Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/20/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zur heutigen Plenarsitzung des Deutschen Bundestages. Ich habe einige Mitteilungen zu machen. Ich beginne mit dem rundum erfreulichen Umstand, dass die Kollegin Sibylle Pfeiffer und der Kollege Willi Brase in den vergangenen Tagen ihre 60. Geburtstage gefeiert haben, wozu ich ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren möchte. ({0}) Nicht ganz so erfreulich ist, dass die Kollegen Norbert Brackmann und Michael Brand aus jeweils unterschiedlichen, hier aber nicht erläuterungsbedürftigen Gründen ihre Schriftführerämter niedergelegt haben. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt die Kollegen Dr. Peter Tauber und Dr. Johann Wadephul als Nachfolger vor. Können Sie sich damit einverstanden erklären? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde Befugnisse und Instrumentarien von Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden im Internet bei Verfolgung schwerer Straftaten ({1}) ({2}) ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zehnter Bericht der Bundesregierung über die Aktivitäten des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der einzelnen Rohstoffabkommen - Drucksache 17/3817 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglich vorlegen und künftig ausführlicher gestalten - Drucksache 17/7355 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 31 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Beate Müller-Gemmeke, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung ({6}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Richtlinie zur konzerninternen Entsendung grundsätzlich überarbeiten - Drucksache 17/4885 Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung ({8}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Rechte der Saisonarbeitskräfte stärken - Drucksache 17/5234 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Brandanschlagserie auf Bahnanlagen und linksextremistisch motivierte Gewalt ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat und zum Eurogipfel am 23. Oktober 2011 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung einer Kommission des Deutschen Bundestages zur Regulierung der Großbanken - Drucksache 17/7359 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 3 wird abgesetzt. Stattdessen soll jetzt gleich der Tagesordnungspunkt 26 beraten werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 5 morgen zusammen mit der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin aufzurufen, um den Sachzusammenhang herzustellen. Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor. Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 21. September 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 17/6764 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein- verstanden sind. - Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 a und b sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 26 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Wirtschafts- und Außenpolitik für eine sichere Rohstoffversorgung - Wachstum und Arbeits- plätze in Deutschland, Europa und den Part- nerländern - Drucksache 17/7353 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine gerechte und entwicklungsförderliche internationale Rohstoffpolitik - Drucksachen 17/6153, 17/7151 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Joachim Günther ({13}) ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zehnter Bericht der Bundesregierung über die Aktivitäten des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der einzelnen Rohstoffabkommen - Drucksache 17/3817 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Präsident Dr. Norbert Lammert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Ernst Burgbacher. ({15})

