unerhört und unfassbar. Dem
müssen wir strikt entgegentreten.
({2})
Wir leben - das merken wir auch in den Gesprächen
mit den Wählerinnen und Wählern in den Wahlkreisen in einer Zeit tiefer Verunsicherung. Die Menschen haben
Angst vor der Zukunft. Sie sind unsicher, was sich in den
nächsten Jahren tut. Die Bandbreite der Reaktionen auf
diese Angst erweitert sich derzeit. Alle Antiextremismusprogramme und alle Strafverfolgungsmaßnahmen
werden nicht fruchten, wenn es uns nicht gelingt, die
Mitte der Gesellschaft wieder zu stärken, eine Integration zur politischen Mitte hin zu bewirken und dafür zu
sorgen, dass die Menschen, die jeden Tag zum Gelingen
dieses Gemeinwesens beitragen, wieder gestärkt werden
und dass ihnen Orientierung und Unterstützung gegeben
werden. Wenn uns das gelingt, dann werden die politischen Ränder nicht weiter erstarken. Das ist das Ziel dieser Koalition.
({3})
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen. In Berlin brennt in diesen Tagen mehr als ein Auto pro Nacht.
Wir steuern auf einen neuen Rekordwert bei den Brandanschlägen zu, die in der Regel aus linksextremer Gesinnung heraus begangen werden. Wir können doch nicht
tatenlos zusehen, nur weil in dieser Stadt die staatliche
Ordnung in vielen Bereichen nicht so funktioniert wie in
anderen Bundesländern oder in anderen Gesellschaften.
Wir sollten uns dagegen wehren, dass dem nicht entgegengetreten wird.
({4})
Hören Sie auf, in das alte Links-rechts-Schema zu
verfallen!
({5})
Hören Sie auf, zu sagen, Rechtsextremismus sei viel
schlimmer! Stellen Sie, liebe Grüne, liebe Sozialdemokraten, einen Antrag, in dem Sie diesem Phänomen erstmals einige Worte und Maßnahmen widmen. Das würde
uns ausgesprochen freuen.
({6})
Seit zwei Jahren praktizieren Sie Verweigerung. Seit
zwei Jahren hören wir keinen einzigen Ton dazu, wie
man mit dem Linksextremismus und der steigenden Gewaltbereitschaft umgehen kann. Insofern wären auf Ihrer
Seite einige Hausaufgaben zu machen.
({7})
Manchmal ist es schmerzhaft, die Realität mit seinem
politischen Sachverstand in Einklang zu bringen. Für Sie
wäre es an dieser Stelle aus meiner Sicht höchste Zeit.
({8})
Ein letztes Argument: Es gibt viele Menschen, die
derzeit Angst haben, Bahn zu fahren. Das sollte auch Sie
beunruhigen. Gestern haben mehrere Besuchergruppen
gefragt, ob man im Moment mit der Bahn nach Berlin
fahren könne. Wir können den Menschen sagen: Ja. Die
Sicherheit wird sicherlich gewährleistet. Wir werden mit
aller Macht, auch mit den Mitteln der Strafverfolgung,
versuchen, diese Phänomene zu bekämpfen. Da sehen
Sie die Koalition wild entschlossen.
Insofern: Hören Sie auf mit Ihrem Links-rechts-Gerede! Stellen Sie sich der gesellschaftlichen Realität! Ich
bin selbst Opfer eines linksextremen Anschlags in meiner Wahlkreisgeschäftsstelle geworden.
({9})
Insofern ist die Art und Weise, wie Sie dieses Problem
dauerhaft negieren, einfach nicht mehr sachangemessen.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ruppert. - Jetzt für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Jelpke.
Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es
gleich in aller Deutlichkeit zu sagen:
({0})
Die Linke lehnt Brandanschläge auf Bahnanlagen ohne
Wenn und Aber ab. Nichts anderes habe ich und haben
auch meine Kollegen aus meiner Fraktion in den letzten
Tagen erklärt.
({1})
An die Unionskollegen gerichtet sage ich: Bleiben Sie
mal auf dem Teppich! Es handelt sich hier nicht um die
Geburtsstunde einer neuen RAF,
({2})
wie es heute von Ihnen auch wieder leichtfertig vorgetragen wurde.
Ich fordere Sie auf, meine Kollegen von der Union
und auch von der FDP, hier endlich wieder zu einer sachlichen Debatte zurückzukehren.
({3})
Bewusst wird hier aus Ihren Reihen Hysterie, Terrorhysterie geschürt. Zu Ihrem Verkehrsminister, der ja
auch eine neue Dimension des Terrors heraufziehen
sieht, kann man nur sagen: Das ist schlichtweg Unsinn.
({4})
Zum Glück bewahren die zuständigen Behörden
- jetzt hören Sie gut zu! - sehr viel mehr Ruhe. Beispielsweise hat der Bundesanwalt bereits erklärt, dass er
im Zusammenhang mit den Brandanschlägen nicht wegen Terrorismus ermittelt. Der Verfassungsschutz hat erklärt, dass er hier keinen neuen Terrorismus sieht.
Betrachten wir einmal die Tatsachen, also das, was
bisher passiert ist. Es sind 19 offenbar dilettantisch gebastelte Brandsätze entdeckt worden.
({5})
Davon haben in der Tat zwei gezündet, und einer davon
hat Sachschaden angerichtet. Dabei wurden zum Glück
keine Menschen verletzt.
({6})
Ich sage noch einmal: Dabei wurden zum Glück keine
Menschen verletzt. Die Bahn hat im Übrigen versichert,
dass für Reisende zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte
Gefahr bestand.
({7})
Wenn Politiker der Unionsfraktion hier wider besseres Wissen über Terrorismus schwadronieren, ist die Absicht meines Erachtens leicht zu durchschauen.
({8})
Während zurzeit weltweit Hunderttausende gegen Kapitalismus auf die Straße gehen, dienen Ihnen die Brandansätze als willkommene Steilvorlage zur Diskreditierung all dessen, wofür linke Bewegungen und Parteien
stehen.
({9})
Auch den Unionsparteien werden wir nicht den Gefallen
tun, uns von unseren richtigen Zielen abzuwenden, nur
weil auch die Zündler diese Ziele für sich in Anspruch
nehmen, nämlich etwa gegen den Afghanistan-Krieg zu
sein.
Ich will nur daran erinnern, dass wir hier vor zwei
Jahren das Massaker von Kunduz diskutiert haben, nachdem auf Befehl eines deutschen Offiziers über hundert
Menschen regelrecht in den Tod gesprengt wurden.
({10})
Über diesen Terror - wir bezeichnen das als Kriegsterror wollen Sie überhaupt nicht reden,
({11})
obwohl zwei Drittel der Bevölkerung gegen diesen
Krieg ist.
Wie gesagt: Die Linke wird sich nach wie vor gegen
die Verlängerung dieses Kriegseinsatzes einsetzen, und
das Ziel ist auch richtig.
({12})
Die Linke wird weiter für einen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan kämpfen, aber gemeinsam mit der
Bevölkerung und nicht auf ihrem Rücken, um das ganz
deutlich zu sagen.
({13})
Denn kein Kriegseinsatz wird gestoppt, weil Hunderttausende Bahnkunden zu spät zur Schule oder zur Arbeit
kommen. Ich selbst fahre auch viel Bahn. Ich weiß, was
das bedeutet.
Ich will zum Schluss noch auf Folgendes zu sprechen
kommen. Wir reden hier über Terrorismushysterie. Aus
den Reihen der Union habe ich dann, wenn Anschläge
von Neofaschisten auf Migrantinnen und Migranten, auf
andersdenkende Linke oder auf Homosexuelle geschehen sind, das Wort „Terrorismus“ noch nie gehört.
({14})
Ich will hier ganz deutlich sagen, dass die Angriffe gerade der Rechten auf Wahlkreisbüros von SPD, Grünen
und Linken alltägliche Gewalt sind.
({15})
Man kann am Ende nur noch einmal sehr deutlich
feststellen, dass in den Reihen der Union bei der Anwendung der Vokabel „Terrorismus“ offenbar mit zweierlei
Maß gemessen wird. Von daher meine ich, diese Aktuelle Stunde hätten Sie sich gut sparen können.
(Dr. Jan-Marco Luczak ({16}): Die Rede
hätten Sie sich sparen können!
Es ist die Mühe nicht wert.
Danke.
({17})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Jelpke. - Jetzt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege Wieland.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Zwei Vorbemerkungen. Herr Kollege Luczak,
auch ich bin gebürtiger Berliner.
({0})
Ich könnte jetzt gerührt sagen: Wie schön, dass diese
Koalition sich so um die deutsche Hauptstadt sorgt! Sie haben aufgezählt: Sprengsätze, Häuserräumung in
der Liebigstraße, heute die Brandanschläge.
({1})
Sie merken gar nicht, dass Sie ein Zerrbild der deutschen
Hauptstadt zeichnen. Man könnte sich fragen, ob all die
vielen Touristen, die hierherkommen, Abenteuerurlauber
sind, die statt im Dschungelcamp in Berlin einfallen.
({2})
Ich gebe zu, dass das Ganze kurz unterbrochen war
durch den Streit um 3 Kilometer Stadtautobahn. Der
Kollege Lindner, FDP, und der Kollege Liebich, Linkspartei, waren sich einig, dass die Grünen sich für eine
Kartoffelsuppe haben einkaufen lassen. So kann man
sich täuschen, Herr Lindner. Genauso täuschen Sie sich,
wenn Sie glauben, mit diesen Überzeichnungen und
Dramatisierungen irgendetwas zur Problemlösung beizutragen.
({3})
- Ja, Herr Lindner, falsch gelegen! Klappe mal halten,
bitte schön!
({4})
Das ist zwar unparlamentarisch ausgedrückt; aber ich
weiß, dass das auch ein großer Wunsch Ihrer Fraktion
ist.
({5})
Zweite Vorbemerkung. Wir verharmlosen gar nichts,
Herr Kollege Ruppert, schon gar nicht Anschläge auf
Bahnanlagen. Meine Güte! Wer glaubt, in einer Stadt,
wo der öffentliche Nahverkehr mehr oder weniger nach
dem Zufallsprinzip funktioniert, wo die S-Bahn monatelang nach einem Notfahrplan fährt, mit Brandsätzen zur
Entschleunigung beitragen und die Stadt in den Pausenmodus versetzen zu müssen, der ist nach eigenem Zeugnis ein Idiot - das schreiben Sie ja selber -, aber kein
harmloser Idiot, sondern ein gefährlicher. Als solchen
muss man ihn bezeichnen, und als solchen muss man ihn
auch bekämpfen.
({6})
Da gebe ich dem Kollegen Gunkel völlig recht. So
viel Zutrauen habe ich in unsere Strafverfolgungsorgane:
Dass man diese Gruppierung, die sich ja immerhin einen
Fantasienamen, nämlich Hekla, gegeben hat, dingfest
machen wird, dass man sie auch aburteilen wird, darauf
gehe ich beinahe eine Wette ein. Aber das Problem des
Linksextremismus ist ja nun wirklich ein weitergehendes.
({7})
Wir als Grüne haben nie bestritten, dass es da einen Anstieg gibt. Nur, was bieten Sie denn als Bekämpfungskonzeption an? Ein schematisches Gleichsetzen von
Rechts und Links! Was wir gegen Rechtsextremismus
machen, machen wir auch gegen Linksextremismus.
({8})
Jetzt haben Sie ein Aussteigertelefon geschaltet. Da wird
niemand anrufen.
({9})
Das kann ich Ihnen sagen. Denn Links tickt anders als
Rechts, trotz allem.
({10})
- Ja. Davon verstehen Sie nichts. Dann seien Sie doch
ruhig, wenn Sie davon nichts verstehen!
({11})
Die sind trotz allem diskursiver. Die haben kein Führerprinzip. Da braucht man kein Aussteigerprogramm. Die
steigen von alleine aus. Dann findet sie das BKA nach
Jahren in der Uckermark auf ihrem Bauernhof.
({12})
Die verhängnisvolle Extremismusklausel, die Sie eingeführt haben, zeigt nicht nur Ihre Hilflosigkeit, sondern
führt auch zu falschen Solidarisierungen.
({13})
Das schematische Gleichsetzen von Rechts und Links
bringt in keiner Weise voran, sondern richtet mehr Schaden an, als es Nutzen bringt.
({14})
Dann zum Entstehen einer neuen RAF: Das Bundesamt für Verfassungsschutz, der BKA-Präsident und alle
anderen haben Ihnen gesagt, dass es das nicht ist, dass
diese Leute zwar Gefährdungen in Kauf nehmen, dass
sie hirnlos sind, dass sie aber Menschen nicht umbringen
wollen.
({15})
Das unterscheidet sie von denen von Madrid, von London, von Oslo. Darin liegt der qualitative Unterschied.
Wenn Sie die Unterschiede verrühren und sagen, das sei
der Anfang, dann laufen Sie Gefahr, mit einer Selffulfilling Prophecy genau das herbeizureden, was wir nicht
wollen. Das ist keine verantwortungsvolle Politik.
({16})
Schließlich und endlich: Politik muss verhindern,
dass Menschen in diese Ecke des gewalttätigen Linksradikalismus getrieben werden. Protestbewegungen wie
die Globalisierungsgegner oder die Okkupierer der Wall
Street müssen Platz für ihre Proteste haben, und sei es in
Form eines Platzes zum Zelten. Das muss man zulassen.
({17})
- Keine Angst, Herr Lindner, nicht in Ihrem Vorgarten,
aber im öffentlichen Raum.
Meine letzte Bemerkung. Das beste Mittel gegen
linksextreme Gewalt ist eine sozial gerechte Gesellschaft.
({18})
- Sie können sie sich noch nicht einmal vorstellen. Viele sehen gerade in der Finanz- und Euro-Krise die soziale Gerechtigkeit immer weiter entschwinden. Insofern
sollte Athen auch für uns ein Warnsignal und ein negatives Beispiel sein.
Vielen Dank.
({19})
Vielen Dank, Kollege Wieland. - Nächster Redner ist
für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder. Bitte schön, Kollege Dr. Ole
Schröder.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche haben wir zwei Aktuelle Stunden.
Gestern haben wir über die vom Chaos Computer Club
untersuchte Software diskutiert. Dabei geht es um eine
abstrakte Gefahr. Wir müssen hier wachsam sein, dass
keine Software missbraucht wird. Heute sprechen wir
über eine ganz konkrete Gefahr, die sich im Erfolg dieser
Brandanschläge - neun Brandanschläge wurden allein
im Monat Oktober auf das Bahnnetz verübt - bereits
realisiert hat.
({0})
Wir haben ein Problem, was die rechtsextreme Gewalt angeht. Es ist mitnichten so, dass wir Rechts- und
Linksextremismus gleichsetzen. Lieber Herr Wieland,
wenn Sie der Auffassung sind, dass unsere Programme
gegen Linksextremismus verbessert werden können,
dann bringen Sie doch eigene Vorschläge dazu ein, was
wir gegen den Linksextremismus weiter unternehmen
können.
({1})
Wie war das in der Großen Koalition? Wir konnten
uns hinsichtlich der Bekämpfung des Rechtsextremismus einigen. Es ist äußerst wichtig, in diesem Bereich
gemeinsam vorzugehen. Alle Demokraten sollten da zusammenstehen. Aber immer wenn es um die Bekämpfung des Linksextremismus ging, war keine Einigung
möglich. Da waren Sie nicht bereit, etwas zu unternehmen. Deshalb kann man uns nicht vorwerfen, dass wir
das eine mit dem anderen vergleichen oder dass wir das
eine mit Verweis auf das andere relativieren würden. Es
muss auch einmal möglich sein, im Deutschen Bundestag über Linksextremismus zu reden und dieses Problem
zu thematisieren, ohne dass gleich gesagt wird, es gebe
noch Rechtsextremismus und andere Formen von Extremismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten
uns als Demokraten einig sein: Es gibt keinen guten Extremismus.
({2})
Die Brandanschläge auf die Bahn waren politisch
links motivierte Straftaten. Wir verzeichnen eine zunehmende Anzahl von solchen Taten. Die Brandanschläge
auf die Bahn in und um Berlin sind nach heutigen Maßstäben, nach den Maßstäben des Strafgesetzbuches keine
terroristischen Taten. Das ist auch nicht der entscheidende Punkt; denn die Auswirkungen auf die Bürger
sind dadurch nicht geringer. Dafür ist nicht von Bedeutung, ob wir uns im Parlament auf eine Definition von
Extremismus einigen.
({3})
Die Tatsache, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen hat, zeigt schon, wie gravierend
diese Ereignisse waren.
Ich möchte im Übrigen an Folgendes erinnern: Noch
bis Dezember 2003, als Rot-Grün die Definition von Extremismus enger gefasst hat,
({4})
hätten wir eine solche Straftat durchaus als terroristische
Tat bezeichnet. Das hätte der alten Definition entsprochen.
({5})
Sie haben den Straftatbestand eingeengt.
({6})
Aber lassen Sie uns jetzt nicht in diesen typisch deutschen Automatismus verfallen - wie der Kollege Gunkel
das gemacht hat -, uns über Definitionen zu streiten.
Lassen Sie uns vielmehr über das eigentliche Problem
sprechen, nämlich linksextreme Gewalttaten.
Diese Taten sind der bisherige Höhepunkt einer seit
Jahren anwachsenden Anzahl politisch links motivierter
Gewalttaten in unserem Land. Hier gilt es, nichts zu verharmlosen. Die Anschläge auf die Bahn sind der Versuch, flächendeckend und systematisch die Infrastruktur,
die für die Funktionsfähigkeit eines Landes von existenzieller Bedeutung ist, zu beschädigen.
Zigtausende Bürgerinnen und Bürger sind nicht nur
bei ihren täglichen Abläufen erheblich gestört worden,
sondern sie leben auch in der Angst, dass die Bahnen,
auf die sie täglich angewiesen sind, nicht sicher sind.
Genau das ist das Ziel dieser Täter, nämlich die Menschen zu verunsichern, Angst und Schrecken zu verbreiten, um damit unserer mobilen, freiheitlichen Gesellschaft zu schaden.
Meine Damen und Herren, natürlich ist auch erheblicher wirtschaftlicher Schaden entstanden, nicht nur bei
der Deutschen Bahn, sondern auch bei den Bürgerinnen
und Bürgern. Wir können nur von Glück reden, dass aufgrund der feuchten Witterung einige Brandsätze nicht
gezündet haben. Die Sicherheitsbehörden sind - zusammen mit der Bahn - jetzt noch aufmerksamer als vorher.
Ihnen gilt mein besonderer Dank.
Die aktuelle Brandanschlagsserie bestätigt den seit
längerem von den Sicherheitsbehörden festzustellenden
Anstieg der Zahl linker Straftaten. Seit 2005 verzeichnen
wir - lediglich mit einer kleinen Abweichung im vergangenen Jahr - eine stete Zunahme der politisch links motivierten Taten in Deutschland. Das ist aber nicht allein
auf die Brandanschläge zurückzuführen. Selbst wenn
wir jeweils die Brandanschläge auf die Kfz außer Acht
lassen, übersteigen die Zahlen der links motivierten Ge15692
walttaten die Vorjahreszahlen und erreichen sogar die
des Rekordjahres 2009.
Die gegenwärtige Entwicklung bei den linken Gewalttaten zeigt, dass die Innenminister und Innensenatoren der Länder sowie der Bundesminister des Innern gut
daran getan haben, in der Herbst-IMK 2010 eine Gesamtkonzeption zur Bekämpfung der politisch motivierten Gewaltkriminalität links bzw. des gewaltbereiten
Linksextremismus zu beschließen. Sie enthält Maßnahmen des Verfassungsschutzes sowie der Polizei und hat
die wichtigsten Felder für eine enge Zusammenarbeit
beider Bereiche identifiziert.
Die Bedeutung dieser Gesamtkonzeption für die Bekämpfung linker Gewalt hat auch die IMK in ihrer heutigen Sondersitzung noch einmal hervorgehoben. Zudem
hat die Innenministerkonferenz heute auch den Beschluss gefasst, dass ihr im kommenden Herbst eine Zusammenstellung der Erkenntnisse zu den Phänomenen
„Anschläge auf die Bahn“ sowie „Brandanschläge auf
Kfz“ vorgelegt wird.
Auch in diesem Hause - das haben wir eben wieder
erlebt - werden linke Straftaten im Vergleich zu anderen
extremistischen Straftaten gern relativiert. Häufig wird
gesagt: Die haben eigentlich gute Ziele, die auch viele
friedliebende Bürger haben, wenn es etwa um den Afghanistan-Einsatz, bezahlbaren Wohnraum oder Protestaktionen gegen rechtsextremistische Aufmärsche geht. Seit Jahren wird von den Linken versucht, die linken
Straftaten zu relativieren nach dem Motto: Die Linksextremisten wollen ja eigentlich das Gute, nur eben mit
den falschen Mitteln. - Das ist falsch. Es gibt keinen guten Extremismus.
({7})
Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten.
({8})
Langsam scheint sich diese verharmlosende Wahrnehmung zu wandeln, nämlich in einer Zeit, in der immer mehr Kleinwagen und Familienkutschen in Brand
gesteckt werden und die Menschen in Berlin von den
Brandanschlägen erheblich betroffen sind.
Was mir besondere Sorgen bereitet, ist die Gewaltbereitschaft der Linken gerade gegenüber unseren Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten. Wir können beobachten, dass die unglaubliche Gewaltbereitschaft immer
stärker zunimmt. Das ist besorgniserregend. Es scheint
kaum noch eine Hemmschwelle zu geben. Dies gilt insbesondere für Demonstrationen mit einer Rechts-linksKonfrontation. Da fliegen Pflastersteine, Brandsätze und
Knallkörper. Da werden Polizeibeamte wirklich wie Sachen behandelt. Genau da liegt das Problem. Wenn man
anfängt, Gewalt gegen Sachen als Mittel der politischen
Auseinandersetzung zu akzeptieren, dann ist es nur noch
ein ganz kleiner Schritt bis hin zur Akzeptanz von Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bzw.
gegen Menschen im Allgemeinen.
Es ist richtig, dass die Koalition ein Zeichen dafür gesetzt hat, dass wir als Gesellschaft diese Entwicklung
nicht akzeptieren. So haben wir zum Beispiel den in
§ 113 StGB vorgesehenen Strafrahmen für Gewalt gegen
Polizeibeamte von zwei auf drei Jahre erhöht. Das zeigt,
dass wir eine solch ungeheure Gewalt nicht akzeptieren.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Gerade diese Straftaten müssen uns noch einmal vor
Augen führen, dass wir achtsam sein müssen, um unseren Rechtsstaat nicht zu gefährden.
({0})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Jetzt spricht für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Herren und Damen! Das Thema der von der
Regierungskoalition beantragten Aktuellen Stunde lautet: linksextremistisch motivierte Gewalt. Darüber, Herr
Staatssekretär, würde ich jetzt gerne reden. Ich frage
mich: Warum haben Sie das zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde gemacht?
({0})
Ja, das ist ein Kriminalitätsfeld mit hoher Betroffenheit der Bevölkerung. Ja, es gab Brandanschläge und ein
dazugehöriges Bekennerschreiben, welches nahelegt,
dass die Täter linksextremistisch motiviert waren. Wenn
wir uns aber das gesamte Kriminalitätsfeld ansehen,
dann stellen wir fest, dass die Zahl der Straftaten in diesem Bereich im Jahr 2010 um etwa ein Viertel auf etwa
6 900 Fälle zurückgegangen sind.
({1})
Auch die Zahl der Gewalttaten ist um knapp 25 Prozent
gesunken. Wir sprechen also von 1 377 links orientierten
Gewalttaten im Jahre 2010. Das ist noch immer eine sehr
hohe Zahl. Dieser Zahl müssen wir uns annehmen und
etwas dagegen tun.
({2})
Wir haben bereits etwas dagegen getan. Wir haben im
Fachausschuss, im Innenausschuss, über links motivierte
Kriminalität geredet.
({3})
Wir haben mit Fachleuten darüber geredet. Wir haben
über Aufklärung, über Aussteigerprogramme und über
Prävention geredet, Herr Kollege Ruppert. Warum also
dieses Thema in einer Aktuellen Stunde und warum
hier?
({4})
Wir könnten genauso gut über andere Deliktfelder reden, die eine steigende Tendenz aufweisen. Ich denke
dabei an die organisierte Kriminalität. Allein im letzten
Jahr ist dadurch bundesweit ein Schaden von 1,65 Milliarden Euro entstanden, davon 300 Millionen Euro
durch Eigentumskriminalität. Ich möchte Ihnen einmal
schildern, was das bedeutet - ich habe es selber erlebt -:
Wenn zum Beispiel bei einem Einbruchsdiebstahl in den
engsten Privatbereich der Bürger und Bürgerinnen eingegriffen wird, dann hat das für die Betroffenen traumatische Folgen, die weit über den materiellen Schaden der
Kriminalität hinausgehen. Darüber sollten wir uns einmal eingehender unterhalten.
({5})
Die Frage ist: Warum reden wir hier über Linksextremismus? Ich kann es Ihnen sagen: Weil Sie, meine Herren und Damen von der Regierungskoalition, einen
Linksterrorismus herbeireden wollen! Das ist in einigen
Wortbeiträgen bereits angeklungen. Das kann ich auch
belegen: Angefangen hat es mit Verkehrsminister Peter
Ramsauer. Er sprach als Erster von verbrecherischen,
terroristischen Ansätzen neuer Dimension.
({6})
Der niedersächsische Innenminister Schünemann warnt
vor einer Vorstufe zum Terrorismus. Der Bundesinnenminister lässt verlauten, man müsse wachsam sein, damit
sich die durch die Brandanschläge zum Ausdruck kommende Gewaltbereitschaft nicht zu einem neuen Linksterrorismus entwickelt.
({7})
Die Frage ist: Was ist Terrorismus? Ich berufe mich
dabei auf den Bundesgerichtshof, der 2007 entschieden
hat: Es sind Straftaten mit staatsgefährdenden Zielen, die
den Staat erheblich schädigen können. Und: Es geht Terroristen darum, den politischen Gegner gezielt zu töten,
wie das auch bei der Sauerland-Gruppe, den Kofferbombern oder anderen islamistischen Terroristen der Fall war
bzw. ist.
Die Praktikerinnen und Praktiker sagen: Nein, eine
solche Gefahr besteht hier nicht. Der Berliner Innensenator Körting sieht keinen neuen organisierten Linksradikalismus. Er spricht von „radikalisierten Einzeltätern“.
Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke,
dem heute schon von mehreren Seiten des Hauses das
Vertrauen ausgesprochen worden ist, stellt fest, dass der
Terrorismus gezielte Anschläge auf Personen voraussetze. Er verweist darauf, dass das hier nicht der Fall sei.
Die Taten sind auch in der Szene schwer vermittelbar;
das wurde heute hier schon gesagt. Auf den Internetseiten der linken Szene häufen sich Kommentare, die Distanzierungen, ja sogar Beschimpfungen zum Inhalt haben.
Ich fasse zusammen: Die Taten sind nicht unter dem
Begriff „Terrorismus“ zu subsumieren. Selbst die linke
Szene spricht den Tätern die Glaubwürdigkeit ab.
({8})
Ich möchte jetzt zu den Taten selber kommen. Es handelt sich um Brandanschläge auf Bahnanlagen. Meine
Herren und Damen, die Infrastruktur gehört uns allen.
Das heißt, diese Angriffe waren, anders als die Brandanschläge auf Pkw, Angriffe auf die Allgemeinheit und
somit auf uns alle hier. Jetzt zitiere ich jemanden aus Ihren Reihen, aus der Regierungskoalition: Sie haben völlig richtig gesagt, dass die Täter weder links noch politisch noch pazifistisch sind. Sie haben recht: Es sind
kriminelle, radikalisierte Einzeltäter, denen man mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln
begegnen muss.
({9})
Doch was müsste die Bundesregierung nun in diesem
Fall tun? Verantwortungsvoll wäre es, ehrlich zu informieren. Was tun Sie? Sie sind von einem ehrlichen Lagebild meilenweit entfernt. Dadurch rufen Sie Trittbrettfahrer und Nachahmer hervor. Das, meine Herren und
Damen, ist brandgefährlich.
({10})
Wir haben aber auch Chancen, die wir ergreifen müssen. Erstens haben wir die Chance, die Täter zu ermitteln; wir haben gestern im Fachausschuss gehört, dass
das auf dem Wege ist. Zweitens müssen wir das Thema
Bevölkerungsschutz angehen. Wir müssen uns in
Übungsszenarien dem Problem von Angriffen auf die
Verkehrsinfrastruktur widmen. Drittens müssen wir im
Fachausschuss mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bzw. mit seinem Leiter,
dem Fachmann Christoph Unger, über Aufgaben, Strukturen und Chancen des Amtes reden.
Würden Sie zum Schluss kommen, bitte?
Viertens müssen wir die Bevölkerung ehrlich informieren und nicht, wie es die Regierung tut, Sprechblasen
produzieren; Sie tun das seit zwei Jahren. Reden können
Sie gut. Aber Reden ist Silber, verantwortungsvolles
Handeln wäre Gold.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kirsten Lühmann. - Jetzt
für die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring.
Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kollegin Lühmann fordert hier ein ehrliches Lagebild
ein; ich will versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten.
Zu einem ehrlichen Lagebild gehört dazu, dass - wie
auch in der Rede soeben sowie in den Reden der Kollegin Jelpke und des Kollegen Wieland - ganz offensichtlich ein Unterschied zwischen den Gewalttaten, die in
dieser Stadt von einem bestimmten politischen Spektrum
ausgehen, und anderen Gewalttaten in anderen Teilen
Deutschlands gemacht wird. Eben wurde sogar der Eindruck erweckt, die Anschläge gegen die Bahn seien gesellschaftlich mehr zu ächten als Anschläge gegen Fahrzeuge.
({0})
Es ist ein Problem dieser Gesellschaft, dass hier solche
Reden gehalten werden.
({1})
Zum ehrlichen Lagebild gehört dazu, dass der grüne
Abgeordnete Benedikt Lux im Abgeordnetenhaus in
Berlin sagt, das Abbrennen von Pkw in Berlin sei ein
Konjunkturprogramm der besonderen Art. Das gehört
zum Lagebild; das ist das Problem dieser Gesellschaft,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Ich sage ganz deutlich: Zum ehrlichen Lagebild gehört auch, geschätzter Kollege Wieland, dass Sie hier erneut das Thema Extremismusklausel aufgegriffen haben.
({3})
Es ist für die drei Oppositionsfraktionen offensichtlich
eine Unzumutbarkeit, dass diejenigen, die Mittel aus
dem Bundeshaushalt empfangen wollen, ihre Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung erklären. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, spricht in
Bezug auf Ihre Haltung Bände; das ist das Problem, mit
dem wir es hier zu tun haben.
({4})
Die Deutsche Bahn ist ein Unternehmen, das dem
Bund gehört. Die Infrastruktur, die angegriffen wurde
- das hat die Kollegin Lühmann richtig festgestellt -, gehört dem Bund und wurde mit Steuermitteln errichtet.
Das Unternehmen, das dem Bund gehört, hat bereits jetzt
mehr als eine halbe Million Euro in die Hand genommen, um zusätzliche Abwehr- und Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Der Bund hat durch seine Sicherheitsbehörden erheblichen Aufwand betreiben müssen. Klar
ist: Wenn es in diesem Haus keine deutliche Abgrenzung
von dieser Art von Gewalt gibt,
({5})
dann werden wir es nicht schaffen, 34 000 Kilometer
Schienennetz in Ordnung zu halten und zu schützen.
Vielmehr würden wir signalisieren: Macht an anderer
Stelle weiter! Wir als Koalition sagen: Wir wollen nicht,
dass diese Gewalttaten verharmlost werden.
({6})
Die taz, die hier in Berlin erscheint, hat den Bekennerbrief eine „stilistisch gelungene Abhandlung“ über
das Leiden am Kapitalismus genannt.
({7})
Einige Redner aus den Oppositionsfraktionen haben das
in Verbindung mit den Demonstrationen gegen das kapitalistische System gebracht. Ich hätte mir schon gewünscht, dass auch einer von Ihnen sagt: In der sozialen
Marktwirtschaft geht es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser als in allen anderen wirtschaftlichen
und politischen Systemen der Welt.
({8})
Das gehört zur Wahrheit dazu. Das sollte man auch hier
einmal benennen, anstatt den Eindruck zu erwecken, als
gehörte das alles irgendwie zusammen.
({9})
Das große Problem in dieser Auseinandersetzung ist,
dass Sie ganz offensichtlich in Kauf nehmen, dass zuPatrick Döring
nächst Autos und dann Bahnanlagen brennen und dann
später auch noch andere Dinge passieren.
({10})
Ich sage deutlich: Das ist der Grund, warum wir die Aktuelle Stunde für wichtig gehalten haben.
Ja, diejenigen, die die Brandanschläge auf die Bahnanlagen verübt haben, sind wirr. Sie sind wahrscheinlich
viel weniger politisch, als wir vermuten. Wenn man den
Brief liest, der sich gegen Leistungsdruck und Arbeitszwang wendet und die Entschleunigung von Berlin fordert, dann ist das an Unoriginalität und an Merkwürdigkeit kaum noch zu überbieten. In einem Punkt bin ich
mir mit dem Kollegen Wieland allerdings einig: Solch
ein Geschwurbel hätte die RAF der deutschen Öffentlichkeit wahrscheinlich erspart.
({11})
Es zeigt natürlich auch: Den Eindruck zu erwecken, das
alles seien irgendwelche Wirrköpfe, mit denen das politische Spektrum, zumindest Teile der Linkspartei, aber
auch Teile der Grünen, nichts zu tun hat, das ist dieses
Hauses nicht würdig.
({12})
Deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn wir in der Diskussion, in der es um Anschläge gegen Eisenbahnanlagen,
gegen Fahrzeuge und gegen Infrastrukturen geht,
({13})
deutlich machen, dass wir in diesem Haus dies verurteilen. Dies verlangen wir in ganz besonderer Weise von allen, die hier auf demokratischer Grundlage ihrer Arbeit
nachkommen. Ich jedenfalls hoffe sehr, dass die Telefonnummern, die zur Lossagung von der linksextremistischen Szene dienen sollen, nicht in die Kreisgeschäftsstellen der Linkspartei und der Grünen führen.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. - Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Swen
Schulz. Bitte schön, Kollege Swen Schulz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Döring, ich weiß nicht, was diese Art von Scharfmacherei hier soll.
({0})
Um es klar zu sagen: Es gibt kein Motiv, keine Begründung für die Rechtfertigung solcher Taten. Sie sind kriminell und gemeingefährlich. Wir verurteilen solche Anschläge, egal ob auf Bahngleise oder auf Autos, egal ob
von rechts oder von links; da gibt es kein Vertun.
({1})
Es handelt sich nicht „nur“ um Gewalt gegen Sachen.
Was hätte denn passieren können, wenn Signalanlagen
ausgeschaltet werden, wenn die Kommunikation gestört
wird? Es war großes Glück, dass kein Mensch zu Schaden kam. An dieser Stelle ein herzlicher Dank an alle
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn und an die
Sicherheitskräfte, die so umsichtig agiert und Schlimmeres verhindert haben! Ich glaube, das sollte man hier betonen.
({2})
Nun gibt es die Diskussion, ob es sich dabei um Terrorismus handelt oder nicht. Zunächst einmal ist festzustellen: Es ist zweitrangig, wie wir das nennen, vor allem
den Bürgerinnen und Bürgern ist es völlig egal. Sie wollen zu Recht, dass wir alles Mögliche dafür tun, dass die
Sicherheit gewährleistet ist. Das ist doch das Entscheidende.
({3})
Man muss trotzdem einmal fragen, was hinter dieser
Begriffsdebatte steckt. Zunächst einmal an Sie, Herr
Kollege Döring: Auf der einen Seite ist vollkommen
klar, dass solche Taten nicht verharmlost werden dürfen
nach dem Motto: Die wollten ja keine Menschen gefährden, und die Ziele sind doch möglicherweise richtig.
({4})
- Regen Sie sich doch nicht auf!
({5})
Ich bin doch vollkommen Ihrer Meinung. - Eine solche
Rhetorik wäre der vollkommen falsche Weg. Wir dürfen
solchen Leuten, solchen Ideologien keinen Millimeter
Spielraum lassen.
({6})
Da darf es keine Missverständnisse geben.
({7})
Swen Schulz ({8})
Auf der anderen Seite dürfen wir solche Anschläge
sozusagen nicht hochreden. Viele aus der Koalition
kommen mit gewaltigen Begriffen wie „Terrorismus“
und „RAF“. Der Kollege Luczak beispielsweise spielt
hier den starken Mann und will aus dieser Situation ganz
offensichtlich politisches Kapital schlagen.
({9})
Das ist der falsche Weg. Mit Hysterie helfen Sie niemandem. Im Gegenteil: Sie müssen sich fragen, ob Sie das
Spiel der Extremisten nicht sogar ein Stück weit mitspielen. Das geht so nicht.
({10})
Gucken wir uns das Ganze einmal an: Der Bundesinnenminister hat in seiner ersten Stellungnahme überhaupt nicht von Terrorismus geredet. Erst später, als er
gehört hat, dass viele aus der CDU/CSU-Fraktion von
Terrorismus gesprochen haben, hat er in einem Interview
rhetorisch ein bisschen aufgemuskelt. Aber auch bei der
Titelgebung dieser Aktuellen Stunde ist von Terrorismus
wieder nicht die Rede. Ich nehme es einmal als hoffnungsvolles Zeichen, dass vielen von Ihnen von der Regierungskoalition bei den Geistern, die Sie da herbeirufen, selbst nicht ganz wohl ist.
Es kommt darauf an, dass wir klar, realistisch und
nüchtern analysieren und dann die Gewalttaten konsequent bekämpfen, und zwar ohne Verharmlosung und
ohne Übertreibung. Das ist der sachlich richtige Weg.
({11})
Die entschiedene öffentliche Stellungnahme ist die
erste Maßnahme, wenn man so will, zur Bekämpfung
solcher Gewalttaten. Die zweite Maßnahme setzt dann
bei den Sicherheitsbehörden und in diesem Fall auch bei
der Bahn an. Es muss dann näher besprochen werden, inwiefern etwa eine Videoüberwachung oder die Einzäunung von Anlagen sinnvoll sind.
Natürlich stellt sich auch die Frage nach der Personalausstattung der Sicherheitskräfte und der Polizei. In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass
die Bundespolizei gerade in Berlin und im Berliner Umland in den letzten Jahren im Bereich der Bahn sehr ausgedünnt wurde. Sie ist unterbesetzt. Die CDU und die
FDP - Herr Luczak jetzt wieder - kritisieren ja immer,
dass der rot-rote Senat zu wenig Polizei zur Verfügung
stelle. Ich denke, Sie sollten den Mund nicht zu voll nehmen, sondern vor der eigenen Haustür kehren und hier
im Deutschen Bundestag dafür sorgen, dass die Bundespolizei ordentlich ausgestattet ist.
({12})
Bei alledem müssen wir auch an Folgendes erinnern:
Es ist klar, dass man Gewalt letztendlich nicht ausschließen kann. Bei allem Engagement, bei allem, was wir da
einsetzen: Totale Sicherheit gäbe es vielleicht nur in einem totalen Staat, und den wollen wir alle wohl nicht.
Herzlichen Dank.
({13})
Vielen Dank, Kollege Swen Schulz. - Der nächste
Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Enak
Ferlemann für die Bundesregierung. Bitte schön, Kollege Enak Ferlemann.
Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vorfälle rund um die Brandanschläge auf Gleisanlagen sind Thema im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages gewesen und, Frau
Kollegin Lühmann, auf Wunsch aller Fraktionen dort behandelt worden. Grundlage der Diskussion war ein Bericht unseres Hauses zu den derzeitigen Sachständen in
diesem Zusammenhang.
Zunächst vielleicht etwas zu den Daten, um ein bisschen zur Versachlichung der Diskussion beizutragen.
Wir haben in Deutschland ein Eisenbahnnetz von etwa
34 000 Kilometern, das man schlechterdings nicht, wie
von manchen vorgeschlagen, durch Zäune schützen
kann. Allein die DB AG transportiert etwa 5,3 Millionen
Fahrgäste pro Tag und knapp unter 2 Milliarden Fahrgäste pro Jahr. Pro Tag sind 26 700 Züge im Personennah- und -fernverkehr und etwa 5 100 Güterzüge im Einsatz. Man kann daran sehen, wie kompliziert, aber auch
wie bedeutsam das System Schiene für unsere Volkswirtschaft ist. Von den Auswirkungen der Anschläge
waren mehr als 2 600 Züge betroffen. Dadurch ergaben
sich über 70 000 Verspätungsminuten.
Das macht deutlich, dass das, was mein Bundesminister, Dr. Peter Ramsauer, ausgeführt hat - er hat gesagt,
dass wir es mit einer neuen Dimension zu tun haben -,
durchaus seine Berechtigung hat. Das hatten wir in dieser Art und Weise bisher noch nicht.
({0})
Es handelt sich um eine Art der politischen Auseinandersetzung, die wir in Deutschland bisher so nicht kannten.
Deswegen darf man allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DB AG und den Sicherheitskräften sehr dankbar
sein, dass sie dafür gesorgt haben, dass nicht mehr passiert ist und der Schaden in Grenzen gehalten werden
konnte. Gleichwohl werden wir uns auf diese neue Situation einstellen müssen. Ich denke an gezielte Aktionen,
die Verstärkung der Kräfte oder andere Maßnahmen.
Es bleibt aber die Sorge, dass sogenannte Nachahmungsaktionen folgen. Eine haben wir schon gehabt, in
Niedersachsen. Dort hat man Ähnliches getan. Auch dort
konnten sehr umsichtige Mitarbeiter der DB AG den
Schaden eingrenzen. Das Problem dürfte damit aber
noch nicht behoben sein.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns immer wieder
bewusst machen, dass bei solchen Anschlägen bewusst
Menschenleben in Gefahr gebracht werden, dass auch
Unglücke provoziert werden. Stellen Sie sich einmal vor,
ein mit schwerem Material beladener Güterzug entgleist
durch eine solche Aktion und verursacht einen schweren
Unfall. Reisende wie auch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter werden bewusst gefährdet. Deswegen verurteilen wir als Verkehrsressort diese Aktionen aufs
Schärfste. Das sind menschenverachtende Aktionen, und
die sind durch nichts zu entschuldigen.
({1})
Auch mit linker Ideologie sind sie nicht zu begründen.
Anschläge auf die Infrastruktur - darum handelt es sich
hier - betreffen immer die gesamte Gesellschaft, weil
die Schäden nicht nur Berlin oder den Großraum Berlin
treffen. Aufgrund der Verkettung und Verknotung des
Bahnsystems sind die Folgen vielmehr in ganz Deutschland spürbar. Deshalb ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, dem Einhalt zu bieten.
Genau deswegen sind Diskussionen darüber, was geht
und was nicht, gefährlich. Ich kenne Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, die das sogenannte Schottern
im Rahmen von Castortransporten gut finden. Auch dabei geht es um die Infrastruktur. Da wird so getan, als
wäre das Schottern geradezu eine gute Tat. Dadurch
wird das gesellschaftliche Klima beeinflusst. Aus diesem Umfeld heraus erfolgen solche Taten. Das resultiert
daraus.
({2})
Man muss aufpassen, weil in dieser Szene alles miteinander vermischt wird, das angeblich gesellschaftlich
gewünschte, „gute“ Schottern und das vermeintlich geächtete Verüben eines Anschlags in Berlin. Nein, das gehört zusammen. Deshalb müssen wir uns von diesen
Dingen klar distanzieren.
Gleichwohl: Da wir auf diese Situation vorbereitet
sind, können die Menschen die Verkehrsmittel in
Deutschland benutzen. In Deutschland kann man guten
Gewissens die Straße sowie die Schienen-, Luft- und
Wasserwege nutzen, dank der vielen guten und fleißigen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsdienste
und dank der vielen guten und fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Enak Ferlemann. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Stephan Mayer. Bitte schön, Kollege Stephan Mayer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal möchte ich
festhalten: Es ist richtig und gut - das sage ich insbesondere an Ihre Adresse, Frau Kollegin Lühmann -, dass
diese Aktuelle Stunde stattfindet. Manche Beiträge vonseiten der Opposition bestärken mich in der Annahme,
dass es richtig war, diese Aktuelle Stunde zu beantragen.
({0})
Die Brandanschläge in Berlin und in Brandenburg in
der vergangenen Woche waren schwerwiegende, heimtückische, feige und widerwärtige Straftaten. Sie waren ein
Angriff auf das Gemeinwohl und auf unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung. Ich möchte betonen:
Glücklichen Umständen, insbesondere der Tatsache, dass
es in der betreffenden Nacht geregnet hat, ist es zu verdanken, dass kein Personenschaden entstanden ist. Der
verursachte Schaden - auch das möchte ich betonen war aber durchaus immens: Insgesamt waren mehr als
2 600 Züge von den Anschlägen betroffen. 150 Züge sind
sogar komplett ausgefallen. Insgesamt gab es ungefähr
70 000 Verspätungsminuten. Zehntausende Pendler sind
in diesen vier Tagen zu spät zum Arbeitsplatz, zur
Schule, zum Kindergarten und zu spät zu privaten oder
beruflichen Verpflichtungen gekommen. Deshalb ist es,
werter Herr Kollege Gunkel, keine Dramatisierung, wenn
wir darauf hinweisen, dass es einer deutlichen Distanzierung des gesamten Hauses von derartigen, extremistischen Straftaten bedarf.
Ich bin mir auch sicher - das sage ich ganz offen -,
dass die Betroffenen keinerlei Verständnis dafür haben,
dass wir hier eine akademische Diskussion darüber führen, ob es sich nun um extremistische oder um terroristische Straftaten gehandelt hat. Ich bin mir sicher, dass es
jemandem, der in einem der betreffenden Züge saß oder
damit fahren wollte, vollkommen egal ist, ob er nun von
linkem Extremismus oder von linkem Terrorismus betroffen ist.
({1})
Der Vollständigkeit halber möchte ich darauf hinweisen, dass es der Gesetzesänderung durch Rot-Grün im
Jahr 2003 zu „verdanken“ ist - § 129 a Abs. 2 des Strafgesetzbuches wurde dahin gehend verändert -, dass
solch eine Straftat nun nicht mehr als Straftat einer terroristischen Organisation zu verfolgen ist. Hier ist durchaus eine akademische und rechtspolitische Debatte zu
führen, ob diese Gesetzesänderung, die von Ihnen 2003
vorgenommen wurde, richtig ist.
Abgesehen von dieser akademischen Debatte müssen
wir uns dem Problem von Grund auf zuwenden. Ich
halte es für schockierend und - das sage ich ganz offen für unerträglich, dass manche Politiker, insbesondere
Sie, Frau Kollegin Jelpke, diese Anschläge und vor allem die Motive der Gruppe sogar noch verharmlost haben, indem Sie gesagt haben, dass Sie durchaus der Meinung seien, dass die Ziele, die diese Gruppe verfolge,
richtig seien. Das ist aus meiner Sicht eine unfassbare
und unhaltbare Aussage. Ich erwarte hier von Ihnen eine
ganz eindeutige Distanzierung von diesen widerwärtigen
Straftaten.
({2})
Stephan Mayer ({3})
Es darf kein Verständnis, keine Rechtfertigung und keine
wie auch immer geartete, vielleicht sogar subtile Begründung für derartige Straftaten geben.
Ich muss auch ganz deutlich sagen: Die Ankündigung
der Gruppe „Hekla“, dass man Berlin in einen Pausenmodus versetzen wolle, ist an Zynismus und Verhöhnung nicht mehr zu übertreffen. Eines ist klar: Diese
Brandanschläge waren kein Dummejungenstreich. Der
Umstand, dass 18 Brandsätze angebracht wurden, baugleich waren und sogar zur gleichen Zeit detonieren
sollten, lässt den Schluss zu, dass in der betreffenden
Gruppe ein durchaus hoher Organisationsgrad vorhanden ist. Es ist unmissverständlich festzuhalten, dass sich
insbesondere die linksextremistische Szene in Berlin
stärker konzertiert hat und auch eine stärkere strukturelle
Bindung in dieser Gruppe vorhanden ist.
Heute wurde schon darauf hingewiesen: Es gab in der
vergangenen Woche zwei Vorfälle. Der eine Vorfall war
der angebliche Skandal um den Staatstrojaner, über den
sich die ganze Republik echauffiert hat. Ich möchte klarstellen: Sowohl in der gestrigen Debatte im Innenausschuss als auch in der Aktuellen Stunde gestern hat sich
gezeigt, dass dies alles heiße Luft ist.
({4})
Es wurde klargestellt, dass an den Vorwürfen nichts dran
ist. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich auch nur ein
Polizeibeamter strafrechtlich oder disziplinarrechtlich zu
verantworten hat.
({5})
Der andere Vorfall - dessen Bedeutung war meines Erachtens leider niederschwelliger - waren die Brandanschläge in Berlin. Ich möchte noch einmal deutlich machen: Diese Brandanschläge haben insbesondere bei der
DB AG ganz konkret Schaden, Millionenschaden verursacht und, wie schon erwähnt, Zehntausende Pendler
und Fernreisende unmittelbar in ihren Persönlichkeitsrechten betroffen.
Es ist in aller Deutlichkeit festzuhalten, dass es in
Deutschland einen erheblichen Anstieg der linksextremistisch motivierten Gewalt gibt. Frau Kollegin
Lühmann, Sie haben auf das Jahr 2010 abgehoben. Ich
möchte das Lagebild des ersten Quartals 2011 erwähnen:
Es gibt einen deutlichen Anstieg der Zahl der Straftaten
im Vergleich zum ersten Quartal 2010, nämlich um
39 Prozent, und einen Anstieg der Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten im Vergleich zum Vorquartal sogar um 68 Prozent.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Dies zeigt ganz klar: Es gibt einen deutlichen Anstieg
der Gefahren, die uns aus dem Bereich des Linksextremismus drohen. Dieses Problems müssen wir uns behende, stringent und deutlich annehmen. Deswegen erwarte ich von diesem Haus ohne Wenn und Aber eine
ganz klare und unmissverständliche Distanzierung von
diesen unsäglichen und unmöglichen Straftaten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. - Jetzt der
letzte Redner unserer Aktuellen Stunde, Kollege Armin
Schuster für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,
Herr Kollege.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn der
Generalbundesanwalt anlässlich der jüngsten Brandanschlagsserie ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der verfassungsfeindlichen Sabotage einleitet,
dann ist das meines Erachtens Anlass genug, im Deutschen Bundestag wohltemperiert - Herr Schulz, da haben Sie recht - eine politische Bewertung hierzu abzugeben. Es ist auch Anlass genug für eine Bewertung des
Umgangs mit politisch motivierten Straftaten, in diesem
Fall mit Straftaten aus der linken Ecke unserer Gesellschaft.
Durch die 18 Brandvorrichtungen - es heißt übrigens
„unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen“,
Frau Jelpke; das heißt aber nicht, dass sie dilettantisch
sind - sind bisher keine Personen zu Schaden gekommen. Diese Angriffe zielten ganz offensichtlich zunächst
auf die Infrastruktur. Die Täter wollten Teile unserer Gesellschaft lahmlegen und uns zu einer Verhaltensänderung zwingen.
Meine Damen und Herren, ein Angriff auf die Infrastruktur ist schon heute - erst recht allerdings in der Zukunft - die Sicherheitsbedrohung schlechthin für eine moderne Gesellschaft. Nirgendwo sind wir verletzlicher als
bei der Infrastruktur. Kommunikationsnetze, Energieleitungen und Verkehrswege werden immer mehr zu Hauptschlagadern, die sehr verletzlich sind. Die 34 000 Kilometer Bahnnetz sind dafür ein Beleg. Hier kann mit
begrenztem Mittelaufwand ein sehr großer Schaden angerichtet werden. Die Gefahr für die Täter, auf frischer Tat
ertappt zu werden, ist zunächst gering.
({0})
Wir müssen schon aus sicherheitsstrategischen Gründen mit größter Entschiedenheit gegen die Täter vorgehen. Es muss auch für die Zukunft jedem klar sein, dass
der Staat hier bei niedrigster Einschreitschwelle null Toleranz walten lassen wird. In diesem Sinne werden die
Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit tun. Ich bin zuversichtlich, dass sie die Zusammenhänge in diesem Fall
aufklären werden.
Armin Schuster ({1})
({2})
Das ist für mich im Moment das wichtigste Signal und
nicht das Führen einer politischen Diskussion über Terrorismus etc.
({3})
Was mir darüber hinaus politisch Sorge bereitet, ist
der schon seit längerem festzustellende zuweilen leichtfertige Umgang einiger Politiker und Medienvertreter
mit dem Thema „linke Gewalt“.
({4})
Ich warne hier vor einem rhetorischen Dammbruch. Wir
dürfen linke Gewalt nicht verharmlosen oder gar rechtfertigen. Politisch motivierte Verbrechen sind Verbrechen - Punkt. Gewalt gegen Menschen oder Sachen werden wir nicht tolerieren.
Gewalt gegen Sachen, wie in Berlin, ist leider oft die
Vorstufe von Gewalt gegen Personen. Dass die Zahl
linksextremistischer Gewalttaten ansteigt - 2010 war nur
eine kleine Delle zu verzeichnen; die Zahl steigt wieder
stark an -, muss ich nicht wiederholen. Hier muss eine
wehrhafte Demokratie wachsam bleiben. Sie muss Verfassungsfeinde von rechts wie von links ohne Unterschied bekämpfen. Doch auf dem linken Auge scheinen
einige blind zu sein oder zumindest Sehstörungen zu haben; denken wir nur an die Übergriffe Autonomer auf
Polizisten im Februar dieses Jahres in Sachsen.
Dass es sogar Parlamentarier gibt, die das Durchbrechen von Polizeiketten als „Durchfließen“ rhetorisch
verniedlichen, muss einem doch zu denken geben. Kein
Politiker darf linke oder gar linksextremistische Gewalt,
ob vorsätzlich oder unbedacht, rhetorisch wieder salonfähig machen. Wer zum Beispiel jahrelang eine Sicherheitspolitik wie Rot-Rot in Berlin macht, sollte sich
nicht wundern, wenn ihm dieses Problem in zunehmendem Maße auf die Füße fällt. Man hatte allzu lange den
Eindruck, dass Hausbesetzer und brennende Autos hier
ein Teil der Lokalfolklore sind.
({5})
Ich bin dankbar, dass die SPD eine sehr richtige Entscheidung getroffen und bei Ihnen ein Umdenken eingesetzt hat. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die neue rotschwarze Landesregierung die Fehler der Vergangenheit
korrigieren und dem Thema Sicherheit in dieser Stadt
ein neues Gesicht geben wird.
({6})
Ich muss das jetzt sagen, Herr Gunkel: Sie haben sogar
schon angefangen. Ich finde es zwar nicht gut, dass die
CDU daran nicht beteiligt ist, aber die Sache mit dem
neuen Polizeipräsidenten lässt einiges erwarten.
Ein Gedanke zum Abschluss. In der Süddeutschen
Zeitung wurde diese Woche kommentiert, die Politik behandle das Thema „innere Sicherheit“ stiefmütterlich.
Ich kann diese Einschätzung zum Teil nachvollziehen.
Wir dürfen dieses Feld nicht den Talkshows überlassen.
({7})
Hier ist der Ort, an dem wir fachlich über innere Sicherheit debattieren sollten. In dieser Woche tun wir dies bereits zum zweiten Mal. Das macht mir keine Sorge, sondern ermutigt mich. Gerne würde ich dies künftig
häufiger zu solch prominenter Zeit tun, auch dann, wenn
es vorher kein mediales Vorkommnis gegeben hat.
({8})
Mein Fazit: Das war eine gute Woche für die Innenpolitik in Deutschland und für den Deutschen Bundestag.
Danke schön.
({9})
Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. Sie waren der
letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde.
({0})
- Ja, genau. Das war eine Punktlandung. Wir sind Ihnen
sehr dankbar, dass Sie Ihre Rede auf die Sekunde genau
beendet haben.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
- Drucksache 17/6000 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 17/7387 Berichterstattung:
Abgeordnete Erwin Rüddel
Miriam Gruß
Heidrun Dittrich
Katja Dörner
Vizepräsident Eduard Oswald
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7388 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Mattfeldt
Rolf Schwanitz
Florian Toncar
Steffen Bockhahn
Sven-Christian Kindler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bezahlte Pflegezeit einführen - Organisation
der Pflege sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf
verbessern - Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen
- Drucksachen 17/1754, 17/1434, 17/7391 Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der Sozialdemokraten
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Sie alle
sind damit einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erstes hat in unserer
Debatte Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder für
die Bundesregierung das Wort. Bitte schön, Frau Bundesministerin.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Januar 2010 habe ich hier im Deutschen Bundestag
meine erste Rede als Bundesfamilienministerin gehalten.
Ich habe damals angekündigt, dass ich ein lange vernachlässigtes Problem aufgreifen will, nämlich die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.
({0})
Dieses Versprechen habe ich gehalten.
({1})
Wir verabschieden heute ein Gesetz, das vielen pflegenden Angehörigen helfen wird. Mit der Einführung
der Familienpflegezeit können sich Menschen Zeit für
Pflege nehmen, ohne allzu große finanzielle Einbußen
hinnehmen und ohne Angst haben zu müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das ist ein innovatives Modell,
das die Bürgerinnen und Bürger entlastet, ohne unsere
sozialen Sicherungssysteme zusätzlich zu belasten.
Wir setzen damit auf Hilfe zur Selbsthilfe statt auf
neue Schulden zulasten künftiger Generationen.
({2})
Durch genau diese Schuldenpolitik ist der Sozialstaat in
die Krise geraten. Deswegen brauchen wir neue Wege,
um ihn zukunftsfähig zu machen. Die Familienpflegezeit
ist ein solcher Weg, um Menschen Zeit für Verantwortung zu geben.
Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, ein realistisches
und an den Bedürfnissen der Menschen orientiertes Konzept zu entwickeln. Auch durch die parlamentarischen
Beratungen der letzten Wochen konnten wir noch einige
wichtige Punkte in den Gesetzentwurf aufnehmen, zum
Beispiel auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Versicherung. Auch hier ganz herzlichen Dank für die gute
Zusammenarbeit.
({3})
Die Anstrengungen haben sich gelohnt. Mittlerweile
haben die ersten Unternehmen schon angekündigt, dass
sie die Familienpflegezeit zum 1. Januar 2012 einführen
wollen. Die Deutsche Telekom wird dies tun, die Deutsche Post wird dies tun, der Automobilzulieferer Continental wird dies tun, Airbus Deutschland wird dies tun,
und der Stahlhersteller Georgsmarienhütte sowie der
Pharmakonzern Roche haben die Familienpflegezeit bereits eingeführt.
({4})
Es sind aber keineswegs nur die großen Unternehmen, die die Chancen erkannt haben, die mit der Familienpflegezeit verbunden sind. Gehen Sie doch einmal in
mittelständische Unternehmen, die händeringend nach
Fachkräften suchen. Dort werden Sie genauso wie ich zu
hören bekommen, dass das Thema „Vereinbarkeit von
Pflege und Beruf“ längst im Unternehmensalltag angekommen ist.
Viele Unternehmen wollen ihre Beschäftigten dabei
unterstützen, die Pflege der kranken Mutter sicherzustellen. Man muss sie nicht dazu zwingen. Was sie brauchen, sind praxistaugliche Instrumente, die wir ihnen an
die Hand geben müssen, und zwar aus einem ganz
schlichten Grund: Es ist kostengünstiger, die FamilienBundesministerin Dr. Kristina Schröder
pflegezeit anzubieten, als erfahrene, gut ausgebildete
Mitarbeiter gehen lassen zu müssen.
Deshalb bin ich überzeugt: Der Erfolg wird Union
und FDP recht geben. Mit der Familienpflegezeit lassen
wir die Menschen, die ihren Angehörigen einen würdigen Lebensabend schenken wollen, nicht im Stich.
({5})
Meine Damen und Herren, als ich das erste Mal die
Idee der Familienpflegezeit vorgestellt habe, hieß es, der
Familienpflegezeit läge ein veraltetes Familienbild zugrunde. Ein veraltetes Familienbild! Die Kritiker haben
damit auch offenbart, was sie unter einem „modernen
Familienbild“ verstehen: Das, was pflegende Angehörige wirklich bräuchten, sei, dass man sie zwei oder drei
Monate von der Berufstätigkeit freistelle, damit sie in
dieser Zeit die Pflege organisieren könnten. Das war beispielsweise ein Vorschlag von Frau Künast, den sie im
Mai letzten Jahres verbreitet hat.
Was heißt das denn? Das heißt, dass in der Welt von
Frau Künast Pflege etwas ist, das nicht mehr zu Hause
stattfindet, sondern was in zwei oder drei Monaten wegorganisiert wird, damit man danach wieder ungestört seiner Berufstätigkeit nachgehen kann.
({6})
Das ist kein modernes Familienbild, sondern das ist ein
familienfernes Menschenbild.
({7})
Diese Menschen, die zu Hause pflegen und die das oft
bis an den Rand ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit tun,
({8})
die das sicher auch aus Pflichtgefühl tun, die das vor allen Dingen aber aus Liebe tun, können nichts weniger
gebrauchen, als dass wir ihnen ein veraltetes Familienbild attestieren.
({9})
Eine große Mehrheit in diesem Land - das wissen wir
aus Umfragen - will sich um die Pflege ihrer Angehörigen kümmern. Sogar 65 Prozent der Berufstätigen sagen,
dass sie das tun wollen. Fast alle alten Menschen wünschen sich, in ihrer vertrauten Umgebung bleiben zu
können, in der sie meistens auf Hilfe angewiesen sind.
Genau das ist doch der familiäre Zusammenhalt, den wir
uns für unsere Gesellschaft wünschen: Menschen, die
sich aufeinander verlassen, Menschen, die füreinander
Verantwortung übernehmen. Mit der Familienpflegezeit
wird die Familie als Verantwortungsgemeinschaft unterstützt.
({10})
Das unterscheidet Union und FDP von Rot-Rot-Grün.
({11})
Gleichzeitig wird mit der Familienpflegezeit auch dafür gesorgt, dass sich auch mehr Männer in der Pflege
engagieren, denn die Familienpflegezeit ist auf Vollzeitberufstätige zugeschnitten. Vollzeitberufstätige sind in
dieser Altersgruppe nun einmal mehrheitlich Männer.
Wir alle kennen Menschen, die zu Hause die hochbetagte Mutter, den vom Schlaganfall gezeichneten Vater
pflegen. Wir alle wissen, dass diese Menschen das aus
Liebe und Dankbarkeit tun. Wir wissen, dass sie das oft
bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit tun. Wir wissen
auch, dass die meisten dieser Menschen berufstätig sind,
dass sie auf ihr Einkommen angewiesen sind und dass
es, wenn sie mit Mitte oder Ende 50 aus dem Beruf aussteigen, der sichere Weg in Arbeitslosigkeit und oft auch
in Altersarmut ist. Weil wir das wissen, unterstützen wir
pflegende Angehörige ab dem 1. Januar 2012 mit der Familienpflegezeit.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Petra Crone für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir besprechen heute ein wirklich wichtiges Thema, ein
Thema, das ganz vielen Menschen unter den Nägeln
brennt und das sicherlich in der Zukunft immer wichtiger wird: Wie ist es zu schaffen, einen pflegebedürftigen
Angehörigen, Freund oder Nachbarn zu betreuen und
trotzdem im Beruf zu bleiben? Eines ist klar: Wir dürfen
die Menschen mit ihren oft akuten Problemen nicht alleine lassen.
({0})
Frau Ministerin Schröder, Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf erleichtert werden soll. Doch dieser Gesetzentwurf erfüllt diesen Anspruch nicht.
({1})
Er ist leider reine Makulatur; denn es fehlt der Rechtsanspruch. Mit anderen Worten: Arbeitgeber können, müssen aber die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht
unterstützen.
({2})
Wofür dann dieser Gesetzentwurf? Wissen Sie nicht,
Frau Schröder, dass es bereits viele freiwillige Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt,
({3})
und zwar flexibel und für alle Seiten passend? Allein in
meinem Wahlkreis, im Sauerland, wollen eine Menge
der mittelständischen Familienunternehmen unbedingt
ihre Fachkräfte halten. Dafür wird einiges getan.
Hier zwei Beispiele: Ich war letzte Woche zur Einweihung eines Betriebskindergartens eingeladen, und
auf Wunsch einiger Unternehmen berät die Caritas die
Belegschaft in den Unternehmen in Fällen von Engpässen bei der Pflege und Betreuung. Daraus ergeben sich
häufig Möglichkeiten und Absprachen, Pflege und Beruf
zu vereinbaren. Diese Unternehmen wissen, dass sich
das lohnt.
Aber andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
haben diese Möglichkeit nicht. Für die wollen wir, will
die SPD-Bundestagsfraktion das Pflegezeitgesetz weiterentwickeln. Wir wollen pflegenden Angehörigen oder
anderen nahestehenden Personen ein passgenaues, flexibles Instrument bieten, und zwar ein Budget von 1 000
Stunden, die flexibel eingesetzt werden können - das
entspricht ungefähr sechs Monaten - und die mit einer
von der Allgemeinheit getragenen Lohnersatzleistung
versehen sind.
({4})
Dazu besteht wie bisher die Möglichkeit, kurzzeitig eine
zehntägige Auszeit zur Organisation von Pflege zu nehmen - die allerdings bezahlt analog dem Kinderkrankengeld. Denn wir betrachten Pflege und Betreuung als gesamtgesellschaftliche Herausforderung, für deren Bewältigung wir alle stehen. Wir betrachten sie nicht als
Auszeit nach dem Goodwill des Chefs auf eigenes Risiko.
Frau Ministerin, zu dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf gab es in unserem Ausschuss eine Expertenanhörung. Dort ist unsere grundsätzliche Kritik absolut
bestätigt worden.
({5})
Der Gesetzentwurf ist nicht ausgereift. Die Verbindlichkeiten fehlen. Er ist viel zu starr.
Ihnen fehlt leider ein Gesamtkonzept für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Kein Wunder, denn die
dringend notwendige Pflegereform wurde von Ihrer Regierung vom Sommer in den Herbst, dann in den Winter
und letztlich auf das Frühjahr verschoben. Aber dieser
Skandal soll an anderer Stelle diskutiert werden.
({6})
Stattdessen verlieren Sie sich in Ihrem Gesetzentwurf
in versicherungsrechtlichen Detailfragen. Da zitiere ich
einmal aus dem Begründungsteil:
Leistungsausschlüsse oder Leistungseinschränkungen darf die Familienpflegezeitversicherung … für
solche Krankheiten enthalten, für die auch die gesetzliche Krankenversicherung Leistungsbeschränkungen bei Selbstverschulden vorsieht. … eine Tätowierung oder ein Piercing …
Also, die dürfen sich nicht versichern. Interessant!
Der Personenkreis, sieht man von den Tätowierten
und Gepiercten ab, den Sie vorsehen, ist viel zu eng gefasst und überhaupt nicht mehr zeitgemäß.
({7})
- Nein, aber die Frau Ministerin leider!
Man kann nicht mehr nur vom Personenkreis der „nahen Angehörigen“ sprechen. Wie viele Nachbarn und
Freunde übernehmen schon heute Verantwortung für
pflegebedürftige Menschen, weil keine Angehörigen
mehr vor Ort wohnen oder es schlicht keine gibt!
Die meisten Pflege- und Betreuungspersonen sind
Frauen. Kaum haben sie die Hürde der Vereinbarkeit von
Kindererziehung und Beruf gemeistert, stehen sie vor
der nächsten, der der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Und dann droht ihnen noch die Pflegefalle: Teilzeitarbeitende, Alleinverdienende und Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen - es sind
meistens Frauen - werden eine jahrelange Reduzierung
ihres Gehaltes kaum in Anspruch nehmen können.
Ich hätte mir zudem eine Aussage dazu gewünscht,
Frau Ministerin, wie das Ungleichgewicht zwischen
Männern und Frauen in der Pflege und in der Betreuung
verringert werden kann. Das eben hat mir nicht ausgereicht. Wo sind die Anreize? Wo sind sie sinnvoll? Wie
können Männer gezielt angesprochen werden?
Neben alldem steht leider auch die professionelle
Pflege nicht im Fokus des Gesetzentwurfs. Dabei kommt
ihr eine Schlüsselrolle bei der Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf zu. Nur im Zusammenspiel von Betreuung
und Pflege durch nahestehende Personen mit professionellen Diensten wird eine ganzheitliche und gesunde
Pflegesituation sichergestellt.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
2,4 Millionen Menschen sind in Deutschland zurzeit auf
Pflege angewiesen. Mehr als 1,6 Millionen Frauen und
Männer werden zu Hause versorgt. Laut Umfragen wolNicole Bracht-Bendt
len 91 Prozent aller Berufstätigen für ihre kranken oder
alten Angehörigen da sein. Pflege und Beruf in Einklang
zu bringen, ist allerdings für viele häufig mit großen
Schwierigkeiten verbunden. Dabei nimmt die Zahl der
Pflegebedürftigen ständig zu.
In wenigen Jahren ist die Wahrscheinlichkeit größer,
einen über 80-Jährigen zu treffen als einen jungen Vater
oder eine junge Mutter mit einem Kinderwagen. 2009
lag der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bei 21 Prozent. 2030 werden es bereits 29 Prozent und 2060 voraussichtlich 34 Prozent sein.
Alt sein muss nicht unbedingt ein großes Handicap
sein. Problematisch wird es aber angesichts des dramatisch ansteigenden Anteils an pflegebedürftigen Hochbetagten. 2009 betrug der Anteil der über 90-Jährigen
schon 59 Prozent. Deshalb müssen wir etwas tun.
Die Politik hat in den vergangenen Jahren viel für die
Betreuung von Kindern geleistet. Jetzt ist es Zeit, sich
auf die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur einzustellen.
({0})
Mit der Familienpflegezeit hat die Koalition geliefert.
Von dem zeitgemäßen Konzept profitieren alle. Ich wiederhole: alle. Die Arbeitgeber profitieren, weil ihnen die
Mitarbeiter erhalten bleiben. Das ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein sehr wichtiger Aspekt. Damit ist das
Gesetz ein Beitrag, um Arbeitnehmer langfristig an den
Betrieb zu binden. Die Arbeitnehmer profitieren, weil
sie im Beruf bleiben können und den Anschluss nicht
verlieren. Die Pflegebedürftigen profitieren, weil sie in
ihrer gewohnten Umgebung bleiben, was wir alle wünschen. Für die Angehörigen schaffen wir die Möglichkeit, schwer erkrankte Verwandte zu pflegen und dafür
die Berufstätigkeit auf 50 Prozent zu reduzieren, während die finanziellen Einbußen moderat bleiben.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf löst
nicht alle durch die demografische Entwicklung bestehenden Herausforderungen auf einen Schlag.
({1})
Er ist aber ein zentraler Beitrag für die Vereinbarung von
Pflege und Beruf.
({2})
In unserer Anhörung im Familienausschuss neulich
äußerten Experten an einigen Punkten Kritik. Das ist
richtig. Diese Anregungen hat das Ministerium aufgegriffen. Stichwort Flexibilisierung: Es werden nun auch
alle Angestellten mit unregelmäßigen Wochenarbeitszeiten erfasst. Stichwort Klarstellung: Nach der Pflegezeit
ist jederzeit die Rückkehr in den Beruf möglich. Auch
die Anregung des DIHK, dem Gesetzentwurf gleich einen Mustervertrag beizufügen, hat das Ministerium aufgenommen. Damit schaffen wir Rechtssicherheit und
beugen kostspieligen Klagen vor.
Mit der Familienpflegezeit ist kein Rechtsanspruch
verbunden. Das war uns Liberalen sehr wichtig.
({3})
Die unternehmerische Freiheit darf nicht angetastet werden.
({4})
- Das können Sie natürlich nicht verstehen. Das ist mir
völlig klar.
({5})
- Hören Sie bitte zu! Vielleicht lernen Sie noch etwas.
Das Modell ist für Frauen und Männer attraktiv. Denn
alle, die vorübergehend im Beruf kürzertreten, bleiben
sozialversicherungspflichtig. Die Rentenansprüche bleiben auf dem Niveau der Vollzeitbeschäftigung. Das
beugt Altersarmut vor. Das ist insbesondere für Frauen
ein wichtiger Punkt.
Mit der Familienpflegezeit entlasten wir die vielen
Angehörigen, die die Pflege nicht allein Fremden überlassen wollen, indem sie Rechtssicherheit erhalten. Wir
entlasten aber auch die Gesellschaft, Medizin und Pflegekassen, und zwar ohne die Gesetzeskeule einzusetzen.
Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag, um
die Herausforderungen der demografischen Veränderungen unserer Gesellschaft als Chance zu nutzen.
Ganz herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kathrin Senger-Schäfer für die
Fraktion der Linken.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Im
Jahr der Pflege hat die Regierungskoalition nichts Besseres zu tun, als ihre eigenen Befindlichkeiten zu pflegen.
Sie streiten wie die Kesselflicker über Eckpunkte und
Details einer Pflegereform. Der Pflegenotstand besteht
indes munter weiter. Das ist unglaublich.
({0})
Heute beraten wir den Gesetzentwurf zum Familienpflegezeitgesetz abschließend im Bundestag. Professionelles Arbeiten Ihrerseits hätte bedeutet, in der zurückliegenden Zeit die notwendigen Verbesserungen
einzuarbeiten, die von allen Seiten angemahnt wurden.
({1})
Spätestens als Sie in der öffentlichen Anhörung des
Familienausschusses selbst von Ihren eigenen Sachverständigen zurechtgewiesen wurden, hätten Sie sich dem
offensichtlichen Handlungsdruck beugen müssen. Aber
das ist nicht geschehen. Es bleibt für uns bei dem Urteil:
Dieses Gesetz ist ineffektiv, es ist arbeitnehmerfeindlich
und für die Mehrheit der Pflegenden irrelevant.
({2})
Ich möchte Ihnen auch sagen, warum. Der fehlende
Rechtsanspruch ist schon mehrmals in der Debatte erwähnt worden. Das ist das, was dieses Gesetz gänzlich
überflüssig macht. Frau Ministerin sagte, es sei ein realistisches Gesetz. Ich aber frage Sie: Was macht die Sekretärin in einem Betrieb, wenn sie Pflegezeit in Anspruch
nehmen will und das Unternehmen aus betrieblichen
Gründen Nein sagt? Wie stellen Sie sich die Lösung vor:
Kündigung des Arbeitsverhältnisses oder doch lieber
Heimunterbringung? In klassischen Beschäftigungsverhältnissen gilt nämlich folgender Grundsatz: Werden
Frau Schneider oder Frau Schröder erwerbsunfähig, so
ist der Arbeitslohn, der im Voraus gezahlt wurde, nach
geltendem Arbeitsrecht nicht zu erstatten. - Ihr Gesetzentwurf aber sieht vor, dass ein solcher Fall versicherungspflichtig ist, und zwar durch eine Ausfallversicherung, welche Frau Schneider oder Frau Schröder selbst
zu zahlen haben.
Fakt ist auch, dass heutzutage Pflege nicht selten - das
wurde schon genannt - zu Überbelastung, Krankheit und
damit Berufsunfähigkeit führt. Das Gesetz, das Sie uns
als Arbeitnehmerschutzgesetz präsentieren, ist in Wirklichkeit ein Arbeitgeberschutzgesetz. Das ist für uns
nicht akzeptabel.
({3})
Ich frage mich auch - Sie sprachen von einem realistischen Gesetz -, von welchem Personenkreis dieses Gesetz überhaupt in Anspruch genommen werden kann.
Teilzeiterwerbstätige, Alleinstehende und Niedrigverdienende, die nach einer Arbeitszeitverkürzung ihren Lebensunterhalt nicht mehr angemessen bestreiten können, sind faktisch ausgeschlossen. Eine Friseurin in
Berlin verdient durchschnittlich brutto 961 Euro. Wie
soll sie mit zwei Dritteln dieses Einkommens pflegen
und überleben? Erwerbstätige Frauen haben im Schnitt
sowieso niedrigere Löhne als ihre männlichen Partner
und damit eher einen Anreiz, ihre Arbeitszeit und damit
ihr Gehalt zu reduzieren. Menschen, die schon Teilzeit
arbeiten - das sind, wie gesagt, meist Frauen -, können
ihre Arbeitszeit aus finanziellen Gründen nicht noch
weiter reduzieren. Glauben Sie im Ernst, dass in einer
Situation, in der Männer mehr verdienen als Frauen,
Männer sich freiwillig bereit erklären, die Pflege zu
übernehmen? Ihr Ziel ist es, häusliche Pflege zu stärken,
aber allein zu dem Zweck, dauerhafte Einsparungen in
der sozialen Pflegeversicherung zu erreichen. Das ist
nicht hinnehmbar.
({4})
Mit dem Familienpflegezeitgesetz belassen Sie die
Pflege allein im privaten Lebensumfeld und machen die
Angehörigen - das sind meistens Frauen - zum konkurrenzlos kostengünstigsten Pflegedienst der Nation.
Die Linke sieht das anders. Für uns ist Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
({5})
Wir brauchen eine umfassende Pflegereform, die Sie
aber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben haben.
Das Familienpflegezeitgesetz bringt keine wirkliche
Verbesserung, sondern weicht bestehende gesetzliche
Regelungen zu Arbeitszeitkonten auf. Die Linke will die
professionelle Pflege und begleitende Angebote zur Unterstützung Angehöriger stärken. Das ist unser Ansatz.
({6})
Damit wird die pflegerische Versorgung von Angehörigen auch in Zukunft gewährleistet, und pflegende Angehörige werden entlastet. Unsere Gesellschaft wandelt
sich. Die klassische Großfamilie gibt es nicht mehr. Familienpflege ist so, wie Sie sie sich vorstellen, nicht
möglich. Wir fordern eine bezahlte sechswöchige Pflegezeit für Erwerbstätige, die in erster Linie der Organisation der Pflege - das betone ich - und der ersten pflegerischen Versorgung dient. Gleichzeitig sind die
Leistungen der sozialen Pflegeversicherung sofort anzuheben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, das Jahr der Pflege
2011 zählt nun schon 293 Tage, und die einzige Maßnahme - ich wiederhole: die einzige Maßnahme -, die
Schwarz-Gelb in dem selbst ausgerufenen Aktionsjahr
bisher auf den Weg gebracht hat, ist dieses kümmerliche
Familienpflegezeitgesetz.
({0})
Dabei tun Sie zumindest heute so, als wären Sie mit
Ihrer Familienpflegezeit Ihrer Zeit voraus; denn wir
konnten um 13 Uhr - wir haben jetzt 15.25 Uhr - auf der
Homepage der CDU/CSU lesen, dass das Gesetz in
zweiter und dritter Lesung schon verabschiedet ist.
({1})
Ehrlich gesagt schaut vorausschauende Politik für mich
ganz anders aus.
({2})
Der Gesetzentwurf zur Familienpflegezeit ist einfach
gründlich missglückt. Was von Ihnen als Familienministerin vollmundig angekündigt wurde, hat sich nicht zu
einer reifen Frucht entwickelt, sondern das ist jetzt im
Herbst einfach wie Fallobst auf den Boden der Tatsachen
geplumpst.
({3})
- Passen Sie mal auf, das wird noch besser. - Die pflegenden Erwerbstätigen tragen das volle Risiko und die
Belastungen während dieser Zeit. Sie müssen sich mit
dem Arbeitgeber auseinandersetzen und ihn überzeugen,
dass er sie teilweise freistellt, und sie müssen wissen,
wie der Vertrag zwischen ihnen und dem Arbeitgeber
aussehen muss, der zur Arbeitszeitreduzierung notwendig ist. Sie müssen eine Familienpflegezeitversicherung
abschließen und auch bezahlen, und sie müssen das Darlehen, das den Arbeitgebern gewährt wird, wieder abarbeiten. Zu guter Letzt müssen auch sie nach Abschluss
der maximal zweijährigen Pflegezeit klären, wie es dann
mit der Pflege weitergehen soll. Dieses Gesetz ist ohne
Rechtsanspruch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht das Papier wert, auf dem es steht.
({4})
Es ist naiv, zu glauben, dass die Arbeitgeber ihren Beschäftigten nun in Scharen auf freiwilliger Basis die Familienpflegezeit anbieten werden.
Ich konnte heute früh auf rbb Herrn Hecken hören,
der sagte: Es wird nun massenhaft zu Vereinbarungen
kommen.
({5})
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Warten Sie es
ab! Lassen Sie sich überraschen!
Die Zahl, die wir aus Ihrem Haus über die potenziellen
Inanspruchnehmerinnen dieser Familienpflegezeit haben, ist eine vierstellige Zahl im unteren bis mittleren
Bereich, übersetzt: 1 000 bis 1 750 Menschen.
Wir gehen aber davon aus, dass in Deutschland 1 Million bis 1,2 Millionen Menschen ihre Angehörigen pflegen.
({6})
Frau Ministerin, Sie setzen mit Ihrer Politik auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen.
({7})
Die öffentliche Anhörung zu diesem Gesetzentwurf der
Koalition hat aber schon gezeigt, dass er ein einziges
Fiasko ist. Die Mehrzahl der geladenen Experten kritisierte den fehlenden Rechtsanspruch. Das größte Lob
kam noch von Ihrem selbst geladenen Sachverständigen,
Herrn Dr. Rürup. Der sagte nämlich: Das Gesetz schadet
ja nicht, aber der große Wurf, na ja, das ist es halt auch
nicht. - Herzlichen Glückwunsch!
({8})
Wann verstehen Sie endlich, Frau Ministerin, dass
Freiwilligkeit auch Grenzen kennt, nämlich dann und
dort, wo ökonomische Interessen dominieren? Und das
ist hier der Fall. Machen Sie doch endlich einmal wirklich Politik, die Fakten schafft! Ich sage Ihnen, dann
werden Sie endlich in Ihren eigenen Reihen und dann
auch von uns ernst genommen.
({9})
Sie rühmen sich, dass einige große Unternehmen die
Familienpflegezeit einführen wollen. Das Problem liegt
aber doch auf einer ganz anderen Ebene und an einer
ganz anderen Stelle. Das sind die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Das sind aber die größten Arbeitgeber, die wir haben; denn zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind dort beschäftigt. Das
sind arbeitende Menschen, die die Doppelbelastung von
Beruf hier und Pflege dort tagtäglich schultern müssen.
Was bieten Sie diesen Menschen an, Frau Schröder? Was
tun Sie für diese Menschen?
Wir müssen eine wirkliche Entlastungsoffensive für
diese pflegenden Angehörigen machen. Wir müssen
Strukturen schaffen, die zur besseren Vereinbarkeit von
Beruf und Pflege beitragen. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, und wir müssen den Begriff „pflegende Angehörige“ erweitern. Wir müssen niedrigschwellige
Dienstleistungen ausbauen, und wir müssen quartiersnahe Konzepte stärken und fördern.
Wenn ich Ihrer Rede vorhin richtig gefolgt bin, dann
haben Sie damit eindrücklich gezeigt, dass Sie all das
nicht verstanden haben.
Das, was ich eben aufgezählt habe, ist nämlich die
wirkliche Unterstützung, die pflegende Angehörige
brauchen. Dazu kommt von Ihnen nichts. Während die
Opposition in Ihrem Jahr der Pflege Konzepte erarbeitet,
hören wir von Ihnen gar nichts. Wir liefern, während Sie
sich morgen noch einmal zusammensetzen und am
Rande über die Pflege sprechen werden.
Frau Ministerin, Sie haben eine wirklich große
Chance vertan.
({10})
Damit zeigen Sie allen pflegenden Angehörigen und
auch allen Pflegebedürftigen, wie wenig Sie von der Lebensrealität dieser Menschen verstanden haben.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine geehrten Damen und Herren!
Wenn man hier zuhört, ist man schnell sprachlos.
({0})
Sie verdammen ein Gesetz, das erst jetzt das Licht der
Welt erblickt - heute soll es verabschiedet werden -, indem Sie von vornherein behaupten, es sei nichts wert.
Warten Sie doch einmal ab!
({1})
Dann werden Sie eines Besseren belehrt werden.
({2})
Man kann die Schlagworte, die Sie gebraucht haben,
nicht mehr hören. Man hat das Gefühl, nicht im Parlament, sondern im Hinterzimmer irgendeiner abgelegenen Gaststätte zu sein.
({3})
Eine vernünftige Diskussion kann man das nicht nennen.
Es ist unerträglich, wenn Sie hier behaupten, die
Ministerin wäre in ein Fettnäpfchen getreten. Das behaupten Sie, aber nicht die Leute da draußen. Ich bitte
Sie um ein bisschen mehr Zurückhaltung.
({4})
Warum kann man eine vielleicht notwendige Kritik nicht
mit Intelligenz vortragen?
({5})
- Ja, daran fehlt es.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der keinen Rechtsanspruch schafft. Aber es hat ja einen Grund, warum wir
das Einvernehmen mit dem Arbeitgeber nicht durch einen Rechtsanspruch, sondern auf freiwilliger Basis erreichen wollen.
({6})
- Sie haben ein schlechtes Bild vom Unternehmer.