Ernst Burgbacher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003063

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland zählt zu den größten Rohstoffkonsumenten der Welt. Allein im Jahr 2010 haben wir für fast 110 Milliarden Euro Rohstoffe importiert. Die Entwicklung auf den Rohstoffmärkten ist für uns deshalb von allergrößtem Interesse. Hier ist in den letzten Jahren sehr viel in Bewegung gekommen. Die Schwellenländer China und Indien, aber auch viele andere Länder integrieren sich zunehmend in die Weltmärkte. Dies schlägt sich in den Rohstoffpreisen und in Angebotsengpässen nieder. Zwar hatten wir infolge der Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise eine vorübergehende Verschnaufpause, aber jetzt ziehen die Preise wieder an. Die Situation ist durchaus kritisch. Die deutsche Wirtschaft braucht Rohstoffe, um Arbeitsplätze zu sichern, um Wachstum zu sichern, um als Exporteur erfolgreich zu sein. ({0}) Dass wir nach wie vor einer der wichtigsten Industriestandorte in der Welt sind - darauf sind wir stolz -, hängt ganz wesentlich davon ab, dass wir Rohstoffsicherheit haben; sonst sind wir nicht wettbewerbsfähig. In dieser Frage ist zuerst die Wirtschaft selbst gefordert. Sie hat diese Herausforderung angenommen. Durch Kooperationen und Allianzen will sie ihre Rohstoffversorgung auf eine breitere Basis stellen. Die Wirtschaft braucht aber politische Schützenhilfe. Diese leisten wir mit Entschlossenheit und mit einer stimmigen Strategie. Mit der Rohstoffstrategie setzt die Bundesregierung wichtige rohstoffpolitische Akzente, und das unter strikter Beachtung unserer ordnungspolitischen Grundsätze. Das ist für uns ganz entscheidend. ({1}) Wir können heute sagen: Die Rohstoffstrategie der Bundesregierung zeigt erste Erfolge. Wir kommen an wichtigen Stellen mit der Umsetzung voran. Ich will dies an sechs Punkten verdeutlichen. Erstens. Wir schließen Partnerschaften mit rohstoffreichen Ländern. Das Regierungsabkommen mit der Mongolei wurde am 13. Oktober 2011 in Anwesenheit der Bundeskanzlerin unterzeichnet. Die Verhandlungen mit Kasachstan sind in einem fortgeschrittenen Stadium. Noch in diesem Jahr könnte es zur Unterzeichnung eines Abkommens kommen. Weitere Rohstoffpartnerschaften planen wir derzeit. Eines möchte ich dabei klarstellen: Rohstoffpartnerschaften sind immer im Interesse beider Partner. Wir profitieren von den Rohstoffen, und in den Partnerländern tragen sie zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung bei. Insofern garantieren solche Partnerschaften die Zukunftsfähigkeit beider Seiten; das ist ganz entscheidend. ({2}) Zweitens. Wir versorgen gerade kleine und mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer mit Informationen und Analysen. Die neue Servicestelle für die Wirtschaft, die Deutsche Rohstoffagentur, ist hier zunehmend aktiv. Mit ihrem Rohstoffinformationssystem verbessert sie die Transparenz auf den Rohstoffmärkten. Dies ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen, die selbst oft nicht dazu in der Lage sind, sich diese Informationen zu beschaffen, von ganz entscheidender Bedeutung für die künftige Entwicklung. Drittens. Wir setzen uns energisch für offene Rohstoffmärkte ein. Die Anfang Juli veröffentlichte WTOEntscheidung gegen chinesische Exportbeschränkungen für so wichtige Rohstoffe wie Zink und Magnesium ist ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung. Dieses Verfahren haben wir, die EU, gemeinsam mit den USA und Mexiko angestrengt. Es ist ein wichtiges Signal an alle Länder, die den freien Handel mit unfairen Praktiken erschweren. Wir müssen jetzt am Ball bleiben. Wir drängen auf EU-Ebene darauf, Verzerrungen im internationalen Rohstoffhandel weiterhin konsequent zu begegnen. In Verhandlungen zu EU-Freihandelsabkommen wird das Thema Rohstoffe konsequent aufgegriffen und ist jeweils ein ganz wichtiger Faktor bei diesen Abkommen. Viertens. Wir unterstützen die Wirtschaft, wenn es darum geht, neue Rohstoffvorkommen zu erschließen. Seit 50 Jahren gibt es die Garantien für Ungebundene Finanzkredite. Damit sichern wir vertraglich die langfristige Lieferung strategischer Rohstoffe. Auch das ist für viele ganz entscheidend. Zudem lassen wir im Augenblick bei der EU prüfen, ob wir für rohstoffpolitisch geeignete Projekte bereits bei der Erkundung Zuschüsse geben können; die Nachfrage danach ist groß. Fünftens. Wir beschreiten neue Wege bei der Rohstoffforschung, insbesondere mit dem Ziel der Rohstoffeffizienz. Meine Damen und Herren, die Forschung ist ein entscheidender Schlüssel für ein nachhaltiges Wirtschaften entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wir setzen deshalb Impulse, zum Beispiel durch Innovationsberatung und durch technologieoffene Mittelstandsförderung. Allein im Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand, besser unter der Abkürzung „ZIM“ bekannt, befassen sich circa 1 500 Projekte, für die 180 Millionen Euro an Fördermitteln bereitgestellt worden sind, mit Fragen der Material- und Rohstoffeffizienz sowie der Entwicklung und Anwendung neuer Werkstoffe. Sechstens: Recycling. Bei diesem Thema müssen wir noch viel weiter vorankommen. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, wertvolle Rohstoffe auf den Müll zu kippen. Wir müssen so viel wie möglich wiedergewinnen. ({3}) Um dazu zwei Zahlen zu nennen: Wir verbrauchen im Jahr Rohstoffe im Wert von circa 140 Milliarden Euro; Rohstoffe im Wert von 10 Milliarden Euro gewinnen wir durch Recycling. Das zeigt, wie wichtig dieses Thema ist. Hier sind unsere Anstrengungen noch sehr stark ausbaubar. Rohstoffpartnerschaften, Transparenz für kleine und mittlere Unternehmen, offene Rohstoffmärkte, Finanzierungsinstrumente, Rohstoffeffizienz und Recycling sind die Eckpfeiler der Rohstoffstrategie der Bundesregierung. Diese Rohstoffstrategie greift; das können wir heute ganz eindeutig feststellen. Diese Bundesregierung sorgt für gute Rahmenbedingungen. Wir öffnen Türen in rohstoffreichen Ländern. Durch diese Türen muss die Wirtschaft dann allerdings selbst gehen. Das wollen und können wir der Wirtschaft nicht abnehmen. Das würde unseren ordnungspolitischen Grundsätzen völlig widersprechen. Deshalb tun wir das auch nicht. Ich bin überzeugt: Wenn wir, Wirtschaft und Politik, gemeinsam den eingeschlagenen Weg weitergehen, dann werden wir diese Probleme lösen. Eine sichere und auch bezahlbare Rohstoffversorgung unserer Wirtschaft ist absolute Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft und für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Deshalb sorgen wir hier für eine klare Linie und für klare Rahmenbedingungen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Kanzlerin war letzte Woche unterwegs, auf Reisen, und siehe da: Mit Erleichterung konnten die Koalitionsfraktionen feststellen, dass es diesmal keine Meldung in Sachen Panzerexport oder Kriegsschiffexport gab, sondern dass es diesmal ein Abkommen in Sachen Rohstoffe zu vermelden gab. Das hat die Koalitionsfraktionen natürlich sofort beflügelt, einen entsprechenden Antrag, mit heißer Nadel gestrickt, in den Bundestag einzubringen, über den heute auch gleich abgestimmt werden soll. Ich sage Ihnen vorab: So wird das nicht gehen. Sie müssen schon mit uns gemeinsam, auch in den Ausschüssen, differenziert beraten. Dann werden wir sicherlich zu differenzierten Ergebnissen kommen. Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, springt jedenfalls zu kurz. ({0}) Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Die Bedeutung dieses Themas für ein Land wie Deutschland und eine Region wie Europa, die von Rohstoffen abhängig ist, kann überhaupt nicht überschätzt werden; der Staatssekretär hat es gerade hervorgehoben. Es ist richtig, dass hier natürlich auch die Unternehmen eine große Verantwortung haben. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind Fehler gemacht worden. Wenn ich bedenke, an welchen Rohstoffen bzw. Rohstoffvorkommen deutsche Unternehmen Beteiligungen hatten, die mittlerweile aufgegeben worden sind, muss ich sagen: Das ist erschreckend. Zu nennen sind da beispielsweise Degussa, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis, in den Bereichen Kupfer und Gold oder ThyssenKrupp beim Eisenerz. Deutschland als Hightechland und Europa als Hightechregion benötigen unter anderem Coltan zur Herstellung von Handys, Neodym zur Herstellung von Festplatten oder Kernspintomografen, Kobalt zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe und Gallium zur Herstellung von Sonnenkollektoren. An der Gewinnung dieser und vieler anderer Rohstoffe hatten deutsche Unternehmen Beteiligungen, die mittlerweile, wie gesagt, aufgegeben worden sind. Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass dies der falsche Weg war. Insofern unterstützen wir alles - ich denke, das ist ein richtiger Ansatz dieser Bundesregierung -, wodurch die Rückwärtsintegration - so heißt das heute - der Unternehmen gestärkt wird, also die Versuche, sich wieder an den entsprechenden Rohstoffvorkommen zu beteiligen. Beispielsweise versuchen dies ThyssenKrupp im Bereich der Seltenen Erden, Siemens im Bereich von Neodym, was auch zur Herstellung von Dauermagneten benötigt wird, usw. Wir unterstützen hier sicherlich den richtigen Weg. Anders sieht es mit Ihrer Politik auf den Rohstoffmärkten selbst aus, mit der Sie versuchen, deutsche Unternehmen auf fremden Märkten zu unterstützen. Das Signal der Kanzlerin, das sie auf ihrer Reise nach Angola abgab, war absolut fatal. Angola liegt in einer Region am Golf von Guinea, die durch reiche energetische und nichtenergetische Rohstoffvorkommen und gleichzeitig durch eine extreme Armutsentwicklung gekennzeichnet ist. Die rohstoffreichsten Länder sind zugleich die ärmsten. Es kann nicht sein, dass das erste Signal, das man ihnen dort sendet, ist: Wir stärken die Potentaten; wir machen sie stark gegen ihr eigenes Volk, indem wir ihnen Waffen aus Deutschland schicken. ({1}) Nein, in Ländern wie Angola kommt es darauf an, Transparenz hinsichtlich der Material- und Geldflüsse einzufordern. Das ist eine Vorbedingung dafür, dass sich deutsche Unternehmen dort überhaupt beteiligen können; denn deutsche Unternehmen - das haben wir nicht zuletzt beim Unternehmen Ferrostaal sehen müssen unterliegen Compliance- und Corporate-GovernanceRegeln, durch die es absolut verboten ist, auf Märkten tätig zu werden, auf denen Transparenz nicht gegeben ist. Hier haben Sie bisher wenig geleistet, und hier gilt es nachzusetzen. Wir können nicht die Methode Chinas verwenden, das die Rohstoffe zum Beispiel in den Ländern Afrikas oder auch in Brasilien ausbeutet, die dortigen Märkte als Spin-off für ihr Geschäft gleichzeitig mit ihren billigen Industrieprodukten überschwemmt und damit verhindert, dass dort eine eigene Wertschöpfung entsteht, und dafür sorgt, dass die Abhängigkeiten noch stärker werRolf Hempelmann den, als sie es bisher schon waren. Wir werden in den nächsten Jahren erleben - insbesondere dann, wenn die Weltwirtschaft wieder rückläufig sein wird -, dass sich gerade bei den Schwellenländern enorme Auswirkungen zeigen werden, weil sie diese guten Jahre nicht genutzt haben, um auf der Basis ihres Ressourcenreichtums eine industrielle Wertschöpfung aufzubauen. Meine Damen und Herren, die Kanzlerin war in der Mongolei. Das Wirtschaftsministerium hat Abkommen verhandelt, wie auch in Kasachstan. Das ist sicherlich ein richtiger Ansatz. Das, was wir in den Texten dazu lesen können, ist für uns allerdings nicht ergiebig genug, um wirklich erkennen zu können, welche Philosophie dahintersteht. Wenn man die Kanzlerin hört - im Fernsehen beispielsweise -, dann überkommt einen schon der Eindruck, dass das sozusagen die dritte Welle der Kolonialisierung ist ({2}) und dass es uns im Grunde genommen nur darum geht, an die dortigen Rohstoffe heranzukommen und dafür ein paar Glasperlen mitzubringen. Das darf nicht sein. ({3}) Wenn ich an das Abkommen mit einem Land wie der Mongolei denke, dann vermisse ich die klare und konkrete Ausverhandlung genau der Dinge, die - jedenfalls nach den Gesprächen, die ich dort geführt habe - am dringendsten sind. Besonders dringend sind dort Investitionen in die Energieeffizienz, und zwar entlang der gesamten Kette. ({4}) Ulan-Bator, die Hauptstadt, ist die kälteste und zugleich auch schmutzigste Stadt der Welt. Es ist völlig klar, wo dort die Aufgaben liegen. Die Heizperiode dauert dort acht bis neun Monate. In dieser Heizperiode können Sie die Stadt von oben überhaupt nicht sehen; sie liegt unter einer Smogglocke. Das hängt damit zusammen, dass die wenigen Kraftwerke dort uralte Braunkohlekraftwerke sind und mit einer Braunkohle geheizt bzw. betrieben werden, die noch weniger effizient ist als die deutsche, dass sie natürlich entsprechend emittieren und dass das Nahwärmesystem nicht ausgebaut ist, sodass die meisten mit Individualöfen heizen, wobei der Begriff „Öfen“ völlig unsachgemäß ist, da das offene Feuerstellen sind. Daraus lässt sich im Grunde ableiten, welches Effizienzprogramm für dieses Land angemessen wäre, nämlich ein Retrofit für die Kraftwerke, der Ausbau des Nahwärmesystems und dort, wo Individualheizungen unumgänglich sind, die Unterstützung bei der Anschaffung von dem, was man Ofen nennen könnte. Das werden keine Hightechöfen sein, sondern lediglich solche, durch die eine geschlossene Beheizung möglich ist. Das alles findet man in Ihrem Abkommen, jedenfalls in dieser Konkretheit, nicht wieder. Deswegen haben wir zu diesem Abkommen eine ganze Menge Fragen. ({5}) Sie haben das Thema Ressourcen im eigenen Land angesprochen. In der Tat ist das, was wir im eigenen Land an Ressourcen haben, überhaupt nicht zu unterschätzen. Wenn wir ein sauberes Recycling und Downcycling aufbauen, durchaus auch eine Substitution von Stoffen, die nicht ausreichend verfügbar sind, dann können wir hier im Lande sehr viel mehr an Rohstoffen heben, als wir über Importe hereinbekommen können. Anders ausgedrückt: Wenn wir dieses Feld vernachlässigen, wenn wir es zulassen, dass Stoffe, die bei uns in technischen Geräten wie Handys und Computern vorhanden sind, wieder aus dem Lande verschwinden, weil wir kein vernünftiges Recyclingsystem haben, dann haben wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht. Die entsprechenden Stichworte finden sich bei Ihnen wieder, auch in Ihrem Antrag. Allerdings werden sie nicht wirklich mit Inhalt gefüllt. Es geht letztlich darum, die politischen Rahmenbedingungen dafür bereitzustellen, dass ein vernünftiges Kreislaufwirtschaftssystem tatsächlich auch in diesem Bereich entstehen kann. Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist und eine Menge mit dem zu tun hat, was wir im Parlament in diesen Wochen ganz besonders häufig besprechen, betrifft die internationalen Finanzmärkte. Auch die Rohstoffmärkte sind von Spekulationen nicht unberührt. Ein Land, die USA, hat mit diesem Thema schon lange Erfahrungen gemacht und hat schon relativ früh reagiert. Angefangen hat das dort im Agrarsektor. Vor kurzem hat ein amerikanischer Abgeordneter festgestellt - den Satz will ich gerne zitieren -: Zwischen den Getreidebauern und den Brotessern hat sich ein Parasit geschoben, der beide beraubt. Gemeint sind die Rohstoffspekulanten. Die Amerikaner haben in Form des Dodd-Frank Act reagiert. Auch früher haben sie schon ähnliche Instrumente aufgelegt. Der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, Barnier, hat offenbar sehr genau hingeschaut und macht jetzt Vorschläge, wie wir in Europa die Spekulationen auf den Rohstoffmärkten eindämmen können. Es geht um Regeln für Händler, insbesondere zur Transparenz und zu den Berichtspflichten der Händler. Aber es geht schlicht auch darum, Mengen von Transaktionen auf den Rohstoffmärkten zu begrenzen, die letztlich dazu führen, dass es Preisschwankungen und Verfügbarkeitsprobleme gibt, wie wir sie in den letzten Monaten kennengelernt haben. Ich kann Sie - damit richte ich mich an die Bundesregierung, aber auch an die Koalitionsfraktionen - nur auffordern, diese Anstrengungen der Europäischen Kommission aktiv zu unterstützen. Es ist so, dass viele Mitgliedstaaten durchaus auf der Linie von Barnier sind und solche Regelungen einführen wollen. Aber es gibt natürlich auch einige, zum Beispiel Großbritannien, die dem Ganzen sehr skeptisch gegenüberstehen. Ich bitte Sie, Ihre Möglichkeiten auszunutzen, um dieses Thema mit den Partnern in Europa voranzutreiben und dafür zu sorgen, dass wir hier zu Lösungen kommen. Es kann jedenfalls nicht sein, dass wir dieses Thema vernachlässigen, dass wir letztlich zulassen, dass es, obwohl auf den Weltmärkten ausreichend Rohstoffe vorhanden sind, zu Verknappungen oder Verteuerungen und Preisschwankungen kommt, die unsere gesamte Wirtschaft betreffen und ein Land wie Deutschland, das auf Hightechentwicklungen und Exporte angewiesen ist, in besonderem Maße benachteiligen. Ich habe am Anfang gesagt: Sie wollen Ihren Antrag heute im Parlament durchpeitschen. Das sind wir gewohnt. Gestern haben wir ihn bekommen, vorgestern haben Sie ihn offenbar geschrieben, nachdem Sie sich das Abkommen der Bundesregierung zu Gemüte geführt hatten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden diesem Antrag heute nicht zustimmen, einmal wegen des Verfahrens, aber auch, weil einige der Punkte einer Konkretisierung bedürfen, wie ich das gerade versucht habe anklingen zu lassen, und insbesondere weil das Thema der Bekämpfung der Rohstoffspekulationen bei Ihnen völlig unterbelichtet ist. Das ist offenbar ein Thema, mit dem Sie sich auch an anderer Stelle ausgesprochen ungern befassen. Aber um die Bekämpfung der Spekulationen werden Sie nicht herumkommen, weder wenn es um Währungsspekulationen noch wenn es um Rohstoffspekulationen geht. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rohstoffaußenpolitik und die Rohstoffsicherheit sind zentrale Fragen im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Deshalb haben die Koalitionsfraktionen dieses Thema nicht nur heute, sondern schon zu Beginn dieser Legislaturperiode auf die Tagesordnung gesetzt. Wir versuchen, die bisher nicht gebündelten Aktivitäten von Auswärtigem Amt, BMZ und Bundeswirtschaftsministerium - hinzu kommen zahlreiche Einzelreisen von Abgeordneten - so zusammenzufassen, dass wir tatsächlich von einer Rohstoffaußenpolitik sprechen können. Wir wollen damit unser wirtschaftliches Engagement im Außenwirtschaftsbereich unterstreichen. ({0}) Dass die Zukunftsfähigkeit massiv beeinflusst wird, liegt auf der Hand; denn Rohstoffe sind nichts Abstraktes. Wenn wir über die mineralischen und nichtenergetischen Rohstoffe sprechen, muss jeder Verbraucher wissen, dass sein eigenes Handy, dass das, was wir jeden Tag zum Arbeiten brauchen, dass jede technische Neuerung der letzten 20 Jahre darauf basiert, dass wir Rohstoffe brauchen, und zwar leider meistens solche aus Ländern, die politisch sehr schwierig sind. Die Rohstoffabhängigkeit gilt nicht nur für Handys, für Windturbinen und für Solaranlagen; es ist kaum ein großes, spezialisiertes Unternehmen in Deutschland ohne wichtige Rohstoffe, ohne wichtige Ressourcen denkbar; denn darauf basieren ihre Produkte. Als wichtige Industrienation zählt Deutschland daher zu den größten Rohstoffkonsumenten der Welt. Das betrifft nicht nur die Metallrohstoffe, sondern vor allem Industriemineralien. Darauf gehen unser Antrag und auch der Rohstoffkongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der kommenden Woche ausführlich ein. Das Ganze ist ein Thema, das die Bürger und ihre Arbeitsplätze sehr stark angeht. Ohne Rohstoffe kann die BASF in Ludwigshafen nicht arbeiten. Mit dem Einkauf von Rohstoffen beginnt die Arbeit von weltweit über 100 000 BASF-Mitarbeitern. Volkswagen wäre ohne Rohstoffe überhaupt nicht denkbar. Auch die erneuerbaren Energien und Unternehmen wie Solarworld gäbe es ohne eine Ressourcen- und Versorgungssicherheit in diesem Bereich nicht. Wir brauchen also eine Rohstoffpolitik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter Führung von Volker Kauder hat im vergangenen Jahr mit ihrem Rohstoffkongress ein deutliches Signal an die Fachwelt gesendet. Wir bauen darauf auf, wenn die Bundeskanzlerin auf unserem Fraktionskongress in der kommenden Woche dazu vorträgt. Bereits in der Zeit des Bundeswirtschaftsministers Brüderle, ({1}) am 20. Oktober 2010, hat das Bundeskabinett eine Rohstoffstrategie gebilligt. Es ist gerade schon gesagt worden: Es wäre wünschenswert, wenn man auch auf europäischer Ebene weiterkäme. Dies gestaltet sich aber - das ist zum Teil ein Vorwurf an unsere Freunde und Partner in Europa - schwierig, da manche Länder, auch engste Freunde von uns, der Meinung sind, dass zum Beispiel in Afrika ihre Außenpolitik eher der eigenen Innenpolitik entspreche als einem gemeinsamen europäischen Ansatz. Das macht die Sache natürlich schwierig. Wenn man eine gemeinsame europäische Rohstoffstrategie will, dann muss man an dieser Stelle Außenpolitik aus einem Guss machen. Das gestaltet sich in Europa sehr schwierig. Die Opposition hat erkannt, dass dies ein wichtiges Thema ist, und versucht, hier nachzuziehen. ({2}) Herr Hempelmann hat es gerade deutlich gemacht. Ich begrüße das auch ausdrücklich. Es gab einen Antrag der SPD zum Thema Rohstoffpolitik. Vieles darin finde ich richtig und unterstütze ich. Sie könnten unserem Antrag eigentlich getrost zustimmen, weil wir gar nicht so weit auseinander sind. ({3}) Die Grünen haben am 1. September 2011 ihre „Grüne Rohstoffstrategie“ präsentiert. Auch darin findet sich vieles, dem wir zustimmen, zum Beispiel dem Punkt Recycling. Unsere Zustimmung findet auch die Behandlung der Frage „Wie stellen wir uns im Hinblick auf Rohstoff- und Ressourcensicherheit auf?“. Insofern lade ich Sie ein, unseren Antrag zu unterstützen. Ich glaube, wir sind gar nicht so weit auseinander. Leider ist es so, dass sich die Linke sehr ideologisch mit dem Thema Rohstoffe beschäftigt hat, Herr Gehrcke. ({4}) - Nein. Ich möchte Ihnen nicht den Tag verderben, indem ich Ihrem Antrag zustimme. Bei Ihnen hat man den Eindruck, Sie hätten einen Pawlow’schen Ideologiereflex: Sobald Sie das Thema „Ressourcen, Industrie, Wirtschaft, Rohstoffe“ hören, sagen Sie: Kein Krieg für Rohstoffe! ({5}) Darum geht es bei unserer Rohstoffstrategie nicht. Bitte betrachten Sie das Thema etwas sachlicher! Beschäftigen Sie sich mit der Frage, und stellen Sie sich vor, was wir ohne eine engagierte Rohstoffaußenpolitik machen würden! Wenn wir Ihnen folgen würden und Ihr Antrag umgesetzt würde, dann würden in Zukunft alle Hightechprodukte teurer werden, und die Industrie in Deutschland würde sterben. Deshalb lehne ich das ab. ({6}) Wir befinden uns in der Rohstoffpolitik grundsätzlich in einem Zwiespalt zwischen wertegebundener und interessengeleiteter Außenpolitik. Das ist im Übrigen nicht nur für diese Bundesregierung, insbesondere den Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin, eine Herausforderung, sondern es war auch für die vorherigen Regierungen eine ständige Herausforderung. Wenn Sie in rohstoffreiche Länder reisen, dann treffen Sie - das ist bereits angesprochen worden - häufig auf große Armut und sehr schwierige politische Verhältnisse, meistens in Verbindung mit der Missachtung von Menschenrechten. Nichtsdestotrotz ist in dieser Frage realpolitisches Handeln notwendig, weil dies unseren Interessen entspricht. Das heißt nicht, dass man alles andere über Bord werfen darf. Sie können uns zwar Einzelbeispiele von Reisen vorwerfen, über denen eher ein Grauschleier lag, als dass sie ein leuchtendes Beispiel für die Menschenrechtspolitik gewesen wären. Ich könnte aber den Spieß auch umdrehen und Ihnen aufzählen, wohin überall Gerhard Schröder oder auch Politiker Ihrer vorherigen Regierung gereist sind und was sie dort alles gemacht haben. Das ist der Zwiespalt einer interessengeleiteten und gleichzeitig wertegebundenen Außenpolitik. Dieses Hin und Her gegenseitiger Schuldzuweisungen wird uns nichts bringen, wenn es um die großen Fragen geht, die wir in der Rohstoffpolitik zu bewältigen haben. ({7}) Eine zentrale Frage, in der man, glaube ich, ernsthaft versuchen sollte, einen europäischen Konsens herzustellen, ist die Rohstoffgerechtigkeit. Im Frühjahr dieses Jahres hat es durch Spekulationen sehr starke Verwerfungen auf den Märkten gegeben. Ich glaube, wenn wir mit geballter Marktmacht und einer einheitlichen Strategie, die politisch entsprechend unterfüttert wird, in Europa auftreten würden, dann hätten wir die Chance, zumindest durch langfristige Partnerschaften mit einzelnen Rohstofflieferanten der Spekulation etwas entgegenzusetzen. Wenn aber jeder Staat einzeln versucht, diese große Herausforderung zu bewältigen, wird er scheitern. Wenn wir einen Beitrag zur Rohstoffgerechtigkeit leisten wollen, dann muss Europa versuchen, von einzelstaatlichen Lösungen abzusehen, und sich darum bemühen, die gemeinsamen Themen auf einen Nenner zu bringen. Rohstoffpolitik hat aus unserer Sicht drei Handlungsfelder, die wir in unserem Antrag aufgeführt haben. Notwendig ist, erstens Wettbewerbsverzerrungen zu bekämpfen und zweitens zu einer Diversifizierung bei den Rohstofflieferanten zu kommen, um sich nicht von einem Land abhängig zu machen. Dies ist ein großes Problem; ich erinnere nur an das Beispiel der Seltenen Erden aus China. Recycling und Rohstoffeffizienz sind schon von Staatssekretär Burgbacher angesprochen worden. Diesen Themen müssen wir uns in Deutschland stellen. Dafür sind die Außenpolitiker allerdings nicht zuständig. Das dritte Handlungsfeld ist die Rohstoffpolitik. Eine kluge Rohstoffaußenpolitik muss Rahmenbedingungen für Unternehmen und Arbeitsplätze in Deutschland setzen. Sie verlangt deshalb auch ein größeres Engagement der deutschen Industrie, was aus meiner Sicht auf einem guten Weg ist, aber trotzdem noch einer gewissen finanziellen Untermauerung bedarf. Denn es kann nicht sein, dass letztlich der Staat alles regeln muss. Wir helfen der Industrie gerne und stellen uns auch nicht dagegen, sie mit Geld des Steuerzahlers zu unterstützen, aber die größte Leistung muss aus der Industrie selbst kommen. Wenn es beispielsweise um eine Rohstoffholding oder eine Investmentgesellschaft in diesem Bereich geht, muss das die Wirtschaft vor allem selber stemmen. Wir sehen verschiedene Handlungsfelder in der Rohstoffaußenpolitik. Es geht um den Zugang zu Rohstoffen, damit wir nicht in technologische Abhängigkeit kommen. Es geht um die Balance zwischen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und um die Frage, wie wir uns in einem Wettbewerbsumfeld so platzieren können, dass deutsche und europäische Firmen in der Lage sind, wettbewerbsfähig zu wirtschaften. In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte wichtig, die auch die Rahmenbedingungen setzen: Der Bedarf an Rohstoffen nimmt weltweit zu, und es gibt stärkere Preisschwankungen als früher. Ein dritter Punkt, den man nicht unterschlagen darf, ist, dass es einige Länder gibt, die konzentriert Rohstoffe für ihre Industrie brauchen. Dies kann dazu führen, dass außenpolitische Über15648 legungen zum Spielball von strategischer Rohstoffpolitik werden. Das ist eine sehr große Herausforderung, der wir uns stellen müssen. China wird immer als Hauptbeispiel genannt. Es ist aber nicht nur China; es sind noch viele andere Länder. Ich möchte an dieser Stelle nicht nur China kritisieren. Abschließend - Herr Burgbacher hat es richtigerweise gesagt -: Wir brauchen Rohstoffpartnerschaften. Deshalb war die Reise der Kanzlerin in die Mongolei ein voller Erfolg. Was wir mit Kasachstan auf den Weg zu bringen versuchen, geht in dieselbe Richtung. Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr zu einem positiven Ergebnis kommen. Herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es liegen heute zwei Anträge vor, die jeweils in eine völlig andere Richtung weisen, der Antrag der CDU/CSU und FDP und der Antrag der Linken. Der Kollege Mißfelder hat völlig recht, und ich möchte ihm gar nicht widersprechen: Wenn man unseren Antrag und Ihren Antrag liest, dann stellt man fest, dass die beiden nicht zusammengehen. Ich finde es völlig normal und richtig, das auszusprechen. Ich lege sogar großen Wert darauf, dass wir in unterschiedliche Richtungen denken und unterschiedliche Vorschläge machen. Das ist mir wichtig. Es wäre schlimm, wenn unsere Anträge gleich wären. ({0}) Schauen wir uns im Einzelnen an, welche Grundlagen in den Anträgen betont werden. CDU/CSU und FDP formulieren in ihrem Antrag die philosophische und strategische Grundlage, den Prinzipien von Markt und Wettbewerb entsprechen zu wollen. Die Grundlage ist, dass der Markt alles regelt, und im Wettbewerb wird sich bekanntermaßen der Stärkere durchsetzen. Die Vorschläge, die Sie praktisch machen, weisen in diese Richtung. Die Prinzipien von Wettbewerb und Markt decken sich mit den Aussagen im Koalitionsvertrag. Es ist schon als Grundprinzip der Außenpolitik formuliert worden, den freien Welthandel durchzusetzen. Was Sie unter freiem Welthandel verstehen, ist bekannt. Wir betonen in unserem Antrag völlig andere Dinge. Wir betonen in unserem Antrag die Solidarität als Handlungsprinzip zwischen Produzenten und Konsumenten von Rohstoffen. Das ist außerordentlich wichtig. Wir wollen Ausgleich und nicht Dominanz. ({1}) Wir legen Wert darauf, dass Menschenrechte nicht das Beiwerk sind, mit dem man sich schmücken kann, wenn es passt, sondern das Grundprinzip der Kooperation werden. Ich sage Ihnen sehr zugespitzt: Sie scheren sich einen Dreck um die Menschenrechte, wenn es um Profit geht. ({2}) Wer Panzergeschäfte mit Saudi-Arabien abwickelt, soll mir nicht mit Menschenrechten kommen. Sie haben sich selbst entlarvt und haben offenbart, in welche Richtung es geht. ({3}) Davon kommen Sie nicht weg. Ändern Sie Ihre Politik! Dann brauche ich diesen Vorwurf nicht zu erheben. Für uns ist wichtig, dass man sich den Kopf zerbricht über die Arbeitsbedingungen der Menschen, die Rohstoffe fördern oder an der Verteilung von Rohstoffen beteiligt sind. Für uns ist wichtig, über Kinderarbeit und über ökologische Verantwortung zu sprechen. Das alles finden Sie in unserem Antrag, aber davon finden wir nichts in Ihrem Antrag. Den Vorwurf, dass Sie sich in Ihrem Antrag überhaupt nicht mit der Spekulation mit Rohstoffen und dem, was damit in der weltweiten Auseinandersetzung angerichtet wird, befassen, können Sie nicht entkräften. Lesen Sie Ihre eigenen Papiere! Dann werden Sie das begreifen. Jetzt haben Sie als großen Knüller entdeckt - auch das ist nichts Neues -, dass wir immer mit der Kriegsfrage kommen, wenn es um Rohstoffe geht. Das stimmt. Ich bin fest davon überzeugt, dass mindestens ein Grund - für mich ist das der dominierende Grund - für die Militäreinsätze die Rohstoffsicherung ist. Das will ich gar nicht mit meiner Ideologie beweisen, auch wenn ich es könnte. Ich lasse es aber sein, weil es keinen Zweck hat, darüber mit Ihnen zu diskutieren. Schauen Sie in die Pläne der Bundesregierung zum Umbau der Bundeswehr! Die Rohstoffsicherheit und die Sicherheit von Handelswegen bilden ausdrücklich einen Schwerpunkt der neuen Bundeswehrstrategie. Das ist Ihre Politik. Also gibt es einen Zusammenhang. Denken Sie an die Worte des Exbundespräsidenten Köhler zu Afghanistan. Zu Guttenberg hat das Gleiche formuliert, nur etwas eleganter. Es tut mir leid, wie man mit Herrn Köhler umgesprungen ist. Er hat ausgesprochen, dass auch der Afghanistan-Krieg vor dem Hintergrund des Kampfes um Rohstoffe geführt wird. ({4}) - Das ist nicht mein Unsinn. Das war Herrn Köhlers Unsinn. ({5}) - Setzen Sie sich damit auseinander! Das können Sie in zig Varianten lesen, übrigens auch in Anträgen der FDP. Sie enthalten immer diesen Akzent, Rohstoffsicherheit auch militärisch zu garantieren. Das entspricht ja auch Ihrer praktischen Politik. ({6}) - Dass Sie ärgerlich sind, wenn das angesprochen wird, verstehe ich, aber es ist ja nun einmal so. ({7}) Ich möchte Sie auch darauf aufmerksam machen, dass man den verengten Blick, was Rohstoffe angeht - man betrachte nur Öl und Gas -, aufgeben und die gesamten Fragen der Auseinandersetzung auch um Wasser und um Seltene Erden sehen muss. Was mich vor allem berührt, ist die Auseinandersetzung um Wasser. Wenn ich sehe, was dort an Konzentration, an Privatisierung, an Kampf um die Preise läuft, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir von wenigen Wasserproduzenten abhängig werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die ganze Frage des Kampfes um Wasser einmal eine der zentralen Fragen der Auseinandersetzung werden wird. Schauen Sie dann doch auch einmal darauf, wie viel Geld Sie im Rüstungsbereich verschwenden! Der Afghanistan-Krieg hat Deutschland bisher 17 Milliarden Euro gekostet. Was hätte man damit an vernünftigem Ausgleich leisten können! Zusammengenommen: Wir brauchen hier eine Politik, die einen fairen Ausgleich beinhaltet, bei der nicht das Strategiepapier des BDI maßgeblich ist, sondern das, was die Produzenten und die Konsumenten brauchen. ({8}) Wir brauchen eine Politik, nach der bestimmte Dinge nicht mehr als Ware gehandelt werden dürfen - ich nenne Gene von Pflanzen und von Menschen -, und wir brauchen eine Entscheidung gegen Spekulation mit Nahrungsmitteln. Das wäre einem deutschen Parlament angemessen. Das erwarte ich bei den Mehrheitsverhältnissen hier nicht. Mit Ihrer Rohstoffpolitik werden Sie nur dem alten Satz, der Truman zugeschrieben worden ist, neue Nahrung geben: Wie kommt unser amerikanisches Öl unter den arabischen Sand? Was Sie hier anbieten, ist einfach zu wenig. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Rohstoffe ist Gegenstand von Wirtschaftspolitik, Technikpolitik, Außenpolitik und Entwicklungspolitik. Ich will gern mit einer eher moralischen Fragestellung beginnen: Was folgt aus der Tatsache, dass wir aufgrund unserer Wirtschaftskraft so viele Rohstoffe brauchen? Folgt daraus, dass wir ein besonderes Recht haben auf einen besonderen Zugang zu vielen Rohstoffen in der Welt - das ist die Hauptrichtung Ihres Antrags -, oder folgt aus der Tatsache, dass wir besonders viele Rohstoffe verbrauchen, eine besondere Verpflichtung, effizient mit knappen Rohstoffen umzugehen? Ich finde, Letzteres ist richtig ({0}) Das ist die zentrale Kritik an dem Konzept von Brüderle aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister und an Ihrem Antrag: Sie legen den Schwerpunkt zu sehr auf Rohstoffsicherung - Klammer auf: nicht unwichtig und zu wenig auf Effizienz und Recycling und effektiven Umgang mit knappen Gütern, darunter - schon sprachlich interessant - Seltene Erden. ({1}) Wir sagen: Sie müssen es anders machen. Im Schwerpunkt einer deutschen Rohstoffstrategie muss der effiziente Umgang mit Rohstoffen liegen, die Rohstoffproduktivitätssteigerung, wie man ökonomisch sagen würde, damit wir unseren Wohlstand mit weniger Rohstoffen sichern können. Ich sage in Ihre Richtung: Ich finde, das ist auch die beste Sicherheitspolitik - darüber brauchen wir gar nicht lange zu streiten -, ({2}) und das ist auch ein außenpolitisches und entwicklungspolitisches Thema, weil ein Fluch auf Rohstoffen liegen kann, selbst wenn man sie besitzt. ({3}) Das wird entschärft, wenn die reichen Länder effektiv mit Rohstoffen umgehen. Deswegen ist Rohstoffpolitik Innovationspolitik. Es gilt, unser Wissen, unser technisches Wissen so einzusetzen, dass wir unseren Wohlstand mit weniger Rohstoffen erzeugen können. Da ist die Bundesregierung bisher nicht besonders gut. Ich will einmal ein Beispiel nennen. Es gibt ja ein EU-Konzept, das gelegentlich auch zitiert wird. Die Bundesregierung hat hier in Brüssel blockiert und tut es noch immer. Die EU sagt: Wir wollen eine Innovationspartnerschaft für Rohstoffe und Ressourceneffizienz. Lasst uns das in Europa gemeinsam machen und nicht Land für Land! Wir brauchen eine gemeinsame Strategie. Da tritt die Bundesregierung auf die Bremse. Ein interessanter Punkt ist übrigens: Auf EU-Ebene seid ihr bei diesem Thema gar nicht gut aufgestellt. In den EU-Debatten heißt es immer, man müsse zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik gemeinsam handeln. Herr Mißfelder, hat die Kanzlerin die EU vorher über ihr Vorhaben in der Mongolei informiert? Hat man die Frage gestellt, ob man das nicht auf europäischer Ebene regeln kann? Oder hat man beim Thema Rohstoffe wieder den Blick auf die nationale Wirtschaft? Das würde ich für extrem falsch halten. ({4}) Übrigens - weil Sie gesagt haben, die Reise in die Mongolei sei so toll gewesen -: Wenn man dort eine Rohstoffpartnerschaft schließen will, kommt es auf das Wie an. Das Erste, auf das man gekommen ist, ist die Kohleförderung. Sie können mir viel erzählen, aber ein richtiger Innovationsbrummer war diese Reise nicht; die Ergebnisse sind eher ziemlich schwach. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kuhn, darf Herr Mißfelder Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, wenn es hilft, bitte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte sehr.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Frage an Sie lautet: Sind Sie sich darüber im Klaren, dass es eventuell notwendig sein könnte, jetzt zu versuchen, eigene Partnerschaften zu etablieren, um europäische Partner auf einen gemeinsamen Weg zu zwingen? ({0}) Denn Nichtaktivität kann auch dazu führen, dass wir am Wettbewerb gar nicht mehr teilnehmen. Sind Sie sich außerdem darüber im Klaren, dass eine Hilfe bei der Kohleförderung vielleicht zu mehr Effizienz in der Mongolei selbst führen könnte? Es würde mich interessieren, ob Sie, der Sie gerade von Effizienz gesprochen haben, bereit sind, unsere technologische Unterstützung der Mongolei, die auch zu mehr Effizienz führen soll, zur Kenntnis zu nehmen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zu Ihrer ersten Frage: Wenn man grundsätzlich der Überzeugung ist, dass es gut ist, solche Innovationsstrategien auf europäischer Ebene abzustimmen - Klammer auf: weil der alte Wettlauf zum Beispiel zwischen den Franzosen, den Engländern und uns nicht besonders effizient und klug ist, da alle getrennt agieren -, dann wird man das in Europa tatsächlich koordinieren müssen. Das war der Sinn meiner Frage, ob auf europäischer Ebene abgesprochen ist, dass man jetzt eine deutsche Rohstoffpartnerschaft initiiert. Die Frage ist, ob es nicht klüger wäre, sich um europäische Rohstoffpartnerschaften zu bemühen. Sie haben gesagt, um auf europäischer Ebene etwas in Gang zu bringen, müsse man erst einmal alleine handeln. Das scheint mir etwas konstruiert. Das ist ein seltsames Verständnis von europäischer Koordination, und ich kann es überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn man in Europa etwas machen will, dann spricht man in Europa auch gemeinsam die Schwerpunkte ab. ({0}) Man entwickelt eine gemeinsame Strategie, und darauf gründen sich dann Rohstoffpartnerschaften. So würde ich das jedenfalls sehen. ({1}) Der große technologische Effizienzschub für die Mongolei kommt nicht aus der Kohleförderung. Das ist völlig absurd. Die Mongolei hat viele Möglichkeiten, gerade mit erneuerbaren Energien, die Energieversorgung sicherzustellen. Dass man sich da noch einmal auf den Kohletrip begibt, den wir uns gerade langsam abgewöhnen, halte ich für unnötig. ({2}) Jetzt würde ich gerne in meiner Rede fortfahren. - Sie versäumen es, den Effizienzgedanken mit Instrumenten zu versehen. Die Ökodesign-Richtlinie muss jetzt bearbeitet werden. Zum Beispiel muss in diese Richtlinie auch die Recyclingfähigkeit von Produkten aufgenommen werden. Das blockieren Sie gerade. Wir müssen beim Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz die Frage nach dem Recycling stellen. Das wird ja gerade diskutiert. Sie allerdings bremsen da nur. Sie haben eine Wiederverwertungsquote von 65 Prozent hineingeschrieben, die aber in vielen Bereichen schon erreicht wird. Es ist eine völlig unambitionierte Politik, die Sie betreiben, wenn es darum geht, Effizienz, Verwertung und auch Substitution zu verbessern. Ich komme zu einem Punkt, bei dem Sie sehr schwach aussehen: Es geht um die Regulierung der Rohstoffmärkte. Das ist ein internationales Thema. Ich will vorweg sagen: Die Rohstoffmärkte müssen stark reguliert werden. Was in den USA unter dem Begriff DoddFrank Act jetzt diskutiert wird, müssen wir auch in Europa aufnehmen. Es bedeutet zum Beispiel, dass der Over-the-Counter-Handel bei Rohstoffderivaten verboten werden muss. Es muss klar sein, wo Rohstoffe gehandelt werden, damit die Spekulation mit Rohstoffen, die Sie angesprochen haben, zurückgeht. Die Amerikaner haben auch formuliert, dass es ein Positionslimit für einzelne Händler geben muss, um unkontrollierte Spekulation zu verhindern. Das wollen wir einführen. ({3}) Sie aber reden nicht davon. Der Grund dafür ist bei der FDP zu finden: Sie haben Angst, einen Bereich zu regulieren, der vernünftigerweise reguliert werden müsste. Sie scheuen das Wort Regulierung wie der Teufel das Weihwasser. Rohstoffspekulationen sind sowohl für die deutsche Wirtschaft als auch für Entwicklungsländer, die über Rohstoffe verfügen, extrem schädlich und gefährlich. Deswegen muss der Rohstoffmarkt jetzt vernünftig reguliert werden. Daran führt kein Weg vorbei. Dieses Thema haben Sie in Ihrem Antrag allerdings nur am Rande gestreift; denn Sie machen keine operativen Vorschläge dafür, wie das funktionieren soll. Sie machen auch keine Vorschläge zum Thema Zertifizierung von Handelsketten. Dieses Thema haben wir in dem von Ihnen zu Recht genannten grünen Konzept aufgenommen. Ich habe, nebenbei bemerkt, einige Exemplare dabei. Sie können gegen eine geringe Schutzgebühr nachher ein Exemplar bekommen. ({4}) Die Zertifizierung von Handelsketten ist ein zentrales Element, das wir brauchen. Auch darüber haben Sie nichts gesagt. Ich will zum Schluss feststellen: Es ist wichtig, dass wir über dieses Thema diskutieren. Die Vermeidungsund Effizienzseite kommt bei Ihnen zu kurz. Deswegen müssen Sie Ihren Antrag nachbessern. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege Klaus Breil das Wort. ({0})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hatte bis in die 90er-Jahre einen weltweit erfolgreichen Rohstoffkonzern von beachtlicher Bedeutung. Der Einfluss einer staatlich kontrollierten Bank aus Nordrhein-Westfalen wirkte sich hier aber so fatal aus, dass das gesamte Rohstoffgeschäft aufgegeben wurde. Der Konzern entwickelte sich in eine völlig neue Richtung. Seitdem ist unsere Wirtschaft an der Rohstoffflanke offen. Heute hängt unsere Wirtschaft mehr denn je von Metallrohstoffen und Industriemetallen ab. Sie ist auf die Importe dieser Rohstoffe nahezu vollständig angewiesen. Selbst wenn ein europaweit agierender Kupferhersteller schon fast 40 Prozent seiner Produktion aus Recyclingmaterial schöpft: Wir wollen und müssen das Recycling noch in vielerlei Hinsicht steigern und die Effizienz beim Einsatz von Rohstoffen deutlich verbessern. ({0}) Herr Kuhn, wir haben das voll auf dem Radarschirm. Rohstoffabhängigkeit ist und bleibt ein wirtschaftliches Urphänomen. Rohstoffhandel ist Prototyp wirtschaftlicher Interaktion - in Deutschland ganz besonders. Denn von der Sicherheit der Versorgung mit Rohstoffen hängen hier in hohem Maße Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum ab. Sie alle wissen: Im Jahr 2010 hatte das produzierende Gewerbe mit rund 720 Milliarden Euro einen Anteil von knapp 30 Prozent am deutschen Bruttoinlandsprodukt. Diese Tatsache hat uns einen florierenden Arbeitsmarkt und volle Sozialkassen beschert. Die Vorstellung der Linken von einer Rohstoffstrategie, die nicht die Interessen der deutschen und europäischen Industrie zum Ziel hat, kommt einer Deindustrialisierung gleich. Daher ist ihr Antrag abzulehnen. ({1}) Die Rohstoffsicherung ist eine primäre Aufgabe der Wirtschaft. Es ist erfreulich, dass dies die Wirtschaftsverbände genauso sehen. Die Politik muss sich allerdings um die erforderlichen Rahmenbedingungen kümmern. Sie kann Lieferabkommen schließen und Vorhaben begleiten; sie kann Investitionsgarantien geben und Ungebundene Finanzkredite anbieten. Das wird sie auch tun. Daneben wird sie noch zusätzliche Instrumente prüfen. Die Politik muss darauf hinwirken, bestehende Handels- und Wettbewerbsverzerrungen gegenüber anderen Staaten abzubauen. Das gilt ganz besonders für die Seltenen Erden. Dazu ist eine Partnerschaft zur industriellen Entwicklung hilfreich, die von mehreren rohstoffreichen Ländern seit einiger Zeit verstärkt gefördert wird. Die Zusammenarbeit mit Kasachstan ist für den neuen Geist der Partnerschaft ein gutes Beispiel. ({2}) Der „Interministerielle Ausschuss Rohstoffe“ arbeitet hier im Übrigen eng mit der Wirtschaft zusammen. ({3}) Wir erleben einen echten Neubeginn, und der ist auch notwendig. Denn heutzutage ist der Aufbau eines weltweit agierenden Rohstoffkonzerns im Alleingang finanziell nicht mehr zu schultern. Bei dem Bestreben der deutschen Industrie, ihre Rohstoffversorgung wieder in die eigene Hand zu nehmen, werden direkte Beteiligungen der Unternehmen an Rohstoffprojekten im Ausland die Versorgungssicherheit erhöhen, selbst wenn dies kein sofortiges Allheilmittel ist. Die Bundesregierung wird durch den weiteren Aufbau von staatlich untermauerten Rohstoffpartnerschaften diesen Weg flankieren. Bemerkenswert finde ich die zunehmenden Klagen von Schwellen- und Entwicklungsländern, denen sich die Chinesen in unmissverständlicher Absicht aufdrängen. Unser Weg der umfassenden wirtschaftlichen Partnerschaften hingegen wird uns viele Chancen eröffnen. Mit ihrer sprichwörtlichen Zuverlässigkeit und Korrektheit kann die deutsche Wirtschaft hier gegenüber Wettbewerbern überzeugend punkten. ({4}) Wir wollen die Interessen der Partnerländer wahren und ihre eigene Ertragskraft durch den Rohstoffexport stärken. Damit gewährleisten wir unsere eigene Versorgungssicherheit zu dauerhaftem Nutzen. Zu Herrn Hempelmann sei noch gesagt - er sprach Spekulationen bei Rohstoffen an -: Die kräftigen Preisanstiege bei metallischen Rohstoffen, die im Jahre 2002 begannen, waren eine Folge der Urbanisierung und der Infrastrukturaufbaumaßnahmen in China, das damals zum Nettoimporteur wurde. Die Nachfrage auf dem weltweiten Kupfermarkt kommt zu 40 Prozent aus China, bei nur 5 Prozent eigener Produktion. Herr Hempelmann, nach meiner Beobachtung sind es die Lagerbestände und die Explorationskosten sowie die Produktionskosten, die die Preise beeinflussen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in Deutschland an den Tankstellen unser Benzin zapfen und uns an Fernsehserien wie Dallas erinnern, glauben wir, dass derjenige, der über Öl verfügt, reich ist und in Saus und Braus leben kann. Still und heimlich beneiden wir diejenigen, die auf Land sitzen, unter dem solche Rohstoffe liegen. Leider trifft das für Afrika und viele Entwicklungsländer aber nicht zu. Dort liegen zwar ganz viele Rohstoffe, und trotzdem leben Menschen in bitterster Armut. Für viele Länder Afrikas haben sich die Rohstoffe nicht als Segen, sondern als Fluch erwiesen. Obwohl pro Jahr aus Rohstoffexporten fast zehnmal soviel Geld wie aus der Entwicklungszusammenarbeit nach Afrika fließt, gibt es dort Millionen Menschen, die von unter 1 Dollar am Tag leben müssen oder - wie gerade jetzt in Ostafrika - vom Hungertod bedroht sind. Da fragt man sich natürlich: Woran liegt das? Das liegt sicherlich daran, dass es oft schlechte Regierungsführung gibt, die verhindert, dass die Gewinne, die beim Abbau von Rohstoffen erzielt werden, den ärmsten Menschen oder zumindest den Menschen aus der Region, in der diese Rohstoffe gefördert werden, zugutekommen. Oft wird dann von uns mit erhobenem Zeigefinger die Korruption benannt. Nur, zur Korruption gehören immer zwei: derjenige, der die Bestechung annimmt, und derjenige, der besticht. Zu denjenigen, die bestechen, gehören leider auch viele europäische und deutsche Firmen. ({0}) Deswegen können wir in Deutschland nicht so tun, als gehe uns das Problem nichts an. Wir können den moralischen Zeigefinger nicht nur auf die Regierungen in Afrika richten. Ich glaube, dass es nicht reicht, wenn wir unseren Unternehmen sagen: Bitte seid doch freiwillig so nett, faire Abkommen zu schließen und eure Zahlungsströme offenzulegen. - Ich glaube vielmehr, dass wir verbindliche Regeln brauchen. Herr Kollege Mißfelder, der Antrag von Union und FDP unterscheidet sich sehr wohl von dem Antrag, den die SPD-Fraktion bereits im Januar dieses Jahres vorgelegt hat und der im März hier diskutiert wurde. Wir sagen nämlich, dass die Einhaltung der Transparenzregelungen der EITI, der - in Englisch - Extractive Industries Transparency Initiative, ({1}) verbindlich sein muss, damit es Außenwirtschaftsförderungen wie die Hermesbürgschaften geben kann. Es ist ein großer Unterschied, ob man dies auch für die deutsche Außenwirtschaftsförderung zur Bedingung macht oder ob man sagt: Wir glauben, dass ihr das schon einhaltet. - Wir brauchen strenge Regeln für Unternehmen, damit in diesem Sektor Transparenz und Ehrlichkeit herrschen. ({2}) Der sogenannte Dodd-Frank Act ist eine Maßnahme, die in den USA getroffen wurde. Demnach müssen Rohstoffunternehmen, die an der Börse handeln, ihre Zahlungsströme offenlegen. Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung für mehr Transparenz und Gerechtigkeit in diesem Sektor. Ein solcher Ansatz muss auch von der Bundesregierung verfolgt werden. ({3}) Die Bundesregierung sagt zwar, dass sie solche Maßnahmen unterstützen will. Sie hat sich bisher aber leider nicht für die projektbezogene Offenlegung dieser Zahlungsströme eingesetzt, die in den USA bereits praktiziert und die von Frankreich und Großbritannien angestrebt wird. Nur durch eine projektbezogene Offenlegung kann man den lokalen Gemeinschaften, die in diese Maßnahmen eingebunden werden müssen, sagen: So viel Geld verdient eine Firma, die Kupfer bzw. Erz abbaut. Ihr habt Anspruch auf dieses Geld. - Wenn allerdings nur auf das Land bezogen eine Gesamtsumme genannt wird, vertut man eine große Chance, da man den lokal betroffenen Menschen kein scharfes Schwert in die Hand gibt. Wir fordern deshalb die projektbezogene Offenlegung aller Zahlungsströme, für die die Rohstoffunternehmen in Entwicklungsländern verantwortlich sind. Ich komme zu meinem nächsten Punkt. Transparenz ist zwar wichtig. Es geht aber auch um die gerechte Verteilung der Gewinne. Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen und die Regierungen in den Entwicklungsländern gemeinsam für Transparenz sorgen. Die Menschen müssen wissen, wie viel für Lizenzgebühren, für Konzessionsgebühren, für Steuern und für Gewinne gezahlt werden muss. Wir müssen im Rahmen der EntwickDr. Sascha Raabe lungszusammenarbeit mithilfe von Partnerschaftsabkommen darauf drängen, dass die Gewinne gerecht, also auch an die ärmsten Menschen, verteilt werden. Dafür setzen wir uns ein. Das haben wir in unserem Antrag vom Januar bereits deutlich gemacht. Wir dürfen aber nicht nur auf die Verteilung der Gewinne achten. Wir müssen auch die Arbeitsbedingungen in den Entwicklungsländern betrachten. In einem Land wie dem Kongo werden schon achtjährige Kinder gezwungen, in Minen zu arbeiten. Sie werden dort tagelang unter der Erde gehalten und somit ihrer Kindheit beraubt. Oft wird ihnen auch noch ein großer Teil ihres kläglichen Gewinnes von Milizen abgenommen. Wir alle sollten uns schämen; denn auch wir Verbraucher hier in Deutschland tragen zu dieser Situation bei, indem wir Handys, zum Beispiel iPhones, und Flachbildschirme kaufen, für deren Produktion sogenannte Blutmineralien verwendet werden. Wir haben bis jetzt noch keine Regelungen getroffen, die es verhindern, dass Kinder im Kongo in Bergminen arbeiten und verschüttet werden und unzählige Menschenleben zerstört werden. All dies kommt im wahrsten Sinne des Wortes nie ans Tageslicht. Wir sind es den betroffenen Menschen schuldig, verbindliche Regelungen zu schaffen. ({4}) Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechte und die sozialen Mindeststandards wie die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation - Verbot von Kinderarbeit und Zwangsarbeit, Gewerkschaftsfreiheit - eingehalten werden. Wir müssen dafür sorgen, dass durch Kontrollen bessere Arbeitsbedingungen in den Abbaugebieten und den Minen geschaffen werden. Das muss zur Voraussetzung für künftige Freihandelsabkommen werden, die die Europäische Union abschließt. Dies sollte auch für die Welthandelsorganisation gelten. Es nützt auch nichts, zu verhindern, dass deutsche Unternehmen diese Erze verarbeiten. Denn wir wissen, dass momentan 90 Prozent der Erze in Asien verarbeitet werden. Mittlerweile haben die meisten Kollegen ein iPhone. Schauen Sie einmal auf die Rückseite und lesen Sie, wo es hergestellt wurde. Es steht „China“ darauf. Es nützt nichts, zu glauben, dass deutsche Firmen damit nichts zu tun haben. Denn das Eisenerz aus diesen „blutigen Minen“ wird in China verarbeitet. Wir kaufen es dann und heizen die Nachfrage an. Damit verheizen wir im wahrsten Sinne des Wortes die Kinder- und Menschenleben mit. Das müssen wir stoppen. ({5}) Deswegen darf international im Rahmen von Freihandelsabkommen nur dann gehandelt werden, wenn sichergestellt ist, dass die sozialen Bedingungen und die Menschenrechte eingehalten werden. Weitere wichtige Aspekte, die wir entwicklungspolitisch unterstützen können, sind zum einen die Zertifizierung und zum anderen die Beratung von Regierungen, sodass sie beim Abschluss von Verträgen mit Unternehmen mehr Know-how und Expertise haben und die Verträge so aushandeln, dass die Gewinne den Menschen nützen. Das sind Dinge, die wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit leisten können. Ich sagte aber schon: Unser Handeln wird nur dann kohärent, wenn wir in der Handelspolitik entsprechend agieren. Deswegen setzen wir, die SPD, uns dafür ein, nicht nur die Entwicklungsprojekte, sondern auch die Handelspolitik in den Blick zu nehmen, damit wir faire, gerechte Handelsbedingungen erreichen. Der Agrarrohstoffsektor, den mein Kollege Hempelmann schon angesprochen hat, ist das himmelschreiendste Beispiel für die Ungerechtigkeit, die es im Augenblick beim Handel mit Rohstoffen gibt. Viele denken bei Rohstoffen nur an Öl, Seltene Erden, Erze und anderes. Nahrungsmittel sind mittlerweile zu Rohstoffen geworden, die an den Börsen spekulativ gehandelt werden. Früher betrug das Handelsvolumen der Marktteilnehmer, die nicht wirklich ein Interesse an Preisstabilität hatten und den Handel mit Nahrungsmitteln spekulativ betrieben haben, 20 bis 30 Prozent. Heute werden 80 Prozent der Nahrungsmittel als Spekulation gehandelt, von Menschen, die gar kein Interesse an sicheren Preisen haben, sondern nur einen Reibach machen wollen. Dazu gehört leider auch die Deutsche Bank; das muss man Herrn Ackermann einmal sagen. ({6}) Es gibt die Kampagne: „Hände weg vom Acker, Mann!“ Wir tragen über die Deutsche Bank auf gewisse Art und Weise eine Mitschuld daran, dass Menschen hungern; das müssen wir verhindern. In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam verbindliche Regeln finden, anstatt nur unverbindliche Absichtserklärungen abzugeben, wie sie im Antrag der Union enthalten sind, dem wir deshalb nicht zustimmen können. Lassen Sie uns gemeinsam unsere sozialdemokratischen Vorschläge umsetzen: verbindliche Regeln für eine gerechte Welt und eine gerechte Verteilung der Rohstoffe, damit auch die Menschen, die in den Minen arbeiten, endlich zu ihrem Recht kommen, fair behandelt werden und gut leben können. Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Christian Ruck für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erfolgreiche Rohstoffpolitik umfasst in der Tat viele Politikbereiche. Dazu gehört, lieber Herr Kuhn, sicherlich auch die Frage der Effizienz. Auch ich bin für mehr Effizienz. Wir reden gerade über das Kreislaufwirtschaftsgesetz und die anschließenden Gesetze. Da können wir die Effizienzgewinne, die wir erreichen wollen, in die Tat umsetzen. Das kann in meinen Augen allerdings nicht so weit gehen, dass man sagt: Wir werden so effizient, dass wir die Rohstoffe aus Entwicklungsländern nicht mehr brauchen. Das ist nicht das, was wir als Entwicklungspolitiker wollen. Auf dem ersten Rohstoffkongress der CDU/CSUFraktion vor drei Jahren hat einer der führenden Experten auf dem Gebiet, Herr Professor Reller, eine Weltkarte mit der Lage der für die deutsche Wirtschaft wichtigen Rohstoffe, auch der Seltenen Erden, an die Wand projiziert. Der Befund ist eindeutig: Die Entwicklungsund Schwellenländer haben hier eine überragende Bedeutung für die deutsche Wirtschaft, und zwar nicht nur China und Indien, sondern auch viele arme Entwicklungsländer. Insofern ist es für uns eine strategische Herausforderung, in diesem Bereich eine erfolgreiche Entwicklungspolitik zu betreiben, zum Wohle unserer eigenen Wirtschaft, aber vor allem auch zum Wohle dieser Entwicklungsländer. Wir haben dabei in der Tat mit vielen Problemen zu kämpfen. Lieber Kollege Raabe, ich gebe dir vollkommen recht: Der Rohstoffreichtum war in der Vergangenheit für viele Länder ein Fluch und kein Segen und ist es zurzeit noch immer. Er war und ist in der Tat die Ursache einer zum Teil überbordenden Korruption - Gesellschaften in der Hand von kriminellen Vereinigungen -, einer Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit, einer völlig unausgewogenen Verteilung der Einnahmen, die der breiten Bevölkerung kaum Entwicklungsimpulse bietet, sowie von Kriegen und Bürgerkriegen, zum Beispiel in West- und Zentralafrika. Für uns sind diese Entwicklungen doppelt schlecht; denn sie sorgen für eine unsichere Rohstoffversorgung und machen uns von wenigen Staaten abhängig. In Zeiten des internationalen Terrorismus schaffen Gewalt und rechtsfreie Räume immer mehr Probleme für unsere eigene Sicherheit. Deswegen ist eine erfolgreiche Rohstoffpolitik ein Gebot der Stunde. Wir müssen unsere Möglichkeiten für eine bessere Entwicklung und für eine Stabilisierung dieser Länder im positiven Sinne konzentriert einsetzen. Es gibt viele Möglichkeiten, zum Beispiel in den Bereichen der Verbesserung der Regierungsführung und der Transparenz - Herr Kollege Raabe, man kann sich sicherlich über die eine oder andere Verbesserung unterhalten; damit haben wir überhaupt kein Problem -, beim Aufbau demokratischer Strukturen, eines vernünftigen Justizsystems, von Rechnungshöfen, einer funktionierenden Polizei und eines funktionierenden Zollsystems. Ich darf darauf hinweisen, dass es bereits eine Fülle von derartigen Programmen gibt. Das Beispiel Ostkongo wurde bereits angesprochen. Dort sorgt ein deutsches Entwicklungsprojekt für die Zertifizierung von wichtigen Mineralien, sozusagen von der Quelle bis zur Mündung. Das Wichtige ist, dass wir einen vernetzten Ansatz verfolgen, der auch den Aspekt der Sicherheit in einem Land beinhaltet. Das stellt uns jedoch vor gewaltige außenpolitische Aufgaben; denn in der Tat funktioniert vieles - auch das ist schon angesprochen worden - nach Wildwestmanier. Die Geber spielen sich gegenseitig aus, dazu gehören auch die neuen Geber, zum Beispiel China und Indien. Leider ist der Abbau von Rohstoffen oft mit gewaltigen Umweltsauereien verbunden, mit der Zerstörung der Leistungsfähigkeit von Ökosystemen, zum Beispiel der Wasserversorgung, mit gewaltigen volkswirtschaftlichen Verlusten wie in Nigeria, mit Summen, die sich zurzeit einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro nähern, Tendenz steigend. Auch das ist eine Herausforderung für eine verantwortungsvolle Rohstoffpolitik. Die Gefahr ist groß, dass sich die unterschiedlichen Interessenten beim Unterlaufen von Umweltstandards gegenseitig unterbieten. Deswegen ist es vollkommen richtig, dass sich die deutsche Wirtschaft selbst strengen Regeln unterwirft. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass dies international gilt, weil sonst nichts gewonnen ist und nur die deutsche Industrie und die Umwelt verlieren werden. Die CDU/CSU-Fraktion wird am nächsten Montag einen Kongress für neue Impulse zum Schutz der Meere veranstalten; denn nachhaltige Lösungen für die internationalen Nutzungskonflikte sind auch für unsere Meere von entscheidender Bedeutung. In diesem Bereich gibt es noch viele rechtsfreie Räume. Wir wollen versuchen, Anstöße zu geben, weil wir die Gefahr sehen, dass eine gewaltige Menge an Ressourcen zum Nachteil der kommenden Generationen verschwendet wird. Insgesamt muss der in unserem Antrag angesprochene Beitrag zum Interessenausgleich zwischen rohstofffördernden und rohstoffimportierenden Ländern Teil einer verantwortungsbewussten Rohstoffpolitik sein, die zu einer Win-win-Situation führt, die den Menschen in den Entwicklungsländern durch den ordnungsgemäßen Verkauf der Rohstoffe etwas bringt, und zwar mit Entwicklungsperspektiven für die allgemeine Bevölkerung und nicht nur für wenige. Auf der einen Seite muss zudem dafür gesorgt werden, dass auch beim Abbau von Rohstoffen auf den Umweltschutz geachtet wird und dass die rohstoffreichen Länder durch den Abbau stabilisiert und nicht destabilisiert werden, sowie auf der anderen Seite, dass für unsere Industrie auch in Zukunft ausreichend Rohstoffe vorhanden sind, damit die Arbeitsplätze erhalten werden können. Vor diesem Hintergrund halte ich die Ergebnisse der Reise von Bundeskanzlerin Merkel nach Ulan-Bator in der Tat für einen großen Erfolg. Man muss wissen, dass wir seit langer Zeit eine sehr fruchtbare und erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit mit der Mongolei haben. Wir haben der Mongolei beim Aufbau demokratischer Strukturen wesentlich geholfen, auch nach der Wende dort. Es gibt sehr erfolgreiche Projekte in den Bereichen des natürlichen Ressourcenschutzes, der Bioenergie, der erneuerbaren Energien und einer nutzungsverträglichen Landwirtschaft. Zu dem sehr erfolgreichen Gesamtpaket gehört, dass wir jetzt auch im Bereich der Rohstoffe eine bahnbrechende Zusammenarbeit suchen. Mein Wunsch bzw. meine Hoffnung ist, dass wir nun genügend deutsche Unternehmen finden - auch genügend mittelständische Unternehmen -, die in den Fragen des Bergbaus, des Abbaus und der Prospektion von Seltenen Erden die erforderliche Arbeit leisten können; denn hier hat sich in den letzten Monaten und Jahren ein Engpass erwiesen. Es wäre schade, wenn sich gerade unsere mittelständische Wirtschaft völlig aus dem Bergbaubereich ausklinken würde. Das wäre dann ein Schuss nach hinten, und das wollen wir natürlich nicht. Insofern sind gerade der Besuch der Bundeskanzlerin und die Abkommen mit der Mongolei ein positives Beispiel einer gelungenen Entwicklungspolitik, die auch in anderen Ländern dieser Welt Schule machen sollte. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der dominierende Konflikt der Weltpolitik im 21. Jahrhundert wird - so wörtlich der Kampf um Energie, Rohstoffe und Wasser sein. Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts kehren zurück … ({0}) Ich zitiere hier niemanden von der Linken, sondern interessanterweise den ehemaligen außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Friedbert Pflüger. Er schreibt weiter, der Basiskonflikt sei der mit allen Mitteln ausgetragene Kampf um die knappen Ressourcen unserer Erde. Er warnt - ich bitte darum, dass die FDP gut zuhört - vor Energiekrisen und auch Energiekriegen in der Zukunft. Das hat er - wer dies nachlesen möchte bereits im Jahr 2010 in der Zeitschrift Internationale Politik geschrieben. Ich kann nur feststellen: Die Rohstoffstrategien Deutschlands und Europas tragen zu diesem Kampf um die Rohstoffe bei. Deshalb fordern wir ganz zentral, dass diese Strategien zurückgezogen werden. ({1}) Auch sie wurden, ähnlich wie sämtliche Rettungspakete für die Banken von der Finanzwirtschaft verfasst wurden, nicht im Kanzleramt geschrieben, sondern vom Bundesverband der Deutschen Industrie. Das alles ist nachzulesen. Es hat ja etliche Rohstoffkonferenzen gegeben. Ich erinnere mich daran, wie eine 20-köpfige Delegation des BDI, Arbeitsgruppe Entwicklung, in der letzten Legislaturperiode plötzlich bei uns im Entwicklungsausschuss aufgetaucht ist und uns erzählt hat, wie die Entwicklungspolitik aktiv zum Rohstoffzugang und zur Rohstoffsicherung für die deutsche Industrie beitragen solle. ({2}) Leider finden wir diese Konzepte jetzt auch sehr deutlich im neuen unternehmerischen entwicklungspolitischen Ansatz des Bundesministers Dirk Niebel wieder. Wir haben ganz klar gesagt: Wir lehnen es ab, die Entwicklungspolitik in den Dienst der deutschen Industrie zu stellen. ({3}) Dieser Rohstoffhunger der Industriestaaten führt - das wurde hier bereits mehrfach beschrieben - in vielen Ländern zu sozialen Verwerfungen und enormen Umweltproblemen. Viele Länder, die Rohstoffe besitzen, sind gestraft - hier war von einem Fluch die Rede - ob ihres sogenannten Reichtums. Ich möchte ein Land nennen, zu dem Deutschland sehr gute Beziehungen pflegt: Kolumbien. Deutschland ist der zweitgrößte Importeur von Kohle aus Kolumbien. Zu den Importeuren zählen auch die Konzerne Eon und EnBW. Welche Auswirkungen der Kohleabbau in Kolumbien hat, interessiert die deutschen Energiekonzerne wenig. Im Nordosten Kolumbiens gibt es eine große Biodiversität, aber leider gibt es dort auch sehr viel Kohle. Dort befindet sich die größte Kohlemine Lateinamerikas, Cerrejón. Sie wird betrieben von multinationalen Konzernen. Viele Kleinbauern wurden aus dieser Region vertrieben. Sie haben alles verloren: ihr Land und ihr Vieh. Nur noch wenige leben dort. Sie leiden mittlerweile unter enormen Gesundheitsproblemen. Der Kohlestaub legt sich über die gesamte Region. Riesige Krater entstehen. Ein Wasser-Methan-Gemisch bildet sich. Das sind lebensbedrohliche Lebensbedingungen. Hinzu kommt die Bedrohung durch Paramilitärs, wenn sich die Menschen gegen diese Bedingungen wehren, wenn zum Beispiel Gewerkschafter gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in den Minen protestieren. Wenn man es mit Menschenrechtspolitik ernst meint, wäre es angesagt, dass die Kanzlerin bei Gesprächen mit Präsident Santos solche unakzeptablen Zustände anspricht. ({4}) - Genau, das interessiert nicht. Natürlich gibt es viele andere Themen, über die hier auch zu debattieren wäre. Es ist jedoch aberwitzig, wenn hier geleugnet wird, dass bereits seit Jahrzehnten Kriege um Rohstoffe geführt werden; denn das liegt auf der Hand. Ich brauche nur das Beispiel Irak zu nennen. Dort wurde - das ist ganz klar - ein Rohstoffkrieg geführt. Das gilt auch für Afghanistan, und wir erleben das jetzt wieder in Nordafrika, in Libyen. Auch das ist ein ganz klassischer Rohstoffkrieg. Wir erleben, dass Frankreich und Großbritannien schon jetzt Verträge mit Libyen abschließen. Genau deswegen sollte die Forderung - das ist der zentrale Punkt - nach einer massiven Verringerung des gesamten Stoffumsatzes, des Ressourcen-, des Rohstoffumsatzes in den entwickelten, in den Industriestaaten an erster Stelle stehen. Nur wenn wir massiv umstellen und ein anderes Wachstumsmodell entwickeln, können wir eine verantwortungsvolle Rohstoffpolitik machen. ({5}) Dazu gehört übrigens auch, dass wir neue Ansätze unterstützen, zum Beispiel den, dass die Rohstoffe in der Erde verbleiben und dafür Kompensationszahlungen seitens der Industriestaaten geleistet werden. In Ecuador gibt es zum Beispiel ein wunderbares Projekt - das kann ich nur noch einmal betonen -, das helfen soll, den Yasuní-Park zu erhalten, indem Kompensationszahlungen für die Nichtförderung von Erdöl geleistet werden. Das ist zukunftsweisend. Ich kann nicht verstehen, dass sich die Bundesregierung, namentlich Dirk Niebel, nach wie vor weigert, dieses Projekt zu unterstützen. Das ist ein Zukunftsprojekt. ({6}) Wir setzen uns dafür ein. Eine Delegation war vor kurzem in Ecuador. Dieses Projekt braucht Unterstützung. Das wäre eine neue Weichenstellung in der internationalen Rohstoffpolitik. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, ich habe Ihren Antrag sehr aufmerksam gelesen. ({0}) Offensichtlich ist Ihnen selbst aufgefallen, dass das, was Sie da abliefern, äußerst dünn ist. ({1}) Anders ist es nicht zu erklären, dass Sie heute hier direkt abstimmen lassen und das Ganze nicht in die Ausschüsse geben, dass Sie keine Anhörung durchführen lassen wollen, in der das, was Sie da vorgelegt haben, von den Experten im Detail bewertet werden könnte. ({2}) Das ist wirklich sehr dürftig. Ich finde das schade; denn das wäre notwendig, um hier qualifiziert debattieren zu können. ({3}) Schauen wir uns einmal an, was Sie in Ihrem Antrag schreiben. Sie kritisieren China in langen Ausführungen, schreiben dann aber - wenn auch mit wohlgesetzten, schönen Worten -: Wir müssen es so machen wie die Chinesen, nur ein bisschen besser angestrichen. Das ist der Kern Ihrer Rohstoffpolitik. Alles andere, was sich in dem Antrag findet, ist letztendlich Lyrik. Es findet sich nichts zu dem, was Kollegin Hänsel eben angesprochen hat, zum Beispiel zu Kolumbien. Auch ich habe mir das angesehen. Dort findet Kohleförderung unter fragwürdigen Bedingungen statt. Sie machen keine Ausführungen dazu. Sie erklären nicht, wie Sie mit dem Projekt betreffend den Yasuní-Nationalpark umgehen wollen. Hier blockieren Sie. All das taucht in Ihrem Antrag überhaupt nicht auf. Vor allen Dingen fehlt das alles Entscheidende. Sie gehen nicht darauf ein, wie wir hier im Land mit den Rohstoffen umgehen. Ich finde in Ihrem Antrag - er umfasst acht Seiten - gerade einmal eine gute halbe Seite zu den drei Kernpunkten Substitution, Effizienz und Recycling. Das ist viel zu dünn für einen solchen Antrag. ({4}) In Ihrem Antrag taucht überhaupt nichts dazu auf, dass Ressourceneffizienz bzw. Rohstoffeffizienz eine Chance für eine Innovationsstrategie ist. Die EU hat vor einem Monat eine Roadmap dazu vorgelegt; darin sind gute Ansätze enthalten. Auch das findet sich in Ihrem Antrag überhaupt nicht; das erwähnen Sie nicht. Da ist uns die Europäische Union ein ganzes Stück voraus. ({5}) Ressourceneffizienz hat eine mehrfache Dividende: Wir reduzieren unsere Importabhängigkeit, wir schaffen Wettbewerbsvorteile für die Industrie, wir schützen Klima und Umwelt, und vor allen Dingen helfen wir damit, den Fluch der Rohstoffe loszuwerden. Das fehlt in Ihrem Antrag völlig. Da, wo Sie das eine oder andere sinnvoll andeuten, bleiben Sie unkonkret. Sie liefern keine Antwort darauf, wie man mit dem Problem umgehen sollte, dass wir alle zwei Jahre ein neues Handy kaufen müssen, weil das alte zufällig nach zwei Jahren, wenn der Vertrag ausläuft, kaputtgeht, und wie wir dafür sorgen können, diese Handys in Deutschland, wenn möglich, zu 100 Prozent einzusammeln. Dazu taucht in Ihrem Antrag nichts auf. Dazu finde ich auch in den Papieren der Bundesregierung keine sinnvollen Vorschläge. Das wäre ein wichtiger Teil einer Rohstoffstrategie; denn in Handys, in Elektronikschrott finden sich teilweise höhere Metallgehalte als in den Erzen, die wir fördern. Das wäre eine richtige Effizienzstrategie. ({6}) Ich finde nichts dazu, wie Sie solche Recyclingquoten wie beispielsweise in Norwegen beim Elektronikschrott erreichen wollen, wo es eine Quote von 80 Prozent gibt. Wir beraten in der nächsten Woche eine Novelle zum Kreislaufwirtschaftsgesetz. Sie geben dort eine Recyclingquote von 65 Prozent vor. ({7}) Wir haben schon jetzt eine Quote von 63 Prozent. Sie wollen in zehn Jahren 2 Prozentpunkte mehr erreichen. Das sind 0,2 Prozent pro Jahr mehr. Ist das ein angemessenes Ziel für den Ressourcen- und Effizienzweltmeister Deutschland? ({8}) Ich möchte nicht noch über andere Dinge reden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das wäre jetzt auch schwierig.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der EU-Roadmap wird zum Beispiel die Einführung von Ressourcensteuern angedeutet. Es finden sich Punkte wie das Top-Runner-Programm. Japan hat uns da vieles voraus. Auch das ist in Ihrem Antrag nicht zu finden. Wir hören nur aus Brüssel: Die Bundesregierung steht auf der Bremse und verhindert jede Innovation. Wirtschaftsminister Rösler, der heute bezeichnenderweise wieder nicht anwesend ist, ({0}) hat gestern in der Fragestunde offen eingestanden, dass die Bundesregierung bei der Energieeffizienzrichtlinie nur verhindert. Diesen Antrag und Ihre gesamte Rohstoff- und Ressourcenpolitik kann ich nur mit den Worten eines italienischen Fußballtrainers, der lange in Deutschland gearbeitet hat, kommentieren: Koalition - wie eine Flasche leer. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war ja ein ziemlich dünner Beitrag. ({0}) Dies zeigt, dass Sie an dem Antrag, den wir vorgelegt haben, relativ wenig zu kritisieren haben. Er ist sehr umfassend. ({1}) Dass für Deutschland als Exportweltmeister der kontinuierliche Nachschub von Rohstoffen existenziell wichtig ist, kann, glaube ich, niemand hier im Hause bestreiten. Dies ist in den letzten Jahren ein Topthema geworden, das nur durch Griechenland oder die Euro-Krise übertroffen wird. Das ist einfach ein Fakt. Die Koalition - das hat noch keiner erwähnt - hat schon in ihrem Koalitionsvertrag die nachhaltige Rohstoffversorgung Deutschlands als eines der wichtigsten Ziele formuliert. Die CDU/CSU-Fraktion hat schon im Juli 2010 einen ersten Rohstoffkongress durchgeführt. In der nächsten Woche wird sie den zweiten Rohstoffkongress durchführen. Ich möchte eine Partei in diesem Hohen Hause sehen, die sich diesem Thema so intensiv gewidmet hat. ({2}) Ich möchte kurz auf das Thema Rohstoffpartnerschaften zu sprechen kommen. Herr Hempelmann hat in einem Nebensatz gesagt: Das ist moderner Kolonialismus. - Ich glaube, Herr Hempelmann, Sie sollten wirklich einmal einen Blick in das Abkommen über die Rohstoffpartnerschaft mit der Mongolei werfen. ({3}) Ich will zwei Passagen zitieren. In Art. 2 - „Ziele und Schwerpunkte der Zusammenarbeit“ - steht ganz klar: Die Vertragsparteien fördern die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Staaten, insbesondere mit dem Ziel, die Rohstoffe der Mongolei durch Investitionen, Innovationen und Lieferbeziehungen sowie Technologietransfer … einer umfassenden Nutzung zuzuführen. ({4}) „Technologietransfer“ heißt ganz einfach, moderne Technologien dorthin zu transportieren, wo die Rohstoffe gewonnen werden. Das zweite Zitat, das ich anführen möchte, finden Sie in Art. 6 Abs. 7: Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland unterstützt die Regierung der Mongolei bei der Erarbeitung von Maßnahmen für die Verbesserung der Ressourcen- und Energieeffizienz - das ist genau das, was Sie wollen sowie für die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards. ({5}) Genau das, worüber hier die ganze Zeit diskutiert wurde und was wir Ihrer Meinung nach tun sollten, steht in der ersten abgeschlossenen Rohstoffpartnerschaft mit der Mongolei. Ich kann Ihre Kritik daran überhaupt nicht nachvollziehen. Rohstoffpartnerschaften sind ein neues Instrument. Sie müssen mit Leben gefüllt werden. ({6}) Vor allen Dingen muss die Wirtschaft jetzt dazu beitragen, diese Rohstoffpartnerschaft mit Leben zu füllen. ({7}) Meine Damen und Herren, ganz wichtig scheint mir zu sein, dass es in Rohstoffpartnerschaften viel Raum für den deutschen Mittelstand gibt. Während weltweit überall globale Konzerne agieren, versuchen wir im Rahmen von Rohstoffpartnerschaften, auch den deutschen Mittelstand in dieses Geschäft zu bringen. Da passt es ganz gut, dass die Commerzbank in den letzten Tagen die Ergebnisse einer interessanten Studie vorgestellt hat. ({8}) - Das ist klar. Für die Linken ist alles bestellt. ({9}) Wenn Sie die Ergebnisse dieser Studie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, müssen wir nicht darüber diskutieren. - In dieser Untersuchung wurden 4 000 mittelständische Unternehmen in Deutschland zum Thema Rohstoffe befragt. Es ist interessant, welche Ergebnisse dabei herauskamen. Es verwundert natürlich nicht, dass im Mittelstand ein großes Problembewusstsein vorhanden ist. 52 Prozent der Unternehmer glauben allerdings, dass Deutschland die Herausforderung knapper Ressourcen und weltweit steigender Nachfrage gut bewältigen kann. Man kann also erkennen, dass zumindest ein gewisser Optimismus da ist. Natürlich werden auch die Risiken zur Kenntnis genommen. Dazu gehören die global steigende Nachfrage, die politischen Unsicherheiten in den verschiedenen Förderländern - darüber wurde in diesem Hohen Hause heute schon diskutiert - und die Spekulationsgeschäfte; auch darüber ist schon gesprochen worden. ({10}) Meine Damen und Herren, vonseiten der Fraktion der Grünen wurde gerade der Vorwurf geäußert, im Hinblick auf Rohstoffeffizienz, Recycling und Ähnliches werde nichts getan. Wissen Sie: Der deutsche Mittelstand braucht keine Aufforderung der Politik. Weil der Druck, wettbewerbsfähig zu bleiben, sehr groß ist, entwickelt der deutsche Mittelstand von sich aus einen unheimlich hohen Innovationsgrad, um Energieeffizienz und Ressourceneffizienz zu erreichen. Die Wirtschaft braucht keine Aufforderung der Politik. Sie ist in der Lage, selbst sehr offensiv auf die vorhandenen Herausforderungen zu reagieren. Ich kann Ihnen nur empfehlen, unseren Antrag zu unterstützen. Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jürgen Klimke ist der nächste Redner, ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Gerade als Entwicklungspolitiker bin ich von der Notwendigkeit einer sicheren, verlässlichen und bezahlbaren Rohstoffversorgung Deutschlands überzeugt. Wir sind eben ein Industrieland, in dem Rohstoffe in großem Umfang in Fertigprodukte umgewandelt werden. Wir haben also ein berechtigtes Interesse an einer sicheren und kostengünstigen Versorgung mit Rohstoffen. Insofern ist es gut, dass wir uns dieses Themas durch den Antrag, durch den Kongress und durch die Debatte hier heute angenommen haben; denn es geht auch um die Grundlagen unseres Wohlstandes, um Millionen von Arbeitsplätzen, die von der Belieferung mit Rohstoffen abhängig sind. Deshalb haben wir Forderungen formuliert, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und auch Deutschlands gesichert und gestärkt werden soll. Es gibt aber auch - und das ist wichtig - einen entwicklungspolitischen Aspekt der Rohstoffversorgung. Uns Entwicklungspolitikern der Union geht es darum, den Rohstoffreichtum von Entwicklungsländern auch für die Menschen vor Ort stärker nutzbar zu machen. Über 50 Prozent der wichtigen Rohstoffvorkommen liegen in Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von unter 10 Dollar pro Tag. Dieses zunächst erstaunliche Paradoxon der Armut trotz reicher Rohstoffvorkommen lässt sich durch makroökonomische und politisch-institutionelle Defizite erklären. Was meine ich damit? Im politischen Bereich gilt das Stichwort „Bad Governance“, also schlechte Regierungsführung, das Versagen der politischen Institutionen und das Fehlen von sozialen und ökologischen Standards. Ökonomisch wird die Situation durch den Begriff „Dutch Disease“, Holländische Krankheit, beschrieben, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wirtschaft eines reichen Landes trotz Handelsüberschüssen aus dem Rohstoffbereich verunsichert wird. Wir haben die Holländische Krankheit in den 60er-Jahren erlebt, als die Holländer aufgrund eines riesigen Erdgasaufkommens Erdgas exportierten, während die anderen Teile der Wirtschaft vernachlässigt wurden. Ein weiteres Problem besteht in der Unsicherheit der Entwicklungsländer. Mehr als die Hälfte der weltweiten Rohstoffproduktion erfolgt in Ländern, die nach Auffassung der Weltbank instabil sind. Deshalb müssen wir die Förderländer vor allen Dingen entwicklungspolitisch unterstützen. Es geht darum, Good Governance, also gute Regierungsführung, zu stärken, Korruption zu bekämpfen und den illegalen Abbau von Rohstoffen zu verhindern. Deshalb fordern wir in unserem Antrag auch, mit den entwicklungspolitischen Instrumenten verstärkt eine transparente und nachhaltige Rohstoffwirtschaft in den Entwicklungsländern zu fördern. Es ist nicht so, dass bisher nichts unternommen wurde, wie das hier teilweise gesagt wurde. Ich möchte hier an die Extractive Industries Transparency Initiative erinnern. Das ist eine beispielhafte Transparenzinitiative, mit der Zahlungsströme von rohstofffördernden Unternehmen als Abgaben an den Staat und deren Verwendung transparent gemacht und veröffentlicht werden. Dadurch wird der Korruption entgegengewirkt und eine gute Regierungsführung in den Entwicklungsländern gestärkt. Ein anderes Beispiel ist unsere Arbeit in der Region Große Seen in Afrika. Hier sind wir unter anderem im Bereich der Zertifizierung von Handelsketten im Bereich mineralischer Rohstoffe in Ruanda und bei der Entwicklung und Anwendung eines staatlichen Finanzierungssystems für mineralische Rohstoffe in der Republik Kongo tätig; darauf ist hingewiesen worden. Wir unterstützen hier die transparente, effiziente und entwicklungsorientierte Verwendung von Rohstoffeinnahmen. Gerade diese beiden Projekte sind vorbildlich, weil an mehreren neuralgischen Punkten angesetzt und insbesondere auch der Aspekt der guten Regierungsführung mit einbezogen wird. Auch die Wirtschaft, die Unternehmen, können durch eine stärkere Corporate Social Responsibility, also durch eine stärkere soziale Verantwortung in Bezug auf ihr Handeln, einen Beitrag leisten. Immer mehr Unternehmen beziehen ihre Lieferkette in ihre Überlegungen mit ein und sichern damit soziale und ökonomische Mindeststandards bei der Rohstoffgewinnung für die Entwicklungsländer, und das ist sehr wichtig. Es gibt auch indirekte Maßnahmen, die die Rohstoffsicherung in den Entwicklungsländern unterstreichen. Ich begrüße die Ankündigung des BMZ, Investitionen im Bildungsbereich zu verstärken. Hier ist ein Anstieg von 68 Millionen Euro im Jahre 2009 auf 137 Millionen Euro im Jahr 2013 zu verzeichnen. Das muss man sich noch einmal vergegenwärtigen. Hier wird heftig investiert. Wir unternehmen Anstrengungen, um für die Entwicklungsländer im Rohstoffbereich auch den entwicklungspolitischen Teil zu stärken. Wir versuchen, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Interessen Hand in Hand gehen zu lassen. Das kann man von dem Antrag der Linken überhaupt nicht behaupten. Hier geht es um platteste Polemik. Wenn Sie eine Rohstoffstrategie fordern, die „nicht den Zugriff der deutschen und europäischen Industrie auf noch mehr Rohstoffe … zum Ziel hat“, dann ist das glatter Unsinn. Das ist vielleicht Ihre Strategie, die Strategie der Linken. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie wollen hier eine von oben verordnete Rohstoffmangelwirtschaft. Ich würde mich freuen, wenn Sie den Mitarbeitern der Metall-, Chemie- und Elektroindustrie einmal erklären, wie damit ihre Arbeitsplätze in Deutschland gesichert werden sollen. Ihre Strategie gefährdet nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch unseren Wirtschaftsstandort insgesamt. Das sollten Sie sich wirklich einmal vergegenwärtigen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Thomas Gebhart ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Thomas Gebhart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004038, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist eine starke Industrienation. Wir wollen selbstverständlich, dass Deutschland eine starke Industrienation bleibt. Aber wir müssen sehen: Wir sind als Industrienation in hohem Maße von Rohstoffimporten abhängig. Deswegen ist sehr schnell klar, wie wichtig es ist, unsere Rohstoffversorgung zu sichern. Dabei geht es um ganz verschiedene Maßnahmen, die hier erwähnt wurden: Handelshemmnisse abbauen, Rohstoffpartnerschaften eingehen und vieles mehr. All das sind wichtige Wege, die wir gehen. Ein Punkt, der natürlich auch in diese Diskussion hineingehört - er ist mindestens genauso wichtig wie die anderen Punkte - und in Zukunft eher noch an Bedeutung gewinnen wird, ist die Steigerung der Ressourceneffizienz. Das heißt, die Ressourcen so effizient wie irgendwie möglich einsetzen. Warum wird dieser Punkt an Bedeutung gewinnen? Der Umfang und die Nutzung verschiedener Ressourcen haben weltweit stark zugenommen. Bestimmte Ressourcen werden knapper, und sie werden in der Folge teurer. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass die Weltbevölkerung nach wie vor wächst. Wir sind heute knapp 7 Milliarden Menschen, und wir werden in einigen Jahren 9 Milliarden Menschen auf dieser Welt sein. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass auch jene, die heute nicht so leben, mit Blick auf unser Wohlstandsniveau danach streben, Wachstum und Wohlstand zu generieren. ({0}) - Zu Recht. - Das heißt, die Nachfrage nach Rohstoffen wird weiter wachsen und damit natürlich auch unter den Gesichtspunkten des Umweltschutzes erhebliche Probleme verursachen. In der Konsequenz ergibt sich daraus, dass die große Herausforderung für uns sein muss, Wohlstand und Wachstum auf der einen Seite mit dem schonenden Umgang mit knappen Ressourcen auf der anderen Seite in Einklang zu bringen. Hierin liegt aber zugleich eine große ökologische wie auch ökonomische Chance. In Deutschland haben viele Unternehmen erhebliche Anstrengungen unternommen, die Ressourceneffizienz zu steigern. Dieser Punkt wird weiter an Bedeutung gewinnen. Der effiziente Umgang mit knappen Ressourcen wird künftig noch mehr über unsere Wettbewerbsfähigkeit entscheiden, und Effizienztechnologien werden sicherlich zu den Wachstumstechnologien von morgen zählen. Gerade weil wir darin diese Chancen sehen, begrüßen wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung ein nationales Ressourceneffizienzprogramm, ProgRess, vorlegt. Damit gehen wir ganz konkrete Schritte. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass es nicht darum geht, die Wirtschaft in irgendeiner Weise zu bevormunden, sondern es geht darum, Win-win-Situationen zu erkennen und diese auch tatsächlich zu nutzen. ({1}) Ich nenne drei Punkte, die in diesem Zusammenhang wichtig sind und die wir auch in unserem Antrag, der heute vorliegt, aufgreifen. Der erste Punkt: Forschung und Entwicklung. Technologische Innovationen sind ein wesentlicher Schlüssel zu mehr Ressourceneffizienz. Deshalb fordern und wollen wir, dass in den Forschungsprogrammen noch stärker als bisher auf diesen Aspekt Rücksicht genommen wird. Der zweite Punkt: Wir wollen darauf hinwirken und unterstützen, dass die Ressourceneffizienz in der Normung stärker berücksichtigt wird. Dabei müssen wir den gesamten Produktlebenszyklus im Auge behalten, nicht nur den Ressourceneinsatz in der Herstellungsphase, sondern auch die Nutzungsphase und die Entsorgungsphase. Der dritte Punkt: Wir stärken die Kreislaufwirtschaft, und wir stärken das Recycling. Mit dem neuen Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz werden wir weiter in diese Richtung gehen. Wir werden künftig mehr Rohstoffe aus dem Abfall in den Wirtschaftskreislauf zurückführen. Insgesamt werden wir damit weiter zur Schonung unserer Ressourcen beitragen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man dies zusammennimmt, ist klar: Wir steigern die Ressourceneffizienz. Das ist für uns ein elementarer Baustein. Wir nehmen diese Herausforderung konsequent an und nutzen damit die Chancen, die in diesem Bereich liegen. Auch deswegen bitte ich Sie, heute dem vorliegenden Antrag zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächst unter Tagesordnungspunkt 26 a zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/7353 mit dem Titel „Wirtschafts- und Außenpolitik für eine sichere Rohstoffversorgung - Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland, Europa und den Partnerländern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Das Erstere war die Mehrheit. Damit ist der Antrag an- genommen. Wir kommen zur Abstimmung unter Tagesordnungs- punkt 26 b über die Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine gerechte und entwicklungsförderliche internationale Rohstoffpolitik“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/7151, den Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Be- schlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich komme zu Zusatzpunkt 2. Hier wird interfraktio- nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Ich vermute, dazu besteht Ein- vernehmen. - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun auf Tagesordnungspunkt 4 a bis c sowie den Zusatzpunkt 3: 4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Ägypten endgültig stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Libyen endgültig stop- pen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Syrien endgültig stop- pen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Präsident Dr. Norbert Lammert Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Tunesien endgültig stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Oman stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Jemen stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in die Vereinigten Arabi- schen Emirate stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien stop- pen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Israel stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Marokko stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Libanon stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Kuwait stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Jordanien stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Bahrain stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Katar stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Algerien stoppen - Drucksachen 17/5935, 17/5936, 17/5937, 17/5938, 17/5939, 17/5940, 17/5941, 17/5942, 17/5943, 17/5944, 17/5945, 17/5946, 17/5947, 17/5948, 17/5949, 17/5950, 17/6335 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulla Lötzer b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Keine Liberalisierung von Rüstungsexporten - Für die Einhaltung und Stärkung einer re- striktiven Rüstungsexportpolitik - Drucksache 17/7336 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüstungsexporte nicht zu Lasten von Menschenrechten genehmigen - Drucksache 17/6931 ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglich vorlegen und künftig ausführlicher gestalten - Drucksache 17/7355 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Präsident Dr. Norbert Lammert Ich weise schon jetzt darauf hin, dass wir über die 16 Anträge der Fraktion Die Linke, den Antrag der Fraktion der SPD sowie den ersten der Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu diesen Tagesordnungspunkten namentlich auf einem gemeinsamen Stimmzettel abstimmen werden. Nach diesen Abstimmungen wird das Plenum für voraussichtlich eine Stunde unterbrochen, um der Fraktion Die Linke Gelegenheit zu geben, in einer Fraktionssitzung Themen zu beraten, die mit Blick auf ihren morgigen Parteitag nicht zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden können. - Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen, sodass Sie sich darauf bitte schon einstellen können. Danach wird die Tagesordnung in der vereinbarten Weise fortgesetzt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zu den gerade aufgeführten Tagesordnungspunkten eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen, und wir können so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Martin Lindner für die FDP-Fraktion. ({3})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Wir haben uns schon daran gewöhnt, dass wir uns ungefähr jedes Vierteljahr erneut mit diesem Thema beschäftigen. Immer wieder erstaunt dabei die Teilamnesie bei zumindest erheblichen Teilen der Opposition, wenn sie suggeriert: Seitdem Schwarz-Gelb regiert, seien Rüstungsexporte insbesondere in die heute hauptsächlich interessierende Region dramatisch gestiegen. In der Diskussion vor der Sommerpause hatte ich den Eindruck, Sie wären satt. Aber Sie sind es immer noch nicht. Deswegen will ich Ihnen neuerlich vorhalten, welche Exporte zu Ihren jeweils wechselnden Regierungszeiten erfolgten. Deutsche Rüstungsexporte nach Tunesien zum Beispiel erreichten im Jahr 2005 mit einem Wert von über 33 Millionen Euro einen Spitzenwert. So viele Exporte von Rüstungsgütern nach Tunesien gab es weder davor noch danach. ({0}) Libyen 2007 - damals regierte auch die SPD, Herr Barthel -: 23 Millionen Euro. Das war damals einsame Spitze. Ich gehe davon aus, dass das noch zu rot-grüner Regierungszeit genehmigt wurde. Ägypten ragt mit über 22 Millionen Euro im Jahr 2004 besonders heraus. Was den Jemen angeht, war 2006 mit 4 Millionen Euro einsame Spitze. Ich bitte Sie angesichts dieser Zahlen, ein wenig maßvoller und demütiger mit dem Thema umzugehen, als es in den vorliegenden Anträgen der Fall ist. ({1}) Exportiert wurde die komplette Palette. Bahrain erhielt 1999 Kriegsschiffe und Patrouillenboote. Das hat die CSU-Landesgruppe alles wunderbar zusammengestellt; Sie können sich das anschauen. Vielleicht zeigen Sie dann in Ihrem nächsten Antrag, den ich um die Weihnachtszeit herum oder im Januar erwarte, ein wenig mehr Realismus und halten Rückschau auf die eigene Regierungszeit. ({2}) Wenn Sie dieses schwierige Thema seriös behandeln wollten, dann müssten Sie sich zu dem immer wieder repetierten Vorhalt, das Parlament sei zu wenig einbezogen und müsste sogar darüber hinaus über einen bestimmten Ausschuss in Einzelentscheidungen eingebunden werden, fragen, ob Sie das wirklich sinnvoll finden können und was Sie zu Ihren jeweiligen Regierungszeiten daran gehindert hat, genau dies zu tun. Es ist völlig ausgeschlossen, in einem so schwierigen Umfeld, in dem es um Diskretion geht, die Nachrichtenlage von Geheimdiensten auszuwerten ist und bilaterale Absprachen zu treffen sind, klares exekutives Handeln ins Parlament zu bringen. Das werden wir nicht mitmachen. Wir haben seit der Aufklärung eine sich entwickelnde und seit über 150 Jahren in demokratischen Staaten festgelegte klare Trennung zwischen exekutivem und legislativem Handeln. Hier geht es um exekutives Handeln, und dabei wird es auch bleiben. ({3}) Der nächste Punkt: Selbstverständlich sind auch diese Regierung und die Koalition nicht für einen restriktionsfreien Handel mit Rüstungsgütern. Natürlich ist auch in dieser Regierung das Thema Menschenrechte ein wesentliches Kriterium bei der Ausfuhr von Waffen. Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Es ist nach den damals von Rot-Grün festgelegten Regularien nicht das ausschließliche Kriterium, sondern ein wesentliches. Als Allererstes geht es um die sicherheitspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland und unserer Verbündeten. ({4}) - Ja, Saudi-Arabien, Herr Heil. Das ist eine schwierige Situation. ({5}) - Ja, aber seit Genscher haben sich die Zeiten gewandelt. ({6}) Vergessen Sie nicht, lieber Herr Heil, dass auch Helmut Schmidt schon Anfang der 80er-Jahre liefern wollte und nur durch die Intervention Israels daran gehindert wurde. Sie müssen wenigstens Ihre eigene Parteigeschichte zur Kenntnis nehmen. ({7}) Dr. Martin Lindner ({8}) Es ist richtig gewesen, in dieser Frage die heutige Situation zu beachten. Die heutige Situation ist eine andere. Der Iran zeichnet sich als Hegemon in der Region ab. Es gibt eine Verschiebung der Achsen im Mittleren Osten. Dies zu verkennen, zeugt von ideologischer Blindheit.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Lindner, darf Ihnen der Kollege Ströbele eine Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich. Gerne. ({0}) - Wir können hier Kindergarten spielen, aber das bringt nichts.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Kollege. - Wenn wir schon in die Geschichte abschweifen, was auch gut ist - man kann manchmal aus alten Fehlern lernen -, möchte ich Ihnen vorhalten, dass es die FDP war, wenn ich mich richtig erinnere, die, als sie an der Regierung beteiligt war, die Entscheidung von Helmut Kohl, an Saudi-Arabien 36 Fuchspanzer zu liefern, mitgetragen hat. ({0}) Können Sie sich daran noch erinnern? ({1})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich würde das aber gar nicht abstreiten, Herr Kollege Ströbele. Die Kontinuität aller Regierungen bestand darin, restriktiv und maßvoll, aber auch unter Wahrung unserer sicherheitspolitischen und industriellen Belange Rüstungsgüter zu exportieren. Ihre Partei steht in dieser Kontinuität genauso wie die SPD, die CDU/CSU und die FDP. ({0}) Alle haben sich aus Verantwortung vernünftig verhalten und vernünftige Abwägungen vorgenommen. Wir, Herr Kollege Ströbele, drücken uns gar nicht vor dieser Verantwortung. Sie drücken sich. Sie waren damals im Fraktionsvorstand, Sie haben den Fraktionsvorstand damals nicht verlassen, und Sie haben die Fraktion nicht verlassen. Sie haben letztlich alle Rüstungsexporte der rot-grünen Bundesregierung mitgetragen. ({1}) Dann haben Sie sich hingestellt und gesagt: „Ich bin Ströbele!“, und nach außen den Eindruck erweckt, als hätten Sie mit den Grünen überhaupt nichts zu tun. Das kann man so machen, aber seriös ist etwas anderes. ({2}) Die CDU/CSU hat sich in diesen Fragen der Realität gestellt, wie es auch alle anderen Fraktionen, die seit 1949 an der Regierung waren, getan haben. ({3}) Das Entscheidende für mich ist, dass man bei den Ausfuhren darauf achten muss, dass man instabilen Ländern nicht eine Technologie verschafft, die sie möglicherweise in die Lage versetzt, zu einer Bedrohung in der Region zu werden. Auch diese Maßgabe wurde und wird nach meiner Kenntnis und nach allem, was ich in den Rüstungsexportberichten gelesen habe, immer eingehalten. Diese Regierung verhält sich verantwortungsbewusst. Auch alle bisherigen Regierungen haben sich verantwortungsbewusst verhalten. Die Opposition betreibt Populismus. Das ist der Unterschied. Zum Schluss ein Blick auf die Rüstungsindustrie in Deutschland. Diese ist natürlich ein wesentlicher Faktor. Ich verweise jetzt nicht auf Arbeitsplätze oder Ähnliches. ({4}) Es geht auch darum, uns ein Stück Unabhängigkeit im Wehrbereich zu erhalten. Es geht auch um die technologischen Neuerungen wie beispielsweise bei der Drohnentechnologie. Diese militärische Technologie wird natürlich einmal im zivilen Flugverkehr, zum Beispiel im Luftfrachtverkehr, eine Rolle spielen. Deswegen wäre es sträflich, eine Politik zu gestalten, die sich gegen unsere eigene Wehrindustrie richtet. Gefragt ist etwas anderes. Entscheidend ist, dass wir zu mehr Rüstungskooperationen in Europa kommen. Nach wie vor sehr unbefriedigend ist die national orientierte Wehrpolitik, insbesondere von Ländern wie Frankreich und Großbritannien. Diese zeigen in den Gemeinschaftsunternehmen, die wir ja haben, zu wenig Engagement und kümmern sich primär um ihre eigenen nationalen Rüstungsschmieden. Das hat zur Folge, dass die Stückkosten bei gesunkenen Wehretats exorbitant steigen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - Dadurch ist der Druck auf diese Unternehmen zum Export überproportional hoch. Da ist eine sinnvolle Kooperation gefragt, die im Interesse dieses Landes ist. Das alles ist nichts für Populismus und Feldgeschrei, sondern etwas für seriöse Politik. Diese werden wir auch weiterhin machen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rüstungsexporte in Staaten außerhalb der EU und der NATO sowie diesen gleichgestellte Staaten sollen nach dem Geist und vor allen Dingen den Buchstaben unserer Gesetze nicht die Regel, sondern die Ausnahme sein. Wenn man allerdings die Rüstungsexportpolitik der jetzigen Bundesregierung betrachtet, dann kann man nur zu dem Ergebnis kommen, dass Schwarz-Gelb diese restriktive Rüstungsexportpolitik früherer Jahre endgültig über Bord werfen will. Das ist es doch, worum es heute geht. ({0}) Sie tut das offensichtlich in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Rüstungsindustrie. Wir haben gestern erlebt, dass die Unternehmen der Rüstungswirtschaft dem Verteidigungsminister eine klare Ansage gemacht haben: Wenn die Bundeswehr wegen der Reform und der knappen Mittel ({1}) weniger kauft, dann erwartet man dafür Erleichterungen beim Export. Das kann es doch gerade nicht sein. Dann würden gerade die Kriterien, die unsere Gesetze ausdrücklich als nachrangig festschreiben, nämlich die wirtschaftlichen Interessen, zum Leitmotiv für Genehmigungsentscheidungen von Waffenexporten. ({2}) Wir befürchten, dass uns gerade angesichts dieser Situation das Thema Rüstungsexport in nächster Zeit noch häufiger beschäftigen wird - Herr Lindner, da können Sie ganz beruhigt sein -, gerade wenn wir sehen, wie sich diese Bundesregierung hier wieder zum Büttel von kurzatmigen Lobbyinteressen zu machen scheint. ({3}) - Ja, ja, schauen wir doch, was passieren wird. Wir wollen aber auch mit einer Unterstellung, die dann kommt, gleich aufräumen: Es ist keineswegs so, dass uns Sozialdemokraten die betroffenen Unternehmen und die Beschäftigten egal sind. Ganz im Gegenteil, wir wollen die Betriebe, wir wollen das Know-how, wir wollen die technologische Leistungsfähigkeit und die Arbeitsplätze im Land halten. ({4}) Wir wollen aber aus leidvoller historischer Erfahrung die Exporte nur im Rahmen restriktiver Exportgenehmigungspolitik, vor allem im Rahmen unserer außenpolitischen, menschenrechtlichen und entwicklungspolitischen Ziele, also ausdrücklich im Rahmen von strikten politischen Vorgaben, zulassen. ({5}) Wir wollen den Staat gegenüber den Rüstungsproduzenten nicht in einer Lage wie gegenüber den Banken sehen, nämlich in einer Situation von Erpressbarkeit und Abhängigkeit. ({6}) Gerade die jüngsten Erfahrungen mit deutschen Rüstungsexporten müssen uns - nicht nur uns; das wundert mich eigentlich - und auch den letzten schwarz-gelben Hardliner doch zum Nachdenken bringen. Was ist das denn für eine Politik, die dazu führt, dass sich in Nordafrika, in Ländern der arabischen Halbinsel, aber zum Beispiel auch in Mexiko deutsche Waffen gegen die jeweilige Bevölkerung dieser Länder, gegen soziale und politische Opposition richten? ({7}) Was sind denn Ihre Reden am Tag der Menschenrechte wert, wenn sich heute noch Koalitionspolitiker hinstellen und zum Beispiel Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien verteidigen? ({8}) Was heißt es denn für die Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik, wenn der Bundesaußenminister und der Bundeswirtschaftsminister jetzt hektische Reisen nach Ägypten und Libyen unternehmen und sich nach dem Sieg der dortigen Oppositionsbewegungen selber zum Sieger erklären, aber offensichtlich überhaupt kein Problembewusstsein dabei besitzen, dass es auch deutsche Waffen waren und vielleicht wieder sein werden, die zur Unterdrückung ebendieser Völker beigetragen haben? ({9}) Was ist es für eine Politik, die es zulässt, dass von den 25 Hauptabnehmerländern deutscher Waffen diejenigen sogar mehr abnehmen, die als Repressionsstaaten gelten? Diese Repressionsstaaten nehmen momentan genauso viele Waffen wie unsere Partnerländer in der NATO - USA, Frankreich, Großbritannien und Dänemark - ab. Das muss man sich einmal vorstellen. ({10}) Es kann schon sein, dass es auch in der Vergangenheit Fehler gegeben hat, ({11}) die von früheren Regierungen, auch mit sozialdemokratischer Beteiligung, gemacht wurden. Der Amnesty-Bericht über frühere Waffenlieferungen - er ist gerade für den Zeitraum 2005 bis 2009 erschienen - nach Nordafrika belegt das ja leider. Aber die Frage ist doch: Wollen wir diese Fehler fortsetzen und wiederholen, oder wollen wir daraus lernen? ({12}) Das ist die Frage, die sich an die Koalition richtet. Nach dem, was ich hier gehört habe, ist SchwarzGelb entschlossen, diese Fehler fortzusetzen. Zu den außenpolitischen Implikationen einer solchen Entwicklung wird nachher sicherlich mein Kollege Mützenich noch etwas sagen. ({13}) Ich möchte mich jetzt dem wirtschaftspolitischen Aspekt der Rüstungsexporte zuwenden. Die SPD kümmert sich sehr wohl um die Betriebe und die Arbeitsplätze. Aber wir wissen, dass es weder wünschenswert noch bezahlbar, noch sinnvoll ist, auf eine Beibehaltung aller Rüstungskapazitäten im derzeitigen Umfang oder gar ihre Ausweitung zu setzen. Das sollten auch die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition heute ganz klar zugeben. Wer es ernst meint mit den Arbeitsplätzen, der muss sich Gedanken über andere Produkte und Marktsegmente machen. Viele Betriebe der Branche - auch in der Region, aus der ich komme - haben mehrfach bewiesen, wie intelligent und flexibel man in Märkte außerhalb des Rüstungsbereichs umsteigen kann. Mit dem Zivilgeschäft ist man, zum Beispiel in der Luftfahrt, oftmals viel besser gefahren als mit der Rüstungsproduktion. Hier liegt die Verantwortung der Bundesregierung und der Koalition: Anstatt irgendjemanden an Panzer für Saudi-Arabien oder an U-Boote und Eurofighter für Griechenland glauben zu lassen, sollten sie klare und wahrhaftige Botschaften senden und den Strukturwandel unterstützen. Wir reden derzeit - auch morgen werden wir wieder viel über dieses Thema hören - häufig über Staatsschulden und Finanzkrise. Am Beispiel der USA hat der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz den Zusammenhang von Rüstungs- und Kriegskosten mit der US-Staatsverschuldung aufgezeigt. Die Kosten des Irak- und AfghanistanKrieges berechnete er 2008 mit rund 3 000 Milliarden US-Dollar. Er wies schon damals auf die Schuldensituation und ihre Folgen hin.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandl zulassen?

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber sicher.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, vor wenigen Monaten hat die SPD hier beantragt, dass wir im Parlament grundsätzlich über Voranfragen und Anfragen von Ländern in Bezug auf Rüstungsexporte beraten und auch im entsprechenden Ausschuss darüber abstimmen. Vonseiten der Industrie, aber auch von unserer Seite bestehen die Bedenken, dass, wenn wir die Beratung über derartige Voranfragen und Anfragen zum Gegenstand öffentlicher Debatten machen, überhaupt kein Rüstungsexport mehr stattfinden kann, weil die Länder nicht wollen, dass das Thema in der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Wie sehen Sie das im Zusammenhang mit Ihrer Unterstützung der Industrie?

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte später noch darauf zu sprechen kommen, dass wir uns gerade mit der Frage der Transparenz und der Parlamentsbeteiligung in den nächsten Wochen befassen wollen. Dazu liegt heute auch ein Antrag der Grünen vor. Wir müssen gemeinsam darüber sprechen, wie das Parlament an solchen Entscheidungsprozessen beteiligt werden kann. Es gibt ja auch andere geheimhaltungspflichtige Dinge, die unter parlamentarischer Beteiligung stattfinden. Wir müssen sehen, wie in diesem Bereich mehr Transparenz geschaffen werden kann. Wir erleben ja gerade, wie notwendig das ist, um die restriktive Rüstungsexportpolitik aufrechterhalten zu können. Wir werden Ihnen mit Sicherheit Vorschläge dazu machen; da brauchen Sie keine Sorge zu haben. In den nächsten Wochen wird darüber zu reden sein. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Fälle können wir doch feststellen, dass die Rüstungsexporte irgendwann immer öffentlich werden, ({0}) spätestens wenn der Bericht vorgelegt werden muss. Spätestens dann muss die Bundesregierung dem Parlament Begründungen liefern. ({1}) Dann werden die Rüstungsexporte ohnehin diskutiert. Der Unterschied ist nur: In diesem Fall wird die Transparenz erst hergestellt, wenn es schon zu spät ist und wenn man keinen Einfluss mehr nehmen kann. ({2}) Uns geht es darum, den Prozess rechtzeitig beeinflussen und rechtzeitig Druck auf die Regierung, welcher Koalition auch immer, ausüben zu können, damit die restriktive Politik in diesem Bereich aufrechterhalten bleibt. ({3}) Ich komme zu den ökonomischen Zusammenhängen zurück. Mit Genehmigung der Präsidentin möchte ich den amerikanischen Nobelpreisträger Stiglitz zitieren. Er sagte in einem Interview mit der Welt am 10. März 2008: Defizite sind ein Ärgernis, - also die Defizite aus den Rüstungsgeschäften 15666 weil sie am Ende Investitionen verhindern und Schulden anhäufen, die in der Zukunft beglichen werden müssen. Das schadet der Produktivität, weil für öffentliche Investitionen in Forschung, Bildung und Infrastruktur oder für private Investitionen in Maschinen oder Fabriken nur wenig übrig bleibt. Das ist der Zusammenhang, Herr Lindner, mit dem wir es im wirtschaftlichen Bereich zu tun haben und den wir hier betonen müssen. Es geht um Arbeitsplätze und Wachstum in der Zukunft. ({4}) Mit Blick auf die US-Immobilienkrise fuhr Stiglitz fort: Jetzt, da wir über die Blase hinaussehen können, wird die vom Irak-Krieg verursachte wirtschaftliche Schwäche voll zutage treten. Und wir werden teuer dafür bezahlen - mit Zinsen. Diese These hat er gerade erst wiederholt und aktualisiert. Was hat das mit der Rüstungsexportproblematik zu tun? Ganz einfach: Nennen Sie bitte ein Land der Welt, das derzeit Rüstungsbeschaffung nicht auf Pump oder nicht zulasten anderer viel sinnvollerer Ausgaben finanzieren müsste! Nennen Sie ein Rüstungsexportgeschäft, das also nicht die Weltfinanzkrise verschärfen würde oder das nicht zulasten von Investitionen und Wohlstand gehen würde! ({5}) Was halten Sie von Berichten, wonach Frankreich vier Tarnkappenfregatten nach Griechenland liefern will und Deutschland womöglich dafür mit bezahlt? Sagen Sie uns, welche Geschäfte die Bundesregierung gerade genehmigen will! Es ist doch in dieser Situation völlig absurd, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen erklärt: Die Erschließung von Märkten durch die wehrtechnische Industrie ist eine unternehmerische Entscheidung. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist eine politische Bankrotterklärung sondergleichen. Der Markt soll es regeln. ({6}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb für die heutige Debatte einen Antrag mit zwei Hauptforderungen vorgelegt: erstens Beibehaltung der restriktiven Rüstungsexportpolitik und zweitens mehr Transparenz bei den Entscheidungen der Bundesregierung zum Beispiel durch Parlamentsbeteiligung. Dafür bitten wir Sie um Zustimmung. Dem Antrag der Grünen - Stichwort Menschenrechte - stimmen wir selbstverständlich zu; denn er deckt sich in weiten Teilen, wenn auch nicht in jedem Detail, mit unseren Vorstellungen. Das gilt auch für den Antrag zum Rüstungsexportbericht, den wir eigentlich gemeinsam einbringen wollten und der es wert gewesen wäre, in den nächsten Wochen im Rahmen einer eigenen Debatte hier behandelt zu werden. ({7}) Bei den 16 Anträgen der Linken enthalten wir uns, ({8}) weil wir diese Art der Rüstungsexportdebatte für wenig systematisch und zielführend halten. Eine solche auf Momentaufnahmen und Einzelanlässe bezogene Außenpolitik wird der Problematik, mit der wir es hier zu tun haben, nicht gerecht. ({9}) Wenn wir böswillig wären, Frau Enkelmann, dann würden wir Sie fragen: Dürfen wir dann in alle Länder, die Sie in Ihren 16 Anträgen nicht nennen, womöglich liefern? ({10}) Aber wir sind nicht böswillig.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deswegen werden wir Ihre Anträge nicht ablehnen und uns nicht dem Verdacht aussetzen, wir wären für Waffenlieferungen nach Nordafrika und in die anderen genannten Länder.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich bin bei meinem letzten Satz. Gerade heute brauchen wir ein klares Signal, dass es keine Liberalisierung und Aufweichung der Rüstungsexportpraxis geben darf. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der nächste Redner ist der Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Anträge von der SPD und den Grünen vorliegen. Es gibt auch eine Inszenierung; das sind die 16 Anträge von der Linken. ({0}) Es handelt sich deshalb um eine Inszenierung, weil Sie eine Wirkung erzielen wollen, die dem, was dahintersteht, gar nicht entspricht. Sie wollen nämlich den Eindruck erwecken, Deutschland habe die arabischen Länder mit Kriegswaffen sozusagen überschüttet. Diese Informationen geben die Anträge überhaupt nicht her. Dadurch wollen Sie die Debatte über eine sinnvolle Rüstungsexportpolitik und deren Zusammenhänge überdecken. Deshalb werden, so glaube ich, diese Anträge vom Rest des Hauses zu Recht abgelehnt. Meine Damen und Herren, das Thema ist bisher Gott sei Dank nicht ganz so polemisch diskutiert worden, wie das sonst häufig der Fall ist; wenngleich Herr Barthel natürlich seiner Pflicht nachkommen musste, vergessen zu lassen, dass eigentlich alle im Hause, die an Regierungen beteiligt waren, eine Verantwortung getragen haben, die so einfach nicht zu tragen ist. Wir wissen, dass Rüstungsexporte in einem Zusammenhang stehen mit eigenen militärischen Fähigkeiten, die in einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Europa eine Rolle spielen und die auch im Bündnis eine Rolle spielen. Wir wissen auch, dass die Frage der Kooperation und der militärtechnischen Zusammenarbeit nicht unabhängig ist vom politischen Einfluss in einem Bündnis. Wir wissen, dass viele Fähigkeiten entwickelt werden, die beileibe nicht nur militärische sind. In Deutschland gibt es Schlüsselfähigkeiten - Sie haben es gesagt, Herr Barthel -, deren Zukunftschancen stärker auf der zivilen als auf der militärischen Seite liegen. Insofern ist ganz klar: Es handelt sich um einen Wirtschaftszweig, den man nicht lupenrein auf der einen oder der anderen Seite ansiedeln kann. Mir geht es jetzt noch um die Frage, wie wir weiter mit diesem Thema umgehen. Man kann es so machen wie die Linke: Man kann das Ganze populistisch-emotional angehen, man kann es auch allein unter dem Aspekt „Menschenrechte“ betreiben. Das ist eine zulässige Form der Auseinandersetzung und Kampagne. Das Recht kann Ihnen keiner nehmen. Es hilft nur nichts; denn jede Regierung muss bei jedem Begehren eines Landes, bestimmte Ausrüstungen oder Waffen zu erhalten, eine Abwägung treffen. Die Entscheidungen werden für jeden Einzelfall getroffen; sie sind nicht pauschal. Man kann sich deshalb nicht davor drücken, ({1}) sich klarzumachen, dass es in jedem dieser Einzelfälle - in einer ganz konkreten Situation - gilt, sowohl bündnispolitische als auch sicherheitspolitische, diplomatische, aber natürlich auch menschenrechtspolitische Gesichtspunkte in Einklang zu bringen. Diese Gesichtspunkte sind aber nicht immer in Einklang zu bringen. Was mich heute dazu bringt, den SPD-Antrag abzulehnen und das auch meiner Fraktion zu raten, ist, dass dieser Antrag aus einer Haltung heraus geboren ist, die das Motto vertritt: Wir machen es jetzt ganz anders; alles, was wir vorher gesagt haben, interessiert uns jetzt nicht mehr. Ich möchte den Kollegen in allen Fraktionen noch etwas zum durchaus berechtigten Geheimhaltungsprinzip im Bundessicherheitsrat sagen: Nach meiner Auffassung kann man nicht jede Debatte, die sich mit anderen Ländern beschäftigt, öffentlich führen. Jeder weiß, dass das nicht geht. Wir tagen beispielsweise im Auswärtigen Ausschuss deshalb nichtöffentlich, weil wir genau wissen, dass es notwendig ist, solche Räume zu haben. Ich habe insofern nichts gegen die Nichtöffentlichkeit des Bundessicherheitsrates. Vielmehr halte ich sie für eine wesentliche Voraussetzung, um alle Informationen auf den Tisch zu legen und bestimmte Abwägungen überhaupt vornehmen zu können und nicht nur nach der öffentlichen Einschätzung handeln zu müssen. Wenn ich dann aber fast wörtliche Abläufe von Sitzungen des Bundessicherheitsrates in der Presse lese und wenn ich das Gefühl habe, dass diejenigen, die dort entscheiden, sich auf der einen Seite auf die Geheimhaltung berufen, auf der anderen Seite aber von den Abgeordneten, die der Mehrheit angehören, verlangen, diese Entscheidung zu vertreten, ({2}) dann ist das für einen Parlamentarier - unabhängig davon, in welcher Fraktion er sitzt - schwer erträglich. ({3}) Ja. Es ist doch ganz einfach, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Bundestag und die Bundesregierung sind auch in Bezug auf andere Bereiche der Meinung, dass es besser ist, bestimmte Dinge unter Geheimschutz zu behandeln. Dennoch ist es möglich, das Parlament zu informieren. Ich weiß das aus den Gremien, in denen das der Fall ist. Bisher ist nur in den allerseltensten Fällen etwas an die Öffentlichkeit gelangt. Ich meine, dass wir eine Debatte dazu führen müssen. Denn mit der Rolle des Parlaments ist es nur sehr schwer vereinbar, die derzeitige Situation unverändert zu lassen. ({4}) Ich sehe, dass sowohl bei meiner Fraktion als auch bei den Kollegen der FDP nicht alle klatschen. Ich glaube dennoch, dass man beide Seiten betrachten muss. Schließlich geht es darum, die Akzeptanz für notwendige Exporte aufrechtzuerhalten. Das Problem ist, dass immer nur eine Debatte zur emotionalen Seite der Auseinandersetzung geführt wird. Die eigentlichen Interessen Deutschlands und die Begründungen für die Exporte werden dagegen nicht öffentlich diskutiert. Da stimmt das Verhältnis nicht. Das ist vor allen Dingen in parlamentarischer Hinsicht nicht zu akzeptieren. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jan van Aken spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Amnesty International hat vor zwei Tagen diesen Bericht über Waffenexporte an arabische Länder vorgelegt. Ich kann Ihnen wirklich nur wärmstens empfehlen, ihn einmal anzuschauen. ({0}) Der Bericht erinnert uns ganz drastisch daran, worum es hier tatsächlich geht: Es geht um Tod, um Zerstörung und um tausendfaches Leid. In dem Bericht wird zum Beispiel ein Bild eines Demonstranten in Ägypten gezeigt, der von Kugeln zersiebt auf der Straße liegt. Es wird auch berichtet, wie in Bahrain, in Syrien, natürlich in Libyen und in Ägypten Tausende von Menschen, die für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind, getötet wurden, und zwar von Waffen, die aus Europa, den USA und Russland geliefert worden sind. Deutschland war, was diese Lieferungen angeht, ganz vorne mit dabei - an vorderster Front sozusagen. Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen zu den deutschen Rüstungsexporten der letzten zehn Jahre nennen: Genehmigungen für Exporte von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien in Höhe von 675 Millionen Euro, nach Bahrain in Höhe von 22 Millionen Euro, in den Jemen in Höhe von 12 Millionen Euro und nach Ägypten in Höhe von 268 Millionen Euro. Insgesamt haben Sie Exporte in Höhe von sage und schreibe 3,5 Milliarden Euro in die Länder im Nahen Osten und Nordafrika genehmigt. Ich finde das unerträglich. ({1}) Das sind alles Länder, von denen Sie genau wussten, dass sie die Menschenrechte verletzen und sich in einer Kriegs- und Krisensituation befinden. Es gibt in diesem Bericht einen Lichtblick: Laut Amnesty International haben einige Länder wie Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie weitere europäische Länder die Waffenexporte nach Bahrain eingestellt, weil die Demokratiebewegung dort so brutal niedergeschossen wurde. Was aber macht die Bundesregierung? Was macht Herr Westerwelle? Sie entscheiden, zusätzliche 200 Panzer nach Saudi-Arabien zu schicken. Sie haben nichts, aber überhaupt gar nichts aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. ({2}) Wir wollen es heute anders machen. Wir wollen, dass endlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wird. Deswegen haben wir 16 Anträge vorgelegt, durch die die Waffenexporte in 16 Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas endgültig gestoppt werden sollen. Sie können sich heute entscheiden, ob Sie wirklich weiterhin Waffen an Menschenrechtsverletzer liefern wollen, oder ob Sie das nicht wollen. Sollten Sie sich wirklich dafür entscheiden, weiterhin an diese Länder zu liefern, würde ich zu gern einmal hören, wie Sie das Ihren Wählerinnen und Wählern erklären wollen. Denn die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ist gegen Rüstungsexporte. Das Meinungsforschungsinstitut Emnid hat vor zwei Wochen eine Umfrage gemacht, die ergeben hat, dass sich 78 Prozent der Menschen - mehr als drei Viertel der deutschen Bevölkerung - grundsätzlich gegen jede Art von Rüstungsexporten aussprechen. Das geht quer durch die ganze Bevölkerung. Das gilt auch für die Wählerinnen und Wähler der CDU/CSU und FDP; denn von denen sind auch 70 Prozent gegen jede Art von Rüstungsexporten. ({3}) Wenn Sie schon nicht auf Ihre eigene Moral hören, dann hören Sie wenigstens auf die Leute, die Sie in den Bundestag gewählt haben! Lehnen Sie die Rüstungsexporte endlich ab! ({4}) Amnesty International spricht sehr deutlich und richtig von einem totalen Versagen der Rüstungsexportkontrollen. Da muss man sich doch fragen, woran es liegt. Ich möchte Ihnen dazu eine sehr erhellende Episode aus dem Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ des Bundestages erzählen. Anfang des Jahres, mitten im arabischen Frühling, gab es natürlich sehr kritische Nachfragen, übrigens auch von einem Abgeordneten der Union, wie es denn sein könne, dass deutsche Sturmgewehre an den Diktator Mubarak geliefert worden sind. Die lapidare Antwort der Bundesregierung war: „Es gab außenpolitische Interessen, die gegen die Menschenrechtsbedenken abgewogen wurden. Am Ende wogen die außenpolitischen Interessen schwerer. Deswegen wurde geliefert.“ Genau das ist das zentrale Problem der deutschen Rüstungskontrolle: ({5}) Die deutschen Rüstungsexporte werden nicht kontrolliert, sondern allenfalls verwaltet. ({6}) Es gibt zwar die viel zitierten Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Da steht sehr viel Gutes drin. Es wird von „Menschenrechten“, „Frieden“ und „nachhaltiger Entwicklung“ gesprochen, aber eben auch vom „außenpolitischen Interesse“. In der Praxis - das sehen wir immer wieder - verlieren die Menschenrechte jedes einzelne Mal gegen die außenpolitischen Interessen. Deshalb fordern wir von der Linken: Die unverbindlichen Politischen Grundsätze reichen nicht aus; wir brauchen gesetzliche Verbote. ({7}) Ich möchte Ihnen heute drei Vorschläge für sehr konkrete Verbote machen, mit denen wir es endlich schaffen würden, die Flut der deutschen Waffen in der Welt zumindest ein wenig einzudämmen: Der erste Vorschlag: kein Export von Kleinwaffen. Kleinwaffen sind keine niedlichen, kleinen Handtaschenrevolver, sondern Sturmgewehre und Maschinenpistolen, die Kalaschnikows, die deutschen G 36 und wie sie alle heißen. ({8}) Es gibt aus meiner Sicht drei extrem gute Gründe, den Export von Kleinwaffen grundsätzlich zu verbieten: Erstens. Kleinwaffen sind die tödlichsten Waffen der Welt. Kofi Annan hat sie einmal als Massenvernichtungswaffen bezeichnet, weil sie tatsächlich massenhaft töten. In den Kriegen dieser Welt gibt es mehr Tote durch Kleinwaffen als durch jede andere Waffenart. Zweitens. Wenn die Kleinwaffen einmal exportiert sind, hat man null Kontrolle. Weil sie relativ klein sind, werden sie von einem Land ins nächste verschoben; von Krieg zu Krieg gehen sie um die Welt und werden überall zum Töten eingesetzt. Nur ein Beispiel: Sie alle wissen, dass im August dieses Jahres deutsche Sturmgewehre vom Typ G 36 in Libyen gefunden wurden. Offiziell sind sie nie dorthin geliefert worden - nicht von der Firma und nicht von der Bundesregierung -, aber trotzdem tauchten sie dort auf. Wir beobachten das: Jedes Mal, wenn in den letzten Monaten und Jahren auf der Welt ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen ist, haben wir uns die Fernsehbilder und die Fotos angeschaut, und jedes einzelne Mal haben wir dort deutsche Waffen gesehen. Das muss doch endlich einmal aufhören. ({9}) Drittens. Aus meiner Sicht ist das gewichtigste Argument dafür, endlich alle Exporte von Kleinwaffen zu verbieten: Sie zeigen besonders deutlich, dass das bisherige System der Rüstungsexportkontrolle einfach nicht funktioniert. Ich habe Ihnen hier eine Grafik mitgebracht. Auf dieser Grafik sehen Sie die Exporte von deutschen Kleinwaffen und deutscher Kleinwaffenmunition unter den letzten vier Regierungen, in den letzten vier Legislaturperioden. Das fängt mit der Regierung Kohl - Schwarz-Gelb - an, dann folgen die beiden rotgrünen Regierungen, dann die Große Koalition. Jedes Mal hat die jeweilige Regierung mehr Kleinwaffen und -munition in alle Welt verkauft als die Vorgängerregierung. Ich denke, das müsste gerade Ihnen von SPD und Grünen zu denken geben. Denn Sie haben 1999 das Problem der Waffenexporte erkannt und deswegen die Politischen Grundsätze eingeführt, und trotzdem wurden am Ende mehr und mehr und mehr Kleinwaffen in alle Welt exportiert. Es reicht eben nicht, sich an der Regierungsspitze zu wünschen, dass die Zahl der Exporte sinkt; denn im Alltag wird dann doch in der Verwaltung jeder einzelne Antrag angenommen, abgestempelt, abgenickt und abgelegt. Sie verhindern nichts, wenn Sie nicht tatsächlich ein echtes Verbot aussprechen. Das Wünschen allein reicht nicht; wir brauchen hier ein Verbot. ({10}) Das zweite Verbot, das wir vorschlagen: kein Export von Waffenfabriken. Ich war vor zwei Wochen in SaudiArabien, um mir da eine Reihe von deutschen Rüstungsprojekten anzuschauen; davon gibt es dort leider ziemlich viele. Eines der Projekte ist eine deutsche Waffenfabrik, die gerade von der deutschen Firma Heckler & Koch südlich von Riad aufgebaut wird. Ende nächsten Jahres wird diese Fabrik das hochmoderne deutsche Sturmgewehr G 36 produzieren können. Ab dem Moment haben Sie überhaupt keine Kontrolle mehr: Wie viele dieser Waffen werden produziert? Wohin werden sie geliefert? Sie werden im Internet schon zum Verkauf angeboten. Wer wird irgendwann irgendwo auf der Welt jemanden damit töten? Das lässt sich gar nicht mehr kontrollieren, wenn man einmal die Technologie aus der Hand gibt. Wenn man einmal die Fabrik in Saudi-Arabien aufbaut, ist die Kontrolle vorbei. Da hilft nur, von vornherein keine Waffenfabriken mehr zu exportieren. Punkt. ({11}) Drittens. Es darf keine Waffenexporte an Menschenrechtsverletzer und in Krisengebiete geben. Genau deshalb haben wir heute die 16 Anträge vorgelegt. Wir fordern, in diese Region, die für Menschenrechtsverletzungen und als Kriegsgebiet bekannt ist, keine Waffen mehr zu liefern. Auch hier reichen die politischen Grundsätze nicht aus. Das Ganze muss Gesetz werden. In einem Antrag der Grünen wird das erstmals gefordert. Ich finde, das ist ein guter Ansatz. Deswegen werden wir diesem Antrag der Grünen auch zustimmen. Ich würde mir nur wünschen, dass Sie aus Ihrer eigenen Geschichte lernen und endlich ein komplettes Kleinwaffenexportverbot und ein Waffenfabrikexportverbot beschließen würden. ({12}) Ich möchte die Frage stellen, warum heute niemand von der Regierung zu diesem Thema spricht. Dafür wird ein Herr Lindner von der FDP in die Bütt geschickt, der sowas von gar keine Ahnung von Waffenexporten hat, dass es mich immer wieder schüttelt. ({13}) Nur zwei Beispiele aus Ihrer Rede.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr van Aken, Sie haben noch drei Sekunden Zeit, um die Zwischenfrage von Herrn Gysi zuzulassen. Möchten Sie das ?