({7})
Es wird, auch in kleineren Betrieben, möglich sein, dass
die Unternehmer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, deren Vater oder Mutter schwer pflegebedürftig
ist, entgegenkommen. In diesem Fall wird der Unternehmer nicht die kalte Schulter zeigen und sagen: Deine Angelegenheiten gehen mich nichts an. - Sie haben eine
völlig falsche Vorstellung von dem Einvernehmen, das
in einem guten Betrieb bestehen kann. Wenn Sie Rechtsansprüche schaffen, die mithilfe des Gerichtes und womöglich des Gerichtsvollziehers durchgesetzt werden,
werden Sie in den Betrieben eine Atmosphäre schaffen,
die die gegenseitige Verantwortung unmöglich macht.
({8})
Gerade in diesem Fall wollen wir das nicht; wir halten
das für grundfalsch.
Es ist richtig, dass wir versuchen, auf Freiwilligkeit
zu setzen, dass wir die Verantwortung des Unternehmers
gegenüber seinem Arbeitnehmer betonen. Auch der Arbeitnehmer hat, wenn er aus der Pflegezeit zurückkehrt,
eine Verantwortung. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass
der Verlust, der dem Unternehmer durch die Lohnfortzahlung zunächst entstanden ist, ausgeglichen wird.
Wenn das nicht möglich sein sollte, weil der Arbeitnehmer von einer schweren Krankheit betroffen oder verstorben ist, dann muss eine Versicherung einspringen.
Diese Versicherung wollen wir ebenfalls einrichten;
denn der entstandene Verlust soll ausgeglichen werden.
Außerdem wollen wir nicht, dass durch die Pflegezeit
der Rentenanspruch geschmälert wird. Da entsteht kein
Verlust; denn in der Pflegezeit wird ja bekanntlich der
Lohn, wenn auch nicht voll, weiterbezahlt, und dadurch
werden auch die Beiträge zur Rentenversicherung erbracht. Auf der anderen Seite werden auch die Leistungen der Pflegeversicherung in Betracht zu ziehen sein,
sodass am Ende kein Verlust bei der Rente entsteht.
Das vorliegende Modell ist meiner Meinung nach ein
sehr zurückhaltendes, aber exzellentes Modell. Ich halte
es für sehr gut. So schlecht ist dieser Gesetzentwurf
nicht.
({9})
- Natürlich bin ich in der Anhörung gewesen. Lieber
Herr Kollege Wieland, waren Sie dabei? Sie waren mit
Sicherheit nicht da.
({10})
Wir wollen hier nicht gegenseitig aufrechnen; dafür ist
die Zeit zu schade.
Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anbringen.
({11})
Wir werden die Pflege nicht meistern, wenn wir die Familie nicht einbinden. Im Jahr 2020 wird der BevölkeNorbert Geis
rungsanteil der 85-Jährigen fast genauso groß sein wie
der der 5-Jährigen. Ab dem 85. Lebensjahr beginnt sehr
oft die Pflegebedürftigkeit. Wir leben länger; das ist ein
schöner Umstand. Aber mit zunehmendem Alter werden
wir auch gebrechlicher. Eine solche Leistung kann daher
nicht vom Staat erbracht werden. Es ist völlig falsch, die
Pflege zu sozialisieren. Wir müssen sie sozusagen in die
Familien zurückgeben. Deswegen müssen wir die Familien stärken.
Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, wie
wir zu einer Mehrgenerationenfamilie zurückkommen.
Dieser Aspekt ist völlig untergegangen. Das hängt natürlich mit dem Umstand zusammen, dass es vermehrt
kleine Wohnungen gibt. Wenn wir den großen Auftrag,
den Pflegeerfordernissen gerecht zu werden, erfüllen
wollen, müssen wir unseren Beitrag dazu leisten.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Geis, erst einmal zu Ihnen: Es ist hier zwar nicht
der Ort, Sie über die Aufgaben eines Gerichtsvollziehers
aufzuklären, aber nach dem, was Sie gesagt haben, wäre
es nötig.
({0})
Wir haben heute schon viel über das zu verabschiedende Familienpflegezeitgesetz gehört. Ich erinnere
mich noch sehr gut daran, mit welchen Versprechungen
dieses Gesetz von Ministerin Köhler, jetzt Schröder, im
Frühjahr 2010 öffentlich angekündigt wurde. Ein Meilenstein zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollte es werden. Einen Rechtsanspruch sollte es
geben. Es hieß, pflegende Angehörige würden wirkungsvoll entlastet. Mehr noch: Mit diesem Gesetz wollten
Sie, Frau Schröder, den Herausforderungen in der Pflege
begegnen.
Die Ankündigung der Familienpflegezeit war der
Versuch der neuen Ministerin, aus dem Schatten ihrer
Vorgängerin herauszutreten. Es war der Versuch, ein
Thema endlich einmal mit dem eigenen Namen zu besetzen. Ein Versuch, Frau Ministerin, ist es geblieben. Dabei hätte aus dem Vorhaben, die Situation pflegender
Angehöriger zu verbessern, durchaus etwas werden können. Dazu hätte es allerdings weniger Ignoranz gegenüber der Lebensrealität und vor allem mehr Durchsetzungsvermögen bedurft. Denn zur Lebensrealität gehört
beispielsweise, dass nach wie vor überwiegend Frauen
Verantwortung für die Pflege übernehmen.
Übrig geblieben ist nun leider ein Gesetzentwurf, den
der Sachverständige der CDU/CSU-Fraktion, Bert
Rürup, in der Anhörung wie folgt kommentierte: Mit
ihm ist keinerlei Rückschritt verbunden, und es gibt eigentlich keine Verlierer in diesem Gesetz. - Eine sehr
höfliche Kritik, wie ich finde.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Familienpflegezeitgesetz bringt für pflegende Angehörige keine
echte Verbesserung. Schwarz-Gelb macht die Pflege
hiermit zur reinen Privatsache. Die Rede von Herrn Geis
hat dies unterstrichen.
({2})
Die pflegebedingten Auszeiten werden allein von den Beschäftigten durch Lohnverzicht finanziert. Beim vollmundig angekündigten Rechtsanspruch ist Frau Schröder
beim ersten Gegenwind der FDP eingeknickt. Es gibt ihn
nicht mehr. Die FDP kann darauf stolz sein. Die private
Pflichtversicherung belastet einseitig die pflegenden Angehörigen. Die Arbeitgeber und die Wirtschaft sind fein
raus. Auch hiermit wird die private Verantwortung für
die Pflege zementiert. Ich finde, es ist ein Skandal.
Meine Vorstellung und die meiner gesamten Fraktion
von einer solidarischen Gesellschaft ist eine andere.
({3})
Es ist richtig: Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
ist ein wichtiges Thema. Richtig ist auch: Pflegende Angehörige brauchen Entlastung im Alltag. Falsch ist,
Pflege zur reinen Privatangelegenheit zu machen und
aus der Verantwortung der Gesellschaft zu nehmen. Das
tun Sie mit diesem Gesetz.
({4})
Die SPD-Bundestagsfraktion spricht sich gemeinsam
mit vielen Verbänden - das ist in der Anhörung und in
den aktuellen Presseerklärungen vieler Verbände in den
letzten Tagen und heute noch einmal sehr deutlich geworden - klar gegen eine Privatisierung und Individualisierung der Pflegeverantwortung aus. Das wäre der falsche Weg.
Wir fordern vielmehr eine sinnvolle Weiterentwicklung des Pflegezeitgesetzes der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. So wollen wir die zehntägige Auszeit an eine Lohnersatzleistung analog zum
Kinderkrankengeld koppeln. Dies hat im Übrigen die
Union in der Großen Koalition leider blockiert.
Zudem wollen wir den Rechtsanspruch auf Freistellung bis zu sechs Monaten zu einem zeitlich sehr flexiblen Freistellungsanspruch weiterentwickeln. Finanzielle
Einbußen, die durch die Reduzierung der Arbeitszeit
entstehen, wollen wir durch eine Lohnersatzleistung abfedern und dadurch die Inanspruchnahme verbessern.
Das halte ich für sehr wichtig. Wenn Sie die finanziellen
Einbußen zu einer rein privaten Angelegenheit machen,
dann wird dieses Gesetz für viele Menschen - das haben
wir heute anhand vieler Beispiele schon gehört - nicht
zur Anwendung kommen.
({5})
Im Gegensatz zu Schwarz-Gelb, betrachten wir, die
SPD-Bundestagsfraktion, alle pflegerelevanten Themen
im Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes. Ich frage
die Bundesregierung: Was tun Sie für die Verbesserung
der wohnortnahen Beratungs- und Pflegeinfrastruktur?
Was tun Sie für den Ausbau von barrierefreiem und altersgerechtem Wohnraum? Was tun Sie wirklich dafür,
dass Familien-, Sorge- und Pflegearbeit partnerschaftlich
zwischen Frauen und Männern aufgeteilt werden? Leider tun Sie wieder einmal nichts. Sie gehen wieder
einmal gemeinsam mit der Regierungskoalition auf
Tauchstation. Ich sage Ihnen: Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind gerne beim Auftauchen behilflich.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der jüngste Familienmonitor hat uns gezeigt: Der Wunsch, der am häufigsten angegeben und
von keinem anderen Wunsch übertroffen worden ist, war
der, die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern. Wir kommen mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf diesem Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung
nach.
({0})
Ich danke Ihnen, liebe Ministerin, und den Berichterstattern ganz herzlich für die gute, konstruktive Zusammenarbeit. Der Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, kann sich sehen lassen. Wir tun den Menschen im
Lande, die sich eine bessere Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf wünschen, hiermit einen sehr großen Gefallen.
({1})
Ich komme gerne auf die vorgetragenen Kritikpunkte
zu sprechen, insbesondere auf den mangelnden Rechtsanspruch. Ich finde es gerade wichtig, dass es keinen
Rechtsanspruch gibt,
({2})
weil hierdurch in unzulässiger Art und Weise in die unternehmerische Freiheit eingegriffen würde. Das betrifft
nicht nur Großunternehmen, sondern auch die kleineren
und mittleren Unternehmen. Man stelle sich nur einmal
vor - das gibt es in Ihrer Vorstellungskraft natürlich
nicht -: Es gibt auch kleine Unternehmen, bei denen das
Ganze nicht funktionieren würde, die eben nicht auf einen Arbeitnehmer - und das auch noch zeitlich befristet verzichten können. Deswegen darf es keinen Rechtsanspruch geben. Die Unternehmen müssen weiterhin bestehen und mit ihren Arbeitskräften rechnen können.
({3})
Die Ministerin hat in diesem Zusammenhang aber auch
die großen Unternehmen genannt. Dieses Vorhaben wird
zu einem Erfolgsmodell werden. Es betrifft kleine, mittlere und große Unternehmen gleichermaßen. Wir haben
diesbezüglich von allen Seiten volle Unterstützung erfahren.
Es ist aber auch für die Frauen gut, dass es keinen
Rechtsanspruch gibt. Bereits jetzt ist es so, dass Frauen
bei Vorstellungsgesprächen immer noch damit rechnen
müssen - auch wenn es nicht angesprochen werden
darf -, dass der potenzielle Arbeitgeber sagt: Vielleicht
kommt das Risiko einer oder mehrerer Schwangerschaften auf mich zu. Wenn nun durch einen Rechtsanspruch
bei der Pflege wiederum alles alleine auf die Frauen abgewälzt würde, würde ihnen das den Einstieg ins Berufsleben zusätzlich erschweren. Auch hier ist ein verantwortungsvolles, freiwilliges Miteinander wesentlich
mehr und wesentlich besser, gerade für die Arbeitnehmerinnen in diesem Lande.
({4})
Wir haben nach der Anhörung noch einige Verbesserungen vorgenommen. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Einführung der Zertifizierung nennen.
Diese ist vor allen Dingen aus verbraucherschutzrechtlichen Gründen wichtig. Denn durch sie kann man sich
darauf verlassen, dass von allen Anbietern das gleiche
Niveau angeboten wird. Weiterhin sind keine Risikoprüfungen und keine Aufschlüsselungen nach Alter und Geschlecht vorgesehen. Einige befürchten, dass der Betrag
zu hoch ist. Er bewegt sich aber im niedrigen einstelligen Bereich und ist daher meines Erachtens vertretbar.
Der Bürokratieabbau und die Flexibilisierung haben
ebenfalls Eingang in den Gesetzentwurf gefunden; das
wurde bereits erwähnt. Das bedeutet, dass man schnell
wieder in den Beruf einsteigen kann, wenn eine Pflegezeit vorzeitig beendet werden muss.
Dieser Gesetzentwurf wurde zum Wohl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern gestaltet. Er trägt vor allem
dem Ziel der verbesserten Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf Rechnung. Ich kann daher nichts Schlechtes an
diesem Gesetzentwurf finden.
({5})
Vielen Dank.
({6})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Erwin Rüddel von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Familienpflegezeit ist ein großer Schritt in
Richtung einer umfassenden Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.
({0})
Das ist uns in der Anhörung auch eindrucksvoll bestätigt
worden. Was besonders wichtig ist: Es handelt sich hierbei um einen Gesetzentwurf, der besonders flexibel und
unbürokratisch ist.
({1})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, Frau
Ministerin, ganz besonders dafür zu danken, dass Sie
diesen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht haben.
({2})
Wir kommen mit diesem Gesetzentwurf den Erwartungen und Wünschen vieler älterer Menschen und deren
Angehörigen entgegen und stärken somit den Zusammenhalt in der Familie. Nach dem Vorbild der Altersteilzeit wird die künftige Familienpflegezeit es den Beschäftigten erlauben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, um
Eltern, Großeltern, Ehepartner oder Kinder zu Hause zu
pflegen. In der Pflegephase ist die Reduzierung des Gehalts nur halb so hoch wie die Reduzierung der Arbeitszeit. In der Nachpflegephase wird das Zeitkonto dann
wieder ausgeglichen. Ich bin sicher, dass wir uns mit
dieser Initiative auf dem richtigen Weg befinden.
Mehr als 1,6 Millionen Menschen werden durch Angehörige und ambulante Dienste zu Hause versorgt. Die
meisten Menschen wollen die Verantwortung für pflegebedürftige Angehörige nicht delegieren. Vielmehr möchten sie ihre Angehörigen nach Möglichkeit selbst
betreuen, stoßen dabei aber oft auf erhebliche Schwierigkeiten. Mit der künftigen Familienpflegezeit haben
berufstätige Menschen die Zeit, um im Pflegefall Verantwortung zu übernehmen, ohne ihre Erwerbstätigkeit aufgeben zu müssen. Mit dieser Lösung gewinnen alle: die
Pflegebedürftigen, die pflegenden Beschäftigten und die
Unternehmen.
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir keine gesetzlichen Zwänge schaffen. Wir wollen vielmehr neue Milliardenausgaben vermeiden. Die Arbeitgeber können
beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche
Aufgaben ein zinsloses Darlehen im Umfang der Lohnaufstockung beantragen. Die Versicherungskosten für
den Fall, dass die Beschäftigten die Rückzahlungen
durch Tod oder Berufsunfähigkeit nicht leisten können,
belaufen sich auf einen niedrigen zweistelligen Betrag.
Während der Familienpflegezeit und der Rückzahlungsphase besteht außerdem Kündigungsschutz für den pflegenden Arbeitnehmer. Ferner garantieren die Beitragszahlungen in der Familienpflegezeit und die Leistungen
der Pflegeversicherung den Erhalt der Rentenansprüche.
Wir haben im Rahmen der Ausschussberatungen für
mehr Flexibilität und für weniger Bürokatie gesorgt. Die
Familienpflegezeitversicherung wird zertifiziert und
ohne Gesundheitsprüfung und Differenzierung nach Alter und Geschlecht angeboten. Das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben wird einen Gruppenvertrag anbieten, um Arbeitnehmern in Betrieben
ohne eigenen Gruppenvertrag den Zugang zu günstigen
Konditionen zu ermöglichen.
Auch während der Pflegephase kann der Arbeitsumfang flexibel an den sich ändernden Pflegebedarf angepasst werden. Eine vorzeitige Beendigung der Familienpflegezeit ist möglich, etwa wenn der Pflegebedürftige
in ein Pflegeheim geht. Wird ein Arbeitnehmer in der
Nachpflegephase krank, setzt für die Dauer des Krankengeldbezuges die Rückzahlungspflicht aus; die Nachpflegephase verlängert sich entsprechend.
Meine Damen und Herren, aus der Wirtschaft hat es
vereinzelt Kritik an unserem Vorhaben gegeben. Andererseits bemühen sich viele Unternehmen schon jetzt in
Eigeninitiative darum, innovative Lösungen für ihre Beschäftigten zu finden. Denn kluge und weitblickende
Unternehmer haben längst erkannt, dass die demografische Entwicklung, die langfristige Finanzierbarkeit unserer Sozialsysteme und der Bedarf an qualifizierten Beschäftigten künftig gar keine andere Wahl lassen, als die
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern.
Die heutige Entscheidung ist ein Meilenstein auf dem
Weg, das große Thema der bedarfsgerechten Pflege in
einer rasch alternden Gesellschaft zu bewältigen. Deshalb sagen wir Kritikern, dass wir auch im wohlverstandenen Interesse der Unternehmen handeln. Wir knüpfen
an unseren heutigen Beschluss die Hoffnung, dass er als
Auslöser weiterführender und innovativer Lösungen in
den Betrieben selbst wirken wird.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7387, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6000
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7390. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 17/7391. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1754 mit dem Titel „Bezahlte Pflegezeit einführen - Organisation der Pflege sicherstellen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD
und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1434 mit
dem Titel „Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf
verbessern - Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen
bei Enthaltung der SPD und der Linken angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, Heinz Paula, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schlichtung für Luftfahrtunternehmen verkehrsträgerübergreifend einführen
- Drucksache 17/7337 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Ulrike Gottschalck für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Deutschen
reisen gerne. Wir alle sind gerne mobil unterwegs. Dabei
wünschen wir uns natürlich, dass die Bahn keine Verspätungen hat, dass der Flieger nicht überbucht ist und dass
es auch sonst keine kleinen Katastrophen gibt. Wenn es
doch vorkommt, dann ist der Urlaub verdorben, der berufliche Termin ist vielleicht verpasst, und der Ärger ist
groß. Umso wichtiger ist es daher, dass Fahrgäste einen
guten Ansprechpartner haben, um Schadenersatzansprüche geltend zu machen, und zwar verkehrsträgerübergreifend, weil die Reisenden häufig unterschiedliche
Verkehrsmittel nutzen. Mit dem heute vorliegenden Antrag möchten wir die Rechte der Flugpassagiere stärken,
und ich bitte daher ausdrücklich um Ihre Unterstützung.
({0})
Vor genau einer Woche hat der EuGH erneut die
Rechte von Flugpassagieren gestärkt, deren Flüge gestrichen wurden. Die Richter sprachen den Passagieren neben den Buchungskosten eine individualisierte Wiedergutmachung zu. In der FAZ vom 12. April kündigte EUVerkehrskommissar Kallas erneut an, die Fluggastrechteverordnung weiter zum Wohle der Flugpassagiere zu
verschärfen.
Wir sehen: Die EU nimmt die Rechte der Fluggäste
sehr ernst, aber leider gibt es bei der Durchsetzung dieser Rechte immer noch Schwachstellen. Das zeigt auch
die Zwischenbilanz der EU-Kommission, die eine Überprüfung der Fluggastrechteverordnung eingeleitet hat. In
jedem Land der Europäischen Gemeinschaft wird durch
offizielle Durchsetzungs- und Beschwerdestellen die
Einhaltung der Rechte überwacht. In Deutschland macht
das das Luftfahrt-Bundesamt, aber das LBA ist nicht ermächtigt, zivilrechtliche Ansprüche durchzusetzen.
Die Verbraucherzentralen stellen fest, dass einige
Fluggesellschaften die Rechte von Fluggästen missachten. Die Ergebnisse einer Onlineumfrage bestätigen das:
80 Prozent der Passagiere wurden erst am Flughafen
über Flugstörungen unterrichtet. Bestehende Ansprüche
auf Betreuungsleistungen wurden teilweise von den
Fluggesellschaften ignoriert. Nur jedem Vierten bot die
Airline Entschädigung an, und das überwiegend erst auf
Nachfrage. Ihrer Verpflichtung, die Fluggäste aktiv auf
ihre Rechte hinzuweisen, kamen die Fluggesellschaften
bei über der Hälfte der Teilnehmer nicht nach. Nur in
3 Prozent der Fälle verlief die Rechtsdurchsetzung der
Fluggäste reibungslos.
Die für Verbraucherschutz zuständigen Ministerinnen und Minister der Länder haben die Bundesregierung
daher schon im September 2010 aufgefordert, dafür zu
sorgen, dass die Fluggesellschaften der söp beitreten.
Wenn das nicht freiwillig passiert, dann sollten sie dazu
verpflichtet werden. Dies sollte gesetzlich festgelegt
werden.
Bei uns in Deutschland hat die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries mit dem Fahrgastrechtegesetz die
juristischen Grundlagen für die Arbeit der verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle im öffentlichen
Personennahverkehr geschaffen.
({1})
Heute beteiligen sich bereits mehr als 120 Verkehrsunternehmen aller Verkehrsträger an der söp, und zwar
freiwillig, egal ob Bus, Bahn, Schiff oder ÖPNV. Auch
mit sechs nichtdeutschen Airlines konnte die söp bereits
erfolgreich schlichten.
Was schätzen wir an dieser Schlichtungsstelle? Zum einen natürlich den verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsansatz, der die finanzielle Effizienz durch einen
einzigen Ansprechpartner ermöglicht. Die söp verfügt
über eine speziell entwickelte, sehr effiziente Infrastruktur und hat hochqualifizierte Schlichter. Sie sind Experten im Reiserecht und ausgewiesene Volljuristen.
({2})
Die Schlichtung ist für die Reisenden kostenlos, und es
gibt keine Zugangsschwelle. Das ermöglicht ein unbürokratisches Verfahren. Außerdem hat die praktische
Umsetzung der Schlichtungsarbeit gezeigt, dass die unverbindlichen, auf Freiwilligkeit basierenden Schlichtungsempfehlungen bei 90 Prozent der Fälle für beide
Parteien fruchtbar waren. Das ist ein wichtiger Aspekt.
({3})
Die Bundesregierung selbst wollte die verkehrsträgerübergreifende Schlichtung durchsetzen; das steht so im
Koalitionsvertrag. Aber leider ziehen sich die Gespräche
mit den Airlines für unseren Geschmack schon etwas zu
lange hin.
Ich muss sagen: Ich verstehe dieses Lavieren nicht;
denn auch für die Unternehmen ist es betriebswirtschaftlich durchaus sinnvoll, sich an dieser Schlichtung zu beteiligen. Inzwischen gibt es nämlich auf dem offenen
Markt viele private Anbieter, die sich an Fluggäste wenden, damit sie gegen hohe Provision Schadenersatzansprüche bei den Airlines durchsetzen. Ich denke, das
ist auch für die Airlines kontraproduktiv. Deshalb verstehe ich ihre Haltung auch aus betriebswirtschaftlichen
Gründen nicht.
Wir nehmen die Sorgen der Airlines im Hinblick auf
Missbrauch ernst. Gleichwohl lehnen wir eine Eintrittsgebühr ab, weil sie eine Hemmschwelle für die Passagiere darstellen würde. Praktische Beispiele belegen
- auch die Bahn hatte gedacht, dass es wesentlich teurer
würde -: Es ist nicht teurer geworden.
Gerade im Bahnbereich hat die söp eine hervorragende Arbeit geleistet. Offensichtlich wird die Bahn
durch die söp nicht in den Ruin getrieben.
({4})
Im Gegenteil: Die söp hat dazu beigetragen, dass Qualität und Service bei der Bahn besser geworden sind. Aber
es kann immer noch besser werden. Wir alle sind Bahnfahrer. Ich denke, dies hat bereits geholfen. Deshalb
werbe ich dafür, dass Sie unserem Antrag zustimmen.
Abschließend sage ich zusammenfassend: Verhandelt
wurde lange genug. Die Bundesregierung muss nun einen Gesetzentwurf vorlegen. Es ist im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn Flugpassagiere
die Möglichkeit einer verkehrsträgerübergreifenden
Schlichtung haben. Die söp hat belegt, dass sie über
Kompetenz verfügt und gute Arbeit leistet. Von daher ist
sie prädestiniert, diese Aufgabe auch für den Luftverkehr zu übernehmen. Deshalb noch einmal der Appell:
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Marco Wanderwitz für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Antrag bezieht sich auf einen Teil jenes Themenbereichs,
der uns schon im Rahmen der Rechtspolitik der Großen
Koalition an prominenter Stelle beschäftigt hat. Das
Fahrgastrechtegesetz von 2009 war aber, anders als es
Ihr Antrag darstellt - bei aller Wertschätzung für die Arbeit der Kollegin Zypries als zuständiger Ministerin damals -, weder ihr Werk allein noch das Werk der SPD.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner standen bei dieser Thematik
alles andere als auf der Bremse.
({0})
Dass der christlich-liberalen Koalition das Thema
wichtig ist und dass wir es vor Augen haben, zeigt nicht
zuletzt, dass wir ihm einen eigenen kleinen Abschnitt im
Koalitionsvertrag gewidmet haben.
Nun haben wir gerade einmal Halbzeit der Legislaturperiode. Wir alle wissen, dass manche Themen zu Beginn abgearbeitet werden und andere etwas später. Es ist
so - auch das ist Ihnen bekannt -, dass nicht nichts passiert, sondern dass es im Hintergrund intensive Verhandlungen gibt,
({1})
dass sich beispielsweise auch die Luftfahrtunternehmen
schon bewegt haben. Allerdings haben sie sich in der Tat
noch nicht so weit bewegt, wie wir uns das wünschen
würden. Aber die gesetzliche Lösung, die Sie jetzt fordern - aus unserer Sicht in einer zu frühen Phase -, ist
alles andere als das Allheilmittel.
Wie funktionieren denn Schlichtungsstellen in unserem Rechtssystem? Sie beruhen im Regelfall auf Freiwilligkeit. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahme
an einem Schlichtungsverfahren ist natürlich möglich,
hat aber gewisse Voraussetzungen. Bei einer gesetzlichen Verpflichtung ist eine rechtliche Bindung der Unternehmen an die Schlichtungsentscheidungen eben
nicht möglich. Das ist verfassungsrechtlich nicht zulässig.
Der Justizgewährleistungsanspruch in Verbindung
mit dem Rechtsstaatsprinzip besagt ganz klar: Wir können den ordentlichen Rechtsweg nicht abschneiden. Das heißt nichts anderes, als dass die Verbraucherinnen
und Verbraucher jedenfalls nicht das bekommen werden,
was sie bekommen könnten, wenn wir zu einer Verhandlungslösung kommen, nämlich eine mögliche Unterwer15712
fung unter Schlichtungsergebnisse. Eine solche Unterwerfung wird es auf dem gesetzlichen Weg jedenfalls
nicht geben können. Es gibt den schönen Spruch „Steine
statt Brot“. Das Brot, die von Ihnen vorgeschlagene gesetzliche Lösung, wäre in diesem Fall nicht besonders
gut genießbar.
Die bereits bestehende söp - da wir gerne Fachbegriffe verwenden, ohne sie zu erläutern, erläutere ich
kurz: Das ist die Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr - leistet zweifellos gute Arbeit für die
anderen Verkehrsträger. Da es sich hierbei um einen eingetragenen Verein handelt, müssten wir die Organisationsform der söp ändern, wenn wir die Mitgliedschaft
der Fluggesellschaften gesetzlich festlegen wollten;
denn in einem eingetragenen Verein ist die Mitgliedschaft freiwillig. Deswegen müssten wir an der söp Veränderungen vornehmen.
Zum Thema. Natürlich ist die außergerichtliche Streitbeilegung ein gutes Instrument - das ist unstrittig -, das
auch nachgefragt wird. Das ist, weil die Hürden niedrig
sind, ein einfacher Weg, um sachgerechte Lösungen zu
finden. Nun führen die Fluggesellschaften aber an - das
steht im Gegensatz zu Ihren Ausführungen -, dass die
Zufriedenheit ihrer Kunden höher ist als die bei den anderen Verkehrsträgern.
({2})
Wir könnten uns einmal das Vierte Verbraucherbarometer anschauen: Danach schneiden die Luftverkehrsunternehmen in der Tat deutlich besser ab als die anderen Verkehrsträger. Beispielsweise bewerten 94 Prozent der Geschäftsreisenden das Verkehrsmittel Flugzeug mit gut,
sehr gut oder ausgezeichnet.
({3})
Die Zahl der Beschwerden beim Luftfahrtbundesamt:
eine Beschwerde auf 60 000 Fluggäste. Die Zahlen drücken ferner aus, dass der Anteil der Beschwerden im
Verhältnis zu den Beförderten bei inländischen Fluggesellschaften deutlich geringer ist als bei ausländischen.
Auch dieses Problem kann mit der von Ihnen vorgeschlagenen gesetzlichen Lösung nicht abgestellt werden.
Nun muss man positiv festhalten, dass die Zahlen so
sind, wie sie sind. Wenn man sich das Ganze anschaut,
stellt man fest, dass es dafür Gründe gibt. Die Fluggesellschaften jedenfalls führen Gründe an, die mir nicht
ganz abwegig erscheinen. Zum einen sagen sie, dass sie
ein durchaus kundenorientiertes Beschwerdemanagementsystem haben, und zum anderen, dass es im Luftverkehr anders als bei der Bahn einen richtigen, ausgeprägten Wettbewerb gibt.
({4})
Das ist für Sozialdemokraten vielleicht nicht einfach
nachzuvollziehen, aber funktionierende Märkte bringen
manches Mal bessere Ergebnisse als eine Regulierung.
({5})
Die Fluggesellschaften favorisieren derzeit - in diese
Richtung haben sie sich in den Gesprächen bewegt eine Lösung, die sie als Y-Lösung bezeichnen: ein Eingangsportal, zwei Ausgänge; sprich: Die Verbraucherin
bzw. der Verbraucher nutzt dasselbe Portal, und die
Schlichtung findet nach Verkehrsträgern getrennt statt;
ein Eingang, zwei Wege. Ich sage ganz offen: Mein
Wunschmodell ist das nicht. Gleichwohl kann ich die
vorgetragenen sachlichen Bedenken der Fluggesellschaften zum Teil durchaus verstehen. Genau darum geht es ja
auch bei den Verhandlungen. Zum einen sind Beschwerden im Flugbereich kein Massengeschäft, sondern eher
atypisch und sehr spezifisch, weil es zumeist eben nicht
um die klassische Verspätung geht. Zum anderen ist die
Kostenträgerschaft zweifellos ein Thema.
Ich habe gerade von 60 000 Passagieren gesprochen,
von denen 59 999 offenkundig nicht unzufrieden sind.
Die Möglichkeit, das Portal ohne Eintrittsgebühr zu nutzen, bedeutet nichts anderes, als dass 59 999 bei Missbrauch mitbezahlen. Nun sagen Sie, dass Sie keinen
Missbrauch wollen. Das schreiben Sie hinein; das ist ein
schöner, unbestimmter Rechtsbegriff. Das Problem ist
aber gerade, dass das ein unbestimmter Rechtsbegriff ist.
Die Formulierung zeigt, wohin es gehen wird: Wenn
man von Missbrauch spricht, ohne ihn einzugrenzen, ist
im Grunde genommen alles beschwerdefähig, wenn es
nicht schon offensichtlich ist, dass die Beschwerde unbegründet ist. Das ist für uns zu weit gefasst. Deshalb
glauben wir, dass die Zeit der Verhandlungen noch nicht
vorbei ist.
({6})
Die gesetzliche Lösung sollte am Ende stehen. Dieses
Ende sehen wir aber noch nicht.
({7})
Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle kennen vielleicht so eine Anzeige: Flug XY 1278,
Larnaca/Zypern nach Hamburg, zehn Stunden Verspätung. Wir sehen die Bilder vor uns: entnervtes Warten in
der Flughalle; kein Ort zum Ausruhen oder um sich ordentlich frisch zu machen; nach spätestens fünf Stunden
wandern die ersten Raucher entwöhnt durch die Wartehalle;
({0})
nach sechs Stunden beginnen die Verteilungskämpfe um
die noch freien Steckdosen, weil inzwischen die Akkus
der Laptops und Telefone leergelaufen sind. Dies ist eine
Horrorvorstellung für viele Reisende auf Flughäfen.
Fehlendes Gepäck, verpasste Anschlüsse oder die
Landung auf einem Zielflughafen, der nicht der gewählte ist, das bedeutet für die Betroffenen Stress und
Ärger pur. Dies kann man mit Geld nicht ausgleichen,
wohl aber den entstandenen materiellen Schaden. Verspätet sich ein Flug um mehr als drei Stunden, haben die
Reisenden einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung.
Das hat der Europäische Gerichtshof festgestellt. Die
Ausgleichszahlung in der Praxis aber durchzusetzen, ist
gar nicht so einfach. Da unterscheidet sich die Wirklichkeit von dem, was Herr Wanderwitz hier dargestellt hat.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Am 9. November 2009 verspätet sich der Abflug ebenjener Maschine
von Zypern nach Hamburg um zehn Stunden. Zwei Betroffene fordern von der Fluggesellschaft eine Ausgleichszahlung und berufen sich auf das Urteil des Gerichtshofs. Ende Dezember bietet die Fluggesellschaft
eine Erstattung von 10 Prozent des Nettoflugpreises
- 19,80 Euro - oder wahlweise einen Reisegutschein in
Höhe von 35 Euro an.
({1})
Am Ende hilft den Betroffenen nur die Androhung einer
Klage, um ihr Recht durchzusetzen. Ende März 2011 ist
es endlich geschafft: Die Fluggesellschaft zahlt den beiden Betroffenen jeweils 400 Euro Ausgleichszahlung.
Diese Reise dauerte eineinhalb Jahre. Andere hätten
schon längst entnervt und enttäuscht aufgegeben und auf
ihr Recht verzichtet. Das ist unzumutbar für die Betroffenen. Genau das muss geändert werden.
({2})
Für Bahnreisende, aber auch für Menschen, die bei einer Bus- oder Schiffsreise Nachteile hinnehmen mussten, ist es einfacher. Seit Ende 2009 können sie sich an
die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr wenden. Diese Stelle arbeitet mit großem Erfolg im
Interesse der Antragsteller, so, wie vorher schon die
Schlichtungsstelle Mobilität beim VCD. Die Luftverkehrsunternehmen aber verweigern die Beteiligung an
dieser Schlichtungsstelle. Nach dem Motto: „Wir wollen
mal sehen, wer am längeren Hebel sitzt“, missbrauchen
sie ihre wirtschaftliche Macht, um berechtigte Kundenansprüche abzuwimmeln.
Mit dieser Position haben die Luftverkehrsunternehmen übrigens schon die damalige SPD-Justizministerin
Zypries bezwungen, als sie die Schlichtungsstelle nicht
anerkannten. Sie setzen sich nun offenbar wieder bei der
Bundesregierung durch, wie wir hier heute sehen. Entgegen Ihrer eigenen Beschlusslage, meine Damen und Herren von der Koalition, stärken Sie nicht die Rechte von
Fluggästen, sondern die der Fluggesellschaften. In Ihrem
Koalitionsvertrag von 2009 heißt es - es wurde eben
schon angesprochen; ich zitiere -:
Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus,
Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert.
Noch im Juli 2010 hat Frau Ministerin Aigner angekündigt, dass sich die Fluggesellschaften an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr beteiligen sollen. Aber jetzt kuscht die Ministerin. Jetzt macht
sich die Bundesregierung die Forderung der Fluggesellschaften zu eigen und will eine Schlichtungsstelle Flugverkehr einrichten, der sich die Unternehmen nach eigener Entscheidung anschließen können oder auch nicht.
({3})
Auch Verkehrsminister Ramsauer will keine Regelung,
die nicht den Segen der Luftverkehrsunternehmen erhalten hat. Das ist keine Politik im Interesse der Reisenden,
das ist Klientelpolitik, wie wir sie leider auch an anderer
Stelle von der Bundesregierung kennen. Die Linke will
wirtschaftliche Macht dort beschränken, wo sie sich gegen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger richtet.
({4})
Der Fluggast ist gegenüber dem Unternehmen eindeutig in der schwächeren Position. Darum ist es unsere
Pflicht, ihn zu stärken, damit er sein Recht durchsetzen
kann. Die Linke fordert, die Luftfahrtunternehmen gesetzlich zur Beteiligung an der Schlichtungsstelle für alle
Verkehrsträger zu verpflichten. Die Schlichtungsstelle
soll weiterhin unabhängig sein. Die Streitschlichtung
muss durch Gebühren der Fluggesellschaften finanziert
werden. Das hatten wir bereits 2010 in unserem Antrag
gefordert. Das fordert heute auch die SPD. Darum stimmen wir diesem Antrag zu.
({5})
Es ist eine gerechte Politik, den Schwächeren zu stärken und die Macht der Starken zu begrenzen. Nur so
kann wirklich eine demokratische Beziehung zwischen
den Schwachen und den Starken entstehen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der sozialen
Marktwirtschaft haben Verbraucherinnen und Verbraucher, Kundinnen und Kunden immer dann eine starke
Position, wenn sie in einem wettbewerblichen Markt die
Möglichkeit haben, unter mehreren Anbietern auszuwählen und ihre Kundenwünsche deutlich zu machen.
Das geschieht seit vielen Jahren erfreulicherweise auch
im liberalisierten Luftverkehr. Insbesondere aufgrund
der Öffnung der europäischen Märkte gibt es viele neue
Anbieter. Viele neue Flughäfen bzw. Flugziele werden
nun durch viele international tätige Airlines angeflogen.
Nun haben die Menschen die Wahl, ob sie mit einem
Premium-Carrier bzw. einer Fluglinie, die einer Premium-Kooperation angehört, oder mit einem Low Cost
Carrier für 19,99 Euro von Punkt zu Punkt fliegen wollen. All das entscheiden die Kunden aufgrund der
Schwarmintelligenz zu ihrem Nutzen.
({0})
Ich bin ein großer Anhänger von Schlichtungsmöglichkeiten, ob im Banken- und Versicherungsbereich, aus
dem ich beruflich komme, oder bei den Verkehrsträgern.
Aber eines muss man anerkennen: Die Schlichtung von
Streitfällen im Bereich des Luftverkehrs ist ganz anderer
Natur als die meisten zu schlichtenden Fälle im Bereich
der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, weil wir es hier mit international operierenden Unternehmen zu tun haben. Die Ursache manch einer
Annullierung oder Verspätung ist eben nicht in Deutschland, sondern an dem Flughafen, von dem der Flieger
kommt, zu finden. Die betroffene Fluglinie ist nicht immer Air Berlin oder Lufthansa, sondern kann auch
EasyJet, Ryanair oder eine andere ausländische Airline
sein. In diesem Fall wird es, was die deutschen Vereinsstrukturen betrifft, schon etwas schwieriger.
Es ist völlig unbestritten - das entnehme ich auch
dem Antrag der Sozialdemokraten -, dass das Ganze nur
Sinn macht, wenn auch die vielen nichtdeutschen Airlines, die in Deutschland starten und landen, der Schlichtung zustimmen. Sie müssen sich ihr unterwerfen, geschätzter Herr Kollege Behrens; zu diesem Zweck
machen wir ein Gesetz. Wir müssen aber auch zur
Kenntnis nehmen, dass die nichtdeutschen gemeinsam
mit den deutschen Airlines sagen: Wir wollen das in einer eigenen Organisationsform und mit unseren eigenen
fachlichen Zuständigkeiten machen und nicht vom Gesetzgeber eine Organisationsform aufgezwungen bekommen. - Das muss die Politik akzeptieren. Ich jedenfalls stelle fest, dass die sachlichen Gründe für eine
gesonderte, eigene Organisationsform sprechen. Die
Probleme und Sachverhalte sind nämlich andere als bei
der Eisenbahn, beim Bus oder beim Fährverkehr.
({1})
Diese Koalition will per Gesetz die Schlichtung zur
Entschädigung bei Nichtbeförderung, Annullierung,
Verspätung, Gepäckschäden und Schäden an Sachen regeln. Das wird alsbald geschehen. Dabei dürfen wir aber
auch das, was der Kollege Wanderwitz angedeutet hat,
nicht übersehen: Es gibt wegen der exzellenten Streitschlichtungsmöglichkeiten innerhalb der Airlines eine
hohe Kundenzufriedenheit. Ich empfehle allen Kollegen,
die der heutigen Debatte freundlicherweise folgen, einen
Besuch der Callcenter und Streitschlichtungsstellen von
Air Berlin oder der Lufthansa. Dort kann man beobachten, wie die Gespräche geführt und wie schnell viele Beschwerden abgearbeitet werden. Das ist sicher auch ein
Vorbild für die Schlichtung auf europäischer Ebene.
Ein Problem müssen wir dabei im Blick haben - übrigens ein Problem, das weit über die Verbraucherrechte
hinausgeht -: Wir stehen heute vor der Herausforderung,
dass manch ein Bußgeldbescheid des Luftfahrt-Bundesamtes in Irland gelocht und geheftet, aber nicht bezahlt
wird.
({2})
Wir können in Deutschland noch so viele tolle gesetzliche Regelungen treffen. Wenn sich ein oder zwei große
Low Cost Carrier mit auswärtigem Sitz nicht daran halten oder sich destruktiv verhalten, dann ist für die Verbraucher nichts erreicht. Unser Ziel bleibt, gemeinsam
mit der betroffenen Wirtschaft ein gutes Gesetz auf den
Weg zu bringen. Das wird geschehen. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden verfahren wie bei allen anderen
Schlichtungsstellen. Natürlich trägt die Kosten zunächst
die betroffene Wirtschaft. Aber eines muss klar sein:
Wenn es zu missbräuchlichem Anrufen der Schlichtungsstelle kommt, müssen wir diesen Missbrauch unterbinden. Auch dazu werden wir im Gesetz Regelungen
vorsehen.
Die große Frage ist, wie man Missbrauch definiert.
Missbräuchliches Verhalten liegt auch dann vor, wenn
man nach mehreren in der ersten, zweiten, dritten oder
vierten Instanz verlorenen Prozessen noch einmal versucht, mit der Schlichtungsstelle ins Geschäft zu kommen. Irgendwann muss Schluss sein. Dies wird sehr genau geregelt werden. Wir müssen dafür sorgen, dass
nicht einzelne - vielleicht besonders klagefreudige Passagiere einen ungerechtfertigten Vorteil erhalten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Markus Tressel für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben die gleiche Debatte schon vor einigen Wochen
und im letzten Jahr geführt. Ihre Argumente sind in den
vergangenen zwölf Monaten nicht besser geworden,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
({0})
Wenn Sie sagen, dass Sie zusammen mit der Wirtschaft
ein Gesetz auf den Weg bringen, dann muss ich Ihnen
sagen: Wir Abgeordnete machen die Gesetze, nicht die
Wirtschaft. Ich glaube, das sollten Sie beherzigen.
({1})
Der Passus, der in Ihrem Koalitionsvertrag steht,
wurde Ihnen vorhin schon einmal vorgelesen; deswegen
spare ich mir das an dieser Stelle. Sie haben in Ihrem
Koalitionsvertrag selbst geschrieben, dass Sie die verkehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich regeln
werden. Sie halten uns heute entgegen, das sei gesetzlich
nicht zu regeln. Sie müssen sich einmal fragen, was Sie
in Ihrem Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben.
({2})
Das, was Sie hier anbieten, ist ja an politischer Schizophrenie kaum zu überbieten.
({3})
Es ist ja schon bezeichnend, dass wir als Opposition
heute die Einhaltung Ihres Koalitionsvertrages fordern
müssen, in dem Sie das ja niedergeschrieben haben.
({4})
Das ist ja auch nichts Neues. Das ist ja keine Diskussion,
die die Opposition hier angestoßen hat, sondern die Verbraucherschützer und auch die Europäische Kommission
haben uns ins Stammbuch geschrieben: In keinem Bereich gehen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei der Regelung von Ansprüchen Reisender im Bereich des Flugverkehrs.
Sie sagen, die Kundenzufriedenheit sei in diesem Bereich besonders hoch. Wir wissen, dass die meisten ihre
Rechte überhaupt nicht kennen. Die Fluggesellschaften
bemühen sich meines Erachtens ja auch nicht besonders
darum, die Kunden über ihre Rechte aufzuklären.
Gucken wir uns die Zahlen an; ich habe mir gerade
noch einmal aktuelle Zahlen herausgeschrieben. Zwischen dem 1. Januar und dem 19. Oktober dieses Jahres,
also gestern, gab es 1 566 ausgefallene Abflüge ab
Frankfurt und 448 Flüge mit mehr als drei Stunden Verspätung. Wenn man das hochrechnet, dann kommt man
auf mehr als 100 000 Betroffene alleine in Frankfurt.
Das sind immense Zahlen. Das Aufkommen ist wahnsinnig hoch. Die Reisenden, die davon betroffen sind, brauchen Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte.
Diese soll nicht kompliziert, sondern möglichst einfach
sein.
({5})
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie
wir das niedrigschwellig gestalten. Ich will mir nicht
vorstellen, wie viele Leute auf die Durchsetzung ihrer eigenen Rechte verzichten, weil sie Angst haben, gegen
eine Airline vor Gericht zu gehen.
({6})
Die Airlines scheuen ja auch keine Mühen, die Passagiere davon abzuhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Wir
haben das in der Debatte um eine Eingangsgebühr von
50 Euro für die Schlichtung erlebt. Kein Argument war
zu schief, um den Leuten zu sagen: Wir brauchen jetzt
eine Eingangsgebühr. - Sie haben in diesem Zusammenhang das Argument Prozesshanselei angeführt. Das hat
mit Prozesshanselei überhaupt nichts zu tun.
Fakt ist: Durch die Schlichtung wird die Servicequalität erhöht, und sie führt zu mehr Kundenzufriedenheit.
Das müssen auch die Airlines einsehen.
Die söp - sie ist vorhin ja schon einmal angesprochen
worden - ist verkehrsträgerübergreifend konzipiert. Das
ist die richtige Stelle für die Schlichtung. Die Verbraucherschutzminister der Länder haben ja bereits vor einem Jahr festgestellt - damals saßen auch Verbraucherschutzminister der CDU und der FDP mit am Tisch -,
dass die Schlichtung bei der söp am besten aufgehoben
ist.
Während die söp heute für alle Bahnunternehmen zuständig ist, müssen wir mit politischem Druck dafür sorgen, dass auch die Flugunternehmen mit an Bord gehen.
Als Feigenblatt wird von diesen jetzt eine eigene
Schlichtungsstelle vorgeschlagen. Genau das ist der
Punkt: Wir wollen keine Sonderlösung für die Airlines.
Wir wollen im Interesse der Verbraucher keine Extrawurst, sondern wir wollen eine transparente, verkehrsträgerübergreifende Schlichtung.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sehr Sie sich
auch bemühen: Es gibt keine schlagenden Argumente
für eine separate Lösung der Airlines, außer dem, dass
die Airlines dort möglicherweise ihr eigenes Süppchen
kochen wollen. Wir haben gesehen: Es gibt immer mehr
intermodale Angebote, zum Beispiel Rail & Fly, und immer mehr Reiseangebote, bei denen verschiedene Verkehrsträger kombiniert werden.
Im Hinblick auf Neutralität und auf niedrige Kosten
ist es wichtig, dass es nur eine zuständige Einrichtung
gibt, und das kann meines Erachtens nur die söp sein.
Die Verbraucher sollen wissen, an wen sie sich wenden
können. Das geht nur, indem wir keine Verwirrung stiften und dafür sorgen, dass es nur eine Schlichtungsstelle
gibt.
Ich kann als Fazit nur eines sagen: Sorgen Sie dafür,
dass es eine gesetzliche Regelung gibt, mit der die Belange der Verbraucher entsprechend berücksichtigt werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kauder?
Ich bin schon am Ende. - Wenn Sie schon kein stichhaltiges Argument gegenüber den Verbrauchern haben,
dann nehmen Sie doch wenigstens einfach Ihren Koalitionsvertrag ernst. Dort haben Sie es niedergeschrieben.
Wenn Sie sich daran halten, dann gibt es auch eine gute
Lösung für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Siegfried Kauder.
Lieber Kollege, es ist immer gut, anderen Vorwürfe
zu machen: der Bahn wegen der Verspätungen; den
Fluggesellschaften, weil man zehn Stunden auf einen
Anschlussflug warten musste. Die Menschen sind irritiert, deswegen muss die Politik etwas machen.
Vielleicht kehren wir einmal vor der eigenen Tür. Die
größte Verzögerung erlebe ich persönlich auf den Bundesautobahnen. Der Bürger zahlt Steuern dafür, dass die
Autobahnen so in Schuss sind, dass man nicht vier oder
fünf Stunden im Stau steht. Darüber reden wir nicht.
({0})
Sie haben zu Recht gesagt, Herr Kollege: Wir sind
das Parlament. Wir machen Gesetze. - Dann dürfen Sie
aber diesen Verkehrsträger nicht ausnehmen. Sie dürfen
nicht sagen: Die Bahn muss etwas machen, die Fluggesellschaften müssen etwas machen. Aber wenn auf der
Bundesfernstraße ein Stau ist, muss der Bürger warten. Auch da müssen Sie Farbe bekennen.
Erarbeiten Sie einen Gesetzentwurf, damit das besser
wird. Dann ist der Bürger auch zufrieden, wenn wir über
solche Themen wie jetzt diskutieren.
({1})
Kollege, bitte schön.
Lieber Herr Kollege, wir reden heute hier über Verbraucherschutz. Ich sehe ein, dass wir auch für ordentliche Zustände auf unseren Straßen sorgen müssen.
({0})
Diese Diskussion muss man separat führen.
Aber den Verbraucherschutz - es geht insbesondere
um Situationen, die der Verbraucher nicht selbst verschuldet hat, und um das, was er sowohl bei der Bahn als
auch bei Fluggesellschaften erdulden muss - mit der Situation auf deutschen Autobahnen zu vergleichen, halte
ich für sehr weit hergeholt. Ich denke, dass Sie jetzt eine
Bringschuld haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen,
statt weiter mit der Wirtschaft herumzukungeln. Dafür
sorgen, dass es auf den Autobahnen fließt, kann Ihr Verkehrsminister ganz gut selber.
Das Wort hat nun Peter Wichtel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich zunächst den vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion und die Debatte dazu nutzen, um deutlich herauszustellen, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und
Bürger mit einer verantwortungsbewussten und nachhaltigen Verbraucherpolitik begleitet.
Das deutsche Recht gewährt den Reisenden umfassenden Schutz, der in schwierigen Verhandlungen mit
den Verkehrsträgern erarbeitet wurde. In zahlreichen europäischen und deutschen Rechtsverordnungen ist das
ganz klar zum Ausdruck gekommen. Es geht Ihnen darum, die Luftverkehrsrechte anzusprechen, die geregelt
werden sollen, und Sie bemühen dazu den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und der FDP.
({0})
Dort haben wir festgeschrieben, dass wir die Strukturen
des Verbraucherschutzes ausbauen und auf alle Verkehrsträger ausdehnen wollen. Ein anschauliches Beispiel des kontinuierlichen Ausbaus ist von Ihnen, Frau
Gottschalck, erwähnt worden: die söp, die im September
2009 - das geschah zusammen mit dem Fahrgastrechtegesetz - gegründet wurde und seitdem erfolgreich Streitfälle zwischen den Verbrauchern und den Verkehrsunternehmen schlichtet.
Die Erfolgsquote von über 90 Prozent bei circa 3 300
eingereichten Schlichtungsanträgen spricht für sich.
Dies ist ein Erfolgsmodell für die Verbraucher, das man
allerdings noch weiter optimieren kann. Wir wollen nun
auch die Teilnahme der Fluggesellschaften an den
Schlichtungsverfahren realisieren. Die Umsetzung dieses Vorhabens, das wir im Koalitionsvertrag festgehalten
haben, wird gegenwärtig überaus konstruktiv zwischen
der Bundesregierung und den Fluggesellschaften vorbereitet.
Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Antrag, in
dem gefordert wird, die Schlichtung für Luftfahrtunternehmen verkehrsträgerübergreifend einzuführen, für
mich nicht nachvollziehbar. So argumentieren Sie, die
Luftverkehrsunternehmen hätten die Frist zu einer freiwilligen Schlichtung verstreichen lassen. Dieser Vorwurf
ist vollkommen haltlos. Es hat nie eine zeitliche Begrenzung oder gar ein striktes Ultimatum für diesbezügliche
Gespräche und Lösungen gegeben. Im Gegenteil: Wir
sind durch intensive Gespräche und Verhandlungen nun
so weit, dass nur noch einzelne Details geklärt werden
müssen. Ich gehe davon aus, dass bald ein Ergebnis vorliegen wird. Diesem Ergebnis heute vorzugreifen und
das freiwillige Engagement der Fluggesellschaften zu einem Schlichtungsverfahren dadurch zu torpedieren,
kann nicht der richtige Weg sein.
Ein weiterer Denkfehler offenbart sich in der Forderung, den Verkehrsträger Luft zu einer Teilnahme an einer Schlichtung zu zwingen. Das gesamte Konzept der
Schlichtung beruht im Gegenteil doch darauf, dass man
möglichst freiwillig zusammenarbeitet und in diesem
Engagement die besten Ergebnisse für die Betroffenen
herausholt. Die Fluggastrechte für Fluggäste können
doch nur dann wirken, wenn die Schlichtung am Ende
auch angenommen wird. Würden Sie als Opposition,
wenn Sie zu einem Schlichtungsverfahren verpflichtet
würden, das Ergebnis am Ende tatsächlich tolerieren?
Ich glaube, damit wird sehr deutlich, dass Sie mit der
Einforderung der Beteiligung der Luftverkehrsgesellschaften an Schlichtungsverfahren genau das Gegenteil
dessen erreichen, was wir eigentlich gemeinsam wollen,
nämlich die Unterstützung und das Festlegen für ein
Engagement an der Schlichtung.
Ich denke darüber hinaus, dass Sie zwei Dinge missachten. Wenn eine Lösung zustande kommt, ist es doch
am besten, wenn es sich um eine freiwillige Lösung in
Form einer Vereinbarung handelt, die nachher in ein Gesetz mündet.
({1})
Denn damit haben Sie am Ende genau das, was hier von
vielen Rednern gesagt worden ist, nämlich die höchste
Wirkung für die Betroffenen. Wer klagt schon, wenn
man in der Schlichtungsstelle gemeinsam zu einem positiven Ergebnis kommt? So erzielen wir für diejenigen,
die wir schützen wollen, am meisten. Die organisatorische Frage, ob das innerhalb der söp geschieht, ob es unter einem virtuellen Dach eine gleiche Anlaufstelle gibt
oder ob eine eigene Schlichtungsstelle eingerichtet wird,
ist aus meiner Sicht heute vollkommen zweitrangig.
Wichtig ist vielmehr, dass gemeinsam ein Ziel erreicht
wird und dass sich möglichst viele Fluggesellschaften
freiwillig beteiligen. Nur so können wir es machen.
Ich will ein Zweites sagen; ich glaube, Herr Döring
hat das vorhin schon erwähnt. Wie viele Rechnungen bekommen Fluggesellschaften präsentiert, die am Ende
nicht bezahlt werden? Diesen Zustand wollen wir zugunsten der Fluggäste ändern. Wir wollen eine ungezwungene ordnungsgemäße Stelle, die am Ende als
Schlichtungsstelle so funktioniert, dass jeder Betroffene
dort hingeht.
Letzter Punkt, den ich ansprechen will: Eingangshürde. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass die
Eingangshürde, um Missbrauch zu verhindern, ähnlich
sein kann wie bei Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht, dass man also zunächst eine Vorprüfung
macht, ob das, was beantragt wird, überhaupt Erfolg hat.
So könnte man die Beschwerden abarbeiten.
Ich denke, in diesem Sinne müssen wir noch viel tun.
({2})
Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich denke, Zwang auszuüben, wie Sie es beantragen, ist nicht der richtige
Weg. Deswegen lehnen wir das ab.
({3})
Das Wort hat nun Heinz Paula für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Tourismuspolitiker und Verbraucherschutzpolitiker haben uns bereits sehr intensiv mit diesem Thema befasst.
Es wurden sehr wichtige und richtige Argumente ausgetauscht. Ich darf aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom 7. Juli 2011 einige Passagen zitieren:
Der Verbraucher soll sich leicht informieren können, er soll gut beraten und seine Interessen sollen
gut vertreten werden.
Frau Mortler, wir stimmen Ihnen absolut zu.
({0})
Ich darf Sie weiter zitieren:
Ihre erfolgreiche Tätigkeit
- Sie meinen an der Stelle die söp stärkt den Verbraucherschutz im Tourismus.
({1})
Da kann ich nur sagen: Alle Achtung, söp! Ihr leistet
eine hervorragende Arbeit. Ihr habt die entsprechende
Anerkennung der Unternehmen und der Verbraucher. Ihr
habt eine hervorragende Infrastruktur, und ihr habt hervorragende Experten, die es schaffen, bis über 90 Prozent der Schlichtungen zu einem positiven Ergebnis zu
führen. Respekt, söp!
({2})
An dieser Stelle ist interessant, dass über ein Drittel
der anhängigen Verfahren justament von Fluggesellschaften kommen. Interessant ist dabei auch - das richtet
sich an alle diejenigen, die die Sorge haben, dass die ausländischen Fluggesellschaften nicht mit im Boot wären -,
dass genau diese Fluggesellschaften bereits sehr aktiv
mitmachen. Es funktioniert doch.
Wir Sozialdemokraten wollen eine möglichst verbraucherfreundliche Regelung. Ich hoffe, Sie von der
Regierungskoalition wollen das auch. Wir wollen, dass
die Unternehmer verpflichtet werden, an einem Schlichtungsverfahren teilzunehmen, wenn sie einer Verbraucherbeschwerde nicht innerhalb von vier Wochen selbst
abgeholfen haben. Verbraucherfreundlich heißt für uns
darüber hinaus, dass man sich an eine gemeinsame, also
verkehrsträgerübergreifende Stelle wenden kann. Eine
Anlaufstelle und eine einheitliche Spruchpraxis, das
brauchen wir. Verbraucherfreundlich heißt für uns außerdem, dass nicht die Kunden die Kosten zu übernehmen
haben. Wo kommen wir denn hin, wenn nicht die Verursacher, sondern die Geschädigten dafür bezahlen sollen?
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Fluggesellschaften
inzwischen von solchen Eingangsgebühren Abstand genommen haben. Damit sind sie bereits auf dem richtigen
Weg. Jetzt muss der nächste Schritt folgen.
({3})
Es ist immer wieder davon die Rede, wie teuer die söp
sei. Ein Blick in die geplante Beitragsordnung zeigt:
Man kommt den Fluggesellschaften sehr weit entgegen.
Es wird immer wieder die große Sorge geäußert, dass
ein wilder Missbrauch drohe. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, die bisherige Arbeit der söp zeigt überdeut15718
lich, dass kein Missbrauch zu befürchten ist. Außerdem
haben wir in unserem Antrag eine entsprechende Regelung vorgesehen. Sie können also ganz beruhigt sein.
Entscheidend wird allerdings sein, dass wir endlich zu
Ergebnissen kommen. Wenn wir in den nächsten 20 oder
30 Jahren immer noch verhandeln, nützt das den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht.
({4})
Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie die Argumente Ihrer eigenen Kollegen heranziehen. Die Verbraucherministerkonferenz wurde bereits angesprochen. Ich
darf aus einer Pressemitteilung unserer früheren Kollegin Puttrich zitieren, die inzwischen in Hessen Ministerin ist.
({5})
- Ich hoffe, Sie sagen das auch nach dem Zitat aus der
Pressemitteilung. - Ich darf zitieren:
Für den Verbraucher ist es dabei nicht nachvollziehbar, dass es unterschiedliche Anlaufstellen des
Schlichtungsverfahrens gibt. … Die Fluggesellschaften sind nun aufgefordert, sich aktiv an der
Schlichtungsstelle zu beteiligen. Geschieht dies
nicht,
- Herr Schweickert, ich zitiere immer noch werden wir sie dazu verpflichten …
Dazu kann ich nur sagen: Die Frau hat recht.
({6})
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie die richtigen
Aussagen getroffen. Richtige Aussagen ersetzen aber
kein Handeln. Handeln Sie endlich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher!
({7})
Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Zuschauerrängen!
Wenn man Ihre Rede verfolgt hat, Herr Paula, könnte
man meinen, die Regierungskoalition wüsste nicht, dass
es zu Verspätungen kommt. Das wissen wir aber. Wir
wissen sehr wohl, wie unangenehm das Ganze ist. Aus
diesem Grunde haben wir in unserem Koalitionsvertrag
genau das niedergeschrieben, was von allen Oppositionsfraktionen zitiert worden ist. Denn wir wollen den
Umstand abschaffen, dass die Verbraucherrechte in diesem Bereich ungenügend sind.
({0})
Die Frage ist, wie wir das machen.
Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, über den wir
heute abstimmen werden. Die SPD geht darin auf die
Schlichtungsstelle söp ein, die bisher nicht für den Flugverkehr zuständig ist. Weil die Schlichtungsstelle gut arbeitet, will die SPD die Teilnahme der Luftverkehrsbranche an der söp erreichen. Genau wie Kollegin Puttrich
sage ich: Ja, die söp leistet gute Arbeit. Wir wollen aber
mit unserer Regulierung die Richtigen treffen. Ich hätte
gern den Kollegen Behrens gefragt, wer den Flug nach
Larnaca ausgerichtet hat. Wir können gerne die deutschen Carrier verpflichten. Die Frage ist aber, ob die
Probleme bei ihnen am größten sind. Haben wir nicht die
größten Probleme mit Ryanair und easyJet, die sich niemals freiwillig einer Schlichtung unterwerfen werden,
wenn wir den falschen Weg wählen?
Wir wollen erreichen, dass die Schlichtungsergebnisse von den Verkehrsträgern anerkannt werden. Deswegen müssen wir eine Systematik finden, der alle folgen können. Jetzt ist der einzige Streitpunkt der, wie das
aussehen soll. Wenn das später unter dem Dach der söp
stattfindet und alle freiwillig unter dieses Dach gehen,
dann haben wir das Problem nicht. Aber es zeigt sich,
dass gerade die ausländischen Carrier nicht unter dieses
Dach wollen.
Zu den Gründen, die Sie angeführt haben, muss ich
sagen, dass sie sekundär sind. Aus der Sicht des Verbrauchers ist es wichtig, dass er nur eine Nummer anrufen
muss, egal ob er mit der Bahn gefahren oder mit dem
Flugzeug geflogen ist, und dass er nur eine Homepage
aufzurufen braucht. Es ist egal, ob er in der Zentrale der
söp landet und anschließend in die Abteilung Bahn oder
Flug durchgestellt wird. Es ist vollkommen unerheblich,
wie die Struktur dahinter aussieht. Auch in einem Unternehmen, wie Sie es zeichnen, gibt es verschiedene Abteilungen, die sich mit unterschiedlichen Schlichtungsfragen beschäftigen. Wenn es eine Anlaufstelle gibt, ist
es aus Verbrauchersicht vollkommen irrelevant, wie die
Struktur dahinter aussieht. Uns geht es darum, eine niederschwellige, gute Verbraucherschutzpolitik zu machen. Genau das tun wir mit unserer Vorgehensweise.
Sie wissen genau, dass es sehr schwierig ist, die ausländischen Carrier unter dieses Dach zu bekommen.
({1})
Deshalb sind wir dabei, nicht nur mit diesen Unternehmen zu reden, sondern auch zu schauen, wer mitzieht.
Als Ultima Ratio sollen diejenigen, die nicht mitmachen,
einer Zwangsschlichtung unterworfen werden.
({2})
Wenn das alles so einfach wäre, hätten Sie es damals
schon machen können. Sie wissen genau: Wenn wir
nicht alle Unternehmen der Branche einbeziehen, dann
haben wir ein Problem. Ausnahmen werden wir nicht
zulassen. Deswegen heißt gute Verbraucherschutzpolitik, alle in die Schlichtung einzubeziehen. Wir sind dabei
nicht nur auf einem guten Weg, sondern ganz nahe dran.
Ich gehe davon aus, dass wir mit Frau LeutheusserSchnarrenberger und Frau Aigner die richtigen Damen
haben, um dieses Problem zu lösen.
Vielen Dank für Ihr Zuhören.
({3})
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer den Kolleginnen und Kollegen der Opposition und von der Regierungskoalition genau zugehört
hat, der musste am Ende zu dem Ergebnis kommen, dass
wir unter dem Strich gar nicht so weit auseinanderliegen.
Ehrlich gesagt, auch ich bin unzufrieden darüber, dass
wir noch kein abschließendes Ergebnis erzielen konnten.
({0})
Es geht in der Tat noch um einen wesentlichen Punkt,
den der Kollege von der FDP gerade ausführlich erläutert hat. Ich glaube, es ist überhaupt nicht zielführend,
wenn die Kollegen von der SPD so tun, als hätten sie mit
ihrem Antrag einen großen Wurf gelandet.
({1})
Tatsache ist, dass der alte BDF, also der Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften, nicht nur akzeptiert hat, was in unserem Koalitionsvertrag zur Schlichtung steht, sondern auch aktiv geworden ist und
beschlossen hat, dass die Schlichtung kommen wird.
Auch für uns von der Union ist es zweitrangig, ob das
unter dem Dach der söp oder separat erfolgt. An erster
Stelle ist für uns wichtig, dass alle Verkehrsträger dabei
sind. An zweiter Stelle ist uns wichtig, dass die Verkehrsträger die Kosten tragen und dass die Lösung aus
Kundensicht praktikabel ist und sie schnell und unkompliziert umgesetzt wird.
Ich möchte an der Stelle die söp, die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, loben. Ende
2009 ist sie gestartet, und sie macht zweifellos eine gute
Arbeit. Sie hat im Sinne des Verbraucherschutzes auch
im Bereich Tourismus die Anliegen der Kunden gestärkt. Deshalb ein herzliches Dankeschön.
({2})
Wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es
im Bereich des Bus- und Schiffsverkehrs sehr selten, bei
der Bahn jedoch in höherem Maße zu Schlichtungsanfragen kommt. Die Schlichtungsfälle, über die wir reden,
werden - ich wiederhole es gerne - zu 90 Prozent einvernehmlich beigelegt. Wenn die Angaben vom alten
BDF, vom Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften, stimmen, dann ist es auch hier so, dass 99 Prozent der Kundenbeschwerden außergerichtlich und damit zufriedenstellend gelöst werden.
Wir sollten aber auch wissen, über welche Dimensionen wir insgesamt reden. Die Bahn befördert jährlich
2,4 Milliarden Fahrgäste. Bei 2 100 Schlichtungsanträgen ist das ein Verhältnis, das sich sehen lassen kann.
Die Anzahl der Schlichtungsfälle ist doch sehr gering.
Im Bereich der Fluggesellschaften werden in Deutschland jährlich 190 Millionen Fluggäste befördert. Im gleichen Zeitraum sind lediglich 1 500 Anträge als Schlichtungsverfahren bei der söp eingegangen.
Sie haben jetzt vielleicht das Gefühl, das könne überhaupt nicht stimmen. Aber wir reden heute ausschließlich über die Schlichtung. Wir reden nicht über den
ersten Schritt, das interne Verbraucherbeschwerdemanagement des jeweiligen Unternehmens. Hier werden
bereits die meisten Beschwerden und Schadenersatzforderungen der Kunden abgearbeitet. Das halte ich für ein
gutes Zeichen. Wir reden hier auch nicht über den dritten
Weg, den sogenannten Klageweg, der jedem offensteht,
sondern über die Schlichtung.
Ich werbe am Schluss noch einmal dafür, weiterhin
auf Freiwilligkeit zu setzen, unabhängig davon, ob die
Fluggesellschaften nun unter dem Dach der söp oder
selbstständig eine Schlichtungsstelle einrichten. Der
Kollege Wichtel hat es schon gesagt: Wenn wir die
Schlichtung gesetzlich verbindlich regeln, hat am Ende
der Kunde das Nachsehen, weil er dann den Spruch akzeptieren muss.
({3})
Also noch einmal: Es geht um eine einvernehmliche
Streitbeilegung für alle Verkehrsträger. Da sich abzeichnet, dass die Verhandlungen dazu in der letzten Phase
sind, ist der Antrag der SPD überflüssig. Wir können ihn
also mit ruhigem Gewissen ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7337 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die
Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
abgelehnt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, also
Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen.
Auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unterbrechen wir nun wegen einer Fraktionssitzung die
Plenarsitzung bis 17.30 Uhr. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, Wolfgang Börnsen
({1}), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann,
Sören Bartol, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Patrick Kurth ({2}), Reiner Deutschmann, Patrick Meinhardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede,
Josef Philip Winkler, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 Ein Ereignis von Weltrang
- Drucksachen 17/6465, 17/7219 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Kretschmer
Patrick Kurth ({3})
Dr. Rosemarie Hein
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ministerpräsident des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Reiner
Haseloff.
({4})
Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident ({5}):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Mitglieder des Bundestages! Ich bin dankbar, heute vor Ihnen
als Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt und
Mitglied im Kuratorium zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums sprechen zu dürfen. Ich tue das auch im
Namen meiner Kollegin aus Thüringen, Frau Ministerpräsidentin Lieberknecht,
({6})
und meines sächsischen Kollegen, Herrn Ministerpräsidenten Tillich.
({7})
Es gibt viele Städte in Mitteldeutschland, mit denen
der Reformator eng verbunden war. Erfurt war die Stadt
des jungen Luther. Auf der Wartburg in Eisenach fand er
Zuflucht. Seine Frau stammte aus Sachsen. Ihr Gelübde
als Nonne legte sie im Kloster Nimbschen ab. Torgau
war ihr Sterbeort. Das eigentliche Lutherland ist jedoch
das heutige Sachsen-Anhalt mit Mansfeld,
({8})
dem Heimatort der Eltern und der befreundeten Fürstenfamilie, mit Eisleben, dem Ort der Geburt und des Todes, und natürlich mit Wittenberg, dem wichtigsten Wirkungsort Luthers. Die Lutherstadt Wittenberg ist der
zentrale Gedenkort der Reformation und die Stadt mit
den bedeutendsten Lutherstätten: Schloss- und Marktkirche, Augusteum, Lutherhalle und die alte Universität
Leucorea. Erste Anregungen, das Reformationsjubiläum
des Jahres 2017 und die Jahre bis dorthin in einer
Lutherdekade gemeinsam zu begehen, sind deshalb bereits im Jahre 2008 von Sachsen-Anhalt ausgegangen.
Sie wurden noch durch meinen Amtsvorgänger Professor Böhmer an die Evangelische Kirche in Deutschland
und an den Bund herangetragen und dort positiv aufgenommen. Daraus ist das schon erwähnte Kuratorium mit
seinen inzwischen weitverzweigten Arbeitsstrukturen
entstanden.
Gemeinsam, das heißt für uns im Bewusstsein der
Unterschiede zwischen Kirche und Staat mit Blick auf
ein Ereignis, das ja unzweifelhaft zunächst einmal kirchlicher Natur ist, aber eben zugleich in enger freundschaftlicher Zusammenarbeit, weil die Bezüge dieses Ereignisses ebenso unzweifelhaft tief hineinwirkten und
hineinwirken in den Staat und die Gesellschaft. Ich begrüße es deshalb, dass es in den Kirchen konkrete Überlegungen gibt, im Jahr des Reformationsjubiläums zu einem Kirchentag nach Berlin und Wittenberg einzuladen.
({9})
Dem Reformator wichtige Fragen der Weltverantwortung des Glaubens können so ganz bewusst vor dem
Hintergrund einer inzwischen ausgeprägten Säkularisation an den Stätten der Reformation diskutiert und auf
ihre Relevanz für uns im Hier und Heute hin reflektiert
werden.
Das unterscheidet unsere Herangehensweise im Übrigen fundamental von der Herangehensweise bei den
staatlicherseits sehr verschämt gestalteten Feiern zum
500. Geburtstag Luthers im Jahre 1983 in Wittenberg,
die ich noch in persönlicher Erinnerung habe. „Gemeinsam“ heißt für uns also auch: im Zusammenwirken von
Bund, Ländern und Kommunen, ergänzt durch ein EngaMinisterpräsident Dr. Reiner Haseloff ({10})
gement der Zivilgesellschaft, soweit sie sich in ihrer
geistigen und kulturellen Prägung auf Impulse Martin
Luthers bezieht. Als Wittenberger füge ich beim Stichwort „gemeinsam“ hinzu: Ich wünsche mir, dass dieses
Jubiläum eine spirituelle Kraft auch über konfessionelle
Grenzen hinweg entfaltet.
({11})
Vor diesem Hintergrund bin ich für die Unterstützung
des Deutschen Bundestages dankbar. Mit einem ersten
Beschluss am 18. Juni 2009 und der Beschlussempfehlung, die Ihnen heute zur Entscheidung vorliegt, bekräftigen Sie nachdrücklich die Bereitschaft des Bundes,
sich aktiv konzeptionell, fördernd und gestaltend an der
Lutherdekade und am Reformationsjubiläum zu beteiligen.
Besonders dankbar bin ich, dass die vorliegende Beschlussempfehlung fraktionsübergreifend von den Abgeordneten der CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen und ebenso einvernehmlich vom
federführenden Ausschuss für Kultur und Medien wie
von allen mitberatenden Ausschüssen getragen wird.
Damit unterstreichen Sie den übergreifenden Charakter
des Ereignisses und seine Bedeutung für Politik und Gesellschaft, Bildung und Kultur, Wirtschaft und Tourismus, nationale Identität und internationale Beziehungen.
Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken.
Ich danke Ihnen auch dafür, dass die Unterstützung
des Bundes bereits sehr konkret geworden ist. Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
hat mit Unterstützung des Deutschen Bundestages im
laufenden Jahr ein neues Förderprogramm auf den Weg
bringen können, das kulturellen Projekten, aber auch der
Herrichtung der historischen Lutherstätten zugutekommt. Dafür danke ich Ihnen, sehr geehrter Herr
Staatsminister Neumann.
Das Auswärtige Amt und das Innenministerium sind
im Rahmen ihrer Zuständigkeiten hilfreich. Daneben
helfen uns das Bau- und das Wirtschaftsministerium mit
Blick auf bauliche und touristische Vorhaben. Natürlich
wünsche ich mir, dass diese Unterstützung fortgeführt
werden kann. Wahrnehmung und Bewertung des Reformationsjubiläums hängen entscheidend von der touristischen Infrastruktur, einem guten Veranstaltungsangebot,
interessanten Projekten und vom baulichen Zustand kultureller Leuchttürme wie den Lutherstätten ab.
All das sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg
des Jubiläums. Hier steht der Bund aus meiner Sicht in
einer besonderen Pflicht; diese Pflicht hat er erkannt.
({12})
Der Kulturstaatsminister hat sein Programm bereits in
die mittelfristige Finanzplanung einbezogen. Dankbar
bin ich für Überlegungen, eine ergänzende Unterstützung der großen Baumaßnahmen an Orten, die zum
Weltkulturerbe gehören, aus dem Etat des Bauministeriums zu prüfen. Für die betroffenen Länder wäre dies
eine große Erleichterung. Die heutige Beschlussempfehlung schafft dafür eine gute Basis.
Dabei will ich betonen, dass sich bereits sechs Länder
für das Reformationsjubiläum engagieren und auch Unterstützung des Bundes in Anspruch nehmen: Neben
Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen arbeiten inzwischen Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz in den entsprechenden Gremien mit. Für Sachsen-Anhalt kann ich
sagen, dass wir uns in erheblichem Maße engagieren:
Sachsen-Anhalt wird die Jubiläumsvorbereitungen in
den kommenden Jahren mit bis zu 75 Millionen Euro
aus Landesmitteln unterstützen.
({13})
Wir sind für Mittel des Bundes und der Europäischen
Union dankbar, die hier ergänzend wirken. Wir sind
- wie die anderen genannten Länder - dringend darauf
angewiesen.
Sehr geehrte Damen und Herren, Deutschland bereitet
sich auf das Reformationsjubiläum 2017, ein Ereignis
von Weltrang, vor. Der Antrag, der Ihnen heute zur Beschlussfassung vorliegt, bringt kräftigen Rückenwind für
das weitere Engagement des Bundes, aber auch der Länder. Ich danke allen, die daran mitwirken. Ich bitte Sie:
Lassen Sie uns weiter gemeinsam für den Erfolg dieses
Jubiläums arbeiten. Im Jahr 2017 soll die Welt nur den
besten Eindruck von einem geschichtsbewussten, kulturgeprägten, weltoffenen und gastfreundlichen Deutschland gewinnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Der Kollege Siegmund Ehrmann hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wer etwas will anfangen, der mag es beizeiten tun“ - so
Martin Luther. Diesen Ratschlag befolgen wir, insbesondere die Regierung, im politischen Handeln nicht immer,
aber im Fall des Reformationsjubiläums 2017 ist dies
von den Akteuren - das haben wir gerade von Herrn
Ministerpräsident Haseloff gehört - schon recht frühzeitig angepackt worden. Bereits im Jahre 2008 ist die sogenannte Lutherdekade feierlich eröffnet worden. Üblicherweise gestehen wir Jubilaren ein besonderes Jahr zu:
Einsteinjahr 2005, Mozartjahr 2006 und das Schillerjahr
2009. Warum bekommt Martin Luther eine ganze Dekade?
So erfolgreich die eben genannten Herren in ihren jeweiligen Bereichen auch gewirkt haben mögen - die Reformation revolutionierte nicht nur Theologie und Kirche. Sie führte zu Umbrüchen weit darüber hinaus. Sie
prägte ganze Gesellschaften und stellt einen der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte des Abendlandes
dar. Deshalb gilt sie auch als Eckpunkt für den Beginn
der Neuzeit.
Natürlich war die Reformation kein Geniestreich Einzelner, sondern sie stand in der Kontinuität reformerischer Ansätze des Spätmittelalters und konnte sich nur
vollziehen, weil verschiedene Faktoren zusammenwirkten. Das macht sie aber nicht weniger bedeutsam. Im Gegenteil: Die Reformation hat der Aufklärung den Weg
geebnet, und die prägt bis in die Gegenwart unsere Gesellschaft.
({0})
Ich will gerne etwas konkreter werden, weil ich es
ausgesprochen hilfreich finde, dass die Organisatoren
der Lutherdekade, insbesondere die Evangelische Kirche
in Deutschland und ihre Gliedkirchen, die jeweiligen
Jahre unter ein Leitthema gestellt haben. 2011 stand unter der Überschrift „Reformation und Freiheit“. Luther
hatte die theologisch revolutionierende Überzeugung,
dass die Menschen durch ihren Glauben und in der
Nachfolge als theologisch religiöse Begründung frei
sind. Diese Freiheit können ihnen weder kirchliche noch
staatliche Obrigkeiten nehmen. Der Mensch ist mündig
und kann sich ohne Vermittlung einer Autorität ein eigenes Urteil bilden.
({1})
Das ist nicht verkehrt, nicht wahr? Im Gegenteil: Da bekommt die Bibelübersetzung eine ganz wesentliche Bedeutung. Was früher unter der Herrschaft des Klerus gestanden hat, nämlich die Schulung der Fähigkeit, sich ein
eigenes Urteil, eine eigene Kenntnis zu erarbeiten,
wurde allen zugänglich. Langfristig entwickelten sich
daraus die Ideen von Freiheit und Gleichheit als eine wesentliche Triebfeder der Reformation, die letztendlich
Demokratie mitgestaltet hat.
Das Jahr 2010 stand unter dem Motto „Reformation
und Bildung“. Auf die Bibelübersetzung bin ich bereits
eingegangen. Die Reformatoren setzten sich aktiv für die
Entwicklung des Schulwesens ein. Sie forderten, die
Schulpflicht für alle Kinder, unabhängig von Stand und
Geschlecht. Sie forderten, dass die Städte ihrer Verantwortung gerecht und als Schulträger tätig werden.
Luther predigte den Eltern: Die Kinder müssen lesen lernen. Die Folgen der reformatorischen Bildungspolitik
sind wissenschaftlich nachgewiesen. Am Ende des
19. Jahrhundert war die Alphabetisierungsquote in den
protestantisch geprägten Gegenden um 10 Prozent höher
als in anderen Regionen.
Das Themenjahr 2013 trägt den Titel „Reformation
und Toleranz“. Es liegt auf der Hand, dass durch die Reformation Toleranz nicht einfach vom Himmel fiel. Die
blutigen Religionskriege in der Zeit danach sprechen
Bände und haben viel Elend über die Menschen gebracht. Nachdem jedoch die Reformation offensichtlich
unumkehrbar war, musste man sich langfristig auf ein
Zusammenleben der unterschiedlichen Konfessionen,
aber auch mit Menschen, die nicht „religiös musikalisch“ sind, einrichten. Die Reformation hat insofern
Europa genötigt, auf der Basis von Toleranz und wechselseitigem Respekt Regeln für das Zusammenleben unterschiedlicher Weltanschauungen zu entwickeln. Die religiös-kulturelle Differenzierung und Pluralisierung ist
damit zu einem Wesensmerkmal, einer Signatur Europas
geworden.
Dies alles stelle ich voran, weil es deutlich macht, wie
wichtig es ist, sich mit diesem Teil unseres kulturellen
Erbes auseinanderzusetzen und deutlich zu machen, welche Prägekraft die Reformation in unsere Gesellschaft
hineinbringt.
({2})
Es ist also wichtig - ich begrüße ausdrücklich die Ausführungen des Ministerpräsidenten -, dass viele Akteure
zusammenwirken, um daran zu erinnern, was von der
Reformation ausgegangen ist und wo ihre Dimension in
Gegenwart und Zukunft liegt. Insofern unterstützt dieser
von den Fraktionen des Deutschen Bundestages getragene Antrag genau das Bemühen, diese Dimension herauszuarbeiten.
Ich möchte noch einen besonderen Aspekt in Erinnerung rufen: Die europäische Dimension sollte dabei
nicht zu kurz kommen. Wir fordern konkret in diesem
Antrag, dass der Aspekt des Reformationsjubiläums
auch in die europäischen Programmplanungen aufgenommen wird. Was das Europäische Kulturerbe-Siegel
ausmacht, merkt man daran, dass zum Beispiel die
Luthergedenkstätten als Stätten der Reformation mit diesem Siegel ausgezeichnet worden sind. Das macht deutlich, welche Strahlkraft von den soeben näher
geschilderten Lutherwelterbestätten ausgeht.
({3})
Wir sollten das Reformationsjubiläum 2017 und die
Zeit bis dahin intensiv nutzen, um uns mit der Reformation als Teil unseres kulturellen Erbes ganz bewusst auseinanderzusetzen und um auch die aktuellen Aspekte
aufzunehmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung bringt sich aktiv in die Gestaltung der
Lutherdekade und des eigentlichen Jubiläumsjahres ein
und begleitet die Lutherdekade von Anbeginn, nämlich
seit 2008. Der Kulturstaatsminister, Herr Neumann, ist für
die Lutherdekade federführend zuständig. Wir, die Bundesregierung, lassen uns von dem Verständnis leiten, dass
die Reformation ein Ereignis war, das kulturgeschichtlich
bedeutende Veränderungen angestoßen hat - und zwar
weltweit -, getreu der Aussage Martin Luthers: „Es gibt
keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Weg schon Frieden ist.“
Die Dimension der von der Reformation ausgegangenen Impulse will die Bundesregierung in Kooperation
mit ihren Partnern unterstreichen. Am nächsten Donnerstag wird die Bundesregierung aus diesem Anlass zusammen mit der EKD, den Landeskirchen und den Bundesländern die sogenannte Dachmarkenkampagne hier
in Berlin feierlich eröffnen. Wir wollen damit die Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum national und
insbesondere über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter machen. Im Mittelpunkt der Kampagne stehen
dabei nicht nur das auf einem der bekanntesten Lutherporträts basierende Logo, sondern auch Leuchtturmprojekte, zum Beispiel die Eröffnung des Themenjahres
2012 „Reformation und Musik“ am 31. Oktober dieses
Jahres mit einem großen Festgottesdienst und Konzerten
in Eisenach.
({0})
Mich freut besonders, dass wir dieses Jubiläum hier
im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend - natürlich mit Ausnahme der Linken - würdigen und dass wir
dies gemeinsam mit einer entsprechenden Dynamik angehen; denn das ist wichtig. Wichtig ist aber auch, dass
wir international werben,
({1})
weil dieses Ereignis weltweit von kulturgeschichtlicher
Bedeutung ist - ich habe es schon gesagt - und auch tourismuspolitisch einiges bewegen kann.
Ich selbst bin Mitglied im Kuratorium und werde natürlich das Auswärtige Amt einbringen. Neben dem
Auswärtigen Amt und dem Bundesinnenministerium engagieren sich acht Bundesministerien, das Bundeskanzleramt und das Bundespresseamt für die Lutherdekade.
Die Bundesregierung hat - vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung des Bundestages - ihre Bereitschaft erklärt, sich auch am Reformationsjubiläum finanziell zu
beteiligen. Immerhin haben wir 2011 5 Millionen Euro
eingestellt. Wir werben für die Einstellung der entsprechenden Summen in den Haushalt 2012.
({2})
- Ja, das ist einen Applaus wert. - Dagegen ist die
Summe beim Auswärtigen Amt - im Moment
200 000 Euro - noch etwas klein. Aber das kann sich bis
2017 noch steigern.
({3})
Lassen Sie mich für die Bundesregierung als Letztes
- leider habe ich nur drei Minuten Redezeit - folgendes
Plädoyer im Hinblick auf das Reformationsjubiläum halten: Auf internationaler Ebene werden wir für die Jahre
2013/2014 eine kunsthistorische Wanderausstellung zum
Wirken Luthers und zu den weltweiten Auswirkungen
der Reformation vorbereiten. Daneben soll die sogenannte Lutherbox an verschiedene Orte wandern, um
über Luther und die Reformation zu informieren.