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Von Herrn Gysi? - Ja, die lasse ich zu. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr van Aken, es wird von den anderen Rednern so getan, als ob man insgesamt gegen die Rüstung in alle von uns genannten Staaten stimmen müsste. Besteht nicht die Möglichkeit, dass jede Abgeordnete und jeder Abgeordneter zu jedem Staat eine Haltung einnimmt und beispielsweise sagt: Nach Bahrain keine Waffenexporte, in andere Länder schon. - Gibt es diese Möglichkeit? Warum wird davon kein Gebrauch gemacht, ({0}) sondern pauschal gesagt: „Wir verkaufen weiterhin Rüstungsgüter“?

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist eine suggestive Frage, die ich natürlich mit Ja beantworte. ({0}) Sie alle haben es individuell in der Hand, auch Sie, Herr Fritz. Sie müssen nicht mit Ihrer Fraktion stimmen. Sie können gegen Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien stimmen. Zeigen Sie heute endlich einmal Mumm und sagen Sie Nein zu Rüstungsexporten. ({1}) Ich wurde unterbrochen bei meiner Kritik an Herrn Lindner.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie wurden unterbrochen, aber sozusagen schon jenseits der Redezeit.

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber ich habe doch eine Frage beantwortet.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Zeit habe ich auch gestoppt. Alles ist gut. Trotzdem ist Ihre Redezeit zu Ende.

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Lindner hat es wirklich verdient; denn er führt aus: Es ist völlig ausgeschlossen, dass es eine Parlamentsbeteiligung bei der Frage von Rüstungsexporten gibt. - Fahren Sie doch einmal in die USA! Dort gibt es das. Wieso ist in Deutschland ausgeschlossen, was in Washington möglich ist? ({0}) Sie haben keine Ahnung, Herr Lindner. Ein zweiter Punkt, der mir wichtig ist. Beim Panzerdeal mit Saudi-Arabien tun Sie so, als ob der eigentliche Gegner der Iran ist. Ich war in Saudi Arabien. Ich habe dort mit vielen hohen Politikern und Generälen gesprochen. Sie haben keine Vorstellung, was für eine IsraelHetze ich da zu hören bekommen habe. Das ist unfassbar.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr van Aken?

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ein hoher Politiker hat ein Gespräch mit einer vollen Breitseite gegen Israel begonnen, und Sie wollen uns hier weismachen, der Gegner wäre der Iran.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr van Aken?

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ihr Panzerexport ist ein riskantes Manöver gegenüber Israel. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland gar keine Waffen mehr exportieren sollte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Im Übrigen ist die Zeit jetzt mehr als abgelaufen.

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber dafür habe ich jetzt leider keine Zeit mehr. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für Bündnis 90/ Die Grünen.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Linken durchaus dankbar, dass sie die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung wieder einmal auf die Tagesordnung hat setzen lassen. Auch wir Grünen sind der Meinung, dass die aktuelle Genehmigungspraxis weder mit der Rüstungsexportrichtlinie noch mit dem Gemeinsamen Standpunkt der EU in Einklang zu bringen ist. Die Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern haben die Grünen im Jahr 2000 auf den Weg gebracht. Seitdem sind wenigstens auf dem Papier die Menschenrechte als maßgebliches Kriterium bei der Genehmigung von Rüstungsexporten festgeschrieben. Erstaunlicherweise berufen sich sowohl die jetzige Bundesregierung als auch die Linken in ihren Anträgen auf diese Grundsätze. Nicht hinnehmbar aber ist, dass die Bundesregierung diese Grundsätze schlicht missachtet. Sie missachtet sie so schamlos, weil niemand sie kontrolliert. ({0}) Auch die radikale Forderung der Linken nach einem totalen Exportverbot für alle wird daran nichts ändern, wenn wir der Regierung weiterhin erlauben, im Geheimen zu agieren. ({1}) Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, Jan van Aken, dann müssen wir Parlamentarier endlich Wege finden, wie wir die Regierung in diesem Bereich effektiv kontrollieren. Diese Aufforderung richtet sich natürlich auch an die andere Seite des Hauses. Auch als Mehrheitskoalition ist es Ihre Aufgabe, die Bundesregierung zu kontrollieren. Gerade haben wir im Rahmen der Euro-Krise viel über parlamentarisches Selbstbewusstsein gehört. Und was ist hier? Wenn sich die Bundesregierung nicht mehr bemüßigt fühlt, sich an die geltenden Grundsätze zu halten, weil sie alles geheim hält und sich damit jeder Kontrolle entzieht, dann versagen Sie, dann versagen wir alle als Parlament bei unserer wichtigsten Aufgabe. ({2}) Es sollte uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg empören, dass wir auf Recherchen des Spiegels angewiesen sind, um zu erfahren, welche Beweggründe die Regierung veranlasst haben, Kampfpanzer nach Saudi-Arabien zu exportieren. Ich habe nichts dagegen, wenn sich acht Minister zu einem Gespräch treffen und über den Inhalt ihres Gesprächs Stillschweigen vereinbaren. Wenn sie aber dann auf der Grundlage dieses Gesprächs eine exekutive Entscheidung treffen, ({3}) dann muss die Regierung uns als Parlament nicht nur mitteilen, was für eine Entscheidung sie getroffen hat, sondern auch begründen, warum sie so und nicht anders entschieden hat. ({4}) Wenn dabei industriepolitische oder beschäftigungspolitische Gründe eine Rolle gespielt haben, dann muss die Regierung das eben vorbringen. Oder schämen Sie sich etwa für Ihre Beweggründe? Herr Brandl, wissen Sie eigentlich, dass im Ursprungsland der sogenannten Westminster-Demokratie vierteljährlich alle Genehmigungen bekannt gemacht und öffentlich in einem parlamentarischen Gremium diskutiert werden? Am heutigen Tag, etwa zur gleichen Zeit, findet im britischen Parlament wieder einmal eine öffentliche Debatte darüber statt, diesmal über den Exportbericht des zweiten Quartals 2011. Und wir warten noch immer auf den Exportbericht für das Kalenderjahr 2010! Wissen Sie, dass dieser britische Parlamentsausschuss durch die Auflistung aller Genehmigungen für Exporte in die Länder des arabischen Frühlings seit 2009 die Regierung veranlasst hat, 160 dieser Genehmigungen entschädigungsfrei zu widerrufen? ({5}) Wie viele Genehmigungen hat denn die Bundesregierung widerrufen? Hier ist die Antwort - ich zitiere -: Die Bundesregierung hat keine Genehmigung über die Ausfuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in arabische Länder aufgrund der Ereignisse des sogenannten arabischen Frühlings widerrufen. - Wir wissen nicht einmal, was es zu widerrufen gibt. Nur aus den Medien wissen wir inzwischen, dass die Voranfrage für die Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien am 27. Juni genehmigt wurde. Die endgültige Entscheidung steht bei der nächsten Sitzung zum Jahresende an. Ich fordere die Regierung daher heute noch einmal auf: Lehnen Sie diesen Export ab! ({6}) Und behaupten Sie nicht, der Voranfrage käme Bindungswirkung zu! Wir wissen: Selbst abschließende Genehmigungen haben nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz keinen Bestandsschutz und können jederzeit widerrufen werden. Damit dieses Versteckspiel endlich ein Ende hat, fordern wir mit unserem heutigen Antrag quartalsweise Informationen von der Bundesregierung, und zwar vollständige Informationen. Wir wollen auch die Zahlen über die tatsächlichen Rüstungsausfuhren, nicht nur die Genehmigungszahlen. Wir wollen die Aufschlüsselung der Sammelausfuhr- und Allgemeingenehmigungen sowie Angaben über bestehende Produktionslizenzen, Bürgschaften und sogenannte Offsetgeschäfte. Erst dann haben wir international vergleichbare Daten, die wir analysieren und zeitnah debattieren können. Das Parlament muss frühzeitig und rechtzeitig in den Entscheidungsprozess über Rüstungsexporte einbezogen werden. ({7}) Mit unserem zweiten Antrag, über den wir heute ebenfalls abstimmen werden, fordern wir eine stärkere Berücksichtigung der Menschenrechte in den Empfängerländern, und zwar so, wie es der Wortlaut der Exportrichtlinie eigentlich vorsieht; denn auch jenseits von Saudi-Arabien ist keine Kohärenz zwischen der Rüstungsexportpolitik und dem Menschenrechtsbericht der Bundesregierung zu erkennen. Jedes Mal, wenn wir die Bundesregierung in unseren Fragen damit konfrontieren, heißt es, die Entscheidung für einen Exportantrag werde im Einzelfall getroffen. Soll heißen: Die Lage in einem Empfängerland ist nicht im Allgemeinen, sondern nur im Hinblick auf die konkrete Waffe ein Kriterium. Da, Herr Kollege Fritz, bin ich nicht mit Ihnen einer Meinung. Diese Argumentation ist nicht haltbar. Wenn die Bundesregierung ausreichend Kenntnisse darüber hat, dass in einem Empfängerland innere Repression oder schwere Menschenrechtsverlet15672 zungen drohen, dann muss sie dies bei ihrer Entscheidung berücksichtigen. ({8}) Für Kriegswaffen, die ohnehin nur im Ausnahmefall an Drittstaaten geliefert werden dürfen, heißt das faktisch den konsequenten Ausschluss solcher Exporte. Das betrifft in der Tat die meisten der hier genannten 16 Länder, ohne deswegen alle von Marokko bis Saudi-Arabien über einen Kamm scheren zu wollen. Ich würde noch weiter gehen und fordern, dass in diesen Fällen auch der Genehmigungsanspruch für den Export von sonstigen Rüstungsgütern aufgehoben werden muss. Aber: Die völlig Gleichstellung von Kriegswaffen mit sonstigen Rüstungsgütern, wie sie die Linke in ihren Anträgen vornimmt, halte ich für kontraproduktiv. ({9}) Es macht nämlich durchaus einen Unterschied, ob es sich um den Export von Kriegswaffen wie Panzer oder Maschinengewehre handelt oder zum Beispiel um Minenräumgeräte und Schutzwesten. Nicht umsonst bezieht sich unser Grundgesetz in Art. 26 ausdrücklich auf Kriegswaffen. Sie differenzieren weder zwischen den einzelnen Ländern noch zwischen Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Deshalb werden auch wir uns nicht die Mühe machen, zu differenzieren, und uns zu allen Ihren 16 Anträgen enthalten. ({10}) Für Syrien, Libyen, Tunesien und Ägypten fordert die Linke sogar einen Exportstopp, obwohl bereits ein geltendes Waffenembargo besteht. „Endgültig“ soll dann wohl heißen, dass auch die weitere politische Entwicklung keine Rolle spielen soll. Das finde ich wirklich wenig überzeugend. ({11}) Überzeugend ist das nur für die, die ohnehin ein totales Verbot von Rüstungsgütern fordern, auch wenn es um Schutzwesten oder Sanitätsfahrzeuge geht, und zwar für immer und überall. ({12}) Das heißt konsequenterweise auch: Abschaffung der Bundeswehr und Austritt aus der NATO. Das ist doch in Wirklichkeit Ihre Position. ({13}) Der arabische Frühling spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Aber da machen wir nicht mit. ({14}) Wir stehen zum staatlichen Gewaltmonopol und zum Gewaltmonopol der UNO. Deshalb können wir Waffen zur Durchsetzung des Gewaltmonopols auch nicht grundsätzlich verbieten. ({15}) Was wir aber tun müssen, ist, die Verbreitung von Waffen so gering wie möglich zu halten. Dazu brauchen wir einerseits internationale Vereinbarungen, aber nicht zuletzt auch strenge nationale und vor allem europäische Kontrollen. Das trifft natürlich die deutschen Herstellerfirmen. Die Rüstungsbranche wird aber ohnehin umrüsten und abrüsten müssen; denn EU- und NATO-Staaten werden nicht mehr wie bisher als Abnehmer zur Verfügung stehen. Unser Verteidigungsminister hat gestern bekannt gegeben, dass er 42 Hubschrauber NH-90, 125 Kampfpanzer und 60 Transportpanzer weniger anschaffen will. Der Bestand von Eurofightern und Kampfhubschraubern soll erheblich verringert werden. Das ist gut so. Wir können aber nicht zulassen, dass alles, was europäische Staaten in der Krise im Militärhaushalt einsparen, in Spannungsgebiete wie Indien und Pakistan oder auf die arabische Halbinsel geliefert wird. ({16}) Wir dürfen nicht die Exportkriterien aufweichen, um den Haushalt zu konsolidieren. Besser als die Forderung nach Totalverboten ist aus Sicht meiner Fraktion die Beendigung der Geheimniskrämerei und die Herstellung von Transparenz im Genehmigungsverfahren; denn die schärfste Norm nützt nichts, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert wird. Vielen Dank. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Rainer Stinner das Wort. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe hier im Raum aufseiten der Opposition vier ehemalige Regierungsmitglieder, Frau Ministerin a. D. Wieczorek-Zeul, Frau Ministerin a. D. Bulmahn, Frau Staatsministerin a. D. Müller und Herrn Staatsminister a. D. Gloser. Sie alle haben in Ihrer Regierungszeit vor denselben Problemen gestanden, vor denen die heutige Bundesregierung und die jetzt aktiv Handelnden stehen. Sie hatten Anfragen zu Rüstungsexporten vorliegen, und Sie haben sich die Mühe gemacht, diese Anfragen in jedem Einzelfall zu prüfen. Bei einem großen Teil der Anfragen haben Sie sich dafür entschieden, die Anfrage positiv zu bescheiden. Niemand von uns hat jemals unterstellt, dass Sie sich dabei nicht die nötige Mühe gemacht haben. Bitte gehen Sie davon aus, dass die heute Handelnden sich dieselbe Mühe machen. ({0}) Sie haben natürlich auch Rüstungsexporten in kritische Länder zugestimmt. Ich gehe davon aus, dass Ihre Begeisterung bei Rüstungsexporten in einige Länder schon damals eingeschränkt war. Sie können davon ausgehen, dass das den heute Handelnden ganz genauso geht, wie es Ihnen damals gegangen ist. Herr Barthel hat das, was Sie getan haben, als Fehler bezeichnet. Er ist leider nicht mehr da. ({1}) - Er ist doch noch da. - Ihr Kollege Barthel hat Sie beschuldigt, Fehler gemacht zu haben. Jetzt fordert er uns auf, diese nicht zu begehen. Sie sollten intern darüber ins Reine kommen, ob das, was Sie damals gemacht haben, fehlerhaft war.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie die Frage des Kollegen Ströbele zulassen?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Herr Ströbele ist mir lieb und teuer, aber da er von seiner eigenen Fraktion seit Jahren keine Redezeit mehr bekommt, denke ich nicht daran, ihm jedes Mal Redezeit zu gewähren. ({0}) Die Rüstungsexportrichtlinien sind eindeutig. Sie besagen: Wenn nicht in verbündete Staaten wie EU- und NATO-Staaten oder ihnen gleichgestellte Staaten wie Neuseeland und Japan geliefert wird, dann gilt Folgendes - ich lese das einmal vor, weil das sehr deutlich ist -: Der Export von Kriegswaffen … wird nicht genehmigt, es sei denn, dass im Einzelfall besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung der Bündnisinteressen für eine ausnahmsweise zu erteilende Genehmigung sprechen. ({1}) Das ist eine klare Sprache.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Frau Wieczorek-Zeul würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne, bitte schön.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte, Frau Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte eine Zwischenbemerkung machen, ({0}) was nach der Geschäftsordnung möglich ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Auch Zwischenbemerkungen sind erlaubt, und der Redner kann dann darauf reagieren.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So ist es.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben angesprochen, wer dem Bundessicherheitsrat angehört hat und Entscheidungen getroffen hat. Ich möchte auf einige Punkte hinweisen. Erstens. Sie können nicht all das, was in den Zeiten vorher, auch in den Zeiten der Großen Koalition, stattgefunden hat, mit der katastrophalen Entscheidung, 200 Kampfpanzer an Saudi-Arabien zu liefern, vergleichen; das ist unvergleichbar. ({0}) Bitte stellen Sie das nicht in einen Kontext. ({1}) Das ist der eine Punkt. ({2}) Zweitens. Es hat immer unterschiedliche Entscheidungen gegeben, übrigens auch Mehrheitsentscheidungen. Ich bin gerne bereit - Sie sprechen ja immer mich an -, die Bundeskanzlerin aufzufordern, mich von der Geheimhaltungspflicht zu entbinden, damit ich deutlich machen kann, wie sich Ihre Kollegen in diesen Fragen teilweise verhalten haben. Drittens. Wir haben eine andere Situation. Wir haben ja jetzt Veränderungen im arabischen Raum. Früher gab es die Vorstellung, eine Stabilisierung Ägyptens und anderer Länder sei hilfreich. Ich lege Wert darauf, deutlich zu machen, dass ich immer die Position vertreten habe, dass man solche Länder nicht beliefern darf, weil es Spannungsgebiete sind und dort die Menschenrechte verletzt werden. ({3}) Außerdem haben wir durch den arabischen Frühling gelernt, welche katastrophalen Auswirkungen Stabilisierungspolitik in der von mir beschriebenen Form haben kann. Deshalb stelle ich Ihnen die Frage: Haben auch Sie daraus gelernt und Ihre Position verändert? Nein, das Gegenteil ist der Fall. Sie wollen jetzt noch zur Unterdrückung der dortigen Bevölkerung 200 Kampfpanzer nach Saudi-Arabien liefern. Das halte ich für unerträglich. ({4})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Kollegin, ich habe bewusst nicht Sie alleine angesprochen, sondern die Handelnden in der damaligen Regierung. Ich bin davon ausgegangen - hoffentlich auch zu Recht -, dass Sie, alle vier, die ich angesprochen habe, ({0}) sich damals sehr wohl intensiv Gedanken gemacht haben und nach der Abwägung der Pros und Kontras zu dem Schluss gekommen sind, die Rüstungsexporte zu genehmigen. Mehr habe ich hier im Augenblick nicht angesprochen. Es sind jeweils Einzelentscheidungen. Die Genehmigungen müssen die verschiedenen Aspekte berücksichtigen. Der Export von Rüstungsgütern hat sehr wohl - das ist natürlich ohne jeden Zweifel - Auswirkungen in der Region. Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass auch der Nichtexport von Rüstungsgütern Auswirkungen haben kann. Dies ist in jedem Einzelfall abzuwägen. Hier ist die Bundesregierung exekutiv verantwortlich - das ist gar keine Frage -, aber die Arbeitsteilung funktioniert nicht, dass wir hier im Parlament für das Gute und Schöne dieser Welt zuständig sind - speziell dann, wenn man in der Opposition ist - und dass die Grauzone, die Interessenvertretung und die schwierige Abwägung, also die unangenehmen Entscheidungen, ausschließlich bei der Bundesregierung liegen. Nein, auch wir Parlamentarier müssen uns mit diesen Themen inhaltlich auseinandersetzen, und das tun wir. ({1}) Das tun auch Sie; das ist wunderbar. Ich habe nichts gegen die Debatte, die Sie hier führen, aber, Herr Barthel, bei Ihnen habe ich einige Widersprüche festgestellt. Sie sagten, dass auch Sie für Beschäftigung sind. Ich gehe davon aus, dass mit Ausnahme der Linken alle übrigen vier Parteien dafür sind, dass die Bundeswehr nach wie vor existiert. Eine Bundeswehr ohne Waffen ist relativ sinnfrei, also wird die Bundeswehr auch in Zukunft mit Waffen auszustatten sein. Die Bundeswehr schrumpft. ({2}) Die Frage, die wir uns stellen müssen, Herr Barthel - diese Frage müssen Sie sich genauso stellen, wie ich und meine Kollegen sie sich stellen müssen -, lautet: Sind wir der Meinung, dass es sinnvoll ist, dass die Bundeswehr in Zukunft ausschließlich mit Importwaffen ausgerüstet wird, oder sind wir der Meinung, dass es sinnvoll ist, dass wir auch in Zukunft in Deutschland eine wehrtechnische Industrie haben, die auch die Bundeswehr ausrüstet? ({3}) Der Teil des Hauses, der die Koalition bildet, kommt zum heutigen Tage jedenfalls zu dem Schluss, dass die Aufrechterhaltung einer wehrtechnischen Industrie in Deutschland durchaus in unserem eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interesse ist; sie ist also nicht nur, aber auch in unserem wirtschaftlichen Interesse. ({4}) Herr Barthel, Sie kommen aus dem schönen Ort Kochel am See. ({5}) Ich kann aber nicht davon ausgehen, dass in Zukunft auf dem schönen Kochelsee deutsche U-Boote eingesetzt werden können oder dass der Gemeinderat von Kochel deutsche U-Boote einsetzt. ({6}) Von daher müssen wir uns schon überlegen, wohin wir diese U-Boote verkaufen können. ({7}) Meine Damen und Herren, wir müssen jeweils eine Abwägungsentscheidung treffen. Ich rege an, dass wir uns über die Zielkonflikte und Interessenkonflikte, die es ohne Zweifel gibt, im Parlament intensiv auseinandersetzen. Aber für das Handeln ist die Exekutive zuständig. Wir haben großes Vertrauen, dass diese Bundesregierung in ähnlicher Offenheit und vor allen Dingen mit ähnlicher Gewissenhaftigkeit handelt, wie es die vergangenen Regierungen getan haben. Insofern besteht für Aufregung keinerlei Anlass. Schönen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Christian Ströbele. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Stinner, Sie haben sich in unsere Fraktionsangelegenheiten eingemischt ({0}) und behauptet, ich hätte für die heutige Debatte kein Rederecht bekommen. Das ist nicht wahr. Mir ist Rederecht angeboten worden. Ich habe es aber nicht gewollt, ({1}) weil ich dachte, dass die Kollegin Keul, die in unserer Fraktion für dieses Thema federführend zuständig ist, acht Minuten Redezeit braucht, um ausführlich darzustellen, was wir mit unseren zwei Anträgen beabsichtigen. Das ist aber nicht der Grund, warum ich mich gemeldet habe. ({2}) Sie haben angekündigt, dass Sie, die FDP-Fraktion, und möglicherweise auch Teile der CDU/CSU-Fraktion, die Rolle der Grünen und von Teilen der SPD-Fraktion unter Rot-Grün einnehmen wollen. Ich finde, das ist eine sehr gute Idee. Dann fordere ich Sie aber auf: Handeln Sie so, wie wir unter Rot-Grün gehandelt haben! Auch damals ging es um eine Panzerlieferung, die von der Bundesregierung noch nicht genehmigt, aber gewollt war. Damals sollten 1 000 Panzer in die Türkei geliefert werden. In der Öffentlichkeit fanden viele Diskussionen darüber statt. Die grüne Fraktion und zahlreiche Mitglieder der SPD-Fraktion haben gesagt: Das geht nicht. Dabei machen wir nicht mit. Das darf unsere Regierung nicht machen. ({3}) Der Erfolg dieser standhaften Haltung besteht darin, dass bis heute nur einer der 1 000 Panzer geliefert worden ist, ein Demonstrationspanzer. Ich fordere Sie auf: Machen Sie bitte dasselbe, wenn es um die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien geht! Sie haben dafür viel mehr Gründe, als wir sie hatten, als es damals um die Panzerlieferungen in die Türkei ging. Stehen Sie auf, seien Sie mann- und frauhaft und sagen Sie: Bundesregierung, das ist unmöglich. Das ist ein Verrat an den Prinzipien, auf die sich die Fraktionen und Regierungen geeinigt haben. Das wäre ein grober Verstoß gegen die Menschenrechte. - Stehen Sie auf, halten Sie durch, und fordern Sie Ihre Regierung auf, diese Panzerlieferungen endgültig zu stornieren! ({4}) Oder wollen Sie, dass Ihr Außenminister nach all dem, was man ihm schon jetzt vorwirft, eines Tages nach Saudi-Arabien oder nach Bahrain reisen und den Menschen klarmachen muss, warum mit Panzern, die Deutschland geliefert hat und deren Lieferung Sie zugestimmt haben, dort Demokratiebewegungen niedergewalzt und blutig niedergeschlagen worden sind? Wollen Sie, dass der Außenminister - der jetzige oder wer auch immer dann Außenminister sein mag - in eine solche Situation kommt? Das können Sie nicht wollen. Deshalb: Verhindern Sie diese Panzerlieferungen! ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Stinner, bitte, zur Erwiderung.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Herr Ströbele, vielen Dank für die Information zu Ihrem Rederecht. Ich warte dann auf weitere feurige Reden von Ihnen im Namen Ihrer Fraktion im Deutschen Bundestag in den nächsten Wochen und Monaten. Zu dem anderen Thema. Ich kann Ihnen versichern, dass wir Sie uns unter gar keinen Umständen zum Beispiel nehmen werden. Ich kann Ihnen versichern, dass wir bei unserer Linie bleiben werden: Wir werden an den Forderungen, die wir in Oppositionszeiten erhoben haben, und an dem Verhalten, das wir damals zum Thema Rüstungsexporte an den Tag gelegt haben, in unserer Regierungszeit festhalten. ({0}) Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihrem Beispiel nicht folgen werden. Sie haben große Reden gehalten. Aber Ihre Vertreter in der Bundesregierung haben sämtlichen Rüstungsexporten zugestimmt, auch denen in die kritischen Länder, um die es heute geht. Dieses Verhalten werden wir uns nicht zum Beispiel nehmen. Wir werden die schwierigen Abwägungsentscheidungen jeweils in voller Verantwortung treffen. Sie sind für uns kein Beispiel, weder heute noch morgen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Rolf Mützenich hat jetzt das Wort für die Fraktion der SPD. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, das ist eine wichtige und in weiten Teilen auch eine sehr ernsthaft geführte und angemessene Debatte. Ich danke dem Kollegen Fritz und auch anderen Kollegen, die im Rahmen der Möglichkeiten eines frei gewählten Abgeordneten immer wieder versuchen, über das hinauszugehen, was in den Fraktionen und vielleicht auch in der Koalition möglich ist. Umso überraschter war ich, als ich gestern Abend auf www.tagesschau.de ein Gespräch nachgelesen habe, das das Verteidigungsministerium mit der Rüstungsindustrie offensichtlich geführt hat. In diesem Interview antwortete der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, Herr Adamowitsch, auf Fragen des ARD-Hauptstadtstudios. Ich zitiere ihn: Klar ist, wenn weniger bestellt wird, hat das auch Konsequenzen für die Unternehmen, für den Zulieferer-Bereich und wir werden dann mit dem Vertei15676 digungsministerium auch über die Frage von Export nachdenken, wo wir sicherlich Unterstützung brauchen, aber auch zugesagt bekommen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere des Kabinetts und des Verteidigungsministeriums, erklären Sie uns heute hier im Parlament, was Sie der Rüstungsindustrie gestern Abend zugesagt haben! ({0}) Sehr geehrter Herr Kollege Kossendey, sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie belasten eine wichtige Bundeswehrreform und betreiben ein Koppelgeschäft, das weder politisch noch moralisch zulässig ist. Ich finde, Sie müssen hierzu heute noch Stellung nehmen. ({1}) Das verlangen wir und auch dieses Parlament. ({2}) Es gibt in der Tat einen unmittelbaren Zusammenhang - Herr Stinner, das ist richtig - zwischen einer demokratischen Außenpolitik, also der Außenpolitik eines demokratischen Staates, und einer transparenten Rüstungsexportpolitik. Deswegen sollten Regierung und Parlament in dieser Frage zusammenwirken. Auch ich will nicht, dass das Parlament einzelne Rüstungsgeschäfte genehmigt, ich will aber mehr Informationen. Ich will gar nicht hören, was Frau Merkel und Herr Westerwelle im Bundessicherheitsrat im Einzelnen möglicherweise gesagt haben; aber wenn die Entscheidung getroffen worden ist, dann müssen Sie hier Rede und Antwort stehen und erklären - sowohl gegenüber dem Parlament als auch gegenüber der Öffentlichkeit -, warum Sie einem so sensiblen Geschäft, wie 200 Panzer nach Saudi-Arabien zu liefern, zugestimmt haben. Deshalb haben wir heute hier erneut einen Antrag vorgelegt, mit dem wir unseren Antrag vom März wieder aufgenommen haben, worin wir beantragt haben, über die Beweggründe informiert zu werden. Wenn Sie als Bundesregierung uns über diese Beweggründe informieren müssten, dann bräuchten Sie auch nicht wieder Hilfsargumente einzuführen, die ich persönlich wirklich als hochpeinlich empfunden habe. ({3}) Die Bundesregierung hat Israel für ein Rüstungsgeschäft mit Saudi-Arabien als Argument angeführt. Das war weder der Situation noch den Herausforderungen, vor denen wir zurzeit in der arabischen Welt stehen, angemessen. Nehmen Sie dieses Rüstungsgeschäft Ende des Jahres, wenn Sie wieder darüber befinden werden, zurück! ({4}) Es geht nicht nur um Beteiligung und Begründung. Sie sollten sich insbesondere auch die Erfahrungen aus anderen Parlamenten zum Vorbild nehmen. Mehr machen wir doch auch nicht, Herr Stinner, weil auch wir Fehler gemacht haben. Wir glauben, dass die Rüstungsexportrichtlinien richtig sind, aber jetzt aufgrund der Erfahrungen der Überarbeitung bedürfen. Deshalb versuchen wir, diese Informationen zu bekommen. In Schweden, in Großbritannien, in den USA und in anderen Ländern ist das der Fall. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass Parlament und Öffentlichkeit informiert werden, fordern wir hier. ({5}) Ich glaube, das ist richtig und hilft einer demokratischen Außenpolitik weiter. ({6}) Wenn wir heute über Rüstungsexporte sprechen, dann dürfen wir meiner Meinung nach nicht nur über die Anbieterseite reden, sondern wir müssen auch über die Seite der Nachfrager diskutieren. Das betrifft insbesondere den Nahen und Mittleren Osten. Der Nahe und Mittlere Osten ist in der Tat ein Pulverfass, das nicht an zu wenig Rüstung, sondern an zu viel Rüstung leidet. Wir haben über die Panzerlieferungen gesprochen. Wir haben hier schon über den 240-Milliarden-Deal gesprochen, den die USA mit Saudi-Arabien abgeschlossen haben. Ich finde, wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa betreiben, dann müssen wir versuchen, genau das Prinzip einzuführen, das Europa sicherer gemacht hat, nämlich Abrüstung und Rüstungskontrolle. Es ist mein Angebot vonseiten der Opposition, zusammen mit den Parlamentariern und auch dieser Bundesregierung zu sagen: In dieser Region ist Vertrauensbildung notwendig, sind konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle notwendig, ist ein Frieden zwischen Israel und Palästina existenziell. Es geht nicht nur um Rüstung und Rüstungsexporte, sondern auch um Abrüstung. Beide Dinge gehören zusammen und müssen heute auf den Tisch. Das ist doch auch der Grund, warum wir so froh über das sein müssen, was junge und mutige Menschen in der arabischen Welt vorantreiben. Es geht nicht allein um Demokratie, sondern auch um freiere und gerechtere Gesellschaften. Unsere Erfahrung ist: Freiere, gerechtere, demokratischere Gesellschaften sind der Abrüstung und Rüstungskontrolle zugeneigter. ({7}) Deswegen setzen wir große Hoffnungen in das, was dort passiert. Es geht letztlich auch um Europa und um das Thema, das wir heute hier behandeln, um Rüstungsexporte. Wir als Parlament, das demokratische Außenpolitik will, haben aufgrund dieser Veränderungen die Chance, das Thema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ dort einzubringen. Es gibt dazu Initiativen in dieser Region, die langsam wachsen. Der Golfkooperationsrat hat sich dafür ausgesprochen, eine kernwaffenfreie Zone im Persischen Golf einzurichten. Unterstützen wir ihn dabei! ({8}) Ich glaube, das ist richtig. Darüber müssen wir mit den Franzosen und den Briten sprechen. Wenn die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Rahmen der Überprüfungskonferenz zum Kernwaffensperrvertrag entschieden hat, eine von Massenvernichtungswaffen freie Zone im gesamten Nahen und Mittleren Osten zu installieren, dann bedarf dies der Unterstützung dieses Parlaments, aber auch dieser Regierung. Wir werden dann nicht mehr nur über Rüstungsexporte diskutieren müssen, sondern auch darüber, dass in dieser Region weniger Rüstung insgesamt besser ist. Insofern dürfen wir diese Region nicht mit mehr Waffen ausstatten. Wenn es gelingt, Transparenz und Zurückhaltung bei Rüstungsexporten zu erreichen und das Instrument „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ einzuführen, haben wir mehr davon. Dann stärken wir eine demokratische Außenpolitik. Wir wollen dazu beitragen. Deswegen haben wir diesen Antrag vorlegt. Ich hoffe, dass Sie diesem Antrag zustimmen. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl jetzt das Wort. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Hintergrund dieser Debatte steht die mögliche Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien. Über diesen Vorgang liegen keine offiziellen Fakten vor; über ihn wird, ausgehend von der Presseberichterstattung, munter spekuliert. ({0}) Ich kann dazu nichts sagen, weil ich genauso wenig wie Sie über den Vorgang informiert bin. Diejenigen, die dazu etwas sagen könnten, die Mitglieder des Bundessicherheitsrats, dürfen dazu nichts sagen, weil sie zur Geheimhaltung verpflichtet sind. ({1}) Ich gebe Ihnen recht: Das ist eine unbefriedigende Situation. ({2}) Aber das heißt nicht, dass sich die Mitglieder des Bundessicherheitsrats niemals für ihre Entscheidungen rechtfertigen und verantworten müssen. Sollte eine solche Lieferung tatsächlich stattfinden, wird sie natürlich veröffentlicht: ({3}) erstens im jährlichen Rüstungsexportbericht - Frau Keul, ich bin mit Ihnen einig, dass dieser schneller vorliegen sollte -, zweitens über Pressemitteilungen, sofern es sich bei dem Lieferanten um ein börsennotiertes Unternehmen handelt, und drittens natürlich über die Medienberichterstattung. Eine Lieferung von Panzern oder ähnlichem Gerät lässt sich doch gar nicht geheim halten. ({4}) Es geht also nicht darum, grundsätzlich etwas zu verheimlichen. Die Frage ist, ob es tatsächlich in unserem deutschen Interesse wäre, wenn wir im Deutschen Bundestag bereits im Vorfeld eines möglichen Auftrags über das Für und Wider diskutierten, so wie es hier in Ansätzen versucht wird. Ich meine, nein. Das möchte ich auch begründen: Dadurch, dass Anfragen und Voranfragen geheim behandelt werden, behält die Regierung einen größeren Entscheidungsspielraum. Sie hat dadurch insbesondere eine größere Freiheit, auch einmal Nein zu sagen. Wenn jede Anfrage veröffentlicht würde, wäre jede Ablehnung eine öffentliche Brüskierung des betreffenden Landes. Das wäre vor allem innenpolitisch öffentlichkeitswirksam. Für jede weitere Zusammenarbeit mit dem Land und damit auch für die Möglichkeit der Einflussnahme, um dort wirklich etwas zu verändern, wäre das sicherlich nicht hilfreich. Unsere großen Partnerländer - ich nenne als Beispiel die USA - treiben es genau andersherum auf die Spitze. Sie nutzen die Lieferung von Rüstungsgütern, um Einfluss zu nehmen und Abhängigkeiten zu schaffen. Denn für jedes komplexere Waffensystem braucht ein Land für den langfristigen Betrieb die Logistik, die Wartung und die Ersatzteile vom Lieferanten. Wenn es ein System importiert, ist es abhängig von der Zustimmung des Landes, das exportiert.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Frau Keul zulassen?

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das ist der Fall. - Bitte schön.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Kollege Brandl, Sie haben gerade gesagt, wir könnten hier nicht öffentlich über ablehnende Entscheidungen sprechen, weil das diplomatischen Schaden verursachen würde. Glauben Sie denn, dass der diplomatische Schaden in irgendeiner Weise größer wäre, als wenn wir zum Beispiel über den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung sprechen, in dem Menschenrechtsverletzungen in all diesen Ländern haarklein aufgeführt sind? ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht mir nicht darum, die Themen, die Sie ansprechen, nicht öffentlich anzusprechen und im Parlament zu debattieren. Was ich sage, ist, dass, wenn wir im Vorfeld über solche Anfragen - es werden sehr viele Anfragen gestellt, im Jahr ungefähr 16 000 - immer debattierten und sie auch auswählten, der Entscheidungsspielraum, den die Regierung hat - einmal sagt sie Nein, einmal Ja, vielleicht stellt sie auch einmal Bedingungen -, verkleinert würde. ({0}) - Aber ich glaube nicht, dass es immer in Ihrem Interesse ist, diesen Entscheidungsspielraum zu verkleinern. Unabhängig davon geht es bei der Frage, ob wir über Anfragen nach Rüstungsgütern öffentlich oder nichtöffentlich debattieren, nicht nur um die Abhängigkeiten anderer Länder, sondern indirekt auch um unsere eigene nationale Souveränität. Denn unabhängig von der Chance auf Genehmigung würde doch kein Land mehr bei einem deutschen Unternehmen anfragen, wenn es wüsste, dass diese Anfrage dann Gegenstand einer öffentlichen Debatte würde. Hinter einer solchen Anfrage stecken ja immer auch langfristige nationale Sicherheitsinteressen und strategische Überlegungen, die man nicht auf dem Markt ausgetragen haben möchte. Zudem würden mit der Öffentlichkeit mögliche Wettbewerber unterrichtet, die ihre Aktivitäten entsprechend darauf abstellen könnten. Wenn man möchte, dass aus Deutschland grundsätzlich kein Rüstungsexport mehr stattfindet, dann kann man ein solches Verfahren wählen. Dann muss man ehrlicherweise aber dazusagen, dass man keine wehrtechnische Industrie mehr in Deutschland haben möchte. Ohne die grundsätzliche Möglichkeit zum Export könnte kein Unternehmen der Branche existieren. Der nationale Markt ist dafür viel zu klein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, der Kollege Duin möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie die zulassen? Bitte schön.

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Kollege Dr. Brandl, bevor Sie zum Schluss kommen: Der Kollege Mützenich hat gerade ein Thema angesprochen, das ich für von besonderer Bedeutung halte. Deswegen frage ich Sie: Können Sie uns aufklären, was gestern Abend zwischen dem Verteidigungsminister und der Rüstungsindustrie verabredet wurde? Mich interessiert insbesondere, was darunter zu verstehen ist, die sich aus der Bundeswehrreform ergebenen Veränderungen würden kompensiert, eventuell durch verstärkten Export.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich kann Sie nicht aufklären. Ich war bei dem Gespräch nicht dabei. ({0}) - Mir geht es nicht grundsätzlich darum, mit der Rüstungsindustrie Arbeitsplätze zu erhalten. Einen Arbeitsplatzverlust könnten wir volkswirtschaftlich verkraften. Nicht so einfach verkraften könnten wir aber den Verlust technologischer Fähigkeiten ({1}) und den damit verbundenen Verlust an nationaler Souveränität. ({2}) Denn dann wären wir bei der Kernaufgabe unseres Staates, der Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit, plötzlich abhängig vom guten Willen anderer Länder. Das ist nicht im Interesse Deutschlands. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass wir jeden Export genehmigen müssen. Im Gegenteil: Wir verfolgen sogar eine restriktive Exportpolitik. Die Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte haben deswegen ein Verfahren entwickelt, um die verschiedenen Interessen der Außenpolitik, der Menschenrechte, der Wirtschaft, des Parlaments und der Öffentlichkeit in vernünftiger Weise auszubalancieren. Die jetzige Regierung hat das Verfahren und die zugrunde liegenden Richtlinien unverändert von Rot-Grün übernommen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie noch eine Frage von Herrn Barthel zulassen? - Nein.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Entscheidungen erfolgen einzelfallbezogen unter besonderer Berücksichtigung der außenpolitischen Situation und der Menschenrechtslage im Empfängerland. Jede Regierung ist damit bisher verantwortungsvoll umgegangen. Das gilt auch für die Regierung von Angela Merkel. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Johannes Selle hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist es nicht einfach, zu diesem Thema zu sprechen; denn als Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung möchte ich gern beim Aufbau einer friedlicheren Welt mitarbeiten, die Potenzen Deutschlands in Technologie und Wirtschaft dafür nutzen und Demokratie und Menschenrechte fördern. ({0}) Ich sehne mich nach einer Welt ohne Waffen, ohne Furcht und ohne Feindschaft. Es ist klar: Waffen verschärfen Konflikte. Also lautet die einfache Lösung: keine Waffen. So einfach sieht die Welt von links aus, wie die zahlreichen Anträge zeigen. So einfach ist die Welt aber nicht. Grundlage für die Entscheidung über Rüstungsexporte sind die sehr restriktiven politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern und die gemeinsamen Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern des Rates der Europäischen Union. Der Kollege Stinner hat eindrücklich daraus zitiert. So wird es auch in den Vorbemerkungen der Anträge von SPD und Grünen gesehen. Diese Grundsätze sind wesentlich unter Grün mitgestaltet und von der Bundesregierung nicht aufgeweicht, sondern fortentwickelt worden. Aufgrund dieser Regelungen sind Rüstungsexporte in die kritischen Regionen zurzeit ausgesetzt. Bei dem Versuch, demokratische Staaten aufzubauen - insbesondere nach einem Regimewechsel -, geht es nicht nur um Bildungsstrukturen, Brunnenbohren und Impfkampagnen, sondern ganz zu Beginn um die Schaffung von Sicherheitsstrukturen, den Aufbau einer demokratischen Polizei und Armee und um Grenzsicherung. ({1}) Nicht vergessen werden darf die Terrorismusbekämpfung, bei der man auf immer stärkere Waffen trifft. ({2}) Das wird auch in Nordafrika so sein. Es stellt sich schon die Frage, warum für diese Länder ein grundsätzliches Waffenexportverbot gelten soll. Auch werden wir das Recht eines Landes auf Selbstverteidigung nicht aufgeben können. Leider muss auch die zunehmende Piraterie in manchen Regionen der Welt erwähnt werden, deren Bekämpfung im Interesse aller ist. Das Thema Rüstungsexport ist vielgestaltig und nicht leicht abzugrenzen. Bei internationalen Kooperationen erreichen deutsche Zulieferungen für Rüstungsprodukte über andere Staaten kritische Regionen. Zu diesen Gütern werden im Übrigen auch Motoren, Getriebe, Fernrohre und teilweise sogar Sitze gezählt. Problematisch sind die Lizenzen für die Produktion von Produktteilen oder vollständigen Produkten. Wenn von einer vertrauensvollen internationalen Zusammenarbeit ausgegangen werden kann, dann werden auch Wünsche nach Produkten der deutschen Rüstungsindustrie geäußert. In der Vergangenheit sind möglicherweise Entscheidungen getroffen worden, die im Lichte der weiteren Entwicklung zu bedauern sind. Im politischen Handeln wird das wohl nie gänzlich zu vermeiden sein, obwohl deutsche Entscheidungen sorgfältig abgewogen werden. Die deutsche Politik zieht aus solchen Fällen Lehren. Auf jeden Fall ist der Vorwurf einer unkritischen Beurteilung ungerechtfertigt. So einfach, wie es im Antrag der Grünen steht, ist es nicht. Dort heißt es: Durch deutsche Rüstungslieferungen werden oft noch Jahre und Jahrzehnte nach der erfolgten Lieferung bestehende Spannungen und Konflikte ausgelöst … ({3}) So einfach ist die Welt nicht. Diese vereinfachende Sichtweise können wir vernünftigerweise nicht übernehmen. ({4}) Das Fehlen deutscher Waffen führt bestimmt nicht dazu, dass Konflikte beseitigt werden. Waffen werden von Menschen eingesetzt. Es ist ein langer und mühevoller Weg, Menschen davon zu überzeugen, dass die friedliche Lösung von Konflikten und die Überbrückung unterschiedlicher Auffassungen für die Menschen und die Natur besser wären.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Selle, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duin zulassen?

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, das möchte ich nicht. ({0}) Dem stehen starke Kräfte wie Macht, Einfluss und Geld gegenüber. Gerade am Beispiel Libyens können wir sehen, wie vor keiner Gräueltat haltgemacht wird, um Macht zu retten. Wir werden es leider nicht erleben, dass Waffen auf der Erde keine Rolle mehr spielen. Der politischen Realität am nächsten kommt noch der Antrag der SPD in seiner Kürze. Aber aus ihm weht uns das Misstrauen gegenüber der Regierung entgegen, wenn er von einer Hintertür spricht, die es gebe. Herr Kollege Barthel hat dieses Misstrauen explizit ausgedrückt. Es gehört zum bekannten parlamentarischen Verhalten, dass die Opposition der Regierung misstraut. Dem Verhalten werden wir nicht folgen. Sorgfältige Abwägung, europäische und internationale Abstimmungen und auch kritische Begleitung sind dem Thema angemessen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Andreas Lämmel hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0}) Es wäre für den Redner wunderbar, wenn wir noch etwas ruhiger sein könnten, als wir es schon sind.

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist die fünfte Debatte zum Thema Rüstungsexporte in diesem Jahr, und es soll immer noch etwas Neues geben. ({0}) - Es ist noch nicht die letzte. Wir haben noch zwei Monate und fünf Sitzungswochen. Ich denke, es wird schon noch ein interessanter Antrag von Ihnen kommen. In der ganzen Debatte sind keine wirklich neuen Gesichtspunkte aufgetaucht. Ich möchte darauf hinweisen, dass sich Deutschland eine strenge Selbstbeschränkung bei Rüstungsexporten auferlegt hat. ({1}) Diese politischen Grundsätze der Bundesregierung wurden im Jahr 2000 beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, es sind also die Grundsätze einer rot-grünen Regierung. Wenn Sie diese Grundsätze jetzt kritisieren, dann kritisieren Sie Ihr eigenes Tun. ({2}) In diesen Grundsätzen ist auch die jährliche Vorlage eines Rüstungsexportberichts enthalten. Sie hätten damals die Möglichkeit gehabt, den Rüstungsexportbericht vierteljährlich erstellen zu lassen. Sie haben es nicht gemacht. Also bitte: Die Kritik läuft erst einmal ins Leere, auch wenn ich zugebe, dass der jährliche Rüstungsexportbericht dem Parlament natürlich wesentlich zeitnäher überstellt werden könnte. ({3}) Wenn man sich einmal die Struktur der deutschen Rüstungsexporte anschaut, dann stellt man fest, dass über die Hälfte aller Exporte in europäische Staaten gehen, in NATO-Staaten oder in der NATO gleichgestellte Länder. Der Anteil von Waffenexporten in Entwicklungsländer liegt unterhalb von 10 Prozent. Das muss man ganz einfach zur Kenntnis nehmen. ({4}) Ich will noch auf zwei Aspekte kurz eingehen. Zum einen an die Linken gerichtet: In Ihren Reihen sitzen noch genügend Kolleginnen und Kollegen, die früher Mitglied der SED waren. Sie erinnern sich vielleicht an den 3. Dezember 1989, als in Kavelstorf bei Rostock eines der größten Waffenlager ausgehoben wurde, das Herr Schalck-Golodkowski damals unterhalten hat. Wenn man sich die Liste der belieferten Staaten anschaut, ({5}) verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dann sieht man, dass Sie die Staaten, die Sie heute in Ihren Anträgen aufführen, mit Waffen in Größenordnungen aller Kaliber - mit leichten Waffen, mit schweren Waffen, mit Panzern - beliefert haben. ({6}) Die DDR hat dazu beigetragen, dass die Welt mit Waffen überschwemmt wurde. Da können Sie doch jetzt nicht den Friedensengel spielen. ({7}) Wer im Glashaus sitzt, sollte schon gelegentlich einmal darüber nachdenken, mit welchen Aktionen man an die Öffentlichkeit tritt. Nun hat sich Herr Mützenich über das Interview ereifert, das gestern im Rahmen der ARD gelaufen ist. Ich bin bei dem Gespräch natürlich auch nicht dabei gewesen; ({8}) aber zwei Dinge muss man doch einmal festhalten. Da wurde Herr Adamowitsch, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, angesprochen. Daran kann man natürlich sehen, wie kurz der Weg von einem sozialdemokratischen Staatssekretär zum Waffenlobbyisten geworden ist. ({9}) Herr Adamowitsch ist Mitglied der SPD und war auch Staatssekretär für die SPD. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie werden doch Herrn Adamowitsch nicht unterstellen, dass er illegale Geschäfte betreibt. ({10}) Aber Ihre Unterstellung, dass der deutsche Außenminister die wehrtechnische Industrie dahin gehend unterstützt, illegale Geschäfte zu machen, finde ich schon ein starkes Stück, muss ich Ihnen sagen. Das geht, glaube ich, etwas zu weit; das sollten Sie zurücknehmen. Es geht ja nicht bloß darum, dass Waffen exportiert werden; es werden auch Leistungen exportiert, zum Beispiel Ausbildungsleistungen. Es geht sehr viel in unsere Partnerländer, in NATO-Staaten. An einem solchen Interview festzumachen, es ginge hier um illegale Geschäfte, das sollte die SPD nicht weiterverfolgen. Auch der Bundeswirtschaftsminister setzt sich im internationalen Maßstab für Exporte deutscher Unternehmen in die Welt ein - und das erwarten wir auch von ihm. Zusammenfassend sage ich: Die Debatte heute hat nicht viel Neues erbracht. Die Anträge, die gestellt worden sind, sind schon genügend kommentiert worden. Ich glaube, es ist Zeit, dass wir jetzt zur Abstimmung kommen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Ich weise darauf hin, dass ausweislich des Protokolls der Kollege Martin Lindner die Kollegin WieczorekZeul als Heuchlerin bezeichnet hat. Das weise ich als unparlamentarischen Ausdruck ausdrücklich zurück. Wir kommen zu den namentlichen Abstimmungen über 16 Anträge der Fraktion Die Linke, über den Antrag der Fraktion der SPD und über den ersten Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, alle zur Rüstungsexportpolitik. Verabredet ist, diese insgesamt 18 namentlichen Abstimmungen auf einem Stimmzettel durchzuführen. Die Stimmzettel erhalten Sie, falls das noch nicht geschehen ist, von den Parlamentsassistentinnen und -assistenten hier im Saal. Schreiben Sie bitte zunächst Ihren Namen und die Bezeichnung Ihrer Fraktion deutlich für andere lesbar in Druckbuchstaben auf den Stimmzettel. Stimmzettel, die keinen Namenszusatz haben, sind ungültig. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter den Buchstaben a bis p seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6335 die Ablehnung der Anträge der Fraktion Die Linke. Bitte beachten Sie: Es ist verabredet, dass unmittelbar über diese Anträge und nicht über das jeweilige Votum der Beschlussempfehlung abgestimmt wird. Sie stimmen also direkt über die Anträge ab. Zu dem Antrag der Fraktion der SPD sowie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liegen keine Beschlussempfehlungen vor. Auf dem Stimmzettel finden Sie eine Auflistung der 18 abzustimmenden Anträge. Sie können bei jedem einzelnen mit Ja, Nein oder Enthaltung stimmen, indem Sie das entsprechend ankreuzen. Einzelne Abstimmungen mit mehr als einem Kreuz sind ungültig, auch solche, die kein Kreuz enthalten. Sie können die Kreuze auf Ihrem Stimmzettel gern an Ihrem Platz machen. Nachdem Sie den Stimmzettel ausgefüllt haben, werfen Sie ihn bitte in eine der vorgesehenen Urnen - sobald die Schriftführerinnen und Schriftführer das ermöglichen. Jene bitte ich, jetzt ihren Platz einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seinen Stimmzettel nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Da die vollständige Auswertung der Stimmzettel einen erheblichen Zeitaufwand erfordert, werden die Schriftführerinnen und Schriftführer zunächst noch kein zahlenmäßiges Ergebnis ermitteln, sondern nach Sichtung der Stimmzettel feststellen, ob die Anträge angenommen oder abgelehnt wurden. Das vorläufige Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7355 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Auf Verlangen der Fraktion Die Linke unterbrechen wir wegen einer Fraktionssitzung die Plenarsitzung für circa eine Stunde. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich komme zurück zu dem Tagesordnungspunkt 4 a bis c. Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben mir mitgeteilt, dass die 16 Anträge der Fraktion Die Linke auf den Drucksachen 17/5935 bis 17/5950, der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7336 und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6931 zum Rüstungsexport mehrheitlich abgelehnt worden sind. Das detaillierte Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird später im Stenografi- schen Bericht veröffentlicht. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis h sowie den Zusatzpunkt 4 a und b auf: 31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes und zur Änderung des Unterlassungsklagengesetzes - Drucksache 17/7235 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2012 ({1}) - Drucksache 17/7236 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 17. Juni 2010 zwischen der Re- gierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerrat der Republik Albanien über die Seeschifffahrt - Drucksache 17/7237 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Vizepräsident Eduard Oswald d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufas- sung des Erdölbevorratungsgesetzes und zur Änderung des Mineralöldatengesetzes - Drucksache 17/7273 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vergaberechts für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit - Drucksache 17/7275 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 3. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem König- reich Spanien zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und zur Verhinderung der Steuer- verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/7318 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss g) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA - Drucksache 17/7354 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ewa Klamt, Albert Rupprecht ({5}), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann ({6}), Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung - Drucksache 17/6504 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Beate Müller-Gemmeke, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung ({8}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Richtlinie zur konzerninternen Entsendung grundsätzlich überarbeiten - Drucksache 17/4885 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung ({10}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Rechte der Saisonarbeitskräfte stärken - Drucksache 17/5234 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Vizepräsident Eduard Oswald Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis h auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 32 a: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 6. April 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Albanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/6613 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 29. Dezember 2010 zur Änderung des Abkommens vom 24. August 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/6614 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12}) - Drucksache 17/7300 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({13}) Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Republik Albanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7300, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6613 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit Mehrheit angenommen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll zur Änderung des Abkommens mit der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7300, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6614 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Tagesordnungspunkt 32 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Roth ({15}), Dr. Frithjof Schmidt, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben - Drucksachen 17/5042, 17/7385 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Bareiß Dietmar Nietan Michael Link ({16}) Andrej Hunko Manuel Sarrazin Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7385, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5042 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Fraktion der Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 32 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 318 zu Petitionen - Drucksache 17/7201 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht 318 angenommen. Tagesordnungspunkt 32 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 319 zu Petitionen - Drucksache 17/7202 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht 319 angenommen. Vizepräsident Eduard Oswald Tagesordnungspunkt 32 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 320 zu Petitionen - Drucksache 17/7203 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Linksfraktion und sozialdemokratische Fraktion. Wer stimmt dagegen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 320 angenommen. Tagesordnungspunkt 32 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 321 zu Petitionen - Drucksache 17/7204 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/ Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 321 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 32 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 322 zu Petitionen - Drucksache 17/7205 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 322 angenommen. Tagesordnungspunkt 32 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 323 zu Petitionen - Drucksache 17/7206 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 323 angenommen. Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Brandanschlagserie auf Bahnanlagen und linksextremistisch motivierte Gewalt Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion der CDU/CSU hat sich als erster Redner unser Kollege Dr. Jan-Marco Luczak gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege. ({23})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wieder einmal ist es so weit: Ganz Deutschland blickt auf Berlin. Leider, muss man sagen; denn wieder einmal geht es um linksextremistische Gewalt. In letzter Zeit mussten wir uns im Deutschen Bundestag damit schon mehrfach befassen. Ich nenne nur den Sprengstoffanschlag auf Berliner Polizisten anlässlich einer Demonstration, bei dem zwölf Beamte verletzt wurden, oder auch die gewalttätigen Ausschreitungen bei der Räumung des besetzten Hauses in der Liebigstraße 14. Damals sind linksextremistische Gewalttäter in Guerillamanier durch die Stadt marodiert. ({0}) Heute blicken wir auf die jüngsten perfiden Brandanschläge auf den Berliner Schienenverkehr. Insgesamt 17 Brandsätze waren es, nicht alle sind detoniert. Zum Glück ist daher größerer Schaden nicht eingetreten. Zum Glück sind keine Menschen verletzt oder gar getötet worden. Die Frage ist nun: Wie ordnen wir diese Brandanschläge ein? Es lohnt sich, einen Blick auf das Bekennerschreiben zu werfen, das im Internet veröffentlicht worden ist. Danach geht es den Tätern um den Krieg in Afghanistan, um den Einsatz der Bundeswehr. Sie schreiben: „Deutsche Soldaten morden weltweit.“ Das nehmen sie als Rechtfertigung dafür, die Deutsche Bahn als Transporteur von Rüstungsgütern zu sabotieren. Ich finde es wirklich unerträglich, wie über unsere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gesprochen wird. ({1}) Diese Soldaten sind dort, weil wir, der Deutsche Bundestag, sie dorthin gesandt haben. Wir haben sie dorthin gesandt, weil sie dort für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Menschenrechte sorgen sollen. ({2}) Sie haben es nicht verdient, in dieser Weise beschimpft zu werden. Diese Gemengelage aus Brandanschlägen und Kriegskritik weckt ganz besondere Erinnerungen. Es gibt eine bemerkenswerte Parallele zu den Anfängen der Rote-Armee-Fraktion. Auch die RAF hat einmal „nur“ mit Brandanschlägen angefangen. Auch damals hieß es, der Protest gegen den Krieg in Vietnam rechtfertige die Brandanschläge. Wir wissen alle, wie die Entwicklung der RAF endete: mit Blut, mit Tränen, mit Tod. Ich sage: Diese Zeiten wollen wir nicht noch einmal erleben. ({3}) Nun ist ganz klar: Man muss sicherlich genau analysieren, ob man die Taten der RAF mit den jüngsten Brandanschlägen vergleichen kann. Andernfalls würde man deren Opfern nicht gerecht werden. Ich selber - das sage ich Ihnen ehrlich - kann das noch nicht abschließend beurteilen. Aber eines weiß ich sicher: Die Zahl der linksextremen Straf- und Gewalttaten in unserem Land nimmt zu. Es ist noch nicht lange her, dass in meiner Heimatstadt Berlin fast jede Nacht ein Auto gebrannt hat. Es gibt auch immer mehr gewaltbereite Linksextreme. Das alles bedeutet nicht, dass wir einen zweiten heißen Herbst vor uns haben. Für mich bedeutet das aber, dass wir wachsam sein müssen. Der Verfassungsschutz sagt uns ganz eindeutig, dass eine signifikant erhöhte Aggressivität und Gewaltbereitschaft unter den Linksextremen zu beobachten ist. Darauf müssen wir reagieren. Davor dürfen wir unsere Augen nicht verschließen. Daher ist es gut und richtig, dass die Bundespolizei verstärkt vorgeht und konsequent Präsenz zeigt. Als Berliner bin ich dafür besonders dankbar. Richtig ist aber auch: Unsere offene und freie Gesellschaft ist verletzlich. Einen absoluten Schutz können weder technische Einrichtungen wie die Videoüberwachung noch der verstärkte Einsatz von Polizei gewährleisten. Umso wichtiger ist es daher, dass unsere Gesellschaft einen Konsens darüber hat, dass solche Brandanschläge unmissverständlich und mit allem Nachdruck verurteilt werden. Das erwarte ich auch von allen Fraktionen hier im Deutschen Bundestag. ({4}) Wenn man genau hinschaut, können einem an der einen oder anderen Stelle Zweifel kommen. Da gibt es zum Beispiel den Kollegen Ströbele von den Grünen. Er hat, wie wir alle wissen, eine besondere Kompetenz in Sachen RAF. ({5}) Er sagt, dass hier völlig unterschiedliche Sachverhalte und gesellschaftliche Situationen miteinander in Verbindung gebracht werden. Er muss es ja wissen. Es sei ihm auch gegönnt, den gesellschaftlichen Oberlehrer zu spielen und allen anderen Unwissen zu unterstellen. Aber was ich an dieser Stelle zumindest erwartet hätte, wäre ein klares Bekenntnis gewesen, dass auch er den Terrorismus ächtet. Das habe ich von ihm aber nicht vernommen. Deswegen sage ich: Das, was er hier macht, ist eine Verharmlosung. Damit wird er - er ist leider nicht hier seiner Verantwortung als Mitglied des Deutschen Bundestages nicht gerecht. ({6}) Was nicht fehlen darf, wenn wir über Linksextremismus sprechen, ist die Haltung der Linken. Ihre NochBundesvorsitzende Gesine Lötzsch ist bekannt dafür, dass sie mit ehemaligen RAF-Terroristen auch einmal Wege zum Kommunismus sucht und Geburtstagsgrüße an Fidel Castro sendet. Angesichts dessen kann man vielleicht nichts anderes erwarten. Die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke - sie ist hier -, verharmlost die Brandanschläge mit den Worten, die Ziele der Gruppe seien durchaus richtig. Frau Jelpke, Sie werfen Kritikern vor, es gehe ihnen um die Diffamierung jeglicher linken Politik, die über den tagespolitischen Tellerrand hinausgeht. ({7}) Wenn ich das höre, kann ich nur sagen: Ich bin wirklich richtig froh, dass die Linke nach wie vor vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wer auf diese Weise öffentlich Solidarität mit linken Gewalttätern bekundet und Widerstand ausdrücklich als notwendig bezeichnet, ermutigt diese Gewalttäter zu weiteren Anschlägen, er ermutigt dazu, weitere Menschen zu gefährden. Wer so etwas macht, hat im Deutschen Bundestag nichts zu suchen. ({8}) Zum Schluss lassen Sie mich als Berliner Abgeordneter noch Folgendes sagen: Ich bin sehr froh, dass die Linke nach den Wahlen hier in Berlin nicht mehr an der Regierung beteiligt sein wird. ({9}) Unter dem rot-roten Senat mit den Linken als Koalitionspartner ist die linksextremistische Szene leider sehr vernachlässigt worden; das muss man auch einmal sagen. Das rächt sich nun. Deswegen ist es ein gutes Signal für die deutsche Hauptstadt, dass CDU und SPD über eine große Koalition der Demokraten miteinander verhandeln. ({10}) Wir als Union werden im Senat sicherstellen, dass die Berlinerinnen und Berliner vor jeglicher Gewalt geschützt werden, vor religiös motivierter, vor rechtsextremer, aber eben auch vor linksextremer.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für uns ist und bleibt klar: Niemand darf Opfer blinder Gewalt werden - egal woher sie kommt. Vielen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Wolfgang Gunkel. Bitte schön, Kollege Wolfgang Gunkel. ({0})

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An und für sich hatte ich mir vorgenommen, eine staatstragende Rede zu halten. ({0}) Ich glaube aber, dass man nach der Rede eben einiges richtigstellen muss. Ich will vorwegschicken, dass mit den Taten kriminelles Unrecht begangen worden ist. Es geht also nicht um eine reguläre Form der politischen Auseinandersetzung, sondern um kriminelle Straftaten, die von der Polizei entsprechend verfolgt werden müssen. Darüber gibt es keinen Dissens. Es kann auch niemand ernsthaft annehmen, dass dies kritikwürdig wäre. Das, was hier vorgetragen worden ist, sind meiner Ansicht nach aber unzulässige Vermengungen mit Vorfällen, die vor 30 oder 40 Jahren stattgefunden haben. Mit Verlaub, Herr Kollege, ich habe schon in Berlin in Ermittlungsgruppen zur Terrorismusbekämpfung gearbeitet, als Sie gerade geboren waren. ({1}) Ich kann Ihnen deshalb sagen: Wenn Sie die Vorfälle früher mit denen von heute vergleichen, dann liegen Sie meterweise daneben. ({2}) Die Bewegungen, die damals eine Rolle gespielt haben - ob man die RAF, die Revolutionären Zellen oder die Bewegung 2. Juni nimmt -, sind von einer völlig anderen organisatorischen Struktur, politischem Rückhalt und anderen Dingen geprägt gewesen, als es heute bei den Politspinnern der Fall ist, die übrigens auch in der linken Szene auf heftige Kritik an dieser Verfahrensweise stoßen. ({3}) Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter zurückblicken, um das alles zu rekapitulieren. Herr Ströbele wäre sicherlich der Richtige, um sehr profund darüber Auskunft zu geben. ({4}) Man sollte sich dann aber auch anhören, was er dazu zu sagen hat. Jetzt will ich aber das machen, was man üblicherweise tut, nämlich nach vorne schauen. Was die Strukturen in Berlin mit der Landespolizei, mit Brandenburg als Umfeld und mit der Bundespolizei angeht, kann man nur eines sagen: Wenn man den Ball einigermaßen flachhalten und vernünftig argumentieren will, dann kann man das nur so machen wie der Bundesinnenminister - übrigens ein besonnenes Mitglied Ihrer Regierungskoalition -, der gesagt hat, dass das nichts mit Terrorismus zu tun hat, sondern eine Gewaltstufe der linksextremen Ausrichtungen ist, die entsprechend bekämpft werden muss. Er tut richtigerweise auch etwas: Er verstärkt den Einsatz der Bundespolizei. Wir kommen in diesem Zusammenhang auf einen Punkt zu sprechen, den man als ursächlich dafür sehen muss. Wenn Länder und Bund an Polizei und innerer Sicherheit sparen, dann muss man sich nicht wundern, wenn nicht mehr genügend Ermittlungskapazitäten zur Verfügung stehen, um solche Straftaten von vornherein einzudämmen. Wenn Sie in Berlin zu einer Großen Koalition kommen sollten, ({5}) dann kommen auch Sie in die Gefahr, den Innensenator zu stellen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie solche Taten verhindern können. Sie können das genauso wenig verhindern wie jeder andere. Ich bin gespannt, wie Sie sich dann darstellen wollen. ({6}) Die Maßnahmen, die der Innenminister angekündigt hat, sind ein richtiger Schritt auf dem Weg zu dem, was man als Ziel im Blick behalten muss. Aber zurück zu dem, was tatsächlich geschehen ist: Bisher gab es ein Bekennerschreiben, das die Vermutung nahelegt, dass man die Taten dem linksextremen Spektrum zuordnen muss. ({7}) Das ist völlig klar und lässt sich nicht von der Hand weisen. Die Ermittlungen sind aber noch nicht abgeschlossen. Der Generalbundesanwalt hat das Verfahren an sich gezogen. Das BKA wird die Ermittlungstätigkeit unterstützen und federführend durchführen. Das bedeutet: Wenn alle drei Institutionen - die Landeskriminalämter in Berlin und Brandenburg und das BKA - in dieser Sache ermitteln, dann wird man wohl hoffen dürfen, dass es zu einem vernünftigen und konkreten Ergebnis kommt. In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Dr. Uhl zitieren. Herr Dr. Uhl, Sie werden nicht sehr oft von SPD-Abgeordneten zitiert, aber Sie haben gestern im Innenausschuss etwas sehr Gutes gesagt. Sie haben gesagt, Sie hätten Vertrauen in das BKA und dessen Präsidenten, der übrigens ein SPD-Mann ist. In diesem Sinne sage ich: Haben Sie einfach Vertrauen in die polizeilichen Ermittlungen und warten Sie ab, was die Ermittlungen ergeben! ({8}) Dann wird sich vielleicht herausstellen, wer diejenigen sind, die diese Anschläge verübt haben. Eines ist richtig: Wenn man das richtig einordnen will, dann muss man sagen, dass wirklich der Bedarf besteht, das herauszufinden. Denn die Gefahr, dass irgendwann Menschen zu Schaden kommen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir hoffen alle, dass man bald fündig wird und die Täter stellen kann. Die Institutionen, die damit befasst sind, verdienen unser Vertrauen. Ich glaube, dass wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen werden. Dann hat auch eine solche Dramatisierung, wie sie hier erfolgt und wie wir sie auch schon vorher im Zusammenhang mit der Liebigstraße 14 und Ähnlichem erlebt haben, ein Ende. ({9}) Sie wollen derartige Vorfälle hochspielen, offenbar um der Bevölkerung zu suggerieren, dass die SPD und andere Parteien nicht in der Lage sind, die innere Sicherheit zu gewährleisten. ({10}) Das ist an dieser Stelle lächerlich und auch fahrlässig. Schönen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. Jetzt hat für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert das Wort. Bitte schön, Kollege Dr. Ruppert. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss sagen: Das waren neue Töne von der SPD. Das kann man einmal hervorheben. Wir führen in diesem Hause seit zwei Jahren, seit im Koalitionsvertrag steht, dass Linksextremismus, religiös motivierter Extremismus und Rechtsextremismus gleichermaßen zu verfolgen und mit entsprechenden Programmen zu bekämpfen sind, eine merkwürdige Debatte. Sie läuft immer nach dem gleichen Muster ab: Die Koalition sagt: Alle Phänomene des Extremismus sind gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Wir müssen schauen, was auf der rechten Seite, auf der linken Seite und beim religiös motivierten Extremismus passiert. - Immer kommt der gleiche Reflex der Grünen, der SPD und der Linken: Sie werfen uns vor, wir wollten nur vom Rechtsextremismus ablenken und diesem wichtigen Phänomen nicht ins Auge blicken. ({0}) Heute hat der Kollege Gunkel eine Rede gehalten, in der er als Vertreter der Sozialdemokratie zumindest anerkennt - zum ersten Mal nach meiner Wahrnehmung -, dass auch der Linksextremismus ein zunehmend gravierendes Problem in Deutschland ist. Auf dem Weg sollten Sie weitergehen. ({1}) Diese Einsicht teilen die Kolleginnen und Kollegen der Linken leider nicht. Wir erleben nach der Befreiung von Auschwitz bei Antisemitismusdebatten und Debatten über Linksextremismus immer wieder das Gleiche. Ich bin jedes Mal fassungslos, wenn ich von Frau Jelpke höre, dass die politischen Ziele, die diesen Brandanschlägen zugrunde liegen, durchaus nachvollziehbar und richtig sind. So etwas ist unerhört und unfassbar. Dem müssen wir strikt entgegentreten. ({2}) Wir leben - das merken wir auch in den Gesprächen mit den Wählerinnen und Wählern in den Wahlkreisen in einer Zeit tiefer Verunsicherung. Die Menschen haben Angst vor der Zukunft. Sie sind unsicher, was sich in den nächsten Jahren tut. Die Bandbreite der Reaktionen auf diese Angst erweitert sich derzeit. Alle Antiextremismusprogramme und alle Strafverfolgungsmaßnahmen werden nicht fruchten, wenn es uns nicht gelingt, die Mitte der Gesellschaft wieder zu stärken, eine Integration zur politischen Mitte hin zu bewirken und dafür zu sorgen, dass die Menschen, die jeden Tag zum Gelingen dieses Gemeinwesens beitragen, wieder gestärkt werden und dass ihnen Orientierung und Unterstützung gegeben werden. Wenn uns das gelingt, dann werden die politischen Ränder nicht weiter erstarken. Das ist das Ziel dieser Koalition. ({3}) Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen. In Berlin brennt in diesen Tagen mehr als ein Auto pro Nacht. Wir steuern auf einen neuen Rekordwert bei den Brandanschlägen zu, die in der Regel aus linksextremer Gesinnung heraus begangen werden. Wir können doch nicht tatenlos zusehen, nur weil in dieser Stadt die staatliche Ordnung in vielen Bereichen nicht so funktioniert wie in anderen Bundesländern oder in anderen Gesellschaften. Wir sollten uns dagegen wehren, dass dem nicht entgegengetreten wird. ({4}) Hören Sie auf, in das alte Links-rechts-Schema zu verfallen! ({5}) Hören Sie auf, zu sagen, Rechtsextremismus sei viel schlimmer! Stellen Sie, liebe Grüne, liebe Sozialdemokraten, einen Antrag, in dem Sie diesem Phänomen erstmals einige Worte und Maßnahmen widmen. Das würde uns ausgesprochen freuen. ({6}) Seit zwei Jahren praktizieren Sie Verweigerung. Seit zwei Jahren hören wir keinen einzigen Ton dazu, wie man mit dem Linksextremismus und der steigenden Gewaltbereitschaft umgehen kann. Insofern wären auf Ihrer Seite einige Hausaufgaben zu machen. ({7}) Manchmal ist es schmerzhaft, die Realität mit seinem politischen Sachverstand in Einklang zu bringen. Für Sie wäre es an dieser Stelle aus meiner Sicht höchste Zeit. ({8}) Ein letztes Argument: Es gibt viele Menschen, die derzeit Angst haben, Bahn zu fahren. Das sollte auch Sie beunruhigen. Gestern haben mehrere Besuchergruppen gefragt, ob man im Moment mit der Bahn nach Berlin fahren könne. Wir können den Menschen sagen: Ja. Die Sicherheit wird sicherlich gewährleistet. Wir werden mit aller Macht, auch mit den Mitteln der Strafverfolgung, versuchen, diese Phänomene zu bekämpfen. Da sehen Sie die Koalition wild entschlossen. Insofern: Hören Sie auf mit Ihrem Links-rechts-Gerede! Stellen Sie sich der gesellschaftlichen Realität! Ich bin selbst Opfer eines linksextremen Anschlags in meiner Wahlkreisgeschäftsstelle geworden. ({9}) Insofern ist die Art und Weise, wie Sie dieses Problem dauerhaft negieren, einfach nicht mehr sachangemessen. Vielen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Ruppert. - Jetzt für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Jelpke. Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es gleich in aller Deutlichkeit zu sagen: ({0}) Die Linke lehnt Brandanschläge auf Bahnanlagen ohne Wenn und Aber ab. Nichts anderes habe ich und haben auch meine Kollegen aus meiner Fraktion in den letzten Tagen erklärt. ({1}) An die Unionskollegen gerichtet sage ich: Bleiben Sie mal auf dem Teppich! Es handelt sich hier nicht um die Geburtsstunde einer neuen RAF, ({2}) wie es heute von Ihnen auch wieder leichtfertig vorgetragen wurde. Ich fordere Sie auf, meine Kollegen von der Union und auch von der FDP, hier endlich wieder zu einer sachlichen Debatte zurückzukehren. ({3}) Bewusst wird hier aus Ihren Reihen Hysterie, Terrorhysterie geschürt. Zu Ihrem Verkehrsminister, der ja auch eine neue Dimension des Terrors heraufziehen sieht, kann man nur sagen: Das ist schlichtweg Unsinn. ({4}) Zum Glück bewahren die zuständigen Behörden - jetzt hören Sie gut zu! - sehr viel mehr Ruhe. Beispielsweise hat der Bundesanwalt bereits erklärt, dass er im Zusammenhang mit den Brandanschlägen nicht wegen Terrorismus ermittelt. Der Verfassungsschutz hat erklärt, dass er hier keinen neuen Terrorismus sieht. Betrachten wir einmal die Tatsachen, also das, was bisher passiert ist. Es sind 19 offenbar dilettantisch gebastelte Brandsätze entdeckt worden. ({5}) Davon haben in der Tat zwei gezündet, und einer davon hat Sachschaden angerichtet. Dabei wurden zum Glück keine Menschen verletzt. ({6}) Ich sage noch einmal: Dabei wurden zum Glück keine Menschen verletzt. Die Bahn hat im Übrigen versichert, dass für Reisende zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Gefahr bestand. ({7}) Wenn Politiker der Unionsfraktion hier wider besseres Wissen über Terrorismus schwadronieren, ist die Absicht meines Erachtens leicht zu durchschauen. ({8}) Während zurzeit weltweit Hunderttausende gegen Kapitalismus auf die Straße gehen, dienen Ihnen die Brandansätze als willkommene Steilvorlage zur Diskreditierung all dessen, wofür linke Bewegungen und Parteien stehen. ({9}) Auch den Unionsparteien werden wir nicht den Gefallen tun, uns von unseren richtigen Zielen abzuwenden, nur weil auch die Zündler diese Ziele für sich in Anspruch nehmen, nämlich etwa gegen den Afghanistan-Krieg zu sein. Ich will nur daran erinnern, dass wir hier vor zwei Jahren das Massaker von Kunduz diskutiert haben, nachdem auf Befehl eines deutschen Offiziers über hundert Menschen regelrecht in den Tod gesprengt wurden. ({10}) Über diesen Terror - wir bezeichnen das als Kriegsterror wollen Sie überhaupt nicht reden, ({11}) obwohl zwei Drittel der Bevölkerung gegen diesen Krieg ist. Wie gesagt: Die Linke wird sich nach wie vor gegen die Verlängerung dieses Kriegseinsatzes einsetzen, und das Ziel ist auch richtig. ({12}) Die Linke wird weiter für einen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan kämpfen, aber gemeinsam mit der Bevölkerung und nicht auf ihrem Rücken, um das ganz deutlich zu sagen. ({13}) Denn kein Kriegseinsatz wird gestoppt, weil Hunderttausende Bahnkunden zu spät zur Schule oder zur Arbeit kommen. Ich selbst fahre auch viel Bahn. Ich weiß, was das bedeutet. Ich will zum Schluss noch auf Folgendes zu sprechen kommen. Wir reden hier über Terrorismushysterie. Aus den Reihen der Union habe ich dann, wenn Anschläge von Neofaschisten auf Migrantinnen und Migranten, auf andersdenkende Linke oder auf Homosexuelle geschehen sind, das Wort „Terrorismus“ noch nie gehört. ({14}) Ich will hier ganz deutlich sagen, dass die Angriffe gerade der Rechten auf Wahlkreisbüros von SPD, Grünen und Linken alltägliche Gewalt sind. ({15}) Man kann am Ende nur noch einmal sehr deutlich feststellen, dass in den Reihen der Union bei der Anwendung der Vokabel „Terrorismus“ offenbar mit zweierlei Maß gemessen wird. Von daher meine ich, diese Aktuelle Stunde hätten Sie sich gut sparen können. (Dr. Jan-Marco Luczak ({16}): Die Rede hätten Sie sich sparen können! Es ist die Mühe nicht wert. Danke. ({17})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Jelpke. - Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege Wieland. ({0})