Ich glaube, das alles sind hervorragende Projekte, mit
denen wir auch für den Kulturstandort Deutschland, für
die Kulturnation Deutschland in der Welt werben können. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Fraktionen,
die sich an diesem Antrag beteiligt haben. Danke, dass
Sie das so intensiv unterstützen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist eine schöne Aufgabe, sich im Parlament mit einem
großen Ereignis in der Geschichte Deutschlands, ja Europas zu befassen - mit der Reformation. Es ist eher unschön, dass meine Fraktion bei der Antragstellung ein
weiteres Mal ausgeschlossen wurde. Selbst bei einem
Thema wie der Würdigung des Reformationsjubiläums
darf meine Fraktion einen Antrag aller anderen Fraktionen nicht mittragen.
({0})
Grund: ein grundsätzlicher Boykott der Linken durch die
CDU/CSU-Fraktion, der von den anderen Oppositionsfraktionen tapfer mitgetragen wird.
({1})
„Was ist eigentlich natürlich am Ausschluss der Fraktion
Die Linke bei einem solchen Thema in der parlamentarischen Behandlung?“, frage ich mich und frage ich Sie.
({2})
Wenn wir an diesem Antrag schon nicht mitarbeiten
durften, wähle ich den kurzen Moment meiner Rede, um
Ihnen zu beschreiben, was diesem Antrag aus unserer
Sicht fehlt. Wenn Sie die Reformation feiern wollen,
müssen Sie sich mit mehr befassen als mit Luther, und
Sie dürfen Luther auch nicht zu einer Lichtgestalt von
Freiheit oder gar Toleranz stilisieren.
({3})
Kardinal Lehmann, kein geringerer als er, hat in einem
Interview mit der Zeitung Die Welt konstatiert - Zitat -:
Er wird wohl deshalb so gefeiert, weil er den
Kampf gegen die Autorität des Papstes aufgenommen hat und sich nicht einschüchtern ließ. Dass er
einen epochengeschichtlichen Einschnitt personifiziert, kann man nicht bestreiten. Aber der Held der
Freiheit im weitesten Sinn ist er nicht. Das zeigt
sein Verhalten gegenüber anderen Reformatoren,
den Bauern bei ihrem Aufstand, Andersgläubigen,
zum Beispiel den Wiedertäufern, aber auch gegenüber Katholiken und Juden.
({4})
In den lutherischen Territorien
- lieber Kollege Ehrmann wurde die frühzeitliche Religionsfreiheit kaum beachtet, es herrschte allenfalls eine mildere Form
von Toleranz als sonst im Reich.
So weit Kardinal Lehmann.
Von dieser Einordnung Luthers ist in Ihrem Antrag an
keiner Stelle die Rede. Zwar versprechen Sie - Zitat -,
„das weite Themenspektrum der Reformation“ in der
Lutherdekade aufzunehmen, doch ich vermisse vor allem die Rolle des Volkes bei dieser Reformation:
({5})
das hoffende, das kämpfende, das umdenkende und das
vielerorts schwer betrogene, ja niedergekämpfte Volk.
Seiner bei diesem Jubiläum zu gedenken, wäre gerade
heute, in einer Zeit der vielen Volksaufstände, die zumeist auch religiös motiviert oder gegenmotiviert sind,
ein wichtiges Signal.
({6})
Sie führen eine imposante Liste von Weggefährten
Luthers an. Aber wo bleiben die Zeitgenossen der Reformation, allen voran Thomas Müntzer, der, wohlgemerkt,
die erste deutsche Predigt verfasst hat und dessen Freiheitsbegriff und Menschenbild durch und durch reformatorisch waren, auch wenn die Niederschlagung blutig
war? Müntzer steht für Begriffe wie direkte Demokratie
und soziale Gerechtigkeit. Er propagierte Freiheit und
Gleichheit der Menschen als göttliche Prinzipien. Der
Reformation der Kirche sollte eine Reformation der Gesellschaft folgen.
Ferner führen Sie eine imposante Liste von Orten an,
die kulturgeschichtlich mit der Reformation in Verbindung stehen, von Augsburg bis Worms. Wo bleibt zum
Beispiel Mühlhausen? Nein, Ihr Reformationsbild - es
ist auf Luther fixiert, und Ihr Lutherbild ist ganz und gar
einseitig - ist zu schmal, um dem Ereignis Reformation
gerecht zu werden. Von den ständigen Ausrutschern in
die Tourismusfalle, den ganzen Marketing- und Standortbeschwörungen bis hin - jetzt bitte ich, aufmerksam
zu sein - zur „Dachmarkenkampagne Luther 2017“
durch den Staatsminister - ist er anwesend? - am
27. Oktober 2011 will ich gar nicht reden. Ich glaube,
Luther würde sich in seinem Grab umdrehen, wenn er
das Wortungetüm „Dachmarkenkampagne Luther 2017“
hören würde.
({7})
Ich kann nur hoffen, dass von den 5 Millionen Euro
Bundesmitteln, die jetzt jährlich zur Verfügung stehen,
auch Projekte und Orte der Seite der Reformation gefördert werden, die Sie in Ihren Antrag - sagen wir einmal:
bisher - gar nicht einbezogen haben. In dieser Hoffnung
stimmen wir als ausgeschlossene Fraktion diesem Antrag zu.
Danke schön.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Agnes Krumwiede das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ja, 5 Millionen Euro Bundesmittel pro Jahr
bis 2017 für die Lutherdekade erfordern eine transparente Kommunikation darüber, wofür diese Mittel verwendet werden sollen. Jedes Jahr haben die Veranstaltungen andere thematische Schwerpunkte; wir haben
schon gehört, dass das so ist. Das nächste Jahr zum Beispiel steht unter dem Motto „Reformation und Musik“.
Ein Teil der Bundesfinanzierung wird in die Restaurierung und Vorbereitung der Wirkungsstätten Martin
Luthers fließen. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass im
vorliegenden Antrag auf eine nachhaltige Ausrichtung
des Reformationsjubiläums Wert gelegt wird.
({0})
Bei Veranstaltungen und bei der Herstellung von Infomaterialien sollen Kriterien der Klimaneutralität berücksichtigt werden.
Neben der investiven Vorbereitung auf das Großereignis im Jahr 2017 sind für uns die kulturelle und gesellschaftliche Dimension entscheidend. Zahlreiche Veranstaltungen sollen den Dialog zwischen Gesellschaft und
Kirche programmatisch stärken. Wir begrüßen, dass dabei kulturelle, künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen im Zentrum stehen.
({1})
Diese Chancen der kulturellen Begegnung innerhalb der
Lutherdekade wollen wir gern in den nächsten Jahren
politisch begleiten.
Eine Fokussierung auf rein touristische Aspekte lehnen wir ab.
({2})
Nicht ein möglichst repräsentatives Bild Lutherdeutschlands im Ausland steht für uns im Vordergrund, sondern
die inhaltliche und interdisziplinäre Auseinandersetzung
mit Luther, seiner Zeit und den Auswirkungen seiner
Schriften.
Um die Trennung zwischen Staat und Kirche in der
Organisationsstruktur zu bewahren, gibt es zwei Geschäftsstellen: eine von staatlicher und eine von kirchlicher Seite. Bestrebungen - auch seitens des BKM -,
diese beiden Stellen zusammenzulegen, lehnen wir ab.
Kirchliche und staatliche Zuständigkeiten müssen klar
voneinander getrennt bleiben.
({3})
Ein Jubiläum mit dem Anspruch auf ein kirchliches
und kulturgeschichtliches Ereignis von Weltrang muss
bei Projekten und Veranstaltungen alle Menschen ansprechen und einbeziehen, nicht nur Protestanten. Außerdem darf sich die Ausgestaltung der Jubiläumsfeierlichkeiten nicht auf einige wenige Prestigeevents
beschränken. Dafür ist eine bundesweit flächendeckende, vielfältige und abwechslungsreiche Veranstaltungsstruktur in den Städten ebenso wie im ländlichen
Raum notwendig. Auch die Förderung des Dialogs mit
anderen Religionen, mit Nichtgläubigen und Atheisten
sollte im Rahmen der Lutherdekade gestärkt werden.
({4})
Es darf nicht um eine Verherrlichung Martin Luthers
gehen.
({5})
Auch kritische Fragen müssen aufgeworfen werden. Nur
durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Institution Kirche, der Person Martin Luther und den umfassenden Konsequenzen seiner Schriften für die Geschichte wird die Lutherdekade ihren Aufgaben gerecht.
({6})
Martin Luthers Wirken hatte viele Facetten mit prägender historischer Ausstrahlung. Auf der einen Seite
gilt er als Reformator, als Modernisierer der Kirche. Unbestritten ist sein Beitrag zur Demokratisierung, zur Entwicklung der deutschen Sprache und zum Zeitalter der
Aufklärung durch die Stärkung der individuellen Eigenverantwortung und der Gewissensentscheidung.
({7})
Auf der anderen Seite, der unbequemen Schattenseite,
gilt Martin Luther als populärer Vertreter des Antijudaismus. Einige Auszüge aus seinen Briefen und Predigten
sind gerade durch die Brille der jüngeren deutschen Vergangenheit schwer verdaulich. Diese Aspekte dürfen im
Glanz der Lutherdekade nicht untergehen.
({8})
Im Gegenteil: Die Lutherdekade kann ein Forum der
kritischen Reflexion bieten, um über den Einfluss
Luthers auf Vergangenheit und Gegenwart aus unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. In diesem
Kontext sollten auch Moses Mendelssohn - der jüdische
Luther, wie Daniel Barenboim ihn einmal bezeichnet hat
- und Mendelssohns wenig beachteten Bibelübersetzungen eine Rolle spielen.
Im vorliegenden Antrag sind die Rahmenbedingungen für das Jubiläum festgelegt. Als nächster Schritt
muss die inhaltliche Ausrichtung, die Identifikation mit
der Lutherdekade in der Bevölkerung gestärkt werden.
Jetzt müssen die inhaltlichen Weichen für eine bunte
Lutherdekade gestellt werden, mit Events, Diskussionsrunden und Foren, die alle gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen zum Mitreden, Mitdenken und Mitgestalten einladen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach Martin Luther müsste ich in dieser 45-Minuten-Debatte schweigen. Er hat einmal seinen Glaubensbrüdern zugerufen: Ihr könnt predigen, was ihr wollt,
aber nicht über 30 Minuten.
({0})
Ich schweige nicht.
Ich möchte mich dem Lutherjubiläum in meinem Beitrag mit einer Aussage des Papstes, die er im Deutschen
Bundestag getroffen hat, nähern:
Die Kultur Europas
- so hat es der Papst gesagt ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und
Rom - aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der
Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden.
Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.
Unser Denken, unser Handeln und unsere Wertvorstellungen sind ganz wesentlich durch die christlich-jüdischen Religionen geprägt. Auch unserem neuen Eu15726
Wolfgang Börnsen ({1})
ropa haben sie mit die Seele gegeben. Eine europäische
Kulturidentität ist ohne das Christentum nicht vorstellbar.
({2})
Dass unser Kontinent unabhängig davon eine bunte
multikonfessionelle wie religiöse Landschaft bietet,
empfinde ich als eine Bereicherung. Tatsache bleibt jedoch: Die Entchristlichung unseres Abendlandes hält an.
Die Risse in Europas Fundament vergrößern sich. Eine
Revitalisierung der geistig-moralischen Grundlagen unseres Kontinents ist nicht nur Kirchenverantwortung. Sie
ist unser aller Verantwortung.
({3})
Auch deshalb befassen wir uns mit der Lutherdekade,
mit dem Beitrag der Lutheraner zur kulturellen und europäischen Identität.
Luthers Freiheitsverständnis nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein. Er sagte:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle
Dinge und niemandem untertan.
({4})
Zugleich sagte er:
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller
Dinge und jedermann untertan.
Dieses Doppelgesicht von Freiheit und Gleichheit vor
Gott und dem Gesetz hat unser Bürger-, unser Staatsund unser Demokratieverständnis in den folgenden Jahrhunderten ganz maßgeblich beeinflusst. Die Bill of
Rights in England, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und die Aufklärung wären ohne Luther
nicht denkbar.
Besonders in Skandinavien, wo der Wegbegleiter des
Reformators Johannes Bugenhagen gewirkt hat und wo
sich bis heute fast 90 Prozent der Bevölkerung zum Protestantismus bekennen, lassen sich die Spuren dieser
Glaubensausrichtung verfolgen. Dass Dänemark als erstes Land die Sklaverei abschaffte, hat mit dem damals
neuen Freiheits- und Gleichheitsverständnis des Reformators zu tun. Die vorbildlichen Staatsgedanken der
Schweden im Hinblick auf die soziale Ausrichtung der
Politik sind ebenso darauf zurückzuführen wie der norwegische Widerstand gegen die deutsche Besatzung
während des Zweiten Weltkrieges. Mut, Rechtfertigung
und Kraft schöpften die Frauen und Männer damals aus
den Lehren Luthers.
Heute sind diese Länder ein unverzichtbarer Eckpfeiler Europas. Sie haben standgehalten - auch gegenüber
Faschismus und Kommunismus, diesen menschenverachtenden Selbsterlösungsideologien. Diese Länder gehörten mit zu den ersten auf unserem Kontinent, die den
Grundsatz der Glaubensfreiheit praktizierten, wie ihn
das Luthertum forderte.
In der ständisch hierarchisierten Welt Anfang des
16. Jahrhunderts trugen Forderungen nach Religionsfreiheit und demokratischen Gemeindestrukturen oder auch
der Wahrung der Gleichheitsgrundsätze revolutionäre
Züge. Heute sind sie in der Europäischen Union Allgemeingut. Gott sei Dank! Das muss so bleiben.
Für die Mehrheit der Menschen auf unserer Welt gelten sie jedoch noch nicht. Deshalb ist es für die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion ein besonderes Anliegen, mit
der Lutherdekade auch auf diese Defizite aufmerksam zu
machen und weltweit Bürger- und Menschenrechte einzufordern.
Geben wir als Parlament den 25 Millionen Protestanten in unserem Land - Frau Jochimsen, unseren Glaubensbrüdern - eine Stimme, ohne Spott. Stärken wir die
61 Millionen Protestanten in Europa und die über
400 Millionen in der Welt. Als Ausgangs- und Kernland
des Protestantismus haben wir in Deutschland hier eine
ganz besondere Verantwortung.
({5})
Das Lutherjubiläum wird sicher einen Beitrag zur
Stärkung der europäischen Solidarität leisten können,
und gerade in diesen Tagen ist Solidarität in Europa besonders gefordert.
Danke schön.
({6})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Iris
Gleicke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Reformation war nicht nur ein wichtiges kirchliches,
sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis. Sie bedeutete Abschied vom Mittelalter, Stärkung der Aufklärung,
Bildung für das Volk und Ausbildung einer deutschen
Sprache und Kultur, und, ja, bis zur wirklichen Demokratie, bis zu wirklicher Freiheit und bis zu Toleranz war
es dennoch noch ein weiter Weg. Trotzdem: Die Hammerschläge, mit denen Martin Luther im Jahr 1517 seine
95 Thesen an das Tor der Wittenberger Schlosskirche nagelte, erschütterten die Welt in ihren Grundfesten.
Viele verbinden das Wort „Reformation“ mit unserem
heutigen Reformbegriff, mit Umgestaltung und mit der
Verbesserung des Bestehenden, mit der Art von Reformen, die wir im Parlament immer wieder in Gang setzen
und die leider viel zu oft dazu führen, dass sich die Bürger entsetzt und genervt abwenden.
Reformation bedeutet aber eigentlich Wiederherstellung und Erneuerung. Luther wollte die von ihm festgestellten Fehlentwicklungen des Christentums beseitigen
und überwinden. Er wollte die Kirche eigentlich nicht
spalten.
Auch wir reden heute viel von Wiederherstellung und
Erneuerung, zum Beispiel von einer Erneuerung und
Wiederherstellung der sozialen Marktwirtschaft, die angesichts des wahnwitzigen Treibens an den Finanzmärkten aus den Fugen zu geraten droht. Manch einer findet,
ein Reformator vom Range eines Martin Luther stünde
uns auch heute noch ganz gut zu Gesicht.
2017 werden Martin Luther, sein Werk und seine Wirkungsstätten im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen.
Ich finde, sie sollten Kristallisationspunkte für eine
breite gesellschaftliche Debatte sein. Das sollten wir uns
alle als Angehörige unterschiedlicher Religionen und
Konfessionen gemeinsam wünschen. Das gilt auch für
unsere Laizisten.
({0})
Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, hat erklärt, dass es einer kritischen
und öffentlichen Debatte der gesamten Zivilgesellschaft
bedarf. Er hat die evangelische Kirche aufgefordert, ihre
Tore dafür sehr weit zu öffnen. Das ist ein gutgemeinter
Hinweis. Ja, wir müssen gemeinsam darauf achten und
darauf drängen, dass sich die gesamte Zivilgesellschaft
an den geplanten Projekten beteiligt und es eine bunte
Dekade wird.
Aber mir erscheint auch in Erinnerung an den Besuch
des Papstes hier im Deutschen Bundestag der Hinweis
äußerst wichtig, dass sich die beiden großen Kirchen in
ihrer bewussten Distanz zum Staat doch längst als Teil
dieser Zivilgesellschaft begreifen. Insofern stehen die
Tore längst sperrangelweit offen. Das ist ein gewaltiger
Fortschritt, der neue Perspektiven hinsichtlich des Umgangs mit unserer gemeinsamen Geschichte und unseres
Miteinanders eröffnet. Darauf dürfen wir gemeinsam
stolz sein.
({1})
Ich bin in diesem Sinne dem Kulturstaatsminister
dankbar, dass er bei dem Projekt „DenkWege zu Luther“
darauf gedrängt hat, dass Schülerinnen und Schüler aus
Sachsen-Anhalt und Thüringen gemeinsam miteinander
arbeiten. Als Ostdeutsche - das sei mir gestattet - wünsche ich mir natürlich eine Westerweiterung, weil ich
glaube, dass dieses Projekt dabei noch spannender und
fruchtbarer werden könnte. Ich denke, das werden wir
alle in diesem Hause einmütig unterstützen.
Es wäre doch wirklich gut, wenn sich junge Leute
nicht nur aus den Kernländern der Reformation mit so
spannenden Fragen beschäftigen würden, was ein so
klassischer und theologischer Begriff wie „Gnade“ heute
bedeutet. 500 Jahre nach Luthers Thesen ist unsere moderne Gesellschaft vielfach gnadenlos auf Leistung und
Makellosigkeit ausgerichtet.
Ein anderes Beispiel ist der kritische Umgang mit
dem damaligen Ablasshandel. Wie weit sind wir davon
heute in einer Gesellschaft entfernt, in der buchstäblich
alles und damit auch das gute Gewissen käuflich zu sein
scheint? Der unvergessene Johannes Rau hat einmal die
Sorge geäußert, dass eine junge Generation heranwächst,
die von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.
Meine Damen und Herren, „Am Anfang war das
Wort“, so steht es in der Bibel, und so heißt ein Projekt,
das die Thüringer Wartburg-Stiftung und die Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt ins Werk gesetzt haben.
Dabei geht es um die Auswirkungen der Reformation
auf die deutsche Sprache. Es geht darum, auch diejenigen auf unsere kulturellen Wurzeln aufmerksam zu machen, die mit Religionen nichts am Hut haben. Auch das
ist ein wichtiges, gutes und sinnvolles Projekt.
Hier sehe ich, liebe Frau Pieper, auch das Auswärtige
Amt mit den Goethe-Instituten in der Verantwortung und
in der Pflicht; denn die Reformation als Weltereignis
wäre auch in Ihrem Ressort eine klassische Aufgabe.
({2})
Meine Damen und Herren, die Reformation gehört
nicht der Kirche und nicht dem Staat. Sie gehört uns allen, so wie die Aufklärung und das Grundgesetz. Sie ist
ein Menschheitserbe. Für das Jubiläum der Reformation
müssen sich alle gesellschaftspolitischen Kräfte engagieren, und zwar nicht nur als Geldgeber und Gönner, als
Stifter und Sponsoren. All das ist hochwillkommen; aber
es muss einer übergreifenden Debatte dienen und diese
unterstützen. Ersetzen kann es diese Debatte auf keinen
Fall; sonst würde daraus ein neuerlicher Ablasshandel
werden. Verantwortung muss man wahrnehmen. Man
kann sich davon nicht freikaufen. Aber das, liebe
Freunde, ist zweifellos ein weites Feld.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick
Kurth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Ministerpräsident! Frau Jochimsen, ich habe nun besser
verstanden, warum Herr Ramelow in dieser Woche so
stark an einen Austritt aus der Linken dachte.
500 Jahre Thesenanschlag, 500 Jahre seit Beginn der
Reformation und, leicht übertrieben, 500 Jahre evangelisches Christentum. Nicht übertrieben: Das Reformationsjubiläum ist kirchlich, kulturgeschichtlich und gesellschaftlich ein Ereignis von Weltrang.
({0})
Die Reformation war eine der ganz, ganz wichtigen
Säulen für die Aufklärung. Sie ist ein Stück weit Voraussetzung für die Entwicklung hin zum mündigen Menschen im aufgeklärten Staat gewesen. Dem Menschen
obliegt die Verantwortung für sich selbst. Sein Schicksal,
seine Erfolge, seine Niederlagen - ja, dafür hat er eine
Patrick Kurth ({1})
eigene Verantwortung. Und er übergibt diese persönliche
Haftung nicht komplett an übergeordnete Institutionen
oder Mächte.
Diese Entwicklung stieß die Reformation an - nicht
nur in der Kirche und schon gar nicht nur für die evangelische Kirche; denn der Impuls, den die Reformation
gab, war ein Impuls für die Bildung der Menschen und
insbesondere für das Verständnis von persönlicher Verantwortung für das eigene Handeln. Das sind heute,
Jahrhunderte später, noch immer die Grundsätze, auf denen unser Gemeinwesen beruht. Einige wissen, wie
schwer es ist, sich täglich schweißtreibend dafür einzusetzen, dass persönliche Freiheit und eigene Verantwortung verteidigt werden müssen.
({2})
Auf die christlichen Traditionen dieses Landes können wir mit Blick auf die Reformation stolz sein. Denn
wir hier in Deutschland haben den aufgeklärten Staat ein
Stück weit vorangetrieben. Uns Deutschen steht es gut
zu Gesicht, wenn wir auch die protestantische Tradition
des Landes nicht verstecken. Deshalb wird diese Lutherdekade, die wir feiern und die 2017 zu ihrem Höhepunkt
kommt, eben nicht nur von Protestanten durchgeführt
und gefeiert: Breite gesellschaftliche, wirtschaftliche,
bürgerschaftliche Kräfte, freie Kirchen, Kommunal- und
Landespolitik sind mit an Bord. Die öffentliche Verwaltung - meistens nicht erwähnt - trägt einen großen Teil
dazu bei; Gleiches gilt für Ehrenamtliche und - das ist
besonders wichtig - zahlreiche Katholiken. Mittlerweile
ist diese gute Zusammenarbeit zwischen Protestanten
und Katholiken, zwischen den beiden Konfessionen,
auch in der Lutherdekade eher selbstverständlich als außergewöhnlich, und das ist auch gut so.
Meine Damen und Herren, alle Beteiligten sind sich
einig: Die Lutherdekade wird nicht ausschließlich auf
theologische und akademische Aspekte eingehen. Die
Kirche hat gerade in Mitteldeutschland die Möglichkeit,
sich gesellschaftlich breit zu öffnen. Insofern schlagen
wir mit unserem Antrag nicht nur ein paar Punkte vor,
sondern fordern dazu auf, natürlich auch wirtschaftliche,
touristische und gesellschaftliche Aspekte in die Lutherdekade einzubringen.
Ich freue mich übrigens darüber, dass wir am 27. Oktober - Sie alle sind dazu eingeladen - noch einmal über
die Lutherdekade sprechen werden, genau in einer Woche um diese Zeit drüben im Paul-Löbe-Haus. Da geht
es darum, über die einzelnen Aspekte zu sprechen.
In diesem Sinne bedanke ich mich bei allen Beteiligten, insbesondere bei denen, die die Verhandlungen für
den Antrag geführt haben. Ich bedanke mich ganz herzlich bei den Haushältern dafür, dass sie so viel Geld in
den Haushalt des Bundeskanzleramts, nämlich für den
Staatsminister, einstellen. Ich bedanke mich ebenso
herzlich dafür, dass es demnächst auch im Auswärtigen
Amt viel, viel mehr sein wird. Ich bedanke mich beim
Staatsminister im Auswärtigen Amt, der derzeit im Ausland weilt. Ich bedanke mich beim Wirtschaftsministerium und beim Verkehrsministerium, das eigenständig
Mittel für die Lutherdekade zur Verfügung gestellt hat.
Bei der Präsidentin bedanke ich mich für ihre Geduld
und dafür, dass ich hier kurz überziehen durfte.
Herzlichen Dank.
({3})
Der Kollege Michael Kretschmer spricht nun für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In großer Einigkeit wurde und wird heute über die Lutherdekade und das Reformationsjubiläum diskutiert. Dazu
gibt es einen Antrag, der von der Mehrheit der Fraktionen in diesem Hohen Hause gemeinsam eingebracht
wurde. Ich finde, das ist ein erfreulicher Umstand. Ich
freue mich sehr darüber, weil es dem Anliegen und der
Bedeutung dieses Anlasses sehr gerecht wird.
({0})
Die Reformation - das wurde bereits angesprochen ist nicht allein eine kirchliche Angelegenheit; sie hat
vielmehr die gesamte Gesellschaft geprägt. Unser
Wunsch sollte sein, dass Deutschland und Europa die
große Chance nutzen, mit dem Reformationsjubiläum einen neuzeitlichen Diskurs über die Grundlagen unserer
Kultur, das Verhältnis zu anderen Kulturen sowie unsere
Werte und Traditionen zu führen.
Der freiheitliche Staat lebt von Grundlagen, die er
selbst nicht schaffen kann. Dazu gehören Werte wie die
Achtung des anderen, Toleranz, Demokratie und Gewaltenteilung. Über all das lohnt es zu debattieren und sich
dessen immer wieder zu vergewissern. All das hat mit
Sicherheit mit einem bedeutenden Punkt begonnen: mit
der Reformation. Denn die Reformation ist die Geburtsstunde eines christlichen Freiheitsbegriffs, der das Menschenbild beeinflusst, die Eigenverantwortung und die
Gewissensentscheidung des Einzelnen wieder in den
Vordergrund gerückt und letzten Endes Aufklärung und
Demokratie befördert hat.
({1})
Die Übersetzung der Bibel hat eine gewaltige Bildungsexpansion ausgelöst. Sie hat die deutsche Sprache
befördert und - das wurde mehrfach angesprochen dazu geführt, dass Schulen gegründet wurden und Bildung ermöglicht wurde.
All das sind Gründe, warum sich der Staat für dieses
Jubiläum engagieren soll, statt es alleine den Kirchen zu
überlassen. Aus diesem Grund ist es richtig, dass wir den
Unterhalt der Luthergedenkstätten seit geraumer Zeit mit
1 Million Euro jährlich fördern und dass wir mit unserem Staatsminister Bernd Neumann in der Bundesregierung jetzt einen Koordinator haben, der sich um das Reformationsjubiläum und die Lutherdekade kümmert.
Bernd Neumann, der heute leider nicht anwesend sein
kann, weil er im Ausland weilt, arbeitet unglaublich erfolgreich und engagiert an diesem Projekt.
({2})
Es ist im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass es gelungen ist, für den Zeitraum bis 2017 immerhin 35 Millionen Euro für das Reformationsjubiläum zu organisieren,
um Projekte, Ausstellungen und die Sanierung der
Luthergedenkstätten zu finanzieren. Ich halte das für
eine großartige Sache.
({3})
Wir alle wollen an diesem Projekt weiter mitarbeiten.
Ich halte es für richtig, dass wir über den Denkmalschutz
und die Denkmalpflegemittel zusätzliche Möglichkeiten
schaffen, die Orte der Reformation in einen ordentlichen
Zustand zu bringen. Ich bin auch der Meinung, dass wir
das Reformationsjubiläum nicht touristisch „verzwecken“ dürfen. Natürlich ist es eine Chance für den Tourismus, den man auch ergreifen sollte. Aber es wäre viel
zu kurz gesprungen, die Reformation und das Jubiläum
vor diesem Hintergrund zu diskutieren.
Nein, meine Damen und Herren, es muss um Werte
und Kultur gehen. Das muss das Ziel dieses Prozesses
sein, in dem wir mittendrin sind. Es liegen noch einige
spannende Jahre vor uns. Nutzen wir sie! Bringen wir
uns alle aktiv in die Diskussion ein!
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Das Reformationsjubiläum im
Jahre 2017 - Ein Ereignis von Weltrang“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7219, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,
der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6465 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzmarktwächter im Verbraucherinteresse
einrichten
- Drucksache 17/6503 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Sobald die notwendigen Umgruppierungen im Plenarsaal vorgenommen sind, werde ich die Aussprache
eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir
derzeit auf den Finanzmärkten erleben, zeigt nicht nur,
dass die Märkte dysfunktional sind, sondern das ist auch
ein Zeichen für Politikversagen, für regulatorische Fehler, für mangelnden Vollzug und für politische Mutlosigkeit gegenüber einer Branche, die Vertrauen in großem
Stil verzockt hat. Das belegt ein Blick auf die Schlagzeilen in der Tagespresse in beängstigender Weise, und das
betrifft die Stabilität des gesamten Finanzsystems.
Aus der Sicht der einzelnen Anlegerinnen und Anleger und der einzelnen Kreditnehmer, wenn wir also von
unten her schauen, ist die Situation kaum besser als zu
Beginn der letzten Finanzmarktkrise, als wir hier die
Folgen des Lehman-Crashs diskutiert haben. Die
Finanzbranche ist nicht verbraucherfreundlicher geworden. Das liegt zum einen an regulatorischen Fehlern der
schwarz-gelben Bundesregierung. Ich nenne das Anlageberatungsprotokoll, das Produktinformationsblatt oder
jetzt zuletzt den Gesetzentwurf zur Novellierung des
Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts,
nach dem man die Gewerbeaufsichtsämter statt der
BaFin mit der Regulierung betrauen will.
({0})
Das liegt zum anderen daran, dass gesetzliche Regelungen, die wir zum Schutz der Anleger haben, in weiten
Teilen der Finanzbranche als freundliche Hinweise verstanden werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Offenlegung von Provisionen. Die Bankkunden haben den gesetzlichen Anspruch auf Informationen. Eine aktuelle
Erhebung des vzbv kam zu folgendem Ergebnis: Zwei
Drittel der Banken und Sparkassen antworteten überhaupt nicht, und 94 Prozent der Auskünfte des einen
Drittels, das geantwortet hat, waren wertlos. Dazu kann
ich nur sagen: Wenn es Gesetze gibt, dann muss man
sich daran halten; es sind keine freundlichen Hinweise,
die man beachten kann oder eben nicht.
({1})
Dieses Problem wurde nicht von der BaFin, der Aufsichtsbehörde, entdeckt und skandalisiert, sondern von
einem privaten Akteur, dem vzbv. Es gibt eine ganze
Reihe weiterer Beispiele: absurd hohe Dispozinsen, versteckte Gebühren, Restschuldversicherungen usw. Dies
beweist, dass auf den Finanzmärkten eine ganze Menge
im Argen liegt.
Deshalb schlagen wir Ihnen unser Konzept des
Finanzmarktwächters vor. Was bedeutet dieses Konzept?
Zunächst bedeutet es die Stärkung der Marktbeobachtung aus Verbrauchersicht. Wir brauchen eine verbraucherorientierte Marktbeobachtung, die nicht nur die Stabilität der Märkte und die Solvenz der Banken, sondern
auch die Interessen der einzelnen Kundinnen und Kunden im Blick hat. Die Marktanalyse von unten ist notwendig. Das hat die Bundesregierung im letzten Herbst
selbst zugegeben, als sie ankündigte, verdeckte Testkäufer der BaFin losschicken zu wollen. Das heißt, auch die
Bundesregierung hat erkannt, dass wir Marktbeobachtung nicht nur aus Sicht der Großen, sondern auch aus
Sicht der Kleinen, der Kundinnen und Kunden, brauchen. Wir haben mit den Verbraucherzentralen und dem
vzbv gute Partner, die wir weiter stärken können; denn in
den Verbraucherzentralen kommen die aktuellen Probleme der Kundinnen und Kunden, die sich dort beraten
lassen, an.
Was gehört noch zu unserem Konzept des Finanzmarktwächters? Dazu gehört auch die Zusammenarbeit
mit den Aufsichtsbehörden. Wir haben die BaFin, aber
die kann, so finde ich, manchmal einen kleinen Schubs
gebrauchen. Deshalb benötigen die Verbraucherzentralen und die vzbv ein Anrufungs- und Initiativrecht gegenüber der BaFin. Wir fordern, dass die BaFin analog
zum Verfahren bei der britischen Super Complaint spätestens nach 90 Tagen zu einem vom Finanzmarktwächter eingereichten Problem öffentlich Stellung nimmt.
Das ist im europäischen Ausland nichts Ungewöhnliches. Es wird damit auch kein Privater mit der Regulierung betraut, sondern die Regulierungsbehörden werden
lediglich von unten, aus Verbrauchersicht, angeschubst.
Das ist keine schlechte Sache.
({2})
Was soll der Finanzmarktwächter noch leisten? Ich
nenne hier die Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung. Wir haben auf europäischer Ebene einen umfangreichen Konsultationsprozess zu Instrumenten der
kollektiven Rechtsdurchsetzung. Wir sind der Meinung,
dass gerade auf dem Finanzmarkt bessere Möglichkeiten
für Sammel- und Gruppenklagen notwendig sind, damit
die Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem guten
Recht kommen. Märkte funktionieren nur, wenn es einen
effektiven Rechtsschutz gibt.
({3})
Deshalb fordern wir Sie auf: Schaffen Sie die rechtlichen Voraussetzungen für die Arbeit eines Finanzmarktwächters! Stellen Sie im Haushalt die notwendigen Mittel zur Verfügung! Prüfen Sie, ob auch die Branche zur
Finanzierung herangezogen werden kann!
Ich erinnere an die letzte Finanzmarktkrise, als das
BMELV in Kooperation mit den Verbraucherzentralen
ein Verbrauchertelefon geschaltet hat. Das hat, soweit
ich weiß, wenige Hunderttausend Euro gekostet. Nicht
einmal da war die Finanzbranche bereit, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Das ist, finde ich, ein Armutszeugnis. Hier könnte sich die Regierung Gedanken machen, wie man die Banken und die Finanzvermittler
beteiligen könnte.
Lassen Sie mich zum Schluss noch mit einigen Vorurteilen und bewussten Missverständnissen aufräumen, die
der Begriff „Finanzmarktwächter“ in schwarz-gelben
Ohren gelegentlich auslöst.
Erstens. Es handelt sich nicht um eine Vermischung
von privater Initiative und staatlichem Handeln.
Zweitens. Es ist keine neue Behörde, soll keine neue
Behörde werden; das ist nicht geplant.
Drittens. Es ist nicht die Lösung aller Probleme, und
es ist auch nicht der Ersatz für effektive Regulierungen.
Aber es ist eine wirksame Unterstützung für die Verbraucherschützer in der Arbeit, die sie leisten. Es ist eine
wirksame Möglichkeit, das eklatante Ungleichgewicht
zwischen Anbietern und Anlegern zu mindern, und es ist
eine Unterstützung für fairen Wettbewerb statt Abzocke,
für ehrliche Beratung statt provisionsgetriebenem Verkauf und für eine Regulierung, die sich an den Bedürfnissen der Kundinnen und Kunden orientiert.
Ich würde die schwarz-gelbe Regierung auffordern,
ihre Samthandschuhe, die sie gegenüber der Finanzbranche immer noch trägt, auszuziehen,
({4})
endlich effektiv zu regulieren und den Finanzmarktwächter im Sinne der Kundinnen und Kunden einzuführen.
({5})
Die Kollegin Mechthild Heil hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Finanzkrise hat unser Vertrauen in die
Märkte erschüttert. Quer durch alle Bevölkerungsschichten wird Bankern und Finanzleuten heute nur mit Kopfschütteln begegnet. Der Glaube an funktionsfähige Finanzmärkte ist geschwunden. Das mag die Sozialisten
und die Globalisierungsgegner freuen, die Auswirkungen sind aber für uns alle fatal.
({0})
Denn in unserer sozialen Marktwirtschaft sind integere,
effiziente und transparente Kapitalmärkte die entscheidende Voraussetzung für ein gesundes Wachstum der
Wirtschaft einerseits, aber auch für die Leistungsfähigkeit unserer Sozialsysteme andererseits, an die wir uns
so wunderbar gewöhnt haben und auf deren Niveau wir
wirklich nicht verzichten wollen. Ich denke, auch die
Linken, die Sozialisten und die Globalisierungsgegner
wollen das nicht.
({1})
Es gilt, Vertrauen in die Finanzmärkte zurückzugewinnen. Liebe Frau Maisch, an erster Stelle ist das eine
Aufgabe der Finanzmärkte selber.
({2})
Sie haben das Vertrauen verspielt, und sie müssen sich
„tummeln“, es wiederzugewinnen. Ich habe deswegen
überhaupt kein Verständnis für diejenigen in der Branche, die glauben, so weitermachen zu können wie zuvor.
Das ist ein Armutszeugnis für die Institutionen und für
die Menschen, die sich selbst zur Elite unseres Landes
zählen. Sie haben kluge Köpfe in ihren Reihen, sie gehören zu den Spitzenverdienern in unserem Land, und sie
haben die Verantwortung. Es wird Zeit, dass die Finanzbranche diese Verantwortung auch trägt.
({3})
Sosehr ich mich über den Prozess hin zu mehr Verantwortung der Akteure auf dem Finanzsektor freuen
werde, so sehr bin ich aber auch fest davon überzeugt,
dass wir diesen Prozess nicht nur politisch begleiten
müssen, sondern ihn auch befeuern müssen.
({4})
Deshalb hat die christlich-liberale Koalition seit 2009
mit einem ganzen Bündel von Gesetzen die Stellung der
Kunden gegenüber der Finanzwirtschaft gestärkt.
({5})
Wir haben das verpflichtende Beratungsprotokoll eingeführt, wir haben kurze und verständliche Produktinformationen, sogenannte Beipackzettel, eingeführt. Sie können
heute auf zwei bis drei Seiten das Wesentliche eines
Finanzprodukts erkennen, seine Funktionsweise, die damit verbundenen Risiken, die Chancen und die Kosten.
Außerdem haben wir neue Instrumente für eine effektivere Beaufsichtigung des Vertriebspersonals und der dahinterliegenden Strukturen bei Kreditinstituten geschaffen. Die Sanktionsregelungen bei Falschberatung haben
wir massiv verschärft. Wir schaffen im Bereich des
grauen Kapitalmarkts erstmals - das ist sensationell ein Anlegerschutzniveau, das mit dem im Bankensektor
vergleichbar ist.
({6})
Der Sachkundenachweis unterstützt die Qualität der Berater. Die Registrierungspflicht zeigt deutlich, wer verantwortlich ist, und eine Berufshaftpflichtversicherung
sorgt für mehr Kundenschutz.
Weitere Gesetzentwürfe liegen auf dem Tisch, um
noch bestehende Lücken zu schließen. Die Vergangenheit hat gezeigt: Nicht immer stand bei der Anlageberatung das Kundeninteresse im Vordergrund. Provisionen
und Vertriebsvorgaben haben zur Falschberatung eingeladen. Aus diesem Grund wollen wir die Honorarberatung als Alternative zum Provisionsmodell etablieren.
Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag die
Stärkung des Verbraucherschutzes in der Finanzaufsicht.
Wir fordern nicht, wir handeln, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen.
({7})
Sie sind zu spät dran. Wir sind längst da, wo Sie gerne
hinwollen. Die Koalition setzt sich erfolgreich für eine
Stärkung des Verbraucherschutzes in der Finanzaufsicht
ein.
({8})
Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben:
Kein Anbieter von Finanzprodukten soll sich der
staatlichen Finanzaufsicht entziehen können.
({9})
Dieses Ziel verfolgen wir seit 2009 konsequent,
({10})
wie Sie anhand der Vorschläge und Gesetze, die ich eben
aufgezählt habe, erkennen können.
({11})
Welches Ziel verfolgen Sie von den Grünen? Sie
glauben, die Finanzwelt disziplinieren zu können - Frau
Maisch, Sie müssten vielleicht einmal Ihren ganzen Antrag vorlesen -, zum Beispiel durch eine Pflicht zur
Kennzeichnung von ökologischen und ethischen Komponenten eines Anlagepapiers,
({12})
durch viel mehr verdeckte Testkäufer und durch das
Sammeln von Daten,
({13})
deren Aufbereitung und statistische Verarbeitung. Das
sind wahrhaft gute Mittel, um die Finanzwelt zu disziplinieren.
Die Grünen greifen mit ihrem nun zum zweiten Mal
vorgelegten Antrag alte Forderungen der Verbraucherzentrale auf, die - verständlicherweise - immer auf der
Suche nach neuen Aufgabenfeldern ist und als Finanzmarktwächter ihren Aktionsradius erweitern könnte. Bei
allem Verständnis für den Wunsch der Verbraucherzentrale müssen wir als politisch Verantwortliche uns die
Frage stellen, ob ein solches Vorgehen sinnvoll ist. Ich
sage: nein. Die Verbraucherzentrale ist zwar in erheblichem Maße mit öffentlichen Geldern finanziert, bleibt
aber dennoch eine unabhängige Privatorganisation. Deshalb ist der vzbv aus Sicht der Koalition nicht der primäre Ansprechpartner, wenn es um die hoheitliche Aufgabe geht, die Finanzmarktaufsicht wahrzunehmen. Das
ist der BaFin, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, vorbehalten.
Nicht, dass ich hier falsch verstanden werde: Eine Stärkung der individuellen Beratungstätigkeit der Verbraucherzentralen ist grundsätzlich wünschenswert und auch
förderungswürdig, und sowohl ich persönlich als auch unsere Koalition unterstützen das. Das sieht man daran, dass
wir allein im aktuellen Haushalt 10 Millionen Euro zusätzlich für die Deutsche Stiftung Verbraucherschutz zur
Verfügung gestellt haben, um die Verbraucherzentralen
noch unabhängiger und schlagkräftiger zu machen.
({14})
Die bürokratische Instanz eines Finanzmarktwächters, die Sie von den Grünen heute fordern, ist in Großbritannien längst wieder abgeschafft worden. Warum
sollten wir sie dann hier einführen? Wir lernen lieber aus
den Fehlern, auch wenn wir sie nicht selber gemacht haben.
Wir wollen kein Verzetteln in unübersichtlichen
Strukturen, die zudem noch mit anderen um Aufmerksamkeit und finanzielle Ressourcen konkurrieren. Wir
unterstützen die vorhandenen Strukturen. Das sind neben
der BaFin die Stiftung Warentest, die in ihrer Zeitschrift
Finanztest ganze Marktsektoren von Finanzprodukten
untersucht und auch Langzeitbeobachtungen vornimmt,
und viele weitere Fachpublikationen, in denen Finanzprodukte bereits jetzt bewertet werden.
Die Koalition hat die notwendigen Maßnahmen für
eine Stärkung des Verbraucherschutzes im Finanzsektor
längst erarbeitet und vieles erfolgreich auf den Weg gebracht. Wir entlassen die Akteure der Finanzwirtschaft
nicht aus ihrer Verantwortung, und wir stärken den Kunden im Kampf gegen Falschberatung und fehlende Information.
Ihr Antrag ist schlicht überflüssig. Sie laufen hinterher. Wir haben längst gehandelt.
Vielen Dank.
({15})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Heil, ich möchte zunächst ganz deutlich sagen: Die CDU/CSU-Fraktion hat im Jahre des
Herrn 2009 die Einführung eines Finanzmarktwächters
beschlossen. Was Sie heute hier als Teufelswerk darstellen, haben wir damals im Frühjahr des Jahres 2009 in der
Großen Koalition gemeinsam vereinbart.
({0})
Dieser Beschluss ist von Ihnen aber nicht umgesetzt
worden.
Man kann ja sagen, dass man zu neuen Erkenntnissen
gekommen ist. Das müsste man dann erklären. Aber zu
sagen, dass man dieses Instrument schon immer für nicht
tragfähig gehalten hat, ist nicht nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass man noch vor zwei Jahren davon überzeugt war, dass es sich um ein ganz hilfreiches
Instrument handelt, das man auch einführen will.
Ich bitte deshalb ganz herzlich darum, sich die alten
Beschlüsse noch einmal anzuschauen. Man kann sicherlich sagen, dass man das Ganze heute anders sieht. Das
mag so sein. Man kann aber nicht sagen, dass man dieses
Instrument schon immer für Teufelswerk gehalten hat.
Wir haben uns damals in der Großen Koalition in einem
sehr umfangreichen Antrag zum Verbraucher- und Anlegerschutz unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie
wir es schaffen, dass die Verbraucherzentralen die Funktion eines Marktwächters übernehmen können. Damals
war es unser gemeinsames Ziel, die Verbraucherzentrale
diesbezüglich zu stärken.
Was wollten wir? Wir wollten, dass die Verbraucherverbände die Beschwerden von Verbrauchern systematisch auswerten, unseriöse Vertriebswege aufdecken, auf
Regulierungslücken hinweisen und unlautere Geschäftspraktiken durch Abmahnung oder auf dem Klageweg
unterbinden können. Die kollektive Rechtsdurchsetzung,
wie sie jetzt auf der europäischen Ebene diskutiert wird,
ist deshalb außerordentlich zu begrüßen.
Wir haben auch immer wieder gesagt, wie wir diesen
Marktwächter finanzieren wollen. Wir wollen ihn über
die Deutsche Stiftung Verbraucherschutz finanzieren, die
dafür allerdings zusätzliches Kapital benötigt. Dieses
Kapital soll sich zum einen aus den Bußgeldern aus Kartellverfahren speisen. Dieses Geld, das den Verbraucherinnen und Verbrauchern vorher durch unlauteren Wettbewerb sozusagen genommen wurde, kommt ihnen dann
zugute, indem es in die verbraucherbezogene Arbeit
fließt. Zum anderen sollen Mehreinnahmen aus der Veräußerung des Zweckvermögens der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank an die Stiftung fließen.
Wie gesagt, das haben wir miteinander 2009 so vereinbart.
Die derzeitigen Regelungen, die Sie angesprochen haben - das sind insbesondere die völlig unzureichende Protokollierung und die völlig unzureichenden Informationsblätter, für die Sie keine Standards festlegen wollen -,
sind aus unserer Sicht nur bedingt wirksam. Die von Ihnen geplante Bankenabgabe ist ein Hohn; das wissen
wir. Die Finanztransaktionsteuer findet schon in Ihren
eigenen Reihen keine Zustimmung.
({1})
Es ist völlig verständlich, dass derzeit auch in Deutschland Verbraucherinnen und Verbraucher auf die Straße
gehen. Sie sagen, dass dieser Sektor nicht vernünftig geregelt ist. Das ist aus meiner Sicht absolut nachvollziehbar.
({2})
Der Anlegerschutz, den Sie vorhin als hervorragend
beschrieben haben, funktioniert aus unserer Sicht nicht.
Sie schaffen es nämlich nicht - das ist aber eines der
höchsten Ziele des Verbraucher- und Anlegerschutzes -,
dass eine Einheitlichkeit der Aufsicht, sowohl der Aufsicht über die Finanzvermittler und -berater
({3})
als auch der Aufsicht über die Finanzprodukte, gewährleistet ist. Das stellen Sie nicht sicher. Die Verbraucherinnen und Verbraucher genießen keinen einheitlichen
Schutz. Der hängt davon ab, welches Finanzprodukt sie
kaufen und ob sie es bei einer Bank oder bei einem
freien Vermittler erwerben.
({4})
Die Einheitlichkeit zu erreichen, haben Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung versprochen. Das setzen Sie aber
nicht um. Das ist skandalös.
({5})
Die Honorarberatung - von der Sie vorhin gesagt haben, dass das eines Ihrer wesentlichen Ziele sei - ist uns
bereits vor acht Monaten großspurig angekündigt worden. Das ist eine Ihrer vielen Ankündigungen, die zu keiner weiteren Umsetzung geführt haben als zu einem
Eckpunktepapier, zu dem noch nicht einmal intern eine
Abstimmung stattgefunden hat. Auch hier werden wir sicherlich noch Monate oder gar bis zum Ende der Legislaturperiode warten müssen, bis es zumindest einen vorzeigbaren Entwurf gibt, geschweige denn eine Einigung
innerhalb der Koalition.
({6})
Die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, deren Vorlage wir in den nächsten Tagen erwarten, enthält
keine Aussagen im Hinblick auf Finanzprodukte. Dabei
- auch das möchte ich sagen - hat sich der Kollege
Goldmann von der FDP im Jahre 2009 - damals noch in
der Opposition - an das Redepult gestellt und gesagt,
ganz wichtig sei es, im Rahmen der Novellierung des
Verbraucherinformationsgesetzes die Ausweitung auf
die Finanzprodukte zu installieren. Die Novelle zum
VIG wird das jedoch nicht vorsehen.
Man sieht also: Das, was man damals gefordert hat,
ist in Regierungsverantwortung auf einmal nicht mehr
umsetzbar. Auch hier scheint die Koalition nichts miteinander auf den Weg bringen zu können. Was bewirken
Sie mit einer solchen Vorgehensweise? Sie zerstören
nicht nur das Vertrauen in den Markt, sondern - das ist
noch viel wichtiger für uns alle - Sie zerstören das Vertrauen in die Demokratie. Wenn wir es jetzt nicht geregelt bekommen, vernünftige Strukturen der Aufsicht zu
installieren, dann tragen Sie die Verantwortung.
({7})
Wir wollen für die Verbraucherinnen und Verbraucher
Zugänge zu einer freien und unabhängigen Finanzberatung schaffen. Dabei spielen die Verbraucherzentralen
eine ganz wichtige Rolle. Diese brauchen - über die
Frage nach einem Marktwächter hinaus - weitere eigene
Mittel, um ihre Angebote in der Finanzberatung ausweiten zu können. Denn die Verbraucherzentralen sind für
viele Verbraucherinnen und Verbraucher eine zentrale
und wichtige Anlaufstelle im Bereich der unabhängigen
Beratung.
Zum Schluss möchte ich unsere Forderung nach der
Intensivierung der Verbraucherbildung bekräftigen. Wir
brauchen insbesondere im Finanzwesen nicht nur eine
bessere Information, sondern auch Bildungsarbeit. Diese
vermisse ich seitens der Bundesregierung. Auch hier waren wir im Jahr 2009 gemeinsam längst weiter; denn da
hatten wir schon beschlossen, Konzepte zur ökonomischen Bildung von Verbraucherinnen und Verbrauchern
zu entwickeln. Nichts davon ist passiert. Das wäre ja
auch zu schön gewesen!
({8})
Alles in allem geht der Antrag der Grünen in die richtige Richtung, weil er unseren Forderungen von 2009
und denen, die wir in den letzten Monaten immer wieder
aufgestellt haben, sehr entgegenkommt. Ich gehe davon
aus, dass wir hier mit dieser Koalition und dieser Bundesregierung nicht weiterkommen. Deshalb werden wir
auf diese Maßnahmen noch lange warten können.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Erik
Schweickert von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
soll noch einmal jemand sagen, man würde im Plenum
nichts dazulernen. Frau Kollegin Tack, zu dem, was in
der letzten Legislaturperiode geschehen ist, kann ich
nicht aus dem Nähkästchen plaudern, weil ich nicht dabei war. Zum Thema VIG und Finanzaufsicht kann ich
jedoch etwas sagen.
Wir wollten die drei Bereiche - UIG, IFG und VIG zusammenlegen und in einem Informationsgesetz bün15734
deln, weil das die Materie vereinfacht. Aber Sie und ich
sowie die anderen Verbraucherschützer in diesem Hause
wissen, was das zur Folge gehabt hätte, nämlich dass die
Federführung für ein solch wichtiges Gesetz sicherlich
nicht beim BMF gelegen hätte.
Aus diesem Grunde sind die Verbraucherorganisationen von dieser Forderung zurückgetreten. Wir wollten
diese Bündelung vornehmen, haben dann aber festgestellt, dass die Wirkungen für die Verbraucher nicht effizient genug gewesen wären. Deswegen haben wir jetzt
ein VIG vorgelegt, das Informationsrechte enthält; die
gleichen Rechte sind im IFG und im UIG verankert.
Es steht fest, dass die Finanzkrise viele Verbraucherinnen und Verbraucher eine Menge Geld gekostet hat.
Viele Betroffene waren einfache Sparer, also keine großen Spekulanten, die einfach nur etwas mehr Rendite haben wollten und die jetzt wahrscheinlich ohne höhere
Rendite mit ihrer normalen Rente dastehen. Wir sind uns
vor diesem Hintergrund in dem Ziel einig, dass Anleger
und Sparer, die nicht wissentlich spekulieren, zu schützen sind. Der Anleger darf nicht der Dumme sein. Dafür
muss man etwas tun.
Wenn ich mir den vorliegenden Antrag genau anschaue, dann stelle ich fest, dass die Kollegen der Grünen suggerieren, es sei nichts getan worden. Ich muss
hier klar sagen: Als Sie regiert haben, wurden beispielsweise Hedgefonds in Deutschland zugelassen. Sie haben
aber versäumt, einen verbesserten Anlegerschutz in
Deutschland umzusetzen.
({0})
Was haben wir in den knapp zwei Jahren, in denen
wir regieren, getan? Wir haben aktiv regulatorisch eingegriffen, zum Beispiel bei den Banken. Mit dem Gesetz
zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der
Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes, kurz Anlegerschutzgesetz genannt, haben wir Beratungsprotokolle
und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht und
somit den Schutz vor Falschberatung gestärkt.
({1})
Wir haben auch Sanktionsmöglichkeiten implementiert,
sodass Falschberatung tatsächlich sanktioniert werden
kann, und dafür gesorgt, dass das Vertriebspersonal bei
Kreditinstituten beaufsichtigt wird.
Kommen wir zu den freien Finanzvermittlern. Wir
haben einen guten Gesetzentwurf zur Novellierung des
Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts
vorgelegt. Für den grauen Kapitalmarkt, ein großes Problem der jetzigen Finanzkrise, wird ein mit dem Bankensektor vergleichbares Anlegerschutzniveau geschaffen.
Es geht uns dabei nicht um die Mittel, sondern um die
Ergebnisse. Das Niveau muss stimmen; das Schutzniveau muss gleich sein. Wir haben die Beratungsqualität
erhöht, indem wir verpflichtende Beratungsprotokolle
auch für freie Finanzanlagenvermittler eingeführt haben.
Außerdem werden diese gewerblichen Vermittler einer
stärkeren Kontrolle der Aufsichtsbehörden unterworfen.
Dies beinhaltet verpflichtende Haftpflichtversicherungen und Sanktionen bis hin zur Rücknahme der Zulassung für die gewerbliche Finanzanlagenvermittlertätigkeit. Hier ist also einiges getan worden.
Auch bei den Produkten waren wir nicht untätig.
Durch Re-Regulierung haben wir dafür gesorgt, dass
hochspekulative Anlageformen nicht mehr ungehindert
zirkulieren. Wir haben mit dem Anlegerschutzgesetz
Haltepflichten bei geschlossenen Immobilienfonds eingeführt. Wir haben die damit verbundenen Risiken für
die Stabilität und die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte eindeutig verringert.
Wir gehen das Problem der zersplitterten Finanzaufsicht an.
({2})
Die Bundesregierung hat erkannt, dass es auf nationaler
Ebene zu viele Probleme bei den Schnittstellen in der
Bankenaufsicht zwischen Bundesbank und BaFin gibt.
Die christlich-liberale Koalition ist aktiv und baut diese
Schnittstellen ab. Das Ganze muss natürlich in die Landschaft passen. Wir wollen die BaFin nicht mit Aufgaben
überfrachten, die sie nicht erfüllen kann. Die BaFin muss
ihren Aufgaben nachkommen können. Dafür müssen wir
die Voraussetzungen schaffen. Im Zuge der laufenden
Reform der nationalen Finanzaufsicht wird auch der Verbraucherschutz einbezogen. Bisher ist das nicht der Fall.
Die Aufgaben des Verbraucherschutzes sind weder in
der BaFin noch woanders verankert. Wir wollen den
Verbraucherschutz dort verankern, wo er am besten aufgehoben ist.
({3})
Wir tun deutlich mehr als Sie, Frau Tack.
Die entscheidende Frage ist: Was können wir tun? Sie
wollen halbstaatliche Finanzsheriffs, sogenannte Finanzmarktwächter. Ich sage Ihnen, was wir als FDP uns vorstellen. Wir könnten uns eine Stiftung „Finanzdienstleistungen“ vorstellen, die die Aufgabe hat, zum Beispiel
Produkte und deren Risiken zu bewerten, und deutlich
macht, inwieweit Produkte vergleichbar sind. Wir haben
immer die Forderung nach Vergleichbarkeit der Produkte erhoben. Es muss das draufstehen, was drin ist.
Ein Paradebeispiel ist das Altersvorsorgekonto der Postbank.
({4})
- Ich stimme Ihnen völlig zu, dass wir den Etikettenschwindel bei den Produkten beenden müssen. Dort, wo
Altersvorsorgekonto draufsteht, muss auch ein Altersvorsorgekonto drin sein. Genau in diesem Bereich
würde, unabhängig von einem schönen Marketingbegriff
- ich weiß! -, das Konzept einer einheitlichen Risikoklasse ansetzen, die offenbart, wie spekulativ das Anlageprodukt ist. Wenn keine staatliche Institution, sondern
zum Beispiel eine Stiftung die Klassifizierung vornimmt, umgehen wir die Haftungsproblematik und geben in diesem Bereich gute Empfehlungen.
Mir ist schon klar, warum man möchte, dass der Staat
die Bewertung vornimmt: Es kann dem Verbraucher
dann vollkommen egal sein, wie sich der Wert eines Produktes im Laufe von zehn Jahren entwickelt, weil er klagen könnte und der Staat haften müsste; das wäre ein
Problem.
({5})
So werden wir in der christlich-liberalen Koalition nicht
vorgehen.
({6})
Wir haben bis zum jetzigen Zeitpunkt mehr regulatorische Maßnahmen ergriffen, als Sie jemals gedacht hätten. Man muss einfach sehen, dass die christlich-liberale
Koalition für einen effizienten Verbraucherschutz auf
dem Finanzmarkt steht. Sie aber haben während Ihrer
Regierungszeit die Aufgaben als Wächter des Finanzmarktes und Hüter der Verbraucherinteressen anders, als
Sie es dargestellt haben, nicht wahrgenommen, sondern
haben hier in meinen Augen völlig versagt. Einen besseren Finanzmarktwächter als die christlich-liberale Koalition kann sich der Verbraucher überhaupt nicht vorstellen.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Nach wie vor hat der finanzielle Verbraucherschutz in Deutschland einen enormen
Nachholbedarf. Ich möchte Ihnen die derzeitige Situation vor Augen führen: Bei der derzeit bestehenden Beratungsstruktur der Verbraucherzentralen würde es noch
immer an die 30 Jahre dauern, bis jeder Haushalt wenigstens einmal eine unabhängige Finanzberatung erhalten könnte. Noch immer haben wir weit überhöhte Dispozinsen; die Stiftung Warentest hat es im September
erneut bestätigt. Noch immer haben die Verbraucherverbände weder die finanziellen Mittel noch die rechtlichen
Möglichkeiten, um auch nur annähernd so tätig zu werden, wie es nötig wäre.
Dennoch leisten die Verbraucherzentralen hervorragende Arbeit. Aus ihren Beratungsgesprächen machen
sie meist als Erste auf Missstände aufmerksam. Durch
ihre Beobachtung liefern sie den Verbraucherinnen und
Verbrauchern und uns Politikerinnen und Politikern
wertvolle Hinweise. In diesem September hat der Verbraucherzentrale Bundesverband offengelegt, dass viele
Banken geltende Rechtsprechung ignorieren und eine
ehrliche Auskunft über Provisionen verweigern.
Leider können die Verbraucherschützer mangels entsprechender Kapazitäten keine kontinuierliche Marktbeobachtung durchführen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat nicht einmal ausreichende finanzielle
Mittel, um die wertvollen Informationen und Daten, die
er über Gespräche und Verbraucherbeschwerden erhält,
auswerten zu können. Nach wie vor haben die Verbraucherzentralen weder ein Recht auf Sammelklage noch
rechtliche Möglichkeiten, die Finanzaufsicht wirksam
zum Handeln zu zwingen.
Meine Damen und Herren, die Linke und die anderen
Oppositionsfraktionen haben hier immer wieder Vorschläge gemacht und Verbesserungen gefordert; aber die
Koalitionsfraktionen haben gemauert. Drei Jahre nach
dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers sollte
die Bundesregierung die Verbraucherinteressen am
Finanzmarkt endlich ernst nehmen. Es ist an der Zeit, zu
handeln.
({0})
Die Linke fordert deshalb, die Verbraucherzentralen
zu stärken und sie zu Finanzwächtern auszubauen. Diese
Finanzwächter müssen erstens den Finanzmarkt umfassend und verbraucherorientiert beobachten können.
Zweitens müssen sie kollektiv klagen können. Drittens
müssen sie an den Gremien der Finanzaufsicht beteiligt
werden und ein wirksames Beschwerderecht erhalten.
({1})
Der Finanzwächter allein wird es aber nicht richten;
wir brauchen auch einen Finanz-TÜV. Da halte ich die
BaFin wirklich nicht für die richtige Adresse; ich glaube,
sie ist dafür nicht aufgestellt. Dafür braucht es eine separate Einrichtung. Bisher gilt in Deutschland der Grundsatz: Alle Formen der Geldanlage, die nicht ausdrücklich
verboten sind, sind erlaubt. Die Folge ist, dass immer
neuer Finanzschrott ungehindert auf den Markt kommt.
Frau Heil, ich muss wirklich sagen: Uns kümmert es
sehr, wenn die Menschen ihr Erspartes verlieren,
({2})
wie das bei vergangenen Krisen schon passiert ist und
wie es wahrscheinlich auch in den nächsten Monaten
oder Jahren noch passieren kann.
({3})
Dagegen möchten wir präventiv vorgehen, und dafür
brauchen wir die Einrichtung eines Finanz-TÜV.
({4})
Er muss als Zulassungsstelle alle Anlageformen prüfen,
und zwar bevor sie auf den Markt kommen. Nur so können wir vorbeugen und den Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher und auch der Wirtschaft gewährleisten.
Die Linke hatte bereits 2010 ein umfassendes Konzept
vorgelegt, um die Verbraucherinteressen auf dem Finanzmarkt zu stärken. In den diesjährigen Haushaltsverhandlungen fordern wir noch einmal finanzielle Mittel
für den Verbraucherzentrale Bundesverband, damit er als
Finanzwächter aktiv werden kann.
Verbraucherschutz ist eine wichtige gesellschaftliche
Aufgabe. Die Bundesregierung muss dafür ausreichend
und dauerhaft Mittel zur Verfügung stellen. Beginnen
Sie damit in den derzeitigen Haushaltsverhandlungen.
Dann haben wir die Chance auf eine rasche Umsetzung
und Erfüllung der vor uns liegenden Aufgaben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Jetzt hat das Wort der Kollege Ralph Brinkhaus von
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Tack, lesen Sie doch einfach das Plenarprotokoll vom vorletzten Jahr zu dem Antrag der Grünen, der
hier wieder vorgelegt wird. Wenn man bedenkt, wie die
SPD zu diesem Thema Stellung genommen hat, dann
wird sich einiges aufklären.
({0})
Lassen Sie mich vorab eine Bemerkung machen. Der
Begriff „Finanzmarktwächter“ - egal wer den Begriff
geprägt hat - gefällt mir nicht. Er ist beunruhigend. Die
Grünen haben ihn von den Verbraucherzentralen übernommen, die die Initiative „Finanzmarktwächter“ ins
Leben gerufen haben.
({1})
Vielleicht haben es die Verbraucherzentralen auch von
den Grünen. Vielleicht sind beide zusammen auf die
Idee gekommen, die ganze Geschichte auf den Weg zu
bringen.
({2})
Man weiß es nicht. Es war sicherlich nicht böse gemeint,
aber „Finanzmarktwächter“, das hört sich nach Kontrolle und Überwachung an. Ganz ehrlich: Mir macht die
Vorstellung, dass Menschen durch die Gegend laufen
und überwachen, ob ich mich richtig oder falsch verhalte, Angst.
({3})
Ein zweiter Punkt. Der Antrag der Grünen läuft nach
dem üblichen Muster ab - alle Anträge haben das gleiche Muster -: Erstens. Die Welt ist fürchterlich schlecht.
Zweitens. Die Regierung tut nichts dagegen. Drittens.
Wir haben die Lösung, und die Lösung heißt Bürokratie,
Regeln, Kontrolle und Bevormundung.
({4})
Man könnte an dieser Stelle eigentlich Schluss machen, aber es lohnt sich, auf den einen oder anderen Aspekt einzugehen. Wir haben in Deutschland seit 111 Jahren das beste Verbraucherschutzgesetz der Welt, nämlich
das Bürgerliche Gesetzbuch. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat dazu beigetragen, dass sich in Deutschland Verbraucher und Anbieter seit 111 Jahren in der überwiegenden Zahl der Fälle ganz hervorragend vertragen. Das
kommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht durch.
({5})
Sie zeichnen ein Bild, als ob der Finanzsektor ein
komplett rechtsfreier Raum wäre. Wissen Sie, was Sie
damit machen? Sie unterstellen damit den Verbrauchern,
dass sie schwach, unmündig und uninformiert sind,
({6})
und Sie unterstellen den Anbietern, dass sie stark sind
und ihre Stärke nur dazu benutzen, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu übervorteilen.
({7})
Damit diskreditieren Sie nicht nur die Verbraucherinnen
und Verbraucher, sondern auch Hunderttausende von
Menschen, die in der deutschen Finanzindustrie arbeiten,
die morgens zur Arbeit gehen und einen anständigen Job
machen. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({8})
Ich komme zu einem weiteren interessanten Aspekt.
Sie stellen Ihren Antrag in den Kontext der Finanzkrise.
Das scheint auf den ersten Blick plausibel, ist aber
schlichtweg falsch. Die Finanzkrise 2008 war eine Bankensystemkrise und keine Verbraucherschutzkrise - bis
auf wenige Ausläufer bei Lehman, aber das war wirklich
sehr wenig.
({9})
Die Finanzkrise 2010 ist eine Staatsverschuldungskrise
und keine Bankenkrise, wie so mancher SPD-Parteivorsitzender momentan versucht zu suggerieren, und sie ist
erst recht keine Verbraucherschutzkrise.
({10})
Nichtsdestotrotz muss man konstatieren - das schreiben Sie in Ihrem Antrag ganz richtig -, dass es Verbraucherinnen und Verbraucher gibt - zu viele Verbraucherinnen und Verbraucher, da haben Sie absolut recht -, die
mit den Produkten, die sie erworben haben, nicht klargekommen sind und Enttäuschungen erlebt haben. Man
könnte nun sagen: Das ist Marktwirtschaft. Menschen
treffen Entscheidungen. Menschen treffen auch falsche
Entscheidungen und müssen dann die Konsequenzen tragen. Aber das ist an dieser Stelle zu kurz gegriffen.
Herr Kollege Brinkhaus, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?
Nein. - Das ist an dieser Stelle zu kurz gegriffen, weil
es schon ein Unterschied ist, ob man ein Stück Kuchen
vom Konditor oder ein Produkt für eine Altersversorgung erwirbt. Das ist deswegen ein Unterschied, weil
sich ganze Lebensentwürfe durch eine FehlentscheiRalph Brinkhaus
dung, zum Beispiel bei einer Altersversorgung, erledigt
haben und weil es Menschen gibt, die eine falsche Finanzanlageentscheidung getroffen haben und die deshalb ihren Lebensabend nicht mehr in Ruhe verbringen
können, sich nicht mehr selber versorgen können und
dann von der Gesellschaft getragen werden müssen. Das
ist nicht tolerabel. Deswegen ist es gut und richtig, dass
wir an Finanzprodukte andere Maßstäbe ansetzen als an
Kuchen oder Brötchen.
Das tun wir auch. Das hat die CDU/CSU immer gemacht.
({0})
Sie haben recht: Wir haben uns noch im Rahmen der
Großen Koalition zusammen mit der SPD mit Schuldverschreibungen beschäftigt. Wir haben das Beratungsprotokoll eingeführt, und wir haben die Verbraucherrechte an dieser Stelle gestärkt.
Wir haben in der christlich-liberalen Koalition das
Anlegerschutzgesetz auf den Weg gebracht, die Beratungsqualität gestärkt, Produktinformationsblätter eingeführt und Produkte verbessert, die problematisch waren,
zum Beispiel offene Immobilienfonds. Wir haben beispielsweise OGAW IV, das europäische Richtlinienwerk,
umgesetzt und in diesem Zusammenhang sogar mehr
umgesetzt, als wir mussten. Wir haben die Verbraucherrechte im Bereich der offenen Fonds gestärkt. Diese Woche haben wir im Ausschuss das Finanzanlagevermittlergesetz auf den Weg gebracht und Bereiche angepackt,
die bisher überhaupt nicht reguliert waren,
({1})
nämlich einen Vertriebsbereich, der nicht reguliert war,
und einen Produktbereich, der wenig reguliert war. Das
muss man doch einmal anerkennen.
({2})
Die christlich-liberale Koalition hat ihr Versprechen
gehalten. Wir haben gesagt: Wir machen uns auf den
Weg. Wir werden nicht dulden, dass es Produkte oder
Vertriebswege gibt, die nicht reguliert werden. Das haben wir umgesetzt.
({3})
Wir haben noch etwas gemacht: Wir haben gesagt, dass
wir eine Stiftung für Finanzprodukte errichten wollen.
Auch das steht im Koalitionsvertrag.
Damit sind wir beim Antrag der Grünen. Die Grünen
wollen etwas Ähnliches, aber sie wollen die Verbraucherzentralen damit beauftragen. Lassen Sie uns einmal
über die Verbraucherzentralen reden. Verbraucherzentralen informieren und beraten, sie helfen auch bei der
Rechtsdurchsetzung; das ist gut und wichtig. Aber Verbraucherzentralen sind eines nicht: Sie sind nicht unabhängig. Verbraucherzentralen ergreifen Partei, und das
müssen sie auch. Sie müssen für die Verbraucher Partei
ergreifen. Das ist deren Job.
({4})
Aber sie sind nicht in der Lage, den Markt zu beobachten; das ist kein fairer Ausgleich zwischen Anbieter und
Verbraucher. Dementsprechend sind Verbraucherzentralen nicht unabhängig. Das dürfen sie nicht sein. Die
Überhöhung der Verbraucherzentralen, die Sie in Ihrem
Antrag vornehmen, ist nicht richtig; sie ist falsch.
({5})
Aber kommen wir nun zu den konkreten Inhalten.
Verbraucherzentralen sollen den Markt beobachten und
Verbraucheraufklärung betreiben. Das tun sie, im Übrigen mit der Initiative „Finanzmarktwächter“; wir hatten
uns ja gerade die Frage gestellt, wer die Idee zuerst hatte,
Sie oder die Verbraucherzentralen. Man kann sich jetzt
darüber unterhalten, ob sie mehr Geld dafür brauchen
oder nicht. Aber das ist eine haushaltstechnische Frage
und keine grundsätzliche Verbraucherschutzfrage. Das
kann man anpacken. Da sind wir an Ihrer Seite.
Jetzt geht es aber weiter: Sie wollen mehr Elemente
des kollektiven Verbraucherschutzes bei den Verbraucherzentralen ansiedeln. Ich sage Ihnen eines: Die Verbraucherzentralen verfügen bereits über Elemente des
kollektiven Schutzes. Sie können entsprechend vorgehen. Noch mehr würde noch mehr Sammelklagen bedeuten. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mit Sammelklagen haben wir im Umweltbereich nicht immer nur gute
Erfahrungen gemacht. Dementsprechend sind wir da
sehr vorsichtig.
({6})
Es geht weiter: Sie wollen, dass die Verbraucherzentralen - das zieht sich durch alle Elemente Ihres Antrags nicht nur den Markt, sondern auch die Aufsicht beaufsichtigen.
Herr Kollege Brinkhaus, jetzt würde Frau Maisch
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Keine Zwischenfragen, keine zusätzliche Redezeit. Jetzt kommen wir in eine sehr interessante Gemengelage: Verbraucherzentralen sollen die BaFin beaufsichtigen. Wo sind wir denn, dass wir Nichtregierungsorganisationen damit beauftragen, den Staat zu beaufsichtigen!
Das ist doch eine ganz unheilvolle Entwicklung, die den
Grünen an sehr vielen Stellen gefällt: Wir verlagern Verantwortung an runde Tische, an Nichtregierungsorganisationen und an sonstige Institutionen. Aber das geht
nicht!
({0})
Die Verantwortung und die Rahmensetzung für funktionierende Märkte ist eine staatliche Aufgabe. Das wird
von uns erledigt und nicht von den Verbraucherzentralen. Das wird es mit uns nicht geben.
({1})
Ein abschließender Punkt: Verbraucherschutz findet
immer im Spannungsfeld zwischen Transparenz auf der
einen Seite und Bürokratie auf der anderen Seite statt,
zwischen Schutz auf der einen Seite und Bevormundung
auf der anderen Seite.
({2})
Die Union steht für Transparenz und nicht für Bürokratie. Sie steht für Schutz und nicht für Bevormundung.
Wenn ich mir aber Ihre Anträge anschaue, insbesondere
die Anträge der Grünen, die krampfhaft versuchen, sich
in diesem Bereich zu profilieren, dann muss ich sagen,
dass darin von Bevormundung und Bürokratie ausgegangen wird und nicht für Schutz und Transparenz gesorgt
wird. Deswegen lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.
Abschließend komme ich noch einmal auf das Unwohlsein zu sprechen, das ich am Anfang meiner Rede
angesprochen habe: Wir brauchen keinen Wächterstaat;
denn wir haben einen Rechtsstaat, und das ist auch gut
so.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Carsten Sieling von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben hier ein wichtiges Thema auf der Tagesordnung, das ganz viele Menschen in unserem Land
betrifft. Es sind nämlich Tausende Menschen von dem
betroffen, was auf den unregulierten Finanzmärkten abgelaufen ist. Tausende Menschen haben infolge ihrer
treuherzigen Anlageversuche persönlich einen finanziellen Schaden erlitten.
({0})
Viele wurden im Zusammenhang mit der Finanzkrise zu
Geschädigten. Wir sprechen nicht nur über die sogenannten Lehman-Geschädigten in den USA, sondern
auch über ganz viele Geschädigte, die ihr Geld bei deutschen Banken angelegt haben. Darüber muss man reden.
Man muss handeln. Es reicht nicht, hier große, ideologische Reden zu halten. Es geht darum, den Leuten wirklich zu helfen.
({1})
Mein Vorredner hat eine ganz neue Art und Weise der
Auseinandersetzung in diese Debatte eingebracht. Sie
haben uns einen Schattenboxkampf vorgeführt. Das war
nichts anderes als Schattenboxen.
({2})
In dieser Disziplin sind Sie der Champion. Diesen Titel
lasse ich Ihnen aber gerne. In Ihrer Rede kam sehr deutlich der gesamte Frust zum Ausdruck, den die Koalition
nach einem Tag wie dem heutigen in sich trägt, und
nichts anderes.
({3})
Jetzt möchte ich aber erst einmal Ihre Aussagen zum
Finanzmarktwächter geraderücken.
({4})
Sie haben das grundlegend missverstanden. Wenn Sie all
unsere Anträge dazu lesen, werden Sie feststellen, dass
wir die Gesellschaft stärken wollen. Wir wollen die
Zivilgesellschaft stärken. Wir wollen mit der Einbindung
der Verbraucherzentralen kein Kontrollorgan einführen.
Sie sollen die Märkte beobachten und die Missstände
melden.
({5})
Natürlich muss man staatliche Instrumente entwickeln.
Lesen Sie die Anträge, die dazu vorliegen, wenigstens
richtig, wenn Sie sie hier schon kritisieren und versuchen, sie auseinanderzunehmen.
Warum Sie das in Wahrheit gemacht haben, haben Sie
selbst gesagt: Mit dem Gesetzentwurf, den die Koalition
zum Anlegerschutz auf den Weg gebracht hat, produzieren Sie nichts anderes als löchrigen Käse. Vor anderthalb
Jahren wurde uns vom Bundesfinanzministerium ein
Vorschlag zu einem wirklich einheitlichen Anlegerschutz vorgelegt. Mittlerweile wurde dieses Vorhaben
zerlegt und durchlöchert. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagen- und Vermittlergesetzes, worüber wir in der nächsten Woche beraten
sollen,
({6})
ist nichts anderes als eine zweite Regulation geplant.
Das, was Sie machen, ist kein Anlegerschutz.
({7})
In Wirklichkeit betreiben Sie Lobbyschutz. Gerade für
die gefährlichsten, nämlich die sogenannten grauen Finanzmärkte sehen Sie eine Sonderregelung vor.
({8})
Frau Kollegin, Sie haben hier gesagt, die BaFin
müsste besser ausgestattet werden. Da gebe ich Ihnen
sofort recht. Aber Ihre Antwort, 7 800 kleine Gewerbeämter und vielleicht auch ein größeres Gewerbeamt zu
beauftragen, diese gefährlichen und unkontrollierbaren
Märkte zu kontrollieren, ist eine Farce. Das ist eine Veräppelung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({9})
Dieses Problem schreit geradezu nach Finanzmarktwächtern. Diese Regierung und diese Koalition brauchen nämlich Finanzmarktwächter angesichts des Unheils, das sie anrichten. Darum geht es hier im Kern.
({10})
Eine weitere Bemerkung will ich Ihnen nicht ersparen:
({11})
Wenn ich mir die vorläufige Tagesordnung für die
nächste Sitzungswoche anschaue, dann weiß ich, dass
Sie sich für Ihre eigenen Taten schämen.
({12})
Wenn am Donnerstagabend, spät in der Nacht, über einen Gesetzentwurf diskutiert werden soll, weist das darauf hin, dass diese Koalition nicht stolz auf ihre Arbeit
ist, sondern dass Lobbyarbeit verschleiert werden soll.
Ich finde, es ist ein Skandal, dass laut der Tagesordnung
für die nächste Woche der Entwurf eines Gesetzes zur
Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts spät in der Nacht debattiert werden
soll. Sie wollen hier die Wahrheit verschleiern. So geht
das nicht, meine Damen und Herren! Bringen Sie die
Wahrheit ans Licht und hören Sie auf, Chaos zu verbreiten, indem Sie Steuersenkungen ankündigen - das ist unverantwortlich - und am gleichen Tag die so wichtige
Regierungserklärung für morgen absagen. Sie verschleiern und schaffen keine Transparenz. Das ist eine unwürdige Regierung für Deutschland.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6503 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a bis d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Christiane RatjenDamerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ländliche Entwicklung und Ernährungssicherheit weltweit verbessern
- Drucksache 17/7185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-
Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Illegale Landnahme verhindern, Eigentums-
freiheit schützen, Ernährungsgrundlage in
Entwicklungsländern sichern
- Drucksachen 17/5488, 17/5965 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
Thilo Hoppe
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Niema
Movassat, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine großflächige Landnahme und Spekula-
tionen mit Land oder Agrarproduktion in den
Ländern des Südens
- Drucksachen 17/3541, 17/4820 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dr. Bärbel Kofler
Annette Groth
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur
Grundlage deutscher, europäischer und internationaler Agrar- und Entwicklungspolitik
machen
- Drucksachen 17/3542, 17/4490 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Christiane RatjenDamerau von der FDP-Fraktion.
({4})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Kollegen und Kolleginnen! Die Bilder der hungernden
Menschen in Somalia führen es uns erneut schmerzhaft
vor Augen: Das Hungerproblem in dieser Welt ist akuter
denn je, und das nicht nur am Horn von Afrika. Rund
925 Millionen Menschen auf der Erde leiden zurzeit an
Hunger; das sind 75 Millionen mehr als im Vorjahr. Allein in Somalia sind 750 000 Menschen vom Hungertod
bedroht. 60 000 Menschen sind dort bereits gestorben,
davon waren die Hälfte Kinder. So lautet die Bilanz des
gerade vorgestellten Welthungerberichts 2011 der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen.
Ursächlich für den Hunger in der Welt sind die Menschen selbst. Zwar verschärfen Naturkatastrophen wie
Dürren und Überflutungen oftmals eine Hungersnot,
doch vor allem menschliches Fehlverhalten wie Kriege,
politische Konflikte, instabile und korrupte Regierungen, illegale Landnahme und die Missachtung von Menschenrechten sind hauptursächlich für den Hunger in der
Welt. Hinzu kommt die Vernachlässigung des ländlichen
Raums in den vergangenen Jahrzehnten durch die Politik. Dies trägt dazu bei, dass ehemalige Kornkammern in
Afrika heute auf Lebensmittelhilfen aus dem Ausland
angewiesen sind. Die vorliegenden Anträge der christlich-liberalen Koalition zur Ernährungssicherheit weltweit und zur Verhinderung der illegalen Landnahme sind
ein bedeutender Schritt hin zur nachhaltigen Lösung des
Welternährungsproblems.
({0})
In Afrika, Lateinamerika und Südostasien verkaufen
Regierungen fruchtbares Land an Unternehmen oder
Staaten. Dieses Land ist seit Jahrzehnten im Besitz von
Gemeinschaften oder Familien. Ganze Dörfer werden
vertrieben, ohne die Menschen zu entschädigen oder sie
in irgendeiner Weise am Verkaufsprozess zu beteiligen.
Vordergründig geschieht dies, weil keine formalen Besitzrechte existieren, hintergründig, weil sich die Regierungen kurzfristige Einnahmen sichern wollen. Juristisch können sich die Vertriebenen kaum dagegen
wehren. Meist existiert in diesen Ländern keine rechtsstaatlich funktionierende Justiz. Fortan sind die Gemeinschaften und Familien heimatlos und ohne jegliche Ernährungsgrundlage.
Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung
auf, betroffene Länder bei der Umsetzung von Maßnahmen zur guten Regierungsführung und beim Abbau ihrer
Defizite im Justiz- und Vergabesystem sowie im Katasterwesen zu unterstützen. Reicht das nicht aus, muss die
Bundesrepublik Deutschland offiziell protestieren und
das Recht auf Eigentum für diese Menschen einfordern.
Genauso nehmen wir die Unternehmen in die Pflicht.
Auch sie können ihren Beitrag leisten und ihre unternehmerische Pflicht erfüllen, um derartige Entwicklungen in
den betroffenen Ländern zu verhindern.
Selbst wenn in einem Land Rechtsstaatlichkeit vorherrscht, bedeutet dies nicht, dass sich ein Bauer sicher
sein kann, seine Ernte lagern, verkaufen und von dem
Erlös leben zu können. Schätzungen zufolge belaufen
sich die Verluste nach der Ernte in den Entwicklungsländern auf Rund ein Drittel bis sogar die Hälfte der gesamten Ernte. Durch niedrige Preise auf dem Weltmarkt oder
auf den heimischen Märkten können Bauern nicht von
ihrer Arbeit leben. Dies ist zum Teil durch marktverzerrende Agrarsubventionen oder Zölle der Industrienationen hervorgerufen.
Diesen Problemen stellen wir uns mit diesen Anträgen. Der ländliche Raum muss weiter unterstützt, die
Infrastruktur und die Agrarforschung müssen massiv vorangetrieben werden. Wesentliche Forderungen sind daher: Die Industrienationen müssen den Weg zum freien
Handel ohne jegliche Verzerrungen weitergehen und die
Partnerländer gute Regierungsführung und verantwortungsvolle Landnutzungskonzepte verwirklichen. Auf
nationaler und subnationaler Ebene müssen wir helfen,
die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen,
wenn nötig, neu zu erarbeiten, Wertschöpfungsketten
und Infrastrukturen auszubauen und in der Landwirtschaft eine ergebnisorientierte finanzielle Unterstützung
zu leisten.
({1})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, sofort. - Dabei müssen insbesondere Frauen stärker gefördert und in die Entwicklung einbezogen werden. Auf lokaler Ebene müssen wir dazu beitragen, dass
die Interessen der Landwirte stärker vertreten und
Kooperationsmöglichkeiten geschaffen werden. Ich bitte
Sie daher, unseren Anträgen zuzustimmen. Die Menschen in den Entwicklungsländern setzen auf unsere Solidarität.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ländliche Entwicklung ist ein wichtiges
Thema. Deswegen hätte es uns gefreut, wenn der Minister persönlich anwesend wäre. Anscheinend ist ihm dieses Thema nicht so wichtig. Heute ist er nicht einmal
hier. Letztes Mal, bei der Debatte zum 50-jährigen Bestehen des Ministeriums, hat er das Wort nicht ergriffen.
Dies zeigt, dass er nicht mit dem Herzen bei der Entwicklungszusammenarbeit ist. So kann man Entwicklungszusammenarbeit nicht erfolgreich bestreiten.