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Vorbemerkungen. Herr Kollege Luczak, auch ich bin gebürtiger Berliner. ({0}) Ich könnte jetzt gerührt sagen: Wie schön, dass diese Koalition sich so um die deutsche Hauptstadt sorgt! Sie haben aufgezählt: Sprengsätze, Häuserräumung in der Liebigstraße, heute die Brandanschläge. ({1}) Sie merken gar nicht, dass Sie ein Zerrbild der deutschen Hauptstadt zeichnen. Man könnte sich fragen, ob all die vielen Touristen, die hierherkommen, Abenteuerurlauber sind, die statt im Dschungelcamp in Berlin einfallen. ({2}) Ich gebe zu, dass das Ganze kurz unterbrochen war durch den Streit um 3 Kilometer Stadtautobahn. Der Kollege Lindner, FDP, und der Kollege Liebich, Linkspartei, waren sich einig, dass die Grünen sich für eine Kartoffelsuppe haben einkaufen lassen. So kann man sich täuschen, Herr Lindner. Genauso täuschen Sie sich, wenn Sie glauben, mit diesen Überzeichnungen und Dramatisierungen irgendetwas zur Problemlösung beizutragen. ({3}) - Ja, Herr Lindner, falsch gelegen! Klappe mal halten, bitte schön! ({4}) Das ist zwar unparlamentarisch ausgedrückt; aber ich weiß, dass das auch ein großer Wunsch Ihrer Fraktion ist. ({5}) Zweite Vorbemerkung. Wir verharmlosen gar nichts, Herr Kollege Ruppert, schon gar nicht Anschläge auf Bahnanlagen. Meine Güte! Wer glaubt, in einer Stadt, wo der öffentliche Nahverkehr mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip funktioniert, wo die S-Bahn monatelang nach einem Notfahrplan fährt, mit Brandsätzen zur Entschleunigung beitragen und die Stadt in den Pausenmodus versetzen zu müssen, der ist nach eigenem Zeugnis ein Idiot - das schreiben Sie ja selber -, aber kein harmloser Idiot, sondern ein gefährlicher. Als solchen muss man ihn bezeichnen, und als solchen muss man ihn auch bekämpfen. ({6}) Da gebe ich dem Kollegen Gunkel völlig recht. So viel Zutrauen habe ich in unsere Strafverfolgungsorgane: Dass man diese Gruppierung, die sich ja immerhin einen Fantasienamen, nämlich Hekla, gegeben hat, dingfest machen wird, dass man sie auch aburteilen wird, darauf gehe ich beinahe eine Wette ein. Aber das Problem des Linksextremismus ist ja nun wirklich ein weitergehendes. ({7}) Wir als Grüne haben nie bestritten, dass es da einen Anstieg gibt. Nur, was bieten Sie denn als Bekämpfungskonzeption an? Ein schematisches Gleichsetzen von Rechts und Links! Was wir gegen Rechtsextremismus machen, machen wir auch gegen Linksextremismus. ({8}) Jetzt haben Sie ein Aussteigertelefon geschaltet. Da wird niemand anrufen. ({9}) Das kann ich Ihnen sagen. Denn Links tickt anders als Rechts, trotz allem. ({10}) - Ja. Davon verstehen Sie nichts. Dann seien Sie doch ruhig, wenn Sie davon nichts verstehen! ({11}) Die sind trotz allem diskursiver. Die haben kein Führerprinzip. Da braucht man kein Aussteigerprogramm. Die steigen von alleine aus. Dann findet sie das BKA nach Jahren in der Uckermark auf ihrem Bauernhof. ({12}) Die verhängnisvolle Extremismusklausel, die Sie eingeführt haben, zeigt nicht nur Ihre Hilflosigkeit, sondern führt auch zu falschen Solidarisierungen. ({13}) Das schematische Gleichsetzen von Rechts und Links bringt in keiner Weise voran, sondern richtet mehr Schaden an, als es Nutzen bringt. ({14}) Dann zum Entstehen einer neuen RAF: Das Bundesamt für Verfassungsschutz, der BKA-Präsident und alle anderen haben Ihnen gesagt, dass es das nicht ist, dass diese Leute zwar Gefährdungen in Kauf nehmen, dass sie hirnlos sind, dass sie aber Menschen nicht umbringen wollen. ({15}) Das unterscheidet sie von denen von Madrid, von London, von Oslo. Darin liegt der qualitative Unterschied. Wenn Sie die Unterschiede verrühren und sagen, das sei der Anfang, dann laufen Sie Gefahr, mit einer Selffulfilling Prophecy genau das herbeizureden, was wir nicht wollen. Das ist keine verantwortungsvolle Politik. ({16}) Schließlich und endlich: Politik muss verhindern, dass Menschen in diese Ecke des gewalttätigen Linksradikalismus getrieben werden. Protestbewegungen wie die Globalisierungsgegner oder die Okkupierer der Wall Street müssen Platz für ihre Proteste haben, und sei es in Form eines Platzes zum Zelten. Das muss man zulassen. ({17}) - Keine Angst, Herr Lindner, nicht in Ihrem Vorgarten, aber im öffentlichen Raum. Meine letzte Bemerkung. Das beste Mittel gegen linksextreme Gewalt ist eine sozial gerechte Gesellschaft. ({18}) - Sie können sie sich noch nicht einmal vorstellen. Viele sehen gerade in der Finanz- und Euro-Krise die soziale Gerechtigkeit immer weiter entschwinden. Insofern sollte Athen auch für uns ein Warnsignal und ein negatives Beispiel sein. Vielen Dank. ({19})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Wieland. - Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder. Bitte schön, Kollege Dr. Ole Schröder. ({0})

Dr. Ole Schröder (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003628

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche haben wir zwei Aktuelle Stunden. Gestern haben wir über die vom Chaos Computer Club untersuchte Software diskutiert. Dabei geht es um eine abstrakte Gefahr. Wir müssen hier wachsam sein, dass keine Software missbraucht wird. Heute sprechen wir über eine ganz konkrete Gefahr, die sich im Erfolg dieser Brandanschläge - neun Brandanschläge wurden allein im Monat Oktober auf das Bahnnetz verübt - bereits realisiert hat. ({0}) Wir haben ein Problem, was die rechtsextreme Gewalt angeht. Es ist mitnichten so, dass wir Rechts- und Linksextremismus gleichsetzen. Lieber Herr Wieland, wenn Sie der Auffassung sind, dass unsere Programme gegen Linksextremismus verbessert werden können, dann bringen Sie doch eigene Vorschläge dazu ein, was wir gegen den Linksextremismus weiter unternehmen können. ({1}) Wie war das in der Großen Koalition? Wir konnten uns hinsichtlich der Bekämpfung des Rechtsextremismus einigen. Es ist äußerst wichtig, in diesem Bereich gemeinsam vorzugehen. Alle Demokraten sollten da zusammenstehen. Aber immer wenn es um die Bekämpfung des Linksextremismus ging, war keine Einigung möglich. Da waren Sie nicht bereit, etwas zu unternehmen. Deshalb kann man uns nicht vorwerfen, dass wir das eine mit dem anderen vergleichen oder dass wir das eine mit Verweis auf das andere relativieren würden. Es muss auch einmal möglich sein, im Deutschen Bundestag über Linksextremismus zu reden und dieses Problem zu thematisieren, ohne dass gleich gesagt wird, es gebe noch Rechtsextremismus und andere Formen von Extremismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns als Demokraten einig sein: Es gibt keinen guten Extremismus. ({2}) Die Brandanschläge auf die Bahn waren politisch links motivierte Straftaten. Wir verzeichnen eine zunehmende Anzahl von solchen Taten. Die Brandanschläge auf die Bahn in und um Berlin sind nach heutigen Maßstäben, nach den Maßstäben des Strafgesetzbuches keine terroristischen Taten. Das ist auch nicht der entscheidende Punkt; denn die Auswirkungen auf die Bürger sind dadurch nicht geringer. Dafür ist nicht von Bedeutung, ob wir uns im Parlament auf eine Definition von Extremismus einigen. ({3}) Die Tatsache, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen hat, zeigt schon, wie gravierend diese Ereignisse waren. Ich möchte im Übrigen an Folgendes erinnern: Noch bis Dezember 2003, als Rot-Grün die Definition von Extremismus enger gefasst hat, ({4}) hätten wir eine solche Straftat durchaus als terroristische Tat bezeichnet. Das hätte der alten Definition entsprochen. ({5}) Sie haben den Straftatbestand eingeengt. ({6}) Aber lassen Sie uns jetzt nicht in diesen typisch deutschen Automatismus verfallen - wie der Kollege Gunkel das gemacht hat -, uns über Definitionen zu streiten. Lassen Sie uns vielmehr über das eigentliche Problem sprechen, nämlich linksextreme Gewalttaten. Diese Taten sind der bisherige Höhepunkt einer seit Jahren anwachsenden Anzahl politisch links motivierter Gewalttaten in unserem Land. Hier gilt es, nichts zu verharmlosen. Die Anschläge auf die Bahn sind der Versuch, flächendeckend und systematisch die Infrastruktur, die für die Funktionsfähigkeit eines Landes von existenzieller Bedeutung ist, zu beschädigen. Zigtausende Bürgerinnen und Bürger sind nicht nur bei ihren täglichen Abläufen erheblich gestört worden, sondern sie leben auch in der Angst, dass die Bahnen, auf die sie täglich angewiesen sind, nicht sicher sind. Genau das ist das Ziel dieser Täter, nämlich die Menschen zu verunsichern, Angst und Schrecken zu verbreiten, um damit unserer mobilen, freiheitlichen Gesellschaft zu schaden. Meine Damen und Herren, natürlich ist auch erheblicher wirtschaftlicher Schaden entstanden, nicht nur bei der Deutschen Bahn, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wir können nur von Glück reden, dass aufgrund der feuchten Witterung einige Brandsätze nicht gezündet haben. Die Sicherheitsbehörden sind - zusammen mit der Bahn - jetzt noch aufmerksamer als vorher. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Die aktuelle Brandanschlagsserie bestätigt den seit längerem von den Sicherheitsbehörden festzustellenden Anstieg der Zahl linker Straftaten. Seit 2005 verzeichnen wir - lediglich mit einer kleinen Abweichung im vergangenen Jahr - eine stete Zunahme der politisch links motivierten Taten in Deutschland. Das ist aber nicht allein auf die Brandanschläge zurückzuführen. Selbst wenn wir jeweils die Brandanschläge auf die Kfz außer Acht lassen, übersteigen die Zahlen der links motivierten Ge15692 walttaten die Vorjahreszahlen und erreichen sogar die des Rekordjahres 2009. Die gegenwärtige Entwicklung bei den linken Gewalttaten zeigt, dass die Innenminister und Innensenatoren der Länder sowie der Bundesminister des Innern gut daran getan haben, in der Herbst-IMK 2010 eine Gesamtkonzeption zur Bekämpfung der politisch motivierten Gewaltkriminalität links bzw. des gewaltbereiten Linksextremismus zu beschließen. Sie enthält Maßnahmen des Verfassungsschutzes sowie der Polizei und hat die wichtigsten Felder für eine enge Zusammenarbeit beider Bereiche identifiziert. Die Bedeutung dieser Gesamtkonzeption für die Bekämpfung linker Gewalt hat auch die IMK in ihrer heutigen Sondersitzung noch einmal hervorgehoben. Zudem hat die Innenministerkonferenz heute auch den Beschluss gefasst, dass ihr im kommenden Herbst eine Zusammenstellung der Erkenntnisse zu den Phänomenen „Anschläge auf die Bahn“ sowie „Brandanschläge auf Kfz“ vorgelegt wird. Auch in diesem Hause - das haben wir eben wieder erlebt - werden linke Straftaten im Vergleich zu anderen extremistischen Straftaten gern relativiert. Häufig wird gesagt: Die haben eigentlich gute Ziele, die auch viele friedliebende Bürger haben, wenn es etwa um den Afghanistan-Einsatz, bezahlbaren Wohnraum oder Protestaktionen gegen rechtsextremistische Aufmärsche geht. Seit Jahren wird von den Linken versucht, die linken Straftaten zu relativieren nach dem Motto: Die Linksextremisten wollen ja eigentlich das Gute, nur eben mit den falschen Mitteln. - Das ist falsch. Es gibt keinen guten Extremismus. ({7}) Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten. ({8}) Langsam scheint sich diese verharmlosende Wahrnehmung zu wandeln, nämlich in einer Zeit, in der immer mehr Kleinwagen und Familienkutschen in Brand gesteckt werden und die Menschen in Berlin von den Brandanschlägen erheblich betroffen sind. Was mir besondere Sorgen bereitet, ist die Gewaltbereitschaft der Linken gerade gegenüber unseren Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten. Wir können beobachten, dass die unglaubliche Gewaltbereitschaft immer stärker zunimmt. Das ist besorgniserregend. Es scheint kaum noch eine Hemmschwelle zu geben. Dies gilt insbesondere für Demonstrationen mit einer Rechts-linksKonfrontation. Da fliegen Pflastersteine, Brandsätze und Knallkörper. Da werden Polizeibeamte wirklich wie Sachen behandelt. Genau da liegt das Problem. Wenn man anfängt, Gewalt gegen Sachen als Mittel der politischen Auseinandersetzung zu akzeptieren, dann ist es nur noch ein ganz kleiner Schritt bis hin zur Akzeptanz von Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bzw. gegen Menschen im Allgemeinen. Es ist richtig, dass die Koalition ein Zeichen dafür gesetzt hat, dass wir als Gesellschaft diese Entwicklung nicht akzeptieren. So haben wir zum Beispiel den in § 113 StGB vorgesehenen Strafrahmen für Gewalt gegen Polizeibeamte von zwei auf drei Jahre erhöht. Das zeigt, dass wir eine solch ungeheure Gewalt nicht akzeptieren.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Dr. Ole Schröder (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003628

Gerade diese Straftaten müssen uns noch einmal vor Augen führen, dass wir achtsam sein müssen, um unseren Rechtsstaat nicht zu gefährden. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Herren und Damen! Das Thema der von der Regierungskoalition beantragten Aktuellen Stunde lautet: linksextremistisch motivierte Gewalt. Darüber, Herr Staatssekretär, würde ich jetzt gerne reden. Ich frage mich: Warum haben Sie das zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde gemacht? ({0}) Ja, das ist ein Kriminalitätsfeld mit hoher Betroffenheit der Bevölkerung. Ja, es gab Brandanschläge und ein dazugehöriges Bekennerschreiben, welches nahelegt, dass die Täter linksextremistisch motiviert waren. Wenn wir uns aber das gesamte Kriminalitätsfeld ansehen, dann stellen wir fest, dass die Zahl der Straftaten in diesem Bereich im Jahr 2010 um etwa ein Viertel auf etwa 6 900 Fälle zurückgegangen sind. ({1}) Auch die Zahl der Gewalttaten ist um knapp 25 Prozent gesunken. Wir sprechen also von 1 377 links orientierten Gewalttaten im Jahre 2010. Das ist noch immer eine sehr hohe Zahl. Dieser Zahl müssen wir uns annehmen und etwas dagegen tun. ({2}) Wir haben bereits etwas dagegen getan. Wir haben im Fachausschuss, im Innenausschuss, über links motivierte Kriminalität geredet. ({3}) Wir haben mit Fachleuten darüber geredet. Wir haben über Aufklärung, über Aussteigerprogramme und über Prävention geredet, Herr Kollege Ruppert. Warum also dieses Thema in einer Aktuellen Stunde und warum hier? ({4}) Wir könnten genauso gut über andere Deliktfelder reden, die eine steigende Tendenz aufweisen. Ich denke dabei an die organisierte Kriminalität. Allein im letzten Jahr ist dadurch bundesweit ein Schaden von 1,65 Milliarden Euro entstanden, davon 300 Millionen Euro durch Eigentumskriminalität. Ich möchte Ihnen einmal schildern, was das bedeutet - ich habe es selber erlebt -: Wenn zum Beispiel bei einem Einbruchsdiebstahl in den engsten Privatbereich der Bürger und Bürgerinnen eingegriffen wird, dann hat das für die Betroffenen traumatische Folgen, die weit über den materiellen Schaden der Kriminalität hinausgehen. Darüber sollten wir uns einmal eingehender unterhalten. ({5}) Die Frage ist: Warum reden wir hier über Linksextremismus? Ich kann es Ihnen sagen: Weil Sie, meine Herren und Damen von der Regierungskoalition, einen Linksterrorismus herbeireden wollen! Das ist in einigen Wortbeiträgen bereits angeklungen. Das kann ich auch belegen: Angefangen hat es mit Verkehrsminister Peter Ramsauer. Er sprach als Erster von verbrecherischen, terroristischen Ansätzen neuer Dimension. ({6}) Der niedersächsische Innenminister Schünemann warnt vor einer Vorstufe zum Terrorismus. Der Bundesinnenminister lässt verlauten, man müsse wachsam sein, damit sich die durch die Brandanschläge zum Ausdruck kommende Gewaltbereitschaft nicht zu einem neuen Linksterrorismus entwickelt. ({7}) Die Frage ist: Was ist Terrorismus? Ich berufe mich dabei auf den Bundesgerichtshof, der 2007 entschieden hat: Es sind Straftaten mit staatsgefährdenden Zielen, die den Staat erheblich schädigen können. Und: Es geht Terroristen darum, den politischen Gegner gezielt zu töten, wie das auch bei der Sauerland-Gruppe, den Kofferbombern oder anderen islamistischen Terroristen der Fall war bzw. ist. Die Praktikerinnen und Praktiker sagen: Nein, eine solche Gefahr besteht hier nicht. Der Berliner Innensenator Körting sieht keinen neuen organisierten Linksradikalismus. Er spricht von „radikalisierten Einzeltätern“. Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, dem heute schon von mehreren Seiten des Hauses das Vertrauen ausgesprochen worden ist, stellt fest, dass der Terrorismus gezielte Anschläge auf Personen voraussetze. Er verweist darauf, dass das hier nicht der Fall sei. Die Taten sind auch in der Szene schwer vermittelbar; das wurde heute hier schon gesagt. Auf den Internetseiten der linken Szene häufen sich Kommentare, die Distanzierungen, ja sogar Beschimpfungen zum Inhalt haben. Ich fasse zusammen: Die Taten sind nicht unter dem Begriff „Terrorismus“ zu subsumieren. Selbst die linke Szene spricht den Tätern die Glaubwürdigkeit ab. ({8}) Ich möchte jetzt zu den Taten selber kommen. Es handelt sich um Brandanschläge auf Bahnanlagen. Meine Herren und Damen, die Infrastruktur gehört uns allen. Das heißt, diese Angriffe waren, anders als die Brandanschläge auf Pkw, Angriffe auf die Allgemeinheit und somit auf uns alle hier. Jetzt zitiere ich jemanden aus Ihren Reihen, aus der Regierungskoalition: Sie haben völlig richtig gesagt, dass die Täter weder links noch politisch noch pazifistisch sind. Sie haben recht: Es sind kriminelle, radikalisierte Einzeltäter, denen man mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln begegnen muss. ({9}) Doch was müsste die Bundesregierung nun in diesem Fall tun? Verantwortungsvoll wäre es, ehrlich zu informieren. Was tun Sie? Sie sind von einem ehrlichen Lagebild meilenweit entfernt. Dadurch rufen Sie Trittbrettfahrer und Nachahmer hervor. Das, meine Herren und Damen, ist brandgefährlich. ({10}) Wir haben aber auch Chancen, die wir ergreifen müssen. Erstens haben wir die Chance, die Täter zu ermitteln; wir haben gestern im Fachausschuss gehört, dass das auf dem Wege ist. Zweitens müssen wir das Thema Bevölkerungsschutz angehen. Wir müssen uns in Übungsszenarien dem Problem von Angriffen auf die Verkehrsinfrastruktur widmen. Drittens müssen wir im Fachausschuss mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bzw. mit seinem Leiter, dem Fachmann Christoph Unger, über Aufgaben, Strukturen und Chancen des Amtes reden.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Würden Sie zum Schluss kommen, bitte?

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Viertens müssen wir die Bevölkerung ehrlich informieren und nicht, wie es die Regierung tut, Sprechblasen produzieren; Sie tun das seit zwei Jahren. Reden können Sie gut. Aber Reden ist Silber, verantwortungsvolles Handeln wäre Gold. Danke schön. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Kirsten Lühmann. - Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring. Bitte schön, Kollege Patrick Döring. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Lühmann fordert hier ein ehrliches Lagebild ein; ich will versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten. Zu einem ehrlichen Lagebild gehört dazu, dass - wie auch in der Rede soeben sowie in den Reden der Kollegin Jelpke und des Kollegen Wieland - ganz offensichtlich ein Unterschied zwischen den Gewalttaten, die in dieser Stadt von einem bestimmten politischen Spektrum ausgehen, und anderen Gewalttaten in anderen Teilen Deutschlands gemacht wird. Eben wurde sogar der Eindruck erweckt, die Anschläge gegen die Bahn seien gesellschaftlich mehr zu ächten als Anschläge gegen Fahrzeuge. ({0}) Es ist ein Problem dieser Gesellschaft, dass hier solche Reden gehalten werden. ({1}) Zum ehrlichen Lagebild gehört dazu, dass der grüne Abgeordnete Benedikt Lux im Abgeordnetenhaus in Berlin sagt, das Abbrennen von Pkw in Berlin sei ein Konjunkturprogramm der besonderen Art. Das gehört zum Lagebild; das ist das Problem dieser Gesellschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich sage ganz deutlich: Zum ehrlichen Lagebild gehört auch, geschätzter Kollege Wieland, dass Sie hier erneut das Thema Extremismusklausel aufgegriffen haben. ({3}) Es ist für die drei Oppositionsfraktionen offensichtlich eine Unzumutbarkeit, dass diejenigen, die Mittel aus dem Bundeshaushalt empfangen wollen, ihre Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung erklären. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, spricht in Bezug auf Ihre Haltung Bände; das ist das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben. ({4}) Die Deutsche Bahn ist ein Unternehmen, das dem Bund gehört. Die Infrastruktur, die angegriffen wurde - das hat die Kollegin Lühmann richtig festgestellt -, gehört dem Bund und wurde mit Steuermitteln errichtet. Das Unternehmen, das dem Bund gehört, hat bereits jetzt mehr als eine halbe Million Euro in die Hand genommen, um zusätzliche Abwehr- und Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Der Bund hat durch seine Sicherheitsbehörden erheblichen Aufwand betreiben müssen. Klar ist: Wenn es in diesem Haus keine deutliche Abgrenzung von dieser Art von Gewalt gibt, ({5}) dann werden wir es nicht schaffen, 34 000 Kilometer Schienennetz in Ordnung zu halten und zu schützen. Vielmehr würden wir signalisieren: Macht an anderer Stelle weiter! Wir als Koalition sagen: Wir wollen nicht, dass diese Gewalttaten verharmlost werden. ({6}) Die taz, die hier in Berlin erscheint, hat den Bekennerbrief eine „stilistisch gelungene Abhandlung“ über das Leiden am Kapitalismus genannt. ({7}) Einige Redner aus den Oppositionsfraktionen haben das in Verbindung mit den Demonstrationen gegen das kapitalistische System gebracht. Ich hätte mir schon gewünscht, dass auch einer von Ihnen sagt: In der sozialen Marktwirtschaft geht es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser als in allen anderen wirtschaftlichen und politischen Systemen der Welt. ({8}) Das gehört zur Wahrheit dazu. Das sollte man auch hier einmal benennen, anstatt den Eindruck zu erwecken, als gehörte das alles irgendwie zusammen. ({9}) Das große Problem in dieser Auseinandersetzung ist, dass Sie ganz offensichtlich in Kauf nehmen, dass zuPatrick Döring nächst Autos und dann Bahnanlagen brennen und dann später auch noch andere Dinge passieren. ({10}) Ich sage deutlich: Das ist der Grund, warum wir die Aktuelle Stunde für wichtig gehalten haben. Ja, diejenigen, die die Brandanschläge auf die Bahnanlagen verübt haben, sind wirr. Sie sind wahrscheinlich viel weniger politisch, als wir vermuten. Wenn man den Brief liest, der sich gegen Leistungsdruck und Arbeitszwang wendet und die Entschleunigung von Berlin fordert, dann ist das an Unoriginalität und an Merkwürdigkeit kaum noch zu überbieten. In einem Punkt bin ich mir mit dem Kollegen Wieland allerdings einig: Solch ein Geschwurbel hätte die RAF der deutschen Öffentlichkeit wahrscheinlich erspart. ({11}) Es zeigt natürlich auch: Den Eindruck zu erwecken, das alles seien irgendwelche Wirrköpfe, mit denen das politische Spektrum, zumindest Teile der Linkspartei, aber auch Teile der Grünen, nichts zu tun hat, das ist dieses Hauses nicht würdig. ({12}) Deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn wir in der Diskussion, in der es um Anschläge gegen Eisenbahnanlagen, gegen Fahrzeuge und gegen Infrastrukturen geht, ({13}) deutlich machen, dass wir in diesem Haus dies verurteilen. Dies verlangen wir in ganz besonderer Weise von allen, die hier auf demokratischer Grundlage ihrer Arbeit nachkommen. Ich jedenfalls hoffe sehr, dass die Telefonnummern, die zur Lossagung von der linksextremistischen Szene dienen sollen, nicht in die Kreisgeschäftsstellen der Linkspartei und der Grünen führen. Vielen Dank. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Swen Schulz. Bitte schön, Kollege Swen Schulz. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Döring, ich weiß nicht, was diese Art von Scharfmacherei hier soll. ({0}) Um es klar zu sagen: Es gibt kein Motiv, keine Begründung für die Rechtfertigung solcher Taten. Sie sind kriminell und gemeingefährlich. Wir verurteilen solche Anschläge, egal ob auf Bahngleise oder auf Autos, egal ob von rechts oder von links; da gibt es kein Vertun. ({1}) Es handelt sich nicht „nur“ um Gewalt gegen Sachen. Was hätte denn passieren können, wenn Signalanlagen ausgeschaltet werden, wenn die Kommunikation gestört wird? Es war großes Glück, dass kein Mensch zu Schaden kam. An dieser Stelle ein herzlicher Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn und an die Sicherheitskräfte, die so umsichtig agiert und Schlimmeres verhindert haben! Ich glaube, das sollte man hier betonen. ({2}) Nun gibt es die Diskussion, ob es sich dabei um Terrorismus handelt oder nicht. Zunächst einmal ist festzustellen: Es ist zweitrangig, wie wir das nennen, vor allem den Bürgerinnen und Bürgern ist es völlig egal. Sie wollen zu Recht, dass wir alles Mögliche dafür tun, dass die Sicherheit gewährleistet ist. Das ist doch das Entscheidende. ({3}) Man muss trotzdem einmal fragen, was hinter dieser Begriffsdebatte steckt. Zunächst einmal an Sie, Herr Kollege Döring: Auf der einen Seite ist vollkommen klar, dass solche Taten nicht verharmlost werden dürfen nach dem Motto: Die wollten ja keine Menschen gefährden, und die Ziele sind doch möglicherweise richtig. ({4}) - Regen Sie sich doch nicht auf! ({5}) Ich bin doch vollkommen Ihrer Meinung. - Eine solche Rhetorik wäre der vollkommen falsche Weg. Wir dürfen solchen Leuten, solchen Ideologien keinen Millimeter Spielraum lassen. ({6}) Da darf es keine Missverständnisse geben. ({7}) Swen Schulz ({8}) Auf der anderen Seite dürfen wir solche Anschläge sozusagen nicht hochreden. Viele aus der Koalition kommen mit gewaltigen Begriffen wie „Terrorismus“ und „RAF“. Der Kollege Luczak beispielsweise spielt hier den starken Mann und will aus dieser Situation ganz offensichtlich politisches Kapital schlagen. ({9}) Das ist der falsche Weg. Mit Hysterie helfen Sie niemandem. Im Gegenteil: Sie müssen sich fragen, ob Sie das Spiel der Extremisten nicht sogar ein Stück weit mitspielen. Das geht so nicht. ({10}) Gucken wir uns das Ganze einmal an: Der Bundesinnenminister hat in seiner ersten Stellungnahme überhaupt nicht von Terrorismus geredet. Erst später, als er gehört hat, dass viele aus der CDU/CSU-Fraktion von Terrorismus gesprochen haben, hat er in einem Interview rhetorisch ein bisschen aufgemuskelt. Aber auch bei der Titelgebung dieser Aktuellen Stunde ist von Terrorismus wieder nicht die Rede. Ich nehme es einmal als hoffnungsvolles Zeichen, dass vielen von Ihnen von der Regierungskoalition bei den Geistern, die Sie da herbeirufen, selbst nicht ganz wohl ist. Es kommt darauf an, dass wir klar, realistisch und nüchtern analysieren und dann die Gewalttaten konsequent bekämpfen, und zwar ohne Verharmlosung und ohne Übertreibung. Das ist der sachlich richtige Weg. ({11}) Die entschiedene öffentliche Stellungnahme ist die erste Maßnahme, wenn man so will, zur Bekämpfung solcher Gewalttaten. Die zweite Maßnahme setzt dann bei den Sicherheitsbehörden und in diesem Fall auch bei der Bahn an. Es muss dann näher besprochen werden, inwiefern etwa eine Videoüberwachung oder die Einzäunung von Anlagen sinnvoll sind. Natürlich stellt sich auch die Frage nach der Personalausstattung der Sicherheitskräfte und der Polizei. In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Bundespolizei gerade in Berlin und im Berliner Umland in den letzten Jahren im Bereich der Bahn sehr ausgedünnt wurde. Sie ist unterbesetzt. Die CDU und die FDP - Herr Luczak jetzt wieder - kritisieren ja immer, dass der rot-rote Senat zu wenig Polizei zur Verfügung stelle. Ich denke, Sie sollten den Mund nicht zu voll nehmen, sondern vor der eigenen Haustür kehren und hier im Deutschen Bundestag dafür sorgen, dass die Bundespolizei ordentlich ausgestattet ist. ({12}) Bei alledem müssen wir auch an Folgendes erinnern: Es ist klar, dass man Gewalt letztendlich nicht ausschließen kann. Bei allem Engagement, bei allem, was wir da einsetzen: Totale Sicherheit gäbe es vielleicht nur in einem totalen Staat, und den wollen wir alle wohl nicht. Herzlichen Dank. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Swen Schulz. - Der nächste Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann für die Bundesregierung. Bitte schön, Kollege Enak Ferlemann.