Wir diskutieren heute unter anderem über einen Antrag der Koalitionsfraktionen, in dem als Schwerpunkt
die ländliche Entwicklung genannt wird. In der Begründung heißt es, dass die Investitionen im ländlichen Raum
im letzten Jahrzehnt zu niedrig gewesen sind. Das ist ein
Teil der Wahrheit. Aber zur Ehrlichkeit würde dazugehören, dass Union und FDP auch sagen würden, warum vor
fünf oder zehn Jahren vonseiten der internationalen Geberländer, aber auch von den Regierungen in den Entwicklungsländern in der Tat wenig in die Landwirtschaft
investiert wurde.
Das lag daran, dass die Landwirte in den USA, aber
auch in Europa - also auch deutsche Landwirte - übersubventioniert worden sind, und zwar gerade die großen,
und dann Dumpingagrarexporte die Märkte in Afrika,
Lateinamerika und Asien zerstört haben.
({0})
Es hätte keinen Sinn gemacht, wenn wir - nachdem die
Hühnerzuchten schon überall kaputtgegangen sind und
die Bauern in Afrika ihre Kühe irgendwann verkaufen
mussten, weil sie ihre Milch nicht mehr losgeworden
sind - noch mehr Geld für einen Wirtschaftszweig in die
Hand genommen hätten, der durch die Dumpingagrarexporte der Industriestaaten kaputt gemacht wurde.
({1})
Auch dies gehört zur Wahrheit. Das hätten Sie auch in
Ihrem Antrag benennen müssen.
({2})
Als wir mit den Grünen zusammen die Regierung gestellt haben - damals hatten wir mit Renate Künast eine
engagierte Landwirtschaftsministerin -, haben wir im
Rahmen der Welthandelsorganisation versucht, das zu
ändern. Dabei sind wir immer wieder auf die Betonlobby
der Bauernverbände gestoßen. Insbesondere von Frankreich und von der Union ist sie kräftig unterstützt worden. Landwirtschaftsministerin Aigner zum Beispiel hat
erst vor kurzem wieder einmal Schweinefleischexportsubventionen gewährt. Zur Förderung der ländlichen
Entwicklung gehört auch, dass wir gerechte Handelsbedingungen schaffen. Sie müssen endlich dafür sorgen,
dass nicht nur der Bauer in Deutschland, sondern auch
der Kleinbauer in Afrika Chancen bekommt.
({3})
Auch der zweite Teil dieser Koalition, die FDP, hat
ihren Teil dazu beigetragen, dass die ländliche Entwicklung in den ärmsten Ländern brachlag. Sie hat mit der
ständig wiederholten Forderung nach Liberalisierung
und mit ihrem Credo „Märkte öffnen!“ auch dazu beigetragen, dass die Entwicklungsländer ihre Zölle abschaffen mussten, wodurch die Dumpingagrarexporte auf die
Märkte kamen. Ich würde mir von Ihnen ein klares Bekenntnis wünschen, dass auch die ärmsten Länder
Schutz brauchen. In dem Antrag, den wir zu Zeiten der
Großen Koalition erarbeitet haben, lieber Kollege Ruck,
haben wir das so formuliert. Jetzt haben Sie sich anscheinend nicht durchsetzen können und dieses Anliegen
dem Motto der FDP geopfert: Wenn jeder für sich selbst
sorgt, ist für alle gesorgt. - Das ist schäbig. Wir brauchen Schutz für die Entwicklungsländer.
({4})
Wenn man sagt, man möchte mehr Geld für die ländliche Entwicklung ausgeben - das ist sinnvoll, weil sich
in der Tat die Agrarpreise nach oben entwickeln, was
zwar Nachteile hat, den Bauern aber auch Chancen bietet, ihre Agrarprodukte wieder zu verkaufen -, dann
muss man natürlich auch sagen, woher dieses Geld kommen soll. Wenn Sie den Haushalt insgesamt nicht aufwachsen lassen wollen,
({5})
dann muss das Geld, das zusätzlich in die Landwirtschaft fließen soll, beispielsweise aus den Bereichen Bildung und Gesundheit genommen werden, aus Bereichen,
die für die Entwicklungszusammenarbeit auch sehr
wichtig sind.
Deswegen ist es ja gerade so schäbig, dass dieser Entwicklungsminister, der heute durch Abwesenheit glänzt,
im jetzigen Haushalt nur einen Miniaufwuchs von
1,8 Prozent vorgesehen hat, während wir hier im Haus
einen entwicklungspolitischen Konsens haben, den
368 Abgeordnete unterschrieben haben, wonach wir
jetzt eigentlich 18 Prozent bräuchten. Ich würde mir
wünschen, dass dieses Projekt 18 von der FDP verwirklicht wird. Sie machen das aber entsprechend Ihrem Er15742
gebnis in Berlin, wo Sie bei 1,8 Prozent gelandet sind,
und sehen im Entwicklungshaushalt deshalb nur noch einen Aufwuchs von 1,8 Prozent vor. Das ist schäbig, das
ist wenig. So können wir natürlich weder den Menschen
noch der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern
wirklich helfen.
({6})
Ich kenne schon jetzt die Replik von einem der nächsten Redner, der fragen wird, wo das Geld für diese Steigerung im Haushalt herkommen soll. Es gibt natürlich
eine Quelle, nämlich die Finanztransaktionsteuer, für die
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
seit über zehn Jahren auf den Straßen kämpfen. Gruppen
wie Attac haben diese Tobin-Tax damals eingefordert,
und auch viele kirchliche und zivilgesellschaftliche
Gruppen - ich nenne nur einmal die Kampagne „Steuer
gegen Armut“ - fordern sie seit Jahren. Jetzt ist diese
Finanztransaktionsteuer greifbar nah, die Steuer, mit der
wir dann auch unsere Verpflichtung erfüllen könnten, bis
zum Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung
zu stellen.
Dieser Entwicklungsminister müsste jetzt eigentlich
mit wehenden Fahnen vorneweg gehen und sagen: Ich
will, dass diese Steuer kommt, je schneller, desto besser,
und natürlich will ich, dass das Geld dann auch für die
Entwicklungszusammenarbeit genommen wird. - Es ist
doch ein Witz, dass ausgerechnet dieser Entwicklungsminister derjenige in der jetzigen Regierung ist, der
überall sagt, er sei gegen die Finanztransaktionsteuer. Er
möchte diese Steuer nicht. Wo soll dann das Geld herkommen? Er fällt der Bewegung der Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker, der Entwicklungshelfer und der Zivilgesellschaft in den Rücken, anstatt
diese zu stärken. Das ist eine Schande.
({7})
Es gibt ja auch einen Grund dafür, warum er das nicht
möchte: Für ihn sind Regulierungen des Finanzmarktes
natürlich Teufelswerk. Liberalisierung ist das Stichwort:
freie Wirtschaft, freie Märkte, freie Finanzmärkte. Gerade bei der ländlichen Entwicklung sehen wir aber
doch, welch verheerende Auswirkungen Agrarspekulationen, die Spekulationen mit Agrarrohstoffen, haben.
Mittlerweile werden 80 Prozent der gehandelten Agrarrohstoffe nur noch spekulativ gehandelt und nicht mehr,
um die Preise der Bauern zu schützen, sondern damit die
Ackermänner und die Deutschen Banken dieser Welt einen Reibach machen können.
Es kann doch angesichts der Diskussion über die Förderung der ländlichen Entwicklung nicht sein, dass der
Entwicklungsminister und seine Partei nach wie vor sagen: Hände weg von jeder Regulierung des Finanzmarktes. Lasst die Deutsche Bank und die Finanzspekulanten
machen, was sie wollen, lasst sie mit dem Hunger in dieser Welt spekulieren. - Das darf nicht wahr sein. Dem
müssen wir hier in diesem Haus die rote Karte zeigen.
({8})
Deswegen brauchen wir auch ganz scharfe Regeln gegen Land Grabbing. Das gehört auch dazu. Immer mehr
große Flächen von Land werden nämlich von Konzernen
und anderen Ländern aufgekauft, um dann die Rohstoffe
in andere Länder zu exportieren, anstatt sie der dort lebenden hungernden Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.
Deswegen sage ich an dieser Stelle: Ich unterstütze
die soziale Bewegung, die sich gebildet hat und deren
Akteure im Augenblick in Zelten vor der Europäischen
Zentralbank kampieren und zum Teil auch hier in Berlin
demonstrieren. An den Transparenten können Sie erkennen, dass diese Menschen eben auch der Hunger in dieser Welt bewegt und dass sie die Finanzmärkte regulieren wollen, damit die ärmsten Menschen der Welt nicht
diese Nachteile haben.
Weil auch die Deutsche Bank kräftig mit dem Hunger,
mit dem Leid und mit Agrarrohstoffen spekuliert, hat
diese Bewegung heute einen Aufruf gemacht und zu
Herrn Ackermann gesagt: Machen Sie sich vom Acker,
Mann. Ich sage: Herr Minister, machen Sie sich auch
vom Acker. Das wäre besser für diese Republik.
Danke.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht
eine Vorbemerkung zu dem, was der Vorredner hier gerade geboten hat: Das war nichts, was zum Thema beigetragen hat.
({0})
Das war allenfalls - um seine eigenen Worte zu wählen eine schäbige Schlechtrederei über viele Themenfelder.
({1})
Um Ihren eigenen Begriff zu wählen: Das war allenfalls
ein Witz. Wenn man Sie hätte ernst nehmen sollen, dann
hätte ich erwartet, dass die SPD-Fraktion hier als Beitrag
einen Antrag vorlegt, in dem wirklich etwas steht und in
dem wirklich auch Themen abgearbeitet werden - aber
nicht so einen albernen Rundumschlag, wie er eben hier
geboten wurde.
({2})
Gerade ist uns der Welthunger-Index 2011 zugegangen, Sie haben ihn sicherlich gelesen. Dort steht, dass
sich die Situation in diesem Bereich seit 20 Jahren nicht
verbessert hat. Die Zahl der Betroffenen ist nicht, wie
wir alle einmal versprochen haben, um die Hälfte zurückgegangen. Es sind immer noch, wie eben gesagt,
rund 1 Milliarde Hungernde auf der Erde. Wenn wir das
einmal übersetzen, heißt das, dass wir an diesem Anspruch, den Hunger in der Welt zu bekämpfen und zurückzuführen, gescheitert sind.
Wo sind die Ursachen? Ich will ein paar Dinge erwähnen. Gut drei Jahrzehnte - das ist eben schon einmal angesprochen worden; Herr Raabe, hören Sie zu - haben
sinkende Preise bei den Grundnahrungsmitteln mit
gleichzeitiger Überschussproduktion falsche Signale für
eine vermeintliche Sicherheit gegeben. In der Folge wurden die Mittel zur Finanzierung der Entwicklung des
Agrarsektors, zum Beispiel im Bereich der ODA-Ausgaben, über Jahrzehnte gekürzt. Im Jahre 2000 sind wir bei
diesem Investment auf das Niveau des Jahres 1973 zurückgefallen - 30 Jahre lang Rückgang in diesem Bereich der Förderung!
Auch die Weltbank, die 1982 noch 30 Prozent ihrer
Kredite in den Agrarsektor vergeben hatte, gab 2006 nur
noch kümmerliche 7 Prozent. Die USAID hat gerade nur
noch 1 Prozent ihres Budgets für Landwirtschaftsprogramme ausgegeben. Und - auch das gehört zur Wahrheit - Ihre Kollegin Wieczorek-Zeul, die elf Jahre lang
als Entwicklungsministerin auf der Regierungsbank gesessen hat, hat diesen Bereich im bundesdeutschen
Haushalt bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen.
({3})
Deswegen sind wir froh, dass der neue Minister hier
wieder für einen Aufwuchs auf 700 Millionen Euro in
diesem Jahr gesorgt hat. Sie sollten einmal zur Kenntnis
nehmen, wie wir hier wieder vorangekommen sind.
({4})
Wir müssen trotzdem zur Kenntnis nehmen, dass rund
drei Viertel aller vom Hunger betroffenen Menschen
ausgerechnet in ländlichen Regionen leben. Deshalb ist
es an der Zeit, so meine ich, dass wir von der bisher defensiven Strategie des „Weniger Hunger für weniger
Menschen“, die meist noch durch Nahrungsmittelhilfe
von außen bedient worden ist, wegkommen und sagen:
Wir brauchen eine neue offensive Ausrichtung. Diese
muss heißen: Ernährung für alle aus eigener Kraft. Das
muss das Ziel einer zukunftsorientierten Entwicklungspolitik sein.
({5})
Ich sage das gerade angesichts der Erkenntnis, dass bald
2 bis 3 Milliarden Menschen mehr auf der Erde leben
werden, dass die FAO ausgerechnet hat, dass wir daher
70 Prozent mehr Agrarmittel produzieren müssen.
Wir stehen vor einer Zeitenwende. Ich denke, das hat
niemand besser als der Präsident des IFAD beschrieben,
der neulich bei uns im Ausschuss war, Herr Nwanze. Er
hat Folgendes gesagt: Wir müssen aus der kleinbäuerlichen Landwirtschaft der Entwicklungsländer ein profitables Geschäft machen. Kein Sektor hat mehr Chancen
für Arbeitsplätze. Kein Sektor bringt mehr gesellschaftliche Stabilität. - Damit ist genau beschrieben, wohin die
Reise gehen muss.
({6})
Es ist gut, dass die neue Bundesregierung bereits im
Koalitionsvertrag die ländliche Entwicklung als Schlüsselsektor ausgewiesen hat. Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass das Ministerium mit einem neuen Strategiepapier „Entwicklung ländlicher Räume und ihr
Beitrag zur Ernährungssicherung“ nachgezogen hat. Wir
haben diese Anträge eingebracht, damit wir aus dem
Parlament heraus dieses Vorhaben nicht nur unterstützen, sondern es weiter ausbauen und zu weiteren Ergebnissen in der Zukunft kommen. Ich gehe einmal davon
aus, dass der Aufwuchs im Haushalt auch in den kommenden Jahren in diesen Bereichen weitergehen wird,
weil es einfach notwendig ist.
({7})
Ziel unseres Einsatzes muss sein, dass wir Wertschöpfungsketten aus lokal erzeugten Nahrungsmitteln aufbauen, mit denen nicht nur die Eigenversorgung gesichert, sondern auch zusätzliches Einkommen und damit
eine Beschäftigungsperspektive in den eben genannten
ländlichen Räumen erreicht werden kann. Das ist in unseren Anträgen alles ausführlich beschrieben; das will
ich hier nicht wiederholen.
Weil es notwendig ist, dürfen wir uns nicht scheuen,
uns mit privaten Organisationen und Unternehmen zusammenzutun. Dadurch erreichen wir Synergieeffekte.
Es ist nicht so, wie häufig gesagt wird, dass wir damit
eine Förderung der Privatwirtschaft vornehmen. Nein, es
gibt einen doppelten Nutzen. Ich will ein Beispiel nennen. Das ist die sogenannte AGRA in Nairobi, „Alliance
for a Green Revolution in Africa“. Da ist Kofi Annan
Vorsitzender und verfolgt mit der Bill-Gates-Stiftung zusammen genau das, was ich eben beschrieben habe,
nämlich einen neuen integrierten Ansatz für die Agrarförderung der Entwicklungspolitik.
Ein zweites Beispiel aus dem Hause der GIZ hat mich
sehr beeindruckt: die Afrikanische Cashew-Initiative, die
ebenfalls mit der Bill-Gates-Stiftung zusammen seit zwei
Jahren betrieben wird. Dort sind inzwischen 1 800 Bauern
an einer Genossenschaft beteiligt. Zusammen mit einem
deutschen Softwareunternehmen wurde hier eine Wert15744
schöpfungskette aufgebaut. Das Ergebnis sind Ertragsund Qualitätssteigerungen, gute Marktpreise und deutliche Verbesserungen der Lebenssituationen der betroffenen Bürger.
({8})
Da wollen wir hin, und so muss Entwicklungspolitik
weitergehen.
Deswegen - das sage ich auch an die Adresse des
Vorredners und der SPD - müssen wir als Parlament natürlich dazu beitragen, dass die Neuausrichtungen, die zu
spüren sind bei den G 8, beim Weltwirtschaftsforum, bei
der FAO, bei den G 20, die gerade ein neues internationales Agrarforschungsprojekt anschieben, oder bei den
vielen UN-Organisationen, nicht nur auf dem Papier stehen bleiben, sondern in die Praxis umgesetzt werden,
und zwar möglichst zügig. Dazu müssen wir unseren
Beitrag leisten und dürfen nicht über alle möglichen
Themen aus anderen Bereichen herumalbern.
Es soll natürlich auch nicht verschwiegen werden
- das ist doch völlig klar -, dass diesen positiven Entwicklungen einige große Problemfelder entgegenstehen.
So verzeichnen wir seit der Wirtschaftskrise 2007 heftige Preisausschläge bei Agrarprodukten. Die Gründe
sind vielfältig, wie man in einer aktuellen Untersuchung
des Committee for World Food Security der UN nachlesen kann. Auf der Nachfrageseite werden verschiedene
Ursachen genannt: niedrige Welterntevorräte, hohe Produktverluste nach der Ernte - auch ein wichtiges Thema -,
ein verändertes Nachfrageverhalten der Schwellenländer
und die Getreidenutzung für Biosprit. Die US DA - um
den letzten Punkt aufzunehmen -, also das amerikanische Ministerium selbst, hat dazu kürzlich veröffentlicht,
dass in diesem Jahr, 2011, etwa 40 Prozent der amerikanischen Maisernte für die Produktion von Ethanol eingesetzt werden. Das hat natürlich Folgen für die Märkte.
Das sehen wir doch auch. Darüber muss man hier reden.
Allerdings sind nicht die steigenden Preise das Hauptproblem. Diese haben durchaus auch positive Effekte,
weil sie Produktions- und Investitionsanreize setzen.
Das Problem sind die starken unberechenbaren Preissprünge, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Daran tragen - das sagen verschiedene Studien unisono die Spekulanten zumindest eine Teilschuld. Deshalb ist
für uns klar - das sage ich ganz deutlich -: Marktfremde
Spekulanten haben im Lebensmittelbereich nichts zu suchen. Das müssen wir versuchen umzusetzen.
({9})
Die internationale Gemeinschaft ist weiter gefordert,
Lösungen zu finden, die über das reine Monitoring - so
etwa AMIS der G 20 - hinausgehen, und neue Konzepte
und neue Möglichkeiten zu schaffen.
Dass wir, wie ich eben gesagt habe, an einer Zeitenwende in Bezug auf Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Produkte stehen, hat natürlich längst andere Begehrlichkeiten ausgelöst. Landwirtschaftsflächen sind
inzwischen eine globale Kapitalanlage geworden. Den
Umfang beschreibt das CFS in einer weiteren Studie mit
etwa 50 bis 80 Millionen Hektar. Auch das hat einen
zweiseitigen Effekt: Einerseits - so sagen sie - sei höheres Investment dringend erforderlich, damit der Bedarf
zukünftiger Generationen gedeckt werden kann. Andererseits seien große Landkäufe oder Pachtungen häufig
mit negativen Folgen für die örtliche Bevölkerung verbunden. Davon war bereits die Rede. Deswegen müssen
wir auch hier weiter aktiv werden. Darüber kann es kein
Missverständnis geben.
Das CFS verlangt deshalb, dass betroffene Regierungen einen jährlichen Bericht über Bedingungen und Ergebnisse der Landnahme vorlegen müssen, der dann
gegebenenfalls nach Prüfung durch die FAO Voraussetzung für die weitere entwicklungspolitische Unterstützung des jeweiligen Landes sein sollte. Ich denke, dass
mit diesem Vorschlag die Forderungen in unseren beiden
Anträgen durchaus weiter ausgebaut werden können, zumal die Weltbank in ihrem aktuellen Bericht davon ausgeht, dass sich die Landnachfrage in Zukunft weiter verstärken wird.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusammen: Insgesamt müssen die Verbesserung der Produktion und der Lebensbedingungen vor Ort, der ökonomische Erfolg der ländlichen Bevölkerung und die
Strukturverbesserung im ländlichen Raum die entscheidenden Kriterien für unsere Anstrengungen sein,
({10})
und zwar nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Kriterium kann und darf aus meiner Sicht nicht sein, was
wir an finanziellen Mitteln ausgeben; Bewertungsmaßstab muss vielmehr sein, was die Empfänger an Lebenschancen gewinnen. Daran müssen wir uns messen. Das
ist das entscheidende Ziel. Ich hoffe, dass Sie wenigstens
unsere Initiative und unsere Anträge unterstützen, wenn
Sie schon selbst keinen Antrag eingebracht haben.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Niema Movassat von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle drei
Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger. Auch deshalb
muss das Menschenrecht auf Nahrung Vorrang vor den
Gewinninteressen von Investoren haben. Das muss der
politische Grundsatz dieser Debatte sein.
({0})
Eines der Dinge, die dieses Menschenrecht am meisten verletzen, ist das neokoloniale Phänomen des Landraubs. Ich möchte Ihnen an einem Beispiel deutlich machen, was Landraub bedeutet. Im Dorf Meanchey in den
Wäldern im Nordosten Kambodschas lebt das indigene
Volk der Stean. Dieses betreibt dort seit Jahrhunderten
Wanderfeldbau, sammelt Früchte und Pilze. Im Juli 2008
tauchten plötzlich Bulldozer auf, die den Wald zerstörten. Dies taten sie für eine ausländische Firma, die dort
überall Gummibäume pflanzen ließ, angeblich um die
Gegend zu entwickeln, um Arbeitsplätze zu schaffen
und um Armut zu bekämpfen. Tatsächlich aber vertrieben sie die Menschen, die dort seit Generationen lebten.
Sie nahmen ihnen die Lebensgrundlage.
Landraub heißt Vertreibung, Verelendung und Hunger. Deswegen sagen wir heute, dass dies endlich gestoppt werden muss.
({1})
Das Beispiel der Stean steht für das Schicksal von
Hunderttausenden Menschen auf der Welt. Laut der Entwicklungsorganisation Oxfam wurde seit 2001 weltweit
eine Fläche aufgekauft oder gepachtet, die so groß ist
wie Westeuropa.
Auch deutsche Firmen sind daran beteiligt. Ich nenne
drei Beispiele dafür aus Afrika, dem Kontinent, auf dem
derzeit 300 Millionen Menschen hungern und wo drei
Viertel aller Land-Grabbing-Fälle stattfinden.
Erstes Beispiel: In Äthiopien baut die Münchener
Firma Acazis AG Jatropha- und Castorpalmen zur Produktion von Biodiesel an, und zwar auf Land, von dem
die äthiopische Regierung in sogenannten Umsiedlungsprogrammen derzeit im großen Stil Bauern vertreibt.
Zweites Beispiel: Auf Madagaskar pflanzen die deutschen Firmen JatroGreen und JSL Biofuels Biokraftstoffpflanzen auf über 30 000 Hektar Land an. Zur Erinnerung: Madagaskar war das Land, in dem die Firma
Daewoo Ende 2008 die Hälfte des fruchtbaren Landes
auf 99 Jahre pachten wollte. Dadurch wurde der Stein in
puncto Landraub erst richtig ins Rollen gebracht.
Drittes Beispiel: Der DWS-Fonds der Deutschen
Bank, 110 Millionen Euro schwer, hat 27 000 Hektar
Land in Sambia, 25 000 Hektar im Kongo und 5 000 Hektar in Tansania aufgekauft, um damit zu spekulieren.
Dies zeigt eine Studie der Menschenrechtsorganisation
FIAN. Allein in Tansania sind derzeit 126 000 Menschen von Vertreibung durch Landraub bedroht. Dass
auch deutsche Firmen dabei mitmachen, ist ein Skandal.
({2})
Sie von der Koalition müssten endlich dagegen aktiv
werden. Doch statt Landraub zu verurteilen, sprechen
Sie, die Bundesregierung, oft sogar beschönigend von
Landinvestitionen, Jobs, Infrastrukturausbau und Technologietransfers.
Alles Lüge! Das Institut für Entwicklungsstudien der
Universität Sussex hat 100 Landdeals untersucht. In keinem einzigen der Fälle wurden die Zusagen eingehalten.
Nehmen Sie das zur Kenntnis und erzählen Sie keine
Märchen!
({3})
Die Wahrheit ist: Ackerland ist spätestens seit der
Nahrungsmittelkrise 2008 zu einer hochprofitablen Anlage für Spekulanten, Banken und Unternehmen geworden. Auch westliche Staaten haben das zugelassen, nicht
um ländliche Regionen in Afrika und Asien zu entwickeln, sondern damit die eigenen Unternehmen Profite
machen können. Angesichts 1 Milliarde hungernder
Menschen ist das zutiefst inhuman.
({4})
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung Landraub
sogar noch fördert. Sie setzen sich weiter dafür ein, dass
die verantwortlichen Konzerne straffrei bleiben. Sie wälzen die Kontrolle und die Durchsetzung von Sicherheitsmechanismen auf die völlig überforderten Partnerländer
oder korrupten Eliten ab. Das ist unverantwortlich.
({5})
Die Linke fordert, dass gegen deutsche Unternehmen,
die das Menschenrecht auf Nahrung verletzen, direkt
vorgegangen wird. Das ist der zentrale Punkt in unserem
Antrag zum Landraub. Wenn Sie von der Koalition tatsächlich ein Interesse an der Hungerbekämpfung haben,
dann stimmen Sie heute unserem Antrag zu.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um
es klarzustellen: Wir debattieren hier über drei verschiedene Anträge. Die Debatte war etwas verwirrend, weil
hier zu verschiedenen Anträgen Stellung bezogen wurde.
Wir haben einen Antrag der Linken zum Thema Land
Grabbing. Wir stimmen diesem Antrag zu.
({0})
Er enthält Forderungen, die die Grünen allerdings schon
vor einigen Monaten in sehr ähnlicher Form eingebracht
hatten. Aber doppelt hält vielleicht besser. Dann liegt ein
Antrag vor, in dem es darum geht, Erkenntnisse des
Weltagrarberichts aufzunehmen. Auch das ist ein Anliegen der Grünen. Auch dem Antrag können wir nur zustimmen. Jetzt aber möchte ich zu dem Antrag der Koalition zum Thema Ländliche Entwicklung reden.
Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass die Koalition
diesem Thema große Aufmerksamkeit schenkt. Das
BMZ hat ein neues Konzept dazu verabschiedet, an dem
wir mitgearbeitet und zu dem wir Vorschläge eingereicht
haben. Es ist von Minister Niebel eine neue HungerTaskforce eingerichtet worden, und jetzt wird dieser Antrag vorgelegt. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass
die Koalition das Problem erkannt hat und angemessen
darauf reagieren wird. Aber leider gibt es zwischen den
Worten und den Taten doch noch eine Diskrepanz, die
ich ansprechen möchte.
Es fängt schon beim Geld an. Wir haben das gestern
in den Haushaltsberatungen im Ausschuss erlebt. Alle
unsere Anträge, die mehr Geld für die ländliche Entwicklung bedeutet hätten, wurden leider von der Koalitionsmehrheit abgelehnt. Aber es gibt auch inhaltliche
Unterschiede bei den Zielen. Herr Heiderich, vieles von
dem, was Sie gesagt haben, kann ich voll und ganz unterschreiben, aber bei den Methoden, die wir einsetzen
wollen, gibt es Unterschiede. Sie loben in Ihrem Antrag
die grüne Revolution der 70er-Jahre. Die hat mit den
Grünen nichts zu tun, sie hat aber viel zu tun mit den sogenannten Errungenschaften der modernen industriellen
Landwirtschaft. Aber sie hat eben nicht zu den gewünschten Erfolgen in Afrika geführt. Sie hat vielmehr
dazu beigetragen, dass es große Umweltschäden gab,
dass die Böden ausgelaugt wurden und dass es Pestizidund Insektizidprobleme gab. Sie hat gerade die Kleinbauern in die Schuldenfalle geführt. Eine Neuauflage
dieser grünen Revolution kann nicht die Lösung sein.
({1})
Wenn wir die Kleinbauern unterstützen, dann können
wir das nur mit angepassten Methoden tun, bei denen die
Bodenfruchtbarkeit und der Gewässerschutz mit berücksichtigt werden.
({2})
Es muss eine Strategie sein, die nicht nur die Kleinbauern, aber vor allem die Kleinbauern unterstützt. Ihnen
muss Zugang zu Wasser, Saatgut, Mikrofinanzsystemen
und vor allem Land verschafft werden.
({3})
Im Antrag der Koalition kann man feststellen, dass
der Zusammenhang von Landwirtschaft und Klimawandel vernachlässigt wird. Je nachdem wie Landwirtschaft
betrieben wird, kann sie Teil der Lösung oder Teil des
Problems sein. Industrielle Landwirtschaft trägt maßgeblich zu den Emissionen bei. Angepasste und umweltgerechte Landwirtschaft kann hingegen Teil der Lösung
des Klimaproblems sein.
Sie haben die Governance-Strukturen in dem Antrag
anders als in Ihrer Rede gewichtet, Herr Heiderich. Sie,
Herr Heiderich, haben dankenswerterweise das CFS, das
reformierte Komitee für Welternährung bei der FAO, gelobt und unterstützt, aber in dem Antrag findet sich das
nicht wieder. Da wird vielmehr auf die G-8- und G-20Initiativen der Fokus gerichtet. Es geht gerade jetzt darum, die FAO im Kampf gegen Land Grabbing zu unterstützen, damit sie in der Lage ist, wirklich wirksame
Leitlinien zum Thema Zugang zu Land zu erarbeiten.
Das ist wichtig und nicht der Fokus auf G 8 und G 20.
({4})
Der Kollege Raabe hatte in seiner Rede den Schwerpunkt auf die europäische Agrarpolitik, auf ungerechte
Subventionen und ungerechte Handelsstrukturen gelegt.
Auch das ist in diesem Antrag völlig unterbelichtet,
kommt in diesem Antrag kaum vor.
Im Kampf gegen den Hunger hilft wirklich nur ein
kohärenter, ganzheitlicher Ansatz weiter, der sowohl die
ländliche Entwicklung in den Entwicklungsländern unterstützt als auch hemmungslose Spekulationen mit
Agrarrohstoffen sowie Land Grabbing eindämmt und
gerechte Handelsstrukturen schafft.
Wir haben jetzt in dieser Debatte keinen Antrag eingereicht, aber wir haben in der letzten Wahlperiode einen
sehr umfassenden zum Thema Ländliche Entwicklung
eingereicht und in dieser Wahlperiode einen mit ganz
konkreten Vorschlägen, wie Agrarspekulationen eingedämmt werden können, einen sehr umfassenden Antrag
zum Thema Land Grabbing. Dieses Maßnahmenbündel
ist nach wie vor sehr aktuell und hat an Gestalt und
Wahrheitskraft nichts eingebüßt. Deshalb können wir
diesmal Ihrem Antrag nicht zustimmen, stimmen aber
den Anträgen der Linken zu.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Edmund Geisen von der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich in Anbetracht der kurzen Redezeit Folgendes feststelle: Wer
die Welternährung sichern will und sicherer machen will
als in der Vergangenheit, der muss neue Wege gehen. Er
muss es natürlich einerseits wegen der rapide ansteigenden Bevölkerungszahl tun und andererseits, weil die
Entwicklungsstrategien der vergangenen Jahrzehnte
weitgehend versagt haben.
Verehrter Herr Kollege Raabe, zwölf Jahre Entwicklungshilfepolitik der SPD an einem Stück sind verantwortlich für die heutigen Missstände.
({0})
Da können Sie nicht mehr einfach nur mitreden. Sie
müssten dazu etwas ganz anderes sagen. Sie müssten erklären, wie man den von Ihnen zu verantwortenden
Missständen jetzt begegnen und wie man sie korrigieren
kann.
({1})
Die internationale Zusammenarbeit muss jetzt auch
neu ausgerichtet werden. Dies wird mit der christlich-liberalen Koalition möglich sein. Die FDP-Fraktion bedankt sich besonders bei Herrn Minister Niebel dafür,
dass er den Weg in diese neue Politik eingeschlagen hat.
Zukünftig müssen die politischen Rahmenbedingungen
und das politische Bewusstsein in den Entwicklungsländern selbst verbessert und unterstützt werden. Unsichere
Land- und Wassernutzungsrechte, Korruption und auch
fehlende Verwaltungsstrukturen behindern jegliche Investition vor Ort.
Insbesondere in Afrika könnten die bestehenden Reserven auch durch eine produktivere Landwirtschaft
genutzt werden, wenn man es denn täte. Innovative Betriebsmittel wie moderne Maschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel, auch Biotechnologie müssen standortund bedarfsgerecht genutzt werden.
Es gilt auch mehr denn je, die Landwirte vor Ort besser auszubilden und die Mittel für die Agrarforschung
vor allem in den Entwicklungsländern aufzustocken.
Nichts davon ist in der Vergangenheit geschehen. Dies
ist die Zielrichtung unserer Anträge und auch des Positionspapiers der FDP-Fraktion.
Meine Damen und Herren, in dem Motto „Hilfe zur
Selbsthilfe“ ist sich die christlich-liberale Koalition völlig einig.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Satz zu den
Rohstoffbörsen sagen. Exzessive Spekulationen mit
Nahrungsmitteln gilt es einzudämmen; darüber gibt es
keinen Zweifel.
({2})
Hierbei ist internationales Handeln gefragt.
({3})
Deshalb begrüße ich auch, dass die G-20-Agrarministerkonferenz schon im Sommer einen umfassenden Aktionsplan vorgelegt hat.
Kernpunkte müssen natürlich mehr Transparenz und
klare zeitgemäße Rahmenbedingungen sein. Allerdings
kann es nicht das Ziel sein, ganz ohne Märkte und Warenbörsen auszukommen. Wohin das geführt hat, sollten
wir eigentlich noch nicht vergessen haben. Man kann es
nur besser machen, als die Linken es in der Vergangenheit gemacht haben.
({4})
Beispiele dafür gibt es in 70 von den Linken beherrschten Ländern, und in allen Entwicklungsländern kann
man die Ergebnisse der Politik in der Vergangenheit sehen.
({5})
Wir wollen und können es besser machen. Die christlich-liberale Koalition steht für einen neuen, besseren,
fruchtbareren Weg in der Entwicklungspolitik.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7185 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP mit dem Titel „Illegale Landnahme verhindern,
Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage in
Entwicklungsländern sichern“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5965,
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5488 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine
großflächige Landnahme und Spekulationen mit Land
oder Agrarproduktion in den Ländern des Südens“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4820, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/3541 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Erkenntnisse
des Weltagrarberichtes zur Grundlage deutscher, euro-
päischer und internationaler Agrar- und Entwicklungs-
politik machen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4490, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3542 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der
SPD-Fraktion.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({0}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Für einen Hochschulpakt Plus - Zusätzliche
Studienplätze schaffen und Masterangebot
ausbauen
- Drucksache 17/7340 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulpakt 2020: Für mehr Studienplätze
und gute Arbeitsbedingungen - Hochschulen
sozial öffnen
- Drucksache 17/7341 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Swen Schulz von der Fraktion der
SPD das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verzeichnen eine steigende Nachfrage nach Studienplätzen. Das
hat mit den doppelten Abiturjahrgängen und der Aussetzung von Wehrpflicht und Zivildienst zu tun, es hängt
aber auch mit der steigenden Studierneigung zusammen,
und das ist positiv. Das ist zunächst einmal eine gute
Nachricht.
({0})
Darum war es auch gut und wegweisend, dass wir gemeinsam den Hochschulpakt geschaffen haben. Der
Hochschulpakt wirkt.
({1})
Er verschafft vielen jungen Leuten die Möglichkeit, zu
studieren. Auch das ist eine gute Nachricht.
Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht stehen bleiben;
denn wir sehen, dass der Hochschulpakt unterdimensioniert ist. Seit langem weisen wir darauf hin, dass der
Hochschulpakt auf veralteten Prognosen basiert. Wer
denkt, dass die Bundesbildungsministerin Schavan in
dieser Situation die Erste ist, die auf Verbesserungen
drängt, der liegt falsch.
Wir müssen die Bundesministerin Schavan leider immer wieder zum Jagen tragen. Ein unrühmliches Beispiel dafür ist die Geschichte rund um die Aussetzung
der Wehrpflicht und des Zivildienstes. Als die Bundesregierung angekündigt hatte, dass sie die Wehrpflicht
aussetzen will, haben wir sofort gesagt, dass die Mittel
für den Hochschulpakt entsprechend aufgestockt werden
müssen; denn diejenigen, die nicht Zivildienst leisten
und die nicht zur Bundeswehr gehen, streben natürlich
zu einem gewissen Teil an die Hochschulen.
({2})
Wir haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Aber
wir mussten eine Verweigerungshaltung der Regierungskoalition feststellen. Immer wieder wurde gesagt: „Mal
sehen! Die Länder sind zuständig!“ Ich erinnere mich
noch daran, wie im Ausschuss diese Haltung von den
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition vertreten wurde, bis endlich - einen Tag nach der Ausschusssitzung - die Bundeskanzlerin dem Druck nachgegeben und den Ministerpräsidenten eine entsprechende
Zusage gegeben hat.
({3})
Jetzt melden viele Hochschulen tatsächlich „Land unter“. Was macht die Bundesregierung? Sie macht nichts.
({4})
- Sie sagen, weil alles bestens ist.
({5})
Wenn Sie uns von der Opposition das nicht glauben,
dann glauben Sie es vielleicht den Medien. Ich nenne Ihnen einmal ein paar Überschriften: „Stresstest für Hochschulen“, „Universitäten sind knüppeldicke voll“, „Hörsäle sind überfüllt“, „Die Invasion“, „Unis schotten sich
mit Numerus clausus ab“, „Flucht vor dem Numerus
clausus ins Ausland“, „Platzangst im Hörsaal“, „Flickwerk an deutschen Unis“ usw.
({6})
Angesichts dieser Situation können Sie doch nicht sagen, dass alles gut ist. Das ist zu wenig von der Regierungskoalition.
({7})
Wir haben das Problem angepackt und einen Antrag
für einen Hochschulpakt Plus vorgelegt, über den heute
diskutiert wird. Ich will Ihnen die wichtigsten Punkte
kurz skizzieren.
Erstens. Wir wollen, dass mindestens 50 000 Studienplätze zusätzlich geschaffen werden. Das kann schnell
realisiert werden und ist ein Beitrag für ein besseres Angebot an den Hochschulen.
Zweitens. Es gibt immer mehr Probleme beim Angebot von Masterstudienplätzen. Darum wollen wir ein
Sonderprogramm. Wir wollen, dass allen Bachelorabsolventen das Masterstudium offensteht.
({8})
Das ist ein wichtiges Ziel, für das wir streiten.
Swen Schulz ({9})
Drittens. Wir führen die Idee des Abschlussbonus ein.
Bisher finanzieren wir nur die Studienanfänger; das ist
so weit in Ordnung. Aber die Frage ist, was danach passiert. Wir möchten einen finanziellen Anreiz, eine Belohnung für diejenigen Hochschulen schaffen, die eine
gute Lehre anbieten und die die Studierenden erfolgreich
zum Abschluss führen.
({10})
Das ist eine wichtige Ergänzung des Hochschulpaktes,
die wir hier vorschlagen.
({11})
Es ist vollkommen klar, dass alles entsprechend finanziert werden muss. Darum haben wir zusätzlich einen
nationalen Pakt für Bildung und Entschuldung formuliert. Er beinhaltet auch Steuererhöhungen für diejenigen, denen es wirklich sehr gut geht, damit wir endlich
mit der viel beschworenen Bildungsrepublik Deutschland vorankommen. So toll ist das nämlich nicht, was
Frau Merkel uns bisher präsentiert hat.
Heute gab es einen Vorgang, der mir im Zusammenhang mit der Finanzierung von Bildung nachgerade den
Atem verschlagen hat. Pünktlich zur geplanten Sitzung
der Kultusminister, also der Bildungsminister der Länder, mit Bundeskanzlerin Merkel, gab es heute unter der
Überschrift „Schwarz-Gelb einig über Steuersenkung“
die Meldung:
Die Bundesregierung erwartet eine Entlastung von
6 bis 7 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Gemeinden.
Das sind doch genau diejenigen, die die Hauptlast bei
der Finanzierung der Bildung tragen.
({12})
Sie können doch nicht eine Bildungsrepublik Deutschland schaffen, wenn Sie gleichzeitig die finanzielle Basis
dafür zerschlagen.
({13})
Das ist nichts weiter als eine Verzweiflungstat zur Rettung der FDP, Kollege Döring, auf Kosten der Bildung
und auf Kosten der Menschen.
({14})
Wir erwarten von der Bundesbildungsministerin
Schavan, dass sie gegen diesen Unsinn angeht und dass
sie sich für Bildung einsetzt.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Tankred Schipanski von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen, mit einem von den Linken und mit einem von der SPD. Als
ich den Antrag der Linken gelesen habe, musste ich feststellen, dass er wieder jeglichen Realitätssinn und jegliche Kenntnis des deutschen Grundgesetzes vermissen
lässt. Einen Antrag mit dieser Rhetorik können Sie auf
Ihrem Parteitag in Erfurt einbringen, aber nicht in diesem Hohen Hause.
({0})
Sie sprechen von einer ständischen Gliederung des
Schulsystems. Sie verkennen, dass das Abitur Studierfähigkeit bescheinigt und somit Hochschulzugangsberechtigung ist. Sie haben noch nicht einmal mitbekommen,
dass es die ZVS seit 2008 gar nicht mehr gibt; und es ist
Ihnen völlig neu, dass wir in einem föderalen Bundesstaat leben, in dem die primäre Bildungskompetenz bei
den Ländern liegt.
Wir alle wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie bei Ihrem nächsten Antrag nicht wieder die Textbausteine Ihrer vorherigen Anträge bzw. Parteitagsreden zusammensetzen, sondern einmal einen konstruktiven Beitrag für
die Bildungsrepublik Deutschland leisten würden.
({1})
Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte ist ein Antrag der SPD. Der Kollege Schulz hat es gerade vorgetragen: Die SPD fordert einen „Hochschulpakt Plus“.
Wir wollen uns doch einmal die Ausgangslage ins Gedächtnis rufen:
({2})
Mit dem Hochschulpakt wurden in der ersten Programmphase von 2007 bis 2010 185 000 zusätzliche
Studienmöglichkeiten geschaffen; das sind doppelt so
viele wie ursprünglich vereinbart.
({3})
Auch für die zweite Programmphase haben Bund und
Länder vereinbart, ein bedarfsgerechtes Studienangebot
zu schaffen. Auf der Basis der Vorausberechnungen der
KMK wurden 320 000 bis 335 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten bis zum Jahr 2015 zugesichert.
Wenn in diesem Wintersemester mehr Studienmöglichkeiten als erwartet benötigt werden, so werden auch
diese gemäß der Systematik des Hochschulpakts - das
heißt nachlaufend nach zwei Jahren - bundesseitig finanziert. Ein Überschreiten des vereinbarten Deckels ist vor
2014 nicht zu erwarten. Von daher sehe ich gegenwärtig
gar keine Notwendigkeit, den Hochschulpakt anzupassen oder gar einen „Hochschulpakt Plus“ aufzulegen.
Ich darf daran erinnern, dass wir darüber hinaus bundesseitig einen Pakt für Qualität und Lehre aufgelegt haben, über den bis 2020 rund 2 Milliarden Euro für bessere Studienbedingungen und mehr Lehrqualität an den
Hochschulen bereitgestellt werden.
({4})
Das ist die Ausgangslage.
({5})
Diese positive Ausgangslage wird heute in einem
Artikel der Zeit - das ist mit Sicherheit eine Zeitung,
die der Koalition nicht nahesteht - vollumfänglich bestätigt. Der Heidelberger Rektor Professor Eitel sagt:
„Aber es herrscht keinerlei Chaos oder nicht zu bewältigender Andrang.“ Der Regensburger Rektor Professor
Strothotte sagt, von den „von vielen Seiten skizzierten
Schreckensszenarien“ sei man weit entfernt. Der Präsident der Hochschule Osnabrück sagt, dank der „sehr guten“ finanziellen Unterstützung habe man „frühzeitig
und dauerhaft“ zusätzliche Professoren eingestellt und
Baumaßnahmen zur Verbesserung der Studiensituation
„zügig“ umsetzen können. Der Präsident der Uni Hannover sagt: „Die Chance, einen Studienplatz zu bekommen, war sogar besser als in den Vorjahren.“
({6})
Eine junge Frau, Anouk Fechner, hat sich mit einem
Abi-Schnitt von 2,7 an 20 Hochschulen für Jura und
BWL beworben und zehn Zusagen bekommen. Meine
Damen und Herren, das ist die Realität in der Bildungsrepublik Deutschland!
({7})
Was machen Sie mit Ihrem Antrag? Angst machen,
Schwarzmalen und - wie immer - vonseiten des Bundes
mit einer Gießkanne das Geld über die deutschen Hochschulen verteilen. Das ist abzulehnen!
Zudem soll ein angeblicher struktureller Mangel des
Hochschulpaktes beseitigt werden - der Kollege Schulz
hat es vorgetragen. Trennen Sie doch bitte ganz scharf
zwischen dem Hochschulpakt, den Bund und Länder
miteinander vereinbart haben, und den Hochschulpakten, die die Länder mit ihren Hochschulen schließen.
Dann werden Sie erkennen, dass viele Ihrer Forderungen
bereits umgesetzt worden sind. Denn die Mittelzuweisungen und Verteilungsschlüssel der Länder an ihre
Hochschulen berücksichtigen zum einen bereits die Zahl
der Studienanfänger und zum anderen die Anzahl der
Absolventen.
Ihr Vorwurf, die Vergabe von Masterstudienplätzen
würde nach ideologischen Gesichtspunkten geschehen,
ist schlichtweg falsch. Masterstudienplätze stehen in
ausreichender Anzahl für die Bachelorabsolventen zur
Verfügung, die einen guten Bachelorabschluss haben.
({8})
Die Weiterführung eines Studiums an die bisherigen
Leistungen zu koppeln, ist sinnvoll und systemimmanent, weil die Masterausbildung größtenteils auf den
Grundkenntnissen und Methoden eines Bachelorstudiums aufbaut.
Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, wenn
Sie einen Beitrag für ein Gelingen des Starts dieses Wintersemesters leisten möchten, dann sollten Sie das nicht
mit derartigen Anträgen machen, sondern Sie sollten mit
Ihren Genossen Bürgermeistern und Oberbürgermeistern
der Hochschulstädte in Kontakt treten. Nicht Studienplätze fehlen, sondern eine gute Infrastruktur. In München unter SPD-Oberbürgermeister Ude mussten Matratzenlager eingerichtet werden.
({9})
Der Jenaer SPD-Oberbürgermeister weigert sich, weiteren Wohnraum für Studenten zu schaffen. Das sind die
eigentlichen Probleme der Erstsemester.
({10})
Die Koordination zwischen Städten und Studentenwerken, die Kommune als Bildungspartner vor Ort zu
begreifen - das sind die Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Es darf nicht einfach gießkannenartig Bundesgeld über die Hochschulen verteilt werden, die gar nicht
im verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereich des
Bundes liegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Yvonne Ploetz von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Woche hat das neue Semester begonnen.
({0})
- Ich bin nicht mehr eingeschrieben. Ich habe mein Studium beendet, und zwar erfolgreich. Herzlichen Dank
für die Nachfrage!
({1})
Es gibt eine gute Nachricht: Mehr junge Menschen
als jemals zuvor strömen an die Hochschulen. Mehr
junge Menschen als jemals zuvor wollen eine wissenschaftliche Ausbildung in Angriff nehmen. Diejenigen,
die tatsächlich einen Studienplatz ergattert haben, dürfen
sich glücklich schätzen. Zwar haben sie vielleicht nicht
den Studienplatz ihrer Wahl bekommen, vielleicht auch
nicht in der Stadt, in der sie gerne studieren möchten,
aber immerhin haben sie einen Studienplatz. Sie müssen
sich glücklich schätzen, weil Tausende Studienplatzbewerber eine Absage von den Hochschulen bekommen
haben. Diese jungen Menschen haben ihre Studienberechtigung hart erkämpft. Sie haben Abitur bzw. Fachabitur gemacht. Aber die Studienberechtigung nutzt ihYvonne Ploetz
nen in diesem Semester rein gar nichts. Das ist absurd,
eine Frechheit und ein politischer Skandal,
({2})
ein Skandal auch deshalb, weil all das nicht wie eine Naturkatastrophe über uns gekommen ist.
Wir alle wissen, dass es durch die Einführung von G 8
zu doppelten Abiturjahrgängen kommt. Wir alle wissen
nicht erst seit gestern von der Abschaffung der Wehrpflicht. Die neuen Erstsemester kommen schon an ihrem
ersten Studientag in der neuen Wirklichkeit an den
Hochschulen an. Sie müssen im Einführungsseminar
wahrscheinlich auf dem Boden sitzen, weil der Platz
nicht ausreicht.
({3})
Sie haben vermutlich keine Unterkunft, weil kleine und
kostengünstige Wohnungen auf dem Immobilienmarkt
kaum noch vorhanden sind und die Wohnheime hoffnungslos überfüllt sind. Kümmern Sie sich endlich darum!
({4})
Die Infrastruktur der Hochschulen reicht hinten und vorn
nicht aus. Das Centrum für Hochschulentwicklung - das
CHE ist nicht gerade eine linke Organisation, wie Sie
vielleicht wissen - gab im Juli bekannt, dass für das Jahr
2011 mindestens 50 000 Studienplätze fehlen und dass
500 000 Studienanfängerinnen und -anfänger bis 2015
an die Hochschulen strömen werden. Aber selbst nach
dieser Meldung ist wieder einmal nichts passiert.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie erklären immer lauthals, dass Sie bestens auf die Situation
vorbereitet sind und dass durch den Hochschulpakt 2020
ausreichend Studienplätze zur Verfügung stehen. Ich befürchte, Sie haben sich ordentlich verrechnet.
({5})
Hinzu kommt, dass der Hochschulpakt derzeit hoffnungslos unterfinanziert ist. Laut Statistischem Bundesamt kostet ein Studienplatz durchschnittlich 7 150 Euro.
Sie stellen den Universitäten aber nur 6 500 Euro zur
Verfügung. Das kann so nicht funktionieren. Bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit irgendeinem Beispiel, wo es
an einer Hochschule oder in einem bestimmten Fachbereich besser aussieht. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass es nicht ein Glücksspiel ist, ob man gute
Studienbedingungen vorfindet. Es geht hier um das
Menschenrecht auf Bildung und nicht um Lotteriescheine.
({6})
Die Linke fordert die Aufstockung der Mittel für den
Hochschulpakt. Wir brauchen mindestens 500 000 zusätzliche Studienplätze.
({7})
Der Hochschulpakt muss das politische Ziel erreichen, Zulassungsbeschränkungen durch ein ausreichendes Angebot an Studienplätzen überflüssig zu machen.
Wir möchten, dass jeder und jede die Möglichkeit hat,
das Fach zu studieren, das er oder sie gerne möchte.
({8})
An dieser Stelle möchte ich kurz an das Versprechen
von Frau Schavan erinnern. Im Juli 2009 hat sie als Reaktion auf den Bildungsstreik verkündet:
Studierende sollen selbst entscheiden können, ob
sie einen Master machen wollen oder nicht.
({9})
Die Erfüllung dieses Versprechens sind Sie seitdem
schuldig geblieben.
({10})
Setzen Sie das endlich um! Wir fordern das Recht auf einen Master für alle.
({11})
Selbst Frau Merkel hat vor einigen Tagen Verständnis
für die Proteste gegen die Macht der Banken und die
Auswirkungen der Wirtschaftskrise geäußert.
({12})
Ich denke, sie wird dieses Verständnis auf die Studierenden ausdehnen können; denn sie werden nicht das ganze
Studium über am Boden sitzen. Die Parole „Geld für
Bildung statt für Banken“ ist heute richtiger denn je.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Martin
Neumann von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Zahl der Studienanfänger in Deutschland
ist in diesem Semester auf einem Rekordniveau: Mehr
als 500 000 Erstsemester studieren - es ist schon gesagt
worden -, und zwar dank der steigenden Studienneigung
- das ist positiv -, aber auch wegen der doppelten Abiturjahrgänge in Bayern und Niedersachsen und der Aussetzung der Wehrpflicht. Diese Umstände waren der
Grund dafür, dass in der ersten Phase des Hochschulpakts in den Jahren 2007 bis 2010 rund 182 000 zusätzliche Studienplätze geschaffen wurden. Der Bund - das
kann man an der Stelle zusammenfassend feststellen hat die Länder bei ihrer Aufgabe, zusätzliche Studienplätze zu schaffen, mehr als anständig unterstützt.
({0})
In der zweiten Phase des Hochschulpakts stehen weitere 5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das Geld, das der
Dr. Martin Neumann ({1})
Bund an der Stelle zahlt, ist mit der Erwartung verbunden, dass die Länder die Mittel zur Gegenfinanzierung
gleichermaßen aufstocken. Der Qualitätspakt Lehre zur
Verbesserung der Studienbedingungen wurde bereits angesprochen. Dafür stellt der Bund bis zum Jahr 2020
nochmals 2 Milliarden Euro zur Verfügung. So weit zu
den Tatsachen.
Die Oppositionsfraktionen fordern heute, dass der
Bund die Mittel für den Hochschulpakt angesichts der
doppelten Abiturjahrgänge und der Aussetzung der
Wehrpflicht aufstockt, obwohl - das will ich an der
Stelle hervorheben - die GWK, die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, erst im März 2011 aus genau diesen Gründen den Hochschulpakt angepasst hat und
1,5 bis 1,7 Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen wird.
({2})
- Kollege Gehring, Sie haben gleich die Gelegenheit,
dazu etwas zu sagen.
Jetzt komme ich auf etwas zu sprechen, das ich in den
letzten Tagen in der Presse gelesen habe. Herr Gehring,
Sie sind in den Medien mit den Worten zitiert worden,
dass das, was die Koalition hier gegenwärtig unternehme
- es sind massive Anstrengungen -, „halbherzig“ sei; so
entnehme ich es den Medien. Zur Erinnerung: In diesem
Jahr stellen wir im Rahmen des Hochschulpaktes
600 Millionen Euro zur Verfügung. Ich finde Ihre Äußerung angesichts der realen Hochschulpolitik in den Ländern - ich komme gleich genauer darauf zu sprechen nicht nur kaltherzig, sondern auch etwas kaltschnäuzig.
({3})
Meine Damen und Herren, wie sieht denn die Hochschulpolitik von SPD, Linken und Grünen im wahren
Leben, also jenseits der Lippenbekenntnisse, die wir hier
immer wieder hören, tatsächlich aus? Es könnten viele
Beispiele genannt werden. Aufgrund der begrenzten Redezeit will ich mich auf zwei Beispiele konzentrieren.
Ich nenne als Beispiel das Land Rheinland-Pfalz, das
von Rot-Grün regiert wird: Dort werden die Studienbeiträge für Langzeitstudenten trotz des Studentenansturms
in diesem Jahr abgeschafft. Das führt zu Mindereinnahmen von etwa 4 Millionen Euro, die vom Land nicht
kompensiert werden. Abgesehen davon nehmen die
Langzeitstudierenden den anderen Studierenden den
Studienplatz weg. Vielleicht ein brisantes Beispiel dazu:
An der Uni Mainz gibt es sieben Dauerstudenten, die
- man höre! - im 79. Semester sind und demnach jetzt
wieder kostenfrei studieren können.
({4})
Im Land Nordrhein-Westfalen, das unter Tolerierung
durch die Linke von Rot-Grün regiert wird, ist das Studium ab diesem Semester wieder gebührenfrei.
({5})
Jetzt fallen Tutoren aus; es werden weniger Bücher für
die Bibliotheken gekauft.
({6})
An der Uni Bonn sind zum Beispiel 50 Stellen in Gefahr.
Ich könnte das weiterführen, belasse es aber an dieser
Stelle dabei.
Zur Krönung des Ganzen möchte ich mein Heimatland Brandenburg ansprechen; ich habe schon mehrfach
das eine oder andere zur dortigen Situation gesagt. Im
Haushaltsentwurf der rot-roten Landesregierung für das
kommende Jahr findet sich eine globale Minderausgabe
in Höhe von 12 Millionen Euro, die von den Hochschulen eingespart werden müssen. Zudem kommt es zu einer Entnahme aus den Rücklagen zur allgemeinen Haushaltskonsolidierung in Höhe von 10 Millionen Euro. Die
Linken formulieren in ihrem Antrag süffisant - ich zitiere -:
Der Bund muss dementsprechend dafür sorgen,
dass ein ausreichendes Angebot an Studienplätzen
zur Verfügung steht.
Da kann man nur noch sprachlos den Kopf schütteln.
({7})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie befinden sich wahrscheinlich immer noch in einem
Schockzustand;
({8})
denn in den letzten Tagen ist eines Ihrer zahlreichen
ideologischen Totschlagargumente in Sachen Bildungspolitik wissenschaftlich fundiert entkräftet worden. Ich
zitiere aus der taz, die nun wirklich nicht unser Parteiorgan ist.
({9})
In der Ausgabe vom 11. Oktober 2011 steht - ich zitiere
mit Erlaubnis des Präsidenten -:
({10})
Diese Nachricht ist ein Schock für alle Gegner von
Studiengebühren. Die Campus-Maut
- so wird sie oft bezeichnet schreckt offenbar nicht einmal die Kinder aus nichtakademischen Haushalten vom Studieren ab.
({11})
Nach Einschätzung einer aktuellen Studie des Wissenschaftszentrums Berlin, des WZB, mit dem Titel „War
all die Aufregung umsonst?“ gibt es keinen negativen
Effekt von Studienbeiträgen auf die Studierneigung. Im
Gegenteil: Sie haben positive Effekte.
({12})
Ich will das kurz begründen. Studierende schätzen
ihre Ertragsaussichten besser ein, wenn es Studiengebühren gibt, und in den Ländern, in denen Studienbeiträge erhoben wurden, ist die Anzahl der Studenten soDr. Martin Neumann ({13})
gar noch stärker als in Ländern ohne Studienbeiträge
angestiegen.
({14})
Als hätte ich es nicht anders erwartet, wird Herr Gehring
in dem genannten Blatt zitiert. Am 12. Oktober hat er
gesagt: „Die WZB-Untersuchung ist methodisch zweifelhaft …“, ganz nach dem Motto: Was nicht sein darf,
das kann auch nicht sein.
({15})
Ich komme zum Schluss. Die Anträge, die Sie gestellt
haben, sind wieder einmal viel Lärm um nichts.
({16})
Sie fordern den Bund zu Maßnahmen auf, für die er eigentlich nicht zuständig ist. Trotzdem nimmt er - das betone ich - bereits enorme Investitionen vor. Sie vergessen immer wieder Ihre eigene Verantwortung in den
Ländern. Daher appelliere ich an Sie zum Wohle der vielen Studierenden in Deutschland: Machen Sie endlich
Ihre Hausaufgaben, und beenden Sie diese Spielchen!
Schönen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Während die Bundesregierung seit Monaten über Fachkräfte- und Akademikermangel lamentiert, schnuppert
seit wenigen Tagen eine halbe Million Studienanfänger
akademische Luft. Wir Grüne freuen uns über diese Rekordeinschreibung zum Wintersemester.
({0})
Wir wollen, dass aus Studienanfängern Absolventen
werden. Deshalb wünschen wir allen Erstsemestern, sicherlich auch im Namen des ganzen Hauses, ein erfolgreiches Studium.
({1})
Seit mehreren Semestern hält das Studierendenhoch
dank gestiegener Studierneigung, geburtenstarker Jahrgänge und doppelter Abiturjahrgänge an. Wie erwartet
ist der Ansturm zu Beginn dieses Semesters durch den
überfälligen, aber überstürzten Ausstieg aus der Wehrpflicht ganz besonders groß.
({2})
Leider hält seit mehreren Semestern das Hochschulzulassungschaos an. Daher möchte ich an dieser Stelle
deutlich machen: Wir brauchen schnellstmöglich ein
funktionierendes, dialogorientiertes Serviceverfahren
und endlich bundeseinheitliche Zulassungsregeln, damit
der Einstieg gelingt.
({3})
Die zentrale politische Aufgabe ist, den Studienplatzmangel zu überwinden, anstatt den Hochschulzugang
durch immer höhere lokale NCs zu blockieren. Zentrale
Aufgabe von Bund, Ländern und Hochschulen ist es
auch, den Studierenden bestmögliche Studienbedingungen zur Verfügung zu stellen. Wer einen Studienplatz ergattert, braucht auch einen Platz im Seminar,
({4})
einen Sitzplatz im Hörsaal, einen Professor mit Zeit,
mehr Qualität in der Lehre und eine gute soziale Infrastruktur, das heißt Beratungsangebote, bezahlbaren
Wohnraum, moderne Bibliotheken und Mensen. Darum
muss es jetzt gehen. All das gehört zu einem Studienplatz dazu. Daran mangelt es vielerorts. Daran muss
bundesweit dringend gearbeitet werden.
({5})
Ärgerlich ist, dass der aktuelle Ansturm seit längerer
Zeit bekannt ist und es zwei Bundesregierungen dennoch
nicht geschafft haben, nachhaltige Lösungen zu schmieden. Der Hochschulpakt ist wichtig,
({6})
er war ein Kraftakt, aber er ist trotzdem weiterhin unterfinanziert, gedeckelt, und er ist zu kurz gedacht. Anstatt
aus dem ominösen 12-Milliarden-Paket von Frau
Schavan zu klotzen, kleckern FDP und CDU/CSU nur
herum
({7})
und versprechen an einem Tag wie heute, an dem überall
über die Euro-Krise diskutiert wird, 6 bis 7 Milliarden
Euro an Steuersenkungen. Dabei wissen sie, dass das
Geld dann in den Länderhaushalten fehlt. Es fehlt auch
für den Ausbau unseres Hochschulsystems. Ein solches
Vorhaben ist völlig falsch.
({8})
Schon im ersten Semester droht Ihre Pakt-II-Phase
zur Makulatur zu werden, weil mindestens 50 000 Studienplätze fehlen
({9})
und Sie nicht die realen Masterübergangsquoten zugrunde legen. Deshalb muss der Hochschulpakt dringend dynamisiert und an den tatsächlichen Studierendenzahlen gemessen werden, damit junge Talente auf
den Uni-Campus und nicht in die Warteschleife geschickt werden.
({10})
Für dieses Semester braucht man kreative Lösungen
und Notmaßnahmen vor Ort. NRW und BadenWürttemberg sind hier Vorreiter.
({11})
Sie gehen weit über die Paktzusagen hinaus. Das ist einfach so. Man muss Geld vorstrecken. Die finanziellen
Vorleistungen sind höher als das, was im Pakt verhandelt
wurde. Das ist ein gutes Zeichen.
({12})
Da Herr Neumann die Studiengebührendebatte hier
aufgemacht hat, sage ich für meine Fraktion sehr deutlich: Hochschulfinanzierung ist eine öffentliche und
keine private Aufgabe. Studiengebühren sind und bleiben sozial ungerecht.
({13})
Sie haben den Nachweis schlichtweg nicht erbracht, dass
dadurch die Qualität gesteigert wird. Deshalb freue ich
mich darüber, dass wir statt in sieben nur noch in zwei
Ländern eine „Campusmaut“ haben, mit der Studierende
abkassiert werden, und dass CDU und FDP mit uns Grünen im Saarland die Studiengebühren abgeschafft haben.
({14})
Ich freue mich darüber, dass Grün-Rot in BadenWürttemberg und Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen die
Einnahmen aus den Studiengebühren durch Qualitätsverbesserungsmittel vollständig kompensieren
({15})
und dass beide Landesregierungen so viel wie nie zuvor
in Hochschulen investieren und damit die Attraktivität
für Studierende erhöhen. Das ist die grün-rote und rotgrüne Bilanz in den Ländern.
Die Bundesregierung darf sich jetzt nicht länger
zurücklehnen. Sie muss den Hochschulpakt jetzt ausweiten, mit den Ländern nachverhandeln und endlich
bessere und klügere Finanzierungsmechanismen verabreden. Es ist notwendig, dass wir mehr Bachelor- und
auch Masterstudienplätze schaffen, damit niemand auf
ein Studium verzichten muss. Zudem brauchen wir
unbefristete Beschäftigungsmöglichkeiten und klare
Karriereperspektiven für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch jenseits der Professur. Darüber hinaus
brauchen wir zusätzlich zu bestehenden Professorenstellen ein Anreizprogramm für Juniorprofessuren, und wir
brauchen ein transparentes Studienvergabesystem. All
das sind Hausaufgaben, die Frau Schavan erledigen
muss, wo Bund und Länder gemeinsam zusammenarbeiten müssen. Nur so würde der Hochschulpakt tatsächlich
seinem Anspruch gerecht, dass jeder junge Studienberechtigte in Deutschland tatsächlich studieren kann.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
2007 wurde zwischen dem Bund und den Ländern der
Hochschulpakt geschlossen. Wenn man sich die Entwicklung bei den Studienanfängern seither anschaut,
wird deutlich, welch großer Wurf
({0})
damals unter Führung von Bundesministerin Schavan
gelungen ist.
({1})
Man ging 2007 davon aus, dass bis 2010 91 000 neue
Studienplätze geschaffen werden müssen. Die Basis
damals waren die Zahlen von 2005. 2005 haben
356 000 junge Menschen ein Studium begonnen. Das
waren 37 Prozent des Altersjahrgangs. Im Jahr 2010 waren es über 440 000 Studienanfänger; das waren 46 Prozent des Altersjahrgangs.
({2})
Das war ein Rekordwert. Die ursprüngliche Zielmarke
aus dem Jahr 2007, nämlich 91 000, wurde mit
182 000 zusätzlichen Studienanfängern zwischen 2007
und 2010 bei Weitem übertroffen. Das zeigt, wie wichtig
dieser Hochschulpakt war und wie richtig es war, dass
wir ihn damals mit Ihnen und gemeinsam mit den Ländern eingeführt haben.
({3})
Der Hochschulpakt wird fortgeführt. 2009 wurde die
Verlängerung des Hochschulpakts beschlossen. Bis 2015
werden wir weiterhin investieren. Wir werden ihn auch
darüber hinaus verlängern, falls es notwendig ist.
Wir haben in diesem Jahr sehr flexibel reagiert, als
wir vor dem Hintergrund der Aussetzung der Wehrpflicht gemeinsam mit den Ländern die Anzahl der Studienplätze noch einmal erhöht haben.
({4})
Allein in der zweiten Programmphase investiert der
Bund 4,7 Milliarden Euro in den Ausbau der Studienplätze.
({5})
Das unterstreicht deutlich: Die Förderung von Bildung
und Forschung ist und bleibt ein Schwerpunkt der Arbeit
dieser Koalition.
Natürlich wollen wir auch die Lehre verbessern.
({6})
Dafür gibt es den Qualitätspakt Lehre; der Kollege
Schipanski hat ihn bereits angesprochen. In der ersten
Auswahlrunde wurden 111 Hochschulen aus allen Regionen Deutschlands ausgewählt, die in den nächsten
fünf Jahren unterstützt werden, damit sie die Studienbedingungen und die Lehrqualität verbessern können. Das
ist der richtige Weg.
({7})
Der Versuch, die Verbesserung der Lehre über den
Anreiz einer Abschlussprämie zu erreichen, ist fragwürdig. Das wäre dann sinnvoll, wenn es einheitliche und
zentrale Prüfungen gäbe. Das möchte aber niemand.
Wenn Sie den Hochschulen Geld entsprechend der Anzahl der bestandenen Prüfungen geben, die sie selbst
stellen und selbst bewerten, besteht die Gefahr, dass die
Prüfungen leichter werden und sich nichts verbessert.
Das wäre der falsche Ansatz. Wir wollen bei einer großen Zahl von Studenten ein qualitativ hohes Niveau der
Abschlüsse beibehalten.
({8})
Verehrte Kollegen von der SPD, wenn Sie ernsthaft
etwas für die Verbesserung der Studienbedingungen tun
möchten, dann reden Sie einmal mit Ihren Kollegen in
den Landesregierungen, zum Beispiel in NRW.
({9})
Dort wurde ein großes Wahlversprechen eingelöst und
die Studienbeiträge gestrichen.
({10})
Nur hat die rot-grüne Landesregierung den zweiten Teil
ihres Wahlversprechens nicht eingelöst,
({11})
nämlich den Hochschulen den Ausfall vollständig zu
kompensieren.
({12})
Im ganzen Land werden Assistentenstellen und Tutorien
gestrichen:
({13})
Aachen, Köln, Bonn, Wuppertal, Münster. Ich könnte
die Liste fortführen. Von überall erreichen uns die Klagen. So haben sich die Studenten und die Hochschulen
das Wahlgeschenk nicht vorgestellt.
({14})
Das Ganze geschah zu einem Zeitpunkt, an dem absehbar war, dass aufgrund der doppelten Abiturjahrgänge und der Aussetzung der Wehrpflicht die Anzahl
der Studienanfänger auch in NRW massiv ansteigen
würde.
({15})
Dass Ministerin Schulze in ihrer Pressekonferenz
zum Semesterbeginn nicht gesagt hat, wie sie diese Finanzierungslücke schließen will, zeigt, dass dort, wo die
SPD Verantwortung trägt, den Studienbedingungen kein
hoher Stellenwert eingeräumt wird, obwohl Sie das hier
vollmundig verkünden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wollen ausdrücklich einstimmen in die große Freude darüber, dass wir so viele Studienanfänger haben.
({0})
Das sind so viele wie noch nie. Es ist schön, dass niemand mehr von der Studentenschwemme spricht, sondern dass diese vielen neuen zusätzlichen Studenten
positiv aufgenommen werden. Ich will auch ausdrücklich sagen: Wir freuen uns, dass so viele Studienanfänger
in die neuen Bundesländer gehen.
({1})
Das ist etwas, was wir gemeinsam erarbeitet haben.
({2})
Wir freuen uns schließlich darüber, dass es sich bei diesen Hochschulpakten um eine gemeinsame Bund-Länder-Finanzierung handelt. Sie hat 2007 begonnen, als
wir gleichberechtigt Verantwortung getragen haben.
Herr Kretschmer, weil wir uns heute beide freuen,
will ich betonen: Sie sind ein besonderer Freund unserer
Sache, weil Sie in Sachsen erfolgreich verhindert haben,
dass Studiengebühren erhoben werden.
({3})
Im Übrigen ist Dresden eine wunderschöne Stadt in
Sachsen, in der vor drei Jahren der erste sogenannte Bildungsgipfel stattgefunden hat.
({4})
An dieser Stelle kann ich an die Ausführungen des
Kollegen Schulz anknüpfen, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass Steuerentlastungen in Höhe von 6 Milliarden Euro, die ja bei Ihnen diskutiert werden, bei den
Ländern zu Mindereinnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro führen.
({5})
Auch bei den Kommunen und beim Bund führt das zu
Mindereinnahmen. Dabei wissen Sie genau, wie die Bildungsausgaben in Deutschland finanziert werden: Den
kleinsten Beitrag leistet der Bund mit 16 Prozent, den
mittleren Beitrag leisten die Kommunen mit 20 Prozent
und den stärksten Beitrag die Länder mit 64 Prozent. An
dieser Stelle den Ländern und den Kommunen Geld zu
entziehen, das verträgt sich drei Jahre nach dem Bildungsgipfel, der damals unter Fanfarenklängen von Ihrer
Seite in Dresden eingeleitet worden ist, nicht mit der
Priorität für Bildung.
({6})
Das ist ein Desaster.
Wir machen es der Kanzlerin nicht zum Vorwurf, dass
sie heute bei der KMK abgesagt hat; denn sie hat an anderer Stelle für Milliarden einzustehen; dafür muss sie
kämpfen. Aber einem Bildungsgipfel den Boden unter
den Füßen wegzuziehen, indem man den Ländern und
Kommunen am Anfang und am Ende der Legislaturperiode Geld wegnimmt, steht im Widerspruch zur Bildungsrepublik, von der Sie immer sprechen; das entlarvt
Sie.
({7})
Was könnte mit den besagten 2,5 Milliarden Euro nun
konkret umgesetzt werden?
({8})
Entsprechend unserer Initiative erfordern 50 000 zusätzliche Studienanfängerplätze in etwa 750 Millionen Euro.
Dies ist das Signal, das die Studierenden und auch die
Hochschulen aktuell brauchen: Bildungschancen finanzieren statt Steuern senken. Herr Schipanski, auch ich
habe Die Zeit gelesen; es ist eine gute Zeitung. Man
kann das nur unterstreichen. Viele Hochschullehrer und
Rektoren haben sich wirklich ins Zeug gelegt und auf
Basis der gemeinsamen Verpflichtungen aus dem Hochschulpakt etwas Ordentliches auf die Beine gestellt.
Aber es findet sich in diesem von Ihnen zitierten ZeitArtikel genauso wissenschaftliche Expertise, zum Beispiel von Professor Dohmen, der sagt: Die 335 000 bisher zusätzlich finanzierten Studienanfängerplätze reichen nicht; sondern wir können es unter Umständen mit
einem maximalen Korridor von 1 Million erwarteter Bewerber zu tun bekommen.
Wir Sozialdemokraten sagen, dass wir dagegen, sozialdemokratisch bescheiden, zumindest ein verlässliches
Signal von mindestens 50 000 Studienanfängerplätzen
setzen sollten. Damit stärken wir auch den entsprechenden Elan in den Hochschulen, bei den Hochschulverwaltungen und auch in den Ländern, der von RheinlandPfalz über Baden-Württemberg, über Nordrhein-Westfalen bis hin nach Niedersachsen vorhanden ist.
({9})
Ja, wir sind nicht einäugig, so wie Sie es immer gerne
darstellen. Auch Niedersachsen hat sich ordentlich ins
Zeug gelegt. Nur, auch dort werden zusätzliche Mittel
gebraucht.
({10})
Und Herr Döring: Auch Sie könnten auch einmal auf alle
Länder schauen und die Wirklichkeit nicht immer nur
einseitig aus Ihrer 3-Prozent-Perspektive heraus betrachten. Sie diskutieren immer nur einseitig über die 3 Prozent.
({11})
Also, ich lobe Niedersachsen; es ist CDU/FDP-regiert.
Sie könnten im Gegenzug auch einmal Lob an andere
Länder aussprechen; ansonsten sind Sie ein kleiner
Frosch
({12})
- Entschuldigung, wenn ich das so sage -: aufgeblasen,
aber nicht viel Substanz darin.
({13})
Deshalb noch einmal: Wir müssen darum werben, dass
wir mit 50 000 zusätzlichen Studienanfängerplätzen ein
Signal setzen; denn dies würde zeigen, dass wir die Studierenden und die Hochschulen in ihren Anstrengungen
ernst nehmen. Hier sind wir doch eigentlich gar nicht so
weit auseinander. Herr Schipanski, wenn Sie sagen, der
Deckel sei nicht fest, sondern soll gegebenenfalls gehoben werden, dann ist das eine Ansage.
({14})
Nur, man kann es in Bezug auf die 50 000 noch dingfester machen. Und darum geht es.
Herr Kollege Rossmann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Herr Brandl, eine letzte Bemerkung, weil ich gern
noch etwas sachlich zu bedenken geben möchte.
({0})
So wie wir Studienanfängerplätze fördern, bei denen
man nicht weiß, ob sie für die Hochschulen eigentlich
immer ein Anreiz sind, über die Studienanfängerzeit hinaus diese Studierenden an der Hochschule zu halten,
könnte man eine neue Balance finden, indem man auch
Abschlüsse fördert. Diese Balance brauchen wir. Wir
brauchen das Signal auch für die Studierenden und ihre
Hoffnung auf Hochschule. Deshalb: Setzen Sie mit uns
dieses Signal, und seien Sie nicht einäugig!
Danke.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7340 und 17/7341 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 17/7020 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/7378 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dr. Daniel Volk
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll ge-
nommen werden.1)
Deswegen kommen wir sofort zur Abstimmung. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/7378, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7020 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Ausgrenzung stoppen - Alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes in
das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen
- Drucksachen 17/6455, 17/7278 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Peter Tauber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Paul Lehrieder von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben heute wieder einmal einen
Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD zu
behandeln und stellen fest: Der Antrag würde Sinn ma-
chen, wäre er denn vor knapp sieben Jahren eingebracht
worden. Sie monieren in Ihrem Antrag die Ausgrenzung
von bedürftigen Kindern im Sozialbereich. Das hat man
damals schlichtweg übersehen; das haben Sie in Ihrer
1) Anlage 21
rot-grünen Regierungszeit übersehen. Jetzt, da Sie in der
Opposition sind, veranstalten Sie ein Riesenlamento. Sie
fordern, dass wir an dieser Stelle im Asylbewerberleistungsgesetz nachbessern. Das passt nicht zusammen. Sie
hätten das bei Einführung der SGB-II-Regelungen in Ihrer Regierungszeit mit abdecken können. Sie hätten den
bedürftigen Kindern bereits vor sechs, sieben Jahren Bildungsmöglichkeiten gewähren können. Das haben Sie
nicht getan. Jetzt zu schimpfen und zu sagen: „Es geht
uns nicht schnell genug“, ist zu billig und auch zu dieser
weniger prominenten Uhrzeit nicht angebracht.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen selbst,
was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Die
christlich-liberale Koalition hat zunächst einmal die von
Ihnen zu verantwortende Ausgrenzung bedürftiger Kinder gestoppt, um das mit aller Deutlichkeit zu sagen. Es
ist schade, dass Sie sich in der Einbringung populistischer Anträge üben, statt uns mit konstruktiver Oppositionsarbeit zu begleiten.
Der Antrag der SPD ist ein gutes Beispiel für eine wenig zielführende Oppositionsarbeit. Er ist populistisch.
Er befasst sich mit einem Sachverhalt, dessen Problematik längst erkannt wurde und für den bereits Lösungen
erarbeitet worden sind. Sie dürfen davon ausgehen, dass
dieser christlich-liberalen Koalition die Bildungsangebote für Kinder sehr wohl am Herzen liegen. Da brauchen wir Ihre Unterstützung nicht.
({1})
Ihr Antrag läuft darüber hinaus größtenteils in Leere,
da seine Inhalte in die Kompetenz der Länder fallen. Es
ist fast wie bei der vorherigen Debatte: Wir haben über
Hochschulpolitik diskutiert und dabei verkannt, dass bei
diesem Thema auch die Länder mitzureden haben. Hier
ist es genauso; ich komme im Detail noch darauf zu
sprechen. Außerdem kommt Ihr Antrag zum falschen
Zeitpunkt, nämlich knapp sieben Jahre zu spät.
Ich bin geduldig genug, Ihnen den Sachverhalt an dieser Stelle noch einmal zu erklären. Das Bildungs- und
Teilhabepaket, mit einem Umfang von immerhin
1,6 Milliarden Euro, gibt bedürftigen Kindern aus Geringverdienerfamilien mehr Zukunftschancen. Es ermöglicht rund 2,5 Millionen jungen Menschen die Teilnahme an Schulausflügen, die Wahrnehmung sportlicher
Aktivitäten, die Teilhabe an Musik und Kultur und die
Teilnahme am Mittagessen in der Schule, im Kinderhort
oder in der Kita. Liebe Sozialdemokraten, Sie sehen,
dass wir zunächst einmal Ihr Versäumnis beheben mussten. Das haben wir gern gemacht, im Interesse der Kinder.
Auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene „haben nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes … Anspruch auf die Leistungen für Bildung und Teilhabe analog dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch …“, um aus
der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken, Drucksache 17/5633, zu zitieren. Auch
nach § 3 berechtigte Kinder und Jugendliche mit einer
kürzeren Aufenthaltsdauer als 48 Monate können Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten,
allerdings nur als Ermessensleistung. Dieses Ermessen
liegt im Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Behörde
vor Ort, also bei den Ländern und Kommunen. Da der
Bund hier zudem eindeutig nur für die Rahmengesetzgebung zuständig ist, läuft Ihr Antrag bereits aus diesem
Grund leider ins Leere.
({2})
Nichtsdestotrotz wird ebendiese Ermessensleistung gerade überprüft, lieber Herr Kurth. Dies belegt ein weiteres Zitat aus der eingangs erwähnten Antwort der Bundesregierung:
Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3
AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungen
für Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfung
der Bemessung der Leistungssätze. Diese Prüfung
ist noch nicht abgeschlossen.
Auch dies hätten Sie bei aufmerksamem Lesen längst
selbst herausfinden können.
Die Bundesregierung plant - das möchte ich festhalten - die Anpassung der Regelsätze im Asylbewerberleistungsgesetz und will bis Ende des Jahres Eckpunkte
für eine gesetzliche Regelung entwickeln und vorstellen.
Liebe Sozialdemokraten, wir haben uns des Themas
angenommen und müssen nun abwarten, was die Prüfungen ergeben. Dass wir gute Voraussetzungen für alle
Kinder in unserem Land schaffen wollen, steht völlig außer Frage. Hier sind wir gar nicht weit auseinander. Kinder sind der Keim unserer Gesellschaft. Die christlich-liberale Koalition eröffnet allen Kindern Chancen und
fördert deren Potenziale und Talente - völlig unabhängig
von ihrem sozialen Hintergrund.
({3})
- Sie hätten ja mitklatschen können, Frau Kollegin
Kramme, dann wäre es lauter gewesen.
({4})
Sie können davon ausgehen: Die Bildungschancen
der Kinder aus allen Familien sind bei uns in guten Händen. Wir freuen uns auf Ihre kritische Begleitung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
heute gemeinsam die Chance, ein Stück mehr soziale
Gerechtigkeit für die ärmsten Kinder in unserem Land
herzustellen. Auch Sie, meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen, haben diese Chance. Nach Ihrer Rede, Herr Kollege Lehrieder, fürchte ich allerdings,
dass es schlecht aussieht.
Es geht um rund 40 000 Flüchtlingskinder, deren
Existenz über das Asylbewerberleistungsgesetz abgedeckt wird und die bis zu vier Jahre in unserem Land
sind. Es sind Kinder, die oft unter traumatisierenden
Umständen mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sind, um hier überleben zu können. Sie stammen
aus dem Irak, aus Afghanistan, dem Kosovo, aus Syrien,
Nigeria und anderen Ländern, die von Krieg und Unruhen gekennzeichnet sind. Sie wären sicherlich lieber bei
ihren Verwandten und Freunden geblieben. Die Not hat
sie zu uns in ein für sie fremdes Land getrieben.
Wie begegnen wir diesen Flüchtlingskindern? Zeigen
wir Mitleid mit ihrem Schicksal? Nein, das tun wir nicht.
Wir schicken diese Kinder in Sammelunterkünfte, verweigern ihnen notwendige medizinische und psychologische Betreuung und speisen sie mit Leistungen ab, die
deutlich unter denen für bedürftige deutsche Kinder liegen. Sie müssen mit bis zu 40 Prozent weniger Regelsatz
auskommen. Das ist beschämend und verstößt gegen die
Menschenwürde und unser Grundgesetz.
({0})
Der Gipfel der sozialen Kälte ist jedoch, dass die
Bundesregierung diesen Kindern noch nicht einmal das
Bildungs- und Teilhabepaket gewährt, das die Bundesverfassungsrichter für bedürftige Kinder ausdrücklich
eingefordert haben.
({1})
Das bedeutet für viele Flüchtlingskinder ganz konkret:
kein warmes Mittagessen in Kita und Schule, keine
finanzielle Unterstützung bei Teilhabe an Sport und Kultur, keine Lernförderung, keine Kostenerstattung für
Schülerbeförderung, kein Geld für Klassenfahrten und
Ausflüge, keine 100 Euro jährlich für Schulbedarf.
Erst nach vier langen Jahren erhalten Flüchtlinge
Leistungen analog zur Sozialhilfe. Dann haben auch
diese Kinder einen Rechtsanspruch auf höhere Regelsätze und das Bildungs- und Teilhabepaket. Vier Jahre
sind eine lange Zeit, gerade für Kinder, die schlimme
Zeiten von Flucht und Vertreibung aus gewohnter Umgebung verarbeiten müssen. Förderung in Kita und
Schule und Teilhabe, zum Beispiel im Sportverein, sind
wichtige Hilfestellungen, die diese Kinder dringend
brauchen.
Staatsministerin Emilia Müller aus Bayern hat da jedoch eine andere Einstellung. Sie lehnte im Bundesrat
das Bildungs- und Teilhabepaket für diese Flüchtlingskinder für Bayern und Hessen mit der Begründung ab ich zitiere -:
Einer … Einbeziehung in das Bildungs- und Teilhabepaket bedarf es aus Sicht von Bayern und Hessen
nicht. Dies gilt insbesondere für integrative Leistungen wie Vereinsbeiträge, da hier der nur vorübergehende Aufenthalt von Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu
berücksichtigen ist.
Vier Jahre sind weiß Gott kein vorübergehender Aufenthalt.
({2})
Vier Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Schwarz-Gelb
zeigt: Zwei Jahre sind eigentlich schon zu viel.
({3})
Wir debattieren heute nicht das erste Mal über unseren
Antrag für ein Bildungs- und Teilhabepaket auch für
Flüchtlingskinder. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Regierungsfraktionen, haben erklärt, dass Sie einen
Rechtsanspruch für nicht erforderlich halten. Es sei den
Ländern und Kommunen schließlich nicht verboten, diesen Kindern Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket zu gewähren. Sie verweisen dabei auf § 6 Asylbewerberleistungsgesetz, der sonstige Leistungen
zulasse.
Ich gebe Ihnen recht: Theoretisch wäre es durchaus
möglich, dass Flüchtlingskinder in ganz Deutschland
bessere Bildungs- und Teilhabechancen bekommen.
Doch hier geht es nicht um Theorie, sondern um knallharte Praxis. Diese kann von Bundesland zu Bundesland,
von Stadt zu Stadt, von Landkreis zu Landkreis eben
sehr unterschiedlich aussehen. Das bedeutet über
400 verschiedene zuständige Behörden. Weil das in
Deutschland so ist, hat das Bundesverfassungsgericht
uns Bundespolitiker aufgefordert, für gleichwertige Bildungs- und Teilhabechancen in ganz Deutschland zu sorgen. Aus diesem Grund wurde schließlich das Bildungsund Teilhabepaket überhaupt auf den Weg gebracht.
Die Länder tragen die Verantwortung für die Bildungspolitik. Darauf haben auch wir uns unter rot-grüner und rot-schwarzer Regierung, Herr Kollege
Lehrieder, verlassen. Aber wir mussten eben lernen, dass
das anders ist. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
dies ins Stammbuch geschrieben. Wir, der Bundestag,
müssen gleichwertige Bildungs- und Teilhabechancen
für alle Kinder in Deutschland sicherstellen. Natürlich
sind damit auch die Flüchtlingskinder, die bei uns leben,
gemeint. Alles andere wäre doch absurd.
({4})
Ohne ein entsprechendes Rahmengesetz ist es den Ländern und Kommunen jedoch völlig freigestellt, ob sie
den Kindern Bildungschancen gewähren oder eben
nicht. Das dürfen wir nicht zulassen.
({5})
Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, unserem Antrag zur Einbeziehung von Flüchtlingskindern in das Bildungs- und Teilhabepaket zuzustimmen und endlich ein
entsprechendes Rahmengesetz auf den Tisch zu legen.
Ohne einen solchen Rechtsanspruch für alle Kinder und
Jugendlichen ist es möglich, dass ein Flüchtlingskind,
das noch keine vier Jahre in Deutschland ist, anders behandelt wird als ein Flüchtlingskind, das länger als
48 Monate bei uns lebt. Beide Flüchtlingskinder besuchen die gleiche Schule, gehen in dieselbe Klasse. Das
eine Kind bekommt die Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets, das andere nicht. Ungerechter geht es
wohl nicht!
Inzwischen haben auch die Bundesländer eingesehen,
dass dies ein unhaltbarer Zustand ist. 13 der 16 Bundesländer fordern genau wie die SPD-Bundestagsfraktion
eine einheitliche Rahmengesetzgebung auch für Kinder
im Regelkreis des Asylbewerberleistungsgesetzes. Das,
meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
sollte Sie aufhorchen lassen. Ihre eigenen Parteifreunde
fordern Sie zum Handeln auf. Wenn Sie schon nicht auf
uns hören wollen, so hören Sie auf Ihre Kolleginnen und
Kollegen aus den Landtagen. Reden Sie sich nicht länger
mit fehlender Zuständigkeit und damit heraus, dass die
Bundesregierung bereits prüfe. Wie lange soll die Ungleichbehandlung der Kinder denn noch dauern? Wie
lange wollen Sie dieses beschämende Unrecht in unserem Land zulassen?
Der Rechtsanspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket für alle Kinder ist der erste Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Mit diesem Schritt sind wir jedoch
noch lange nicht am Ende des Weges angekommen. Das
gesamte Asylbewerberleistungsgesetz muss reformiert
werden.
({6})
Die Grundsicherung entspricht nicht dem Urteil der
Bundesverfassungsrichter. Sie ist verfassungswidrig.
({7})
Hier muss dringend etwas geschehen. Wir werden dazu
einen Antrag vorlegen. Tun Sie heute etwas für die Kinder, und unterstützen Sie uns anschließend bei der längst
überfälligen Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes.
({8})
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Hiller-Ohm, manches, was Sie außerhalb des
Bildungs- und Teilhabepaketes am Asylbewerberleistungsgesetz kritisiert haben, besteht nun schon seit 1993.
({0})
In der Zwischenzeit - ich habe Ihrer Rede gelauscht gab es auch sieben Jahre mit rot-grüner Bundesregierung. Wenn das alles so skandalös ist, dann ist doch die
Frage zu stellen, warum Sie das in diesen sieben Jahren
nicht geändert haben.
({1})
- Ich habe gesagt: alles, was außerhalb des Bildungsund Teilhabepaketes zum Asylbewerberleistungsgesetz
von Ihnen gesagt worden ist. Dazu haben Sie auch noch
Worte gefunden.
({2})
Ich möchte darauf hinweisen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz Ergebnis eines großen Konsenses in der
Politik ist, den damals Oskar Lafontaine - damals noch
für die SPD - mit verhandelt hat. Insofern sollten Sie,
liebe Frau Hiller-Ohm, wenn Sie insgesamt so viel kritisieren, auch kritisch zu sich selber sein und fragen: Was
haben Sie in Ihrer Regierungszeit gemacht?
({3})
Jetzt, liebe Frau Hiller-Ohm, geht es in der Tat um Ihren Antrag. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, Kindern und Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich im Leistungsbezug nach § 3 des
Asylbewerberleistungsgesetzes befinden, umgehend einen Rechtsanspruch auf die Leistungen des Bildungsund Teilhabepaketes zu gewähren. Wenn ich Sie jetzt
richtig verstanden habe, fordern Sie, dass der Bund den
Rechtsanspruch eröffnet und die Länder zur Finanzierung des Bildungs- und Teilhabepaketes für Kinder und
Jugendliche und junge Erwachsene verpflichtet, nach
dem Motto: Der Bund bestellt, die Länder bezahlen.
({4})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Frau HillerOhm. - Es ist in der Tat nicht unsachgerecht, was Sie
fordern; denn es entspricht insgesamt der Systematik des
Asylbewerberleistungsgesetzes, bei dem der Bund den
gesetzlichen Rahmen beschreibt, den die Länder dann
erfüllen und ausfüllen.
Ich möchte aber doch etwas zu bedenken geben:
Wenn wir uns klarmachen - darauf haben auch Sie verwiesen -, dass wir insgesamt vor der Aufgabe stehen,
das Asylbewerberleistungsgesetz zu reformieren, und
wenn wir uns klarmachen, dass es sich dabei um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt, dann ist es meines
Erachtens nur sachgemäß, wenn wir die Länder frühzeitig in die Beratungen einbeziehen. Deshalb ist es völlig
richtig, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Länder eingeladen hat, sich frühzeitig an dem
Prozess der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes
zu beteiligen.
({5})
Wir sind also gemeinsam in einem Prozess, das Asylbewerberleistungsgesetz zu überarbeiten. In diesem Prozess sollten wir auch die Frage beantworten, ob und inwieweit Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene
berechtigt sein sollen, Leistungen aus dem Bildungsund Teilhabepaket zu bekommen. Wenn wir uns aber daran erinnern, wie schwierig und langwierig sich die Verhandlungen um die Neufestsetzung der Hartz-IV-Regelsätze im Vermittlungsausschuss dargestellt haben, wie
schwierig es war, am Ende zu einem guten Kompromiss
zu kommen, finde ich es - wie gesagt - sinnvoll, wenn
wir uns die Zeit nehmen, frühzeitig gemeinsam mit den
Ländern eine Lösung zu erarbeiten.
({6})
Wir sollten auch beachten, dass in wenigen Wochen ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der
Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ansteht.
({7})
Meines Erachtens wäre es sinnvoll, auch diese richterliche Rechtsprechung in die Beratungen einzubeziehen.
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,
befinden wir uns in einem laufenden Prozess um das
Asylbewerberleistungsgesetz, in dem wir die Fragen insgesamt beantworten sollten. Sie selber haben zu Recht
darauf hingewiesen, dass die Länder, wenn sie möchten,
nach § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes den Kindern schon jetzt diese Leistungen gewähren können.
Einzelne Länder tun dies; auch das haben Sie zu Recht
bemerkt. Andere Länder tun es nicht, auch SPD-regierte
Länder. Da gibt es Gesprächsbedarf. Miteinander werden wir, glaube ich, zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Ich denke, diese Zeit sollten wir uns nehmen.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Diana Golze hat ihre Rede zu Proto-
koll1) gegeben.
Damit erteile ich Markus Kurth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kober, wenn ich Sie über die anstehenden und un-
1) Anlage 20
zweifelhaft notwendigen Änderungen beim Asylbewerberleistungsgesetz und speziell bei der Höhe der Regelsätze reden höre, bin ich schon sehr verwundert. Am
9. Februar 2010 ist das Verfassungsgerichtsurteil zu den
Arbeitslosengeld-II-Regelsätzen verkündet worden. Damit war klar, dass die wesentlich niedrigeren und seit
den 90er-Jahren nicht mehr erhöhten Sätze im Asylbewerberleistungsgesetz ebenfalls angepasst werden müssen. Sie verschleppen den Prozess mutwillig. Das ist die
Wahrheit. Dass Sie die Abstimmung mit den Ländern
suchen, trifft nicht zu.
({0})
Die Kollegin Hiller-Ohm hat darauf hingewiesen, dass
die Länder weitaus mehrheitlich - es sind 13 Bundesländer - zumindest diese kleinen Änderungen beim Bildungs- und Teilhabepaket wollen. Die Bundesregierung
hätte längst die Gelegenheit gehabt, zum Ende dieses Jahres nicht nur Eckpunkte, sondern einen Gesetzentwurf
mit der Neufestsetzung der Regelsätze vorzulegen.
Statt uns wieder in Retroschallplatten zu ergehen, wer
wann was hätte machen können, sollten wir uns noch
einmal sachlich vergegenwärtigen, worum es eigentlich
geht. Ich zitiere in diesem Zusammenhang die Sachverständige Professor Dr. Frings, die in einer Anhörung
zum Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Ausschuss
für Arbeit und Soziales ganz klar festgestellt hat, dass
alle Flüchtlingskinder, die regulär im Kindergarten oder
in der Schule eingebunden sind, bei einer Sonderbehandlung gegenüber anderen Kindern, was Bildungszugänge
und Schulbücher anbelangt, stigmatisiert und ausgegrenzt sind. Sie hat weiter ausgeführt, es sei ein Wertungswiderspruch, wenn es einerseits eine Schulpflicht
für diese Kinder und einen Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz gebe, ihnen aber andererseits Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket vorenthalten
würden.
({1})
Es ist auch vernünftig, ihnen die vollen Zugänge zu
Bildung zu ermöglichen, und zwar nicht erst dann, wenn
diese Kinder vier Jahre in Deutschland sind. Eine solche
Stigmatisierung und Ausgrenzung sind zudem teuer,
wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte dieser Kinder dauerhaft in unserem Land bleiben. Ich zitiere noch
einmal Frau Professor Frings:
Wenn wir sie in dieser Phase der ersten Jahre in dieser Weise ausgrenzen, dann zerstören wir die Möglichkeit, dass sie zu unserem Humankapital beitragen, und es ist auch volkswirtschaftlich sehr
bedauerlich, dass wir Hinderungsgründe setzen, die
erschweren, dass hier qualifizierte junge Menschen
heranwachsen können.
Darum geht es im Kern. Unter anderem aus diesem
Grunde wäre es geboten, diesen Kindern wenigstens die
Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zugutekommen zu lassen. Das wäre sogar aufgeklärter Eigennutz, wenn Sie schon das christliche Motiv der Nächstenliebe nicht interessiert.
({2})
Ich stelle aber abschließend fest, dass dies ein sehr
kleiner Schritt ist. Meine Fraktion ist der Ansicht, dass
es mit einer Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes
nicht getan ist. Dieses Gesetz hat seine Untauglichkeit
bewiesen. Wir meinen, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Menschenwürde auf alle in
Deutschland lebenden Menschen - dazu gehören auch
Flüchtlinge - ausgedehnt wird. Das Asylbewerberleistungsgesetz gehört aus diesem Grunde nicht reformiert,
sondern schlicht und ergreifend abgeschafft.
Vielen Dank.
({3})
Zum Schluss der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt erhält Kollege Peter Tauber für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD kritisiert in ihrem Antrag, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz einen Rechtsanspruch
auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben. Darüber kann man trefflich streiten. An dem Antrag
ist aber zu kritisieren, dass darin der Eindruck erweckt
wird, asylsuchende Kinder und Jugendliche würden in
Deutschland systematisch ausgegrenzt und benachteiligt.
({0})
Das ist definitiv nicht der Fall, wie auch die Praxis vor
Ort in den Kommunen zeigt.
Der vorliegende Antrag ist identisch mit einer Bundesratsinitiative vom September dieses Jahres. Wider
besseres Wissen behaupten Sie einiges, von dem ich
glaube, dass es klargestellt werden sollte.
Erstens. Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene können sehr wohl Leistungen aus dem Bildungsund Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das ist unstrittig. Vor Ort in den Kommunen werden die Leistungen
aus dem Bildungs- und Teilhabepaket sehr wohl auch
Kindern aus Asylbewerberfamilien gewährt.
Zweitens. Alle Beteiligten wissen auch, dass die Leistungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz Gegenstand
der laufenden Beratungen zwischen Bundesarbeitsministerium, Innenministerium und den Ländern sind. Ich bin
ganz sicher, dass der Staatssekretär, der auch heute der
Debatte folgt, aber auch die Kollegen hier diese Beratungen begleiten, und zwar im positiven Sinne und im Sinne
der betroffenen Kinder und Jugendlichen.
Drittens. Die Möglichkeit, den Kindern, Jugendlichen
und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug nach § 3
Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen nach dem
Bildungs- und Teilhabepaket zu gewähren, ist laut dem
Flüchtlingsrat in Berlin - das ist keine Gliederung der
CDU - bereits in 13 Bundesländern geregelt. Es gibt
zwar in einigen Bundesländern somit Nachholbedarf,
aber es gibt bereits eine Regelung in diesem Bereich.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben das Land Hessen
erwähnt. Sie hatten vielleicht nicht den aktuellen Sachstand. Ich kann aus einer Auskunft des hessischen Sozialministeriums vom 22. August dieses Jahres zitieren.
Das Sozialministerium schreibt dem Hessischen Städtetag: Aus hiesiger Sicht steht daher nichts im Wege, bei
entsprechenden Anträgen jugendlichen Grundleistungsempfängern nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zunächst auf Grundlage des § 6 Asylbewerberleistungsgesetz als sonstige Leistung zu gewähren. - Also, auch in
Hessen ist das gängige Praxis.
({1})
Vielleicht lesen Sie das einmal nach und bringen Ihre
Unterlagen auf den aktuellsten Stand.
({2})
Richtig ist auch, dass durch die Zuständigkeit für die
Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes es den
Kommunen freisteht, den Kindern und Jugendlichen
Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zukommen zu lassen. Sie dürfen dies eben nicht mit Bundesmitteln bezahlen, so wie generell die Kosten von den
Kommunen in diesem Bereich getragen werden müssen.
Wir haben bereits in der Ausschussdebatte darauf hingewiesen, was wir seit Beginn dieses Jahres alles auf den
Weg gebracht haben, um die Kommunen zu entlasten.
Ich glaube, dass eine grundsätzliche Regelung getroffen
werden muss, aber es muss nicht zwingend um eine Kostenübernahme des Bundes gehen. Darüber wird noch zu
sprechen sein.
Ich möchte es wiederholen: Grundsätzlich können die
Kinder und Jugendlichen die Leistungen des Bildungsund Teilhabepakets in Anspruch nehmen. Die Frage, warum Sie, die Sie sich für die Abschaffung dieses Gesetzes in toto so stark machen, das Gesetz nicht schon früher abgeschafft haben, müssen Sie sich stellen lassen.
({3})
- Sie haben es versucht, aber Sie haben es nicht geschafft.
({4})
Wir geben jetzt Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, am Bildungspaket teilzuhaben.
Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion Die Linke geantwortet:
Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3
AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungen
für Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfung
der Bemessung der Leistungssätze. Diese Prüfung
ist noch nicht abgeschlossen.
Das wurde in der Debatte schon mehrfach erwähnt.
Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole - der
Erfolg der Pädagogik liegt manchmal in der Wiederholung -: Es ist jetzt schon möglich und in 13 Ländern,
nicht nur in SPD-regierten Bundesländern, gelebte Praxis, dass Kinder, die nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt sind, diese Leistungen in Anspruch nehmen können und gewährt bekommen.
Wir haben uns des Themas angenommen. Sie wissen,
dass die Bundesländer, das Innenministerium und das
Arbeits- und Sozialministerium den Sachverhalt zum
Wohle der Kinder und Jugendlichen prüfen. Wir sollten
den Ergebnissen nicht vorgreifen. Ich bin mir sicher,
dass die Länder und Kommunen schon jetzt ihrer Verantwortung in diesem Bereich im Sinne der Kinder und Jugendlichen gerecht werden. Darauf kommt es an.
Langer Rede kurzer Sinn: Wir haben das Thema auf
der Tagesordnung. Die Gespräche laufen. Ihr Antrag ist
entbehrlich und daher von uns abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Ausgrenzung stoppen Alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im
Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes in
das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7278, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/6455 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai
2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels
- Drucksachen 17/7316, 17/7368 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Elisabeth Winkelmeier-Becker, Norbert Geis, Dr. Eva
Högl, Sibylle Laurischk, Andrej Hunko und Memet
Kilic.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/7316 und 17/7368 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Missbrauch von Werkverträgen verhindern Lohndumping eindämmen
- Drucksache 17/7220 ({1}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Einige Kollegen geben ihre Reden zu Protokoll. Es
handelt sich um die Kollegen Gitta Connemann, Ulrich
Lange und Pascal Kober.2)
Damit erteile ich zunächst Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor circa einem Dreivierteljahr kam ein Kol-
lege zu mir mit der Bitte, seinen Arbeitsvertrag zu über-
prüfen. Der Kollege war Leiharbeitnehmer bei der Firma
Adecco in meiner Region, und sein Vorgesetzter hatte
ihm einen neuen Arbeitsvertrag gegeben, jetzt von der
Firma Adecco Outsourcing GmbH. Der Vorgesetzte
hatte das mit der Aussage gemacht, es sei alles gleich ge-
blieben - Lohnhöhe, Urlaub -, nur der Firmenname habe
sich geändert.
Dem Kollegen war klar, dass er, bevor er unter-
schreibt, sein Recht in Anspruch nimmt, den Arbeitsver-
trag von seiner Gewerkschaft überprüfen zu lassen, und
das hat er klugerweise gemacht. Der neue Arbeitsvertrag
war jedoch ein tiefer Einschnitt in seine bisherigen
Lohnleistungen und Rechte. Mit der Unterschrift wäre
mein Kollege kein Leiharbeitnehmer mehr gewesen,
sondern Werkvertragsarbeitnehmer. Die - wenn auch
schlechten - Tarifverträge gelten für Leiharbeitnehmer,
nicht für Werkvertragsarbeitnehmer. Die Möglichkeit,
den Betriebsrat im Entleihbetrieb in Anspruch zu neh-
men, gilt nicht für Werkvertragsarbeitnehmer. Das
Recht, den Betriebsrat im Entleihbetrieb mit zu wählen,
1) Anlage 23
2) Anlage 22
gilt nicht für Werkvertragsbeschäftigte. Wenn vor einem
Dreivierteljahr „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ im
Gesetz vereinbart worden wäre, hätte es nicht für Werkvertragsbeschäftigte gegolten. Sie sind ja keine Leiharbeitnehmer.
Die ganze Zeit wird darüber gesprochen, dass die
Zahl der Leiharbeitnehmer über 1 Million ansteigen soll.
Vielleicht haben sich alle schon einmal gefragt: Wieso
ist sie noch nicht über 1 Million gestiegen? Ich habe eine
aktuelle Zahl gelesen. Im August 2011 waren es
909 000 Leiharbeitnehmer, nicht mehr. Ich behaupte,
ganz viele von denen sind nun in anderen Arbeitsverhältnissen, in Outsourcing GmbHs, die mittlerweile jede
Verleiharbeitsfirma hat. Sie sehen, was da passiert ist,
wenn Sie einmal ins Internet schauen.
Woher kommen Werkverträge? Historisch gesehen
sind sie kein Problem. Jeder Handwerker arbeitet, indem
er völlig selbstständig eine genau definierte Arbeit verrichtet, ohne dass der Arbeitgeber ihm bei der Erfüllung
seiner Aufgabe hineinredet. Beispiele sind die Reparatur
eines Autos durch einen Kfz-Mechaniker oder der Einbau einer Steckdose durch einen Elektriker. Bis hier gibt
es keine Probleme, und daran gibt es auch nichts zu kritisieren. Ein Problem ist es dann, wenn Werkverträge als
verdeckte Leiharbeit, sprich Scheinwerkverträge, oder
Outsourcing ganzer Abteilungen mit dem Ziel der Kosteneinsparung genutzt werden. Ergebnis ist eine Aufspaltung und Entsolidarisierung ganzer Belegschaften
und Betriebe.
Ähnlich wie bei der Leiharbeit verdienen Werkvertragsbeschäftigte 30 bis 50 Prozent weniger als die
Stammbelegschaft,
({0})
und das noch ohne kollektiven Schutz und ohne kollektive Rechte. Für die Linke ist klar: Wer unsichere Beschäftigung bekämpfen will, muss auch eine Antwort
auf den zunehmenden Missbrauch von Werkvertragsbeschäftigung haben.
({1})
Wir haben in unserem Antrag klar dargelegt, welche
Maßnahmen der Gesetzgeber hierfür ergreifen muss.
Dazu gehört zwingend, ein Gesetz vorzulegen, welches
das Vorliegen eines Scheinwerkvertrages definiert. Stimmen der Arbeitsvertrag und das dann realisierte Arbeitsverhältnis nicht überein, müssen den Beschäftigten gesetzlich die Anrechte auf die im Betrieb üblichen
Entgelte zugesprochen werden. Gleiches Geld für gleiche Arbeit auch für diese Werkvertragsbeschäftigten!
Außerdem will die Linke den Betriebsräten ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei der Vergabe von Aufgaben an Fremdfirmen geben. Dafür muss das Betriebsverfassungsgesetz geändert werden. Diese Regierung hat
bis jetzt immer versagt, wenn es darum ging, die Beschäftigten vor Lohndumping zu schützen. Das Gesetz
von Frau von der Leyen in Sachen Leiharbeit war eine
Nullnummer und hat nichts gebracht - außer der Festschreibung der Lohnungleichheit in Ost und West.
Es wird Zeit, dass in diesem Haus endlich etwas unternommen wird, um dem unsäglichen Lohndumping
mancher Unternehmen etwas entgegenzusetzen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Debatte.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sprechen hier häufig darüber, wie Arbeit
in unserem Land entlohnt wird. Wir verfallen dabei
meistens in die gleichen Denkmuster: Die linke Seite des
Hauses klagt Lohndumping an. Die rechte Seite des
Hauses betont, dass es bei den Arbeitgebern vielleicht
einzelne schwarze Schafe gebe, die ihre Mitarbeiter
schlecht bezahlten, dass es aber Sache der Tarifpartner
sei, für faire Löhne zu sorgen.
Sosehr wir auch über dieses Thema streiten müssen,
sollten wir dabei die Frage nicht vergessen: Wie viel ist
uns Arbeit eigentlich wert? Bei den Unternehmen und in
der ganzen Gesellschaft ist der Werbeslogan „Geiz ist
geil“ zu einem Lebensmotto geworden. Überall wird daran gewerkelt, wie man für möglichst wenig Geld möglichst viel Leistung erhält. In den Einkaufs- und Personalabteilungen wird nicht mehr die Frage gestellt, wie
viel uns die Arbeit wert ist, sondern es wird gefragt: Wer
erledigt die Arbeit am billigsten für uns?
Das mag bis zu einem gewissen Grad eine betriebswirtschaftliche Logik haben. Aber das, was derzeit in
unserer Republik passiert, hat keine betriebswirtschaftliche Logik mehr, sondern ist eine Zerstörung unserer
volkswirtschaftlichen Grundlage.
({0})
Die Unternehmen geben den Wettbewerbsdruck immer
stärker an die Beschäftigten weiter. Daher ertönt vielerorts der Ruf nach Leiharbeit und Werkverträgen. Damit
werden keine eigenen Mitarbeiter mehr im Unternehmen
beschäftigt, sondern das Risiko wird auf den Subunternehmer verlagert, der mit seinen Mitarbeitern bei
schlechter Auftragslage von jetzt auf gleich abgeschoben
werden kann. Der Druck, der auf dem Subunternehmer
lastet, wird potenziert auf die Arbeitnehmer übertragen.
So entstehen massenhaft sogenannte Randbelegschaften. Die Stammbelegschaften in den Unternehmen werden immer kleiner. Leiharbeit, Fremdfirmen und
Outsourcing bestimmen das Personal der Unternehmen.
Das führt zu einer Entsolidarisierung im Betrieb. Ich
wage es gar, von einem Vierkastensystem zu sprechen.
Die erste Kaste sind die oft reichlich bezahlten Führungskräfte. An zweiter Stelle steht die Stammbelegschaft, unbefristet und einigermaßen anständig entlohnt.
Die dritte Kaste sind die befristet Beschäftigten, die mit
großer Unsicherheit leben müssen. Ganz unten, in der
vierten Kaste, finden wir Leiharbeiter und Werkverträge,
um die sich das Stammunternehmen einen feuchten Kehricht schert.
Die Betriebsräte erhalten dabei immer weniger Einfluss. In den Unternehmen wird diese Personalpolitik zunehmend in der Einkaufsabteilung betrieben. Denn die
Arbeitnehmer werden, wie sonst Büromaterial oder Maschinen, eingekauft und nicht mehr angestellt. Das zeigt,
dass die Arbeitskraft nur noch als betriebswirtschaftlicher Faktor gesehen wird. Die Arbeit ist zur Ware geworden. Es geht nicht mehr darum, einen Menschen mit
seinen Fähigkeiten und seinem Know-how anzustellen.
Hier ist die Frage, was die Arbeit wert ist, vollkommen
ins Hintertreffen geraten.
Die Folgen dieser Personalpolitik sind verheerend.
Die Arbeitnehmer müssen mit immer weniger Lohn auskommen und zu immer schlechteren Bedingungen arbeiten. Die Betriebsräte müssen damit kämpfen, dass die
Tarifverträge durch externe Arbeit, durch Leiharbeit und
Werkverträge immer weiter unterwandert werden.
({1})
Zudem wird Mitbestimmung immer schwieriger. Bei
Werkverträgen beispielsweise können die Betriebsräte
gar nicht mitreden.
Aber auch für die Unternehmen - das möchte ich besonders betonen - entstehen zahlreiche langfristige
Nachteile. Die Arbeitnehmer identifizieren sich nicht
mehr mit ihrem Unternehmen. Wenn die Arbeitnehmer
wissen, dass sie in ihrem Unternehmen keine Beschäftigungsperspektive haben, werden die Arbeitsergebnisse
schlechter, und dann sinkt die Produktivität. Auch die
Innovationsfähigkeit sinkt; denn Ideen der Arbeitnehmer
zur Verbesserung werden nicht mehr aufgenommen.
Zudem besteht auch ein Problem der Steuerung. Wie
kann ein Unternehmen eine Belegschaft einlernen, die
dauernd wechselt? Wie können hier Prozesse angestoßen
werden? Eingespielte Arbeitsabläufe werden durch häufigen Personalwechsel gestört. Auch das Image des Unternehmens leidet, zum Beispiel bei der Fachkräftesicherung. Wer will denn schon bei einem Unternehmen
anfangen, das für schlechte Arbeitsbedingungen bekannt
ist?
Leiharbeit und Werkverträge sind zudem nur für die
Einkaufsabteilung so billig. Versteckte Kosten wie Einarbeitungszeit oder Qualitätsmängel in der Produktion
werden hier nicht mitberechnet. Das zeigt: Die Personalpolitik, die in den Einkaufsabteilungen der Unternehmen
gemacht wird, ist nicht zukunftsfähig.
({2})
Der kurzfristige Profit nach betriebswirtschaftlicher
Logik zerstört den langfristigen Erfolg unserer ganzen
Volkswirtschaft. Das so hoch gelobte Modell der Tarifparteien wird durch die Entsolidarisierung im Betrieb
ausgehöhlt. Immer mehr Menschen, die durch diese Personalpolitik schlechte Löhne erhalten, müssen aufstocken und brauchen staatliche Leistungen. Das belastet
unseren Staatshaushalt und ist keine sinnvolle Sozialpolitik. Langfristig leidet unsere ganze Wirtschaft: Die
Kaufkraft nimmt ab, die Qualität der Produkte sinkt, das
Know-how unserer Arbeitnehmer verschwindet.
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, diese
Analyse kennen auch Sie. Es ist geradezu absurd, wenn
Ihre Ministerin von der Leyen immer wieder betont, ihr
sei kaum Missbrauch in der Leiharbeit und bei den
Werksverträgen bekannt. Ich kann Ihnen erklären, woran
das liegt: Wer die Unternehmen nicht ausreichend kontrolliert, findet auch keine Verstöße.
({3})
Das ist wie im Straßenverkehr: Wenn die Polizei keinen
Blitzer aufstellt, weiß man nicht, wie viele Leute zu
schnell um die Kurve fahren. Nach der Logik von Frau
von der Leyen hieße dies aber, dass auch niemand zu
schnell fährt. Man hat ja keine Beweise. Hier müssen wir
dringend in eine andere Richtung steuern.
({4})
Es ist bezeichnend, dass der Konzern, der früher mit
„Geiz ist geil“ geworben hat, heute damit wirbt, den
„ersten Preis ohne den Preis-Irrsinn“ zu haben. In diesem Sinne müssen wir auch in der Politik umsteuern.
Wir brauchen wieder Löhne ohne diesen Niedriglohnirrsinn. Wir brauchen reguläre und faire Beschäftigung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Durch den sogenannten SchleckerSkandal wurden die Methoden des Lohndumpings in der
Leiharbeit bekannt. Selbst die Bundesregierung musste
dieses Jahr in dieser Sache endlich tätig werden. Doch
die Lohndrückerei in Deutschland geht weiter.
Schon die minimalen Regulierungen bei der Leiharbeit schrecken manche Unternehmen ab. Da verlegt
man sich lieber auf Werkverträge; denn diese bergen alle
unternehmerischen Vorteile und noch mehr. Bei Werkverträgen gibt es nämlich keinen Mindestlohn, und häufig fehlen Tarifverträge. Außerdem existiert keine
Equal-Pay-Regelung. Werkverträge sind also ein weiteres Instrument für Lohndumping. Wir werden weiter für
die Rechte der Beschäftigten streiten müssen.
Im Bremer Einzelhandel beispielsweise beträgt der
Einstiegsstundenlohn nach dem Tarifvertrag von ver.di
10,20 Euro; Leiharbeitskräfte verdienen nach Mindestlohn wenigstens noch 7,79 Euro. Doch inzwischen räu15766
men Werkverträgler die Regale von Rossmann, Real
oder REWE ein; genauso wie zuvor festangestellte Beschäftigte. Und anstatt 10,20 Euro oder wenigstens
7,79 Euro verdienen sie nur noch 6,50 Euro die Stunde.
Das kann nicht angehen. So etwas ist für uns nicht akzeptabel.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, es kann mir niemand weismachen, dass das Einräumen von Regalen ein Werk ist: selbstständig und in
Eigenregie, ohne Weisung vom Chef der Filiale. Es kann
mir auch niemand weismachen, dass die Werkvertragsbeschäftigten nicht in den normalen Betrieb der Filiale
eingebunden sind. All dies sind Kriterien, die einen
Werkvertrag ausmachen. Wenn diese Kriterien aber
nicht vorliegen, dann liegt auch kein Werkvertrag vor.
Dann handelt es sich um klassische Leiharbeit, und die
muss wenigstens auch wie Leiharbeit bezahlt werden.
Alles andere ist zutiefst ungerecht.
({1})
Ein Beleg, dass es sich häufig um Scheinwerkverträge
handelt, zeigt auch die Nähe zur Leiharbeitsbranche; das
wurde vorhin schon ausgeführt. So bietet beispielsweise
„Randstad Outsourcing“ Dienst- und Werkverträge für
unbefristete Aufgaben an und bewirbt die Leistung im
Internet folgendermaßen - ich zitiere -:
Mit Randstad setzen Sie auf: Wahrung der Wettbewerbs-, Wachstums- und Ertragschancen, höhere
Unternehmenserträge durch Umwandlung von Personalkosten in planbare Sachkosten …
So wird auch für die Leiharbeit geworben - mit
„Sachkosten“ sind Menschen gemeint. Für mich ist das
alles ziemlich unerträglich.
({2})
Wie kann es angehen, dass sich in unserem Land immer mehr Lohndumping breitmacht und wir inzwischen
schon Spitzenreiter in der EU sind? Ich frage mich: Wo
bleibt da die soziale Verantwortung in der Arbeitswelt?
Wohin treibt unsere Gesellschaft, wenn die Wirtschaft
jede kleinste Möglichkeit ausnutzt, um prekäre Beschäftigung auszubauen?
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Nein?
Nein, das wäre jetzt auch relativ komisch, weil der
Herr Kober ja selber hätte reden können. Dann hätte er ja
etwas dazu sagen können.
({0})
Die Bundesregierung interessiert das Thema aber nicht,
sie sieht keinen Handlungsbedarf.
({1})
Ich habe gerade schon angesprochen, dass kein Handlungsbedarf gesehen wird. Die Regierungsfraktionen sitzen hier. Sie haben die Reden zu Protokoll abgegeben;
das heißt, hier wird in keinerlei Weise etwas ernst genommen. Man hätte ja wenigstens zu dem Thema reden
können.
({2})
- Sie hätten sich noch die zehn Minuten Zeit nehmen
können, um etwas hierzu zu sagen. Das sehe ich schon
so.
({3})
Auf jeden Fall nehmen wir das Thema ernst. Wie die
Linken wollen auch wir diese weitere Krankheit des
deutschen Arbeitsmarkts angehen. Allerdings greift uns
die Linke zu sehr in die unternehmerische Freiheit ein.
Uns geht es in erster Linie um eine klare und deutliche
Abgrenzung zwischen Werkverträgen und Leiharbeit.
Wir Grünen diskutieren zurzeit einen Weg, wie diese
Leiharbeit unter dem Deckmantel von Werkverträgen
enttarnt werden kann und vor allem, welche Kontrollen
notwendig sind, um diesen Missbrauch zu stoppen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie dürfen sich also
darauf freuen, demnächst in diesem Hause auch unseren
Antrag zu diskutieren.
Vielen Dank.
({4})
Werte Kolleginnen, wir sollten es nicht einführen, uns
wechselseitig vorzuwerfen, wenn jemand eine Rede zu
Protokoll gegeben hat. Das sind immer Gentlemen’s
Agreements, die wir da eingehen. Daraus sollten wir keinen Vorwurf entwickeln.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7220 ({1}) an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes
- Drucksachen 17/7317, 17/7369 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Alois
Gerig, Gustav Herzog, Christel Happach-Kasan,
Alexander Süßmair und Harald Ebner.
2009 wurde in der Europäischen Union nach schwierigen Verhandlungen zwischen Parlament, Rat und
Kommission das EU-Pflanzenschutzpaket beschlossen.
Mit dem Paket werden für Pflanzenschutzmittel strenge
und einheitliche Standards beim Verbraucher-, Anwender- und Umweltschutz europaweit festgelegt.
Das Pflanzenschutzpaket ist ein wichtiger Schritt, um
auf dem europäischen Markt für Pflanzenschutzmittel
die dringend notwendige Harmonisierung voranzubringen. Wir in Deutschland sollten bei der Umsetzung des
Pakets unseren Beitrag dazu leisten, dass diese Zielsetzung erreicht wird.
Die Bundesregierung hat zur Umsetzung des EUPflanzenschutzpakets den Entwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes vorgelegt. Der
Gesetzentwurf setzt die richtigen Schwerpunkte:
Bei Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln haben auch in Zukunft der Schutz von Menschen,
Tieren und Umwelt absolute Priorität.
Pflanzenschutzmittel sollen dazu beitragen, eine
nachhaltige und wettbewerbsfähige Landwirtschaft in
Deutschland zu erhalten.
Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln werden in Deutschland so geregelt, dass sie im Einklang mit den europäischen Vorgaben stehen.
Wichtig ist die Botschaft an die Verbraucher, dass weder mit dem EU-Pflanzenschutzpaket noch mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung das Schutzniveau abgesenkt wird. Es ist vielmehr so, dass sich das EUPflanzenschutzpaket am hohen deutschen Schutzniveau
orientiert. So müssen künftig in allen Mitgliedstaaten
die Anwender von Pflanzenschutzmitteln ihre Sachkunde
nachweisen und ihre Pflanzenschutzgeräte überprüfen
lassen - dies ist in Deutschland bereits vorgeschrieben.
Ein weiteres Beispiel ist der integrierte Pflanzenschutz, der ab 2014 in der gesamten EU anzuwenden ist.
Integrierter Pflanzenschutz bedeutet, dass im Pflanzenschutz biologische, pflanzenzüchterische und anbautechnische Verfahren Vorrang vor chemischen Mitteln haben.
In Deutschland ist dieser Grundsatz bereits gesetzlich
festgeschrieben mit dem Ziel, die Pflanzenschutzmittelanwendung auf das notwendige Maß zu beschränken.
Neben der Einführung des integrierten Pflanzenschutzes
werden alle EU-Mitgliedstaaten darüber hinaus verpflichtet, im Rahmen sogenannter Nationaler Aktionspläne daran zu arbeiten, die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln zu verbessern und Risiken zu minimieren.
An diesen Vorgaben des EU-Pflanzenschutzpakets
wird ersichtlich, dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln nicht leichtfertig erfolgen soll. Im Rahmen der
bestehenden und künftigen Schutzbestimmungen für Verbraucher, Anwender und Umwelt bleibt die Anwendung
von Pflanzenschutzmitteln aber absolut notwendig. Mithilfe von Pflanzenschutzmitteln können sich Landwirte
gegen Schädlinge und Krankheiten zur Wehr setzen, die
die Erträge in ihren Anbaukulturen empfindlich mindern
können.
Pflanzenschutzmittel tragen wesentlich zu hohen Erträgen und damit zu einer guten Versorgung mit bezahlbaren Lebensmitteln bei. Nirgendwo auf der Welt werden Lebensmittel so intensiv auf Rückstände von
Pflanzenschutzmitteln geprüft wie in Deutschland. Die
Überschreitung der Rückstandshöchstgehalte ist seit
Jahren rückläufig und war 2009 nur bei 1,6 Prozent der
in Deutschland erzeugten Lebensmittel zu beanstanden.
Dies zeigt zweierlei:
Der Verbraucher kann sich auf sichere Lebensmittel
aus deutschem Anbau verlassen.
Die Landwirte in Deutschland setzen Pflanzenschutzmittel verantwortungsvoll ein.
Um wettbewerbsfähig produzieren zu können, ist es
für deutsche Landwirte mitunter äußerst wichtig, durch
Anwendung von Pflanzenschutzmitteln die Erträge zu
steigern. Es ist für die deutschen Landwirte ein klarer
Wettbewerbsnachteil, wenn Konkurrenten in anderen
EU-Staaten Pflanzenschutzmittel zur Verfügung stehen,
die in Deutschland nicht zugelassen sind. Bei vielen
deutschen Landwirten stößt auf Unverständnis, dass Lebensmittel, die mithilfe bei uns nicht zugelassener Pflanzenschutzmittel in anderen EU-Staaten erzeugt werden,
im Handel den Verbrauchern angeboten werden. Im Gesetzgebungsverfahren sollten wir prüfen, wie wir bestehende Wettbewerbsnachteile durch das Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechts beseitigen können.
Eine Schlüsselrolle kommt dem Zulassungsverfahren
für Pflanzenschutzmittel zu. Das EU-Pflanzenschutzpaket sieht als Neuerung vor, das Zulassungsverfahren um
3 Monate auf 12 Monate zu verkürzen. Neu ist auch,
dass die EU in drei Zonen aufgeteilt wird: Ist ein Pflanzenschutzmittel in einem Mitgliedstaat zugelassen, kann
die Zulassung dieses Mittels in Mitgliedstaaten, die der
gleichen Zone angehören, innerhalb von 120 Tagen erfolgen. Die Zulassungsbehörden können auf Prüfungsergebnisse anderer Mitgliedstaaten zurückgreifen, um
zu beurteilen, ob die beantragte Zulassung erteilt werden kann.
Die Zulassung kann nicht ohne Weiteres versagt werden, wenn das Mittel bereits in einem anderen Mitgliedsland der gleichen Zone zugelassen wurde. Die EU-Mitgliedstaaten einer Zone sind grundsätzlich verpflichtet,
ihre Zulassungen gegenseitig anzuerkennen. Die gegenseitige Anerkennung stellt einen bedeutenden Beitrag
zur Harmonisierung des europäischen Marktes für
Pflanzenschutzmittel dar. Im Ergebnis ist zu erwarten,
dass sich die Verfügbarkeit von Pflanzenschutzmitteln
deutlich verbessert. Damit dieser positive Effekt auch in
Deutschland eintritt, ist es erforderlich, dass die deutschen Zulassungsbehörden mit dem vereinfachten Verfahren der zonalen Zulassung und mit den kürzeren Zulassungsfristen zurechtkommen. Derzeit dauern die
Zulassungsverfahren wesentlich länger.
Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht vor, dass neben
dem federführenden Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit, BVL, auch weiterhin das
Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, das JuliusKühn-Institut, JKI, und das Umweltbundesamt, UBA,
am Zulassungsverfahren beteiligt sind. Wir müssen in
den Gesetzesberatungen der Frage nachgehen, wie die
Zulassungsverfahren mit vier beteiligten Behörden effektiv durchgeführt werden können. Insbesondere mit
Blick auf die gegenseitige Anerkennung der Zulassung
erscheint es mir zweckmäßig, im Zulassungsverfahren
die Anwendung der von der EU-Kommission entwickelten Leitlinien vorzuschreiben. Die gegenseitige Anerkennung wird erleichtert, wenn alle Zulassungsbehörden in der EU einheitliche Bewertungsmaßstäbe
verwenden.
Eine effektive Zusammenarbeit von BVL, BfR, JKI
und UBA ist nicht nur im Zulassungsverfahren gefragt.
Auch in allen anderen Fällen, in denen das Pflanzenschutzgesetz eine Zusammenarbeit vorschreibt, müssen
praktikable und ergebnisorientierte Verfahren gewährleistet sein. Dies gilt beispielsweise für die Ausbringung
von Pflanzenschutzmitteln mit Luftfahrzeugen und die
Festlegung von Anwendungsbestimmungen in Sondergebieten.
Wie die Zulassungsverfahren durchgeführt werden, ist
besonders für die Hersteller von Pflanzenschutzmitteln
von Interesse. Nicht nur für den Anwender, sondern auch
für den Hersteller ist wichtig, dass neue Pflanzenschutzmittel schnell auf den Markt gelangen. Nur so können die
hohen Forschungs- und Entwicklungskosten wieder eingespielt werden. Neue Pflanzenschutzmittel haben häufig
einen größeren Nutzen für den Anwender und im Hinblick auf den Verbraucher- und Umweltschutz bessere
Eigenschaften. Da die Sicherung der Welternährung in
den kommenden Jahrzehnten eine große Herausforderung sein wird, kann auf innovative Pflanzenschutzmittel, die eine Steigerung der Agrarproduktion ermöglichen, nicht verzichtet werden.
Wir tun also gut daran, die Rahmenbedingungen so
zu setzen, dass die Innovationsfähigkeit der Branche erhalten bleibt. Deutsche Pflanzenschutzmittelhersteller
nehmen eine führende Rolle auf dem Weltmarkt ein und
tragen dazu bei, Arbeitsplätze hierzulande zu sichern.
Effektive Zulassungsverfahren sind notwendig, damit
Deutschland ein zukunftsfähiger Standort für Forschung, Entwicklung und Herstellung von Pflanzenschutzmitteln bleibt.
Bei der Neuordnung des Pflanzenschutzrechts sind
neben verbraucher- und agrarpolitischen Aspekten auch
industriepolitische zu beachten. Im Gesetzgebungsverfahren werden wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung prüfen. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird zu diesem Zweck
eine Sachverständigenanhörung durchführen. Die Zielsetzung der CDU/CSU ist klar: Wir wollen auf der
Grundlage hoher Standards im Verbraucher- und Umweltschutz eine sichere Anwendung und eine effektive
Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ermöglichen.
Wir beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf
mit dem doch recht technisch anmutenden Titel „Gesetz
zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes“. Was da in
der Drucksache 17/7317 auf 164 Seiten so ordnungspolitisch daherkommt hat weitreichende Auswirkungen bis
in unser aller Alltag. Denn Pflanzenschutz geht uns alle
an. Er ist ein wichtiger Produktionsfaktor bei der Erzeugung unserer Nahrungsmittel, er sichert die Ernten auf
hohem Niveau und beeinflusst die Qualität der Erntegüter. Und spätestens hier scheiden sich die Geister: Die
einen denken an Mycotoxine in Getreide und meinen damit mehr chemischen Pflanzenschutz auf deutschen
Äckern, und die anderen denken an Chemiecocktails auf
Paprika und meinen damit weg mit den Agrargiften aus
der Landwirtschaft.
In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns, und es ist
an uns, den Grat zu bestimmen, auf dem wir uns bewegen. Wir müssen so viel Pflanzenschutz zulassen, wie es
notwendig ist, dabei aus den „Sünden der Vergangenheit“ lernen und die mit dem Pflanzenschutz verbundenen
Risiken minimieren. Die Probleme der Vergangenheit und
auch der Gegenwart, die wir mit Pflanzenschutzmitteln
haben, sind nicht zu unterschätzen, um nicht zu sagen:
oftmals auch gravierend. Hier geht es um Anwender, die
sich den Mitteln aussetzen müssen, es geht um Rückstände in Lebensmitteln, die wir tagtäglich zu uns nehmen, und es geht um unseren Naturhaushalt, der als
Nichtzielorganismus in vielgestaltiger Form mitunter
schwer leidet. Es geht aber auch um unsere ausreichende
Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln, die derzeit
nicht ohne den chemisch-synthetischen Pflanzenschutz
auskommt.
Der Pflanzenschutz muss sich weiterentwickeln. Die
Mittel sind in ihren Risiken weiter zu reduzieren. Die
Unternehmen, die Pflanzenschutzmittel entwickeln, tragen eine hohe Verantwortung dafür, was ihre Mittel hier
und in der Welt bewirken, sowohl positiv wie auch negativ. Wir geben ihnen mit dieser Novelle den Rahmen vor,
in dem sie sich rechtssicher bewegen dürfen.
Deutschland gehört zu den Ländern, die ganz weit
vorne sind bei der Entwicklung und Anwendung neuer
Pflanzenschutzmittel. Unser Zulassungsverfahren war
Zu Protokoll gegebene Reden
und ist eines der strengsten - aber auch eines der sichersten. Und ich hätte gerne, dass es auch noch das
schnellste wäre. Unser Pflanzenschutzrecht wurde oftmals als Blaupause für europäisches Recht genutzt. Dieser Vorbildcharakter wurde in der Vergangenheit häufig
als Wettbewerbsnachteil heftig kritisiert, sowohl von der
Landwirtschaft als auch von der Agrarindustrie. Jetzt
macht er sich bezahlt, denn die Umsetzung europäischer
Vorgaben in nationales Recht ist nicht so tief greifend,
wie es in anderen Mitgliedstaaten Europas der Fall sein
dürfte. Unsere vermeintlichen Wettbewerbsnachteile
kehren sich jetzt in Vorteile um. All dies hat nicht nur die
Wettbewerbsfähigkeit verbessert, sondern auch einen
Beitrag zu der Lebensqualität in unserem Land geleistet.
Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln waren stets Gegenstand heftiger gesellschaftlicher
und politischer Auseinandersetzungen. Ich erinnere an
Stichworte wie „Gifttomate“, „Bienensterben“ oder die
„Schlapphutaffäre“, die eine Kontrolle der Landwirtschaft durch das Umweltbundesamt als Spitzelei diffamiert hat.
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt das europäische
Regelwerk, das bei seiner Verabschiedung seinerzeit
Schauplatz dieser Auseinandersetzungen war, folgerichtig um. Das begrüßen wir zwar im Grundsatz, müssen
aber doch die erhebliche Zeitverzögerung anmahnen,
die die Bundesregierung mit ihrer offensichtlich schwierigen Abstimmung verursacht hat. Diese Verzögerung
geht auf das Konto der Bundesregierung, und wir werden nicht zulassen, dass sie den Druck nun auf uns abwälzt. Das Parlament muss sich die Zeit nehmen, die es
braucht, um dieses umfassende Regelwerk zu beraten.
Es liegen umfangreiche Stellungnahmen und zahlreiche
Vorschläge vor. Allein der Bundesrat hat 57 Änderungsvorschläge beschlossen. Berufs- und Umweltschutzverbände mahnen viele Punkte an, wie auch die Hersteller,
Handel und Ämter. Das müssen wir uns in Ruhe anschauen und die Anhörung der Sachverständigen auswerten, um dem Gesetz den notwendigen Feinschliff zu
geben. Hierzu müssen wir uns unter anderem das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung im Detail anschauen, die Regelung der Pflanzenstärkungsmittel oder
die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Eindämmung illegaler Pflanzenschutzmittel. Der Einsatz Letzterer nimmt
ein ernst zu nehmendes Ausmaß an, das all unsere Bemühungen um einen sicheren Umgang mit Pflanzenschutzmitteln zunichtemacht. Ungeprüfte Formulierungen und
gefälschte Wirkstoffe gefährden all unsere Schutzgüter.
Landwirte sollten aus Eigeninteresse auf fragwürdige
Produkte verzichten.
Neben dem Gesetz haben wir aber auch den Prozess
des in § 4 geforderten Nationalen Aktionsplans, NAP,
fest im Blick. Es stimmt schon nachdenklich, wenn die
einen behaupten, alles sei ein guter und transparenter
Diskurs, während zahlreiche andere ihren Ausstieg androhen. Das müssen wir klären, denn der NAP ist als wesentliches Element zur Minimierung der Risiken durch
Pflanzenschutzmittel viel zu wichtig, als dass man ihn in
einer Randnotiz abhakt. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie in den Jahren der Arbeit mehr produziert als viel Papier und Reisekostenabrechnungen der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Wir brauchen eine
Agenda, die auch zu einer tatsächlichen Reduzierung
des Einsatzes gefährlicher Chemikalien führt. Wir brauchen eine Ökologisierung der Landwirtschaft in der
Breite, und wir brauchen eine Stärkung des ökologischen Landbaus, der nicht nur in Sachen Pflanzenschutz
Vorbildcharakter hat.
Ich freue mich auf die parlamentarische Beratung.
Wir haben einen gemeinsamen EU-Binnenmarkt, die
Landwirtschaft ist maßgeblich von europaweit einheitlichen Bestimmungen geprägt. Um für die Betriebe gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, war es überfällig, die Zulassungsregeln für Pflanzenschutzmittel
EU-weit zu harmonisieren. Es ist für keinen Betrieb einsichtig, wenn Pflanzenschutzmittel westlich des Rheins
erlaubt sind, die östlich davon verboten sind, die Produkte jedoch auf demselben Markt miteinander konkurrieren. Auf europäischer Ebene wurden neue Bestimmungen zur Zulassung und Anwendung von
Pflanzenschutzmitteln bereits im Jahr 2009 endgültig
beschlossen. Sie sind seit Juni dieses Jahres in Kraft. Es
gilt nun, die neuen Anforderungen so direkt und praktikabel wie irgend möglich in deutsches Recht umzusetzen.
Pflanzenschutzmittel sind für eine gute Produktqualität wie auch für sichere Ernteerträge unabdingbar. Niemand mag Salat mit Blattläusen oder verpilzte Erdbeeren essen. Die landwirtschaftliche Produktion wie auch
der Garten- und Gemüsebau können auf die Anwendung
von Pflanzenschutzmitteln nicht verzichten. Das Lebensmittelmonitoring zeigt in jedem Jahr, dass unsere Landwirte Pflanzenschutzmittel sehr verantwortungsvoll anwenden und die Bestimmungen sorgfältig beachten.
Auch bei hoher Qualität der zugelassenen neuen Pflanzenschutzmittel bleibt es ein wichtiges Ziel, deren Einsatz auf das unabdingbar notwendige Maß zu beschränken.
Das neue EU-Pflanzenschutzpaket sieht unter anderem eine Einteilung der EU in drei Zulassungszonen von
Nord nach Süd vor. Neue Pflanzenschutzmittel müssen
innerhalb einer Zone nur noch einmal ausführlich in einem europäisch einheitlichen Verfahren geprüft werden.
In den anderen Ländern einer Zone ist eine schnelle und
unkomplizierte Anerkennung vorgesehen. Die schnellere
Einführung bereits geprüfter Pflanzenschutzmittel
könnte vor allem für Sonderkulturen, deren Marktumfang bisher in einem einzelnen Land zu gering war, eine
große Chance bieten.
Für uns Liberale ist es im Hinblick auf einheitliche
Wettbewerbsbedingungen sehr wichtig, dass die nationalen Regelungen sich eins zu eins an den Vorgaben der
EU-Verordnung orientieren. Neue Pflanzenschutzmittel
sind besser als alte. Die Anwendung verschiedener
Pflanzenschutzmittel vermindert die Möglichkeit der Resistenzbildung. Deswegen ist eine zügige und harmonisierte Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auch ein
Vorteil für Natur und Umwelt. Es darf bei der Zulassung
von Pflanzenschutzmitteln keine deutschen Alleingänge
Zu Protokoll gegebene Reden
oder Sonderwege geben. Die Beachtung der Guidelines
der Kommission zur Wirkstoffprüfung muss selbstverständlich sein. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar,
wenn beispielsweise die Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf Nichtzielorganismen in den verschiedenen EU-Ländern nach unterschiedlichen Kriterien
bewertet werden.
Das für die Zulassung zuständige BVL, das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit,
muss mit dem JKI, dem Julius-Kühn-Institut, und mit
dem BfR, dem Bundesinstitut für Risikobewertung, lediglich ein Benehmen in wichtigen Fragen wie der Gefährdung von Mensch und Tier herstellen, jedoch mit
dem UBA, dem Umweltbundesamt, das Einvernehmen
bei allen Fragen zur Vermeidung von Schäden für den
Naturhaushalt sowie durch Abfälle von Pflanzenschutzmitteln herstellen. Diese Gewichtung ist und bleibt für
die FDP unlogisch und nicht nachvollziehbar. Warum
hat der Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier einen geringeren Wert als der Schutz des Naturhaushalts?
Die Einhaltung der geforderten 120-Tage-Frist bei
der gegenseitigen Anerkennung ist von großer Bedeutung. Die Beteiligung von vier verschiedenen Behörden
beim nationalen Zulassungsverfahren stellt große Anforderungen an die Ablauforganisation. Zwar kann das
BVL für die Abgabe von Bewertungen oder Stellungnahmen eine Frist festlegen. Aber leider bleibt die Frage
unbeantwortet, was geschieht, wenn die vorgegebene
Frist nicht eingehalten wird. Eine Nichteinhaltung einer
Frist durch eine einzelne Behörde sollte dem Benehmen/
Einvernehmen gleichkommen.
Das neue Pflanzenschutzgesetz stellt neue Anforderungen an den Vertrieb und die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Der Graue Markt des Parallelhandels
und der Reimporte muss sorgfältig überwacht und kriminelles Handeln konsequent bestraft werden. Die Strafbewehrung ist ein erster, wichtiger Schritt. Die Forderungen von Herstellern und der Länder über weitergehende
Maßnahmen nehmen wir sehr ernst und sind bereit,
diese zu prüfen. Vor allem der Import von gefälschten,
falsch deklarierten und gefährlichen Nachahmerprodukten muss weitestgehend unterbunden werden. Dies
dient insbesondere dem Schutz der Anwender und der
Umwelt.
Wir erwarten einen konstruktiven Umgang mit dem
neuen Gesetz. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren
müssen wir sicher stellen, dass die kulturellen Besonderheiten der einzelnen Obst- und Gemüseanbauregionen
im Gesetz Berücksichtigung finden. Sonderregelungen
für Obstanbaugebiete wie das Alte Land müssen erhalten bleiben.
Die weitere Entwicklung neuer hochselektiver und
leicht abbaubarer Wirkstoffe für den Pflanzenschutz ist
eine wichtige Zukunftsaufgabe. Das Gesetz muss einen
Rahmen schaffen, der die Genehmigung der erforderlichen Freilandversuche unbürokratisch ermöglicht und
sicherstellt, dass auch mittelständische Unternehmen
mit ihren Ideen daran teilhaben können.
Der vorliegende Gesetzentwurf bietet eine gute Voraussetzung für ein gutes Gesetz. Wir werden die Vorschläge der Anhörung sorgfältig prüfen.
Auf über 90 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen in Deutschland und Europa wird „konventionell“
- das heißt unter anderem mit dem Einsatz diverser chemischer Pflanzenschutzmittel - gewirtschaftet. Die in
der Landwirtschaft eingesetzten Pestizide werden damit
auf einem beachtlichen Flächenanteil eingesetzt, und
bei dem anhaltend hohen Niveau des Pestizidverbrauchs
sind Auswirkungen auf Umwelt und menschliche Gesundheit oft dokumentiert und nachgewiesen worden.
Dem Gesundheitsschutz und dem Umweltschutz räumt
die neue EU-Pestizidgesetzgebung eine hohe Relevanz
ein; sie verschärft die Regelungen der Pestizidverwendung für besonders sensible Gebiete und stärkt den Gewässerschutz. Mit der Neuordnung des deutschen Pflanzenschutzrechtes müssen die Ziele der EU-Richtlinien
umgesetzt werden, und es muss abgesichert werden,
dass die Umwelt vor unvertretbaren Auswirkungen der
Pestizide geschützt wird.
Die Linke unterstützt die Intention der EU-Pestizidgesetzgebung. Neu ist dabei, dass die auf EU-Ebene entwickelten Ziele, wenn sie in der Umsetzung in das nationale Pflanzenschutzrecht ernsthaft umgesetzt werden,
einen deutlich höheren Standard im Pflanzenschutzrecht
bedeuten als bislang. Dabei zieht die alte Debatte um
Sonderwege höherer Umweltstandards in Deutschland
nicht mehr - es geht hier um die Realisierung höherer
EU-Standards. Das ist im Ergebnis also mehr als die
bloße Umsetzung von EU-Recht.
Die alte Debatte um die gegenüber der EU höheren
Standards in Deutschland kehrt sich ein Stück weit um.
In der nun kommenden Erörterung der Neuordnung des
Pflanzenschutzrechtes ist schon eine Reihe kontroverser
Positionen, zwischen Fachleuten aus dem Bereich Umwelt auf der einen Seite und den Vertretern der Pestizidanwendung auf der anderen Seite, erkennbar. Die Frage
stellt sich, wie umfassend es gelingt, der ambitionierten
Zielstellung der EU-Vorgaben gerecht zu werden. So
werden zum Beispiel in der EU-Zulassungsverordnung
die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln und Genehmigung von Wirkstoffen geregelt. Zentrales Element der
Zulassungsverordnung ist das Vorsorgeprinzip, mit dem
sichergestellt werden soll, dass in Verkehr gebrachte
Wirkstoffe oder Produkte die Gesundheit von Mensch
und Tier sowie die Umwelt nicht beeinträchtigen. Sie
räumt den Mitgliedstaaten ausdrücklich ein, „das Vorsorgeprinzip anzuwenden, wenn wissenschaftliche
Ungewissheit besteht, ob die in ihrem Hoheitsgebiet zuzulassenden Pflanzenschutzmittel Gefahren für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt bergen“. Hier zeigt sich schon in der EU-Verordnung, dass
es Spielräume in der nationalen Umsetzung der EU-Rahmengesetze gibt. Neben der Zulassungsverordnung für
Pflanzenschutzmittel sind das die EU-Rahmenrichtlinie
zur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden sowie weitere Europäische Rechtsakte wie die Flora-Fauna-Habitat-Richtline.
Die Linke wird sich in den Beratungen zur Novelle für
eine ernsthafte Umsetzung der EU-Rahmengesetze einsezten. Es geht bei den Beratungen zu diesem Gesetz
nicht zuletzt um die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen, es darf nicht um den Profit der Agrarindustrie geZu Protokoll gegebene Reden
hen. Ermessensspielräume müssen im Sinne von Art. 20 a
unseres Grundgesetzes genutzt werden. Da heißt es, der
Staat schützt unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Darauf wird Die Linke achten.
Die schwarz-gelbe Koalition legt mit der Neuordnung
des Pflanzenschutzrechts eine erschreckende Kontinuität an den Tag. Nach dem Hin und Her beim Atomausstieg, der fatalen Verzögerungstaktik in der Euro-Krise
und der verschlafenen Wahlrechtsreform mit eklatanter
Fristversäumnis kommt auch der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf ein halbes Jahr zu spät. Die Novelle des
Pflanzenschutzgesetzes hätte nach den Vorgaben der EU
spätestens am 11. Juni dieses Jahres in Kraft treten müssen.
Wenn ein Gesetzentwurf zusätzliche sechs Monate benötigt und deshalb sogar ein eigenes Übergangsgesetz
beschlossen werden muss, dann darf man eigentlich einen großen Wurf erwarten, also ein ganzheitliches Konzept, das sich stringent in ein modernes Landwirtschaftskonzept einfügt. Leider ist das Gegenteil der Fall: Mit
ihrem Gesetzentwurf versucht die Bundesregierung, den
Status quo so weit wie irgend möglich fortzuschreiben.
Im Unterschied zu den Vorgaben aus Brüssel fehlt jegliche Aktualisierung der Zielsetzung in der Pflanzenschutzthematik, die auch die zentralen aktuellen Herausforderungen in der Land- und Ernährungswirtschaft
aufgreift: den dramatischen Schwund der Artenvielfalt
gerade in den Agrarlandschaften, die wissenschaftlich
immer besser begründeten Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher an Lebensmittel ohne Pestizidrückstände oder die europaweit stark wachsende Zahl
der Landwirte, die auf den ökologischen Landbau umstellen.
Die Bundesregierung und speziell das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz offenbaren mit diesem Gesetzentwurf entweder
ihr Unvermögen oder ihre mangelnde Bereitschaft, ein
modernes Modell einer multifunktionalen und ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft zu entwickeln und
politisch umzusetzen. Vor allem der Einsatz chemischsynthetischer Pflanzenschutzmittel in seiner breit praktizierten Form ist ein klassisches End-of-Pipe-Instrument
zur Bekämpfung bereits aufgetretener Probleme. Ein
glaubwürdiges politisches Konzept für den Pflanzenschutz setzt aber einen agrarpolitischen Rahmen voraus,
der zunächst alle ökologisch notwendigen und ökonomisch realisierbaren Möglichkeiten zur Vorbeugung von
Schadwirkungen ausschöpft. Dazu zählen vielfältige
Fruchtfolgen, spezielle Anbauverfahren, die gezielte
Förderung von Nützlingen und der Einsatz biologischer
Schädlingsbekämpfungsmethoden ebenso wie die Weiterentwicklung von Beratungs- und Fortbildungskonzepten für die potenziell von Schädlingsbefall betroffenen
Stufen der Lebens- und Futtermittelkette.
Hier besteht erheblicher Nachholbedarf, hier könnte
sich die Bundesregierung mit einem engagierten, zukunftsorientierten Konzept profilieren. Diese Chance
wird mit dem vorgelegten Entwurf jedoch leichtfertig
verschenkt. Denn ein derartiger Ansatz widerspräche
dem von der Bundesregierung verfolgten agrarpolitischen Modell der immer weiter getriebenen Intensivierung in Ackerbau und Tierhaltung. Das Festhalten an
der ökologisch ebenso gefährlichen wie ökonomisch unsinnigen Agrogentechnik trotz der heute bekannten drastischen Zunahme des Herbizideinsatzes als Folge des
Anbaus herbizidtoleranter Genpflanzen ist ebenfalls unvereinbar mit einer ernst zu nehmenden Berücksichtigung von Umwelt- und Verbraucherschutzaspekten im
Pflanzenschutz.
Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Novelle
sowohl von einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen als auch der Wasserwirtschaft heftig kritisiert
wird. Auch der Bundesrat hat mit seinen zahlreichen Änderungswünschen die Schwächen der Novelle aufgedeckt. Zwar ist es beruhigend, dass im Unterschied zum
ersten Entwurf im Vorjahr nun das Umweltbundesamt
seine entscheidende Korrekturfunktion als Einvernehmensbehörde in den meisten Anwendungsbereichen weiter wahrnehmen kann. Um so unverständlicher ist, dass
dieses Einvernehmen beispielsweise beim besonders riskanten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln mit Luftfahrzeugen oder bei der Saatgutbeize nicht realisiert wurde.
Der auch vom Bundesrat geforderte Mindestabstand der
Pflanzenschutzmittelanwendung zu Oberflächengewässern fehlt dagegen ebenso wie die in der EU-Rahmengesetzgebung vorgesehenen Sonderregelungen für „bestimmte Gebiete“ wie Trinkwasserschutzgebiete.
Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, ihr
bisher passiv wie aktiv unterstütztes Agrarmodell und
damit auch die Novelle des Pflanzenschutzgesetzes
grundlegend zu korrigieren. Nur eine ökologisch zukunftsfähige, qualitätsorientierte Landwirtschaft mit einer konsequenten Minimierungsstrategie beim Pflanzenschutzmitteleinsatz bietet den deutschen Landwirten
eine dauerhafte ökonomische Perspektive und Akzeptanz
in der Gesamtgesellschaft. Erst gestern bekamen wir
von Vertreterinnen und Vertretern vom Bund der Deutschen Landjugend im Agrarausschuss die diesjährige
Erntekrone überreicht. Mit Gesetzentwürfen wie der
heute vorgelegten Pflanzenschutzgesetz-Novelle setzt
die Bundesregierung nicht nur die biologische Vielfalt
und den Verbraucher- und Gewässerschutz, sondern
auch die Zukunft dieser jungen Menschen aufs Spiel.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksachen 17/7317 und 17/7369 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10 Jahre Frauen in der Bundeswehr
- Drucksache 17/7351 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es handelt
sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Anita Schäfer, Karin Evers-Meyer, Burkhardt Müller-
Sönksen, Inge Höger, Katja Keul und Parlamentarischer
Staatssekretär Christian Schmidt.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7351 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten FranzJosef Holzenkamp, Peter Altmaier, Cajus Caesar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Rainer Erdel, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fischartenschutz voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für ein Kormoranmanagement
- Drucksache 17/7352 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolleginnen und Kollegen Cajus Caesar, Holger Ortel,
Christel Happach-Kasan, Jan Korte und Cornelia Behm.
Die Erhaltung der Biodiversität muss allumfassend
behandelt werden und harmonisch erfolgen. Ich stimme
dem Bundesumweltminister Röttgen zu: Die Bewahrung
der Biodiversität und der Klimaschutz sind zwei zentra-
len Herausforderungen der Politik - und nicht nur der
Umweltpolitik. Wir, die Union, aber auch ich persönlich,
wollen das Miteinander von Umweltinteressen und wirt-
schaftlicher Entwicklung. Bei den Themen Biodiversität
und Artenschutz darf das Gleichgewicht nicht in Verges-
senheit geraten. Ein ausgewogener Artenschutz kann
nicht dem Schutz einer ausgewählten Art gleichgestellt
werden. Zudem darf er nicht nur über Wasser gelten,
und das betrifft auch den Kormoran.
Man könnte fragen: Warum sind vordringliche Maß-
nahmen für ein Kormoranmanagement nötig? Immerhin
wurde der Kormoran im vorigen Jahr vom NABU zum
Vogel des Jahres ernannt. Nun handelt es sich um einen
Vogel, der erhebliche Schäden verursacht und zudem
langlebig, mobil und äußerst anpassungsfähig ist. Er
jagt Fische in Trupps mit bis zu einigen Hundert Vögeln
und kann bis 40 Meter tief ins Wasser tauchen. Die
1) Anlage 24
Trupps können Fische zusammentreiben und Gewässer
völlig fischleer machen.
Die rasante Bestandszunahme des Kormorans in den
letzten dreißig Jahren hat gravierende Auswirkungen
auf die natürliche Fischfauna. Europaweit sind mittlerweile etwa 600 000 Brutvögel vorhanden, die Gesamtzahl wird auf fast 2 Millionen Vögel geschätzt. Die Zahl
der Brutpaare in Deutschland ist seit den 80er-Jahren
von knapp 800 auf 23 500 im Jahr 2009 angestiegen.
Mit 47 000 Brutvögel und der Gesamtvogelzahl von
130 000 hat sich der Bestand der Kormorane seit 1990
vervierfacht. Alleine in Nordrhein-Westfalen konnten im
Jahr 2010 rund 1 000 Brutpaare verzeichnet werden.
Dies hat zusätzliche Auswirkungen auf Deutschland
durch Zugvögel, die sich hier vorübergehend aufhalten.
Gleichzeitig hat der Kormoranbestand auch in unseren
nordeuropäischen Nachbarländern zugenommen: Die
Zahl der durchziehenden oder überwinternden Vögel im
süd- und westdeutschen Raum ist hiermit deutlich gestiegen.
Ein Kormoran verzehrt mit der täglichen Menge von
400 bis 500 Gramm einen voluminösen Fischbestand.
Dies entspricht einer Menge von 160 Kilogramm pro
Jahr. Mit über 2 Millionen Kormoranvögeln entsteht europaweit ein täglicher Fischverlust von etwa 1 000 Tonnen, mit etwa 130 000 Kormorane in Deutschland mehr
als 20 000 Tonnen. Insbesondere kleinere Fischarten
und Jungtiere größerer Fischarten sind bedroht. Dies
ergibt eine weitere Problematik, die nach effektiven Lösungsansätzen verlangt.
Heute müssen wir leider feststellen, dass die bisherigen Erfolge trotz zahlreicher Artenschutzprogramme
eher bescheiden zu beurteilen sind. Einheimische Fischarten wie Lachs, Äsche, Meeresforelle oder Aal gelten
weiterhin als ernsthaft gefährdet. Trotz Verbesserungen
der Wasserqualität sind europaweit bereits 38 Prozent
der Süßwasserfischarten in Gefahr. In Deutschland gelten nach Angaben des Bundesamtes für Naturschutz sogar 74 Prozent heimischer Rundmäuler und Fischarten
als gefährdet oder ausgestorben. Dabei spiegelt ein gesunder Fischbestand die Qualität eines Gewässers wider.
Das darf bei der Argumentation hinsichtlich der Kormoranpopulation nicht in Vergessenheit geraten. Der massive Bestandszuwachs von Kormoranen hat eindeutig negative Auswirkungen auf unsere Ökosysteme und die
Artenvielfalt. Doch auch die Existenz unserer Fischerei
und Teichwirtschaft ist dadurch ernsthaft bedroht. Insbesondere die kleineren teichwirtschaftlichen Familienbetriebe stehen unter starkem Preisdruck durch Importe
aus Ländern mit industriemäßiger Fischproduktion. Ihre
Marktposition können sie nur über hohe Qualität und
ausreichenden Bestand behaupten.
Dabei sind naturnahe Erzeugung und nachhaltige
Wirtschaftsweise Markenzeichen unserer Fischereiwirtschaft. Sie ist erhaltenswert und sollte nicht durch Totalverluste gefährdet werden. Wir dürfen nicht vergessen,
dass die Fischerei ein traditioneller wirtschaftlicher Bestandteil sowohl an unserer Küste als auch an Flüssen,
Seen und Teichen im ländlichen Raum ist. Auch im Tourismusbereich trägt sie zur Wirtschaftskraft bei.
Inzwischen ist auch wissenschaftlich nachgewiesen,
dass Kormorane sogar in Fischpopulationen freier Gewässer großen Schaden anrichten und bedrohte Fischarten massiv verringern. Doch was können wir dagegen
tun? Die Auswertung der bisherigen Erfahrungen weist
auf die Bekämpfung der Symptome hin. Bis jetzt wurden
lediglich optische oder akustische Abwehrmaßnahmen
vor Ort durchgeführt. Solche Maßnahmen wie Überspannungen mit Netzen oder Einsatz von Schutzkäfigen
haben sich als inneffizient und teuer erwiesen. Auch mit
anderen lokal angewandten Taktiken ist es bisher nicht
gelungen, dieses Problem in den Griff zu kriegen. Unser
Ziel muss die langfristige Bestandsregulierung sein. Wir
müssen uns der Ursachenbekämpfung widmen. Denn
nur mit einem erfolgreichen Populationsmanagement
können wir unsere Ökosysteme und Artenvielfalt wieder
ins Gleichgewicht bringen: effektiv, vergleichsweise
preiswert und mit deutlich geringeren Nebenwirkungen.
Dafür benötigen wir umgehend ein funktionierendes und
langfristiges Kormoranmanagement.
Das hat die CDU/CSU-Fraktion früh erkannt. Bereits
im Jahr 2008 setzte sich Frau Bundesagrarministerin
Aigner für ein europaweites Bestandsmanagement dieser
Vogelart ein und erntete Unterstützung ihrer Kollegen in
anderen Mitgliedstaaten. Weiterhin wurde auf Initiative
der Bundesministerin im Rahmen der Agrarministerkonferenz Ende letzten Jahres eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe
„Kormoran“ eingerichtet. So konnte eine fachlich fundierte Datengrundlage hinsichtlich des bundesweiten
Kormoranbestands, der gegebenen einschlägigen Rechtsrahmen sowie der bereits realisierten Abwehrmaßnahmen
und fischereiwirtschaftlichen Schäden erfasst werden.
Auch der Koalitionsvertrag der Bundesregierung
sieht einen EU-weiten Managementplan für Kormorane
vor. Durch das Engagement der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurde bereits eine entsprechende Initiative sowohl beim EU Fischerei- als auch beim Umweltrat gestartet. Diese Maßnahmen sind richtig und wichtig.
Doch langfristige Wirkung zeigen sie nur, wenn alle Beteiligten mitmachen. Die Kormorane lassen sich nicht
durch Ländergrenzen abhalten. Die Maßnahmen der
Bundesländer und der EU-Mitgliedstaaten müssen deshalb zukünftig besser koordiniert werden. Dafür ist längerfristig ein europaweiter Aktionsplan auf der EUEbene erforderlich. Das Ziel ist es, eine nachhaltige europaweite Bestandsregulierung einzusetzen und dessen
Auswirkungen zu beobachten.
Mit unserem Koalitionsantrag zum Kormoranmanagement gehen wir deshalb noch einen Schritt weiter. Heute
fordern wir die Bundesregierung auf, vordringliche Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts beim
Artenschutz sowohl auf der Bundes- als auch auf der EUEbene zu ergreifen. Für unsere Koalition ist der Fischartenschutz genauso wichtig wie der Vogelschutz oder der
Tierschutz allgemein. Deshalb haben wir sowohl mit den
Naturschützern als auch mit den betroffenen Fischern
und Menschen aus dem Verarbeitungs- und Handelsbereich den Dialog gesucht. Wir brauchen Regelungen, die
die gesamte ausgewogene Artenvielfalt genauso ernst
nehmen wie die Belange unserer Fischereiwirtschaft.
Ich beginne meine Rede mit den gleichen Worten, wie
in der Debatte im April dieses Jahres, als wir über den
Antrag der Linken zum Kormoran sprachen: Der Artenschutz darf nicht an der Wasseroberfläche aufhören. Unter dieses Motto möchte ich auch meine heutige Rede
stellen.
Beim Artenschutz an Land gibt es viele Erfolgsgeschichten zu erzählen. Eine dieser Geschichten handelt
vom Kormoran. Aber das Thema Artenschutz unterhalb
der Wasseroberfläche ist keine Erfolgsgeschichte - bislang. Es gibt einige bedrohte Fischarten. Und es gibt für
diese Fischarten Artenschutzprogramme. Aber diese Artenschutzprogramme drohen zu scheitern. Der Rückgang einzelner Fischbestände hat vielfältige Gründe.
Die fehlende Durchgängigkeit der Gewässer und der
teilweise noch schlechte ökologische Zustand der Gewässer sind zwei dieser Gründe. Ein weiterer wesentlicher Grund ist der Kormoran.
Ich möchte heute aber nicht schon wieder einen
Überblick über die Entwicklung des Kormoranbestandes in den letzten 30 Jahren geben. Die Zahlen werden
zum einen immer wieder angezweifelt und wurden in der
Vergangenheit sehr oft wiederholt, so auch im Plenarprotokoll der Debatte vom 7. April dieses Jahres. Wer
diese Zahlen also unbedingt nachlesen möchte, kann es
dort tun. Ich möchte aber den Bericht des Europaparlaments zum Kormoran erwähnen. Mein SPD-Kollege
Heinz Kindermann hat im Dezember 2008 einen Bericht
zum Kormoran vorgelegt. Dieser mündete in der am
4. Dezember 2008 verabschiedeten Entschließung des
Europaparlaments zur Erstellung eines Europäischen
Kormoranmanagementplans zur Reduzierung der zunehmenden Schäden durch Kormorane für Fischbestände, Fischerei und Aquakultur. Diese Entschließung
wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. Die
Kommission ist aber nicht gewillt, sich auf diesem Feld
zu engagieren. Sie versucht immer wieder, den Mitgliedstaaten den schwarzen Peter zuzuschieben. Zuletzt haben wir gesehen, wie das Projekt Sustainable Management of Cormorant Populations torpediert wurde.
Ich möchte aber auch auf die Aussagen der Koalition
in der Debatte vom April eingehen, denn diese waren in
Bezug auf ihren eigenen, den heute hier vorliegenden
Antrag bemerkenswert. Die Union hat den Antrag der
Linken mit dem Argument abgelehnt, dass es bei den unterschiedlichen Forderungen verschiedene Zuständigkeiten gibt.
Wenn ich mir jetzt den vorliegenden Antrag ansehe,
stelle ich fest, dass es auch hier unterschiedliche Zuständigkeiten gibt.
So liegt ein Teil Ihrer Forderungen in der Zuständigkeit der Länder. Beispiele dafür sind die Forderungen
Nr. 5 und 8. Jetzt frage ich Sie: Lehnen Sie diesen Antrag
auch ab?
Weiterhin haben Sie sich in der Debatte für ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement ausgesprochen.
Diese Forderung wurde nun stark abgeschwächt, es ist
noch von einer Harmonisierung der KormoranverordZu Protokoll gegebene Reden
nungen der Länder die Rede. Dass sich diese Forderung
in der Zuständigkeit der Länder bewegt, möchte ich nur
am Rande erwähnen. Sie haben sich offensichtlich einfach die Forderungen der FDP zu eigen gemacht. Unsere
geschätzte Kollegin Christel Happach-Kasan vertritt
diese Standpunkte schon lange. Nur Ihr Bundesumweltminister und einige Umweltpolitiker haben Ihnen immer
wieder Steine in den Weg gelegt. Ich frage mich nur, warum. Herr Röttgen hat sich nämlich in dieser Angelegenheit für gar nicht zuständig erklärt. Er will sich dem Kormoran erst wieder annehmen, wenn dieser in seinem
Bestand gefährdet ist. Davon sind wir ja nun nachweislich weit entfernt. Der Herr Minister schlägt sich in die
Büsche. Aber nun haben Sie ja nach zähem Ringen einen
gemeinsamen Antrag geschrieben.
Ich möchte Sie an dieser Stelle an Ihren Koalitionsvertrag erinnern. In diesem steht nämlich, dass Sie auf
europäischer Ebene auf die Erstellung eines Managementplans für Komorane drängen wollen. Es hat bereits
eine Initiative von Frau Aigner bei ihren Ministerkollegen in den anderen EU-Mitgliedstaaten gegeben. Aber
diese Initiative ist im Sande verlaufen. Ein Drängen
konnte ich noch nicht erkennen. Ich hoffe, dass sie auf
diesem Gebiet noch mehr Initiative ergreifen werden.
Wir müssen beim Kormoran nämlich sehen, dass es
Menschen gibt, deren berufliche Existenz durch den
Kormoran zunichtegemacht wird. Es mussten schon einige Teichwirte den Betrieb einstellen. Das sind oftmals
über mehrere Generationen betriebene Familienbetriebe, die jetzt am Rande der Existenz stehen.
Unter Punkt 5 Ihres Antrages machen Sie Eingriffe in
Brutkolonien von Kormoranen von nachgewiesenen Gefährdungen der Fischfauna abhängig. In der Vergangenheit wurde von Umweltverbänden immer wieder bestritten, dass der Kormoran am schlechten Zustand der
Fischfauna Schuld hat. Mit dieser Argumentation wird
es sehr schwer werden, Eingriffe in Brutkolonien zu erreichen. Deshalb müssen wir Parameter für den Zustand
des Kormorans festlegen, der Eingriffe in Brutkolonien
möglich macht bzw. bedingt.
Der Kormoran wurde, als es ihm schlecht ging, europaweit unter Schutz gestellt. Warum sollen wir ihn jetzt
nicht auch europaweit managen? Die Vogelschützer haben seinerzeit doch offensichtlich erkannt, dass man die
Probleme des Kormorans nur europaweit und nicht etwa
lokal lösen kann. Gleiches gilt jetzt auch für die Gefahren, die durch den Kormoran entstehen. So wie der Kormoran Anfang der 1980er-Jahre in Europa unterrepräsentiert war, so ist er nun überrepräsentiert. Auf die
Erstellung eines europäischen Managementplans für
Kormorane drängen heißt dicke Bretter bohren. Wir
werden zunächst aber über diesen Antrag im Ausschuss
zu beraten haben. Ich freue mich darauf.
Der Schutz des Kormorans war überaus erfolgreich.
Die Kormorane haben sich so stark vermehrt, dass inzwischen eine Bestandsregulierung erforderlich geworden ist. Es gibt in Europa keine Artenschutzmaßnahme,
die so durchgreifend gewirkt hat wie der Kormoranschutz. Der Kormoran ist inzwischen Bestandsvogel
nicht nur an der Küste, sondern auch in den südlichen
Bundesländern, wo er in den letzten Jahrhunderten allenfalls als seltener Irrgast anzutreffen gewesen ist. Er
gehört dort zu den invasiven Arten und bedroht Fischarten in ihrem Bestand, die an das Fraßverhalten des
Kormorans nicht angepasst sind. Nach Angabe der
Bundesregierung auf Anfrage der Linken auf Drucksache 17/980 ist die Anzahl der heimischen Brutpaare auf
etwa 24 000 gestiegen. Die europäische Population des
Kormorans wird von Wissenschaftlern auf etwa 600 000
erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamtzahl von beinahe 2 Millionen Vögel geschätzt. Es gibt sehr viele
Brutvogelarten, bei deren Schutz wir uns so viel Erfolg
wünschen wie beim Kormoran.
Nach diesem Erfolg des Vogelschutzes ist es an der
Zeit, auch den Fischartenschutz und speziell den Schutz
autochthoner Fischbestände voranzubringen. Die Situation vieler bedrohter Fischarten hat sich in den letzten
Jahrzehnten weiter verschlechtert. Nach den Kriterien
der IUCN, der International Union for Conservation of
Nature and Natural Resources, sind 38 Prozent der Süßwasserfischarten Europas gefährdet oder vom Aussterben bedroht. So sind beispielsweise die Bestände der
Äsche, Thymallus thymallus, dem Fisch dieses Jahres
2011, in den vergangenen zehn Jahren in verschiedenen
Gewässern zusammengebrochen. Laut Aussagen des
Bundesamtes für Naturschutz, BfN, gelten in Deutschland 74 Prozent der heimischen Rundmäuler und Fischarten als gefährdet oder ausgestorben. Es bleibt unverständlich, warum der behördliche Naturschutz dennoch
eine Bestandsregulierung des Kormorans ablehnt, das
Bundesamt für Naturschutz in der Broschüre über die
Äsche sogar ein Grußwort verweigert hat.
Die Gefährdung von Fischbeständen ist genauso wie
die wirtschaftliche Belastung von Teichwirtschaften durch
den Kormoran vielfältig nachgewiesen worden. Ein Kormoran frisst pro Tag zwischen 240 und 1 000 Gramm
Fisch, so die Bundesregierung in Drucksache 16/706.
Die wirtschaftliche Belastung von Teichwirtschaften ist
unmittelbar einsichtig. Die fränkischen Teichwirte beziffern den Verlust durch den Kormoran auf 60 Prozent.
Der Kormoranfraß hat vielfach ein Wirtschaften unmöglich gemacht und die Wertschöpfung in den ländlichen
Räumen erschwert. Viele Teichwirte in Mittelfranken
und in ganz Deutschland wollen deswegen aufhören,
ihre Teiche zu bewirtschaften. Der Erhalt der Kulturlandschaft mit ihren über 4 000 Teichen allein in Franken ist dadurch gefährdet. Fränkische Teichwirte fordern deshalb ein europaweites Kormoranmanagement.
Es ist bemerkenswert, dass der NABU den Kormoran
zum Vogel des Jahres 2010 gemacht hat, obwohl er als
Besitzer der Blumberger Mühle in Brandenburg, einer
Karpfenteichwirtschaft, seine Teiche mit Fischen aus
einer tschechischen Satzfischaufzucht besetzen muss.
Diese Fische sind so groß sind, dass Kormorane sie
nicht mehr bewältigen können. Seit dem Jahr 2000 werden jährlich über 50 Tonnen Satzkarpfen in die Teiche
der Blumberger Mühle gesetzt. Für einen gewerblichen
Binnenfischer oder Teichwirt ist ein solches Verfahren
viel zu teuer, unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit ist
Zu Protokoll gegebene Reden
dieses Vorgehen abzulehnen. Es ließe sich durch ein
sinnvolles Kormoranmanagement vermeiden. Ebenso
brauchen die freiwilligen Bemühungen der Anglerverbände zum Gewässerschutz sowie zur Wiederansiedelung bedrohter Fischarten die Unterstützung durch ein
nachhaltiges Kormoranmanagement.