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vorfälle rund um die Brandanschläge auf Gleisanlagen sind Thema im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages gewesen und, Frau Kollegin Lühmann, auf Wunsch aller Fraktionen dort behandelt worden. Grundlage der Diskussion war ein Bericht unseres Hauses zu den derzeitigen Sachständen in diesem Zusammenhang. Zunächst vielleicht etwas zu den Daten, um ein bisschen zur Versachlichung der Diskussion beizutragen. Wir haben in Deutschland ein Eisenbahnnetz von etwa 34 000 Kilometern, das man schlechterdings nicht, wie von manchen vorgeschlagen, durch Zäune schützen kann. Allein die DB AG transportiert etwa 5,3 Millionen Fahrgäste pro Tag und knapp unter 2 Milliarden Fahrgäste pro Jahr. Pro Tag sind 26 700 Züge im Personennah- und -fernverkehr und etwa 5 100 Güterzüge im Einsatz. Man kann daran sehen, wie kompliziert, aber auch wie bedeutsam das System Schiene für unsere Volkswirtschaft ist. Von den Auswirkungen der Anschläge waren mehr als 2 600 Züge betroffen. Dadurch ergaben sich über 70 000 Verspätungsminuten. Das macht deutlich, dass das, was mein Bundesminister, Dr. Peter Ramsauer, ausgeführt hat - er hat gesagt, dass wir es mit einer neuen Dimension zu tun haben -, durchaus seine Berechtigung hat. Das hatten wir in dieser Art und Weise bisher noch nicht. ({0}) Es handelt sich um eine Art der politischen Auseinandersetzung, die wir in Deutschland bisher so nicht kannten. Deswegen darf man allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DB AG und den Sicherheitskräften sehr dankbar sein, dass sie dafür gesorgt haben, dass nicht mehr passiert ist und der Schaden in Grenzen gehalten werden konnte. Gleichwohl werden wir uns auf diese neue Situation einstellen müssen. Ich denke an gezielte Aktionen, die Verstärkung der Kräfte oder andere Maßnahmen. Es bleibt aber die Sorge, dass sogenannte Nachahmungsaktionen folgen. Eine haben wir schon gehabt, in Niedersachsen. Dort hat man Ähnliches getan. Auch dort konnten sehr umsichtige Mitarbeiter der DB AG den Schaden eingrenzen. Das Problem dürfte damit aber noch nicht behoben sein. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns immer wieder bewusst machen, dass bei solchen Anschlägen bewusst Menschenleben in Gefahr gebracht werden, dass auch Unglücke provoziert werden. Stellen Sie sich einmal vor, ein mit schwerem Material beladener Güterzug entgleist durch eine solche Aktion und verursacht einen schweren Unfall. Reisende wie auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden bewusst gefährdet. Deswegen verurteilen wir als Verkehrsressort diese Aktionen aufs Schärfste. Das sind menschenverachtende Aktionen, und die sind durch nichts zu entschuldigen. ({1}) Auch mit linker Ideologie sind sie nicht zu begründen. Anschläge auf die Infrastruktur - darum handelt es sich hier - betreffen immer die gesamte Gesellschaft, weil die Schäden nicht nur Berlin oder den Großraum Berlin treffen. Aufgrund der Verkettung und Verknotung des Bahnsystems sind die Folgen vielmehr in ganz Deutschland spürbar. Deshalb ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, dem Einhalt zu bieten. Genau deswegen sind Diskussionen darüber, was geht und was nicht, gefährlich. Ich kenne Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die das sogenannte Schottern im Rahmen von Castortransporten gut finden. Auch dabei geht es um die Infrastruktur. Da wird so getan, als wäre das Schottern geradezu eine gute Tat. Dadurch wird das gesellschaftliche Klima beeinflusst. Aus diesem Umfeld heraus erfolgen solche Taten. Das resultiert daraus. ({2}) Man muss aufpassen, weil in dieser Szene alles miteinander vermischt wird, das angeblich gesellschaftlich gewünschte, „gute“ Schottern und das vermeintlich geächtete Verüben eines Anschlags in Berlin. Nein, das gehört zusammen. Deshalb müssen wir uns von diesen Dingen klar distanzieren. Gleichwohl: Da wir auf diese Situation vorbereitet sind, können die Menschen die Verkehrsmittel in Deutschland benutzen. In Deutschland kann man guten Gewissens die Straße sowie die Schienen-, Luft- und Wasserwege nutzen, dank der vielen guten und fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsdienste und dank der vielen guten und fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Herzlichen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Enak Ferlemann. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Stephan Mayer. Bitte schön, Kollege Stephan Mayer. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal möchte ich festhalten: Es ist richtig und gut - das sage ich insbesondere an Ihre Adresse, Frau Kollegin Lühmann -, dass diese Aktuelle Stunde stattfindet. Manche Beiträge vonseiten der Opposition bestärken mich in der Annahme, dass es richtig war, diese Aktuelle Stunde zu beantragen. ({0}) Die Brandanschläge in Berlin und in Brandenburg in der vergangenen Woche waren schwerwiegende, heimtückische, feige und widerwärtige Straftaten. Sie waren ein Angriff auf das Gemeinwohl und auf unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung. Ich möchte betonen: Glücklichen Umständen, insbesondere der Tatsache, dass es in der betreffenden Nacht geregnet hat, ist es zu verdanken, dass kein Personenschaden entstanden ist. Der verursachte Schaden - auch das möchte ich betonen war aber durchaus immens: Insgesamt waren mehr als 2 600 Züge von den Anschlägen betroffen. 150 Züge sind sogar komplett ausgefallen. Insgesamt gab es ungefähr 70 000 Verspätungsminuten. Zehntausende Pendler sind in diesen vier Tagen zu spät zum Arbeitsplatz, zur Schule, zum Kindergarten und zu spät zu privaten oder beruflichen Verpflichtungen gekommen. Deshalb ist es, werter Herr Kollege Gunkel, keine Dramatisierung, wenn wir darauf hinweisen, dass es einer deutlichen Distanzierung des gesamten Hauses von derartigen, extremistischen Straftaten bedarf. Ich bin mir auch sicher - das sage ich ganz offen -, dass die Betroffenen keinerlei Verständnis dafür haben, dass wir hier eine akademische Diskussion darüber führen, ob es sich nun um extremistische oder um terroristische Straftaten gehandelt hat. Ich bin mir sicher, dass es jemandem, der in einem der betreffenden Züge saß oder damit fahren wollte, vollkommen egal ist, ob er nun von linkem Extremismus oder von linkem Terrorismus betroffen ist. ({1}) Der Vollständigkeit halber möchte ich darauf hinweisen, dass es der Gesetzesänderung durch Rot-Grün im Jahr 2003 zu „verdanken“ ist - § 129 a Abs. 2 des Strafgesetzbuches wurde dahin gehend verändert -, dass solch eine Straftat nun nicht mehr als Straftat einer terroristischen Organisation zu verfolgen ist. Hier ist durchaus eine akademische und rechtspolitische Debatte zu führen, ob diese Gesetzesänderung, die von Ihnen 2003 vorgenommen wurde, richtig ist. Abgesehen von dieser akademischen Debatte müssen wir uns dem Problem von Grund auf zuwenden. Ich halte es für schockierend und - das sage ich ganz offen für unerträglich, dass manche Politiker, insbesondere Sie, Frau Kollegin Jelpke, diese Anschläge und vor allem die Motive der Gruppe sogar noch verharmlost haben, indem Sie gesagt haben, dass Sie durchaus der Meinung seien, dass die Ziele, die diese Gruppe verfolge, richtig seien. Das ist aus meiner Sicht eine unfassbare und unhaltbare Aussage. Ich erwarte hier von Ihnen eine ganz eindeutige Distanzierung von diesen widerwärtigen Straftaten. ({2}) Stephan Mayer ({3}) Es darf kein Verständnis, keine Rechtfertigung und keine wie auch immer geartete, vielleicht sogar subtile Begründung für derartige Straftaten geben. Ich muss auch ganz deutlich sagen: Die Ankündigung der Gruppe „Hekla“, dass man Berlin in einen Pausenmodus versetzen wolle, ist an Zynismus und Verhöhnung nicht mehr zu übertreffen. Eines ist klar: Diese Brandanschläge waren kein Dummejungenstreich. Der Umstand, dass 18 Brandsätze angebracht wurden, baugleich waren und sogar zur gleichen Zeit detonieren sollten, lässt den Schluss zu, dass in der betreffenden Gruppe ein durchaus hoher Organisationsgrad vorhanden ist. Es ist unmissverständlich festzuhalten, dass sich insbesondere die linksextremistische Szene in Berlin stärker konzertiert hat und auch eine stärkere strukturelle Bindung in dieser Gruppe vorhanden ist. Heute wurde schon darauf hingewiesen: Es gab in der vergangenen Woche zwei Vorfälle. Der eine Vorfall war der angebliche Skandal um den Staatstrojaner, über den sich die ganze Republik echauffiert hat. Ich möchte klarstellen: Sowohl in der gestrigen Debatte im Innenausschuss als auch in der Aktuellen Stunde gestern hat sich gezeigt, dass dies alles heiße Luft ist. ({4}) Es wurde klargestellt, dass an den Vorwürfen nichts dran ist. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich auch nur ein Polizeibeamter strafrechtlich oder disziplinarrechtlich zu verantworten hat. ({5}) Der andere Vorfall - dessen Bedeutung war meines Erachtens leider niederschwelliger - waren die Brandanschläge in Berlin. Ich möchte noch einmal deutlich machen: Diese Brandanschläge haben insbesondere bei der DB AG ganz konkret Schaden, Millionenschaden verursacht und, wie schon erwähnt, Zehntausende Pendler und Fernreisende unmittelbar in ihren Persönlichkeitsrechten betroffen. Es ist in aller Deutlichkeit festzuhalten, dass es in Deutschland einen erheblichen Anstieg der linksextremistisch motivierten Gewalt gibt. Frau Kollegin Lühmann, Sie haben auf das Jahr 2010 abgehoben. Ich möchte das Lagebild des ersten Quartals 2011 erwähnen: Es gibt einen deutlichen Anstieg der Zahl der Straftaten im Vergleich zum ersten Quartal 2010, nämlich um 39 Prozent, und einen Anstieg der Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten im Vergleich zum Vorquartal sogar um 68 Prozent.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dies zeigt ganz klar: Es gibt einen deutlichen Anstieg der Gefahren, die uns aus dem Bereich des Linksextremismus drohen. Dieses Problems müssen wir uns behende, stringent und deutlich annehmen. Deswegen erwarte ich von diesem Haus ohne Wenn und Aber eine ganz klare und unmissverständliche Distanzierung von diesen unsäglichen und unmöglichen Straftaten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. - Jetzt der letzte Redner unserer Aktuellen Stunde, Kollege Armin Schuster für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Herr Kollege. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn der Generalbundesanwalt anlässlich der jüngsten Brandanschlagsserie ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der verfassungsfeindlichen Sabotage einleitet, dann ist das meines Erachtens Anlass genug, im Deutschen Bundestag wohltemperiert - Herr Schulz, da haben Sie recht - eine politische Bewertung hierzu abzugeben. Es ist auch Anlass genug für eine Bewertung des Umgangs mit politisch motivierten Straftaten, in diesem Fall mit Straftaten aus der linken Ecke unserer Gesellschaft. Durch die 18 Brandvorrichtungen - es heißt übrigens „unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen“, Frau Jelpke; das heißt aber nicht, dass sie dilettantisch sind - sind bisher keine Personen zu Schaden gekommen. Diese Angriffe zielten ganz offensichtlich zunächst auf die Infrastruktur. Die Täter wollten Teile unserer Gesellschaft lahmlegen und uns zu einer Verhaltensänderung zwingen. Meine Damen und Herren, ein Angriff auf die Infrastruktur ist schon heute - erst recht allerdings in der Zukunft - die Sicherheitsbedrohung schlechthin für eine moderne Gesellschaft. Nirgendwo sind wir verletzlicher als bei der Infrastruktur. Kommunikationsnetze, Energieleitungen und Verkehrswege werden immer mehr zu Hauptschlagadern, die sehr verletzlich sind. Die 34 000 Kilometer Bahnnetz sind dafür ein Beleg. Hier kann mit begrenztem Mittelaufwand ein sehr großer Schaden angerichtet werden. Die Gefahr für die Täter, auf frischer Tat ertappt zu werden, ist zunächst gering. ({0}) Wir müssen schon aus sicherheitsstrategischen Gründen mit größter Entschiedenheit gegen die Täter vorgehen. Es muss auch für die Zukunft jedem klar sein, dass der Staat hier bei niedrigster Einschreitschwelle null Toleranz walten lassen wird. In diesem Sinne werden die Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit tun. Ich bin zuversichtlich, dass sie die Zusammenhänge in diesem Fall aufklären werden. Armin Schuster ({1}) ({2}) Das ist für mich im Moment das wichtigste Signal und nicht das Führen einer politischen Diskussion über Terrorismus etc. ({3}) Was mir darüber hinaus politisch Sorge bereitet, ist der schon seit längerem festzustellende zuweilen leichtfertige Umgang einiger Politiker und Medienvertreter mit dem Thema „linke Gewalt“. ({4}) Ich warne hier vor einem rhetorischen Dammbruch. Wir dürfen linke Gewalt nicht verharmlosen oder gar rechtfertigen. Politisch motivierte Verbrechen sind Verbrechen - Punkt. Gewalt gegen Menschen oder Sachen werden wir nicht tolerieren. Gewalt gegen Sachen, wie in Berlin, ist leider oft die Vorstufe von Gewalt gegen Personen. Dass die Zahl linksextremistischer Gewalttaten ansteigt - 2010 war nur eine kleine Delle zu verzeichnen; die Zahl steigt wieder stark an -, muss ich nicht wiederholen. Hier muss eine wehrhafte Demokratie wachsam bleiben. Sie muss Verfassungsfeinde von rechts wie von links ohne Unterschied bekämpfen. Doch auf dem linken Auge scheinen einige blind zu sein oder zumindest Sehstörungen zu haben; denken wir nur an die Übergriffe Autonomer auf Polizisten im Februar dieses Jahres in Sachsen. Dass es sogar Parlamentarier gibt, die das Durchbrechen von Polizeiketten als „Durchfließen“ rhetorisch verniedlichen, muss einem doch zu denken geben. Kein Politiker darf linke oder gar linksextremistische Gewalt, ob vorsätzlich oder unbedacht, rhetorisch wieder salonfähig machen. Wer zum Beispiel jahrelang eine Sicherheitspolitik wie Rot-Rot in Berlin macht, sollte sich nicht wundern, wenn ihm dieses Problem in zunehmendem Maße auf die Füße fällt. Man hatte allzu lange den Eindruck, dass Hausbesetzer und brennende Autos hier ein Teil der Lokalfolklore sind. ({5}) Ich bin dankbar, dass die SPD eine sehr richtige Entscheidung getroffen und bei Ihnen ein Umdenken eingesetzt hat. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die neue rotschwarze Landesregierung die Fehler der Vergangenheit korrigieren und dem Thema Sicherheit in dieser Stadt ein neues Gesicht geben wird. ({6}) Ich muss das jetzt sagen, Herr Gunkel: Sie haben sogar schon angefangen. Ich finde es zwar nicht gut, dass die CDU daran nicht beteiligt ist, aber die Sache mit dem neuen Polizeipräsidenten lässt einiges erwarten. Ein Gedanke zum Abschluss. In der Süddeutschen Zeitung wurde diese Woche kommentiert, die Politik behandle das Thema „innere Sicherheit“ stiefmütterlich. Ich kann diese Einschätzung zum Teil nachvollziehen. Wir dürfen dieses Feld nicht den Talkshows überlassen. ({7}) Hier ist der Ort, an dem wir fachlich über innere Sicherheit debattieren sollten. In dieser Woche tun wir dies bereits zum zweiten Mal. Das macht mir keine Sorge, sondern ermutigt mich. Gerne würde ich dies künftig häufiger zu solch prominenter Zeit tun, auch dann, wenn es vorher kein mediales Vorkommnis gegeben hat. ({8}) Mein Fazit: Das war eine gute Woche für die Innenpolitik in Deutschland und für den Deutschen Bundestag. Danke schön. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. Sie waren der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde. ({0}) - Ja, genau. Das war eine Punktlandung. Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie Ihre Rede auf die Sekunde genau beendet haben. Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf - Drucksache 17/6000 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) - Drucksache 17/7387 Berichterstattung: Abgeordnete Erwin Rüddel Miriam Gruß Heidrun Dittrich Katja Dörner Vizepräsident Eduard Oswald - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/7388 - Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Mattfeldt Rolf Schwanitz Florian Toncar Steffen Bockhahn Sven-Christian Kindler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bezahlte Pflegezeit einführen - Organisation der Pflege sicherstellen - zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern - Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen - Drucksachen 17/1754, 17/1434, 17/7391 Berichterstattung: Abgeordneter Willi Zylajew Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der Sozialdemokraten vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Sie alle sind damit einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erstes hat in unserer Debatte Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder für die Bundesregierung das Wort. Bitte schön, Frau Bundesministerin. ({4})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Januar 2010 habe ich hier im Deutschen Bundestag meine erste Rede als Bundesfamilienministerin gehalten. Ich habe damals angekündigt, dass ich ein lange vernachlässigtes Problem aufgreifen will, nämlich die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. ({0}) Dieses Versprechen habe ich gehalten. ({1}) Wir verabschieden heute ein Gesetz, das vielen pflegenden Angehörigen helfen wird. Mit der Einführung der Familienpflegezeit können sich Menschen Zeit für Pflege nehmen, ohne allzu große finanzielle Einbußen hinnehmen und ohne Angst haben zu müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das ist ein innovatives Modell, das die Bürgerinnen und Bürger entlastet, ohne unsere sozialen Sicherungssysteme zusätzlich zu belasten. Wir setzen damit auf Hilfe zur Selbsthilfe statt auf neue Schulden zulasten künftiger Generationen. ({2}) Durch genau diese Schuldenpolitik ist der Sozialstaat in die Krise geraten. Deswegen brauchen wir neue Wege, um ihn zukunftsfähig zu machen. Die Familienpflegezeit ist ein solcher Weg, um Menschen Zeit für Verantwortung zu geben. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, ein realistisches und an den Bedürfnissen der Menschen orientiertes Konzept zu entwickeln. Auch durch die parlamentarischen Beratungen der letzten Wochen konnten wir noch einige wichtige Punkte in den Gesetzentwurf aufnehmen, zum Beispiel auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Versicherung. Auch hier ganz herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit. ({3}) Die Anstrengungen haben sich gelohnt. Mittlerweile haben die ersten Unternehmen schon angekündigt, dass sie die Familienpflegezeit zum 1. Januar 2012 einführen wollen. Die Deutsche Telekom wird dies tun, die Deutsche Post wird dies tun, der Automobilzulieferer Continental wird dies tun, Airbus Deutschland wird dies tun, und der Stahlhersteller Georgsmarienhütte sowie der Pharmakonzern Roche haben die Familienpflegezeit bereits eingeführt. ({4}) Es sind aber keineswegs nur die großen Unternehmen, die die Chancen erkannt haben, die mit der Familienpflegezeit verbunden sind. Gehen Sie doch einmal in mittelständische Unternehmen, die händeringend nach Fachkräften suchen. Dort werden Sie genauso wie ich zu hören bekommen, dass das Thema „Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ längst im Unternehmensalltag angekommen ist. Viele Unternehmen wollen ihre Beschäftigten dabei unterstützen, die Pflege der kranken Mutter sicherzustellen. Man muss sie nicht dazu zwingen. Was sie brauchen, sind praxistaugliche Instrumente, die wir ihnen an die Hand geben müssen, und zwar aus einem ganz schlichten Grund: Es ist kostengünstiger, die FamilienBundesministerin Dr. Kristina Schröder pflegezeit anzubieten, als erfahrene, gut ausgebildete Mitarbeiter gehen lassen zu müssen. Deshalb bin ich überzeugt: Der Erfolg wird Union und FDP recht geben. Mit der Familienpflegezeit lassen wir die Menschen, die ihren Angehörigen einen würdigen Lebensabend schenken wollen, nicht im Stich. ({5}) Meine Damen und Herren, als ich das erste Mal die Idee der Familienpflegezeit vorgestellt habe, hieß es, der Familienpflegezeit läge ein veraltetes Familienbild zugrunde. Ein veraltetes Familienbild! Die Kritiker haben damit auch offenbart, was sie unter einem „modernen Familienbild“ verstehen: Das, was pflegende Angehörige wirklich bräuchten, sei, dass man sie zwei oder drei Monate von der Berufstätigkeit freistelle, damit sie in dieser Zeit die Pflege organisieren könnten. Das war beispielsweise ein Vorschlag von Frau Künast, den sie im Mai letzten Jahres verbreitet hat. Was heißt das denn? Das heißt, dass in der Welt von Frau Künast Pflege etwas ist, das nicht mehr zu Hause stattfindet, sondern was in zwei oder drei Monaten wegorganisiert wird, damit man danach wieder ungestört seiner Berufstätigkeit nachgehen kann. ({6}) Das ist kein modernes Familienbild, sondern das ist ein familienfernes Menschenbild. ({7}) Diese Menschen, die zu Hause pflegen und die das oft bis an den Rand ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit tun, ({8}) die das sicher auch aus Pflichtgefühl tun, die das vor allen Dingen aber aus Liebe tun, können nichts weniger gebrauchen, als dass wir ihnen ein veraltetes Familienbild attestieren. ({9}) Eine große Mehrheit in diesem Land - das wissen wir aus Umfragen - will sich um die Pflege ihrer Angehörigen kümmern. Sogar 65 Prozent der Berufstätigen sagen, dass sie das tun wollen. Fast alle alten Menschen wünschen sich, in ihrer vertrauten Umgebung bleiben zu können, in der sie meistens auf Hilfe angewiesen sind. Genau das ist doch der familiäre Zusammenhalt, den wir uns für unsere Gesellschaft wünschen: Menschen, die sich aufeinander verlassen, Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen. Mit der Familienpflegezeit wird die Familie als Verantwortungsgemeinschaft unterstützt. ({10}) Das unterscheidet Union und FDP von Rot-Rot-Grün. ({11}) Gleichzeitig wird mit der Familienpflegezeit auch dafür gesorgt, dass sich auch mehr Männer in der Pflege engagieren, denn die Familienpflegezeit ist auf Vollzeitberufstätige zugeschnitten. Vollzeitberufstätige sind in dieser Altersgruppe nun einmal mehrheitlich Männer. Wir alle kennen Menschen, die zu Hause die hochbetagte Mutter, den vom Schlaganfall gezeichneten Vater pflegen. Wir alle wissen, dass diese Menschen das aus Liebe und Dankbarkeit tun. Wir wissen, dass sie das oft bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit tun. Wir wissen auch, dass die meisten dieser Menschen berufstätig sind, dass sie auf ihr Einkommen angewiesen sind und dass es, wenn sie mit Mitte oder Ende 50 aus dem Beruf aussteigen, der sichere Weg in Arbeitslosigkeit und oft auch in Altersarmut ist. Weil wir das wissen, unterstützen wir pflegende Angehörige ab dem 1. Januar 2012 mit der Familienpflegezeit. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Petra Crone für die SPD-Fraktion. ({0})

Petra Crone (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir besprechen heute ein wirklich wichtiges Thema, ein Thema, das ganz vielen Menschen unter den Nägeln brennt und das sicherlich in der Zukunft immer wichtiger wird: Wie ist es zu schaffen, einen pflegebedürftigen Angehörigen, Freund oder Nachbarn zu betreuen und trotzdem im Beruf zu bleiben? Eines ist klar: Wir dürfen die Menschen mit ihren oft akuten Problemen nicht alleine lassen. ({0}) Frau Ministerin Schröder, Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf erleichtert werden soll. Doch dieser Gesetzentwurf erfüllt diesen Anspruch nicht. ({1}) Er ist leider reine Makulatur; denn es fehlt der Rechtsanspruch. Mit anderen Worten: Arbeitgeber können, müssen aber die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht unterstützen. ({2}) Wofür dann dieser Gesetzentwurf? Wissen Sie nicht, Frau Schröder, dass es bereits viele freiwillige Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt, ({3}) und zwar flexibel und für alle Seiten passend? Allein in meinem Wahlkreis, im Sauerland, wollen eine Menge der mittelständischen Familienunternehmen unbedingt ihre Fachkräfte halten. Dafür wird einiges getan. Hier zwei Beispiele: Ich war letzte Woche zur Einweihung eines Betriebskindergartens eingeladen, und auf Wunsch einiger Unternehmen berät die Caritas die Belegschaft in den Unternehmen in Fällen von Engpässen bei der Pflege und Betreuung. Daraus ergeben sich häufig Möglichkeiten und Absprachen, Pflege und Beruf zu vereinbaren. Diese Unternehmen wissen, dass sich das lohnt. Aber andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben diese Möglichkeit nicht. Für die wollen wir, will die SPD-Bundestagsfraktion das Pflegezeitgesetz weiterentwickeln. Wir wollen pflegenden Angehörigen oder anderen nahestehenden Personen ein passgenaues, flexibles Instrument bieten, und zwar ein Budget von 1 000 Stunden, die flexibel eingesetzt werden können - das entspricht ungefähr sechs Monaten - und die mit einer von der Allgemeinheit getragenen Lohnersatzleistung versehen sind. ({4}) Dazu besteht wie bisher die Möglichkeit, kurzzeitig eine zehntägige Auszeit zur Organisation von Pflege zu nehmen - die allerdings bezahlt analog dem Kinderkrankengeld. Denn wir betrachten Pflege und Betreuung als gesamtgesellschaftliche Herausforderung, für deren Bewältigung wir alle stehen. Wir betrachten sie nicht als Auszeit nach dem Goodwill des Chefs auf eigenes Risiko. Frau Ministerin, zu dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf gab es in unserem Ausschuss eine Expertenanhörung. Dort ist unsere grundsätzliche Kritik absolut bestätigt worden. ({5}) Der Gesetzentwurf ist nicht ausgereift. Die Verbindlichkeiten fehlen. Er ist viel zu starr. Ihnen fehlt leider ein Gesamtkonzept für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Kein Wunder, denn die dringend notwendige Pflegereform wurde von Ihrer Regierung vom Sommer in den Herbst, dann in den Winter und letztlich auf das Frühjahr verschoben. Aber dieser Skandal soll an anderer Stelle diskutiert werden. ({6}) Stattdessen verlieren Sie sich in Ihrem Gesetzentwurf in versicherungsrechtlichen Detailfragen. Da zitiere ich einmal aus dem Begründungsteil: Leistungsausschlüsse oder Leistungseinschränkungen darf die Familienpflegezeitversicherung … für solche Krankheiten enthalten, für die auch die gesetzliche Krankenversicherung Leistungsbeschränkungen bei Selbstverschulden vorsieht. … eine Tätowierung oder ein Piercing … Also, die dürfen sich nicht versichern. Interessant! Der Personenkreis, sieht man von den Tätowierten und Gepiercten ab, den Sie vorsehen, ist viel zu eng gefasst und überhaupt nicht mehr zeitgemäß. ({7}) - Nein, aber die Frau Ministerin leider! Man kann nicht mehr nur vom Personenkreis der „nahen Angehörigen“ sprechen. Wie viele Nachbarn und Freunde übernehmen schon heute Verantwortung für pflegebedürftige Menschen, weil keine Angehörigen mehr vor Ort wohnen oder es schlicht keine gibt! Die meisten Pflege- und Betreuungspersonen sind Frauen. Kaum haben sie die Hürde der Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf gemeistert, stehen sie vor der nächsten, der der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Und dann droht ihnen noch die Pflegefalle: Teilzeitarbeitende, Alleinverdienende und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen - es sind meistens Frauen - werden eine jahrelange Reduzierung ihres Gehaltes kaum in Anspruch nehmen können. Ich hätte mir zudem eine Aussage dazu gewünscht, Frau Ministerin, wie das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen in der Pflege und in der Betreuung verringert werden kann. Das eben hat mir nicht ausgereicht. Wo sind die Anreize? Wo sind sie sinnvoll? Wie können Männer gezielt angesprochen werden? Neben alldem steht leider auch die professionelle Pflege nicht im Fokus des Gesetzentwurfs. Dabei kommt ihr eine Schlüsselrolle bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu. Nur im Zusammenspiel von Betreuung und Pflege durch nahestehende Personen mit professionellen Diensten wird eine ganzheitliche und gesunde Pflegesituation sichergestellt. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDPFraktion. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 2,4 Millionen Menschen sind in Deutschland zurzeit auf Pflege angewiesen. Mehr als 1,6 Millionen Frauen und Männer werden zu Hause versorgt. Laut Umfragen wolNicole Bracht-Bendt len 91 Prozent aller Berufstätigen für ihre kranken oder alten Angehörigen da sein. Pflege und Beruf in Einklang zu bringen, ist allerdings für viele häufig mit großen Schwierigkeiten verbunden. Dabei nimmt die Zahl der Pflegebedürftigen ständig zu. In wenigen Jahren ist die Wahrscheinlichkeit größer, einen über 80-Jährigen zu treffen als einen jungen Vater oder eine junge Mutter mit einem Kinderwagen. 2009 lag der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bei 21 Prozent. 2030 werden es bereits 29 Prozent und 2060 voraussichtlich 34 Prozent sein. Alt sein muss nicht unbedingt ein großes Handicap sein. Problematisch wird es aber angesichts des dramatisch ansteigenden Anteils an pflegebedürftigen Hochbetagten. 2009 betrug der Anteil der über 90-Jährigen schon 59 Prozent. Deshalb müssen wir etwas tun. Die Politik hat in den vergangenen Jahren viel für die Betreuung von Kindern geleistet. Jetzt ist es Zeit, sich auf die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur einzustellen. ({0}) Mit der Familienpflegezeit hat die Koalition geliefert. Von dem zeitgemäßen Konzept profitieren alle. Ich wiederhole: alle. Die Arbeitgeber profitieren, weil ihnen die Mitarbeiter erhalten bleiben. Das ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein sehr wichtiger Aspekt. Damit ist das Gesetz ein Beitrag, um Arbeitnehmer langfristig an den Betrieb zu binden. Die Arbeitnehmer profitieren, weil sie im Beruf bleiben können und den Anschluss nicht verlieren. Die Pflegebedürftigen profitieren, weil sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben, was wir alle wünschen. Für die Angehörigen schaffen wir die Möglichkeit, schwer erkrankte Verwandte zu pflegen und dafür die Berufstätigkeit auf 50 Prozent zu reduzieren, während die finanziellen Einbußen moderat bleiben. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf löst nicht alle durch die demografische Entwicklung bestehenden Herausforderungen auf einen Schlag. ({1}) Er ist aber ein zentraler Beitrag für die Vereinbarung von Pflege und Beruf. ({2}) In unserer Anhörung im Familienausschuss neulich äußerten Experten an einigen Punkten Kritik. Das ist richtig. Diese Anregungen hat das Ministerium aufgegriffen. Stichwort Flexibilisierung: Es werden nun auch alle Angestellten mit unregelmäßigen Wochenarbeitszeiten erfasst. Stichwort Klarstellung: Nach der Pflegezeit ist jederzeit die Rückkehr in den Beruf möglich. Auch die Anregung des DIHK, dem Gesetzentwurf gleich einen Mustervertrag beizufügen, hat das Ministerium aufgenommen. Damit schaffen wir Rechtssicherheit und beugen kostspieligen Klagen vor. Mit der Familienpflegezeit ist kein Rechtsanspruch verbunden. Das war uns Liberalen sehr wichtig. ({3}) Die unternehmerische Freiheit darf nicht angetastet werden. ({4}) - Das können Sie natürlich nicht verstehen. Das ist mir völlig klar. ({5}) - Hören Sie bitte zu! Vielleicht lernen Sie noch etwas. Das Modell ist für Frauen und Männer attraktiv. Denn alle, die vorübergehend im Beruf kürzertreten, bleiben sozialversicherungspflichtig. Die Rentenansprüche bleiben auf dem Niveau der Vollzeitbeschäftigung. Das beugt Altersarmut vor. Das ist insbesondere für Frauen ein wichtiger Punkt. Mit der Familienpflegezeit entlasten wir die vielen Angehörigen, die die Pflege nicht allein Fremden überlassen wollen, indem sie Rechtssicherheit erhalten. Wir entlasten aber auch die Gesellschaft, Medizin und Pflegekassen, und zwar ohne die Gesetzeskeule einzusetzen. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag, um die Herausforderungen der demografischen Veränderungen unserer Gesellschaft als Chance zu nutzen. Ganz herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kathrin Senger-Schäfer für die Fraktion der Linken. ({0})