Ein wirkungsvoller Fischartenschutz erfordert einen
breiten Ansatz. Die Wasserqualität bzw. der Gewässerzustand von Fließgewässern muss vielerorts weiter verbessert werden. Der Gewässerverbau durch die kleine
Wasserkraft zum Beispiel ist nur dann akzeptabel, wenn
Umgehungsmöglichkeiten für wandernde Fischarten geschaffen werden. Nur so können sich bedrohte, autochthone Bestände erholen oder ausgestorbene Arten wieder ansiedeln. Gleichzeitig ist es unabdingbar, den
Fraßdruck durch Raubtiere wie den Kormoran auf bedrohte Bestände zu begrenzen.
Es besteht ein allgemeines Einverständnis, dass auch
aufgrund des Fehlens von Wolf und Bär, also Raubtieren, die früher einmal bei uns heimisch waren, der
Mensch Reh-, Rotwild- und Damwildbestände bejagen
muss, um im Wald Schäden durch winterlichen Verbiss
zu mindern. Genauso muss an bestimmten Gewässern
der Kormoranbestand begrenzt werden, um bedrohte
Fischarten zu schützen, um autochthone Bestände vor
dem Aussterben zu bewahren. Nur so kann die innerartliche Biodiversität erhalten werden.
Mehr als 120 000 Unterschriften wurden für ein Kormoranmanagement gesammelt, in Ulm haben über 6 000
Menschen für das Kormoranmanagement demonstriert.
Ich bin erfreut, dass sich inzwischen die Linke unserer
Forderung nach einem Bestandsmanagement angeschlossen hat. In den Landtagen von Niedersachsen und
Schleswig-Holstein wurden Entschließungen verabschiedet, die auf ein europaweites Kormoranmanagement und ein abgestimmtes und wirkungsvolles Vorgehen in Deutschland dringen.
Es gibt im Rahmen der einzelnen Kormoranverordnungen der Bundesländer bereits viele Beispiele für regionale Aktivitäten, die eine Regulierung des Kormorans zum Ziel haben. Allerdings ist der Kormoran ein
Wandervogel, und im Laufe des Jahres kommt es zu einem massenhaften Durchzug von Vögeln aus den nordeuropäischen Staaten, die zusätzlichen Druck auf bedrohte Fischbestände ausüben. Regionale Maßnahmen
gegen den Kormoran sind richtig und wichtig. Aber
ohne eine Koordinierung dieser Maßnahmen innerhalb
Deutschlands und mit unseren Nachbarländern, also
ohne ein europäisches Kormoranmanagement, können
wir keinen sicheren und dauerhaften Artenschutz gewährleisten und Schaden von bedrohten Arten in heimischen Gewässern abwenden.
Als Regierungskoalition sind wir uns der Wichtigkeit
eines Kormoranmanagements zum Wohle der Biodiversität und des wirksamen Artenschutzes unter der Wasseroberfläche bewusst. Mit diesem Antrag setzen wir ein
Ziel des Koalitionsvertrages um. Wir laden alle ein,
denen der Schutz unserer bedrohten Fischfauna, der Erhalt wertvoller Teichflächen und ein ausgewogener Umweltschutz am Herzen liegt, unseren Antrag zu unterstützen.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Koalitionsfraktionen es nun endlich geschafft haben, einen Antrag zum
Kormoranmanagement zu erarbeiten, der - das begrüße
ich natürlich auch - in weiten Teilen sowohl in der Analyse als auch in der Zielsetzung dem Antrag der Linken
nahekommt, den wir im April dieses Jahres in den Bundestag eingebracht haben. Deshalb wundert es mich
ehrlich gesagt, warum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, so lange dafür gebraucht haben - Sie hätten einfach dem Antrag der Linken zustimmen können.
Als am 7. April im Bundestag über den Antrag der
Linksfraktion „Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten - Kormoranmanagement einführen“, Drucksache 17/5378, diskutiert wurde, haben sich alle Fraktionen mit Ausnahme der Grünen, die offenbar ein eher
selektives Verständnis von Natur- und Artenschutz haben, für ein Kormoranmanagement ausgesprochen. Die
Koalitionsfraktionen haben einen eigenen Antrag zum
Kormoranmanagement angekündigt, der praktisch nur
noch aus der Schublade geholt werden müsse. Dass Sie
nun so lange dafür gebraucht haben, würde ich Ihnen ja
eigentlich nachsehen. Sie haben aber genau diesen Antrag als Grund dafür angeführt, den Antrag der Linken
von der Tagesordnung des Agrarausschusses am
13. April 2011 zu nehmen, um ihn dann dort am 11. Mai
mit den Stimmen der Jamaika-Koalition abzulehnen, um
dann wiederum fast ein halbes Jahr nichts zu machen.
Weil sich unser Antrag vom April diesen Jahres und Ihr
jetzt vorgelegter Antrag nur in wenigen Punkten voneinander unterscheiden, frage ich mich, warum Sie die
paar Punkte, in denen Sie anderer Meinung sind als wir,
nicht als Änderungsantrag eingebracht haben. Dann wären wir in dieser Sache, in der sich offenbar ein großer
Teil dieses Parlaments einig ist, schon viel weiter, und
Sie hätten sich viel Arbeit erspart. Vor dem kommenden
Winter, in dem wieder Tausende Kormorane - gerade an
den nicht zugefrorenen Fließgewässern - massiven
Schaden anrichten werden, hätten es Fischereiberechtigte und Naturschützer gerne gesehen, dass der Bundestag in diesem Punkt einmal Einigkeit demonstriert
hätte, statt sich in kleinlichen parteipolitischen Auseinandersetzungen zu verlieren. Ich hätte das beim
Thema Kormoranmanagement für nicht möglich gehalten; das muss ich an dieser Stelle einmal klar und deutlich sagen. Die Kormoranproblematik hätten Sie ausnahmsweise einmal sachlich und nicht ideologisch
handhaben können.
Nun aber zu Ihrem Antrag. Zuerst einmal möchte ich
einmal anerkennen, dass der vorliegende Antrag weiter
geht als der FDP-Antrag in der vergangenen Legislaturperiode. Die Koalitionsfraktionen haben es offenbar
verstanden, dass wir nicht länger auf Europa warten
können, sondern dringend eine bundesweite Koordination von Maßnahmen gegen die viel zu hohe Kormoranpopulation brauchen. Das ist zuerst einmal sehr zu begrüßen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Warum ein bundesweites Kormoranmanagement notwendig ist, sollte heute mittlerweile bekannt sein; die
Argumente dafür haben wir bereits Anfang April im Plenum ausgetauscht. Zwei regionale Beispiele aus der
jüngsten Zeit möchte ich aber hier noch einmal anführen. In den Gewässern Südsachsens ist der Bestand an
Äschen 2010 auf 7 Prozent der Bestandes des Jahres
2001 reduziert worden, das hat eine Auswertung der
Fangmeldungen ergeben. Und in Brandenburg sinkt
nicht nur die Menge an produziertem Fisch, auch die Arbeitsplätze nehmen ab, und immer weniger junge Menschen sehen in der Fischereiwirtschaft eine Zukunftsperspektive. Die kommerzielle Fischerei stellt wie auch die
Freizeitfischerei und der damit verbundene Tourismus
gerade im Osten der Republik große Entwicklungspotenziale dar. Wenn wir die nicht mehr von der Natur
zu kompensierenden, von Kormoranen verursachten
Schäden sowohl in den Flüssen als auch in den Seen und
Teichwirtschaften nicht begrenzen, vergeben wir dieses
Potenzial und entscheiden uns gegen regionale Wirtschaftskreisläufe, regionale Produktion und regionalen
Tourismus. Das kann doch niemand ernsthaft wollen,
erst recht nicht die Grünen, bei denen diese Schlagworte
in jeder zweiten Broschüre zu finden sind. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, hätten beim
Kormoranmanagement einmal die Chance, zu widerlegen, dass Sie sich bei Ihrer Artenschutzpolitik an der optischen Attraktivität von Tieren orientieren. Mit Ihrer
Einstellung könnten Sie einen Zoo leiten, aber vom Artenschutz sollte man mit dieser Einstellung die Finger
lassen. Denn Artenschutz endet nicht an der Wasseroberfläche.
Wir sind uns offenbar einig, was die Regulierung des
Kormoranbestandes zum Beispiel durch Maßnahmen
zur Steuerung der Reproduktion angeht. Wir fordern die
Einhaltung der EU-Wasserrahmenrichtlinie sowie die
Gleichwertigkeit von Arten unter und über Wasser. Die
Kollegin Stauche hat ja in ihrer Rede zum Kormoranantrag der Linken gesagt, ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement müsse an die Realität angepasst
werden. Das, finde ich, ist eine richtige Aussage. Deshalb finde ich es auch gut, dass Sie sich an unserem realistischen Konzept ausgerichtet haben.
Auch wenn die Richtung Ihres Antrags grundsätzlich
richtig ist, bleibt er dennoch in einigen Punkten hinter
unserem zurück, zum einen bei den Partnerinnen und
Partnern, mit denen ein Management des Kormoranbestandes entwickelt wird. Sie nennen hier nur die Bundesländer. Deren Zuständigkeitsbereiche sind gerade in
diesem Bereich klar, und deshalb ist die Entwicklung
und Koordinierung von Maßnahmen mit den Ländern
eine Selbstverständlichkeit. Wir fordern in unserem Antrag die Beteiligung von Fischerei-, Naturschutz- und
Angelverbänden an der Planung und vor allem auch an
der Zielsetzung eines Kormoranmanagements. Bevor
wir mit einem Management beginnen, muss doch erst
einmal geklärt werden, wie hoch eigentlich das Bestandsziel beim Kormoran sein sollte. Darüber gibt es
seit Jahren fachliche, aber eben auch sehr emotional geführte Diskussionen; das dürfte auch Union und FDP
nicht entgangen sein. Die Einbeziehung der betroffenen
Interessenverbände soll nicht nur wegen des Sachverstands von Fischern und Naturschützern geschehen,
sondern auch, um alle Beteiligten in ein Boot zu holen
und am Ende einen Konsens zu erreichen. In Dänemark
hat dies geklappt, vielleicht schaffen wir es in der Bundesrepublik auch.
Zum Zweiten fehlt es bei Ihnen an einer Entschädigungsregelung für betroffene Fischereiberechtigte und
Teichwirte. Klar können Sie sagen, das ist Sache der
Länder. Aber das sind die Kormoranverordnungen auch,
die Sie harmonisieren wollen - auf einem guten Niveau,
hoffe ich, und nicht auf dem kleinsten gemeinsamen
Nenner. Es gilt hier für alle, an einem Strang zu ziehen
und dafür zu sorgen, dass es überhaupt einmal in allen
Ländern Entschädigungszahlungen gibt, die sich an vergleichbaren Kriterien orientieren.
Und drittens hätte ich mich gefreut, wenn Sie unseren
Vorschlag eines grenzübergreifenden Kormoranmanagements im Ostseeraum als ersten Schritt zu einem
europäischen Kormoranmanagement auch übernommen
hätten. Das könnte man als Ergänzung ja noch aufnehmen.
In unserer Debatte im April habe ich deutlich gemacht, dass die Linke zu einem konstruktiven Dialog bereit ist, um über die Parteigrenzen hinweg konkrete Lösungen für den Artenschutz, für die Fischerei und für
über 3 Millionen Anglerinnen und Angler in der Bundesrepublik zu finden. Im Gegensatz zu Ihnen bewerten wir
Anträge am Inhalt - und nicht daran, wer sie verfasst
hat. Ich fordere Sie auf, sich bei den zukünftigen Beratungen ebenso offen für eine gemeinsames Vorgehen in
dieser Sache zu zeigen. Und ich hoffe sehr, dass Ihr Antrag nach dieser ersten Lesung nicht wieder für Monate
in den Schubladen verschwindet, sondern zügig mit
Maßnahmen begonnen werden kann. An uns wird es
nicht scheitern.
Zum Schluss möchte ich noch denjenigen danken, die
trotz erheblicher Rückschläge immer daran festgehalten
haben, die Artenvielfalt in den Gewässern zu erhalten.
Ohne die Besatzmaßnahmen der Fischerei und der Anglerverbände müssten wir heute von vielen Fischarten in
der Vergangenheitsform reden. Diesem unermüdlichen
Einsatz gilt unser voller Respekt.
Der Koalitionsantrag zum Fischartenschutz und zum
Kormoranmanagement ist ein Etikettenschwindel; denn
in ihm geht es weder um einen umfassenden Fischartenschutz noch um ein planvolles Kormoranmanagement.
Er fordert schlicht eine ziellose Dezimierung der Kormoranbestände, ohne dass populationsökologisch überhaupt ermittelt werden soll, was denn eine tragbare Bestandsgröße überhaupt wäre, die sowohl den Erhalt der
Kormoranbestände als auch der zu schützenden Fischarten gewährleistet. Das aber müsste Ausgangspunkt eines Kormoranmanagements sein. Dass die Regierungsfraktionen eine solche Bedingung aber nicht einmal
formulieren, spricht Bände.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag wird in seiner Armseligkeit aber auch
sonst davon geprägt, was er an Fakten und Sachverhalten weglässt. So liefert er zum Beispiel keinerlei Analyse
der europäischen und der deutschen Rechtslage, die nun
einmal der Rahmen für die geforderten Eingriffe in die
Kormoranpopulation ist. Die Antragsteller verschließen
die Augen vor den Grenzen, die das Europarecht und
auch das Bundesrecht Eingriffen in die Kormoranpopulationen setzt. Die von Ihnen geforderten Maßnahmen
- eine schrittweise Verminderung des Brutvogelbestandes auf ein unbestimmtes Niveau und eine grundsätzliche
Verhinderung von Neugründungen von Kormorankolonien - sind so jedenfalls nicht erlaubt. Rechtskonforme
Vorschläge zu wirksamen Eingriffen in die Kormoranpopulationen, die den Zweck des Fischartenschutzes erfüllen, ohne Kollateralschäden an anderen geschützten
Arten zu verursachen, finden sich in diesem Koalitionsantrag nicht.
Da aber aus dem Antrag nicht ersichtlich ist, dass
eine Rechtsänderung angestrebt wird, wird es bei dem
bleiben, was bereits heute möglich ist: bei Kormoranverordnungen der Bundesländer zur Abwehr fischwirtschaftlicher Schäden. Die Länder können diese unter
Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse im
Sinne eines effektiven Schutzes der betreffenden Binnenfischereibetriebe vor Schäden durch den Kormoran optimieren und harmonisieren, mehr aber auch nicht. Und
das müssten die Koalition eigentlich auch wissen.
Man kann sicherlich darüber diskutieren, ob eine
Ausweitung der Möglichkeit zu regional begrenzten Eingriffen zukünftig auch zum Schutz bestimmter natürlicher Gewässer und gefährdeter Arten sinnvoll ist, so wie
man vonseiten des Naturschutzes zu dem Schluss
kommen kann, dass in bestimmten Schutzgebieten die
Prädation durch bestimmte Beutegreifer für bestimmte
geschützte Arten ein Problem ist und deswegen regional
begrenzt in die Population dieser Beutegreifer eingegriffen werden sollte. Das EU-Recht dürfte dies erlauben.
Dabei muss aber gewährleistet sein, dass es weder für
den Bestand des geschützten Kormorans noch für andere geschützte Arten erhebliche nachteilige Wirkungen
gibt. Wie das gewährleistet werden kann, damit befasst
sich der Antrag mit keinem Wort.
Aber der Antrag lässt noch mehr wichtige Fakten einfach weg. So wird zwar richtigerweise dargelegt, dass
zahlreiche Süßwasserfischarten in Europa und insbesondere in Deutschland gefährdet sind. Und das ist in
der Tat ein Problem, das die Politik anpacken muss. Als
Grund für diese Gefährdung wird aber nur ein einziger
genannt: die gewachsenen Bestände des Kormorans.
Das ist von atemberaubender Schlichtheit. Dass diese
Gefährdung auch etwas damit zu tun hat, dass ein Großteil unserer Gewässer stark verbaut, begradigt und
durch eine Kaskade von Staustufen inklusive Wasserkraftwerken beeinträchtigt sind, davon erfährt man genauso wenig wie über die Rolle von Gewässerbelastungen und Überdüngung der Gewässer durch nach wie vor
sehr hohe Stickstoffüberschüsse in der Landwirtschaft.
Entsprechende Gegenmaßnahmen fehlen folglich. Der
monokausale Ansatz, der uns hier von der Koalition vorgelegt wird, ist selbst dann inakzeptabel, wenn man zu
dem Ergebnis kommt, dass die Kormoranbestände tatsächlich ein Teil des Problems beim Fischartenschutz
sind, worüber sich der Naturschutz keinesfalls einig ist
und wofür der Antrag Belege schuldig bleibt.
Zusammengefasst ist festzuhalten: Die Koalition tut
so, als könnten der Bund, die Länder und die EU im
Rahmen des geltenden Rechts die Kormoranbestände
dezimieren. Damit täuscht und verschaukelt sie die vielen Fischer und Angler, die Hoffnungen auf sie gesetzt
haben, und weckt Erwartungen, die absehbar nicht erfüllt werden können. Mit diesem Antrag ist klar, dass von
den vollmundigen Versprechungen der FDP und der
schwarz-gelben Koalition an die Fischer und Angler in
Sachen Kormoran auch weiterhin rein gar nichts in die
Tat umgesetzt werden wird. Der Antrag ist ein reiner
Schaufensterantrag zur Beruhigung von Fischern und
Anglern, denen FDP und Union vollmundig Wahlversprechen gemacht haben. Das ist aber eine Rechnung,
die nicht aufgehen wird.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7352 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung
des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
- Drucksache 17/7334 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Stefan Kaufmann, Swen Schulz, Patrick Meinhardt,
Nicole Gohlke, Kai Gehring und Helge Braun.
Heute beraten wir in erster Lesung das Vierundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Hintergrund ist eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom Juni diesen Jahres, derzufolge Absolventen von Studiengängen mit Mindeststudienzeiten bei der Gewährung eines Teilerlasses nicht
benachteiligt werden dürfen. Diese Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts werden wir jetzt fristgerecht
umsetzen. Darum geht es, meine Damen und Herren,
und um nichts anderes!
Noch einmal zum Verständnis: Bei einem Studienabschluss vier Monate vor Ablauf der Förderungshöchstdauer bekommen die Studenten einen großen Teilerlass,
bei einem Abschluss zwei Monate vor Ablauf der Förderungshöchstdauer einen kleinen Teilerlass. Im vorliegenden Fall hatte ein Medizinstudent aus Thüringen
Verfassungsbeschwerde eingereicht. Er hatte in den
90er-Jahren BAföG bekommen und sein Studium zügig
beendet. Genau wie seine ostdeutschen Kommilitonen
hatte er jedoch keine Chance auf den großen Teilerlass.
Während die Förderungshöchstdauer in Medizin in den
alten Bundesländern noch bis 1993 bei 13 Semestern
und die Mindeststudienzeit bei 12 Semestern lag, betrug
die Förderungshöchstdauer in den neuen Bundesländern 12 Semester und 3 Monate bei identischer Mindeststudienzeit. Somit konnte der Medizinstudent aus
Thüringen gar nicht vier Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer sein Studium beenden und den großen
Teilerlass bekommen. Der Student hatte sein Studium
nach 12 Semestern und einem Monat abgeschlossen,
also zwei Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer
in den neuen Bundesländern. Folglich wurde dem Studenten nur der kleine Teilerlass von 2 000 DM gewährt.
In den alten Bundesländern hätte der Student sein Studium bei gleicher Studiendauer aber 5 Monate vor dem
Ende der Förderungshöchstdauer beendet und damit
den großen Teilerlass von 5 000 DM erhalten. Somit
wurde der Thüringer Medizinstudent einerseits gegenüber Studenten benachteiligt, in deren Fächer es keine
Mindeststudienzeit gibt, und andererseits gegenüber
Medizinstudenten aus den alten Bundesländern.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 21. Juni 2011 erklärt: „§ 18b Abs. 3 Satz 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz ist mit Art. 3 Abs. 1 GG
unvereinbar, soweit es Studierenden wegen Rechtsvorschriften zu einer Mindeststudienzeit einerseits und zur
Förderungshöchstdauer andererseits objektiv unmöglich ist, einen sogenannten großen Teilerlass zu erhalten.“ Das Bundesverfassungsgericht führt über den entschiedenen Fall hinaus aus, dass auch in allen anderen
nicht bestands- und rechtskräftigen bzw. zukünftigen
Fällen, in denen ein großer Teilerlass aufgrund objektiver Unmöglichkeit nicht erreicht werden kann, § 18 b
Abs. 3 BAföG nicht mehr angewendet werden darf. Mit
diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht
eine Regelung als zum Teil verfassungswidrig aufgehoben, die auch von der Regierungskoalition als ungeeignete Maßnahme zur Förderung besonderer Studienleistungen angesehen wurde, dies unter anderem gerade
wegen der zwischenzeitlich nicht mehr zu gewährleistenden Einzelfallgerechtigkeit. Dementsprechend wurde
bereits mit dem 23. BAföGÄndG im Jahre 2010 das Auslaufen dieser Regelung beschlossen. Aus Gründen des
Vertrauensschutzes für diejenigen Studierenden, die bereits mit Blick auf die Erreichung des Teilerlasses besondere Studienanstrengungen unternommen haben, wurde
eine Übergangszeit für das Auslaufen der angegriffenen
Regelung bis zum 31. Dezember 2012 beschlossen.
Dementsprechend betrifft die jetzige Neuregelung nur
die Übergangszeit bis Ende 2012. Zudem dürfte sie auch
nur in wenigen Fällen zum Zuge kommen, da die Deckelung der Rückzahlungssumme bei 10 000 Euro dem Teilerlass vorgeht. Abschließend wurde dem Gesetzgeber
vom Bundesverfassungsgericht aufgegeben, bis zum
31. Dezember 2011 die entsprechende Vorschrift verfassungskonform zu gestalten und die Darlehensteilerlasse
bei frühzeitigem Studienabschluss neu zu regeln.
Dieser Vorgabe kommen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf im Sinne der Betroffenen nach. Wir wollen sicherstellen, dass für die Übergangszeit kein Studierender
von vornherein allein deshalb von einem großen oder
kleinen Teilerlass nach §18b Abs. 3 Satz 1 und Satz 2
BAföG ausgeschlossen ist, weil ihm ein ausreichend
frühzeitiger Abschluss noch vor Ablauf der Förderungshöchstdauer durch das Zusammenspiel der Regelungen
über Mindeststudiendauer, Förderungshöchstdauer und
über den seiner Einflussnahme entzogenen Prüfungsablauf objektiv unmöglich gemacht wird. Dafür werden im
Gesetz rechtlich verbindlich vorgeschriebene Mindestausbildungszeiten einschließlich erforderlicher Prüfungszeiten bei der Gewährung eines Geschwindigkeitsteilerlasses nach § 18b Abs. 3 BAföG künftig nach den
Maßgaben der neuen Abs. 4 und 5 gesondert berücksichtigt.
Was passiert nun, wenn sich Prüfungszeiten an reine
Mindeststudienzeiten anschließen, die allein in einer
Rechtsvorschrift bestimmt sind, ohne dass dort auch die
gesamte Dauer der Mindestausbildungszeit ausdrücklich bestimmt wird? Dann werden diese Prüfungszeiten
zusätzlich mit der Dauer angesetzt, die in diesen Studiengängen für einen erfolgreichen Studienabschluss
auch noch nach Ablauf der Mindeststudienzeit regelmäßig erforderlich ist. In diesen Fällen bemisst sich die für
den Teilerlass zusätzlich maßgebliche Prüfungsdauer
unmittelbar nach der Rechtsvorschrift. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie beim Studium der Humanmedizin
- ein kalendarisch festgelegter Zeitraum bestimmt ist,
innerhalb dessen die Prüfungen abgenommen werden.
Zu regeln sind auch Studiengänge, in denen trotz geregelter Mindeststudienzeit die Dauer der Prüfungszeit
noch nach Ablauf der Mindeststudienzeit zusätzlich anzusetzen ist. Kann die Prüfungszeit nicht unmittelbar
aus der maßgeblichen Regelung entnommen werden, so
wird für die Teilerlassberechtigung pauschal eine
dreimonatige Prüfungszeit als erforderlich vermutet.
Diese drei Monate werden zudem zusätzlich zur Mindeststudienzeit der Erlassentscheidung als insgesamt
maßgebliche Mindestausbildungszeit zugrunde gelegt.
Somit ist kein Studierender mehr allein deshalb von einem großen Teilerlass nach § 18b Abs. 3 BAföG ausgeschlossen, weil ihm ein frühzeitigerer Abschluss noch
vor Ablauf der Förderungshöchstdauer objektiv unmöglich gemacht wird. Dementsprechend kommt die CDU/
CSU-Fraktion mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nach und
schließt eine bestehende Ungerechtigkeitslücke.
Forderungen der Opposition nach Aktionismus und
größeren Änderungen in der BAföG-Gesetzgebung sind
auch vor dem Hintergrund der rot-grünen BAföG-Bilanz
von 1998 bis 2005 absolut unglaubwürdig. Hier werden
wir weiter auf rot-grün oder rot-rot regierte Bundesländer warten, die sich im Bundesrat für BAföG-Erhöhungen starkmachen. Weitergehende Diskussionen über das
BAföG werden wir im nächsten Jahr nach dem Vorliegen
des nächsten BAföG-Berichtes führen.
Mit großer Freude feiern wir in diesem Jahr das
40-jährige Bestehen des BAföG. Das BAföG - es ist und
bleibt eine große Erfolgsgeschichte. 1971 unter Bundeskanzler Willy Brandt eingeführt, ermöglicht dieses
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
Gesetz, dass sich Millionen von Menschen ein Studium
leisten konnten und bis heute können. Auch Bundesministerin Schavan hat zu den Feierlichkeiten öffentlich
bekundet, dass für sie das BAföG eine für das Studium
ermutigende Rolle gespielt hat. Das Entscheidende für
den Erfolg ist dabei der Rechtsanspruch. Alle, die finanzielle Hilfe benötigen, können sich darauf verlassen,
dass sie etwas erhalten, und ausrechnen, was sie erhalten. So konnte 40 Jahre lang erfolgreich Gerechtigkeit in
der Studienförderung organisiert werden. Und damit das
so bleibt, muss das BAföG ständig weiterentwickelt und
aktuellen Erfordernissen angepasst werden.
Nun könnte man meinen, die Regierungskoalition
hätte dies erkannt. Dann schaut man aber auf dieses
24. BAföG-Novellierungsgesetz und findet nichts weiter
als das formell Gebotene. Lediglich die Teilerlassregelung, die das Bundesverfassungsgericht teilweise als
verfassungswidrig erklärt hat, wird korrigiert. Sonst
nichts, sonst bleibt alles beim Alten. Das also ist das Geschenk der Koalition zum 40. Geburtstag. Da erlebt die
Geburtstagsfeier eher verzogene Gesichter. Sie haben
sich bei der Auswahl des Geschenkes augenscheinlich
nicht wirklich Mühe gegeben. Das Ergebnis ist eine
bunte Geschenkverpackung mit leerem Inhalt.
CDU/CSU und FDP wissen selber, dass - wenn man
schon eine Änderung des Gesetzes durchführt - noch einige bekannte Problemstellen des BAföG-Gesetzes zusätzlich hätten aufgegriffen werden können. Politik heißt
nicht nur verwalten, Politik heißt auch gestalten. Nicht
nur wir als Oppositionspartei, auch die Sachverständigen und Experten haben im vergangenen Jahr mehrfach
darauf hingewiesen, dass die 23. BAföG-Novelle nicht
ausreichend ist und das Ziel, mehr betroffenen Menschen ein Studium zu ermöglichen, nicht zufriedenstellend erreicht wird. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Änderung des BAföG-Gesetzes ist durch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unweigerlich notwendig, ohne Frage. Von einer Regierungskoalition hätte ich - und vor allem Hunderttausende Studierende ebenso - nach aller Kritik und konstruktiven
Vorschlägen aber deutlich mehr erwartetet. Was die Koalition stattdessen tagtäglich in der Hochschulpolitik
treibt, bleibt ein Marathon der Ankündigungen, bei dem
aber anschließend die Ziellinie nie erreicht wird und
Chancen vertan werden.
Bei allen Erfolgen des BAföG: Noch immer hindern
finanzielle Gründe Menschen daran, ein Studium aufzunehmen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind uns
dessen klar; denn wir verstehen Bildung als ein Menschenrecht, und nicht als Privileg. Wir haben das bereits
im vergangenen Jahr mit einem umfassenden Antrag deutlich gemacht. Wir wollen, dass für jeden Einzelnen und
jede Einzelne der bestmögliche Bildungsabschluss möglich ist, unabhängig von den finanziellen Voraussetzungen
der Eltern. Was uns dagegen als 24. BAföG-Novellierung
angeboten wird, ist schlicht lustlos und unzureichend. Dabei liegen die Handlungsfelder offensichtlich auf der
Hand. Einerseits sind wir an der Hochschule heute mit unterschiedlichsten Bildungsbiografien konfrontiert. Der geradlinige Weg vom Abitur zum Studium zum Abschluss ist
nicht mehr selbstverständlich. Hinzu kommen neue Herausforderungen durch Studierende mit Kind, Studierende,
die Angehörige pflegen, Teilzeitstudierende oder Studierende mit berufsbegleitendem Studium.
Zudem haben wir mit Bachelor und Master nun zwei
mögliche Studienphasen etabliert, in denen sowohl ein
konsekutiver Übergang als auch zeitversetztes Masterstudium möglich sind. Daraus entstehen neue Lücken
während des Studiums als auch neue Varianten. Das bisherige BAföG aber gibt auf diese veränderten Rahmenbedingungen keine ausreichende Antwort. Wo sind in
dieser BAföG-Novelle Anpassungen an Teilzeitstudierende? Wo sind die Anpassungen an das neue gestufte
Studiensystem? Wo ist das BAföG, das genauso flexibel
einsetzbar ist, wie Sie es von den Studierenden erwarten? Nichts davon findet sich in diesem Gesetz.
Auch für individuellen oder zeitlich begrenzten finanziellen Bedarf haben Sie, liebe Regierungskoalition,
keine Antworten im BAföG-Gesetz. Noch immer fallen
etliche Studierende durch das BAföG-Netz, da das Einkommen ihrer Eltern nicht groß ist, aber knapp an der
Grenze liegt. Dieses sogenannte Mittelstandsloch führt
dazu, dass diese entweder gar keine oder nur eine geringere Finanzierung erhalten. Wer sich zudem während
des Studiums ehrenamtlich betätigt oder sich für Auslandssemester entschieden hat, kommt beim Studienabschluss schnell in finanzielle Nöte, da dann oftmals auch
die Erwerbsarbeit zurückgefahren werden muss. Was
haben Sie diesen Studierenden zu bieten?
Wir haben auf diese akuten Probleme reagiert und bereits im letzten Jahr Antworten präsentiert. Wir schlagen
eine weitere Erhöhung der Freibeträge um 7 Prozent und
der Förderbeträge um 1 Prozent sowie eine zweite Einkommensgrenze mit einem Nullzinsdarlehen vor. Damit
wollen wir die Lücke weiter schließen und eine flexiblere
Förderung in breite Bevölkerungsschichten hinein eröffnen. Wir wollen auf die neuen Herausforderungen der
neuen Studienstruktur reagieren und das BAföG den
neuen Rahmenbedingungen anpassen. Dazu zählen Änderungen für ein flexibleres BAföG, das die Vielfalt individueller Bildungsbiografien stärker berücksichtigt.
Um Studierende in der Studienabschlussphase nicht
in akute Geldnöte und somit zwangsweise in Kreditprogramme zu drängen, wollen wir die Förderhöchstdauer
auf bis zu zwei Semester über der Regelstudienzeit anheben. Auch für die Pflege von Angehörigen wollen wir
eine Verlängerung der Bezugsdauer ermöglichen. Dazu
zählt auch die Anerkennung einer Schwangerschaft sowie die Erziehung von Kindern künftig bis zum 14. Lebensjahr statt wie bisher bis zum 10. Lebensjahr. Das
alles nennt man Flexibilisierung und Familienfreundlichkeit des BAföG. Was hat die Koalition diesen Menschen anzubieten?
Jetzt wäre auch für Sie die Gelegenheit gewesen, Versäumnisse aus dem letzten Jahr gutzumachen. Es war
Zeit genug, um über unsere konstruktiven Vorschläge
nachzudenken, auch über die Verbesserungsvorschläge
der Sachverständigen und Experten. Von der Koalition
aber kommt leider nichts. Sie schweigt sich in ihrem Gesetzentwurf zu diesen Themen aus und lässt damit die
Betroffenen erneut im Stich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({1})
Ich lade herzlich dazu ein, alle damals diskutierten
Vorschläge noch einmal intensiv durchzugehen. Da stehen zahlreiche weitere Vorschläge drin, die auch dieser
„Novelle“ gut zugestanden hätten.
Wir dagegen wollen kurz- und mittelfristige Verbesserungen, die den jetzigen Studierenden und Studieninteressierten eine starke und flexible BAföG-Förderung
anbietet und auf individuelle Bildungswege und Herausforderungen während des Studiums adäquat eingeht.
Damit machen wir das BAföG weiter zukunftsfest. Wer
jedoch Zukunft gestalten will - und das sollte eigentlich
auch der Wunsch der Regierungskoalition sein -, der
darf an diesem Punkt nicht verharren. Wir machen uns
deshalb bereits heute Gedanken darüber, wie das BAföG
zukünftig als flexibles und angepasstes Finanzierungsmodell unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenswegen Rechnung tragen, neue gesellschaftliche und berufliche Herausforderungen angemessen berücksichtigen
und durch mutige Schritte eines sozialen und gerechten
Bildungsfinanzierungssystems dem drohenden Fachkräftemangel und den gestiegenen Bildungsanforderungen unserer Gesellschaft erfolgreich begegnen kann.
Die Regierungskoalition hat weder Antworten auf die
heutigen Probleme und Herausforderungen noch den nötigen Weitblick für die Fragen der Zukunft. Stattdessen
klammert sie sich weiterhin an ihr Nationales Stipendienprogramm, das bislang als gescheitert angesehen werden
kann, und nutzt das BAföG nur noch als Alibiveranstaltung. Dieser Entwurf zum 24. BAföG-Änderungsgesetz ist
der beste Beweis dafür. Aber es ist ja nicht zu spät. Wir
machen der Koalition einen konstruktiven Vorschlag: Wir
klammern bei dieser Novelle alle politisch besonders
kontroversen Themen aus und konzentrieren uns auf die
wichtigsten organisatorisch-technischen Fragen. Dazu
gehört ganz sicher der BAföG-Bezug beim Übergang
vom Bachelor in den Master, aber auch die Frage des
Umganges mit Studierenden mit Kindern und mit pflegebedürftigen Angehörigen. Darüber hinaus gibt es einige
Punkte hinsichtlich der Vereinfachung der Verfahren.
Wenn wir uns zusammensetzen, finden wir sicher gemeinsam einige Punkte, die wir im Interesse der Studierenden verbessern können. Ich setze darauf, dass die
Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP bei
den Beratungen dieses Gesetzes offen für eine solche
Debatte sind und nicht nur einfach den Gesetzentwurf
durchwinken.
Das Bundesverfassungsgericht hat beim Teilerlass
zum BAföG eine Entscheidung gefällt, die Koalitionsfraktionen haben schnell gehandelt, und jetzt liegt der
Gesetzentwurf vor. Die FDP-Fraktion hat dieses Urteil
gleich begrüßt. Es schließt eine Gerechtigkeitslücke.
Der heutige Gesetzentwurf setzt dieses um. Deswegen
sollten in diesem Hohen Haus auch alle zustimmen. Wir
müssen jetzt einen zeitlichen Korridor schließen und
rechtliche Sicherheit einräumen für circa 1100 Personen.
Bei der umfassenden BAföG-Modernisierung des vergangenen Jahres war auch dieser Teilerlass schon Gegenstand und ist ab 1. Januar 2013 ohnehin außer Kraft
gesetzt. Hier haben die Regierungsfraktionen schon umsichtig und vorausschauend gehandelt. Gerade deshalb
haben wir auch bereits im dem 23. BAföG-Änderungsgesetz eine Neuregelung der sogenannten großen Förderungshöchstdauer vorgesehen.
Dies zeigt, dass diese Koalition konsequent daran arbeitet, die Ausbildungsförderung in Deutschland noch
moderner, noch gerechter und noch effizienter zu gestalten. Als eine der führenden Wirtschafts- und Wissenschaftsnationen müssen wir alles daran setzen, dass unsere jungen Menschen beste Voraussetzungen für ihre
schulische, universitäre und berufliche Ausbildung haben. Und genau dies ist das Ziel dieser Koalition der
Mitte.
Deshalb haben wir bereits lange vor dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts dafür gesorgt, dass der Widerspruch zwischen Förderhöchstdauer und Regelungen
zur Mindeststudienzeit ausgeräumt wird. Wir hatten dies
für die Zeit nach dem 31. Dezember 2012 vorgesehen,
werden diese Regelung nun aber vorziehen und entsprechend dem Urteil bis zum 31. Dezember 2011 umsetzen.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
bestätigt in erster Linie die Bundesregierung in ihrer
Politik für mehr Gerechtigkeit und mehr Fairness bei
der Studienfinanzierung in Deutschland. Und das ist das
gute Signal, das von diesem Urteil ausgeht.
Wir beenden mit diesem Änderungsgesetz einen inakzeptablen Zustand bei dem durch das Zusammenkommen
von Regelungen zur Mindeststudiendauer und Förderungshöchstdauer Studierenden ein wirklicher finanzieller Nachteil entsteht, ohne dass dies im Bereich der eigenen Einflussnahme liegt. Dies ist eine Frage der
Gerechtigkeit, aber auch des Anstandes gegenüber unseren Studierenden.
Dabei war es für dieses Koalition wichtig, keine zusätzlichen bürokratischen Belastungen für die Verwaltungen der Hochschulen oder für das Bundesverwaltungsamt zu schaffen. Wir orientieren uns deshalb an
den vorgesehenen Mindestausbildungszeiten und den
eventuell notwendigen Prüfungszeiten, sodass zukünftig
alle Studierenden die Chance erhalten, den sogenannten
großen Teilerlass zu erhalten. Damit fördern wir Leistung, schaffen mehr Gerechtigkeit und verhindern neue
bürokratische Strukturen.
Wir alle sind uns sicher einig, dass sich das BAföG
als zentrales Element der breiten Bildungsförderung bewährt hat. Es garantiert Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und ist somit eine wesentliche Säule für
mehr soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Daneben haben wir dank der großartigen Arbeit der Begabtenförderungswerke eine weitere wichtige Ergänzung insbesondere im Bereich der Spitzenförderung bei
Akademikerinnen und Akademikern. Ein moderner und
wettbewerbsstarker Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort braucht auch eine lebendige Stipendienkultur.
Die deutsche Wirtschaft hat bereits eigene Stipendien
zur Verfügung gestellt. Dies ist ein gutes Zeichen für das
gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein der UnterZu Protokoll gegebene Reden
nehmen und Verbände in Deutschland. Es zeigt aber
auch, dass eine führende Wirtschaftsnation wie Deutschland auf die Förderung von außergewöhnlicher Leistung
und Einsatzbereitschaft angewiesen ist.
Und genau deshalb ist es für uns auch selbstverständlich, dass wir eine entsprechende Förderung auch von
staatlicher Seite benötigen. Mit dem Deutschlandstipendium haben wir deshalb den richtigen Weg eingeschlagen, um für unser Land eine moderne und zukunftsweisende Stipendienkultur zu schaffen - wie dies in anderen
Industrienationen längst der Fall ist. Ein Stipendium
während des Studiums ist ohnehin der bessere Weg als
der, einen Teilerlass im Nachgang zu gewähren.
Mehr Gerechtigkeit, weniger Bürokratie und mehr
Leistungsfähigkeit - dies sind unsere Grundsätze für die
Bildungsförderung in Deutschland. Wir stärken damit
den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland, wir stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt,
und wir stärken die Zukunftschancen der nachfolgenden
Generationen.
Pünktlich zum 40. Geburtstag des BAföG ließ Bildungsministerin Schavan vermelden, dass in diesem
Jahr mit keiner weiteren Änderung des BAföG zu rechnen sei. Die magere BAföG-Erhöhung im Jahr 2010 sei
ein „vorgezogenes Geburtstagsgeschenk“ gewesen.
Ministerin Schavan gibt damit das BAföG dem Verfall
preis. Denn faktisch haben die BAföG-Erhöhungen der
letzten Jahre nicht einmal die Preissteigerung ausgeglichen. Wenn das BAföG nicht weiter steigt, bedeutet das
eine reale Schrumpfung. Ministerin Schavans gleichzeitiger Hinweis auf Darlehen ist eine höflich verpackte,
aber umso zynischere Aufforderung an die Studierenden,
sich zu verschulden.
Das ist gerade einmal sieben Wochen her. Überraschenderweise liegt uns heute jedoch ein 24. BAföG-Änderungsgesetz zur Debatte vor. Obwohl die Bundesregierung hier den anstrengenden Weg der parlamentarischen
Verhandlung geht, verpasst sie wieder einmal die Gelegenheit für weitere notwendige Änderungen.
Unser Antrag „40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiterentwicklung nutzen“ liegt Ihnen vor. Hierin
benennen wir, wie das BAföG zu einer modernen und vor
allem sozialen Ausbildungsfinanzierung weiterentwickelt werden kann. Sie wissen, es klafft eine Finanzierungslücke von mindestens 10 Prozent. Zwei Drittel der
Studierenden arbeiten deshalb neben dem Studium.
Diese Kluft muss dringend geschlossen werden. Das
BAföG muss sofort um 10 Prozent angehoben werden.
Die Umstellung auf eine Zuschussförderung ist zudem
überfällig und verhindert die Verschuldung der Studierenden. Die Angst vor Verschuldung hält vor allem Studieninteressierte aus finanzschwachen Schichten von
den Hochschulen fern.
Es muss klar sein, dass sich alle Studierenden auch
ein Masterstudium leisten können. Stellen Sie endlich
die komplette Masterförderfähigkeit sicher. Die diskriminierenden Altersgrenzen von 30 bzw. 35 Lebensjahren
müssen fallen. Sie stellen vor allem für Menschen ein
Hindernis dar, die im Anschluss an eine Berufsausbildung, an Jahre der Berufstätigkeit oder an eine Familienphase studieren oder sich weiterbilden möchten oder
die die Hochschulzugangsberechtigung anders als auf
dem traditionellen Weg erworben haben. Also genau die
Gruppen, die es besonders zu fördern gilt. In diesem Zusammenhang dürfen auch Studierende, Schülerinnen
und Schüler in Teilzeit nicht generell von einer Förderung ausgeschlossen werden. Ich nenne als Beispiel nur
die Psychotherapeutenausbildung.
Schülerinnen und Schüler aus bildungsbenachteiligten Schichten müssen früh und durchgängig gefördert
werden. Sie sind besonders auf eine verlässliche Ausbildungsförderung angewiesen. Dementsprechend soll das
BAföG für Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe
allgemeinbildender Schulen wieder vollständig eingeführt werden.
Aus unserer BAföG-Debatte von Anfang September
wissen wir schon, dass sich weder die Bundesregierung
noch die Koalitionsfraktionen aus FDP und CDU/CSU
einen Meter bewegen wollen. Warum aber wollen die
Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung nur das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Darlehensteilerlässen umsetzen? Das ist doch absurd.
Sie hätten die Gelegenheit, endlich auch handwerkliche Fehler im BAföG zu beseitigen. Ich nenne Ihnen
zwei Beispiele:
Erstens die Unterdeckelung des Kranken- und Pflegeversicherungszuschlags: Eigentlich müsste es selbstverständlich sein, schließlich handelt es sich um einen gesetzlich festgelegten Pflichtbeitrag und nicht um eine
Ausgabe, deren Höhe man durch Nutzung der Angebote
am Markt selbst bestimmen kann. Seit dem Beginn des
Sommersemesters 2011 - an den Fachhochschulen begann es im März, an den Unis im April - beträgt der Beitrag für die studentische Pflichtversicherung 64,77 Euro,
für die Pflegeversicherung von kinderlosen Personen ab
23 Jahren 13,13 Euro. Im BAföG ist jedoch nur ein Zuschlag von 62 Euro bzw. 11 Euro festgelegt. Das entspricht einer Unterdeckung von insgesamt 4,90 Euro pro
Monat.
Zweitens die Anrechnung eines Kfz als Vermögen: Bis
Ende 2010 wurde ein Kfz bis zum Wert von 7.500 Euro
im Verwaltungsvollzug des BAföG einfach als Haushaltsgegenstand angesehen, der nicht als Vermögen angerechnet wird. Im Juli 2010 hat das Bundesverwaltungsgericht geurteilt, dass eine solche Betrachtung im
BAföG nicht zulässig sei, da ein Kfz kein Haushaltsgegenstand ist. Da sie dieses Urteil nicht ignorieren dürfen, müssen die BAföG-Ämter seit Januar 2011 bei jeder
neuen Bewilligung den Zeitwert des Fahrzeugs als Vermögen mitanrechnen. Was damals in der Presse als lapidare Randmeldung erschien, dürfte in der Praxis für
manche BAföG-Bezieherinnen und -Bezieher zur Existenzfrage werden. Bessern Sie nach und fügen Sie in
§ 27 BAföG ein „angemessenes Kraftfahrzeug“ ein. Wer
bei BAföG-Geförderten stets nur Studierende mit Semesterticket in Ballungszentren und gut ausgebautem NahZu Protokoll gegebene Reden
verkehr vor Augen hat, vergisst, dass es auch Schülerinnen und Schüler sowie Studierende in der Fläche gibt.
„Leistung muss sich lohnen“ - dieser viel zitierte
Grundsatz ist auch Teil des BAföG. Viele Studierende,
die besonders schnell ihr Studium abgeschlossen oder
einen überdurchschnittlichen Studienerfolg erzielt haben, mussten den Darlehensteil des BAföG nicht komplett zurückzahlen. Den „großen Teilerlass“ erhält zum
Beispiel jemand, der das Studium vier Monate vor Ende
der Förderungshöchstdauer abschließt. Den „kleinen
Teilerlass“ gibt es, wenn die Ausbildung mindestens
zwei Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer abgeschlossen wurde. Allerdings waren die Darlehenserlasse aufgrund schnellen Studiums mit Ungerechtigkeiten verbunden, die die 24. BAföG-Novelle notwendig
machen. Am 21. Juni 2011 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass eine Neuregelung der Darlehensteilerlässe im BAföG erfolgen muss. Die jetzige Regelung sei nicht vereinbar mit dem Gleichheitssatz nach
Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Im Fall des klagenden
Studierenden der Humanmedizin, dem die Karlsruher
Richter recht gegeben haben, betrug die Mindeststudiendauer zwölf Semester, die Förderungshöchstdauer lag
aber nur bei zwölf Semestern und drei Monaten, sodass
es objektiv unmöglich war, den großen Teilerlass
- damals 5 000 DM - zu erhalten. Dem betroffenen Studenten wurde nur der „kleine Teilerlass“ in Höhe von
2 000 DM zuerkannt, da er sein Studium zwei Monate
vor Ablauf der Förderungshöchstdauer beendet hatte.
Mit der 24. BAföG-Novelle wird diese Ungerechtigkeit
gelöst, was wir als grüne Bundestagsfraktion begrüßen.
Die Wirkung dieser Novelle wird indes nur von begrenzter Dauer sein. Denn die Möglichkeit zum Darlehenserlass läuft zum 31. Dezember 2012 aus - so hat es
Schwarz-Gelb im letzten Jahr in der 23. BAföG-Novelle
beschlossen. An dieser Stelle beseitigen Union und FDP
im BAföG das Prinzip „Leistung muss sich lohnen“, obwohl sie doch stets gerne von sich behaupten, sie wären
die einzigen, die diesen Grundsatz beherzigen. Das Gegenteil ist der Fall. Das gilt vor allem, wenn man an die
anstehende Neuregelung zur Absetzbarkeit der Erstausbildung über das Steuerrecht denkt. Es ist zu befürchten,
dass Union und FDP eine Regelung vereinbaren nach
dem Motto „Je mehr jemand direkt nach dem Studium
verdient, desto höher die Steuerrückerstattung“. Das hat
mit Leistung während des Studiums nichts zu tun.
Wir wollen, dass die Ausbildungsförderung danach
ausgerichtet wird, wie bedürftig jemand zum Zeitpunkt
des Studiums ist. Nur so kann die staatliche Studienförderung dazu beitragen, dass mehr Studienberechtigte
aus einkommensschwachen Nichtakademikerhaushalten
an die Hochschulen gehen. Statt Schavans DeutschlandStipendien oder einer steuerlichen Absetzbarkeit nach
dem Studium brauchen wir eine breitere und bessere Studienfinanzierung während der Campuszeit. Wir wollen
das BAföG kurzfristig aufstocken, um den Berechtigtenkreis zu erweitern, und mittelfristig zu einem Zweisäulenmodell ausbauen. Eine solche Modernisierung der
staatlichen Studienfinanzierung schließt das Mittelschichtsloch, antwortet auf die Bologna-Struktur und
Vielfalt der Bildungsbiografien, setzt in Zeiten des Fachkräfte- und Akademikermangels einen starken Studienanreiz und ermöglicht mehr Bildungsaufstiege. Nach
dieser Minireparaturnovelle braucht es in diesem Haus
eine Perspektivendiskussion über eine zukunftsfähige
Studienfinanzierung und beherzte BAföG-Reformen, die
zu mehr Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit führen.
Das BAföG wird in diesem Jahr 40 Jahre alt. Es ist
als bewährtes Sozialleistungsgesetz und nach wie vor
zentrales Bildungsfinanzierungsinstrument gerade erst
dank zweier vorangegangener wichtiger Novellen in
dichter Folge unter der Verantwortung von Bundesministerin Schavan gut aufgestellt worden.
Bereits 2008 haben wir mit dem 22. BAföGÄndG
nach jahrelangem Stillstand im staatlichen Ausbildungsförderungsengagement mittels einer erheblichen Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge und durch zentrale strukturelle Weichenstellungen vor allem in der
Auslandsförderung sowie durch eine integrationsfördernde Neuausrichtung und Ausweitung der Förderungsberechtigung von Auszubildenden aus Migrantenfamilien der Bildungsfinanzierung wieder ihren
zentralen Stellenwert zurückgegeben. Dies konnten wir
mit weiterem erheblichem finanziellem Engagement
2010 durch die 23. BAföG-Novelle nochmals vertiefen
und verstetigen.
Es wird allen hier im Hause noch deutlich in Erinnerung sein, welche Widerstände es für die Bundesregierung zu überwinden galt, bis Bund und Länder damit
nochmals insgesamt zusätzlich rund 500 Millionen Euro
jährlich für die Ausbildungsförderung bereitgestellt haben. So haben wir erreicht, dass der Förderungshöchstsatz mit jetzt 670 Euro wieder voll dem unterhaltsrechtlich maßgeblichen Regelsatz nach der sogenannten
Düsseldorfer Tabelle entspricht, wobei das BAföG ja bekanntlich zusätzlich noch den vollen Kindergeldbetrag
ohne Anrechnung belässt.
Der Kreis der Berechtigten wurde durch nochmalige
Anhebung der Einkommensgrenzen weiter gezogen und
vergrößert. Wir haben die Altersgrenze für Auszubildende mit Kinderbetreuungszeiten flexibilisiert und für
Masterstudierende generell angehoben. Damit haben
Studierende seither genügend Zeit, nach dem BachelorAbschluss zunächst einen unmittelbaren Eintritt ins Erwerbsleben zu versuchen, bevor sie sich auf eine weitere
Fortsetzung und Vertiefung ihres Studiums festlegen.
Zur Erleichterung des BAföG-Bezugs und zugleich
zur Vereinfachung der Verwaltung wurden die Wohnkosten voll pauschaliert, die Leistungsnachweise durch bloßen Nachweis der individuell erreichten ECTS-Leistungspunkte ermöglicht und bei Auslandsaufenthalten
der vorherige Nachweis hinreichender Sprachkenntnisse als Fördervoraussetzung abgeschafft.
Die Erfolge dieser kumulierten Verbesserungen konnten wir nicht nur bereits in der Ende Juli vom StatistiZu Protokoll gegebene Reden
schen Bundesamt bekanntgegebenen BAföG-Statistik
2010 ablesen, sondern dürfen diesen wohl auch den
deutlichen Wiederanstieg der Studienanfängerzahlen
und nicht zuletzt auch das wieder zurückgewonnene Vertrauen junger Menschen in staatliche Ausbildungsförderung zugutehalten.
Über die Gesamtentwicklung der für die Ausbildungsförderung relevanten Parameter wie der Entwicklung der Lebenshaltungskosten und Preisindizes einerseits und der Nettolöhne andererseits, aber auch der
Zusammensetzung der Gruppe der BAföG-Geförderten
und beobachtbaren Entwicklungen im Ausbildungsverhalten werden wir entsprechend dem gesetzlich in § 35
BAföG vorgesehenen Turnus als Bundesregierung dem
Bundestag und dem Bundesrat Anfang 2012 ausführlich
berichten. Dann werden wir unter Einbeziehung auch
der finanzwirtschaftlichen Entwicklung das gesamte
Datenbild kennen, das uns erst in den Stand versetzen
wird, verantwortlich über etwaigen weiteren Fortentwicklungs- und Anpassungsbedarf zu entscheiden. Im
Lichte der Empfehlungen des nächsten BAföG-Berichtes
und der darin enthaltenen Stellungnahme des BAföGBeirates werden wir über die weitere Fortentwicklung
des BAföG entscheiden.
Heute geht es mit dem 24. BAföG-Änderungsgesetz
nicht um eine grundsätzliche Novelle des BAföG, sondern einzig und allein um eine noch erforderlich gewordene Korrektur. Bekanntlich hat ja das Bundesverfassungsgericht mit seiner uns heute beschäftigenden
Entscheidung vom 21. Juni dieses Jahres die Teilerlassregelung im BAföG für Studienabsolventen in solchen
Studiengängen wie Humanmedizin für verfassungswidrig erklärt, in denen eine zwingend vorgeschriebene
Mindeststudienzeit von vornherein die Möglichkeit eines
hinreichend frühen Abschlusses ausschließt.
Gerade wegen völlig inhomogener Beschleunigungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Studiengängen ist
der Bundestag ja bereits letztes Jahr beim 23. BAföGÄnderungsgesetz dem Vorschlag der Bundesregierung
gefolgt, die Teilerlasse nach § 18 b Abs. 2 und 3 des
BAföG nach einer aus Vertrauensschutzgesichtspunkten
noch erforderlichen Übergangszeit für Absolventen ab
dem Jahr 2013 abzuschaffen.
Die Bundesregierung steht selbstverständlich zum
Grundsatz „Leistung muss sich lohnen“. Aber die Praxis dieses Teilerlasses hat leider gezeigt, dass diese Regelung dem Anspruch der Leistungsgerechtigkeit in der
Umsetzung nur sehr unvollkommen erfüllt hat.
In der Sache sieht sich die Bundesregierung durch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts daher bestätigt. Die Abschaffung des bisherigen Teilerlasses im
BAföG wurde verfassungsrechtlich in keiner Weise beanstandet. Für die noch bis einschließlich 2012 erfolgenden künftigen Abschlüsse muss zu den dazu folgenden Erlassentscheidungen gesetzlich gewährleistet
werden, dass niemand wegen der rechtlichen Ausgestaltung seines Studiengangs mit einer Mindestausbildungsdauer, die kaum kürzer bemessen ist als die gleichzeitig
geltende Regelstudienzeit, von der Gewährung eines
Teilerlasses von vornherein ausgeschlossen ist.
Die von der Koalition hierzu vorgeschlagene Neuregelung erfüllt mit Augenmaß die verfassungsrechtlichen
Korrekturvorgaben für den betroffenen begrenzten Personenkreis. In den Fällen, in denen Mindeststudienzeiten einschließlich erforderlicher Prüfungszeiten so nah
an die für denselben Studiengang gültige Regelstudienzeit und damit an die daran anknüpfende BAföG-Förderungshöchstdauer heranreichen, soll künftig die Einhaltung der Mindestausbildungszeit ausreichen, um den
sogenannten großen Teilerlass geltend zu machen.
Einige bedauern die Aufhebung des Teilerlasses und
fordern wieder eine Honorierung der Studienleistung im
BAföG ein. Nach eingehender Prüfung bin ich jedoch
zutiefst überzeugt, dass diese bisherige Regelung ungerecht war. Eine leicht umsetzbare, gerechtere Lösung
existiert nicht. Deshalb bleibt ganz im Sinne der Subsidiarität ein großer Zugewinn des zügigen Studiums übrig: Der schnelle Hochschulabsolvent belohnt sich selber mit der Chance auf eine frühzeitige Aufnahme einer
qualifizierten und damit gut bezahlten Erwerbstätigkeit.
Kernaufgabe des BAföG ist es, jungen Menschen mit
steuerfinanzierter Unterstützung während der Ausbildung einen qualifizierten Abschluss zu ermöglichen, damit sie später mit Rückzahlung des zinslosen und über
Jahre gestreckten nur hälftigen Darlehensanteils der
Gesellschaft etwas von der Förderung zurückgeben können. Die Teilerlassregelung kann angesichts der erheblichen Diversifizierung der Studiengänge mit höchst unterschiedlichen Beschleunigungspotenzialen nicht mehr
als Leistungsanreiz dienen.
Mit dem Deutschlandstipendium hingegen hat die
Koalition ein weitaus effektiveres und eben während des
Studiums selbst wirkendes Anreizinstrument geschaffen.
Es greift genau dann, wenn der Studierende es braucht,
und motiviert ihn zu größerem Engagement und besonderen Leistungen. Durch das Deutschlandstipendium
wurden seit dessen Start im Sommersemester bereits insgesamt 8,6 Millionen Euro an privaten Mitteln für Stipendien mobilisiert. Studierende werden dadurch ab sofort während des Studiums unterstützt. Schon jetzt hat es
sich damit als überaus wirksamer Anreiz für bürgerschaftliches Engagement im Bildungsbereich erwiesen.
Es ist und bleibt gerade eine der entscheidenden Errungenschaften dieser Regierung, dass wir das eine geschafft haben, ohne das andere zu lassen: ein Gesetz
zum Deutschlandstipendium und eine verlässliche Sicherung der Sozialleistung BAföG.
Die heute zur Diskussion stehende Korrektur wird sicherstellen, dass auch für die Übergangszeit, in der noch
Erlassentscheidungen zu treffen sind, kein Studierender
verfassungswidrig davon ausgeschlossen wird. Dazu bitte
ich daher auch für die Bundesregierung um Ihre Zustimmung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7334 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, DIE
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Investitionen in Antipersonenminen und
Streumunition gesetzlich verbieten und die
steuerliche Förderung beenden
- Drucksache 17/7339 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Folgende
Kolleginnen und Kollegen geben ihre Reden zu Proto-
koll: Roderich Kiesewetter, Erich Fritz, Uta Zapf,
Christoph Schnurr, Inge Höger und Agnes Malczak.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7339 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21 a und b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Süßmair, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert
Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Tiertransporte verringern - Tierschutz ver-
bessern
- Drucksache 17/6913 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Undine Kurth ({2}),
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz bei Tiertransporten verbessern
- Drucksachen 17/5491, 17/5892 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Hans-Michael Goldmann
Friedrich Ostendorff
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolle-
gen Dieter Stier, Heinz Paula, Hans-Michael Goldmann,
Alexander Süßmair und Friedrich Ostendorff.
1) Anlage 25
Mit diesen beiden heute vorliegenden und nahezu
identischen Anträgen fordern die Fraktionen der Linken
und von Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung
auf, sie möge für Tiertransporte auf EU-Ebene und innerhalb Deutschlands die derzeitigen Regelungen zu
den Tiertransportzeiten noch weiter begrenzen. Insbesondere sollen hier die Lebendtiertransporte nach Osteuropa und Russland wieder reduziert werden.
Die Linken fordern eine zeitliche Begrenzung auf vier
Stunden zuzüglich maximal zwei Stunden Ladezeit.
Die Tiertransportzeiten seien sowohl auf europäischer Ebene, als auch innerhalb Deutschlands einzuschränken, fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sie beabsichtigen eine Reduzierung auf acht Stunden innerhalb Europas und auf vier Stunden innerhalb
Deutschlands.
Darüber hinaus fordert die Linke-Fraktion die Schaffung eines dezentralen Netzes von Schlachthöfen, um
Transporte unnötig zu machen, und die Anhebung der
Mindesthöhe der Tiertransporter auf 4,20 Meter.
Ich habe es schon oft gesagt und ich werde es auch
immer wiederholen: Deutschland hat bereits die höchsten Tierschutzstandards auf der ganzen Welt.
Was die Tiertransporte angeht, setzt sich die Regierungskoalition selbstverständlich dafür ein, dass Tierschutz nicht am Stalltor aufhört. Gerade beim Ausstallen
und beim Transport ist auf optimale Bedingungen für die
Tiere zu achten. Eine gute und fachgerechte Ausstattung
der Transportfahrzeuge durch Futter, Wasser und gute
Klimatisierung sollte beim Transport den Erfordernissen der Tiere Rechnung tragen.
Vor der Sommerpause konnten die Bundestagsabgeordneten des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz an der Besichtigung eines Tiertransporters teilnehmen, so wie er täglich in Deutschland und Europa zum Einsatz kommt. In diesem Transporter konnte ich mich davon überzeugen, wie die
Wasser- und Futterversorgung und eine Klimaanlage mit
Luftzirkulation funktioniert. Auch die natürliche Bewegungsfreiheit der Tiere ist dort gewährleistet. Inzwischen
sind die Spezialfahrzeuge für den Langstreckentransport
mit Zwangsbelüftung ausgerüstet, damit gute Luftqualität überall im Transporter garantiert ist, um auch Hitzestress oder Unterkühlung der Transporttiere bei Verkehrsstaus sicher auszuschließen.
Letztlich entscheidend für das Wohlergehen der Tiere
sind das Verantwortungsbewusstsein und das Know-how
der Transporteure und der damit befassten Mitarbeiter.
Mit einer erstklassigen Ausbildung und der guten fachlichen Praxis der Transporteure können die tierschutzrelevanten Risiken beim Transport auf ein Minimum reduziert werden. Die Skandale in der Vergangenheit sind
ausschließlich bei grenzüberschreitenden Langstreckentransporten quer durch Europa aufgetreten, für die die
Regelungen in der nationalen Verordnung ohnehin nicht
gelten. Einige wenige schwarze Schafe der Branche dürfen nicht einen gesamten Berufszweig in Misskredit bringen.
Noch ein kleiner Nachtrag zum Vor-Ort-Termin im
Tiertransporter: Die Grünen-Bundestagsabgeordneten
des Agrarausschusses blieben dieser Informationsveranstaltung im Tiertransporter wiederholt fern. Ich hätte mir
gewünscht, dass die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen endlich die Chancen zur sachlichen Information wahrgenommen hätten, ehe sie Anträge zu diesen
Themen stellen.
Statt über Gesetzesänderungen zu Transportzeiten zu
diskutieren, welche die wirtschaftliche Freiheit der Unternehmer weiter einschränken würden, sollten wir vielmehr auf die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen
gemäß der EU-Transportverordnung und unserer nationalen Tierschutztransportverordnung drängen. Auf der
Basis der aktuellen Gesetzgebung und unter den Bedingungen der guten fachlichen Praxis wird der Tierschutz
eindeutig gewahrt. Verstöße dagegen sind konsequent zu
ahnden. Deshalb befürworten wir auch flächendeckende
Kontrollen und die Verbesserung des Vollzugs und bei
Verstößen die Anwendung der vorgesehenen Strafen und
Sanktionen.
Meiner Ansicht nach kann eine Verbesserung des
Tierschutzes durch eine höhere Kontrolldichte und harte
Sanktionen bei Verstößen erreicht werden. Hier liegt der
Hebel, um die schwarzen Schafe zu disziplinieren. Neue
Regelungen zu Transportzeiten bestrafen ungerechtfertigt die redlichen Spediteure - das wollen wir nicht.
Die betroffene Wirtschaft spricht sich eindeutig für
die Einhaltung der tierschutzrechtlichen Vorgaben aus.
Die Durchführung von Transporten erfolgt fast ausnahmslos mit hoher Sorgfalt und hohem Verantwortungsbewusstsein.
In den vergangenen Jahren hat die Branche erhebliche Investitionen erbracht, um die Transportfahrzeuge
an die technischen Anforderungen der Gesetzgebung
anzupassen. Die Branche sollte nun vonseiten des Gesetzgebers einen Vertrauens- und Bestandsschutz genießen, denn diese geforderten Modernisierungsmaßnahmen waren mit erheblichem finanziellen Aufwand für die
Spediteure verbunden, und dieses Geld wurde hart verdient. Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit auf EUEbene sind unnötige finanzielle Belastungen der Transporteure unbedingt weiterhin zu vermeiden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt die vorliegenden Anträge zur Begrenzung der Transportzeiten ab,
da ein Mehr an Tierschutz nicht durch eine Reduzierung
der Transportdauer erreicht wird, sondern nur durch die
konsequente Eliminierung der schwarzen Schafe.
Mit Sorge sehe ich die Bestrebungen deutscher Behörden, die Transportverordnung dahin gehend zu revidieren, dass die Mindestmaße für die Laderaumhöhe
ausgedehnt werden sollen. Ausgehend von der Gesamtfahrzeughöhe von 4 Metern würde sich so eine Erhöhung der Transporter auf 4,20 Meter ergeben. Damit
kann der Lkw unter einigen Brücken nicht mehr durchfahren. Ebenso könnten die Rindertransporte nur noch
einstöckig und die Schweinetransporte statt dreistöckig
nur noch doppelstöckig gefahren werden. Zudem gibt es
auch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse für
die Notwendigkeit einer Erhöhung der Laderaumhöhe
für die Tiere. Durch ein höheres Maß an Kopffreiheit
würde das gegenseitige Aufspringen der Tiere erleichtert und stellt somit ein zusätzliches Verletzungsrisiko
dar.
Wir lehnen deshalb nationale Alleingänge zulasten
der deutschen Viehtransportwirtschaft ab. Die daraus
resultierende gravierende Wettbewerbsverzerrung zulasten deutscher Spediteure ist zudem auch EU-rechtlich
nicht vertretbar.
Im Hinblick auf die Verkehrsströme muss bei Einschränkung der Transportkapazität pro Fahrzeug mit einer deutlichen Zunahme des Güterverkehrs gerechnet
werden, denn die Rindertransporte werden sich folglich
verdoppeln und die Schweinetransporte werden um ein
Drittel zunehmen. Dies ist aus volkswirtschaftlicher, umweltpolitischer und verkehrspolitischer Sicht keinesfalls
akzeptabel. Deshalb lehnen wir die vorliegenden Anträge der Opposition ab.
Die Zahl der Tiertransporte ist in den vergangenen
Jahren sowohl innerhalb der EU-Staaten als auch innerhalb von Deutschland stark angestiegen. Insgesamt befinden sich jährlich über 400 Millionen Tiere auf einem
Transport. Dies bringt oftmals eine unnötige Quälerei
mit sich, und dem muss Einhalt geboten werden.
Vor einigen Wochen berichtete die Bundesregierung
im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz über Lebendtiertransporte in die Türkei.
Hier ging es speziell um Zuchttiere, die aus Deutschland
in die Türkei transportiert werden. Die Bundesregierung
hat das notwendige Veterinärabkommen mit der Türkei
unterzeichnet - der Transport kann losgehen.
Wer jemals mit dem Auto nach Südeuropa gereist ist,
weiß, dass dies ohne lange Pausen, Beine vertreten,
Austreten, viel Trinken nicht zu machen ist. Als es noch
Grenzkontrollen zwischen den EU-Ländern gab, so erinnere ich mich persönlich, musste man sehr lange Wartezeiten an den Grenzübergängen in glühender Hitze in
Kauf nehmen. Heilfroh war man, als man die Grenze
endlich passiert hatte und sich die Füße vertreten
konnte.
Bei Tiertransporten ist das nun folgendermaßen geregelt: Auf EU-Ebene gibt es keine Transportzeitbegrenzung. Dies heißt im Klartext: Die Tiere bleiben in der
Regel die gesamte Fahrtzeit im Transporter. 29 Stunden
Aufenthalt auf den Transportern sind erlaubt. 14 Stunden Fahrtzeit, 1 Stunde Pause, 14 Stunden Fahrtzeit kein Abladen ist notwendig.
Dies bedeutet für die Tiere: 29 Stunden auf engstem
Raum zusammengepfercht, 29 Stunden ohne Bewegung,
29 Stunden ohne frisches Wasser, 29 Stunden Qual. Dazu
kommen die langen Wartezeiten an der Grenze, wo die
Tiere in der Regel nicht zwischendurch abgeladen werden: stunden-, teilweise tagelange Wartezeiten, die mit
den notwendigen Kontrollen gerechtfertigt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dagegen verwehren wir Sozialdemokraten uns. Wir
unterstützen die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen,
die sich für eine Transportzeitbegrenzung innerhalb der
EU auf acht Stunden einsetzen. Damit sind solche tierquälerischen Transporte wie oben geschildert obsolet
und nicht mehr durchführbar. Dies begrüßen wir.
Wir sind froh darüber, dass die Anfrage nach einem
Transport von Schlachttieren in die Türkei von der Bundesregierung abgelehnt wurde. Aber auch die Überführung von Zuchttieren in die Türkei oder andere europäische Staaten ist nicht mehr notwendig. Der Export von
Sperma ist möglich. Er verhindert nicht nur Tierquälerei,
er ist aus meiner Sicht auch um vieles ökonomischer.
Machen wir also Druck auf europäischer Ebene. Der
Europäischen Kommission sind die Missstände sehr
wohl bekannt. Auf die Anfrage eines niederländischen
MdEP-Kollegen antwortet Herr EU-Kommissar Dalli:
Der Kommission sind die Tierschutzprobleme im Zusammenhang mit dem Transport lebender Tiere aus einigen
Mitgliedstaaten in die Türkei bekannt. - Gleichzeitig
schließt er ein EU-weites Verbot von Lebendtiertransporten aus. Es gibt aber bisher auch keine Bemühungen,
diesen Missständen durch eine entsprechende Transportzeitbegrenzung entgegenzutreten.
Wir fordern Frau Bundesministerin Aigner also auf:
Setzen Sie sich auf EU-Ebene dafür ein, dass die Transportzeit auf acht Stunden begrenzt wird! Sorgen Sie
gleichzeitig dafür, dass Fleisch und Sperma anstatt der
Tiere transportiert werden! Dies stärkt unsere heimische
Viehzucht und unsere Fleischwirtschaft. Sorgen Sie dafür, dass die Kontrollen auf EU-Ebene verschärft und
Verstöße entsprechend sanktioniert werden!
Auch auf deutschen Straßen rollen verhältnismäßig
viele Tiertransporter. Auch hier gilt für die Sozialdemokraten der Grundsatz: Transportiert Fleisch statt Tiere. Ein Ausbau der regionalen Schlachteinrichtungen ist
wichtig.
In diesem Punkt gehen wir mit den Damen und Herren der Linkspartei konform: Es ist sinnvoller, ökonomischer, ökologischer und tierfreundlicher, die regionale
Fleisch- und Schlachtindustrie zu erhalten und auszubauen und das Fleisch zu transportieren, als stundenlang in großen Transportern Tiere über die Autobahn zu
fahren. Dieses schadet den Tieren, der Umwelt, der heimischen Schlacht- und Fleischindustrie. Der Transport
von Fleisch schafft Arbeitsplätze. Er kommt den Tieren
zugute. Er schont die Umwelt durch weniger Verkehr.
Bisher legt die Tierschutztransportverordnung eine
Begrenzung der Transportzeiten auf acht Stunden fest.
Es gibt jedoch zahlreiche Ausnahmeregelungen.
Über eine Begrenzung der Transportzeiten innerhalb
Deutschlands auf vier Stunden und eine streckenmäßige
Begrenzung auf 200 Kilometer, wie sie die Damen und
Herren von Bündnis 90/Die Grünen vorschlagen, müssen wir reden. Ist es nicht sinnvoller, zunächst die Ausnahmeregelungen in der geltenden Tierschutztransportverordnung zu streichen, die zeitliche Begrenzung auch
für grenzüberschreitende Transporte einzufordern und
auch hier mehr Kontrollen durchzuführen sowie Verstöße entsprechend zu sanktionieren? Es gibt keinen
Grund, Ausnahmeregelungen für die geltenden Bestimmungen zu erlassen. Die Schlachthofstruktur erfordert
schon jetzt keine längeren Transporte, die über acht
Stunden hinausgehen.
In den nächsten Wochen werden wir ein Expertengespräch zum Thema führen und weitere Argumente hören.
Danach werden wir eigene Vorschläge einbringen.
Die Linkspartei erwähnt in ihrem Antrag auch die
Ausstattung der Transportfahrzeuge. Das ist gut so.
Denn auch hier liegt einiges im Argen, und es kann eine
Menge getan werden. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert Verbesserungen hinsichtlich der Ladedichten. Der
Transport der Tiere muss für diese so wenig belastend
wie möglich sein. Sie müssen sich einigermaßen verhaltensgerecht bewegen können. Dementsprechend muss
das Platzangebot in den Fahrzeugen auch bemessen
sein. Die Tränkevorrichtungen sind oftmals so angebracht, dass sie von vielen Tieren, je nach Tierart, nicht
erreicht werden können und dass einige Tiere aufgrund
der Ladedichte keinen Zugang haben. Die Temperaturund Klimabedingungen in den Transportfahrzeugen
müssen konkretisiert werden. Dies erleichtert den Transportunternehmen die Erfüllung der Anforderungen, den
Kontrolleuren die Ahndung von Verstößen.
Nicht zuletzt sollten bei der Überarbeitung der Tierschutztransportverordnung die Bestimmungen für den
Transport von Zirkustieren mit aufgenommen werden.
Selbst wenn wir ein Haltungsverbot von Wildtieren in
Zirkussen durchsetzen, muss dafür gesorgt werden, dass
die verbleibenden Zirkustiere tiergerecht befördert werden. Bisher fehlt eine solche Bestimmung völlig.
Ergo: Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen befürworten wir, wir haben ihm im Ausschuss bereits zugestimmt. Es besteht dringender Handlungsbedarf angesichts der bestehenden Missstände. Der Antrag der
Linkspartei geht in die richtige Richtung, weist aber einige Mängel auf. Eine Transportzeitbegrenzung auf EUEbene auf vier Stunden ist nicht realistisch. Noch in diesem Jahr werden wir einen eigenen Antrag einreichen,
der auch die Ausstattungen der Transportfahrzeuge mitberücksichtigt.
Ende September hat uns die Bundesregierung im Ausschuss von den Verhandlungen mit dem türkischen
Landwirtschaftsministerium über eine Veterinärbescheinigung für Zuchtrinder berichtet. Nun ist das Abkommen
abgeschlossen und der türkische Markt für Zuchtrinder
aus Deutschland wieder offen. Die Nachfrage ist groß.
Die Zahl der Langstreckentransporte wird steigen.
Umso mehr und intensiver müssen wir uns über die
Gewährleistung des Tierschutzes beim Transport unterhalten. Die Diskussion darf aber nicht so einseitig verlaufen, wie sie die Grünen in ihrem Antrag führen,
indem sie das Tierwohl durch alleinige Transportzeitbegrenzung verbessern wollen. Vielmehr sollten wir uns
auf die technischen Gegebenheiten und vor allem auf die
menschlichen Kenntnisse und Fähigkeiten fokussieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dass nicht die Transportdauer für die Sicherstellung des
Tierschutzes ausschlaggebend ist, hat auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit in einem Bericht bestätigt.
Angesichts der Vorgabe im „Handbuch Tiertransporte“, den beförderten Tieren sollten 20 Zentimeter
Freiraum über der höchsten Körperstelle zur Verfügung
stehen, überschreiten dann Doppelstocktransporter bei
Großvieh die maximale Fahrzeughöhe von 4 Meter. Deswegen werden wir dafür kämpfen, eine Sondergenehmigung für eine Transporterhöhe von 4,20 Meter durchzusetzen. Sollte das nicht der Fall sein, wird Großvieh
zukünftig nur einstöckig transportiert werden müssen.
Für eine ganzheitliche Bewertung von Tiertransporten ist eine Ermittlung aussagekräftiger und tierbasierter Tierschutzindikatoren zur objektiven Bemessung des
Tierschutzes erstrebenswert. Die Debatte über die Animal-Welfare-Indikatoren ist relativ neu; sie wird erst seit
einigen Jahren international geführt. Erfreulicherweise
wird sie auch durch die EU im Rahmen des Projektes
„Welfare Quality“ unterstützt. Deutschland muss sich
aktiv einbringen und Initiativen, wie das vom BMELV
veranstaltete Fachgespräch zur Entwicklung von Tierschutzindikatoren, fortführen. Ein Kriterienkatalog wäre
nicht nur ein praktikables Instrument für Kontrolleure,
sondern könnte auch für Transporteure eine hilfreiche
Orientierung für eine tierschutzkonforme Arbeit sein.
Wichtig ist auch, dass alle Bereiche des Transportes
vom Be- bis zum Entladen unter Beachtung der Tierschutzaspekte von sachkundigem Personal durchgeführt
werden. Genaue Kontrollen, wirksame Überwachung
und strenge Sanktionen bei Verstößen sind unerlässlich,
damit alle Tierschutzdefizite aufgedeckt und behoben
werden. Denn wir können nicht darüber hinwegschauen,
dass es zu Missständen bei Tiertransporten kommt - wie
bei jedem anderen wirtschaftlichen Tun im Übrigen
auch. Diese müssen von den zuständigen Behörden erkannt und geahndet werden.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich das derzeit laufende Forschungsprojekt des Friedrich-Loeffler-Instituts zur Verbesserung der Kontrollstellen während Tiertransporten über lange Strecken sehr. Das Projekt läuft
bis April 2012. Wenn wir dann die wissenschaftlichen
Ergebnisse vorliegen haben, müssen wir darauf pochen,
dass sie in die Praxis umgesetzt werden.
Dieser ganzheitliche Ansatz ist nach meiner Auffassung unabdingbar, wenn wir ein Mehr an Tiergesundheit
und Tiergerechtigkeit beim Transport erreichen wollen.
Deswegen kann ich die eindimensionalen Anträge der
Grünen und der Linken nicht unterstützen. Ich bin es
aber gewohnt, dass die Fraktionen die Forderungen der
Tierschutzverbände populistisch aufgreifen und die öffentliche Meinung mit unsachlichen Vorschlägen beeinflussen wollen. Wir Liberale wollen und werden das
aber aus Verantwortung gegenüber Mensch und Tier
nicht mitmachen. Wir setzen uns ein für forschungsbasierte Tierschutzauflagen, die im Einklang mit ökonomischen und ökologischen Aspekten stehen.
Wir befassen uns heute mit einer Thematik, welche in
der Öffentlichkeit immer wieder für kontroverse Diskussionen sorgt. Auch gab und gibt es immer wieder Berichte über Tiertransporte mit teils erschreckenden Bildern und katastrophalen Zuständen. Ich möchte aber
hier gleich anführen, dass sich im Bereich der Tiertransporte in den vergangenen Jahren sehr viel getan hat,
nicht zuletzt auch aufgrund von Maßnahmen auf europäischer Ebene.
Leider befinden sich in der EU nicht alle Fahrzeuge
auf dem neuesten Stand der Technik, und leider mangelt
es auch an Kontrollen zur konsequenten Durchsetzung
der gesetzlichen Vorgaben.
In den letzten Jahren hat der Transport von Tieren,
ähnlich wie das gesamte Transportaufkommen, deutlich
zugenommen. Viele Schlachthöfe sind durch den Kostendruck des Marktes verschwunden, und aus einem ehemals fast flächendeckenden regionalen Netz von
Schlachthöfen wurde durch Konzentration ein zentrales
System immer größerer Schlachthöfe. Diese wollen „gefüttert“ werden, um profitabel zu sein. Deshalb werden
die Tiere über immer größere Entfernungen herangekarrt.
Transporte sind für die betroffenen Tiere immer mit
Stress verbunden, ganz gleich ob sie über genügend Futter, Wasser und akzeptable Temperaturen verfügen. Es
bleibt die räumliche Enge und auch der Lärm der Straße
und der schaukelnde Lastwagen. Dabei interessiert es
die Tiere herzlich wenig, ob sie innerhalb Deutschlands
transportiert werden oder international. Hinzu kommen
oftmals lange Wartezeiten an den Außengrenzen der EU.
Wir fordern, Tiertransporte generell auf vier Stunden zu
begrenzen, gleich ob Rinder oder Schweine nun von
Sachsen nach Bayern gebracht werden oder von Sachsen nach Polen!
Wie geht das in der Praxis? Das geht freilich nur,
wenn dezentral Schlachthöfe vorhanden sind bzw. wieder eine Chance bekommen. Ist dies nicht der Fall, muss
eben vor Ort geschlachtet werden. Die Technik dafür
steht zur Verfügung. Mit dezentralen Schlachthöfen werden regionale Kreisläufe gestärkt und landwirtschaftliche Wertschöpfung bleibt in der Region. Das wollen
auch die Verbraucherinnen und Verbraucher: Lebensmittel aus ihrer Region. Und es ist auch ökologisch sinnvoll, weil wir Verkehr vermeiden und Ressourcen sparen.
Aber es fehlt noch ein entscheidender Punkt, über den
aktuell immer häufiger diskutiert wird, nämlich die
Frage der räumlichen Höhe in den Transportern. Dass
sich die Tiere beim Transport auch bewegen wollen,
dürfte allen klar sein. Die derzeitigen Transportbehältnisse sind dafür oft nicht hoch genug, und Tiere verletzen sich, wenn sie den Kopf heben wollen. Diesen Zustand wollen wir beenden. Damit aber laufen wir
Gefahr, dass doppelstöckige Transporte künftig nicht
mehr in dem Umfang, wie heute üblich, möglich wären.
Dadurch würden die Transporte teurer und es gäbe ein
Mehraufkommen an Transportfahrten. Dies wollen wir
aber aus ökologischer Sicht vermeiden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Derzeit dürfen Transporter nur maximal vier Meter
hoch sein. Wir fordern daher in unserem Antrag die Bundesregierung auf, die zulässige Transporthöhe zu überprüfen und die Auswirkungen von höheren Transporten,
also Sicherheit, Brücken, Unterführungen, Fahren von
Umwegen etc., zu ermitteln.
Das Tierwohl ist hierbei nicht Gegenstand der Prüfung. Der Tierschutz ist ein Staatsziel, nicht die Rentabilität von Tiertransporten. Doch muss hier natürlich eine
Lösung mit Augenmaß gefunden werden, die auch die
möglichen Auswirkungen, welche ich gerade skizziert
habe, berücksichtigt.
In Art. 20 a unseres Grundgesetzes heißt es:
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die
künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung …
Mit unserem Antrag haben wir in diesem Hause Gelegenheit, dieses Vorhaben bezüglich der Tiertransporte
umzusetzen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung für
den Antrag der Linken.
Allein 4 Millionen Rinder und über 6,5 Millionen
Schweine wurden 2009 durch Deutschland transportiert, aber auch Pferde, Schafe, Ziegen und Geflügel.
Für jedes einzelne Tier bedeutet dies Stress, für viele ist
es mit Verletzungen, Hunger und Durst verbunden. Für
einige Tiere bedeutet es den qualvollen Tod. Oft werden
Schlachttiere über Tage hinweg quer durch Europa und
bis in den Nahen Osten transportiert, und dies nur, weil
die Kosten für Kühlfleischtransporte gespart werden
oder die Ankäufer nur Lebendvieh kaufen wollen. Viel
Leid also für ein paar Cent mehr Gewinn pro Schlachttier.
Und auch innerhalb Deutschlands werden die Transportwege länger. Die verfehlte Förderpolitik zwingt immer mehr kleine regionale Schlachthöfe zum Aufgeben.
Dagegen können die industrialisierten Schlachtbetriebe
durch abenteuerliche Arbeitsverhältnisse mit ihren
Dumpinglöhnen günstige Konditionen anbieten und verschärfen damit das Problem noch weiter. Aber auch
durch die zunehmende Spezialisierung der Landwirtschaft werden Tiere oft mehrfach in ihrem Leben transportiert. Ferkel aus den neuen Bundesländern werden in
die Schweinemastanlagen ins Münsterland oder nach
Oldenburg transportiert und von dort als Schlachtschweine nach Italien oder Russland.
Regelmäßig werden von den Überwachungsbehörden
Missstände festgestellt. Der Transport kranker Tiere, die
Überschreitung der Transportzeiten und Überladungen
sind immer wieder an der Tagesordnung. Alleine in Niedersachsen wurden 2009 weit über 600 Verstöße festgestellt. Die Dunkelziffer liegt zweifellos noch deutlich
höher. Und wie oft wird bei Verstößen auch noch weggeschaut? Dies ist so nicht länger hinnehmbar.
Um unnötiges Tierleid endlich zu beenden, brauchen
wir zuallererst und möglichst schnell eine Begrenzung
der Transportzeiten. Es ist nicht einzusehen, warum lebende Tiere aus reinen Profitgründen immer noch quer
durch Europa transportiert werden. Wir Grüne fordern
daher in unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich
auf EU-Ebene für eine Begrenzung auf maximal acht
Fahrtstunden ohne Ausnahmen einzusetzen. Deutschland als ein Haupttransitland für Tiertransporte hat hier
erhebliche Verantwortung. Auch für Transporte innerhalb Deutschlands brauchen wir eine Transportzeitbegrenzung. Ziel muss es sein, den nächstmöglichen
Schlachthof anzufahren. Das ist in den von uns geforderten vier Stunden möglich. Flankierend müssen wir regionale Schlachthöfe stärker fördern, sodass die Tiere wieder verstärkt in der Region geschlachtet werden können.
Sehr geehrte Frau Ministerin Aigner, aus Ihrem
Hause haben wir nun schon oft gehört, dass Sie sich für
eine Begrenzung der Transportzeiten innerhalb der EU
einsetzen wollen. Immer wieder wurden wir vertröstet,
zuletzt auf den Bericht der EU-Kommission zum Wohlbefinden von transportierten Tieren, der nun innerhalb
der nächsten Wochen vorgelegt werden soll. Nun müssen
Ihren Worten Taten folgen! Setzen Sie sich für die bereits
2009 vom Bundesrat beschlossene Forderung nach einer maximalen Transportdauer von acht Stunden ein!
Die Dauer von Tiertransporten ist der entscheidende
Faktor für eine Verbesserung der Transportbedingungen. Zwar haben wir durch die EU-Tiertransportverordnung in den letzten zehn Jahren schon einige Verbesserungen erreicht, wie die veterinärbehördliche Zulassung
von Transportfahrtzeugen bei Viehtransporten von über
acht Stunden. Doch die realen Zustände zeigen: Weitere
Verbesserungen und vor allem Konkretisierungen sind
nötig. Wir brauchen Verbesserungen bei Belüftung, Temperaturvorgaben, Fahrt- und Pausenzeiten, Versorgung
der Tiere, und verbindliche Melkvorgaben für laktierende Kühe. Zudem müssen die Ladedichten dringend
verringert werden, sodass Kontrollen und Zugang zu jedem einzelnen Tier jederzeit möglich sind.
Die Überarbeitung der EU-Tiertransportverordnung
ist schon seit Jahren seitens der EU-Kommission angekündigt. Doch weder der Zeitplan noch das Ergebnis
sind derzeit absehbar. Daher, liebe Frau Ministerin
Aigner, muss sich Deutschland nicht nur auf EU-Ebene
mit aller Kraft für Verbesserungen einsetzen, sondern
auch auf nationaler Ebene handeln und mit Tierleid verbundene Marathontransporte beenden! Während in der
EU wenigstens noch die Einhaltung der Bestimmungen
überprüft werden kann, ist das außerhalb der EU-Grenzen nur schwer möglich. Das heißt: Wenn wir vermeiden
wollen, dass Rinder aus Deutschland an der türkischgriechischen Grenze aus wirtschaftlichen Erwägungen
lebend transportiert werden und dann dort bis zu mehreren Tagen in sengender Sonne unter tierschutzwidrigen
Bedingungen auf die Abfertigung warten, müssen wir
diese Transporte einstellen. Dies ist der einzig mögliche
Weg. Und auch durch Handelsabkommen mit Ländern
wie Libyen zur Abnahme von deutschen Rindern machen
Sie sich mitverantwortlich an vielfachem Tierleid. Auf
Zu Protokoll gegebene Reden
längeren Strecken und außerhalb der EU können nur geschlachtete Tiere gehandelt werden.
Zurecht sind auch doppelstöckige Transporte von
Rindern in die Diskussion geraten. Immer wieder werden Transporter aufgegriffen, bei denen Tiere mit dem
Rücken an der Decke scheuern und nicht einmal aufrecht stehen können, und dies stunden- oder sogar tagelang. Hier müssen die unklaren Vorgaben der EU-Verordnung konkretisiert werden. Dies ist jetzt im
Handbuch für Tiertransporte geschehen, allerdings
nicht verbindlich. Gefordert werden dort 20 cm Luft
über dem Rücken der Tiere. Wer nachrechnet, wird
schnell feststellen, dass sich damit viele doppelstöckige
Tiertransporte von alleine erledigen. Der Zuchtfortschritt hat auch bei Rindern zu immer größeren Tieren
geführt. Schlachtrindern von einem Jahr oder älter haben eine Rückenhöhe von 1,50 bis 1,60 Meter. Rechnen
wir für zwei Ebenen je 20 cm Raum über dem Rücken
der Tiere dazu, sind wir schon bei 3,40 bis 3,60 Meter.
Bei einer maximal erlaubten Höhe der Transporter bleiben also nur 40 bis 60 cm für Reifen und Böden des
Transporters.
Ausziehbare Lkw-Dächer sind nach der Straßenverkehrszulassungsverordnung nicht erlaubt. Doch selbst
wenn dies der Fall wäre, würde die zusätzliche Höhe in
vielen Fällen gar nicht ausreichen. Dies kann nur zu einer Folgerung führen: Der Transport von Rindern muss
sich klar an deren Größe orientieren. Hier sind uns einige unserer Europäischen Nachbarn wieder einmal voraus: Sowohl in den Niederlanden als auch in Dänemark
sind 20 cm Raum über dem Tierrücken verbindlich vorgeschrieben, in der Schweiz sind es sogar bis zu 35 cm.
Schon jetzt müssen Tiertransporter an den Grenzen zu
diesen Ländern umladen oder aber von vorneherein
diese Vorgaben einhalten. Umso mehr Sinn macht es für
Deutschland als Transitland für Transporte aus und
nach Italien, Dänemark oder Russland, mit unseren
Nachbarländern an einem Strang zu ziehen. Die Klagen
von Transporteuren und Agrarindustrie, dass damit
mehr Transporte nötig sind und die Kosten steigen, dürfen wir nicht über millionenfaches Tierleid stellen. Vielmehr werden Lebendviehtransporte gegenüber Kühltransporten unrentabler.
Aber jede gesetzliche Regelung ist nur so gut wie ihre
Umsetzung und Kontrolle. Die Realität auf den Straßen
zeigt, dass es fortwährend zu Verstößen der ohnehin
nicht ausreichenden Vorgaben kommt. Pausenzeiten
werden nicht eingehalten, Transporter überladen oder
verletzte Tiere transportiert. Dem können wir nur durch
mehr Kontrollen begegnen. Regelmäßige Schulungen
für Polizei, Kontrolleure und Fahrer sind unabdingbar.
Auf lange Sicht müssen Tiertransporte auf ein absolut
unumgängliches Minimum reduziert werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6913 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21 b, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Tierschutz bei Tiertransporten verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5892, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/5491 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Tabea Rößner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der älter werdenden Gesellschaft gerecht werden - Barrieren in Wohnungen und im Wohnumfeld abbauen
- Drucksache 17/7188 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, Daniela Ludwig,
Sören Bartol, Sebastian Körber, Ilja Seifert und Daniela
Wagner.
Jeder will alt werden, keiner will alt sein. Das hört
man landauf, landab. Ich will damit sagen: Kluger
Mann bzw. kluge Frau baut vor!
Deshalb ist das Thema Barrierefreiheit für uns Baupolitiker, die immer langfristig an die zukünftigen Entwicklungen denken müssen, von zentraler Bedeutung für
unsere Entscheidungen.
Mit dem vorliegenden Antrag zum barrierefreien
Wohnen folgen Bündnis 90/Die Grünen in vielen Punkten dem, was wir in der Regierungskoalition bereits konsequent bearbeiten. Das, was uns unterscheidet, ist die
Praktikabilität der Herangehensweise durch die christlich-liberale Koalition. Wir müssen hier immer die Lehren aus der Vergangenheit im Blick haben.
Wenn es um Mobilität und um eigenständiges Handeln geht, dann gehören unsere ostdeutschen Mitbürger
mit einer Behinderung mit Gewissheit zu den Gewinnern
der deutschen Einheit. In kürzester Zeit war es dank besserer technischer Hilfsmittel und dank der breiteren
Schultern der Sozialverbände möglich, dass behinderte
und ältere Menschen wieder am öffentlichen Leben teilnehmen konnten. Sozialkassen und staatliche Fördersysteme flankierten diesen Prozess. In kaum einem anderen
sozialen Bereich wurde deutlicher, dass das von manchen verherrlichte DDR-Sozialsystem tatsächlich nur
Volkmar Vogel ({0})
die Grundversorgung sicherte und oft die Verwahrung
für unsere behinderten Mitbürger bedeutete. Lediglich
die Hilfsbereitschaft und die menschliche Wärme des
Pflegepersonals - und natürlich der Angehörigen konnten dies mildern. Breite Schultern in Form vieler
karitativer Einrichtungen haben hier gleich Anfang der
90er-Jahre Hervorragendes geleistet.
Für uns sind Barrierefreiheit und Zugänglichkeit und
die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allen
Lebensbereichen selbstverständliche Grundrechte. Darin sind wir uns sicherlich alle einig. Das bedarf keiner
Diskussion.
Gerade in den letzten 20 Jahren ist im Bereich der Mobilitätsverbesserung für ältere und behinderte Menschen
- auch durch unsere beiden Konjunkturprogramme - sehr
viel Positives geschehen. Es wurde zum Beispiel die Barrierefreiheit auf vielen kleinen Bahnhöfen hergestellt.
Allerdings - auch darin sind wir uns einig - können
wir uns mit den Gegebenheiten nie vollständig zufrieden
geben. Deshalb arbeiten die christlich-liberale Koalition und die Bundesregierung intensiv an der ständigen
Verbesserung der Situation.
Was sind nun die Herausforderungen für die Zukunft?
Abweichend zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
muss man dies einer differenzierten Betrachtung unterziehen:
Wir haben zum einen den Bereich der öffentlichen
Gebäude mit seinen öffentlichen Einrichtungen ebenso
wie die öffentliche Infrastruktur und zum anderen den
riesigen privaten Wohnbestand, wo Menschen zur Miete
oder in den eigenen vier Wänden leben, im Blick.
Klar ist für uns, dass für die Menschen die barrierefreie Benutzung der öffentlichen Einrichtungen aus eigener Kraft - wo immer möglich - sichergestellt werden
muss. Die Kosten für den Steuerzahler dafür sind sehr
hoch. Das gilt übrigens nicht nur für die Bundesrepublik, sondern Mobilität muss heute weltweit gesehen
werden.
Den Wohnbereich muss man differenzierter betrachten. Zum einen ist ganz klar: Barrierefreiheit ist mit hohem konstruktivem Aufwand und hohen Kosten verbunden. Das können sich nur wenige leisten. Auch der Staat
und die Sozialkassen können das nicht in Gänze ausgleichen.
Der demografische Wandel führt dazu, dass mehr ältere Menschen mit körperlichen Gebrechen Wohnraum
nutzen. Deshalb sollten wir - mehr als bisher - die Möglichkeit barrierearmer und altersgerechter Wohnraumzuschnitte in den Fokus nehmen. Das ist finanziell günstiger und kann auch von Hauseigentümern mit kleinem
Geldbeutel sowie mit geringerer staatlicher Unterstützung geschultert werden.
Das beste Beispiel hierfür liefert das KfW-Programm
„Altersgerecht Umbauen“. Durch dieses Förderprogramm erhalten vor allem ältere oder behinderte Menschen die Chance, dank reduzierter Wohnbarrieren so
lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden zu leben. Das Programm definiert erstmals einen bundesweit
einheitlichen Standard für Barrierereduzierung im Wohnungsbestand. Es bietet wahlweise ein zinsgünstiges
Darlehen oder einen Investitionszuschuss - sowohl für
selbstgenutztes als auch für vermietetes Wohneigentum.
Die KfW ist durch ihre Förderprogramme ein gutes,
nachahmenswertes Beispiel, wenn es darum geht, intelligent die Kopplungsfunktion zwischen Demografiewandel - sprich: barrierearm - und Energieeffizienz
- sprich: CO2-Gebäudesanierungsprogramm - herzustellen.
Bei aller Attraktivität, Intelligenz und Wirksamkeit
des Programms muss man ganz ehrlich und deutlich sagen, dass die finanzielle Quelle nicht unbegrenzt sprudeln kann.
Wir werden im Mietwohnungsbau nicht alle Wohnungen barrierefrei oder -arm bauen oder umbauen können,
aber wir müssen dafür sorgen, dass es in jedem Quartier
welche gibt.
Wir werden nicht jeden Eigentümer in den eigenen
vier Wänden zum Umzug bewegen können, schon aus
nachvollziehbaren emotionalen Gründen nicht. Hier
müssen wir mehr als bisher neben Förderanreizen die
Beratung und Begleitung auch und vor allem junger Eigentümer intensivieren.
Wie ich eingangs sagte: Kluger Mann bzw. kluge
Frau baut vor!
Die Nachhaltigkeit beim Bauen wird zukünftig eine
größere Rolle spielen. Das gilt für den öffentlichen Bereich ebenso wie für den privaten.
Die Betrachtung eines Gebäudes über den gesamten
Lebenszyklus hinweg muss auch mögliche Neunutzungen berücksichtigen. Wer privat nicht von Anfang an
barrierearm baut, sollte, wenn möglich, zumindest die
Voraussetzungen dafür schaffen, diesen Umbau später
nachholen zu können - auch schon dann, wenn der Kinderwagen zum Einsatz kommt.
Für mich hat es sich bewährt - und das vermisse ich
ebenfalls im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen -, engen Kontakt zu den Verbänden aus dem Bereich der Behindertenbetreuung zu halten. Es sind doch oftmals die
vielen kleinen Dinge des Lebens und die einfachen Lösungen in Zeiten knapper Mittel, die unseren Mitmenschen mit Behinderung helfen, in ihren vier Wänden zurechtzukommen.
Dieser Erfahrungsaustausch sollte - dafür kann ich
bei allen Kollegen nur werben - noch intensiver geführt
werden. Dasselbe gilt natürlich auch für die Architekten
und Bauplaner.
Nichtsdestotrotz wird nicht jedes Handicap im Verkehrs- oder im Baubereich für unsere behinderten Mitbürger zu beseitigen sein. Die Möglichkeiten der technischen Hilfsmittel kommen im Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen viel zu kurz, werden aber von der christlichliberalen Koalition - weniger durch uns Verkehrs- und
Baupolitiker als vielmehr durch unsere Kollegen aus
dem sozialen Bereich - intensiv beackert. Denn die direkte Hilfe der Betroffenen durch ausgereifte Prothetik,
Zu Protokoll gegebene Reden
Volkmar Vogel ({1})
hochwertige Orthopädie und Hightechmedicare ist die
allerbeste Lösung, um mit den Gegebenheiten klarzukommen.
In diesen Bereichen gehört Deutschland zu den Weltmarktführern: Mittelständische Familienunternehmen
wie die Hans B. Bauernfeind AG aus dem thüringischen
Zeulenroda und die Duderstädter Otto Bock HealthCare
GmbH und viele weitere Global-Player-Firmen spiegeln
wider, dass sich soziales Empfinden und wirtschaftliche
Interessen eben nicht ausschließen müssen.
Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen
werden niemals abschließend oder endgültig geregelt
werden können. Entgegen dem Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen kommt es aus unserer Sicht darauf an, die
rechtlichen Rahmenbedingungen differenziert in Wohnbzw. Eigentumsformen so zu formulieren, dass sie kostenseitig vertretbar und technisch einfach machbar sind.
Finanzielle Fördermöglichkeiten haben Grenzen. Umso
wichtiger sind Informations- und Beratungsangebote für
einfache Lösungen.
Im Neubau ist Barrierefreiheit einfacher machbar als
im Bestand, auch was die Kosten betrifft.
Bei knappem Geld müssen wir unsere Förderprogramme besser verzahnen und andere Förderquellen erschließen. Ich denke dabei an die Pflegeversicherung,
steuerlichen Vorsorgeaufwand oder die staatlich geförderte private Altersversorgung.
Bei allen baulichen Aktivitäten wird nie eine 100-prozentige Barrierefreiheit möglich sein. Deshalb werden
moderne Hilfsmittel weiter an Bedeutung gewinnen und
nicht zuletzt die Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander.
Erst vor wenigen Wochen haben wir uns mit einem
ganz ähnlichen Antrag der SPD-Fraktion beschäftigt,
daher ist klar, dass wir diesbezüglich bereits ausgiebig
bis ins Detail über das Thema Barrierefreiheit und altersgerechtes Wohnen gesprochen haben. Auch damals
wurde vonseiten der Union darauf verwiesen, dass wir
bereits genau das tun, was Sie fordern, denn wir wünschen uns alle eine Gesellschaft, in der man auch im Alter oder mit Behinderung noch aktiv sein kann.
Eine umfassend gestaltete Barrierefreiheit durchzusetzen, beginnend beim Design von Alltagsgegenständen
bis hin zum sozialen Nahraum, sollte unser aller Anliegen sein. Barrierefreiheit erleichtert sowohl Menschen
mit Behinderung den Zugang zu Gebäuden und Transportmitteln als auch Eltern oder Großeltern mit Kinderwagen, Älteren mit Rollator oder Einkaufswagen.
In puncto Barrierefreiheit haben wir in den letzten
Jahren viel erreicht. Zudem hat auch ein Umdenken
stattgefunden. Wir sind nicht nur gegen äußere Barrieren vorgegangen, sondern auch gegen die Barrieren im
Kopf. Beides hängt nämlich zusammen bzw. wirkt aufeinander ein.
Auch wenn zweifellos noch viel zu tun bleibt, um alle
Barrieren abzubauen, ist die Öffentlichkeit in den letzten
Jahren doch sensibilisiert worden. Wir haben erkannt,
dass Barrierefreiheit die Voraussetzung darstellt, damit
Menschen mit Behinderung ein selbstständiges und
selbstbestimmtes Leben führen können. So wie sie es
wollen und seit Jahr und Tag einfordern. Und so wie sie
es können.
Der Punkt ist nicht, dass sich Menschen unterscheiden, der Punkt ist vielmehr, die Lebensbedingungen diesen Unterschieden anzupassen. Wir fragen jetzt, welchen besonderen Bedarf Menschen mit Behinderung
haben, um im Alltag so gut wie möglich klarzukommen.
Wir fragen, was getan werden kann, um ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern.
Sie haben die Studie des BMVBS ja selbst erwähnt.
Die Probleme sind also bekannt und werden auch gezielt
angegangen. An dieser Stelle möchte ich nur kurz darauf
verweisen, dass die Prognosen über das Altern unserer
Gesellschaft ja nicht erst seit gestern bestehen, sondern
schon zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung bekannt waren. Da sind wir uns doch einig!? Also müssen
sich Rot-Grün, wenn sie heute Verfehlungen anprangern, auch an die eigene Nase fassen.
Niemand denkt gern daran, was einem im Alter alles
widerfahren könnte. Und man sollte sich auch nicht mit
zu vielen vorausschauenden Überlegungen belasten.
Um eine gewisse Vorsorge fürs Alter kommt jedoch niemand herum. Und zu ihr gehört, sich rechtzeitig zu fragen, wie man im Alter wohnen möchte bzw. was für eine
Wohnung den eigenen Erfordernissen und Möglichkeiten dann wohl am besten entspricht. Gerade im Alter,
wenn die Menschen immer mehr Zeit im eigenen Zuhause verbringen, wird Wohnen zunehmend wichtig.
Komfort ist gefragt und eine altersgerechte Einrichtung,
der Wohlfühlaspekt gewinnt an Bedeutung.
Das Programm der KfW „Altersgerecht Umbauen“,
das seit 2009 läuft und das der Kreditfinanzierung von
Maßnahmen zum Zwecke der seniorengerechten Anpassung von bestehenden vermieteten und selbstgenutzten
Wohngebäuden dient, hat einen wertvollen Beitrag für
die Erhöhung und den Bestand der Lebensqualität im
Alter geleistet. Durch die Förderung werden und wurden die Finanzierungskonditionen insbesondere für die
senioren- und behindertengerechte Modernisierung des
Wohnungsbestandes deutlich attraktiver gestaltet. Damit wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, in den
eigenen vier Wänden alt zu werden und dort möglichst
lang ein selbstbestimmtes Leben zu führen, das nicht daran scheitert, dass Treppenstufen oder kleine Badezimmer bei einer Gehbehinderung den Umzug in ein Heim
erforderlich machen, obwohl ansonsten die Selbstversorgung noch bestens funktioniert.
Generell gilt, dass zum Abbau von Barrieren Investitionen in großem Umfang getätigt werden müssen. Aber
diese Anforderungen generieren auch einen Markt.
Wenn man heutzutage baut oder Eigentum kauft, achtet
man auf vieles, in der Regel auch darauf, dass dieses Eigentum auch im Alter und mit möglichen Gebrechen
noch bewohnbar ist. Aber auch viele, die zur Miete leben, stellen diese Ansprüche an ihr Mietobjekt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Momentan ist es so, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft in erster Linie die Eigentümer für die nachfragegerechte Fortentwicklung der Wohnungsbestände
und des Neubaus verantwortlich sind. Sie müssen die
Verantwortung übernehmen für ältere und behinderte
Menschen und erhöhen gleichzeitig auch die Vermietbarkeit ihrer Wohnungen, und sie tun das oftmals in vorbildhafter Weise.
Und seien wir doch ehrlich: Auch die Kommunen
kommen schon längst ihrer Verantwortung nach, wenn
es zum Beispiel darum geht, die öffentlichen Räume in
Stadtquartieren altersgerecht umzubauen und die Planung und Beratung hinsichtlich des alters- und behindertengerechten Wohnens zu unterstützen.
Sie sprechen unter anderem die sogenannte Musterbauordnung an, die konkret die Länder betrifft; denn in
deren Hand und Regelungsbereich fallen die Bauordnungen. Generell liegt auch weiterhin die Gesetzgebungskompetenz ausschließlich bei den Ländern, und
der Bund sollte sich mit Aufgabenzuweisungen und Ratschlägen zurückhalten, insbesondere dann, wenn die
Forderungen Kosten verursachen, die zulasten der Landeshaushalte gehen. Aber die Bundesländer sind nicht
untätig: In 14 Bundesländern enthält die Landesbauordnung - angelehnt an die Musterbauordnung - im Neubau eine Aufzugspflicht bei mehr als fünf Vollgeschossen
eines Wohngebäudes. Zwei Länder fordern bereits bei
mehr als 4 Vollgeschossen den Einbau von Aufzügen.
Um es abzuschließen - in den vergangenen Ausschusssitzungen wurde schon oft darauf eingegangen -:
Die Gestaltung barrierefreien Wohnens und barrierefreier Mobilität für ältere sowie für behinderte und in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen hat für das
Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und
für die Union eine hohe Bedeutung, die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels künftig auch noch
wachsen wird. Die Herstellung von Barrierefreiheit
beim Personenverkehr ist ein ebenso wichtiger Faktor
für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben wie die Barrierefreiheit in
den eigenen vier Wänden.
Bei dem genannten KfW-Programm handelt es sich
allerdings keinesfalls um die einzige Maßnahme des
Bundes, die Barrierefreiheit fördert. Da gibt es nicht zuletzt den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention, mit dem die Bundesregierung einen wichtigen Schritt nach vorne geht und
mit dem sie ein weiteres wichtiges Vorhaben aus dem
Koalitionsvertrag umsetzt. Der Aktionsplan beinhaltet
ein Maßnahmenpaket und stellt einen Motor für Veränderung dar, aber er ist kein Gesetzespaket. Es geht darum, bestehende Lücken zwischen Gesetzeslage und
Praxis zu schließen.
Zudem hat der Aktionsplan einen Zeithorizont von
zehn Jahren, der uns also viel Zeit für nötige Veränderungen gibt, uns aber auch eine Frist setzt. Ziel ist es,
ihn dabei kontinuierlich auf den Prüfstand zu stellen und
entsprechend neuerer Erkenntnisse weiterzuentwickeln,
das erste Mal in zwei Jahren.
Wie ein roter Faden muss sich mit ihm die Inklusion
auf allen politischen Ebenen durch unsere Überlegungen und Entscheidungen ziehen. Und das heißt zum Beispiel, dass die gemeinsame Erziehung und Bildung von
behinderten und nichtbehinderten Kindern konsequent
vorangetrieben werden muss.
Aber es gibt auch weitere Punkte, die es zu beachten
gilt: Es gilt Hilfe- und Unterstützungsleistungen so zu organisieren, dass sie sich an den Lebenslagen und Bedürfnissen von Personen orientieren und nicht an Strukturen
von Organisationen und Institutionen. Darüber hinaus
müssen wir langfristig eine inklusive Arbeitsgesellschaft
schaffen.
Wir wissen alle, dass wir in einer älter werdenden
Gesellschaft leben und auf den demografischen Wandel
reagieren müssen: Die Anzahl der über 80-Jährigen
wird bis 2050 auf über 10 Millionen steigen. Mit zunehmendem Alter nehmen körperliche Einschränkungen zu.
Stufen und Treppen machen vielen, insbesondere älteren
Menschen, das Leben schwer. Das Thema Barrierefreiheit spielt für Ältere ebenso eine große Rolle wie für
Menschen mit Behinderungen.
Nach Schätzungen der Wohnungswirtschaft ist derzeit
jedoch nur 1 Prozent des Wohnungsbestandes barrierefrei und nur weitere 4 Prozent barrierearm ausgestaltet.
Nach einer Studie des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung wird der Bedarf an barrierefreien und -armen Wohnungen bis 2020 auf zusätzlich
2,5 Millionen Wohnungen geschätzt. Es liegt auf der
Hand, dass wir mehr barrierefreien Wohnraum benötigen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich mit dem Antrag „Barriefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen Voraussetzungen für Teilhabe und Gleichberechtigung“
ausführlich zu diesem Thema in den Deutschen Bundestag eingebracht.
Fest steht: Es fehlt schon jetzt eklatant an altersgerechtem Wohnraum, und die Situation wird sich mit der
steigenden Anzahl älterer Menschen noch weiter verschärfen. Investoren, Politik und Verwaltung müssen
sich daher frühzeitig auf die sich verändernden Rahmenbedingungen einstellen. Die Bundesregierung muss
jetzt handeln.
Stichwort „gezielte Förderpolitik“: Die brauchen wir
dringend. Umso unverständlicher ist es, dass die Bundesregierung das KfW-Förderprogramm „Altersgerecht
Umbauen“, wie aus dem Bundeshaushaltsentwurf von
2012 hervorgeht, auslaufen lässt. Dabei hat die Bundesregierung selbst das Programm als sehr positiv eingestuft: In ihrer Antwort auf die Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion bescheinigte sie dem Programm „eine
erfreuliche Bilanz“, zudem bereitete es „in der Umsetzung keine Probleme.“ Da kann ich mich nur fragen:
Warum aber soll dann das Programm „Altersgerecht
Umbauen“ gestrichen werden? Das Förderprogramm
ist doch von enormer Bedeutung: Älteren Menschen ermöglicht es, lange und selbstbestimmt in ihrer Wohnung
und in ihrem gewohnten Umfeld zu leben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vergessen wir nicht, dass Wohnen ein Grundrecht ist,
die Bundesregierung die UN-Behindertenkonvention
unterschrieben hat und somit in der Pflicht steht, für
barrierefreien Wohnraum zu sorgen. Barrierefreier
Wohnraum kommt im Übrigen nicht nur Älteren und
Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sondern
auch Familien zugute. Aber barrierefreie Umbauten
sind eben auch kostenintensiv, „Altersgerecht Umbauen“ leistet hierbei wichtige finanzielle Unterstützung. Statt das Förderprogramm auslaufen zu lassen,
gilt es, das Programm zu erhalten. Wenn die Bundesregierung das Programm mit dem Argument streicht, dass
die Mittel nicht voll abgerufen werden, schüttet sie das
Kind mit dem Bade aus. Es muss doch vielmehr darum
gehen, die Förderkonditionen so zu gestalten, dass das
Programm angenommen wird. Es muss darum gehen,
bei Hauseigentümern und Wohnungsunternehmen Bewusstsein für die Notwendigkeit barrierefreien Umbaus
zu schaffen. Die Politik ist hier gefordert, aber ganz klar
auch die privaten Hauseigentümer und die Wohnungswirtschaft.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung dazu auf, das Programm „Altersgerecht Umbauen“ auf bisherigem Niveau zu erhalten. Mit unserem
Antrag stehen wir übrigens nicht nur für den bloßen Erhalt, sondern vielmehr für eine Weiterentwicklung des
Programms: Unser Ziel ist es, langfristig den Bedarf an
altersgerechtem Wohnraum schneller zu decken als bisher.
Um das Thema Barrierefreiheit anzugehen, bedarf es
darüber hinaus eines Gesamtpakets: Das Informationsund Beratungsangebot muss insgesamt ausgebaut und
besser auf ältere Menschen abgestimmt werden. Noch
immer mangelt es an einer Evaluation des Status quo bei
der Zugänglichkeit von Gebäuden - und das, wo es doch
erfolgreiche Beispiele wie die Wheelmap gibt: eine Onlinekarte vom Berliner Verein Sozialhelden, mit der körperlich eingeschränkte Menschen wie Rollstuhlfahrer,
aber auch Ältere die Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude im Vorfeld prüfen können. Nach dem Ampelprinzip werden hier öffentliche Einrichtungen wie Museen
oder Bahnhöfe kategorisiert. Damit es zukünftig noch
mehr solcher Projekte gibt, sollte der Bund solche Vorzeigeprojekte fördern.
Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, Barrierefreiheit nicht nur beim Wohnungsbau, sondern auch im
Wohnumfeld zu berücksichtigen, das heißt Mobilität im
Sinne der Erreichbarkeit von Arbeitsstätten, Einkaufsmöglichkeiten, ärztlicher Versorgung, Bildungs- und sozialen Angeboten. Genau aus diesem Grund hat die
SPD-Bundestagsfraktion mit dem bereits erwähnten
Barrierefreiheitsantrag einen umfassenderen Ansatz als
die Grünen gewählt: Barrierefreiheit muss auch für das
Lebensumfeld gewährleistet werden, das heißt im Bereich der Mobilität und Infrastruktur. Ein Beispiel:
Klapprampen für Geschäfte sind kostengünstig - und erleichtern das Leben von Mobilitätsbehinderten auf einfache Weise.
Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass
die Förderung von Barrierefreiheit integraler Bestandteil der Städtebauförderung wird. Es ist Aufgabe des
Bundes, barrierefreies Bauen und Umbauen von Wohnraum stärker zu fördern. Eine stärkere Kopplung staatlicher Förderung an Kriterien der Barrierefreiheit wäre
zielführend. Damit Barrierefreiheit bereits bei Planung
und Ausführung mitbedacht wird, muss sie insbesondere
für Baumaßnahmen der öffentlichen Hand gelten - man
bedenke hier die Vorbildfunktion. Um das umzusetzen,
wäre ein Programm zur Förderung der Barrierefreiheit
von öffentlichen Gebäuden notwendig; so könnten auch
finanzschwache Kommunen die Anforderungen der UNBehindertenkonvention erfüllen.
Da barrierefreie Umbauten kostenintensiv sind, wäre
es nur logisch, bereits im Planungsprozess die DIN-Normen für barrierefreies Bauen zu berücksichtigen. Doch
derzeit ist noch das Gegenteil der Fall, die Normen sind
nur zum Teil im Baurecht verankert. Hier sind die Länder gefordert: Sie müssen die Standards setzen.
Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass die Musterbauordnung im Hinblick auf die Anforderungen an Barrierefreiheit bei Bau und Umbau überarbeitet wird. Die
Länder müssen die Umsetzung dieser Anforderungen
effektiver überwachen und Verstöße sanktionieren.
Ich appelliere nochmal an die Bundesregierung, die
Kürzungen bei der Städtebauförderung zurückzunehmen
und das erfolgreiche KfW-Programm „Altersgerecht
Umbauen“ auf bisherigem Niveau langfristig weiterzuführen. Auch die bestehenden KfW-Programme müssen
weiterentwickelt und ergänzt werden - nur so können
wir den Anforderungen der Behindertenkonvention gerecht werden.
Barrierefreiheit muss selbstverständlich werden bei
Bau und Umbau. Bis dahin aber ist es noch ein weiter
Weg, den die Bundesregierung aktiv gestalten muss. Das
Programm „Altersgerecht Umbauen“ ist so ein wichtiger Baustein. Deshalb fordere ich Sie auf: Setzen Sie
dieses Programm zumindest auf bisherigem Niveau fort!
Das Wohnen im Alter bleibt Schwerpunkt unserer
Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik, damit „ältere
Menschen und Menschen mit Behinderungen länger und
lebenswerter in ihrem gewohnten Umfeld wohnen können“ - so der Koalitionsvertrag von Union und FDP.
Von Winston Churchill soll der Satz stammen: Der
Pessimist sieht in jeder Aufgabe ein Problem, der Optimist in jedem Problem eine Aufgabe. - Und da wir als Liberale von Hause aus Optimisten sind, sehen wir im demografischen Wandel eine große Aufgabe. Denn - gleich
vorneweg gesagt - wir sind heute nicht zusammengekommen, um den demografischen Wandel zu beklagen.
Denn es ist ganz entscheidend, dass alle Akteure gemeinsam anpacken und entschlossen an einem Strang
ziehen. Keine andere Entwicklung wird unsere Gesellschaft so stark beeinflussen und nachhaltig verändern
wie der demografische Wandel.
Wir stehen bekanntlich vor einer mehrfachen Herausforderung: Zum einen sinken in Deutschland seit den
70er-Jahren die Geburtenzahlen und unterschreiten seit
Zu Protokoll gegebene Reden
langem den Schwellenwert, der für ein Gleichgewicht
aus Geburten und Sterbefällen nötig wäre. Die Bevölkerung schrumpft. Sodann steigt gleichzeitig aufgrund des
medizinischen Fortschritts Gott sei dank die Lebenserwartung stetig an. Die Anzahl älterer Menschen innerhalb der Bevölkerung steigt. Und zudem haben immer
mehr Bürgerinnen und Bürger einen Migrationshintergrund. Zuwanderer kommen zu uns. Kurz gesagt: Wir
werden weniger, älter und kulturell vielfältiger - mit allen Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialversicherungen und im Alltag.
Der demografische Wandel ist kurz- und mittelfristig
nicht umkehrbar. Selbst wenn heute mehr Kinder geboren würden, würde es mindestens 20 Jahre dauern, bis
diese das erwerbsfähige Alter erreichen. Allerdings wird
sich der demografische Wandel in Deutschland regional
sehr unterschiedlich - Abwanderungen im ländlichen
Raum, Zuwanderungen in Ballungszentren - bemerkbar
machen.
Die Alterung wird den ländlichen Raum besonders
stark betreffen. Übrigens: Ländliche Regionen deshalb
aufs Abstellgleis zu schieben, wäre der absolut falsche
Weg. Das würde der großen Bedeutung des ländlichen
Raumes keinesfalls gerecht. Lassen Sie mich deshalb bei
dieser Gelegenheit für die FDP nochmals klarstellen:
Keine einzige Region darf abgehängt werden. Wir setzen
in ganz Deutschland auf gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Gleichwertig heißt dabei nicht gleichartig. Aber es geht um vergleichbare Chancen. Themen
wie die zukünftige ärztliche Versorgung im ländlichen
Raum, die Stärkung der Innenstädte und Ortskerne, Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur stehen ganz
oben auf der Agenda.
Die Herstellung der weitestgehenden Barrierefreiheit
ist ein dynamischer Prozess, der nur schrittweise und
unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vollzogen werden kann. Deutschland hat die UNBehindertenrechtskonvention als einer der ersten Staaten unterzeichnet. Sie ist seit dem 26. März 2009 verbindlich. Das deutsche Recht genügt bereits heute den
Anforderungen der VN-Behindertenrechtskonvention.
Im Koalitionsvertrag haben sich die Regierungsparteien
gleichwohl darauf verständigt, einen Aktionsplan zur
Umsetzung der UN-Konvention zu entwickeln, um die
bestehende Lücke zwischen Gesetzeslage und Praxis zu
schließen.
„Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr“, sagt
das Sprichwort. Es ist doch ein verständlicher Wunsch,
dass Menschen im Alter möglichst lang zu Hause bleiben wollen. 86 Prozent der „jungen“ Alten - die heute
50- bis 65-Jährigen - wollen so lange wie möglich in der
eigenen Wohnung leben. Wohnbarrieren müssen reduziert werden.
Aktuelle Situation: Wohnen zuhause ist die bevorzugte Wohnform im Alter: 93 Prozent der 65-jährigen
und älteren Menschen leben in „normalen“ Wohnungen,
auch rund zwei Drittel der 90-Jährigen. Von Senioren
genutzte Wohnungsangebote sind vielfach nicht altersgerecht, sondern weisen erhebliche Barrieren beim Zugang zur Wohnung und im Sanitärbereich auf. Mehr als
drei Viertel der Senioren wohnen in Gebäuden mit zwei
oder mehr Stockwerken - auch im Einfamilienhaus über
50 Prozent; deutlich über 90 Prozent ohne technische
Hilfen. Senioren wohnen überwiegend in älterer Bausubstanz. Über 60 Prozent der Senioren in Beständen
mit Baujahr vor 1971, Schwerpunkt Nachkriegszeit
1949 bis 1971; weitere 20 Prozent in Gebäuden der
Baujahre 1972 bis 1980. Je circa 50 Prozent Mieter und
Eigentümer, vor allem jüngere Senioren überwiegend im
selbst genutzten Eigentum. Zukünftig wächst der Anteil
Hochaltriger mit erhöhtem Pflegerisiko in diesem
Marktsegment.
Die Lage der genutzten Wohneinheiten kann die
selbstständige Lebensführung im Alter beeinträchtigen.
Vor allem in Randlagen und Siedlungen außerhalb geschlossener Ortschaften bestehen oft Einschränkungen
in der Mobilitätsversorgung und in Bezug auf die versorgende Infrastruktur.
Barrierearmut ist als zukunftsfähiges Qualitätsmerkmal einer der zentralen Begriffe, die das öffentliche
Leben in den nächsten Jahren bestimmen werden. Die
Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP
spricht sich klar dafür aus, Mobilität zu ermöglichen
und nicht zu behindern, und fordert zudem mehr Barrierearmut im Wohnumfeld und im öffentlichen Raum.
Unser Ziel ist eine höhere Lebensqualität für alle
Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.
Hier ergibt sich Handlungsbedarf vor dem Hintergrund,
dass der Anteil älterer Menschen deutlich zunehmen
wird. Nur circa 1,2 Prozent der Wohnungen in Deutschland sind altersgerecht und bis 2020 werden rund
2,5 Millionen zusätzlich benötigt - denn 86 Prozent der
„jungen“ Alten - die heute 50- bis 65-Jährigen - wollen
so lange wie möglich in der eigenen Wohnung leben.
Dies bedeutet: Wohnbarrieren müssen reduziert werden.
Wünschenswert wäre eine Verzehnfachung der Quote an
altengerechtem Wohnraum auf 20 Prozent bis 2030.
Investitionen zur Bereitstellung eines ausreichenden
Angebots altersgerechten Wohnraums sind vorrangig
von den Eigentümern der Wohnungen, sei es als Vermieter oder als Selbstnutzer, zu erbringen. Der Staat kann
sie dabei auf verschiedene Weise unterstützen, zum Beispiel durch finanzielle Anreize. Für die Beseitigung von
Barrieren im Wohnbereich können auch steuerliche Vorteile genutzt werden. Vermieter können entsprechende
Aufwendungen entweder sofort in voller Höhe oder über
mehrere Jahre verteilt im Wege der Abschreibung steuerlich berücksichtigen. Selbstnutzende Eigentümer und
Mieter können auch für die entsprechenden Aufwendungen die Steuervergünstigung für Handwerkerleistungen
in Anspruch nehmen und so ihre Steuerlast um maximal
1 200 Euro im Jahr mindern. Die Länder erhalten bis
2013 insgesamt 518,2 Millionen Euro zweckgebunden
für die soziale Wohnraumförderung vom Bund. Sie finanzieren daraus zusammen mit eigenen Mitteln unter
anderem Programme für die Barrierereduzierung im Bestand, Mietwohnungsneubau für Menschen mit Behinderungen, Modernisierung von Alten- und Pflegeheimen.
Die Praxis zeigt: Weitestgehende Barrierefreiheit
beim Bauen ist nahezu kostenneutral, wenn sie rechtzeiZu Protokoll gegebene Reden
tig beachtet wird. Gleichzeitig ermöglicht ein langes
Wohnen im Zuhause eines jeden Einzelnen deutliche
Kostenvorteile bei notwendiger Pflegeunterstützung.
Die ambulante Pflege in den eigenen vier Wänden ist
deutlich günstiger als die stationäre Pflege und damit
gleichermaßen entlastend für die Pflegeversicherung.
Dies ist eine Entlastung für die zukünftige Generation.
Während im Jahr 2000 noch etwa vier Arbeitnehmer für
die Rente eines Rentners aufgekommen sind, müssen im
Jahr 2040 etwa zwei Arbeitnehmer die Rente eines Senioren tragen. Zukunftsfähige Baupolitik kommt an einer Fortführung des KfW-Programms „Altersgerechter
Umbau“ nicht vorbei.
Reden und Handeln klaffen aber bei Ihnen auseinander. Die Frage sei erlaubt: Wenn den Grünen das Thema
so wichtig ist, warum hat sich deren Fraktion bei der
Abstimmung am 8. Juli im Bundestag zum schwarz-gelben Antrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention enthalten und nicht zugestimmt? SPD und
Linke haben ganz dagegen gestimmt.
Schließlich wird in diesem Antrag die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, das auslaufende Programm zum altersgerechten Umbau über 2011 hinaus zu
verstetigen. Im Übrigen: Das Programm wird nicht
„eingestellt“ oder gar „abgeschafft“, wie Sie das immer
behaupten, sondern es läuft schlicht aus, war - aus Mittel des Konjunkturpakets I gespeist - nur bis 2011 befristet. Bitte bei der Wahrheit bleiben! Die Weiterentwicklung des Programms ist Auftrag der schwarz-gelben
Koalitionsvereinbarung, auch in schwieriger Finanzlage. Aufgrund der positiven Erfahrungen werbe ich in
den Haushaltsberatungen intensiv für eine ordentliche
Mittelausstattung bei einer Weiterführung des Programms.
Sie wissen sicher: Regelungen zur Barrierefreiheit in
Gebäuden gehören zum Bauordnungsrecht. Für diese
Rechtsmaterie liegt die Gesetzgebungskompetenz unverändert - auch nach der letzten Föderalismusreform ausschließlich bei den Ländern. Ich bin daher sehr gespannt, wie und ob Sie das dort, wo Sie Verantwortung
in den Länderregierungen tragen, auch umsetzen. Davon sollte man ja ausgehen, allein sehen kann ich davon
nichts. Dort sparen Sie und hier erstellen Sie einen
Wunschzettel.
Ich selbst baue gerade mein Elternhaus in ein Mehrgenerationenhaus für meine Eltern, meine Großmutter
und mich barrierearm und energieeffizient um - falls Sie
also Anregungen aus der Praxis brauchen, lade ich Sie
gerne ins schöne Forchheim ein.
Am Umgang mit unseren Senioren, am Respekt vor
den Älteren beweist sich die menschliche Qualität unseres Landes, die keine kalte Gesellschaft werden darf. Die
höhere Lebenserwartung ist ein großer Gewinn für den
Einzelnen, für die Familien und für die gesamte Gesellschaft. Noch nie war die Generation der über 60-Jährigen so gesund und aktiv wie heute. Senioren haben eine
enorme Lebenserfahrung und Kompetenz. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auf den Erfahrungsschatz dieser Generation zu verzichten!
Als junger Abgeordneter sage ich: Wir bauen heute
auf dem auf, was vor uns geschaffen wurde. Dank des
Einsatzes, der Arbeit und des Fleißes der jetzt älteren
Generation steht Deutschland hervorragend da.
Wir brauchen hier einen positiven Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft: Ich wünsche mir, dass unser
Land auch künftig für Alt und Jung lebenswert ist. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir in
Deutschland auch in Zukunft ein selbstbestimmtes, generationengerechtes und barrierearmes Leben führen
können.
Jede und jeder von Ihnen, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, kennt das Schild, das an fast allen Aufzügen steht: „Im Brandfall nicht benutzen“. Im Klartext
heißt das, dass gehbehinderte Menschen sich im Notfall
nicht selbst retten können. In der Brandschutzordnung
unseres Deutschen Bundestages heißt es unter anderem:
„Die Evakuierung von Behinderten im Zuständigkeitsbereich der Fraktionen ist eigenverantwortlich zu organisieren und sicherzustellen. Entsprechende Hinweise
auf die Büros von Behinderten sind in den Pforten des
jeweiligen Gebäudes zu hinterlegen. Was - das werden
Sie sich jetzt fragen - hat das mit dem vorliegenden Antrag zu tun? Menschen mit Behinderungen sind bei fast
allen Gebäuden mit Barrieren konfrontiert, die sie nur
schwer oder gar nicht überwinden können. Das betrifft
sowohl das Hineinkommen in ein Gebäude, die Fortbewegung innerhalb des Gebäudes und - zum Beispiel bei
Bränden - auch das Verlassen eines Gebäudes. Dabei
gibt es längst Aufzüge, die auch im Brandfall noch längere Zeit - eben zur Evakuierung - nutzbar sind. Sie
sind nur etwas teurer als die allgemein üblichen Aufzüge.
Das führte dazu, dass der eigentlich mit vergleichsweise hervorragend barrierefreien Gebäuden ausgestattete Bundestag 300 Menschen mit Behinderungen erst zu
einem Dialog mit den Bundestagsabgeordneten am
2. und 3. Dezember 2011 einlud und - da sich darunter
zu viele Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen befinden - wieder auslud. Dieser an Peinlichkeit kaum zu
übertreffende Vorgang zeigt, wie das wirkliche Leben ist
und wie weit wir noch von einer inklusiven Gesellschaft
entfernt sind.
Kaum ein Gebäude ist barrierefrei. Das betrifft
Wohngebäude, Arztpraxen, Schulen, Hotels, Gaststätten, Verwaltungsgebäude, Bahnhöfe, Kultureinrichtungen usw. Das Problem ist nicht neu, aber die Aktivitäten
zur Beseitigung der Barrieren und zur Vermeidung
neuer Barrieren lassen arg zu wünschen übrig. Es beginnt beispielsweise damit, dass an der Spitze des Bundesbau- und Verkehrsministeriums mit Herrn Ramsauer,
CSU, ein Minister steht, der das Wort „Barrierefreiheit“
nicht zu kennen scheint, erst recht nicht, welche Probleme sich damit verbinden und was - auch durch ihn zu tun ist. Wer es nicht glaubt, sollte sich mal die rund
700 Pressemitteilungen des Ministers auf seiner Homepage oder seine Reden im Bundestag sowie auf diversen
Veranstaltungen oder seine Antworten auf meine diesbeZu Protokoll gegebene Reden
züglichen Anfragen ansehen. Vorschläge seinerseits für
gesetzliche Rahmenbedingungen, zum Beispiel durch
verbindliche Vorgaben zum barrierefreien Bauen, im
Baugesetzbuch? - Fehlanzeige! Initiativen seinerseits,
mit Konjunkturprogrammen der Bundesregierung, steuerlichen Anreizen oder KfW-Programmen barrierefreies
Bauen zu fördern? - Fehlanzeige? Im Gegenteil: Das
kleine Pflänzchen KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ soll 2012 wieder gerodet werden.
Dabei gibt es seit März 2009 mit der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Behindertengleichstellungsgesetz aus dem Jahr 2002 Gesetze in Deutschland,
welche Bund, Länder und Kommunen verpflichten, sich
aktiv für die Schaffung von Barrierefreiheit in Wohnungen und im Wohnumfeld einzusetzen. Nicht einmal
2 Prozent aller Wohnungen in der BRD sind barrierefrei.
Wer behinderungs- bzw. altersbedingt auf Barrierefreiheit angewiesen ist, steht - so meine Erfahrungen - vor
gravierenden Problemen. In einigen Fällen sind Anpassungsmaßnahmen am Wohngebäude oder in der Wohnung möglich. Voraussetzungen dafür sind die Zustimmung des Eigentümers und die Klärung der
Finanzierung. Beide Hürden sind oft nicht überwindbar.
Hinzu kommt der absurde Fakt, dass die Schaffung der
Barrierefreiheit nicht etwa als Wertsteigerung begriffen
wird, sondern sie bei Auszug oder Tod auf Kosten der
behinderten Menschen sogar wieder rückgängig gemacht werden muss.
Also bleiben drei Möglichkeiten: erstens der Verbleib
in der nicht barrierefreien Wohnung unter Inkaufnahme
menschenunwürdiger Bedingungen - dazu zähle ich massive Bewegungseinschränkungen innerhalb der Wohnung,
Einschränkungen in der Nutzung von Toilette und Waschmöglichkeiten und äußerst eingeschränkte Möglichkeiten,
die Wohnung zu verlassen -, zweitens der Umzug in eine
barrierefreie Wohnung, was angesichts des fehlenden
Wohnungsangebotes und der mit dem Umzug verbundenen Kosten ebenfalls schwer zu realisieren ist, sowie drittens der Umzug ins Heim - ein Weg, der für viele Menschen aus mir sehr verständlichen Gründen nicht
erstrebenswert ist.
Deswegen unterstütze ich ausdrücklich die Losung des
Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, GdW, „Aufzug statt Auszug“ und diesbezügliche Initiativen des sächsischen Verbandes der
Wohnungsgenossenschaften. Wir brauchen dringendst
deutlich mehr barrierefreie Wohnungen, Wohngebäude
und ein entsprechendes Wohnumfeld. Deswegen wird die
Linke den vorliegenden Antrag unterstützen.
Ein Weg ist die Beseitigung vorhandener Barrieren.
Dazu brauchen wir verbindliche Regelungen im Baugesetzbuch und den Landesbauordnungen, entsprechende
Förderprogramme und intelligente Lösungsvorschläge
von Architektinnen und Architekten sowie den Baufirmen. Bei den Förderungen kann man von den bewährten
Instrumenten hinsichtlich der Sanierung in denkmalgeschützten Gebäuden und bei der energetischen Sanierung lernen. Statt eine Einstellung des KfW-Programms
„Altersgerechtes Umbauen“ fordert die Linke schon mit
dem Bundeshaushalt 2012 dessen Erhöhung und Verstetigung. Auch eine andere Bezeichnung dieses KfW-Programms halte ich für sinnvoll. Neubauten müssten künftig generell barrierefrei bzw. so barrierearm gebaut
werden, dass individuelle Anpassungen unkompliziert
möglich sind. Das ist auch eine Herausforderung für die
Firmen, welche Einfamilienhäuser und andere kleine Eigenheime anbieten.
Ich habe zwei Visionen hinsichtlich der Barrierefreiheit von Wohnungen und anderen Gebäuden. Erstens
hoffe ich, dass irgendwann alle Gebäude und alle Wohnungen barrierefrei sind. Ich möchte - egal mit welcher
Behinderung - uneingeschränkt in meiner Wohnung leben und auch jederzeit Verwandte, Bekannte und
Freunde in deren Wohnungen besuchen können. Auch
das gehört zu umfassender Teilhabe, wie sie in der UNBehindertenrechtskonvention festgeschrieben wurde.
Zweitens möchte ich in jedes Gebäude nicht nur hinein-, sondern auch bei Notfällen wie andere Menschen
ohne Behinderungen wieder hinauskommen können.
Alle wollen alt werden, niemand will alt sein. Obwohl
sich alles ständig im Wandel befindet - eines ist sicher wir alle werden älter, auch wenn wir es nicht unbedingt
wahrhaben wollen. Zum Glück sind wir damit nicht alleine, denn bis 2030 wird die Anzahl der über 65-Jährigen auf 22,3 Millionen und die der über 80-Jährigen auf
6,4 Millionen steigen. Wir befinden uns also in guter Gesellschaft.
Dieser Tatsache muss auch im Wohnbereich Rechnung
getragen werden, vor allem weil wir alle selbstbestimmt
leben wollen, ob kerngesund, im hohen Alter oder mit einer körperlichen Beeinträchtigung, auch vor dem Hintergrund der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Die eigene Wohnung, sei es eine Miet- oder
Eigentumswohnung, steht unter dem besonderen Schutz
unserer Rechtsordnung. Sie bietet uns einen geschützten
Raum zur freien Persönlichkeitsentfaltung. Deswegen
wollen und sollen auch ältere Menschen so lange wie
möglich unabhängig und selbstbestimmt wohnen. Aber
über die Hälfte der Seniorenhaushalte lebt in Gebäuden,
die zwischen 1949 und 1980 gebaut wurden. Hier ist eine
barrierearme Bauweise kaum zu finden. Aber es besteht
eine hohe Bereitschaft, entsprechend altersgerecht umzubauen. Doch häufig fühlen sich die Menschen, gerade
wenn sie schon etwas älter sind, diesbezüglich überfordert. Ich vermute, dass aus diesem Grund die bisher bereitgestellten Bundesmittel über das KfW-Programm
„Altersgerecht Umbauen“ so schlecht abgeflossen sind.
Hinzu kommt, dass es erfahrungsgemäß eine Weile dauert, bis Förderprogramme bei Bürgern „ankommen“ und
ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse daran geweckt
werden. Von den 2010 bereitgestellten 90 Millionen Euro
wurden nur rund 32 Millionen Euro abgerufen. Das zeigt
aber nicht, dass das Programm sinnlos ist und gestrichen
werden sollte, so wie es die Bundesregierung plant, im
Gegenteil. Es muss besser beworben und zielgruppengerecht ausgestaltet werden.
Altersgerechtes und barrierearmes Wohnen ist menschenrechtes Wohnen. Es profitieren nicht nur alte oder
Zu Protokoll gegebene Reden
hochbetagte Bewohner, auch Bewegungseingeschränkte,
Rollstuhlfahrer oder Familien mit kleinen Kindern gewinnen mehr Bewegungsfreiheit. Mit dem Auslaufen des Programms „Altersgerecht Umbauen“ zeigt sich einmal mehr,
dass die schwarz-gelbe Bundesregierung ein wohnungspolitischer Totalausfall ist. Selbstverständlich sehen auch
wir die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung. Gerade weil „nur“ 32 Millionen Euro von 90 Millionen Euro
abgerufen wurden, kann mit einem reduzierten Mitteleinsatz ein immer wichtiger werdendes KfW-Programm erhalten werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7188 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Inge Höger, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg schließen
- Drucksache 17/5757 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Wolfgang Götzer, Werner
Schieder, Joachim Spatz, Kornelia Möller und Thomas
Gambke.
Seit den 30er-Jahren leben die Menschen in der Region Siegenburg mit den Belastungen und Risiken, die
der Luft-Boden-Schießplatz mit sich bringt: Unfälle,
teilweise beträchtlicher Lärm und Bodenkontamination
beeinträchtigen die Lebensqualität.
Seit Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit in
den 80er-Jahren ist der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg ganz oben auf der Liste der besonders wichtigen
Themen meiner Wahlkreisarbeit. In zahllosen Gesprächen, Briefen, Anfragen, Ortsterminen unter anderem
auch mit dem Parlamentarischen Staatssekretär beim
Bundesministerium der Verteidigung, Christian Schmidt,
kämpfe ich seitdem - gemeinsam mit den Politikern vor
Ort und der Bürgerinitiative - dafür, dass der Bombenabwurfplatz geschlossen wird. Dies wurde stets vom
Bundesverteidigungsministerium mit dem Hinweis abgelehnt, dass der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg
militärisch unverzichtbar sei. Daran hat sich übrigens
auch unter der rot-grünen Regierung nichts geändert.
Deshalb habe ich all die Jahre dafür gekämpft, dass
wenigstens die Zahl der Überflüge reduziert wird. Dieser Einsatz hat sich gelohnt: Waren es 1993 noch 1741
Flüge pro Jahr, so sank die Zahl der Flüge im Jahr 2000
auf 660 und erreichte schließlich 2009 einen absoluten
Tiefststand von 17 Flügen pro Jahr.
Ein weiterer Erfolg ist, dass im gültigen Nutzungskonzept für die beiden Luft-Boden-Schießplätze in
Deutschland - nämlich Siegenburg und Nordhorn - der
geplante Nutzungsumfang und die planerische Obergrenze festgelegt sind. Letztere liegt deutlich unter den
Einsatzzahlen der 90er-Jahre. Die tatsächliche Nutzung
in Siegenburg lag in den vergangenen Jahren wiederum
deutlich unter dem geplanten Nutzungsumfang.
Trotzdem bleibt unser Ziel die Schließung des LuftBoden-Schießplatzes Siegenburg. Dafür spricht aus
meiner Sicht eine ganze Reihe von Gründen: Praktikabilität, Kosten, Gefährdung und Nutzbarkeit sind hier zu
nennen. Bereits im Jahr 2007 empfahl der Bundesrechnungshof der Bundeswehr, die Mitfinanzierung und -nutzung des LBS Siegenburg aufzugeben. Vor allem bin ich
aber der Auffassung, dass die Nutzung des Bombenabwurfplatzes in Siegenburg aufgrund der veränderten militärischen Herausforderungen nicht mehr notwendig
ist. Wegen seiner geringen Fläche können auf dem Platz
nämlich nur ungelenkte Waffen eingesetzt und erprobt
werden. Solche werden aber in absehbarer Zeit kaum
noch zum Einsatz kommen. Beispielsweise der Eurofighter verfügt über solche Waffensysteme schon gar nicht
mehr. Dies ist für mich der entscheidende Punkt, denn
selbstverständlich muss gewährleistet sein, dass unsere
Soldaten und die unserer Verbündeten auf ihre immer
gefährlicher werdenden Einsätze nach wie vor bestmöglich vorbereitet werden können. Siegenburg ist dafür
aber nicht mehr erforderlich.
Der Standort Siegenburg wird derzeit im Rahmen der
Bundeswehrreform überprüft. Im Zuge dieser Überprüfung finden im Bundesministerium der Verteidigung Untersuchungen zum künftigen Übungsbetrieb der Luftwaffe statt. Ob und in welchem Umfang die Ergebnisse
dieser Untersuchungen oder die anstehenden Entscheidungen zur zukünftigen Struktur der Bundeswehr konkrete Auswirkungen auf die Nutzung des Luft-BodenSchießplatzes Siegenburg durch die Bundeswehr haben
werden, ist nach Auskunft des BMVg noch nicht absehbar. Im Zuge der Bundeswehrreform muss erst ein sicherheitspolitisch unterlegtes Standortkonzept für die
gesamte Bundesrepublik vorliegen, das im Übrigen auch
Nordhorn berücksichtigt. Dieses ist in Kürze zu erwarten. Dieses Konzept wird aus der Sicht des BMVg Aussagen über die Notwendigkeit der weiteren Mitnutzung des
Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg durch die Bundeswehr beinhalten und gegebenenfalls Verhandlungen mit
den US-Streitkräften in Deutschland über die Schließung des Übungsplatzes zur Folge haben.
Die Siegenburg Range ist den US-Streitkräften gemäß
Art. 48 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut
zur Nutzung überlassen worden und wird von der Bundeswehr mitgenutzt. Die Entscheidung zur Beendigung
der militärischen Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes
liegt somit nicht in der alleinigen Zuständigkeit des Bundesverteidigungsministeriums. Auf meine kürzliche Anfrage hin hat mir der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt allerdings mitgeteilt, dass die
US-Streitkräfte die militärische Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes aktuell nicht infrage stellen und dass
seitens der USA auch keinerlei Pläne zur Aufgabe des
Luft-Boden-Schießplatzes existieren. Eine verbindliche
und seriöse Aussage über die Zukunft des Standortes
Siegenburg kann seitens des Bundesverteidigungsministeriums somit zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht getroffen werden.
Gerade jetzt, im Rahmen der umfassenden Bundeswehrreform, sind die Chancen für eine Schließung des
Bombenabwurfplatzes so groß wie nie. Deshalb gilt es,
den derzeit im BMVg laufenden Entscheidungsfindungsprozess zu einem im Sinne der Menschen in der Region
erfolgreichen Ergebnis zu bringen.
In einem von mir als gewähltem Vertreter des Wahlkreises initiierten gemeinsamen Brief mit den ebenfalls
befassten Kollegen von FDP, SPD und Grünen an den
Bundesverteidigungsminister wurden deshalb diesem
nochmals die Gründe, die für die Schließung sprechen,
dargelegt und die Beendigung der Nutzung des Bombenabwurfplatzes gefordert. Eine eventuelle Überführung
des Platzes in eine zivile Nutzung muss dem Standortkonzept der Bundeswehr überlassen bleiben.
Auch die SPD will die Schließung des Luft-BodenSchießplatzes Siegenburg, weil sich die Bedingungen für
seine Nutzung über die Jahre grundlegend verändert haben.
Seit Jahrzehnten steht das Übungsgelände gemäß
Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, Art. 48,
unter hoheitlicher Verwaltung der US-Streitkräfte.
Während die US-Seite ihre Übungen immer mehr reduziert hat - zuletzt nutzten die Amerikaner den Übungsplatz 2008 -, nutzt nunmehr nur noch die Bundeswehr
das Gelände für Übungsflüge - und das auch nur gelegentlich.
Seit Jahren beklagen die Anwohner und die „Bürgerinitiative gegen den Fluglärm e.V.“ in unermüdlichem
Einsatz massivste Fluglärmbelästigung durch den LuftBoden-Schießplatz Siegenburg und auch große Umweltgefahren für das anliegende Grundwasserschutzgebiet.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und parteiübergreifend alle Kommunalpolitiker verlangen meines Erachtens zu Recht die Schließung des Militärgeländes und die Überführung in eine zivile Verwendung siehe Onlineumfrage der „Mittelbayrischen Zeitung“
vom 3. Dezember 2010.
Wiederholt habe ich mich im Verteidigungsministerium für die Schließung des Luft-Boden-Schließplatzes
eingesetzt. Schließlich sprechen auch objektive Gründe
dafür: Der Bundesrechnungshof hat bereits im Jahr
2007 die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die hohen
Unterhaltskosten bemängelt, die in keinem Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen. Immerhin kostet der Erhalt des
Übungsgeländes mehr als eine halbe Million Euro jährlich.
Besonders bedeutsam ist in meinen Augen aber Folgendes: Auf dem relativ kleinen Übungsgelände ist nur
das Training mit ungelenkten Waffen möglich. Diese
Waffengattung ist aber ein Auslaufmodell angesichts der
Weiterentwicklung zu nur noch ferngelenkten Waffensystemen an Bord moderner Kampfjets wie zum Beispiel
dem Eurofighter. Der Zeitpunkt, zu dem die ungelenkten
Raketen nicht mehr eingesetzt werden, ist absehbar, sodass die Notwendigkeit eines entsprechenden Übungsgeländes entfällt.
In einer neuen Initiative habe ich mich nun gemeinsam mit den regional zuständigen Kollegen von den
Grünen, der FDP und der CSU an den Verteidigungsminister de Maizière gewandt und um eine baldige Entscheidung und Klärung bezüglich der Zukunft des LuftBoden-Schießplatzes Siegenburg gebeten. Besonders
vor dem Hintergrund, dass im Zuge der Bundeswehrreform das Standortkonzept für die Übungsplätze sowieso überarbeitet wird, ist die Chance für eine Schließung des Übungsgeländes im Sinne der Menschen vor
Ort äußerst günstig. Voraussetzung ist allerdings, dass
die Bundesregierung in Verhandlungen mit den USStreitkräften das alleinige Verfügungsrecht über die Nutzung des Militärgeländes in Siegenburg erhält. Deswegen sollte die Bundesregierung unverzüglich in Verhandlungen treten. Von amerikanischer Seite wurde mir
signalisiert, dass Gespräche möglich sind. Die Initiative
muss aber von der Bundesregierung kommen.
Nach meiner Überzeugung gibt es keinerlei objektive
oder gute Gründe, die gegen eine Schließung des LuftBoden-Schießplatzes Siegenburg sprechen. Die Bundesregierung muss jetzt im Sinne der Bevölkerung Konsequenzen ziehen.
Der Antrag der Linken ist zwar schön und gut. Wir
von der SPD wollen aber keine Schaufensterpolitik betreiben. Wir brauchen vielmehr Unterstützung aus allen
Fraktionen, um die Bundesregierung endlich dazu zu
bringen, dass sie sich bewegt.
Die Belastung von Anwohnern in der Nähe militärischer Übungsplätze ist naturgemäß hoch, vor allem aufgrund der im Zusammenhang mit Flugbewegungen
entstehenden Lärmbelastung. Vor kurzem hat das Bundesverteidigungsministerium den Bericht zum Truppenübungsplatzkonzept für das Jahr 2010 herausgegeben.
Diese Aufstellung wird aufgrund einer Entschließung
des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages seit 1992 jährlich vorgelegt und umfasst die an den
Luft-Boden-Schießplätzen Wittstock, Nordhorn und Siegenburg stattgefundenen Flugbewegungen. Insgesamt
lag die Anzahl der Einsätze mit Kampfflugzeugen der
Bundeswehr im Jahr 2010 auf Luft-Boden-Schießplätzen und Truppenübungsplätzen im Inland mit 320 um
74 Einsätze unter der Zahl des Vorjahres. Davon entfielen 133 Einsätze auf den Übungsplatz Siegenburg, wobei die überwiegende Zahl der Übungsflüge auf die Bundeswehr entfiel. Die Nutzung des Schießplatzes
Siegenburg liegt aufgrund eines NATO-Truppenstatuts
grundsätzlich in der Zuständigkeit der US-Streitkräfte.
Insgesamt führte die Bundeswehr im Jahr 2010
129 Übungsflüge durch, während sich die Nutzungszahl
unserer NATO-Partner auf 4 belief.
Die militärische Ausbildung und Inübunghaltung der
Angehörigen unserer Luftwaffe sowie unserer alliierten
Zu Protokoll gegebene Reden
Partner sind dringend erforderlich. Beides stellt eine
Grundvoraussetzung dafür dar, dass die Bundeswehr als
Instrument einer umfassend angelegten und vorausschauenden Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen
wesentlichen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes leisten kann. Gleiches gilt für unsere NATO-Partner. Hieraus folgt, dass die Bundeswehr und vor allem auch die
fliegende Besatzung in Kampfflugzeugen die Möglichkeiten haben müssen, entsprechend zu trainieren. Dies
umfasst auch als wesentlichen Bestandteil einer wirksamen und am Auftrag orientierten Ausbildung das regelmäßige Üben von Waffeneinsatzverfahren auf Luft-Boden-Schießplätzen im Inland.
Sowohl die Interessen der betroffenen Anwohner als
auch die notwendigen Ausbildungsmöglichkeiten der
Soldatinnen und Soldaten liegen uns am Herzen. Beide
Anliegen stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zueinander und können nicht einseitig aufgelöst werden. In
einer solch komplexen Frage gibt es keine einfachen Lösungen. Daher müssen wir die Anstrengung unternehmen, ein für beide Seiten angemessenes Ergebnis zu finden.
Es spricht für sich, dass die Antragsteller gerade
nicht um einen solchen Lösungsweg bemüht sind. Stattdessen fordern die Linken die umgehende Schließung
des Luft-Boden-Schießplatzes in Siegenburg. Dies ist
eine plakative Forderung, die den unrühmlichen Versuch darstellt, sich bei den vor Ort Betroffenen als Fürsprecher zu gerieren. Auch in diesem Zusammenhang
zeigt sich wieder einmal, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Linken über verantwortungsvolle Sicherheitspolitik nicht möglich ist. Wer Auslandeinsätze
unserer Bundeswehr pauschal ablehnt und die Auflösung der NATO fordert, der hat auch kein Problem damit, Übungsplätze schließen zu wollen. Verantwortungsvolle und realitätsorientierte Politik sieht jedoch anders
aus.
Wir unterstützen die Bundesregierung ausdrücklich
und nehmen ihr Bemühen ernst, bei allen Entscheidungen bezogen auf die Nutzung inländischer Truppenübungsplätze zwischen operationellen Notwendigkeiten
für unsere Bundeswehr auf der einen und den berechtigten Interessen der betroffenen Bürger auf der anderen
Seite abzuwägen. Wir haben dabei auch in Zukunft volles Vertrauen in die Kompetenz des Bundesministeriums
der Verteidigung, den Ausbildungs- und Einsatzflugbetrieb in dem gerade erforderlichen Maße zu planen, um
damit die Belastungen durch notwendige militärische
Flüge in Deutschland auf das unvermeidbare Maß zu
begrenzen und auch weiterhin minimalinvasiv auszugestalten.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr müssen weiterhin auch in Deutschland die Möglichkeit haben, sich auf ihre gefährlichen Auslandseinsätze vorzubereiten. Schließlich ist ihr Einsatz oftmals mit einer
hohen Gefahr für Leib und Leben verbunden und bedarf
deshalb ohne Wenn und Aber einer optimalen Vorbereitung. Dies muss mit den berechtigen Schutzinteressen
der Bewohner Hand in Hand geben, und nicht gegeneinander. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen ohne dabei die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr oder
unserer Partner zu gefährden.
Noch bevor wir hier heute über den Antrag der Linken „Luft-Boden-Schließplatz Siegenburg schließen“
debattieren, hat die Linke in Niederbayern, in meinem
Wahlkreis Landshut/Kehlheim, dafür gesorgt, dass sich
der Dauerschläfer Dr. Götzer, seit 20 Jahren direkt gewählter Abgeordneter, zumindest ein wenig bewegt. Ein
wenig, aber immerhin!
Der Antrag hätte auch gut ein gemeinsamer Antrag
aller hier im Bundestag vertretenen Fraktionen sein
können. Doch leider ist dieses anfangs gut gestartete gemeinsame Unterfangen im Interesse von über 40 000
bayerischen Bürgerinnen und Bürgern an der Unfähigkeit - nein, an der Unwilligkeit - eines Einzelnen gescheitert. Doch dazu später.
Zunächst möchte ich einen kurzen Überblick zu dem
Sachverhalt des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg
geben, sodass jeder sich ein Bild von der Notwendigkeit
der Schließung machen kann.
Erstmalig genutzt wurde der Platz vor dem Zweiten
Weltkrieg. Kurz vor Ende des Krieges wurde auf dem
Platz von NS-Soldaten Munition vergraben. Leider sind
weder Art, Anzahl noch die genauen Stellen der vergrabenen Munition bekannt. Auch die US-Streitkräfte, denen im Rahmen des Zusatzabkommens zum NATO-Truppen-Statut in Art. 48 das Gelände zur alleinigen Nutzung
überlassen wurde, haben über Jahre hinweg Müll verschiedenster Art auf dem Gelände vergraben. Ganz besonders besorgniserregend ist dies vor dem Hintergrund, dass der Luft-Boden-Schießplatz im Dürnbucher
Forst in einem ausgewiesenen Grundwasserschutzgebiet liegt.
Erhebliche Gefahren bestehen durch die gegenwärtige Nutzung des Platzes:
So könnte durch den Absturz eines US-Kampfjets vom
Typ F 16 das stark wassergefährdende Hydrauliköl
Hydrazin ins Grundwasser einsickern. Auch der von der
USAF geflogene Flugzeugtyp A 10 stellt eine Gefährdung dar, weil dieser Typ mit Uran angereicherter Munition, sogenannter DU-Munition, ausgerüstet ist.
Das Übungsgelände ist mit 2,6 Quadratkilometern
sehr klein, sodass die Jets regelmäßig über Wohngebieten fliegen. Es besteht die unmittelbare Gefahr des Absturzes von Kampfjets über den umliegenden Gemeinden. Einer der häufig eingesetzten Jets stürzte
beispielsweise im April dieses Jahres in der Eifel nur
wenige hundert Meter von einem Wohnhaus entfernt ab.
Und noch weitere dauerhafte Gefährdungen und Belästigungen gehen vom Übungsgelände aus: Bei
Übungsflügen entsteht für die Anwohnerinnen und Anwohner eine massive Lärmbelästigung, die über 110 Dezibel betragen kann. Von den aus Fluglärm nachweislich
hervorgerufenen Gesundheitsgefährdungen und -schädigungen sind unmittelbar rund 40 000 Menschen beZu Protokoll gegebene Reden
troffen - dem Lärm kann man sich nicht einfach entziehen.
Falls diese Gefahrenargumente noch nicht überzeugt
haben, verweise ich gerne noch auf finanzielle Aspekte.
Der Bundesrechnungshof empfahl bereits 2007 der Bundeswehr, die Mitfinanzierung und -nutzung des LBSSiegenburg aufzugeben: Für jede Nutzung des unter hoheitlicher Verwaltung der US-Streitkräfte stehenden Geländes sind Gebühren an die US-Regierung zu zahlen.
Die Kosten dafür sind in den letzten Jahren ständig gestiegen. Laut Bundesverteidigungsministerium ist bis
2014 mit Kosten von über 500 000 Euro pro Jahr zu
rechnen.
Doch das schwerwiegendste Argument, diesen Antrag zu unterstützen und mitzutragen, ist, das zu tun, wofür wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herrn, in
dieses Hohe Haus gewählt worden sind: die Belange der
Bevölkerung ernst zu nehmen und ihren Willen umzusetzen. Und genau das ist es, was wir hier mit unserem Antrag tun.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der betroffenen Region sowie eine Reihe von Volksvertreterinnen und Volksvertreter verschiedener Parteien fordern
die umgehende Schließung des Übungsplatzes. So haben
bei einer am 3. Dezember 2010 in der Mittelbayerischen
Zeitung durchgeführten Onlineumfrage 86,22 Prozent
der Beteiligten für die Schließung des Luft-BodenSchießplatzes gestimmt, nur 13,78 Prozent waren für
eine Beibehaltung, falls die Bundeswehr den Platz noch
benötigen sollte. Das ist ein klares Signal, dem sich niemand verschließen kann.
Seit 33 Jahren setzt sich die sehr aktive „Bürgerinitiative gegen den Fluglärm e.V. Siegenburg“ mit Engagement und Ideenreichtum für die Belange der Bevölkerung vor Ort ein und hat zum Beispiel ein
Nachtflugverbot und ein Flugverbot bei Hochzeiten und
Beerdigungen erreicht.
Im November letzten Jahres habe ich die BI nach Berlin eingeladen, damit sie ihr Anliegen, die Schließung
des LBS, direkt ihren gewählten Volksvertreterinnen und
Vertretern vortragen konnten. In unserem Fraktionssaal
trafen sich die BI, der Landrat und mehrere Bürgermeister sowie etliche betroffene Bewohnerinnen und Bewohnern mit regionalen Bundestagsabgeordneten fast aller
Fraktionen, auch die Abgeordneten der CSU/CDU waren der Einladung der BI und mir gefolgt. Lediglich die
FDP lies sich entschuldigen. Bei dem konstruktiven und
zielführenden Gespräch haben wir uns einvernehmlich
darauf verständigt, gemeinsam und wirkungsvoll die
Anliegen der Bürgerinnen und Bürger umzusetzen und
für die Schließung des LBS zu sorgen.
Nachdem ich zum ersten gemeinsamen Treffen einen
Antragsentwurf vorgelegt hatte, schien das verabredete
gemeinsame Vorgehen aller Fraktionen gut zu laufen.
Leider stellte sich bald heraus, dass nicht alle beteiligten regionalen Abgeordneten ihre parlamentarischen
Möglichkeiten für die Lösung des Problems nutzen wollten, so wie sie es den Bürgerinnen und Bürgern versprochen hatten.
So komme ich nun auf das zurück, was ich zu Anfang
meiner Rede bereits angedeutet habe: Das gemeinsame
Unterfangen scheiterte an der Unwilligkeit eines einzelnen Abgeordneten; denn leider hat sich Herr Dr. Götzer
von der CSU gegen die Zusammenarbeit entschieden.
Nach über 20 Jahren hohler Phrasendrescherei würde
es wohl an ein Wunder grenzen, wenn Herr Dr. Götzer
sich am Ende doch für die Belange seiner Wählerinnen
und Wähler einsetzen würde. So ist es ihm zu verdanken,
dass das fraktionsübergreifende gemeinsame Vorgehen
kurz vor dem Erfolg noch zum Erliegen kam.
Nun aber, aus lauter Angst davor, dass Die Linke mit
einem Antrag dem Anliegen der Bürgerinnen und Bürger
aus der Region Rechnung trägt, entschieden sich CSU,
SPD, FDP und Grüne dazu, zumindest mit einem Brief
ans Verteidigungsministerium tätig zu werden. Statt
durch ein gemeinsames parlamentarisches Vorgehen,
wie mit allen Fraktionen vereinbart, die Schließung des
LBS endgültig zu besiegeln, begnügen sich Grüne, SPD,
CSU und FDP damit, einen Bittstellerbrief an den Verteidigungsminister zu schicken und auf seine Gutmütigkeit bzw. auf die Bundeswehrreform zu hoffen. Zudem
beschränkt sich diese Koalition der Zauderer bei ihrer
Bitte auf die Beendigung der Nutzung des Bombodroms
durch die Bundeswehr, was soviel heißen würde, dass
die NATO weiterhin auf dem Gelände üben kann. Von einer wirklichen Schließung des LBS - im Sinne der Bürgerinnen und Bürger - mit einer zivilen Nachnutzung
des Platzes kann dabei keine Rede sein.
Aber so, wie die BI den Kampf nicht aufgegeben hat,
werde auch ich mich weiter dafür einsetzen, mit Ihnen,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition und Koalition, an einer gemeinsamen Lösung, an
einem gemeinsamen Antrag zu arbeiten. Vor allem die
Kolleginnen und Kollegen von der CSU/CDU lade ich
herzlich ein, dem Anliegen ihrer Basis und kommunaler
Vertreterinnen und Vertreter zu folgen und sich für die
Schließung, aber vor allem für die zivile Nachnutzung
des LBS-Siegenburg, wie in unserem Antrag gefordert,
auszusprechen.
Die Zeit ist noch nicht abgelaufen; für eine Zusammenarbeit stehe ich gerne und immer zur Verfügung.
Die Partei Die Linke hat einen Antrag zur Schließung
des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg in Niederbayern, Kreis Kelheim, vorgelegt. Sie fordert die umgehende Schließung des Platzes und die Zuführung des
Geländes in eine zivile Verwendung. So richtig die
Grundrichtung des Antrages ist, umso genauer müssen
wir hinschauen, was denn seine eigentliche Zielsetzung
ist. Und da finden sich Aussagen und Ziele, denen ich
und unsere Fraktion so nicht zustimmen können.
Ich will an dieser Stelle feststellen: Die Bundeswehr
braucht auch und gerade in Deutschland militärische
Übungsplätze. Wenn die Linke so tut, als könnten wir
alle militärischen Übungsplätze in Deutschland schließen, so ist dies einfach ein Zeichen von Verantwortungsund Orientierungslosigkeit. Wenn es bei Einzelnen eine
Zu Protokoll gegebene Reden
pazifistische Grundhaltung gibt, wie ich es bei der Kollegin Möller der Linken vermuten kann, dann respektiere ich das, auch wenn ich ihre Auffassung nicht teilen
kann. Eine reine Verweigerungshaltung ist schlicht kein
Lösungsansatz. Vielmehr muss es darum gehen, die Notwendigkeit zur Bereitstellung benötigter militärischer
Übungsplätze mit den Erfordernissen einer möglichst
geringen Belastung der Natur und der Menschen zu verbinden. Es darf nicht sein, dass die Belastungen durch
den militärischen Übungsbetrieb an eine andere Stelle
verlagert werden. Deshalb ist auch im vorliegenden Fall
des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg eine Abwägung vorzunehmen.
Wie ist die Sachlage? Der Luft-Boden-Schießplatz
Siegenburg hatte lange Zeit eine wesentliche Bedeutung
für die Ausbildung der Luftwaffe und war als solcher für
die Bundeswehr unverzichtbar. Die intensive Nutzung
war durch in der Spitze 1 741 Übungsflüge im Jahr 1993
gekennzeichnet. Dabei war aufgrund der geringen Fläche des Übungsplatzes die Belastung für die umliegende
Bevölkerung ungleich höher als an anderen Luft-BodenÜbungsplätzen. So verfügt der Platz Siegenburg nur
über eine Fläche, die etwa 12 Prozent der Größe des
Übungsplatzes in Nordhorn ausmacht. Auch amerikanische Luft-Boden-Übungsplätze sind wesentlich größer
und vor allem in weitgehend menschenleeren Gebieten.
Auch deshalb ist die Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg durch die US-Streitkräfte fast völlig
zum Erliegen gekommen.
Nicht zuletzt durch die hohe Belastung des Umlands
bildete sich in Siegenburg eine breite Bürgerbewegung,
die sich für die Verminderung der Lärmemissionen einsetzte. Die Bürgerbewegung mündete in einen Verein:
„Bürgerinitiative gegen den Fluglärm e.V. Siegenburg“.
Die Initiative hatte dabei nie das Ziel der Schließung des
Platzes. Vielmehr ist das Ziel des Vereines die Förderung des Natur- und Umweltschutzes. Gemäß Vereinssatzung soll dies erreicht werden mit einer Reduzierung
der Abgas- und Lärmwerte, die durch militärische Flugbewegungen rund um den Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg verursacht werden. Weiterhin sind die Förderung von spezifischen Naturschutzprojekten und
Landschaftsschutzgebieten in der Vereinssatzung festgeschrieben, wie sie noch im Februar 2010 mit breiter
Mehrheit von den Vereinsmitgliedern bestätigt wurde.
In den Jahren 2006 bis 2009 hatte die Zahl der
Übungsflüge am Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg
deutlich abgenommen. Seit 2007 waren es deutlich unter
100 Übungseinsätze pro Jahr. Damit waren die Ziele der
Bürgerinitiative im Prinzip erreicht. Vor drei Jahren hat
dazu der Bundesrechnungshof festgestellt, dass das Nutzen-Kosten-Verhältnis eine Weiternutzung des Platzes
nicht sinnvoll erscheinen lässt. Und im Konzept für die
Nutzung der Luft-Boden-Schießplätze in der Bundesrepublik Deutschland von 2008, zwar „VS - Nur für den
Dienstgebrauch“ gekennzeichnet, aber im Internet verfügbar, heißt es zum Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg
wörtlich:
Er ist … aufgrund seiner geringen Größe ausschließlich für den Einsatz ungelenkter Abwurfmunition bei Tag aus dem Geradeaus- und Sinkflug
geeignet. Er ist nicht an das Nachttiefflugsystem
angebunden und liegt nicht in räumlicher Nähe zu
einem für militärische Übungen geeigneten reservierten Luftraum. Das Einsatzverfahren „LOFT“,
das Schießen mit Bordkanone sowie Übungseinsätze bei Nacht sind dort nicht möglich …
Durch die geringe Größe des Platzes und die Nähe
der umliegenden Gemeinden ist die Belastung
durch den Übungsflugbetrieb hoch.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
In mehreren Initiativen habe ich versucht, die niedrige Zahl von Übungsflügen festschreiben zu lassen. Das
Verteidigungsministerium wollte eine solche Aussage
bislang allerdings nicht abgeben. Im Mai 2011 verwies
Staatssekretär Schmidt auf die gerade laufenden Untersuchungen und Festlegungen im Rahmen der sogenannten Bundeswehrstrukturreform. Das Ergebnis wurde uns
für Herbst dieses Jahres zugesagt.
So habe ich diese Woche in einem gemeinsamen Brief
mit den Abgeordneten Dr. Götzer, CSU, Werner
Schieder, SPD, und Horst Meierhofer, FDP, den Verteidigungsminister gebeten, nunmehr Stellung zur weiteren
Verwendung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg
zu nehmen. Gleichzeitig haben wir unsere wohlbegründete Forderung vorgetragen, die Nutzung des Platzes als
Luft-Boden-Schießplatz endgültig aufzugeben. Wir sind
der Auffassung, dass eine Nutzung des Platzes in der
Größenordnung von 100 Überflügen nicht die Bereitstellung einer Infrastruktur mit Kosten von einer halben
Million Euro im Jahr rechtfertigt, besonders nicht in
Verbindung mit der sehr beschränkten Eignung des Platzes sowie seiner geringen Größe und der damit verbundenen hohen Belastung für die anliegende Bevölkerung.
Wenn es weiterhin im Rahmen der Bundeswehrstrukturreform keine vernünftige Verwendung des Platzes geben
sollte, ist der Platz einer zivilen Nutzung zuzuführen. Es
ist selbstverständlich, dass damit die Bereinigung des
Platzes von möglichen Altlasten aus der Nutzungszeit
als Luft-Boden-Schießplatz verbunden sein muss.
Ich setze auf den Dialog mit dem Verteidigungsministerium und erwarte nunmehr die angekündigte, substanzielle und begründete Aussage zur weiteren Verwendung
des Luft-Boden-Schießplatzes in Siegenburg. Dafür will
und werde ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln einsetzen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flächenverbrauch wirkungsvoll reduzieren
- Drucksache 17/6502 15802
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar der folgenden
Kolleginnen und Kollegen: Peter Götz, Ulrich Lange,
Hans-Joachim Hacker, Rita Schwarzelühr-Sutter, Petra
Müller, Heidrun Bluhm und Bettina Herlitzius.
Mit dem vorliegenden, von Ideologie geprägten Antrag der Grünen wird das untaugliche Ziel aus der sozialistischen Mottenkiste der 70er-Jahre des vorherigen
Jahrhunderts verfolgt, über eine Flächenverbrauchsabgabe das Bauen zu verteuern. Abgesehen davon, dass
dies nur mit einem neuen bürokratischen Monster zu bewältigen wäre, ist es der falsche Weg.
Bereits die im Länderwettbewerb rot-grüner oder rotroter Landesregierungen nach oben gepuschte Grunderwerbsteuer verteuert das Wohnen unangemessen und
bremst die von allen erwartete Mobilität.
Den Kommunen sollen nach dem Grünen-Antrag Flächenausweisungsrechte zugestanden werden. Von wem
denn? Vom Bund? Von den Ländern? Wollen Sie damit
eine neue „Flächenausweisungsrechtebehörde“ schaffen? - Wir haben einen anderen Ansatz:
Wir wollen die kommunale Planungshoheit weiter
ausbauen, damit die Gemeinden eigenverantwortlich
ihre kommunale Planung steuern können. Die kommunalen Mandatsträger vor Ort wissen am besten, wie sie
die Zukunft ihrer Gemeinde gestalten. Dazu bedarf es
keiner Bevormundung aus Berlin.
Auch für uns sind die Stärkung der Innenentwicklung
und das Flächensparen wichtig. Deshalb werden wir das
Baurecht im zweiten Teil der Novelle zum Baugesetzbuch, BauGB, in diese Richtung konsequent weiterentwickeln.
Ich erinnere daran, dass das zuständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vor
einem Jahr einen bundesweiten öffentlichen Beteiligungsprozess zur Erarbeitung eines „Weißbuchs Innenstadt“ durchgeführt hat, der zu Recht hohe Anerkennung
erhielt.
Für uns sind Innenstädte und Ortskerne die Schlüsselfaktoren für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Deshalb muss es um die Frage gehen, wie wir die Innenentwicklung erleichtern und attraktiver machen können.
Neue Strafsteuern und Abgaben für Flächeninanspruchnahme sind der falsche Weg. Sie sind investitionshemmend und führen zu keiner wirklichen Stärkung der Innenentwicklung.
Und wenn, wie im Antrag der Grünen vorgesehen, neue
kommunale Aufgaben wie „Nachweispflichten für Innenentwicklungspotenziale“, „verpflichtendes Flächenmonitoring“ oder die bei der letzten Novelle zum BauGB abgeschaffte „Revisionspflicht für Flächennutzungspläne“
erfunden werden, so sind dies bestenfalls Beschäftigungsprogramme für Städteplaner, die von den Kommunen zu
bezahlen sind. Sie tragen weder zum Bürokratieabbau bei
noch sind sie als Zwangsvorgabe zielführend. Die Städte
und Gemeinden sehen sehr wohl selbst, wie und an welcher Stelle sie die Entwicklung ihrer Kommunen verändern. Dazu bedarf es keiner bevormundenden „Zwangsbeglückung“ aus Berlin.
Unabhängig davon, haben wir nach der Föderalismusreform I zu Recht im Grundgesetz verankert, dass
der Bundesgesetzgeber den Gemeinden keine neuen Aufgaben mehr übertragen darf. Schon allein deshalb kann
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Antrag der Grünen nicht zustimmen.
Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie wir den Gestaltungsspielraum kommunaler Selbstverwaltung und
die kommunale Planungshoheit erweitern können. Die
anstehende Novelle zum BauGB bietet dafür eine Reihe
von Möglichkeiten, die wir gemeinsam angehen sollten:
So wollen wir die im ersten Teil der BauGB-Novellierung zurückgestellte Bestimmung des § 136, die Klimaschutz- und Klimaanpassung im Rahmen der städtebaulichen Sanierung beinhaltet, als wichtiges neues
Element der Innenentwicklung den Kommunen anbieten.
Zusammen mit dem ebenfalls neuen, jährlich mit
92 Millionen Euro ausgestatteten Programm „Energetische Stadtsanierung“ kann die energetische Bilanz in
Stadtquartieren verbessert werden. Dies sind wesentliche Beiträge zur qualitativen Stärkung der Innenentwicklung.
Auch werden wir darüber hinaus die klassische Städtebauförderung, die in diesem Jahr ihr 40-jähriges Bestehen feiert, auf hohem Niveau fortsetzen und weiterentwickeln.
Wie Sie sehen, verfolgen wir den Ansatz, Fehlentwicklungen auf der „Grünen Wiese“ nicht mit neuen
Steuern und Abgaben, sondern mit Anreizen entgegenzuwirken. Wir trauen den Menschen, die vor Ort in den
Städten und Gemeinden kommunalpolitische Verantwortung tragen, sei es als Oberbürgermeister, Bürgermeister oder als Rat in den kommunalen Parlamenten, zu,
selbst zu entscheiden, was für ihre Kommune gut ist, und
welche planerische Entwicklung sie gehen wollen. Wir
sollten darauf verzichten, sie ständig bevormunden zu
wollen. Vielmehr wollen wir ihnen helfen, nicht nur im
planerischen Bereich, sondern auch finanziell.
Wir wollen die kommunale Selbstverwaltung stärken.
Deshalb entlasten wir in den nächsten Jahren durch
schrittweise Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter die kommunalen Haushalte in den Städten,
Gemeinden und Kreisen in Milliardengrößenordnungen.
Das hilft den Kommunen mehr als neue Bürokratie.
Heute befassen wir uns mit dem Antrag der Grünen
„Flächenverbrauch wirkungsvoll reduzieren“. Lassen
Sie mich aber zuerst klarstellen: Sprachlich korrekt
müssen wir von Flächeninanspruchnahme reden, da die
Fläche nicht verbraucht, sondern durch eine neue Nutzung in Anspruch genommen wird. Man versteht darunter die Umwandlung von bisher vor allem landwirtschaftlich genutzten, aber auch naturbelassenen Flächen
in Siedlungs- und Verkehrsfläche. Gemeint ist bei der
Flächeninanspruchnahme der Verlust von landwirtschaftlicher Nutzfläche oder natürlichen Lebensräumen.
Diese Flächen werden für Wohnen, Straßen oder Gewerbe genutzt.
Der als gleitender Vierjahresdurchschnitt berechnete
tägliche Flächenzuwachs hatte zwischen 1997 und 2000
noch 129 Hektar betragen. Ziel der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung war und ist es, die
tägliche Inanspruchnahme neuer Siedlungs- und Verkehrsflächen bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar pro Tag
zu reduzieren. In den Jahren 2001 bis 2005 sank der Flächenzuwachs auf 115 Hektar bzw. 114 Hektar und reduzierte sich im Vierjahresdurchschnitt zwischen den Jahren 2006 bis 2009 weiter auf 94 Hektar pro Tag. Damit
verlangsamte sich die Flächeninanspruchnahme für
Siedlungs- und Verkehrszwecke in den letzten Jahren
sehr deutlich.
Wenn ich jetzt die Jahre mit den jeweiligen Werten
vergleiche, stelle ich fest, meine lieben Grünen, dass die
Flächeninanspruchnahme während Ihrer Regierungszeit mit der SPD im Vergleich zu 1997 leicht zurückgegangen ist. Aber erst nach Ihrer Regierungszeit ist die
Flächeninanspruchnahme drastisch gesunken. Wie so
häufig erheben Sie als Opposition Forderungen, um die
Sie sich als Regierungspartei in keiner Weise gekümmert
haben. So viel zum Thema Glaubwürdigkeit. Aber dennoch ist die heutige Debatte zu begrüßen. Sparsamer
Umgang mit Grund und Boden - Minderung der Flächeninanspruchnahme für Siedlungen und Verkehr im
Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie ist wichtig und
von der Bundesregierung und unserer Fraktion gewollt.
Wenn ich mir aber Ihre Forderungen ansehe, muss
ich leider sagen, dass Ihre „Erziehungskonzepte“ im
Großen und Ganzen nur auf Bestrafung hinauslaufen,
ohne dass ein wirklich positiver Aspekt zu erwarten ist.
Vorschläge, die die Außenentwicklung gegenüber der
jetzigen Rechtslage schwieriger gestalten, wirken lediglich investitionshemmend, führen aber zu keiner tatsächlichen Stärkung der Innenentwicklung. Dies gilt zum
Beispiel für die Vorschläge zu § 35 BauGB, Außenbereich, und zur Verankerung eines Nachhaltigkeits- und
Demografiechecks.
Die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme ist
ein wesentliches Teilziel einer nachhaltigen Raumentwicklung, aber nicht das einzige. Eine sachgerechte Umsetzung dieses Teilziels kann nicht einseitig zulasten anderer Nachhaltigkeitsziele erfolgen, wie etwa der
Sicherung wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandorte und
einer angemessenen Wohnungsversorgung. Auch dies
muss berücksichtigt werden.
Was können wir machen? Welche Maßnahmen sind
sinnvoll? Ich möchte einige Schwerpunkte von einer
Kette vieler kleiner Detailmaßnahmen aufführen: Erstens vorrangige Ausrichtung der Siedlungsentwicklung
am Bestand durch Nutzung von Baulücken, Baulandreserven, Brachflächen und Möglichkeiten der Verdichtung, Vorrang der städtebaulichen Innenentwicklung vor
der Außenentwicklung; zweitens Vermeidung einer flächenhaften Zersiedelung durch Konzentration der Siedlungstätigkeit in zentralen Orten, Entwicklungsachsen
und in Siedlungsschwerpunkten; drittens Sicherung ausreichender Freiräume zum Schutz der ökologischen Ressourcen und für Zwecke der Erholung sowie Vorhaltung
von Flächen für land- und forstwirtschaftliche Nutzungen, den vorbeugenden Hochwasserschutz und die Nutzung regenerativer Energiequellen; viertens Vermeidung der Inanspruchnahme von Böden mit besonderer
Bedeutung für den Naturhaushalt sowie für landwirtschaftliche Nutzungen.
Fünftens. Zur Stärkung der Innenentwicklung gilt es,
die bestehenden Planungsinstrumente der Raumordnung, die Möglichkeiten der Bauleitplanung und Fachplanung aber auch informelle Instrumente und Verfahren verstärkt zu nutzen durch sechstens die Präzisierung
flächensparender Vorgaben in den Raumordnungsplänen, siebtens den Abbau von Hemmnissen der Innenentwicklung, achtens die Bestandsmobilisierende Stadtentwicklung, neuntens die Vereinfachung von Entwicklungsmaßnahmen im Innenbereich und zehntens den
Ausbau des Flächenmonitorings.
Die Bundesregierung wird deshalb demnächst den
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden vorlegen. Vorgesehen ist damit zum Beispiel eine Flexibilisierung des
§ 17 BauNVO, Erleichterung bei der Überschreitung
der Maßobergrenzen; zudem soll die Bodenschutzklausel des § 1 a Abs. 2 BauGB präzisiert, die Ausübung des
Vorkaufsrechts zugunsten Dritter erweitert und das
Rückbaugebot weiterentwickelt werden.
Politische Zielsetzung ist es, die Innenentwicklung zu
erleichtern und attraktiver zu machen. Je besser es gelingt, den künftigen Bedarf im Wege der Innenentwicklung zu befriedigen, desto eher ist es gerechtfertigt, die
Inanspruchnahme neuer Flächen einzuschränken. Auch
für die Minderung der Flächeninanspruchnahme sind
die Planungsinstrumente der Raumordnung, die Möglichkeiten der Bauleitplanung und Fachplanung aber
auch informelle Instrumente und Verfahren zu nutzen.
Jeden Tag werden in Deutschland Flächen in der
Größe von mehr als 130 Fußballfeldern verbaut. Das
sind nicht nur Straßen und Wege, sondern auch Wohnhäuser, Gewerbe- und Industriegebäude. Was auf der
einen Seite die wirtschaftliche Kraft unseres Landes
symbolisiert, hat auf der anderen Seite jedoch Auswirkungen auf Natur und Umwelt. Insbesondere die Landwirtschaft hat unter dem Verlust wertvoller Kulturböden
zu leiden. Die zunehmende Versiegelung von Flächen
hat Folgen für die natürliche Verdunstung und stört die
Versickerung von Regenwasser. Auch dies trägt zu
Hochwasser bei, führt dazu, dass sich weniger Grundwasser neu bildet, und hat damit ganz konkrete Auswirkungen auf das lokale Klima.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es war deshalb bereits das Ziel der rot-grünen Bundesregierung, den täglichen Flächenverbrauch in
Deutschland deutlich zu reduzieren. Danach sollten bis
2020 weniger als ein Drittel der heute täglich verbrauchten Fläche in Anspruch genommen werden: nur
noch 30 Hektar pro Tag. Dies war ein ambitioniertes
Ziel und ist auch heute Teil der Nachhaltigkeitsstrategie
der Bundesregierung - zugleich ist es nicht unumstritten. So kritisieren nicht nur Wohnungsunternehmen,
sondern auch der Städte- und Gemeindebund das Reduktionsziel.
Mit dem Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte haben wir in
Zeiten der Großen Koalition bereits konkrete Beschlüsse
im Interesse der Reduzierung des Flächenverbrauchs
gefasst. Dadurch kann im städtischen Bereich schnell
und unbürokratisch bei Investitionsvorhaben gehandelt
werden, um die Planungen vor allem auf die Innenentwicklung zu konzentrieren und eben nicht auf die „grüne
Wiese“. Ausdrückliches Ziel dieses Gesetzes ist es, die
Inanspruchnahme von Flächen außerhalb des bereits
besiedelten Raumes zu mindern. Wer auf der „grünen
Wiese“ bauen will, muss dagegen zunächst eine eingehende Umweltprüfung für das Vorhaben durchlaufen.
Ziel des Gesetzes ist es, dass brachliegende innerstädtische Grundstücke wieder nutzbar gemacht werden. Das
dient auch dem Prozess eines sinnvollen Umbaus von
Stadtquartieren, die damit besser erhalten, erneuert und
weiterentwickelt werden können.
Es war für uns als SPD-Bundestagsfraktion ein großer Erfolg, dieses Gesetz mit auf den Weg gebracht zu
haben und einen konkreten Beitrag zur Senkung der Flächeninanspruchnahme zu leisten. Dieser Ansatz muss
auch bei der bevorstehenden Novelle des Baugesetzbuches weiterverfolgt werden, im Interesse der Stärkung
der Innenstädte und der Reduzierung des Flächenverbrauches.
Die Länder und Kommunen stehen in der Frage der
Flächeninanspruchnahme besonders in der Verantwortung. Wir Sozialdemokraten haben deshalb vorgeschlagen, in einem Pilotverfahren das Konzept von Flächenzertifikaten zu erproben. Die Kommunen können
Flächenzertifikate erhalten, nachdem eine Verständigung auf Obergrenzen für jährliche Siedlungsausweitungen erfolgt ist. Diese Flächenzertifikate können die
Kommunen dann untereinander handeln. Aber auch
diese Obergrenze muss jedes Jahr sinken, um den Flächenverbrauch nachhaltig zu reduzieren. Ein solches
Konzept kann nur gemeinsam mit den Kommunen, nicht
gegen sie gelingen. Deshalb ist hier noch Überzeugungsarbeit notwendig.
Erinnert sei daran, dass auf Länderebene kontrovers
über das Thema debattiert wird. Auf der für Raumordnung zuständigen Ministerkonferenz wurde 2010 engagiert über eine gemeinsame Positionierung gerungen
und immerhin in vier Punkten ein Konsens erreicht.
Demnach befürworten die Länder, die Nachfrage nach
neuen Flächen künftig stärker auf besiedelte Flächen zu
lenken, die Erfassung der Flächeninanspruchnahme
stärker an der tatsächlichen Umwidmung, Versiegelung
und Zerschneidung von Landschaften zu orientieren und
vorhandene Planungsinstrumente konsequenter anzuwenden. Dagegen wurde der Vorschlag interkommunal
handelbarer Flächenausweisungsrechte abgelehnt.
Ich möchte deshalb die Koalition an ihren Koalitionsvertrag erinnern, in dem sie versprochen hat,
einen Modellversuch zu initiieren, in dem Kommunen auf freiwilliger Basis ein überregionales Handelssystem für die Flächennutzung erproben.
Dies sollte auch nach der Positionierung der Länder auf
freiwilliger Basis möglich sein. Die für Raumordnung
zuständigen Landesminister haben sich - ausdrücklich
als Ergänzung zu dem im Koalitionsvertrag genannten
Modellvorhaben - für ein weiteres Modellvorhaben zur
Möglichkeit des interkommunalen Austauschs von Flächenreserven und der Option zu Neuausweisungen ausgesprochen. Auch hier warten wir auf entsprechende Aktivitäten der Bundesregierung.
Wir sollten dabei auch auf die Ergebnisse des Technikfolgenabschätzungsprojektes „Reduzierung der Flächeninanspruchnahme - Ziele, Maßnahmen, Wirkungen“ zurückgreifen. Der entsprechende Bericht wurde
uns Anfang 2007 übergeben. Demnach hält das Büro für
Technikfolgenabschätzung die planungsrechtlichen Instrumente zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme für ausreichend und geeignet, empfiehlt aber einige Ergänzungen für das Bauen im Außenbereich,
Änderungen bei der Gültigkeitsdauer von Bauleitplänen
und bei Mindestdichten für Baugebiete und schlägt
schließlich eine Reform der Baunutzungsverordnung
vor. Ziel ist es dabei, Nutzungsmischungen zu erleichtern. Auf der fiskalischen Seite werden eine Diskussion
über Reformen bei Grundsteuer, Gewerbesteuer und
Grunderwerbssteuer empfohlen, andererseits auch neue
Abgaben für Neuerschließungen, Baulandausweisungen
und Bodenversiegelungen. Entscheidend bleibt nach Ansicht der Technikfolgenabschätzer die freiwillige interkommunale Kooperation, bei der die Position der Kommunen gestärkt werden muss.
Als Bund können und müssen wir ganz konkret unsere
Beiträge leisten: mit einer entsprechenden Wohneigentumsförderung, die den Erwerb von Bestandsgebäuden
fördert oder den Neubau auf Brachflächen bevorzugt,
sowie mit einer gestärkten Städtebauförderung mit den
Schwerpunkten Altbauförderung und von Gebieten mit
hohen Leerständen. Gerade bei der Städtebauförderung
ist durch die aktuelle Bundesregierung in den letzten
Jahren durch die verheerende Kürzungspolitik viel zerstört worden. Dies hat auch Auswirkungen auf die Flächeninanspruchnahme, weil nicht die notwendigen Impulse für die Innenentwicklung gegeben wurden.
Es ist auch unverständlich, dass die Bundesregierung
die Vorschläge in dem von ihr in Auftrag gegebenen
Gutachten zur Altschuldenproblematik in den neuen
Ländern nicht aufgreift. Danach werden konkrete Empfehlungen unterbreitet, die Entlastung der ostdeutschen
Wohnungsunternehmen von Altschulden - im wesentlichen im Plattenbaubestand - direkt mit dem Erwerb von
Immobilienbeständen im Innenbereich der Städte zu verZu Protokoll gegebene Reden
binden. Das würde einen direkten Beitrag zur Aufwertung des Innenbereiches leisten und über Rückbau einen
Beitrag zur Reduzierung des Flächenverbrauches bringen.
Wir werden die Vorschläge der Länder und Kommunen zusammen mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
diskutieren. Uns eint das Ziel, den zunehmenden Flächenverbrauch weiter zu begrenzen. Dabei sollten wir
jedoch nicht neue bürokratische Hürden errichten. Ein
überzogener Bürokratismus wird uns an dieser Stelle
nicht weiterhelfen. Viele in dem Antrag der Fraktion genannten Vorschläge wurden in der Vergangenheit bereits
diskutiert. Jetzt muss es darum gehen, geeignete und
praktikable Instrumente zu finden, wie in Deutschland
die Flächeninanspruchnahme tatsächlich reduziert werden kann. Das Patentrezept hat dafür noch niemand gefunden. Eine gemeinsame Diskussion zwischen Bund,
Ländern und Kommunen lohnt sich zu diesem Thema
aber allemal, um sich am Ende mindestens im Konsens
auf die Umsetzung und Bewertung der bereits angedachten Modellvorhaben zu verständigen - und dies noch
möglichst vor dem Jahr 2020.
In Europa wird in jedem Jahr für den Siedlungsneubau, für Gewerbegebiete und Infrastrukturmaßnahmen
eine Fläche verbraucht, die der Größe Berlins entspricht. Auch in Deutschland verharrt der tägliche Flächenverbauch auf einem hohen Niveau. Ein Ziel der
deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist es, bis 2020 den
täglichen Flächenverbrauch auf maximal 30 Hektar zu
reduzieren. Dieses Ziel werden wir mit Sicherheit verpassen, wenn wir nicht gegensteuern. Die Diskussion
um die nachhaltige Entwicklung ist kein Selbstzweck. Es
geht darum, die vorhandenen Ressourcen so einzusetzen, dass nachfolgenden Generationen ein angemessener Handlungsspielraum bleibt.
Die Ursachen für den Flächenverbrauch sind übereinstimmend erkannt. Nun müssen wir den Mut aufbringen, effektiver zu handeln und die Vorgaben der Nachhaltigkeitsstrategie ernsthaft anzugehen.
Es ist richtig, dass wir insbesondere intakte und vor
allem leistungsfähige Böden ins Zentrum einer vorsorgenden Stadt- und Regionalpolitik stellen, wie es die
Grünen in ihrem Antrag fordern. Das bedeutet in der
Konsequenz aber auch, dass wir die potenziellen Kompensationsflächen, die wir für Flächeninanspruchnahme zukünftig nutzen wollen, anhand modifizierter
Bewertungskriterien auswählen sollten. Meiner Auffassung nach sollten Ausgleichsflächen zukünftig und in
erster Linie nach ihrer ökologischen Wertigkeit ausgesucht werden. Wir sollten vorrangig die ökologisch
wertvollsten Flächen und nicht die produktivsten als
Ausgleichsflächen nutzen. Die SPD setzt sich dafür ein,
dass die Flächeninanspruchnahme in Deutschland nicht
einseitig die Landwirtschaft belastet. Wir müssen alle
berechtigten Flächennutzungsinteressen abwägen. Vor
Ort müssen Lösungen gefunden werden, die niemanden
einseitig belasten.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch kritisch mit den zusätzlichen Anforderungen auseinandersetzen, die sich aus dem Ausbau der erneuerbaren Energien ergeben. Wenn ich so manche Mitteilung zum
Thema Biomasseproduktion lese, kann ich mich nicht
des Eindrucks erwehren, dass mancher Hektar wertvollen Acker- oder Grünlandes schon mehrmals als potenzielle Anbaufläche für Energiepflanzen verrechnet
wurde. Es muss aber klar sein, dass die Fläche, die die
landwirtschaftlichen und Forstbetriebe für die Energiewende zur Verfügung stellen können, begrenzt bleibt.
Bereits heute werden knapp 18 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche für den Anbau nachwachsender
Rohstoffe genutzt. Das heißt aber auch: Wir benötigen
eine nachhaltige Biomassestrategie. Diese muss selbstverständlich die Interessen des Naturschutzes berücksichtigen.
Wir dürfen nicht zulassen, dass wir weiterhin wertvolle Flächen durch die Ausweisung von Baugebieten
und Infrastrukturflächen versiegeln und damit dem Naturkreislauf wie auch der Landwirtschaft entziehen. Wir
müssen aufpassen, dass durch einseitige Überförderung
bestimmter Produktionsrichtungen nicht weitere Flächen für die erforderliche Nahrungsmittelproduktion
verloren gehen. Das führt zwangsläufig auch zu strukturellen Brüchen im land- und forstwirtschaftlichen Bereich. Das müssen wir im Interesse unserer leistungsfähigen Land- und Ernährungswirtschaft vermeiden.
Ich schließe mich daher ausdrücklich der Forderung
des Deutschen Bauernverbands und des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland an, die in seltener
Übereinstimmung fordern, dass die Prinzipien „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ und „Ausbau vor
Neubau“ und die Stärkung des Grundsatzes der Flächenschonung gelten müssen. Dies sollte sowohl für den
Wohnungsbau als auch für Industriegebiete gelten.
Das heißt, dass die zukünftige Stadtentwicklung weitestgehend eine Entwicklung im Bestand sein wird.
Brachgefallene oder mindergenutzte Flächen in Städten
und im ländlichen Raum müssen revitalisiert werden. Gemeinden brauchen dafür wirkungsvolle Instrumente, um
diese Strategie umzusetzen. Wir wollen Kommunen in die
Lage versetzen, zu prüfen, ob tatsächlich neue Bauvorhaben und Flächenausweisungen erforderlich sind. Dafür
wollen wir mehr Mittel im Rahmen der Städtebauförderung einsetzen.
Wir benötigen aktuelles Datenmaterial zum Flächenverbrauch auf kommunaler Ebene. Nur mit exakten Daten können Kommunen Flächennutzungsmöglichkeiten
in ihrem Gebiet besser kontrollieren und ein gutes Flächennutzungsmonitoring betreiben.
Das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden weist in diesem Zusammenhang darauf
hin, dass die Zahl von 100 Hektar, die täglich versiegelt
werden, keine präzise Zahl darstellt. Die amtliche Flächennutzungsstatistik, die auf Einträgen in den Liegenschaftsbüchern basiert, gibt den Flächenverbrauch
nicht ganz genau wieder. Teilweise sind die Angaben im
Liegenschaftskataster veraltet. Dies macht sich vor allem bei großflächigen Renaturierungs- und StraßenbauZu Protokoll gegebene Reden
projekten bemerkbar. Die Folge: Die Einhaltung des
2020-Ziels kann auf diese Art nicht exakt gemessen werden.
Die Verantwortlichen des Leibniz-Institutes schlagen
daher vor, ihr IÖR-Monitor zu Grundlage der Berechnung zu machen. Der regelmäßig aktualisierte IÖR-Monitor liefert Informationen zur Flächenstruktur und deren Entwicklung für die Bundesrepublik Deutschland
auf der Grundlage des amtlichen topografisch-kartografischen Informationssystems. Die Berechnungsgrundlage sind genaueste topografische Geodaten. Die
Entscheidungsträger auf kommunaler Ebene erhalten
Informationen für ein besseres Flächennutzungsmonitoring. Die Kommunen sind aufgefordert, sich dieses Instruments zu bedienen.
Die SPD unterstützt die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie. Dabei müssen wir auch ein Hauptaugenmerk
auf die Sicherung wertvoller Produktionsflächen für die
Nahrungs- und Energiepflanzenproduktion legen.
In Ihrem Antrag monieren Bündnis 90/Die Grünen,
dass Deutschland noch weit vom 30-Hektar-Ziel beim
täglichen Flächenverbrauch entfernt sei. Das stimmt.
Sie verschweigen aber auch, woher wir bei der Umwidmung von Freiflächen in Siedlungs- und Verkehrsflächen kommen: Seit 2004 nimmt diese Quote Jahr für
Jahr ab. Lag sie vor sieben Jahren noch bei etwa
140 Hektar pro Tag, sank sie 2005 auf knapp unter
120 Hektar, 2006 auf rund 100 Hektar, 2007 auf 96 Hektar. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag
die Quote für 2008 bei 78 Hektar pro Tag und erreichte
damit einen vorläufigen Tiefpunkt. Wir sind uns einig,
dass diese starke Absenkung im Jahr 2008 vor allem
Folge der konjunkturellen Schwäche infolge der weltweiten Banken- und Immobilienkrise war. Trotzdem
bleibt festzuhalten, dass seit Einführung des 30-HektarZiels im Jahre 2002 Erfolge zu verzeichnen sind und ein
zunehmendes Bewusstsein für die ökologischen, sozialen
und kulturellen Gefahren der Flächenzersiedlung geschaffen wurde.
In themenangemessener Abwandlung des Bildes ist
für uns Liberale das Glas daher bereits halb leer und
nicht mehr halb voll. Wir sind auf dem richtigen Weg
und halten am Ziel des kontinuierlich geringeren Flächenverbrauchs fest. Daher bedeutet Ihre Aufforderung
an uns und die Bundesregierung, am 30-Hektar-Ziel
festzuhalten, Eulen nach Athen zu tragen. Wir halten
selbstverständlich daran fest und dafür braucht es auch
keinerlei Nachhilfe durch Bündnis 90/Die Grünen.
So wohlmeinend ist Ihr Antrag politisch betrachtet
denn auch nicht. Denn Forderungen zu stellen ohne substanziellen Bedarf, kann doch wohl nur als Durchhalteparole an die eigenen Reihen gemeint sein. Mit Infrastruktur- und Bauplanungspolitik hat die grüne Partei ja
so manchen Schiffbruch in den vergangenen Monaten
erlitten: Eine geplatzte Koalition in Hamburg wegen
Moorburg. Rolle rückwärts bei der Moseltalbrücke in
Rheinland-Pfalz. In Berlin scheiterte sie an 3,2 Kilometer Autobahn, und wie es nach dem Volksentscheid um
Stuttgart 21 mit der grünen Partei weitergeht, das warten wir mal noch ab. Alles nichts, womit man sich einen
grünen Verdienstorden anheften lassen könnte. Da
scheint es nur verständlich, wenn hier Anträge eingebracht werden, die sich innerparteilich gut verkaufen
lassen, die politisch aber den Innovationsfaktor Null besitzen.
Nichtsdestotrotz freut es mich erstens, dass wir uns
über die Fraktionsgrenzen dieses Hohen Hauses hinweg
mal einig sind. Zweitens möchte ich zu gern die gebotene Möglichkeit nutzen, die Position der FDP zur weiteren Reduzierung des Flächenverbrauchs in Deutschland zu erläutern: Auch wir sehen, dass Sinken und
Steigen der Flächenverbrauchszahlen heute noch zu
stark von der konjunkturellen Entwicklung beeinflusst
wird statt vom Willen der politischen und bauplanenden
Akteure. Hier werden wir weiter an der Stärkung des
rahmenpolitischen Hebels arbeiten, ohne die zur wirtschaftlichen Entfaltung notwendigen Freiheitsrechte
und Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken. Dem
richtigen und notwendigen Ziel der Stärkung der Innenentwicklung fühlen wir uns verpflichtet - aus demografischen Gründen ebenso wie im Rahmen der Erreichung
der Klimaschutzziele.
Wesentliche Kristallisationspunkte der aktuellen
Fortentwicklung der Städtebauförderung durch die
christlich-liberale Koalition sind die Stärkung der Innenstadtkerne und Ortsteilzentren, die Nachverdichtung
und Wiedernutzung von Brachflächen. Alles Maßnahmen, die dem Flächenverbrauch im Außenbereich bzw.
der Erschließung neuer Flächen entgegenwirken.
Ebenso arbeitet die Koalition intensiv an der Novellierung des Baugesetzbuches und wird auch in diesem Bereich dem Anspruch auf nachhaltige Entwicklung gerecht werden. Wir wollen die Beschränkung des
Anwendungsbereichs des Rückbaugebots für Bebauungsplangebiete aufheben und so das Rückbaugebot zu
einem vollwertigen Rechtsinstrument fortentwickeln.
Damit erhielten die Kommunen eine effektive Handlungsmöglichkeit der Eingriffsverwaltung, zum Beispiel
im Umgang mit verwahrlosten Gebäuden oder Schrottimmobilien. Das ist echte Innovationspolitik.
Die beschriebenen Ziele und Notwendigkeiten unserer zukünftigen Infrastruktur- und Raumplanung sind
anspruchsvoll und eine politische wie ökonomische wie
soziale Herausforderung. Wohl wissen wir, dass das
30-Hektar-Ziel zum Jahre 2020 praktisch kaum noch zu
erreichen ist. Das liegt vor allem an der Vielzahl der
Akteure und der Komplexität von Entscheidungsprozessen und Nachteilsabwägungen. Trotzdem ist es und
bleibt es ein richtiges und wichtiges Ziel. Das formuliert
auch die Gemeinsame Erklärung „Institutionalisierung
von Nachhaltigkeitsbewertungsverfahren in der Flächenpolitik stärken“ des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung. Dort heißt es:
Unambitionierte Ziele können keine Visionen tragen, sondern neigen im Gegenteil dazu, nach der
Zielerreichung aus dem Auge verloren zu werden,
so dass ein „Roll back“ auf nicht nachhaltige Zustände droht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({0})
In diesem Sinne verstehen Sie unsere Zielsetzung als
unbedingten Willen zur Nachhaltigkeit, nicht als Wegmarke, von der wir annehmen, sie morgen oder Ende
nächsten Monats erreichen zu können. Sarkastisch
könnte man an die Adresse der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen sagen: Auch Weltfrieden zu fordern, bleibt ein
richtiges und wichtiges Ziel. Sich aber allenthalben oppositionell zu entrüsten, die Regierung habe dieses Ziel
nicht erreicht, wirkt dann doch reichlich armselig - wie
ihr Antrag zum Flächenverbrauch.
Gerade vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels ist der tägliche Flächenverbrauch in Deutschland immer noch erschreckend hoch. Das Ziel einer Reduzierung des Flächenverbrauchs auf 30 Hektar pro Tag
liegt in weiter Ferne, ist jedoch im Hinblick auf die ökologischen Konsequenzen in naher Zukunft nach unserer
Meinung unbedingt umzusetzen. Gerade deswegen ist
dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen rundherum zuzustimmen, wenn auch einige Ansatzpunkte noch weiter
ausgebaut und weitere Planungs- und Steuerungsinstrumente hinzugefügt werden müssen.
Voraussetzung für eine strategische Planung ist eine
einheitliche Normierung der Terminologie. Denn was ist
eigentlich gemeint mit Flächenverbrauch? Sprechen wir
von einer Umnutzung natürlicher Flächen und dem Neubau von Siedlungen und Infrastruktur? Flächenverbrauch
meint hier Flächenversiegelung, agrarwirtschaftlich genutzte Flächen gelten dem Antrag der Grünen zufolge
nicht als Verbrauchsflächen. In Bezug auf großflächige
Monokulturen stellt sich allerdings die Frage nach der
Gültigkeit dieser Definition.
Auch objektive Maßstäbe hinsichtlich der Kategorisierung von Flächen fehlen, sind allerdings als einheitliche
Planungs- und Bewertungsgrundlage zwingend notwendig. Derzeit obliegt die Flächenbewertung den jeweiligen
Kommunen. So gilt der ehemalige Truppenübungsplatz in
Kommune A als Brachfläche, während Kommune B denselben aufgrund seines natürlichen Erscheinungsbildes
und fehlender Altlasten als Naturfläche klassifiziert. Dadurch hat Kommune A einen deutlich größeren Bestand
an potenziellen Renaturierungsflächen bei gleicher Ausgangslage. Dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit einer einheitlichen Terminologie und damit verbundenen gemeinsamen Bewertungsmaßstäben.
Die aktuelle Gesetzeslage sieht die Schaffung von
Ausgleichsflächen im Gegenzug zum Flächenverbrauch
vor. Doch nur die Schaffung von Ausgleichsflächen ist
hierbei nicht genug. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird gefordert, dass alle nicht privilegierten Vorhaben im Außenbereich nur zulässig sein sollen, wenn an
einer anderen Stelle der Gemeinde Flächen entsiegelt
und renaturiert werden. Das befürwortet die Linke. Die
Renaturierung und Entsiegelung ist unserer Meinung
nach ein wesentlich besseres Planungs- und Steuerungsinstrument als die bloße Schaffung von Ausgleichsflächen und muss aufgrund dessen viel stärker in den Fokus kommunaler Planung gerückt werden. Für jedes
Bauvorhaben, jeden Flächenverbrauch sollten im Gegenzug, wenn vorhanden, andere Flächen entsiegelt und
renaturiert werden.
Auch die öffentliche Förderung muss sich viel stärker
auf Brachflächen fokussieren, bevor neue Flächen versiegelt werden. Trotz einer stagnierenden Bevölkerungszahl nimmt das Siedlungswachstum weiterhin zu. Damit
nimmt die Flächenversiegelung zu. Die Nutzung bereits
versiegelter und brachliegender Flächen, sprich eine effiziente Flächennutzungspolitik und Konversion von
Flächen, muss somit viel mehr in den Vordergrund gestellt werden, als neuen Flächenverbrauch zuzulassen.
So können auch dem Deutschen Bauernverband,
DBV, seine Sorgen um den Schutz und Erhalt landwirtschaftlicher Böden genommen werden. Denn die Art und
Weise der Reduzierung des Flächenverbrauches ist dabei ausschlaggebend. Der Ausgleich von Flächen darf
nicht auf Kosten der Landwirtschaft gehen. Bei Schaffung von Ausgleichsflächen nach Ausweisung eines Gewerbegebietes verliert die Landwirtschaft nicht nur Produktionsfläche, sondern soll gleichzeitig auch noch
Fläche für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Verfügung stellen. Ein Beispiel: Um die neuen Reihenhäuser wird eine artenreiche Hecke gepflanzt; weil dies
aber noch nicht ausreicht, um den Eingriff angemessen
auszugleichen, wird in der Nähe noch ein Ackerrandstreifen angelegt. Auf allen drei Flächen kann der Bauer
nicht mehr ackern. Der Grundsatz muss also gelten, wie
auch vom DBV gefordert, dass bei Versiegelung landwirtschaftlicher Flächen durch Siedelung und Verkehr
an anderer Stelle eine gleich große Fläche entsiegelt
und zur Verfügung gestellt werden muss.
Bodenschutzgebiete mit einer hohen Bodenqualität
müssen ausgewiesen und unter besonderen Schutz gestellt werden. Gleichzeitig sollte durch Ausgleichs- und
Ersatzmaßnahmen nicht auch noch auf die Agrarfläche
zugegriffen, sondern möglichst gebündelt im Rahmen
kommunaler Ökokonten Entsiegelungen und Dekontamination vorgenommen werden, zum Beispiel auch innerhalb eines Stadtgebietes als grüne Lunge. Um solche
Ziele zu schaffen, müssen neben gesetzlichen Regelungen auch Anreize da sein; Anreize, den Flächenverbrauch oder vielmehr die Flächenversiegelung zu reduzieren und schon versiegelte Flächen besser zu nutzen.
Ein mögliches Instrument zur Beeinflussung der
Nachfrage ist zum Beispiel die Anpassung der Grunderwerbsteuer, sodass der Erwerb von Brachflächen
finanziell lohnender ist als der Erwerb zuvor ungenutzter
Flächen. Tatsächlich ist sogar der Wegfall der Grunderwerbsteuer für Brachflächen, insbesondere Flächen in
Nähe des Siedlungskerns, vorstellbar. Für bereits versiegelte Flächen wird damit ein viel höherer Kaufanreiz gesetzt als für Naturflächen im Außenbereich. Dagegen
gilt die Anpassung der Grundsteuer, wie im Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen gefordert, unter Experten als
ungeeignetes räumliches Steuerungsinstrument. Die
Grünen fordern eine Reform der Grundsteuer, die mehr
Steuergerechtigkeit schafft und Fehlanreize zum Flächenverbrauch vermeidet. Da die Grundsteuer als Vermögensteuer jedoch auf potenzielle Mieter umgelegt
werden kann, beeinflusst sie dadurch nicht die AusweiZu Protokoll gegebene Reden
sung neuer Siedlungsgebiete, sondern vielmehr die
Miete in den bereits besiedelten Gebieten. Als Anreizinstrument für einen geringeren Flächenverbrauch ist
damit die Grunderwerbsteuer zu reformieren.
Eine weitere Anreizmöglichkeit ist die Belohnung von
Gemeinden über den kommunalen Finanzausgleich für
eine niedrige Neuversiegelungsquote. Grundlage dafür
ist, wie schon vorher erläutert, eine einheitliche Klassifizierung und Terminologie über auszuweisende Flächen.
Es geht hier nicht darum, Wirtschaftswachstum und
Entwicklung einzugrenzen oder zu stoppen. Aber der
Flächenverbrauch innerhalb Deutschlands ist immer
noch zu hoch, um ökologisch hinnehmbar zu sein. Gerade dem Trend, eine reichliche Verfügbarkeit preisgünstiger Flächen in wirtschaftlich schwachen Gebieten
zu suggerieren, muss entgegengewirkt werden. Bereits
im Jahre 2009 hat die Kommission Bodenschutz beim
Umweltbundesamt einen umfangreichen Bericht mit
Empfehlungen zur konsequenten Flächenverbrauchsreduzierung herausgebracht. Bis jetzt ist die Bundesregierung darauf aber nicht eingegangen, geschweige denn
hat sie entsprechende Maßnahmen eingeleitet.
Wir bringen heute unseren Antrag zur Reduzierung
des Flächenverbrauchs ein. Wir wollen mit diesem Antrag das Ziel, den Flächenverbrauch bis 2020 auf
30 Hektar pro Tag zu reduzieren, endlich mit wirkungsvollen Maßnahmen unterlegen. Das 30-Hektar-Ziel ist
ein wichtiges Zwischenziel für eine nachhaltige Stadtentwicklungspolitik. Das eigentliche Ziel ist jedoch, perspektivisch Siedlungsentwicklung ohne zusätzlichen
Flächenverbrauch anzustreben.
In der Diskussion um den Flächenverbrauch wird
gerne der Mythos verbreitet, dass der Flächenverbrauch
doch eigentlich gar kein Problem mehr sei. Belegt wird
die These mit sinkenden Flächenverbrauchszahlen in
der Mitte des letzten Jahrzehnts. Doch die Statistiker
warnen, dass mit anziehender Konjunktur auch der Flächenverbrauch wieder zunehmen wird. So ist zum Beispiel in Bayern der Flächenverbrauch 2010 im Vergleich
zum Vorjahr um 27 Prozent gestiegen. Damit werden
allein in Bayern jeden Tag 21 Hektar Fläche verbraucht.
Nimmt man das 30-Hektar-Ziel ernst, bleiben noch
9 Hektar für den Rest der Republik.
Auch eine aktuell vom Ministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung veröffentlichte Studie kommt zu
der Schlussfolgerung, dass das 30-Hektar-Ziel der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie auch bei fortschreitendem demografischen Wandel kein Selbstläufer ist.
Obwohl die Bevölkerung in Deutschland schrumpft, ist
es nicht ohne Weiteres möglich, das Flächenwachstum
auf unter 40 Fußballfelder am Tag zu beschränken.
Die Studie räumt auch auf mit dem Mythos, der Flächenverbrauch benachteilige periphere Räume nicht. Im
Gegenteil: Legt man einen gerechten Verteilungsschlüssel zugrunde, so entsteht für die peripheren Räume ein
deutlich geringerer Anpassungsdruck als für andere Regionen. Die suburbanen Gebiete werden den höchsten
Reduktionserfordernissen ausgesetzt.
Wenn man also ehrlich über den Flächenverbrauch
debattieren will, muss man auch über die Konsequenzen
einer flächensparenden Politik sprechen. Dabei liegen
natürlich zuerst die positiven Konsequenzen auf der
Hand. Eine Reduktion des Flächenverbrauchs schützt
wertvolle Böden, gerade für die Landwirtschaft. Weniger neue Verkehrsfläche bedeutet auch weniger Zerschneidung zusammenhängender Lebensräume. Darüber hinaus ist zunehmender Flächenverbrauch in
einer schrumpfenden Gesellschaft auch ökonomisch
fragwürdig. Unterausgelastete Infrastrukturen müssen
aufwändig betrieben und instand gehalten werden. Eine
Reduzierung des Flächenverbrauchs geht deshalb auch
mit einer Reduzierung neuer Infrastrukturfolgekosten
einher. Diese Zusammenhänge finden in der Planungspraxis noch zu wenig Beachtung. Wir Grüne fordern
deshalb, eine fiskalische Wirkungsanalyse in das Baugesetzbuch aufzunehmen, die der Erhebung langfristiger
Infrastrukturfolgekosten für die kommunalen Haushalte
dient. Auch obligatorische Demografiechecks sind ein
hilfreiches Instrument im Rahmen von Planungsverfahren.
Dennoch kann bei einer Verknappung von Bauland in
angespannten Märkten eine Verteuerung von Wohnraum
drohen. Die Strategie flächensparsamer Siedlungsentwicklung im Außenbereich muss von flankierenden Maßnahmen der Baulandmobilisierung im Innenbereich begleitet werden, um so den Preisdruck abzufedern. Das
bestätigt auch die aktuelle Studie des Ministeriums. Bislang hat uns die Regierung keine Vorschläge unterbreitet, wie die Baulandmobilisierung im Innenbereich forciert werden soll. Leider machen auch die aktuellen
Diskussionen zur Novellierung des Baugesetzbuch wenig Hoffnung auf Hilfestellung vom Bund für die Kommunen.
Wir Grüne fordern deshalb in unserem Antrag, eine
Nachweispflicht fehlender Innenentwicklungspotenziale in das Baugesetzbuch aufzunehmen, um so der regelmäßigen Abwägung zuungunsten des Flächensparens
entgegenzuwirken. Außerdem sollte der § 200 des Baugesetzbuchs zu einem verpflichtenden Flächenmonitoring, das Informationen über den ökologischen und sozialen Wert der Flächen enthält, weiterentwickelt
werden. Potenziale müssen systematisch erfasst werden,
um reduzierten Flächenverbrauch sozialgerecht zu gestalten. Damit die Stadtentwicklung den komplexen Anforderungen einer nachhaltige Planung gerecht werden
kann, fordern wir die Wiedereinführung der Revisionspflicht für Flächennutzungspläne im 10-Jahres-Rhythmus in das Baugesetzbuch.
Auch die Kürzungen bei der Städtebauförderung gefährden Projekte der Innenentwicklung. Wir fordern, die
Städtebauförderung des Bundes von weiteren Kürzungen auszunehmen und auf das für 2010 ursprünglich
vorgesehene Niveau von 610 Millionen Euro anzuheben
sowie perspektivisch auf einem Volumen von 700 Millionen Euro zu verstetigen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ordnungsrechtliche Vorgaben und Förderung allein
werden nicht reichen, um das 30-Hektar-Ziel zu erreichen. Der Tatsache, dass Bauland auf der grünen Wiese
für jeden Einzelnen erst einmal viel günstiger als innerstädtische Brachen ist, muss begegnet werden. Wir fordern, die Einführung einer Flächenverbrauchsabgabe
im Modellprojekt analog zu handelbaren Flächenausweisungsrechten zu prüfen. Dabei ist besonders in den
Blick zu nehmen, wie die Einnahmen aus Flächenausweisungsrechten oder einer Flächenverbrauchsabgabe
der Innenentwicklung dienen könnten. Wichtige Ansätze
dafür, wie Innenentwicklung wirksam betrieben werden
kann, liefern schon heute Flächenrecylingfonds.
Abschließen möchte ich mit einem Punkt aus der Studie, bei dem ich mir besonders wünsche, dass das BMVBS
seinen eigenen Erkenntnissen auch Taten folgen lässt. Da
heißt es: „Die politischen Entscheidungsträger in Bund
und Ländern sind darüber hinaus gefordert, das 30-haZiel zeitlich, räumlich und sachlich zu konkretisieren.“
Vor der räumlichen Konkretisierung des 30-Hektar-Ziels
scheut sich die Politik schon seit Jahren. Das 30-HektarZiel ist so schön nebulös, man kann es nicht wirklich fassen. Kaum jemand kann sich etwas darunter vorstellen.
Sagt man, der Flächenverbrauch liege bei 30 Hektar,
fragt der Laie: Pro Jahr? In Europa?
Mit einem solche Ziel trifft man keine Befindlichkeiten, weil sich niemand direkt betroffen fühlt. Erst wenn
man anfängt, das 30-Hektar-Ziel kleinräumlich zu verorten, wird klar, wo wirklich die Anstrengungen getätigt
werden müssen. Hier ist die Bundesregierung in der Verantwortung. Das Leugnen des Flächenverbrauchs muss
enden. Die Regierung muss einen Plan erstellen, wie das
30-Hektar-Ziel erreicht werden kann: sowohl räumlich
und zeitlich als auch beinhaltend, welche Instrumente
sie den Gemeinden zur Bekämpfung des Flächenverbrauchs zur Seite stellen möchte. Packen Sie es an!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6502 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verbot der Einfuhr, des Handels und der Verwendung von Steinprodukten, die durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden
- Drucksachen 17/5803, 17/7150 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss ({1})
Karin Roth ({2})
Niema Movassat
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar der Kolleginnen und Kollegen Sabine Weiss, Karin Roth, Christiane
Ratjen-Damerau, Harald Weinberg und Uwe Kekeritz.
115 Millionen Kinder weltweit zwischen 5 und
17 Jahren müssen tagtäglich unter ausbeuterischen und
extrem gefährlichen Bedingungen arbeiten. Sie schuften
schwer - häufig unter Einsatz ihre Lebens - für einen
Hungerlohn. Viele von ihnen erhalten noch nicht mal einen Lohn.
115 Millionen Kinder werden um ihre Kindheit betrogen, weil sie nicht mehr Kind sein dürfen. Sie stehen
vielmehr schon viel zu früh in der harten Pflicht, ihren
Beitrag zum Familieneinkommen leisten zu müssen. In
einem Alter, in dem ihre Altersgenossen hier bei uns in
der Regel eine unbeschwerte und sorglose Kindheit erleben dürfen, lernen sie die harte Arbeitsrealität kennen
und dass ohne ihren Lohn häufig das Essen noch knapper als sonst ist. Sie werden beraubt um das, was für
viele die schönste und unbeschwerteste Zeit im Leben
ist.
115 Millionen Kinder werden jeden Tag ohne Rücksicht auf gesundheitliche oder seelische Konsequenzen
ausgebeutet. Nur zum zahlenmäßigen Vergleich: Mehr
Kinder müssen sich jeden Tag unter ausbeuterischen Bedingungen den Rücken krumm schuften, als Deutschland, Belgien, die Niederlande und die Slowakei insgesamt Einwohner haben. Ich glaube, bei diesen Zahlen
wird die Dimension der ausbeuterischen Kinderarbeit
erst so richtig deutlich.
Weltweit müssen sogar rund 215 Millionen Kinder
zwischen fünf und 17 Jahren nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation arbeiten. 115 Millionen davon eben unter Bedingungen, die ihre seelische
und körperliche Unversehrtheit so extrem negativ beeinträchtigen und gefährden, dass von ausbeuterischer
Kinderarbeit gesprochen wird.
Kinder müssen unter sklavenähnlichen Bedingungen
von früh bis spät in Haushalten ihren Lebensunterhalt
verdienen. Sie arbeiten ohne Schutz vor Pestiziden und
Düngemitteln auf Feldern, sie müssen sich prostituieren
oder sie werden als billige Arbeitskräfte ohne jeglichen
Schutz in Steinbrüche geschickt. In einigen Ländern ist
ausbeuterische Kinderarbeit gar zu einem grenzüberschreitenden Geschäft geworden, so werden beispielsweise Tausende junge Mädchen jährlich von Nepal nach
Indien verschleppt und gezwungen, dort als Prostituierte
zu arbeiten.
Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung können viele
Kinder keine Schule besuchen und sind damit mehr oder
weniger von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Die Kinder, die zumindest stundenweise eine Schule besuchen,
können häufig dem Unterricht nicht folgen, weil sie von
der vielen und körperlich anstrengenden Arbeit ermüdet
sind. Ohne Schulbildung allerdings haben sie auch in
ihrem späteren Erwachsenenleben so gut wie keine
Aussicht auf einen Job, der es ihnen ermöglicht, ihre Fa15810
Sabine Weiss ({0})
milie mit ihrem Einkommen zu ernähren. In der Konsequenz müssen dann häufig auch ihre eigenen Kinder
schon in jungen Jahren Geld für das Familieneinkommen erarbeiten. Damit setzt sich der Teufelskreis aus Armut und mangelnder Bildung fort.
Zwar ist die Kinderarbeit in den letzten Jahren leicht
zurückgegangen, dies gilt aber leider nicht für alle Regionen, in Afrika südlich der Sahara beispielsweise
nimmt sie weiter zu.
Das Problem der ausbeuterischen Kinderarbeit ist
vielschichtig und zwar so vielschichtig, dass es leider
keine einfachen Lösungen gibt. Allein mit einem Importverbot, wie in dem Antrag der Linken gefordert, ist es
bedauerlicherweise nicht getan. Abgesehen davon, dass
es zweifelhaft ist, ob Importverbote einer WTO-rechtlichen Prüfung überhaupt standhalten, hat ein solches, in
den USA erlassenes Importverbot beispielsweise keine
Wirkung gezeigt. Selbst UNICEF ist der Auffassung,
dass „undifferenzierte Handelssanktionen und Boykotte
kontraproduktiv sein können und dazu führen, dass Firmen Kinder in ihren Betrieben einfach entlassen und so
die Familien noch tiefer ins Elend stürzen.“ Da man
Produkten zudem nicht ansehen kann, ob sie durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden oder nicht,
wäre insbesondere bei längeren Lieferketten eine wirksame Überprüfung eines solchen Importverbotes praktisch sehr schwierig.
Wir können die ausbeuterische Kinderarbeit nur
durch einen wirksamen Maßnahmenmix erfolgreich und
nachhaltig eindämmen. Die zentrale Ursache für Kinderarbeit ist bittere Armut, die die Eltern zwingt, ihre
Kinder arbeiten zu schicken, damit die Familie ernährt
werden kann. Kinderarbeit ist nur in den Griff zu bekommen, wenn wir die Wurzel des Problems beseitigen. Die
nachhaltige Armutsbekämpfung und der Zugang zu Bildung ist eine zentrale Aufgabe deutscher Entwicklungszusammenarbeit, und damit packt die Bundesregierung
- anders als die Linken mit ihren Forderungen - das
Problem genau an der richtigen Stelle an.
Deutschland hat in den 90er-Jahren das ILO-Programm „International Programme on the Elimination of
Child Labour“ mit initiiert und ist seitdem mit rund
55 Millionen Euro einer der wichtigsten Geber. Das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung fördert zudem zahlreiche Projekte, mit
deren Hilfe Kinderarbeit bekämpft wird und wirtschaftliche Alternativen für die Kinder und ihre Familien geschaffen werden. Deutschland bekämpft damit die sozialen Ursachen von Kinderarbeit.
Importverbote oder Boykotte hören sich zwar gut an
und mögen auch den Konsumenten ein gutes Gewissen
suggerieren, sie beseitigen jedoch nicht allein die sozialen Ursachen von Kinderarbeit und werden deshalb
auch - so bedauerlich es ist - wenig Wirkung erzielen.
Die Instrumente, die die christlich-liberale Koalition zur
Eindämmung der Kinderarbeit einsetzt, sind sehr viel
zielführender und effektiver als Importverbote.
Eine weitere wichtige Maßnahme zur erfolgreichen
Bekämpfung von Kinderarbeit ist die Sensibilisierung
und Bewusstseinsschärfung der Konsumenten. Es darf
nicht immer nur der günstigste Preis kaufentscheidend
sein. Vielmehr muss auch die Frage, unter welchen Bedingungen ein Produkt hergestellt wurde und ob das
Produkt nur durch ausbeuterische Kinderarbeit so preisgünstig angeboten werden kann, bei der Verbraucherentscheidung einen größeren Stellenwert erhalten. Firmen, Privatpersonen und Kommunen müssen ihren
Einfluss geltend machen und die Durchsetzung von Mindeststandards - wie die Ächtung von Kinderarbeit - einfordern. Mit der Kaufentscheidung hat es jeder Konsument selbst in der Hand, zu entscheiden, welche
Produkte er aus welchem Grund kauft und auf welche er
- auch bei einem noch so günstigen Preis - verzichtet. Je
mehr fair gehandelte Produkte wir nachfragen, desto
mehr werden auch angeboten - das ist eine einfache
Rechnung.
Das Problembewusstsein dafür, dass viele Produkte
nur so günstig sind, weil sie unter menschenunwürdigen
Bedingungen hergestellt wurden, ist erfreulicherweise in
den letzten Jahren enorm gestiegen. Kommunen und
Bundesländer berücksichtigen bei der öffentlichen Beschaffung in immer größerem Maß soziale Kriterien.
Mehr als 250 Gebietskörperschaften machen bei der
vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Kampagne „Aktiv
gegen Kinderarbeit“ mit. Fair-Trade-Produkte erfreuen
sich bei den Konsumenten immer größerer Beliebtheit.
Es gilt nun, den Anteil von fair gehandelten Produkten
noch weiter zu steigern.
Die Bundesregierung setzt sich sowohl international
als auch national mit einem erfolgreichen Instrumentenmix für die Bekämpfung von Kinderarbeit ein. Armutsbekämpfung und der Zugang zu Bildung sind zentrale
Aufgaben deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Auf
europäischer Ebene hat sich Deutschland unter anderem für die Verlängerung des APSplus-Instruments aktiv
eingesetzt. Die APSplus-Regelung gewährt Herstellern
aus Drittländern attraktive Zollvergünstigungen, wenn
die ILO-Konventionen zur Beseitigung der schlimmsten
Formen der Kinderarbeit und zum Mindestbeschäftigungsalter effektiv umgesetzt werden. Zudem setzt sich
Deutschland dafür ein, dass bei Verhandlungen über
EU-Freihandelsabkommen Regelungen zu Sozial- und
Arbeitsstandards verankert werden. Die Bundesregierung unterstützt das Ziel, dass durch Kinderarbeit hergestellte Produkte nicht länger verkauft oder genutzt
werden. Die Länder, in denen Kinder ausgebeutet werden, bedürfen der Unterstützung bei der wirksamen Umsetzung der beiden ILO-Konventionen zur Beseitigung
der ausbeuterischen Kinderarbeit. Sie müssen unterstützt, aber auch konsequent angehalten werden, sich
stärker im Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit zu
engagieren.
Die Ursachen von Kinderarbeit sind vielschichtig,
und es gibt leider keine einfachen Lösungen dafür. Importverbote allein sind kein wirksames Mittel zur nachhaltigen Eindämmung von Kinderarbeit. Wir lehnen
deshalb den Antrag der Linken ab. Ein Importverbot
mag zwar gut klingen und den Konsumenten ein ruhiges
Gewissen suggerieren, es beseitigt jedoch nicht die soZu Protokoll gegebene Reden
Sabine Weiss ({1})
zialen Ursachen von Kinderarbeit und greift deshalb zu
kurz.
Vor zwei Wochen - am 7. Oktober 2011 - hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof eine von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte, aber dennoch umso
wichtigere Entscheidung getroffen. Die Richter gaben einer Verfassungsbeschwerde der Stadt Nürnberg recht, die
sich damit erfolgreich gegen eine Klage eines Steinmetzbetriebs zu Wehr gesetzt hat. Der Auslöser: Die Stadt
Nürnberg hat in ihrer Bestattungs- und Friedhofssatzung
festgelegt, dass auf städtischen Friedhöfen nur Grabmale
aufgestellt werden dürfen, „die nachweislich in der gesamten Wertschöpfungskette ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt werden.“ Dagegen hatte der Steinmetz
geklagt. Das Verfassungsgericht gestand mit seiner Entscheidung jetzt der Stadt Nürnberg das Recht zu, im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung derartige Regelungen, zu denen auch die Ächtung von in Kinderarbeit
hergestellten Produkten gehört, zu treffen. Auch wenn dieser Fall noch nicht endgültig entschieden ist, so macht er
doch deutlich, dass die geltende Rechtslage zur öffentlichen Vergabe unter Einbeziehung internationaler Standards wie den ILO-Konventionen 138 und 182 zur Bekämpfung der Kinderarbeit Möglichkeiten bietet, auch
hier bei uns gegen Kinderarbeit in der Welt vorzugehen,
ganz nach dem Prinzip: Global denken - lokal handeln.
Wie dramatisch die Lage nach wie vor ist, zeigt auch
der aktuelle Jahresbericht des US-Arbeitsministeriums
zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit, der Ende
September dieses Jahres vorgestellt wurde und durch die
aktuellen Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, bestätigt wird. Danach arbeiten tagtäglich
rund 215 Millionen Kinder weltweit, mehr als die Hälfte
von ihnen unter gefährlichen und ausbeuterischen Bedingungen. 53 Millionen dieser Kinder sind jünger als
14 Jahre. Der höchste Anteil von Kinderarbeit in der heimischen Produktion ist in Indien, Bangladesch und auf
den Philippinen festzustellen. In Indien arbeiten Kinder
in Steinbrüchen, in Ziegeleien, in der Landwirtschaft; sie
stellen Feuerwerkskörper und Fußbälle her. In Bangladesch werden Kinder - vor allem Mädchen - in der Textil- und Schuhindustrie ausgebeutet. Auf den Philippinen
müssen Kinder in der Tabakernte und -verarbeitung arbeiten. Eine der am weitesten verbreitete Form von Kinderarbeit ist die Arbeit in privaten Haushalten. Sie ist zudem besonders problematisch, weil Zwangsarbeit und
Missbrauch hier sehr schwer nachzuweisen sind. Die
ILO schätzt die Zahl der Hausangestellten auf mindestens 53 Millionen. Experten gehen davon aus, dass die
Dunkelziffer bei bis zu 100 Millionen liegt. 83 Prozent
aller Hausangestellten sind Frauen und Mädchen.
UNICEF zufolge ist in Bangladesch jedes fünfte in privaten Haushalten beschäftigte Kind erst zwischen fünf und
zehn Jahren alt.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb ausdrücklich, dass die Internationale Arbeitskonferenz im
Juni dieses Jahres die neue ILO-Konvention 189 über
menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Hausangestellte beschlossen hat. Damit ist es erstmals gelungen,
Arbeitsstandards für den informellen Sektor festzulegen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, die Konvention
schnellstmöglich dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorzulegen und so ein international wichtiges
Signal zu setzen. Klar ist: Armut ist die Hauptursache
für Kinderarbeit. Die wirtschaftliche Not lässt Familien
oft keine andere Wahl: ihre Kinder müssen mitverdienen,
um die Existenz zu sichern. Viele Familien sind auch zu
arm, um ihre Kinder in die Schule zu schicken. Schulgeld und Schulmaterial sind für ihre Eltern oft unbezahlbar. Damit beginnt ein Teufelskreis: Ohne schulische
und berufliche Ausbildung bekommen sie später auch
keine bessere Arbeit. Sie bleiben arm und können oft
auch ihren Kindern kein besseres Leben ermöglichen.
Für Mädchen gilt dies besonders. Sie bleiben ohne Bildung, werden oft früh verheiratet und können auch ihren
Kindern nur wenig Wissen weitergeben.
Um die Armut als wesentliche Ursache für Kinderarbeit wirksam und nachhaltig zu bekämpfen, muss vor allem die wirtschaftliche Situation der Familien verbessert
werden. Dazu gehört es, dass soziale Grunddienste wie
Bildung und Gesundheitsversorgung auch die ärmsten
Familien erreichen. Dem Auf- und Ausbau von Systemen
der sozialen Sicherung - vor allem im Gesundheitsbereich - kommt dabei besondere Bedeutung zu. Denn nach
wie vor ist Krankheit das größte Verarmungsrisiko. Jahr
für Jahr sind rund 150 Millionen Menschen ruinierenden
Gesundheitsausgaben ausgesetzt, und 100 Millionen
Menschen fallen unter die Armutsgrenze alleine deswegen, weil sie Krankheitsbehandlungen direkt aus eigener
Tasche zahlen müssen. Ziel sozialer Sicherungssysteme
muss es daher sein, dieses Armutsrisiko zu beseitigen
und eine Mindestversorgung mit Medikamenten und Gesundheitsdienstleistungen diskriminierungsfrei für alle
zu garantieren. Die ILO-Initiative eines Social-Protection-Floors und das Konzept der Weltgesundheitsorganisation, WHO, für eine universelle Absicherung im
Krankheitsfall bieten dafür die systematische Grundlage.
Der Social-Protection-Floor ist zudem der zentrale Ansatz zur Bekämpfung von Armut und Kinderarbeit, da er
nicht nur die Gesundheitsversorgung sicherstellt, sondern auch staatliche Transferleistungen für Kinder garantiert und so Kinderarbeit direkt verhindert.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher die Bundesregierung auf, die Partnerländer multi- und bilateral
beim Aufbau solidarisch finanzierter Systeme der sozialen Sicherung aktiv zu unterstützen. Außerdem fordern
wir, dass das Verbot und die Abschaffung von Kinderarbeit bei allen EU-Handelsabkommen verpflichtend vereinbart wird. Sollte ein Land diese Verpflichtung nicht
eingehen wollen, darf es kein Handelsabkommen geben.
Die Bundesregierung hat deshalb im Rat und gegenüber
der Kommission dafür Sorge zu tragen, dass dieser
Grundsatz in der europäischen Handelspolitik verankert
wird. Das Gleiche gilt für die Gewährung von Zollpräferenzen.
Ich erwarte daher ganz konkret von der Bundesregierung, dass sie gemeinsam mit der EU-Kommission im
Rahmen der laufenden Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Indien auf die Einhaltung international verbindlicher Sozialstandards - vor allem das VerZu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
bot von Kinderarbeit - besteht. Dass dies möglich ist,
zeigen das in Kraft getretene Handelsabkommen mit
Südkorea und die ausverhandelten Handelsabkommen
mit Kolumbien und Peru. Und ich sage es ganz deutlich:
Die Kinderrechte, die in indischen Steinbrüchen Tag für
Tag mit Füßen getreten werden, sind nicht verhandelbar
und dürfen keinesfalls wirtschaftlichen Profitinteressen
untergeordnete werden. Aber es ist nicht nur die Aufgabe der Politik, der Ausbeutung von Kindern entgegenzuwirken. Auch Unternehmen und Konsumenten können
ihren Teil dazu beitragen, Kinderarbeit zu bekämpfen.
Die neuen Leitsätze der OECD für multinationale Unternehmen bieten dafür einen international anerkannten
Handlungsrahmen und beschreiben die Sorgfaltspflicht
der Unternehmen für die eigenen Beschäftigten und die
Beschäftigten in den Zulieferfirmen. Danach sind sie
verpflichtet, „ zur wirksamen Abschaffung der Kinderarbeit beitragen und unverzügliche und wirksame Maßnahmen zur Gewährleistung des Verbots und der Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu
ergreifen.“
Ich erwarte von den Unternehmen, dass sie sich an
die OECD-Vorgaben halten und darüber hinaus in
Selbstverpflichtungen ein klares Bekenntnis gegen Kinderarbeit abgeben. Konkret bedeutet dies: International
tätige Unternehmen legen in ihren Verträgen mit Produzenten und Zulieferern einen Verhaltenskodex, mit dem
Kinderarbeit ausgeschlossen wird, zugrunde. Die Einhaltung des Kodex muss jedoch auch überprüft werden.
Auch beim Einkauf von Gütern und Dienstleistungen
muss darauf geachtet werden, dass die Zulieferer die
Rechte der Kinder respektieren und Schutzmaßnahmen
gegen Ausbeutung ergreifen. Ziel ist ein verbindliches
Zertifizierungssystem entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette. Damit schaffen wir Transparenz
über Herstellung der Waren und Dienstleistungen. Dies
ist ein zentraler Schlüssel für die Sicherung fairer Arbeitsbedingungen und eine Voraussetzung für die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit.
Besonders begrüße ich in diesem Zusammenhang die
aktuellen Initiativen der Gewerkschaft Bauen-AgrarUmwelt, IG BAU, und Erziehung und Wissenschaft,
GEW. Die IG BAU macht deutlich, dass in vielen - insbesondere indischen - Steinbrüchen Kinder unter sklavenähnlichen Zuständen ausgebeutet werden. Die dort
hergestellten Natursteine werden anschließend auf deutschen Baustellen verarbeitet. Deshalb fordert die
IG BAU, beim Kauf von Natursteinen stärker auf die
Herkunft der Materialien zu achten. Die Gewerkschaft
fordert ein unabhängiges Gütesiegel, mit dem die Kommunen bei der Auftragsvergabe auf Nummer sicher gehen können. Die GEW hat die Stiftung Fair Childhood
ins Leben gerufen und will so dem Verbot von Kinderarbeit Geltung verschaffen. Neben der Bildungsarbeit in
Deutschland in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sollen in den Ländern des Südens Projekte initiiert und gefördert werden, die zur Befreiung von Kinderarbeitern und zu deren Schulbildung führen.
Dies zeigt: Die Bekämpfung der Kinderarbeit können
wir nur gemeinsam schaffen. Politik, Wirtschaft, öffentliche Hand und die Verbraucherinnen und Verbraucher
haben es in der Hand, und alle zusammen tragen Verantwortung. 215 Millionen Kinder, die teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, damit
sie und ihre Familien überleben können, haben ein
Recht darauf, dass wir unsere Verantwortung endlich
wahrnehmen.
Im September hat die vietnamesische Polizei bei einer
Razzia in einer Bekleidungsfirma 23 Kinder und junge
Erwachsene, die dort als Arbeitssklaven festgehalten
wurden, befreit. Die Opfer sind zwischen 10 und
21 Jahre alt. Der zwölfjährige Trang, einer der befreiten
Arbeitssklaven, sagte, er sei aus einem kleinen Dorf mit
35 Haushalten nach Saigon gebracht worden, wo er
Stoffe zuschneiden musste und regelmäßig geschlagen
wurde. Wie viele Stunden er täglich arbeiten musste,
wusste er nicht: Er kann die Uhr nicht lesen.
Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass
weltweit 215 Millionen Kinder ähnliche Schicksale erleiden müssen wie Trang. 115 Millionen von ihnen sollen
gezwungen sein, einer gefährlichen oder einer ihre Entwicklung behindernden Arbeit nachzugehen. 5,7 Millionen Kinder müssen moderne Formen von Zwangsarbeit
leisten oder befinden sich aufgrund von Schuldknechtschaft in einer modernen Form von Sklaverei, um die
Schulden ihrer Eltern abzuarbeiten. Vor allem Subsahara-Afrika ist von Kinderarbeit betroffen - dort muss
jedes dritte Kind arbeiten.
Diese Zahlen können für einen deutschen Politiker
nicht hinnehmbar sein. Die Frage ist allerdings, welche
Maßnahmen gegen die Kinderarbeit helfen. Schnell
kann das Verbot von Produkten gefordert werden, die
mit den Händen von Kindern hergestellt werden. Man
könnte meinen, damit löse sich das Problem, da nun keiner in Deutschland die Produkte abnehmen kann. So
einfach ist es jedoch nicht. Der kleine Trang wurde von
seinen Eltern verkauft. Man hatte ihnen versprochen,
dass ihre Kinder gut bezahlte, angenehme Arbeit bekommen. Erst nachdem sie fast kein Geld erhalten hatten,
haben sich die Eltern an die Behörden gewendet.
Ausbeuterische Kinderarbeit wird in erster Linie
durch die soziale und wirtschaftliche Situation in den
Herkunfts- und Produktionsländern hervorgerufen. Hier
müssen wir ansetzen. Und genau das tun wir: Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet,
Kinderarbeit zu ächten und international zu verbieten.
Wir haben die Übereinkommen 138 und 182 der Internationalen Arbeitsorganisation dazu unterschreiben. Im
März letzten Jahres wurde ein Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Menschenrechte weltweit
schützen“ verabschiedet. Darin wurde das Thema behandelt. Die Bundesregierung setzt den Antrag um, indem sie die Ursachen der Kinderarbeit, die vor allem in
der Armut der Eltern begründet liegen, entschieden bekämpft.
Doch wir sollten nicht glauben, dass wir Länder von
außen entwickeln können. In China ändert sich nichts,
weil wir hier etwas verbieten. Aber wenn wir von Staaten eine gute Regierungsführung einfordern, ihnen bei
Zu Protokoll gegebene Reden
der Erneuerung von staatlichen Strukturen helfen und
nicht zuletzt die Kinder unterstützen, indem wir einen
noch stärkeren Fokus auf Bildung und Gesundheit legen, dann können wir etwas bewirken - kurz- und langfristig.
Es wäre jedoch zu einfach, zu sagen, dass wir hier
gar nichts tun könnten. In den vergangenen Jahren sind
durch Natursteinimporteure, Agenturen und Organisationen eine Vielzahl von Initiativen entwickelt worden,
die das Thema der Zertifizierung und Standardentwicklung für den Natursteinsektor angehen. Öffentliche Auftraggeber haben schon heute das Recht, in Ausschreibungen festzulegen, dass eine Ware nachweisbar nicht
durch Kinderarbeit hergestellt wurde.
Wir müssen das Problem an den Wurzeln anfassen.
Die Lebensbedingungen in den betroffenen Ländern
müssen sich verbessern und die Menschenrechte für jedermann anerkannt werden. Im Fall Trang wurden Kinder und junge Erwachsene durch die lokalen Behörden
befreit. Dass diese in Vietnam sehr hart gegen Kinderhandel und -arbeit kämpfen, ist eine gute Nachricht.
Jetzt muss dort noch die Gesetzgebung insgesamt reformiert werden. Dabei kann die Bundesrepublik helfen.
Der vorliegende Antrag dient lediglich dem guten
Gewissen der Konsumenten. Das Bundeministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und
die Regierungskoalition im Bundestag hingehen arbeiten intensiv und konsequent daran, die weltweite ausbeuterische Kinderarbeit zurückzudrängen - durch die
Förderung sozialer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Strukturen. Daher kann die FDP den vorliegenden
Antrag nicht unterstützen.
Es ist gut, wenn die verheerenden Auswirkungen und
Ursachen von Kinderarbeit ins öffentliche Bewusstsein
gerückt werden, auch diese Debatte leistet ihren Beitrag
dazu. Der Antrag meiner Fraktion, über den wir heute
diskutieren, beinhaltet aber keinen allgemeinen Plan zur
weltweiten Bekämpfung ausbeuterischer Kinderarbeit,
wie es ihm einige Redebeiträge bei der ersten Lesung
abverlangten. Selbstverständlich gehört zu einer solchen Strategie die Bereitstellung kostenfreier Bildung in
allen Weltregionen, und selbstverständlich lässt sich
ausbeuterische Kinderarbeit nur beseitigen durch einen
konsequenten Kampf gegen die Ursachen von Armut nicht im Kampf gegen die Armen, wie er der derzeit beispielsweise von der Europäischen Union an den Außengrenzen geführt wird.
Das Anliegen unseres Antrages ist, wie gesagt, keine
umfassende Strategie gegen ausbeuterische Kinderarbeit so notwendig und dringend diese auch ist. Es geht um einen konkreten, praktischen Schritt auf dem Weg dorthin.
Von einer Bundesregierung, die, wie ihre Vorgängerregierungen, nicht den politischen Willen aufbringt, die zugesagten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die
Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, und die auch
einen erheblichen Teil der eigenen Kinder und Jugendlichen zu Armut und Perspektivlosigkeit verdammt, sind
allerdings keine umfassenden oder gar tragfähigen Konzepte in diese Richtung zu erwarten.
Deswegen will ich zum konkreten Anlass für unseren
Antrag kommen: In den letzten Jahren gab es in verschiedenen Kommunen und im Saarland Initiativen, um
gegen die Verwendung von Grabsteinen vorzugehen, die
durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden.
Durch Regelungen in den Friedhofssatzungen wollten
Kommunen die Aufstellung von Grabsteinen verbieten,
bei denen kein Nachweis dafür vorliegt, dass alle
Schritte der Wertschöpfung ohne ausbeuterische Kinderarbeit erbracht wurden. Eine solche Regelung wird
auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Human Rights Watch oder Terre des Hommes Deutschland
gefordert. Die kommunalen Beschlüsse wurden allerdings sowohl vom Oberverwaltungsgericht RheinlandPfalz wie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben. Der bayerische Fall wurde auch vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die Kommunen in diesem
Punkt über keine Gesetzgebungskompetenz verfügen.
Die Gerichte sind der Ansicht, dass hier Fragen des Warenverkehrs mit dem Ausland berührt werden. Hierfür
weist das Grundgesetz dem Bund die alleinige gesetzgeberische Kompetenz zu.
Es geht bei einem solchen Importverbot um die konsequente Umsetzung des Übereinkommens 182 der International Labour Organization, ILO, in dem notwendige Maßnahmen zur Abschaffung von ausbeuterischer
Kinderarbeit vereinbart sind. Ein Bundesgesetz, das
Einfuhr, Handel und Verwendung von Steinprodukten
aus ausbeuterischer Kinderarbeit verbietet, wäre ein
wichtiger Schritt zu ihrer Ächtung im Sinne der benannten ILO-Konvention. Außerdem würde es die kommunalen und zivilgesellschaftlichen Initiativen stärken, die
eine solche Ächtung anstreben, denen aber die Regelungskompetenz hierfür fehlt. Es wäre auch ein erster
Schritt, um im Rahmen der Europäischen Union ein solches Verbot anzustoßen.
Die Bundesregierung hat erklärt, dass keine rechtlichen Möglichkeiten vorlägen, um ein Importverbot für
solche Produkte zu erwirken, weder im Rahmen der EU,
noch auf Ebene der WTO. Union und FDP setzen stattdessen einseitig und blauäugig auf die gesellschaftliche
Selbstverantwortung von Unternehmen und sogenannte
positive Handelsanreize, bei denen Zollvergünstigungen
auf Produkte gewährt werden, die nachweislich ohne
ausbeuterische Kinderarbeit erzeugt worden sind. Die
staatlichen Möglichkeiten zur konsequenten Regulierung fallen dabei unter den Tisch. Solche Maßnahmen
würden sich auch gegen die Profitinteressen großer Unternehmen richten, die von „günstigen Produktionsbedingungen“ der Kinderarbeit ebenso profitieren wie die
Endverbraucher in den Industriestaaten.
Die Würde großer Unternehmen und des uneingeschränkten freien Handels wiegen für die Bundesregierung offenbar schwerer als die „unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen“, wie sie in der
Grundrechtecharta der Europäischen Union festgehalten sind und die auch ein Verbot von Kinderarbeit beZu Protokoll gegebene Reden
inhalten. Wer in der Grundrechtecharta und nicht im
Ideal liberalisierter Märkte den geeigneten politischen
Kompass für den Kampf gegen Kinderarbeit sieht, sollte
für diesen Antrag stimmen.
Es sind unvorstellbare Zahlen: Etwa 250 Millionen
Kinder zwischen 5 und 14 Jahren sind weltweit als
„Kinderarbeiter“ tätig. Und diese Zahl steigt erneut.
Viele von ihnen leben und arbeiten unter unwürdigen,
sklavenähnlichen Bedingungen und sind hemmungsloser Ausbeutung ausgesetzt. Bei diesen Kindern zeichnet
sich unweigerlich ab, dass sie nie lesen oder schreiben
lernen werden und keine Zeit zum Spielen und zur persönlichen Entwicklung haben. Ihre grundlegenden Bedürfnisse und Menschenrechte werden von klein auf mit
Füßen getreten.
Die Versklavung und Ausbeutung von Kindern, von
jungen Menschen, die sich kaum wehren können, ist eine
besonders abstoßende Form von Menschenrechtsverletzungen. Es muss ein zentrales Ziel unserer Politik sein,
ausbeuterische Kinderarbeit zu bekämpfen!
Daher teilen wir die Auffassung der Linken: Es muss
etwas unternommen werden, damit in Zukunft keinerlei
Handel mit Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit
stattfindet. Ganz so einfach, wie es sich die Linke vorstellt, ist es jedoch nicht. Die erste Forderung des Antrages überrascht, da sie doch recht unrealistisch und unüberlegt ist. Hat die Linke nicht mitbekommen, dass die
Handelspolitik vergemeinschaftet wurde? Handelsverbote können nicht von der Bundesregierung erlassen,
sondern nur über die EU oder gar die WTO durchgesetzt
werden!
Es mag berechtigte Kritik an der Politik dieser beiden
Institutionen geben - solange diese jedoch in ihrer heutigen Form bestehen, müssen wir einen Prozess bei der
EU bzw. der WTO anstoßen, um etwas zu erreichen. Darüber hinaus ist ein Handelsverbot in diesem Fall rein
praktisch bei Weitem nicht so leicht umsetzbar wie im
Fall von Handelsverboten bei anderen Produkten. Die
Kontrolle ist nicht so leicht wie bei seltenen Tieren, Elfenbein oder dem Handel von leicht nachweisbaren Giftstoffen.
Ein internationales Handelsverbot ist daher schlicht
ein sehr umständlicher und langsamer Weg, auch wenn
dieser so verlockend entschlussfreudig erscheinen mag.
Wenn ich den Antrag lese, dann zweifle ich an der Bereitschaft der Linken, sich ausreichend mit dem komplexen Thema der Kinderarbeit auseinanderzusetzen.
Dringend muss sich die Bundesregierung verstärkt
dafür einsetzen, dass der ausbeuterischen Kinderarbeit
weltweit ein Ende gesetzt wird. Ein unreflektiertes „Weiter so, alles ist auf dem rechten Wege“, wie es seit diesem Frühjahr auf mehrfache Nachfrage von der Bundesregierung zu hören war, ist nicht akzeptabel. Wir
brauchen Konzepte, die sofort beginnen, ihre Wirkung
zu entfalten. Die ausgebeuteten Kinder brauchen jetzt
unsere Unterstützung!
Häufig wird auf die rund 174 Staaten verwiesen, welche bereits das ILO-Übereinkommen gegen die
schlimmsten Formen der Kinderarbeit unterzeichnet haben. Das ist ein wichtiger Impuls. Beschlüsse wie die
ILO-Norm 182 stellen jedoch nur einen ersten Schritt im
Kampf gegen die ausbeuterische Kinderarbeit dar. Denn
das Abkommen muss auch umgesetzt werden, und das
muss in erster Linie in den betroffenen Ländern und Regionen erfolgen. Ich will mich dafür einsetzen, dass wir
im Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit ernsthaft
vorankommen, und dafür brauchen wir konkrete Maßnahmen, die an der Situation der Kinder etwas ändern,
das Problem also an der Wurzel packen.
In nahezu allen Fällen ist Armut die tieferliegende
Ursache für die Ausbeutung von Kindern. Armut können
wir jedoch nicht verbieten. Nur mit guter Entwicklungszusammenarbeit können wir sowohl das Symptom der
ausbeuterischen Kinderarbeit lindern als auch die dahinter stehende Armut bekämpfen. Soziale Absicherung
ist hierbei ein Schlüsselfaktor. Das Überleben der Familien darf nicht von der Arbeit der Kinder abhängen,
auch nicht, wenn die Eltern arbeitslos oder krank sind
oder schlicht nicht genug einnehmen. Wir müssen aktiv
den Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung in Entwicklungs- und Schwellenländern vorantreiben.
Hier in Deutschland kann und muss die Bundesregierung über die Beschaffung Verantwortung übernehmen.
Indem nicht nur Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit vom Import ausgeschlossen werden, sondern
auch alle weiteren ILO-Kernarbeitsnormen generell im
Einkauf berücksichtigt werden müssen, kann die Bundesregierung unmittelbar handeln. Ein solcher Schritt,
mit dessen Umsetzung die Bundesregierung prompt und
nahezu eigenständig beginnen kann, führt implizit und
auf eine praktikable Weise auch unmittelbar zu faireren
Außenhandelsbeziehungen.
Zudem ist die Bundesregierung in der Position, Gesetze zu erlassen, welche innerhalb Deutschlands deutlich machen, wie Länder und Kommunen gegen die weltweite Armut und die daraus resultierende Kinderarbeit
vorgehen können. Indem die Bundesregierung Länder
und Kommunen jedoch im Unklaren lässt, unterbindet
sie, anscheinend bewusst, sinnvolle Beiträge von aktiven
Gruppen und Initiativen.
Die Bayerischen Verfassungsrichter haben das in
dieser Woche sehr deutlich gemacht: Sie haben klar festgestellt, dass es unsere Verfassung gebietet, aktiv gegen
die schlimmsten Formen der Kinderarbeit vorzugehen
und dass verwaltungstechnische Vorbehalte diesem Ziel
untergeordnet sind. Zuvor hatte das oberste Verwaltungsgericht wegen einer unklaren Gesetzeslage einer
Nürnberger Gemeinde untersagt, nur Grabsteine aufzustellen, die nachweislich frei von ausbeuterischer Kinderarbeit sind. Diese Unklarheit ist nun ausgeräumt,
und auch die Bundesregierung muss dieser Vorgabe
endlich folgen!
Auch unsere deutschen transnationalen Unternehmen
müssen künftig mehr Verantwortung übernehmen. Die
OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen wurden erst im Frühsommer 2011 in überarbeiteter Form
Zu Protokoll gegebene Reden
neu vorgestellt. Das Problem ist die Umsetzung: Sanktionen für Unternehmen, die die Leitsätze verletzen, gibt
es überhaupt nicht. Das einzige Mittel ist, Menschenrechtsverletzungen öffentlich anzuprangern. Doch daran zeigt die Bundesregierung kein Interesse.
Die Staaten sind verpflichtet, eine sogenannte „Nationale Kontaktstelle“ einzurichten, die die Verbreitung
und Umsetzung der Leitsätze fördert und Beschwerden
entgegennimmt. Im Konfliktfall soll sie vermitteln und
eine Lösung finden. Leider ist die deutsche Kontaktstelle
wenig konstruktiv. Sie ist im Bundeswirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen angesiedelt. Ein Interessenkonflikt ist damit vorprogrammiert. Leider will die Bundesregierung diesen
Widerspruch nicht erkennen. Ohne politischen Willen
sind die Leitsätze nicht das Papier wert, auf dem sie stehen.
Wir Grüne fordern auch hier klare Regelungen:
Transnationale Unternehmen müssen über die Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf die Menschenrechtssituation zunächst verpflichtend Bericht erstatten. Es muss
Transparenz über die Folgen des weltweiten unternehmerischen Handelns geschaffen werden. Sollten Unternehmen Menschenrechte, Arbeits- und Umweltstandards
nicht einhalten, sollte unser wirtschaftlicher Erfolg
durch die Arbeit von Kindern erwirtschaftet werden,
muss dies öffentlich gemacht werden, und Unternehmen
müssen von jeglicher öffentlicher Förderung, ebenso
wie von öffentlichen Aufträgen, ausgeschlossen werden.
All das sind klare Konzepte, die weit über bloße Handelsverbote hinausgehen. Wir müssen das Thema Kinderarbeit umfassend angehen, und wir können morgen
damit beginnen. Die Bundesregierung muss endlich Verantwortung übernehmen. Die Selbstgefälligkeit, mit der
Schwarz-Gelb die vielen Probleme abtut und Lösungen
konstant verweigert, muss endlich ein Ende haben.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/7150, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5803 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Oktober 2011,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen freundlichen Abend
und eine gute Nachtruhe.
Die Sitzung ist geschlossen.