Kathrin Senger-Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004154, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr der Pflege hat die Regierungskoalition nichts Besseres zu tun, als ihre eigenen Befindlichkeiten zu pflegen. Sie streiten wie die Kesselflicker über Eckpunkte und Details einer Pflegereform. Der Pflegenotstand besteht indes munter weiter. Das ist unglaublich. ({0}) Heute beraten wir den Gesetzentwurf zum Familienpflegezeitgesetz abschließend im Bundestag. Professionelles Arbeiten Ihrerseits hätte bedeutet, in der zurückliegenden Zeit die notwendigen Verbesserungen einzuarbeiten, die von allen Seiten angemahnt wurden. ({1}) Spätestens als Sie in der öffentlichen Anhörung des Familienausschusses selbst von Ihren eigenen Sachverständigen zurechtgewiesen wurden, hätten Sie sich dem offensichtlichen Handlungsdruck beugen müssen. Aber das ist nicht geschehen. Es bleibt für uns bei dem Urteil: Dieses Gesetz ist ineffektiv, es ist arbeitnehmerfeindlich und für die Mehrheit der Pflegenden irrelevant. ({2}) Ich möchte Ihnen auch sagen, warum. Der fehlende Rechtsanspruch ist schon mehrmals in der Debatte erwähnt worden. Das ist das, was dieses Gesetz gänzlich überflüssig macht. Frau Ministerin sagte, es sei ein realistisches Gesetz. Ich aber frage Sie: Was macht die Sekretärin in einem Betrieb, wenn sie Pflegezeit in Anspruch nehmen will und das Unternehmen aus betrieblichen Gründen Nein sagt? Wie stellen Sie sich die Lösung vor: Kündigung des Arbeitsverhältnisses oder doch lieber Heimunterbringung? In klassischen Beschäftigungsverhältnissen gilt nämlich folgender Grundsatz: Werden Frau Schneider oder Frau Schröder erwerbsunfähig, so ist der Arbeitslohn, der im Voraus gezahlt wurde, nach geltendem Arbeitsrecht nicht zu erstatten. - Ihr Gesetzentwurf aber sieht vor, dass ein solcher Fall versicherungspflichtig ist, und zwar durch eine Ausfallversicherung, welche Frau Schneider oder Frau Schröder selbst zu zahlen haben. Fakt ist auch, dass heutzutage Pflege nicht selten - das wurde schon genannt - zu Überbelastung, Krankheit und damit Berufsunfähigkeit führt. Das Gesetz, das Sie uns als Arbeitnehmerschutzgesetz präsentieren, ist in Wirklichkeit ein Arbeitgeberschutzgesetz. Das ist für uns nicht akzeptabel. ({3}) Ich frage mich auch - Sie sprachen von einem realistischen Gesetz -, von welchem Personenkreis dieses Gesetz überhaupt in Anspruch genommen werden kann. Teilzeiterwerbstätige, Alleinstehende und Niedrigverdienende, die nach einer Arbeitszeitverkürzung ihren Lebensunterhalt nicht mehr angemessen bestreiten können, sind faktisch ausgeschlossen. Eine Friseurin in Berlin verdient durchschnittlich brutto 961 Euro. Wie soll sie mit zwei Dritteln dieses Einkommens pflegen und überleben? Erwerbstätige Frauen haben im Schnitt sowieso niedrigere Löhne als ihre männlichen Partner und damit eher einen Anreiz, ihre Arbeitszeit und damit ihr Gehalt zu reduzieren. Menschen, die schon Teilzeit arbeiten - das sind, wie gesagt, meist Frauen -, können ihre Arbeitszeit aus finanziellen Gründen nicht noch weiter reduzieren. Glauben Sie im Ernst, dass in einer Situation, in der Männer mehr verdienen als Frauen, Männer sich freiwillig bereit erklären, die Pflege zu übernehmen? Ihr Ziel ist es, häusliche Pflege zu stärken, aber allein zu dem Zweck, dauerhafte Einsparungen in der sozialen Pflegeversicherung zu erreichen. Das ist nicht hinnehmbar. ({4}) Mit dem Familienpflegezeitgesetz belassen Sie die Pflege allein im privaten Lebensumfeld und machen die Angehörigen - das sind meistens Frauen - zum konkurrenzlos kostengünstigsten Pflegedienst der Nation. Die Linke sieht das anders. Für uns ist Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. ({5}) Wir brauchen eine umfassende Pflegereform, die Sie aber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben haben. Das Familienpflegezeitgesetz bringt keine wirkliche Verbesserung, sondern weicht bestehende gesetzliche Regelungen zu Arbeitszeitkonten auf. Die Linke will die professionelle Pflege und begleitende Angebote zur Unterstützung Angehöriger stärken. Das ist unser Ansatz. ({6}) Damit wird die pflegerische Versorgung von Angehörigen auch in Zukunft gewährleistet, und pflegende Angehörige werden entlastet. Unsere Gesellschaft wandelt sich. Die klassische Großfamilie gibt es nicht mehr. Familienpflege ist so, wie Sie sie sich vorstellen, nicht möglich. Wir fordern eine bezahlte sechswöchige Pflegezeit für Erwerbstätige, die in erster Linie der Organisation der Pflege - das betone ich - und der ersten pflegerischen Versorgung dient. Gleichzeitig sind die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung sofort anzuheben. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, das Jahr der Pflege 2011 zählt nun schon 293 Tage, und die einzige Maßnahme - ich wiederhole: die einzige Maßnahme -, die Schwarz-Gelb in dem selbst ausgerufenen Aktionsjahr bisher auf den Weg gebracht hat, ist dieses kümmerliche Familienpflegezeitgesetz. ({0}) Dabei tun Sie zumindest heute so, als wären Sie mit Ihrer Familienpflegezeit Ihrer Zeit voraus; denn wir konnten um 13 Uhr - wir haben jetzt 15.25 Uhr - auf der Homepage der CDU/CSU lesen, dass das Gesetz in zweiter und dritter Lesung schon verabschiedet ist. ({1}) Ehrlich gesagt schaut vorausschauende Politik für mich ganz anders aus. ({2}) Der Gesetzentwurf zur Familienpflegezeit ist einfach gründlich missglückt. Was von Ihnen als Familienministerin vollmundig angekündigt wurde, hat sich nicht zu einer reifen Frucht entwickelt, sondern das ist jetzt im Herbst einfach wie Fallobst auf den Boden der Tatsachen geplumpst. ({3}) - Passen Sie mal auf, das wird noch besser. - Die pflegenden Erwerbstätigen tragen das volle Risiko und die Belastungen während dieser Zeit. Sie müssen sich mit dem Arbeitgeber auseinandersetzen und ihn überzeugen, dass er sie teilweise freistellt, und sie müssen wissen, wie der Vertrag zwischen ihnen und dem Arbeitgeber aussehen muss, der zur Arbeitszeitreduzierung notwendig ist. Sie müssen eine Familienpflegezeitversicherung abschließen und auch bezahlen, und sie müssen das Darlehen, das den Arbeitgebern gewährt wird, wieder abarbeiten. Zu guter Letzt müssen auch sie nach Abschluss der maximal zweijährigen Pflegezeit klären, wie es dann mit der Pflege weitergehen soll. Dieses Gesetz ist ohne Rechtsanspruch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht das Papier wert, auf dem es steht. ({4}) Es ist naiv, zu glauben, dass die Arbeitgeber ihren Beschäftigten nun in Scharen auf freiwilliger Basis die Familienpflegezeit anbieten werden. Ich konnte heute früh auf rbb Herrn Hecken hören, der sagte: Es wird nun massenhaft zu Vereinbarungen kommen. ({5}) Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Warten Sie es ab! Lassen Sie sich überraschen! Die Zahl, die wir aus Ihrem Haus über die potenziellen Inanspruchnehmerinnen dieser Familienpflegezeit haben, ist eine vierstellige Zahl im unteren bis mittleren Bereich, übersetzt: 1 000 bis 1 750 Menschen. Wir gehen aber davon aus, dass in Deutschland 1 Million bis 1,2 Millionen Menschen ihre Angehörigen pflegen. ({6}) Frau Ministerin, Sie setzen mit Ihrer Politik auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen. ({7}) Die öffentliche Anhörung zu diesem Gesetzentwurf der Koalition hat aber schon gezeigt, dass er ein einziges Fiasko ist. Die Mehrzahl der geladenen Experten kritisierte den fehlenden Rechtsanspruch. Das größte Lob kam noch von Ihrem selbst geladenen Sachverständigen, Herrn Dr. Rürup. Der sagte nämlich: Das Gesetz schadet ja nicht, aber der große Wurf, na ja, das ist es halt auch nicht. - Herzlichen Glückwunsch! ({8}) Wann verstehen Sie endlich, Frau Ministerin, dass Freiwilligkeit auch Grenzen kennt, nämlich dann und dort, wo ökonomische Interessen dominieren? Und das ist hier der Fall. Machen Sie doch endlich einmal wirklich Politik, die Fakten schafft! Ich sage Ihnen, dann werden Sie endlich in Ihren eigenen Reihen und dann auch von uns ernst genommen. ({9}) Sie rühmen sich, dass einige große Unternehmen die Familienpflegezeit einführen wollen. Das Problem liegt aber doch auf einer ganz anderen Ebene und an einer ganz anderen Stelle. Das sind die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Das sind aber die größten Arbeitgeber, die wir haben; denn zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind dort beschäftigt. Das sind arbeitende Menschen, die die Doppelbelastung von Beruf hier und Pflege dort tagtäglich schultern müssen. Was bieten Sie diesen Menschen an, Frau Schröder? Was tun Sie für diese Menschen? Wir müssen eine wirkliche Entlastungsoffensive für diese pflegenden Angehörigen machen. Wir müssen Strukturen schaffen, die zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege beitragen. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, und wir müssen den Begriff „pflegende Angehörige“ erweitern. Wir müssen niedrigschwellige Dienstleistungen ausbauen, und wir müssen quartiersnahe Konzepte stärken und fördern. Wenn ich Ihrer Rede vorhin richtig gefolgt bin, dann haben Sie damit eindrücklich gezeigt, dass Sie all das nicht verstanden haben. Das, was ich eben aufgezählt habe, ist nämlich die wirkliche Unterstützung, die pflegende Angehörige brauchen. Dazu kommt von Ihnen nichts. Während die Opposition in Ihrem Jahr der Pflege Konzepte erarbeitet, hören wir von Ihnen gar nichts. Wir liefern, während Sie sich morgen noch einmal zusammensetzen und am Rande über die Pflege sprechen werden. Frau Ministerin, Sie haben eine wirklich große Chance vertan. ({10}) Damit zeigen Sie allen pflegenden Angehörigen und auch allen Pflegebedürftigen, wie wenig Sie von der Lebensrealität dieser Menschen verstanden haben. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine geehrten Damen und Herren! Wenn man hier zuhört, ist man schnell sprachlos. ({0}) Sie verdammen ein Gesetz, das erst jetzt das Licht der Welt erblickt - heute soll es verabschiedet werden -, indem Sie von vornherein behaupten, es sei nichts wert. Warten Sie doch einmal ab! ({1}) Dann werden Sie eines Besseren belehrt werden. ({2}) Man kann die Schlagworte, die Sie gebraucht haben, nicht mehr hören. Man hat das Gefühl, nicht im Parlament, sondern im Hinterzimmer irgendeiner abgelegenen Gaststätte zu sein. ({3}) Eine vernünftige Diskussion kann man das nicht nennen. Es ist unerträglich, wenn Sie hier behaupten, die Ministerin wäre in ein Fettnäpfchen getreten. Das behaupten Sie, aber nicht die Leute da draußen. Ich bitte Sie um ein bisschen mehr Zurückhaltung. ({4}) Warum kann man eine vielleicht notwendige Kritik nicht mit Intelligenz vortragen? ({5}) - Ja, daran fehlt es. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der keinen Rechtsanspruch schafft. Aber es hat ja einen Grund, warum wir das Einvernehmen mit dem Arbeitgeber nicht durch einen Rechtsanspruch, sondern auf freiwilliger Basis erreichen wollen. ({6}) - Sie haben ein schlechtes Bild vom Unternehmer. ({7}) Es wird, auch in kleineren Betrieben, möglich sein, dass die Unternehmer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, deren Vater oder Mutter schwer pflegebedürftig ist, entgegenkommen. In diesem Fall wird der Unternehmer nicht die kalte Schulter zeigen und sagen: Deine Angelegenheiten gehen mich nichts an. - Sie haben eine völlig falsche Vorstellung von dem Einvernehmen, das in einem guten Betrieb bestehen kann. Wenn Sie Rechtsansprüche schaffen, die mithilfe des Gerichtes und womöglich des Gerichtsvollziehers durchgesetzt werden, werden Sie in den Betrieben eine Atmosphäre schaffen, die die gegenseitige Verantwortung unmöglich macht. ({8}) Gerade in diesem Fall wollen wir das nicht; wir halten das für grundfalsch. Es ist richtig, dass wir versuchen, auf Freiwilligkeit zu setzen, dass wir die Verantwortung des Unternehmers gegenüber seinem Arbeitnehmer betonen. Auch der Arbeitnehmer hat, wenn er aus der Pflegezeit zurückkehrt, eine Verantwortung. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass der Verlust, der dem Unternehmer durch die Lohnfortzahlung zunächst entstanden ist, ausgeglichen wird. Wenn das nicht möglich sein sollte, weil der Arbeitnehmer von einer schweren Krankheit betroffen oder verstorben ist, dann muss eine Versicherung einspringen. Diese Versicherung wollen wir ebenfalls einrichten; denn der entstandene Verlust soll ausgeglichen werden. Außerdem wollen wir nicht, dass durch die Pflegezeit der Rentenanspruch geschmälert wird. Da entsteht kein Verlust; denn in der Pflegezeit wird ja bekanntlich der Lohn, wenn auch nicht voll, weiterbezahlt, und dadurch werden auch die Beiträge zur Rentenversicherung erbracht. Auf der anderen Seite werden auch die Leistungen der Pflegeversicherung in Betracht zu ziehen sein, sodass am Ende kein Verlust bei der Rente entsteht. Das vorliegende Modell ist meiner Meinung nach ein sehr zurückhaltendes, aber exzellentes Modell. Ich halte es für sehr gut. So schlecht ist dieser Gesetzentwurf nicht. ({9}) - Natürlich bin ich in der Anhörung gewesen. Lieber Herr Kollege Wieland, waren Sie dabei? Sie waren mit Sicherheit nicht da. ({10}) Wir wollen hier nicht gegenseitig aufrechnen; dafür ist die Zeit zu schade. Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anbringen. ({11}) Wir werden die Pflege nicht meistern, wenn wir die Familie nicht einbinden. Im Jahr 2020 wird der BevölkeNorbert Geis rungsanteil der 85-Jährigen fast genauso groß sein wie der der 5-Jährigen. Ab dem 85. Lebensjahr beginnt sehr oft die Pflegebedürftigkeit. Wir leben länger; das ist ein schöner Umstand. Aber mit zunehmendem Alter werden wir auch gebrechlicher. Eine solche Leistung kann daher nicht vom Staat erbracht werden. Es ist völlig falsch, die Pflege zu sozialisieren. Wir müssen sie sozusagen in die Familien zurückgeben. Deswegen müssen wir die Familien stärken. Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, wie wir zu einer Mehrgenerationenfamilie zurückkommen. Dieser Aspekt ist völlig untergegangen. Das hängt natürlich mit dem Umstand zusammen, dass es vermehrt kleine Wohnungen gibt. Wenn wir den großen Auftrag, den Pflegeerfordernissen gerecht zu werden, erfüllen wollen, müssen wir unseren Beitrag dazu leisten. Danke schön. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Geis, erst einmal zu Ihnen: Es ist hier zwar nicht der Ort, Sie über die Aufgaben eines Gerichtsvollziehers aufzuklären, aber nach dem, was Sie gesagt haben, wäre es nötig. ({0}) Wir haben heute schon viel über das zu verabschiedende Familienpflegezeitgesetz gehört. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, mit welchen Versprechungen dieses Gesetz von Ministerin Köhler, jetzt Schröder, im Frühjahr 2010 öffentlich angekündigt wurde. Ein Meilenstein zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollte es werden. Einen Rechtsanspruch sollte es geben. Es hieß, pflegende Angehörige würden wirkungsvoll entlastet. Mehr noch: Mit diesem Gesetz wollten Sie, Frau Schröder, den Herausforderungen in der Pflege begegnen. Die Ankündigung der Familienpflegezeit war der Versuch der neuen Ministerin, aus dem Schatten ihrer Vorgängerin herauszutreten. Es war der Versuch, ein Thema endlich einmal mit dem eigenen Namen zu besetzen. Ein Versuch, Frau Ministerin, ist es geblieben. Dabei hätte aus dem Vorhaben, die Situation pflegender Angehöriger zu verbessern, durchaus etwas werden können. Dazu hätte es allerdings weniger Ignoranz gegenüber der Lebensrealität und vor allem mehr Durchsetzungsvermögen bedurft. Denn zur Lebensrealität gehört beispielsweise, dass nach wie vor überwiegend Frauen Verantwortung für die Pflege übernehmen. Übrig geblieben ist nun leider ein Gesetzentwurf, den der Sachverständige der CDU/CSU-Fraktion, Bert Rürup, in der Anhörung wie folgt kommentierte: Mit ihm ist keinerlei Rückschritt verbunden, und es gibt eigentlich keine Verlierer in diesem Gesetz. - Eine sehr höfliche Kritik, wie ich finde. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Familienpflegezeitgesetz bringt für pflegende Angehörige keine echte Verbesserung. Schwarz-Gelb macht die Pflege hiermit zur reinen Privatsache. Die Rede von Herrn Geis hat dies unterstrichen. ({2}) Die pflegebedingten Auszeiten werden allein von den Beschäftigten durch Lohnverzicht finanziert. Beim vollmundig angekündigten Rechtsanspruch ist Frau Schröder beim ersten Gegenwind der FDP eingeknickt. Es gibt ihn nicht mehr. Die FDP kann darauf stolz sein. Die private Pflichtversicherung belastet einseitig die pflegenden Angehörigen. Die Arbeitgeber und die Wirtschaft sind fein raus. Auch hiermit wird die private Verantwortung für die Pflege zementiert. Ich finde, es ist ein Skandal. Meine Vorstellung und die meiner gesamten Fraktion von einer solidarischen Gesellschaft ist eine andere. ({3}) Es ist richtig: Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ist ein wichtiges Thema. Richtig ist auch: Pflegende Angehörige brauchen Entlastung im Alltag. Falsch ist, Pflege zur reinen Privatangelegenheit zu machen und aus der Verantwortung der Gesellschaft zu nehmen. Das tun Sie mit diesem Gesetz. ({4}) Die SPD-Bundestagsfraktion spricht sich gemeinsam mit vielen Verbänden - das ist in der Anhörung und in den aktuellen Presseerklärungen vieler Verbände in den letzten Tagen und heute noch einmal sehr deutlich geworden - klar gegen eine Privatisierung und Individualisierung der Pflegeverantwortung aus. Das wäre der falsche Weg. Wir fordern vielmehr eine sinnvolle Weiterentwicklung des Pflegezeitgesetzes der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. So wollen wir die zehntägige Auszeit an eine Lohnersatzleistung analog zum Kinderkrankengeld koppeln. Dies hat im Übrigen die Union in der Großen Koalition leider blockiert. Zudem wollen wir den Rechtsanspruch auf Freistellung bis zu sechs Monaten zu einem zeitlich sehr flexiblen Freistellungsanspruch weiterentwickeln. Finanzielle Einbußen, die durch die Reduzierung der Arbeitszeit entstehen, wollen wir durch eine Lohnersatzleistung abfedern und dadurch die Inanspruchnahme verbessern. Das halte ich für sehr wichtig. Wenn Sie die finanziellen Einbußen zu einer rein privaten Angelegenheit machen, dann wird dieses Gesetz für viele Menschen - das haben wir heute anhand vieler Beispiele schon gehört - nicht zur Anwendung kommen. ({5}) Im Gegensatz zu Schwarz-Gelb, betrachten wir, die SPD-Bundestagsfraktion, alle pflegerelevanten Themen im Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes. Ich frage die Bundesregierung: Was tun Sie für die Verbesserung der wohnortnahen Beratungs- und Pflegeinfrastruktur? Was tun Sie für den Ausbau von barrierefreiem und altersgerechtem Wohnraum? Was tun Sie wirklich dafür, dass Familien-, Sorge- und Pflegearbeit partnerschaftlich zwischen Frauen und Männern aufgeteilt werden? Leider tun Sie wieder einmal nichts. Sie gehen wieder einmal gemeinsam mit der Regierungskoalition auf Tauchstation. Ich sage Ihnen: Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind gerne beim Auftauchen behilflich. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der jüngste Familienmonitor hat uns gezeigt: Der Wunsch, der am häufigsten angegeben und von keinem anderen Wunsch übertroffen worden ist, war der, die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern. Wir kommen mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf diesem Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung nach. ({0}) Ich danke Ihnen, liebe Ministerin, und den Berichterstattern ganz herzlich für die gute, konstruktive Zusammenarbeit. Der Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, kann sich sehen lassen. Wir tun den Menschen im Lande, die sich eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf wünschen, hiermit einen sehr großen Gefallen. ({1}) Ich komme gerne auf die vorgetragenen Kritikpunkte zu sprechen, insbesondere auf den mangelnden Rechtsanspruch. Ich finde es gerade wichtig, dass es keinen Rechtsanspruch gibt, ({2}) weil hierdurch in unzulässiger Art und Weise in die unternehmerische Freiheit eingegriffen würde. Das betrifft nicht nur Großunternehmen, sondern auch die kleineren und mittleren Unternehmen. Man stelle sich nur einmal vor - das gibt es in Ihrer Vorstellungskraft natürlich nicht -: Es gibt auch kleine Unternehmen, bei denen das Ganze nicht funktionieren würde, die eben nicht auf einen Arbeitnehmer - und das auch noch zeitlich befristet verzichten können. Deswegen darf es keinen Rechtsanspruch geben. Die Unternehmen müssen weiterhin bestehen und mit ihren Arbeitskräften rechnen können. ({3}) Die Ministerin hat in diesem Zusammenhang aber auch die großen Unternehmen genannt. Dieses Vorhaben wird zu einem Erfolgsmodell werden. Es betrifft kleine, mittlere und große Unternehmen gleichermaßen. Wir haben diesbezüglich von allen Seiten volle Unterstützung erfahren. Es ist aber auch für die Frauen gut, dass es keinen Rechtsanspruch gibt. Bereits jetzt ist es so, dass Frauen bei Vorstellungsgesprächen immer noch damit rechnen müssen - auch wenn es nicht angesprochen werden darf -, dass der potenzielle Arbeitgeber sagt: Vielleicht kommt das Risiko einer oder mehrerer Schwangerschaften auf mich zu. Wenn nun durch einen Rechtsanspruch bei der Pflege wiederum alles alleine auf die Frauen abgewälzt würde, würde ihnen das den Einstieg ins Berufsleben zusätzlich erschweren. Auch hier ist ein verantwortungsvolles, freiwilliges Miteinander wesentlich mehr und wesentlich besser, gerade für die Arbeitnehmerinnen in diesem Lande. ({4}) Wir haben nach der Anhörung noch einige Verbesserungen vorgenommen. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Einführung der Zertifizierung nennen. Diese ist vor allen Dingen aus verbraucherschutzrechtlichen Gründen wichtig. Denn durch sie kann man sich darauf verlassen, dass von allen Anbietern das gleiche Niveau angeboten wird. Weiterhin sind keine Risikoprüfungen und keine Aufschlüsselungen nach Alter und Geschlecht vorgesehen. Einige befürchten, dass der Betrag zu hoch ist. Er bewegt sich aber im niedrigen einstelligen Bereich und ist daher meines Erachtens vertretbar. Der Bürokratieabbau und die Flexibilisierung haben ebenfalls Eingang in den Gesetzentwurf gefunden; das wurde bereits erwähnt. Das bedeutet, dass man schnell wieder in den Beruf einsteigen kann, wenn eine Pflegezeit vorzeitig beendet werden muss. Dieser Gesetzentwurf wurde zum Wohl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern gestaltet. Er trägt vor allem dem Ziel der verbesserten Vereinbarkeit von Pflege und Beruf Rechnung. Ich kann daher nichts Schlechtes an diesem Gesetzentwurf finden. ({5}) Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Erwin Rüddel von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Familienpflegezeit ist ein großer Schritt in Richtung einer umfassenden Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. ({0}) Das ist uns in der Anhörung auch eindrucksvoll bestätigt worden. Was besonders wichtig ist: Es handelt sich hierbei um einen Gesetzentwurf, der besonders flexibel und unbürokratisch ist. ({1}) Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, Frau Ministerin, ganz besonders dafür zu danken, dass Sie diesen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht haben. ({2}) Wir kommen mit diesem Gesetzentwurf den Erwartungen und Wünschen vieler älterer Menschen und deren Angehörigen entgegen und stärken somit den Zusammenhalt in der Familie. Nach dem Vorbild der Altersteilzeit wird die künftige Familienpflegezeit es den Beschäftigten erlauben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, um Eltern, Großeltern, Ehepartner oder Kinder zu Hause zu pflegen. In der Pflegephase ist die Reduzierung des Gehalts nur halb so hoch wie die Reduzierung der Arbeitszeit. In der Nachpflegephase wird das Zeitkonto dann wieder ausgeglichen. Ich bin sicher, dass wir uns mit dieser Initiative auf dem richtigen Weg befinden. Mehr als 1,6 Millionen Menschen werden durch Angehörige und ambulante Dienste zu Hause versorgt. Die meisten Menschen wollen die Verantwortung für pflegebedürftige Angehörige nicht delegieren. Vielmehr möchten sie ihre Angehörigen nach Möglichkeit selbst betreuen, stoßen dabei aber oft auf erhebliche Schwierigkeiten. Mit der künftigen Familienpflegezeit haben berufstätige Menschen die Zeit, um im Pflegefall Verantwortung zu übernehmen, ohne ihre Erwerbstätigkeit aufgeben zu müssen. Mit dieser Lösung gewinnen alle: die Pflegebedürftigen, die pflegenden Beschäftigten und die Unternehmen. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir keine gesetzlichen Zwänge schaffen. Wir wollen vielmehr neue Milliardenausgaben vermeiden. Die Arbeitgeber können beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben ein zinsloses Darlehen im Umfang der Lohnaufstockung beantragen. Die Versicherungskosten für den Fall, dass die Beschäftigten die Rückzahlungen durch Tod oder Berufsunfähigkeit nicht leisten können, belaufen sich auf einen niedrigen zweistelligen Betrag. Während der Familienpflegezeit und der Rückzahlungsphase besteht außerdem Kündigungsschutz für den pflegenden Arbeitnehmer. Ferner garantieren die Beitragszahlungen in der Familienpflegezeit und die Leistungen der Pflegeversicherung den Erhalt der Rentenansprüche. Wir haben im Rahmen der Ausschussberatungen für mehr Flexibilität und für weniger Bürokatie gesorgt. Die Familienpflegezeitversicherung wird zertifiziert und ohne Gesundheitsprüfung und Differenzierung nach Alter und Geschlecht angeboten. Das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben wird einen Gruppenvertrag anbieten, um Arbeitnehmern in Betrieben ohne eigenen Gruppenvertrag den Zugang zu günstigen Konditionen zu ermöglichen. Auch während der Pflegephase kann der Arbeitsumfang flexibel an den sich ändernden Pflegebedarf angepasst werden. Eine vorzeitige Beendigung der Familienpflegezeit ist möglich, etwa wenn der Pflegebedürftige in ein Pflegeheim geht. Wird ein Arbeitnehmer in der Nachpflegephase krank, setzt für die Dauer des Krankengeldbezuges die Rückzahlungspflicht aus; die Nachpflegephase verlängert sich entsprechend. Meine Damen und Herren, aus der Wirtschaft hat es vereinzelt Kritik an unserem Vorhaben gegeben. Andererseits bemühen sich viele Unternehmen schon jetzt in Eigeninitiative darum, innovative Lösungen für ihre Beschäftigten zu finden. Denn kluge und weitblickende Unternehmer haben längst erkannt, dass die demografische Entwicklung, die langfristige Finanzierbarkeit unserer Sozialsysteme und der Bedarf an qualifizierten Beschäftigten künftig gar keine andere Wahl lassen, als die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern. Die heutige Entscheidung ist ein Meilenstein auf dem Weg, das große Thema der bedarfsgerechten Pflege in einer rasch alternden Gesellschaft zu bewältigen. Deshalb sagen wir Kritikern, dass wir auch im wohlverstandenen Interesse der Unternehmen handeln. Wir knüpfen an unseren heutigen Beschluss die Hoffnung, dass er als Auslöser weiterführender und innovativer Lösungen in den Betrieben selbst wirken wird. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7387, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6000 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7390. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen abgelehnt. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 17/7391. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1754 mit dem Titel „Bezahlte Pflegezeit einführen - Organisation der Pflege sicherstellen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1434 mit dem Titel „Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern - Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der SPD und der Linken angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schlichtung für Luftfahrtunternehmen verkehrsträgerübergreifend einführen - Drucksache 17/7337 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Ulrike Gottschalck für die SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Ulrike Gottschalck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004043, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Deutschen reisen gerne. Wir alle sind gerne mobil unterwegs. Dabei wünschen wir uns natürlich, dass die Bahn keine Verspätungen hat, dass der Flieger nicht überbucht ist und dass es auch sonst keine kleinen Katastrophen gibt. Wenn es doch vorkommt, dann ist der Urlaub verdorben, der berufliche Termin ist vielleicht verpasst, und der Ärger ist groß. Umso wichtiger ist es daher, dass Fahrgäste einen guten Ansprechpartner haben, um Schadenersatzansprüche geltend zu machen, und zwar verkehrsträgerübergreifend, weil die Reisenden häufig unterschiedliche Verkehrsmittel nutzen. Mit dem heute vorliegenden Antrag möchten wir die Rechte der Flugpassagiere stärken, und ich bitte daher ausdrücklich um Ihre Unterstützung. ({0}) Vor genau einer Woche hat der EuGH erneut die Rechte von Flugpassagieren gestärkt, deren Flüge gestrichen wurden. Die Richter sprachen den Passagieren neben den Buchungskosten eine individualisierte Wiedergutmachung zu. In der FAZ vom 12. April kündigte EUVerkehrskommissar Kallas erneut an, die Fluggastrechteverordnung weiter zum Wohle der Flugpassagiere zu verschärfen. Wir sehen: Die EU nimmt die Rechte der Fluggäste sehr ernst, aber leider gibt es bei der Durchsetzung dieser Rechte immer noch Schwachstellen. Das zeigt auch die Zwischenbilanz der EU-Kommission, die eine Überprüfung der Fluggastrechteverordnung eingeleitet hat. In jedem Land der Europäischen Gemeinschaft wird durch offizielle Durchsetzungs- und Beschwerdestellen die Einhaltung der Rechte überwacht. In Deutschland macht das das Luftfahrt-Bundesamt, aber das LBA ist nicht ermächtigt, zivilrechtliche Ansprüche durchzusetzen. Die Verbraucherzentralen stellen fest, dass einige Fluggesellschaften die Rechte von Fluggästen missachten. Die Ergebnisse einer Onlineumfrage bestätigen das: 80 Prozent der Passagiere wurden erst am Flughafen über Flugstörungen unterrichtet. Bestehende Ansprüche auf Betreuungsleistungen wurden teilweise von den Fluggesellschaften ignoriert. Nur jedem Vierten bot die Airline Entschädigung an, und das überwiegend erst auf Nachfrage. Ihrer Verpflichtung, die Fluggäste aktiv auf ihre Rechte hinzuweisen, kamen die Fluggesellschaften bei über der Hälfte der Teilnehmer nicht nach. Nur in 3 Prozent der Fälle verlief die Rechtsdurchsetzung der Fluggäste reibungslos. Die für Verbraucherschutz zuständigen Ministerinnen und Minister der Länder haben die Bundesregierung daher schon im September 2010 aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Fluggesellschaften der söp beitreten. Wenn das nicht freiwillig passiert, dann sollten sie dazu verpflichtet werden. Dies sollte gesetzlich festgelegt werden. Bei uns in Deutschland hat die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries mit dem Fahrgastrechtegesetz die juristischen Grundlagen für die Arbeit der verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle im öffentlichen Personennahverkehr geschaffen. ({1}) Heute beteiligen sich bereits mehr als 120 Verkehrsunternehmen aller Verkehrsträger an der söp, und zwar freiwillig, egal ob Bus, Bahn, Schiff oder ÖPNV. Auch mit sechs nichtdeutschen Airlines konnte die söp bereits erfolgreich schlichten. Was schätzen wir an dieser Schlichtungsstelle? Zum einen natürlich den verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsansatz, der die finanzielle Effizienz durch einen einzigen Ansprechpartner ermöglicht. Die söp verfügt über eine speziell entwickelte, sehr effiziente Infrastruktur und hat hochqualifizierte Schlichter. Sie sind Experten im Reiserecht und ausgewiesene Volljuristen. ({2}) Die Schlichtung ist für die Reisenden kostenlos, und es gibt keine Zugangsschwelle. Das ermöglicht ein unbürokratisches Verfahren. Außerdem hat die praktische Umsetzung der Schlichtungsarbeit gezeigt, dass die unverbindlichen, auf Freiwilligkeit basierenden Schlichtungsempfehlungen bei 90 Prozent der Fälle für beide Parteien fruchtbar waren. Das ist ein wichtiger Aspekt. ({3}) Die Bundesregierung selbst wollte die verkehrsträgerübergreifende Schlichtung durchsetzen; das steht so im Koalitionsvertrag. Aber leider ziehen sich die Gespräche mit den Airlines für unseren Geschmack schon etwas zu lange hin. Ich muss sagen: Ich verstehe dieses Lavieren nicht; denn auch für die Unternehmen ist es betriebswirtschaftlich durchaus sinnvoll, sich an dieser Schlichtung zu beteiligen. Inzwischen gibt es nämlich auf dem offenen Markt viele private Anbieter, die sich an Fluggäste wenden, damit sie gegen hohe Provision Schadenersatzansprüche bei den Airlines durchsetzen. Ich denke, das ist auch für die Airlines kontraproduktiv. Deshalb verstehe ich ihre Haltung auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht. Wir nehmen die Sorgen der Airlines im Hinblick auf Missbrauch ernst. Gleichwohl lehnen wir eine Eintrittsgebühr ab, weil sie eine Hemmschwelle für die Passagiere darstellen würde. Praktische Beispiele belegen - auch die Bahn hatte gedacht, dass es wesentlich teurer würde -: Es ist nicht teurer geworden. Gerade im Bahnbereich hat die söp eine hervorragende Arbeit geleistet. Offensichtlich wird die Bahn durch die söp nicht in den Ruin getrieben. ({4}) Im Gegenteil: Die söp hat dazu beigetragen, dass Qualität und Service bei der Bahn besser geworden sind. Aber es kann immer noch besser werden. Wir alle sind Bahnfahrer. Ich denke, dies hat bereits geholfen. Deshalb werbe ich dafür, dass Sie unserem Antrag zustimmen. Abschließend sage ich zusammenfassend: Verhandelt wurde lange genug. Die Bundesregierung muss nun einen Gesetzentwurf vorlegen. Es ist im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn Flugpassagiere die Möglichkeit einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung haben. Die söp hat belegt, dass sie über Kompetenz verfügt und gute Arbeit leistet. Von daher ist sie prädestiniert, diese Aufgabe auch für den Luftverkehr zu übernehmen. Deshalb noch einmal der Appell: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Marco Wanderwitz für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Antrag bezieht sich auf einen Teil jenes Themenbereichs, der uns schon im Rahmen der Rechtspolitik der Großen Koalition an prominenter Stelle beschäftigt hat. Das Fahrgastrechtegesetz von 2009 war aber, anders als es Ihr Antrag darstellt - bei aller Wertschätzung für die Arbeit der Kollegin Zypries als zuständiger Ministerin damals -, weder ihr Werk allein noch das Werk der SPD. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner standen bei dieser Thematik alles andere als auf der Bremse. ({0}) Dass der christlich-liberalen Koalition das Thema wichtig ist und dass wir es vor Augen haben, zeigt nicht zuletzt, dass wir ihm einen eigenen kleinen Abschnitt im Koalitionsvertrag gewidmet haben. Nun haben wir gerade einmal Halbzeit der Legislaturperiode. Wir alle wissen, dass manche Themen zu Beginn abgearbeitet werden und andere etwas später. Es ist so - auch das ist Ihnen bekannt -, dass nicht nichts passiert, sondern dass es im Hintergrund intensive Verhandlungen gibt, ({1}) dass sich beispielsweise auch die Luftfahrtunternehmen schon bewegt haben. Allerdings haben sie sich in der Tat noch nicht so weit bewegt, wie wir uns das wünschen würden. Aber die gesetzliche Lösung, die Sie jetzt fordern - aus unserer Sicht in einer zu frühen Phase -, ist alles andere als das Allheilmittel. Wie funktionieren denn Schlichtungsstellen in unserem Rechtssystem? Sie beruhen im Regelfall auf Freiwilligkeit. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahme an einem Schlichtungsverfahren ist natürlich möglich, hat aber gewisse Voraussetzungen. Bei einer gesetzlichen Verpflichtung ist eine rechtliche Bindung der Unternehmen an die Schlichtungsentscheidungen eben nicht möglich. Das ist verfassungsrechtlich nicht zulässig. Der Justizgewährleistungsanspruch in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip besagt ganz klar: Wir können den ordentlichen Rechtsweg nicht abschneiden. Das heißt nichts anderes, als dass die Verbraucherinnen und Verbraucher jedenfalls nicht das bekommen werden, was sie bekommen könnten, wenn wir zu einer Verhandlungslösung kommen, nämlich eine mögliche Unterwer15712 fung unter Schlichtungsergebnisse. Eine solche Unterwerfung wird es auf dem gesetzlichen Weg jedenfalls nicht geben können. Es gibt den schönen Spruch „Steine statt Brot“. Das Brot, die von Ihnen vorgeschlagene gesetzliche Lösung, wäre in diesem Fall nicht besonders gut genießbar. Die bereits bestehende söp - da wir gerne Fachbegriffe verwenden, ohne sie zu erläutern, erläutere ich kurz: Das ist die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr - leistet zweifellos gute Arbeit für die anderen Verkehrsträger. Da es sich hierbei um einen eingetragenen Verein handelt, müssten wir die Organisationsform der söp ändern, wenn wir die Mitgliedschaft der Fluggesellschaften gesetzlich festlegen wollten; denn in einem eingetragenen Verein ist die Mitgliedschaft freiwillig. Deswegen müssten wir an der söp Veränderungen vornehmen. Zum Thema. Natürlich ist die außergerichtliche Streitbeilegung ein gutes Instrument - das ist unstrittig -, das auch nachgefragt wird. Das ist, weil die Hürden niedrig sind, ein einfacher Weg, um sachgerechte Lösungen zu finden. Nun führen die Fluggesellschaften aber an - das steht im Gegensatz zu Ihren Ausführungen -, dass die Zufriedenheit ihrer Kunden höher ist als die bei den anderen Verkehrsträgern. ({2}) Wir könnten uns einmal das Vierte Verbraucherbarometer anschauen: Danach schneiden die Luftverkehrsunternehmen in der Tat deutlich besser ab als die anderen Verkehrsträger. Beispielsweise bewerten 94 Prozent der Geschäftsreisenden das Verkehrsmittel Flugzeug mit gut, sehr gut oder ausgezeichnet. ({3}) Die Zahl der Beschwerden beim Luftfahrtbundesamt: eine Beschwerde auf 60 000 Fluggäste. Die Zahlen drücken ferner aus, dass der Anteil der Beschwerden im Verhältnis zu den Beförderten bei inländischen Fluggesellschaften deutlich geringer ist als bei ausländischen. Auch dieses Problem kann mit der von Ihnen vorgeschlagenen gesetzlichen Lösung nicht abgestellt werden. Nun muss man positiv festhalten, dass die Zahlen so sind, wie sie sind. Wenn man sich das Ganze anschaut, stellt man fest, dass es dafür Gründe gibt. Die Fluggesellschaften jedenfalls führen Gründe an, die mir nicht ganz abwegig erscheinen. Zum einen sagen sie, dass sie ein durchaus kundenorientiertes Beschwerdemanagementsystem haben, und zum anderen, dass es im Luftverkehr anders als bei der Bahn einen richtigen, ausgeprägten Wettbewerb gibt. ({4}) Das ist für Sozialdemokraten vielleicht nicht einfach nachzuvollziehen, aber funktionierende Märkte bringen manches Mal bessere Ergebnisse als eine Regulierung. ({5}) Die Fluggesellschaften favorisieren derzeit - in diese Richtung haben sie sich in den Gesprächen bewegt eine Lösung, die sie als Y-Lösung bezeichnen: ein Eingangsportal, zwei Ausgänge; sprich: Die Verbraucherin bzw. der Verbraucher nutzt dasselbe Portal, und die Schlichtung findet nach Verkehrsträgern getrennt statt; ein Eingang, zwei Wege. Ich sage ganz offen: Mein Wunschmodell ist das nicht. Gleichwohl kann ich die vorgetragenen sachlichen Bedenken der Fluggesellschaften zum Teil durchaus verstehen. Genau darum geht es ja auch bei den Verhandlungen. Zum einen sind Beschwerden im Flugbereich kein Massengeschäft, sondern eher atypisch und sehr spezifisch, weil es zumeist eben nicht um die klassische Verspätung geht. Zum anderen ist die Kostenträgerschaft zweifellos ein Thema. Ich habe gerade von 60 000 Passagieren gesprochen, von denen 59 999 offenkundig nicht unzufrieden sind. Die Möglichkeit, das Portal ohne Eintrittsgebühr zu nutzen, bedeutet nichts anderes, als dass 59 999 bei Missbrauch mitbezahlen. Nun sagen Sie, dass Sie keinen Missbrauch wollen. Das schreiben Sie hinein; das ist ein schöner, unbestimmter Rechtsbegriff. Das Problem ist aber gerade, dass das ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Die Formulierung zeigt, wohin es gehen wird: Wenn man von Missbrauch spricht, ohne ihn einzugrenzen, ist im Grunde genommen alles beschwerdefähig, wenn es nicht schon offensichtlich ist, dass die Beschwerde unbegründet ist. Das ist für uns zu weit gefasst. Deshalb glauben wir, dass die Zeit der Verhandlungen noch nicht vorbei ist. ({6}) Die gesetzliche Lösung sollte am Ende stehen. Dieses Ende sehen wir aber noch nicht. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle kennen vielleicht so eine Anzeige: Flug XY 1278, Larnaca/Zypern nach Hamburg, zehn Stunden Verspätung. Wir sehen die Bilder vor uns: entnervtes Warten in der Flughalle; kein Ort zum Ausruhen oder um sich ordentlich frisch zu machen; nach spätestens fünf Stunden wandern die ersten Raucher entwöhnt durch die Wartehalle; ({0}) nach sechs Stunden beginnen die Verteilungskämpfe um die noch freien Steckdosen, weil inzwischen die Akkus der Laptops und Telefone leergelaufen sind. Dies ist eine Horrorvorstellung für viele Reisende auf Flughäfen. Fehlendes Gepäck, verpasste Anschlüsse oder die Landung auf einem Zielflughafen, der nicht der gewählte ist, das bedeutet für die Betroffenen Stress und Ärger pur. Dies kann man mit Geld nicht ausgleichen, wohl aber den entstandenen materiellen Schaden. Verspätet sich ein Flug um mehr als drei Stunden, haben die Reisenden einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung. Das hat der Europäische Gerichtshof festgestellt. Die Ausgleichszahlung in der Praxis aber durchzusetzen, ist gar nicht so einfach. Da unterscheidet sich die Wirklichkeit von dem, was Herr Wanderwitz hier dargestellt hat. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Am 9. November 2009 verspätet sich der Abflug ebenjener Maschine von Zypern nach Hamburg um zehn Stunden. Zwei Betroffene fordern von der Fluggesellschaft eine Ausgleichszahlung und berufen sich auf das Urteil des Gerichtshofs. Ende Dezember bietet die Fluggesellschaft eine Erstattung von 10 Prozent des Nettoflugpreises - 19,80 Euro - oder wahlweise einen Reisegutschein in Höhe von 35 Euro an. ({1}) Am Ende hilft den Betroffenen nur die Androhung einer Klage, um ihr Recht durchzusetzen. Ende März 2011 ist es endlich geschafft: Die Fluggesellschaft zahlt den beiden Betroffenen jeweils 400 Euro Ausgleichszahlung. Diese Reise dauerte eineinhalb Jahre. Andere hätten schon längst entnervt und enttäuscht aufgegeben und auf ihr Recht verzichtet. Das ist unzumutbar für die Betroffenen. Genau das muss geändert werden. ({2}) Für Bahnreisende, aber auch für Menschen, die bei einer Bus- oder Schiffsreise Nachteile hinnehmen mussten, ist es einfacher. Seit Ende 2009 können sie sich an die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr wenden. Diese Stelle arbeitet mit großem Erfolg im Interesse der Antragsteller, so, wie vorher schon die Schlichtungsstelle Mobilität beim VCD. Die Luftverkehrsunternehmen aber verweigern die Beteiligung an dieser Schlichtungsstelle. Nach dem Motto: „Wir wollen mal sehen, wer am längeren Hebel sitzt“, missbrauchen sie ihre wirtschaftliche Macht, um berechtigte Kundenansprüche abzuwimmeln. Mit dieser Position haben die Luftverkehrsunternehmen übrigens schon die damalige SPD-Justizministerin Zypries bezwungen, als sie die Schlichtungsstelle nicht anerkannten. Sie setzen sich nun offenbar wieder bei der Bundesregierung durch, wie wir hier heute sehen. Entgegen Ihrer eigenen Beschlusslage, meine Damen und Herren von der Koalition, stärken Sie nicht die Rechte von Fluggästen, sondern die der Fluggesellschaften. In Ihrem Koalitionsvertrag von 2009 heißt es - es wurde eben schon angesprochen; ich zitiere -: Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert. Noch im Juli 2010 hat Frau Ministerin Aigner angekündigt, dass sich die Fluggesellschaften an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr beteiligen sollen. Aber jetzt kuscht die Ministerin. Jetzt macht sich die Bundesregierung die Forderung der Fluggesellschaften zu eigen und will eine Schlichtungsstelle Flugverkehr einrichten, der sich die Unternehmen nach eigener Entscheidung anschließen können oder auch nicht. ({3}) Auch Verkehrsminister Ramsauer will keine Regelung, die nicht den Segen der Luftverkehrsunternehmen erhalten hat. Das ist keine Politik im Interesse der Reisenden, das ist Klientelpolitik, wie wir sie leider auch an anderer Stelle von der Bundesregierung kennen. Die Linke will wirtschaftliche Macht dort beschränken, wo sie sich gegen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger richtet. ({4}) Der Fluggast ist gegenüber dem Unternehmen eindeutig in der schwächeren Position. Darum ist es unsere Pflicht, ihn zu stärken, damit er sein Recht durchsetzen kann. Die Linke fordert, die Luftfahrtunternehmen gesetzlich zur Beteiligung an der Schlichtungsstelle für alle Verkehrsträger zu verpflichten. Die Schlichtungsstelle soll weiterhin unabhängig sein. Die Streitschlichtung muss durch Gebühren der Fluggesellschaften finanziert werden. Das hatten wir bereits 2010 in unserem Antrag gefordert. Das fordert heute auch die SPD. Darum stimmen wir diesem Antrag zu. ({5}) Es ist eine gerechte Politik, den Schwächeren zu stärken und die Macht der Starken zu begrenzen. Nur so kann wirklich eine demokratische Beziehung zwischen den Schwachen und den Starken entstehen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der sozialen Marktwirtschaft haben Verbraucherinnen und Verbraucher, Kundinnen und Kunden immer dann eine starke Position, wenn sie in einem wettbewerblichen Markt die Möglichkeit haben, unter mehreren Anbietern auszuwählen und ihre Kundenwünsche deutlich zu machen. Das geschieht seit vielen Jahren erfreulicherweise auch im liberalisierten Luftverkehr. Insbesondere aufgrund der Öffnung der europäischen Märkte gibt es viele neue Anbieter. Viele neue Flughäfen bzw. Flugziele werden nun durch viele international tätige Airlines angeflogen. Nun haben die Menschen die Wahl, ob sie mit einem Premium-Carrier bzw. einer Fluglinie, die einer Premium-Kooperation angehört, oder mit einem Low Cost Carrier für 19,99 Euro von Punkt zu Punkt fliegen wollen. All das entscheiden die Kunden aufgrund der Schwarmintelligenz zu ihrem Nutzen. ({0}) Ich bin ein großer Anhänger von Schlichtungsmöglichkeiten, ob im Banken- und Versicherungsbereich, aus dem ich beruflich komme, oder bei den Verkehrsträgern. Aber eines muss man anerkennen: Die Schlichtung von Streitfällen im Bereich des Luftverkehrs ist ganz anderer Natur als die meisten zu schlichtenden Fälle im Bereich der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, weil wir es hier mit international operierenden Unternehmen zu tun haben. Die Ursache manch einer Annullierung oder Verspätung ist eben nicht in Deutschland, sondern an dem Flughafen, von dem der Flieger kommt, zu finden. Die betroffene Fluglinie ist nicht immer Air Berlin oder Lufthansa, sondern kann auch EasyJet, Ryanair oder eine andere ausländische Airline sein. In diesem Fall wird es, was die deutschen Vereinsstrukturen betrifft, schon etwas schwieriger. Es ist völlig unbestritten - das entnehme ich auch dem Antrag der Sozialdemokraten -, dass das Ganze nur Sinn macht, wenn auch die vielen nichtdeutschen Airlines, die in Deutschland starten und landen, der Schlichtung zustimmen. Sie müssen sich ihr unterwerfen, geschätzter Herr Kollege Behrens; zu diesem Zweck machen wir ein Gesetz. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die nichtdeutschen gemeinsam mit den deutschen Airlines sagen: Wir wollen das in einer eigenen Organisationsform und mit unseren eigenen fachlichen Zuständigkeiten machen und nicht vom Gesetzgeber eine Organisationsform aufgezwungen bekommen. - Das muss die Politik akzeptieren. Ich jedenfalls stelle fest, dass die sachlichen Gründe für eine gesonderte, eigene Organisationsform sprechen. Die Probleme und Sachverhalte sind nämlich andere als bei der Eisenbahn, beim Bus oder beim Fährverkehr. ({1}) Diese Koalition will per Gesetz die Schlichtung zur Entschädigung bei Nichtbeförderung, Annullierung, Verspätung, Gepäckschäden und Schäden an Sachen regeln. Das wird alsbald geschehen. Dabei dürfen wir aber auch das, was der Kollege Wanderwitz angedeutet hat, nicht übersehen: Es gibt wegen der exzellenten Streitschlichtungsmöglichkeiten innerhalb der Airlines eine hohe Kundenzufriedenheit. Ich empfehle allen Kollegen, die der heutigen Debatte freundlicherweise folgen, einen Besuch der Callcenter und Streitschlichtungsstellen von Air Berlin oder der Lufthansa. Dort kann man beobachten, wie die Gespräche geführt und wie schnell viele Beschwerden abgearbeitet werden. Das ist sicher auch ein Vorbild für die Schlichtung auf europäischer Ebene. Ein Problem müssen wir dabei im Blick haben - übrigens ein Problem, das weit über die Verbraucherrechte hinausgeht -: Wir stehen heute vor der Herausforderung, dass manch ein Bußgeldbescheid des Luftfahrt-Bundesamtes in Irland gelocht und geheftet, aber nicht bezahlt wird. ({2}) Wir können in Deutschland noch so viele tolle gesetzliche Regelungen treffen. Wenn sich ein oder zwei große Low Cost Carrier mit auswärtigem Sitz nicht daran halten oder sich destruktiv verhalten, dann ist für die Verbraucher nichts erreicht. Unser Ziel bleibt, gemeinsam mit der betroffenen Wirtschaft ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Das wird geschehen. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden verfahren wie bei allen anderen Schlichtungsstellen. Natürlich trägt die Kosten zunächst die betroffene Wirtschaft. Aber eines muss klar sein: Wenn es zu missbräuchlichem Anrufen der Schlichtungsstelle kommt, müssen wir diesen Missbrauch unterbinden. Auch dazu werden wir im Gesetz Regelungen vorsehen. Die große Frage ist, wie man Missbrauch definiert. Missbräuchliches Verhalten liegt auch dann vor, wenn man nach mehreren in der ersten, zweiten, dritten oder vierten Instanz verlorenen Prozessen noch einmal versucht, mit der Schlichtungsstelle ins Geschäft zu kommen. Irgendwann muss Schluss sein. Dies wird sehr genau geregelt werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht einzelne - vielleicht besonders klagefreudige Passagiere einen ungerechtfertigten Vorteil erhalten. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Markus Tressel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die gleiche Debatte schon vor einigen Wochen und im letzten Jahr geführt. Ihre Argumente sind in den vergangenen zwölf Monaten nicht besser geworden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({0}) Wenn Sie sagen, dass Sie zusammen mit der Wirtschaft ein Gesetz auf den Weg bringen, dann muss ich Ihnen sagen: Wir Abgeordnete machen die Gesetze, nicht die Wirtschaft. Ich glaube, das sollten Sie beherzigen. ({1}) Der Passus, der in Ihrem Koalitionsvertrag steht, wurde Ihnen vorhin schon einmal vorgelesen; deswegen spare ich mir das an dieser Stelle. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag selbst geschrieben, dass Sie die verkehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich regeln werden. Sie halten uns heute entgegen, das sei gesetzlich nicht zu regeln. Sie müssen sich einmal fragen, was Sie in Ihrem Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben. ({2}) Das, was Sie hier anbieten, ist ja an politischer Schizophrenie kaum zu überbieten. ({3}) Es ist ja schon bezeichnend, dass wir als Opposition heute die Einhaltung Ihres Koalitionsvertrages fordern müssen, in dem Sie das ja niedergeschrieben haben. ({4}) Das ist ja auch nichts Neues. Das ist ja keine Diskussion, die die Opposition hier angestoßen hat, sondern die Verbraucherschützer und auch die Europäische Kommission haben uns ins Stammbuch geschrieben: In keinem Bereich gehen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei der Regelung von Ansprüchen Reisender im Bereich des Flugverkehrs. Sie sagen, die Kundenzufriedenheit sei in diesem Bereich besonders hoch. Wir wissen, dass die meisten ihre Rechte überhaupt nicht kennen. Die Fluggesellschaften bemühen sich meines Erachtens ja auch nicht besonders darum, die Kunden über ihre Rechte aufzuklären. Gucken wir uns die Zahlen an; ich habe mir gerade noch einmal aktuelle Zahlen herausgeschrieben. Zwischen dem 1. Januar und dem 19. Oktober dieses Jahres, also gestern, gab es 1 566 ausgefallene Abflüge ab Frankfurt und 448 Flüge mit mehr als drei Stunden Verspätung. Wenn man das hochrechnet, dann kommt man auf mehr als 100 000 Betroffene alleine in Frankfurt. Das sind immense Zahlen. Das Aufkommen ist wahnsinnig hoch. Die Reisenden, die davon betroffen sind, brauchen Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte. Diese soll nicht kompliziert, sondern möglichst einfach sein. ({5}) In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie wir das niedrigschwellig gestalten. Ich will mir nicht vorstellen, wie viele Leute auf die Durchsetzung ihrer eigenen Rechte verzichten, weil sie Angst haben, gegen eine Airline vor Gericht zu gehen. ({6}) Die Airlines scheuen ja auch keine Mühen, die Passagiere davon abzuhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Wir haben das in der Debatte um eine Eingangsgebühr von 50 Euro für die Schlichtung erlebt. Kein Argument war zu schief, um den Leuten zu sagen: Wir brauchen jetzt eine Eingangsgebühr. - Sie haben in diesem Zusammenhang das Argument Prozesshanselei angeführt. Das hat mit Prozesshanselei überhaupt nichts zu tun. Fakt ist: Durch die Schlichtung wird die Servicequalität erhöht, und sie führt zu mehr Kundenzufriedenheit. Das müssen auch die Airlines einsehen. Die söp - sie ist vorhin ja schon einmal angesprochen worden - ist verkehrsträgerübergreifend konzipiert. Das ist die richtige Stelle für die Schlichtung. Die Verbraucherschutzminister der Länder haben ja bereits vor einem Jahr festgestellt - damals saßen auch Verbraucherschutzminister der CDU und der FDP mit am Tisch -, dass die Schlichtung bei der söp am besten aufgehoben ist. Während die söp heute für alle Bahnunternehmen zuständig ist, müssen wir mit politischem Druck dafür sorgen, dass auch die Flugunternehmen mit an Bord gehen. Als Feigenblatt wird von diesen jetzt eine eigene Schlichtungsstelle vorgeschlagen. Genau das ist der Punkt: Wir wollen keine Sonderlösung für die Airlines. Wir wollen im Interesse der Verbraucher keine Extrawurst, sondern wir wollen eine transparente, verkehrsträgerübergreifende Schlichtung. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sehr Sie sich auch bemühen: Es gibt keine schlagenden Argumente für eine separate Lösung der Airlines, außer dem, dass die Airlines dort möglicherweise ihr eigenes Süppchen kochen wollen. Wir haben gesehen: Es gibt immer mehr intermodale Angebote, zum Beispiel Rail & Fly, und immer mehr Reiseangebote, bei denen verschiedene Verkehrsträger kombiniert werden. Im Hinblick auf Neutralität und auf niedrige Kosten ist es wichtig, dass es nur eine zuständige Einrichtung gibt, und das kann meines Erachtens nur die söp sein. Die Verbraucher sollen wissen, an wen sie sich wenden können. Das geht nur, indem wir keine Verwirrung stiften und dafür sorgen, dass es nur eine Schlichtungsstelle gibt. Ich kann als Fazit nur eines sagen: Sorgen Sie dafür, dass es eine gesetzliche Regelung gibt, mit der die Belange der Verbraucher entsprechend berücksichtigt werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin schon am Ende. - Wenn Sie schon kein stichhaltiges Argument gegenüber den Verbrauchern haben, dann nehmen Sie doch wenigstens einfach Ihren Koalitionsvertrag ernst. Dort haben Sie es niedergeschrieben. Wenn Sie sich daran halten, dann gibt es auch eine gute Lösung für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Siegfried Kauder.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege, es ist immer gut, anderen Vorwürfe zu machen: der Bahn wegen der Verspätungen; den Fluggesellschaften, weil man zehn Stunden auf einen Anschlussflug warten musste. Die Menschen sind irritiert, deswegen muss die Politik etwas machen. Vielleicht kehren wir einmal vor der eigenen Tür. Die größte Verzögerung erlebe ich persönlich auf den Bundesautobahnen. Der Bürger zahlt Steuern dafür, dass die Autobahnen so in Schuss sind, dass man nicht vier oder fünf Stunden im Stau steht. Darüber reden wir nicht. ({0}) Sie haben zu Recht gesagt, Herr Kollege: Wir sind das Parlament. Wir machen Gesetze. - Dann dürfen Sie aber diesen Verkehrsträger nicht ausnehmen. Sie dürfen nicht sagen: Die Bahn muss etwas machen, die Fluggesellschaften müssen etwas machen. Aber wenn auf der Bundesfernstraße ein Stau ist, muss der Bürger warten. Auch da müssen Sie Farbe bekennen. Erarbeiten Sie einen Gesetzentwurf, damit das besser wird. Dann ist der Bürger auch zufrieden, wenn wir über solche Themen wie jetzt diskutieren. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege, bitte schön.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege, wir reden heute hier über Verbraucherschutz. Ich sehe ein, dass wir auch für ordentliche Zustände auf unseren Straßen sorgen müssen. ({0}) Diese Diskussion muss man separat führen. Aber den Verbraucherschutz - es geht insbesondere um Situationen, die der Verbraucher nicht selbst verschuldet hat, und um das, was er sowohl bei der Bahn als auch bei Fluggesellschaften erdulden muss - mit der Situation auf deutschen Autobahnen zu vergleichen, halte ich für sehr weit hergeholt. Ich denke, dass Sie jetzt eine Bringschuld haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen, statt weiter mit der Wirtschaft herumzukungeln. Dafür sorgen, dass es auf den Autobahnen fließt, kann Ihr Verkehrsminister ganz gut selber.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Peter Wichtel für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst den vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion und die Debatte dazu nutzen, um deutlich herauszustellen, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger mit einer verantwortungsbewussten und nachhaltigen Verbraucherpolitik begleitet. Das deutsche Recht gewährt den Reisenden umfassenden Schutz, der in schwierigen Verhandlungen mit den Verkehrsträgern erarbeitet wurde. In zahlreichen europäischen und deutschen Rechtsverordnungen ist das ganz klar zum Ausdruck gekommen. Es geht Ihnen darum, die Luftverkehrsrechte anzusprechen, die geregelt werden sollen, und Sie bemühen dazu den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und der FDP. ({0}) Dort haben wir festgeschrieben, dass wir die Strukturen des Verbraucherschutzes ausbauen und auf alle Verkehrsträger ausdehnen wollen. Ein anschauliches Beispiel des kontinuierlichen Ausbaus ist von Ihnen, Frau Gottschalck, erwähnt worden: die söp, die im September 2009 - das geschah zusammen mit dem Fahrgastrechtegesetz - gegründet wurde und seitdem erfolgreich Streitfälle zwischen den Verbrauchern und den Verkehrsunternehmen schlichtet. Die Erfolgsquote von über 90 Prozent bei circa 3 300 eingereichten Schlichtungsanträgen spricht für sich. Dies ist ein Erfolgsmodell für die Verbraucher, das man allerdings noch weiter optimieren kann. Wir wollen nun auch die Teilnahme der Fluggesellschaften an den Schlichtungsverfahren realisieren. Die Umsetzung dieses Vorhabens, das wir im Koalitionsvertrag festgehalten haben, wird gegenwärtig überaus konstruktiv zwischen der Bundesregierung und den Fluggesellschaften vorbereitet. Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Antrag, in dem gefordert wird, die Schlichtung für Luftfahrtunternehmen verkehrsträgerübergreifend einzuführen, für mich nicht nachvollziehbar. So argumentieren Sie, die Luftverkehrsunternehmen hätten die Frist zu einer freiwilligen Schlichtung verstreichen lassen. Dieser Vorwurf ist vollkommen haltlos. Es hat nie eine zeitliche Begrenzung oder gar ein striktes Ultimatum für diesbezügliche Gespräche und Lösungen gegeben. Im Gegenteil: Wir sind durch intensive Gespräche und Verhandlungen nun so weit, dass nur noch einzelne Details geklärt werden müssen. Ich gehe davon aus, dass bald ein Ergebnis vorliegen wird. Diesem Ergebnis heute vorzugreifen und das freiwillige Engagement der Fluggesellschaften zu einem Schlichtungsverfahren dadurch zu torpedieren, kann nicht der richtige Weg sein. Ein weiterer Denkfehler offenbart sich in der Forderung, den Verkehrsträger Luft zu einer Teilnahme an einer Schlichtung zu zwingen. Das gesamte Konzept der Schlichtung beruht im Gegenteil doch darauf, dass man möglichst freiwillig zusammenarbeitet und in diesem Engagement die besten Ergebnisse für die Betroffenen herausholt. Die Fluggastrechte für Fluggäste können doch nur dann wirken, wenn die Schlichtung am Ende auch angenommen wird. Würden Sie als Opposition, wenn Sie zu einem Schlichtungsverfahren verpflichtet würden, das Ergebnis am Ende tatsächlich tolerieren? Ich glaube, damit wird sehr deutlich, dass Sie mit der Einforderung der Beteiligung der Luftverkehrsgesellschaften an Schlichtungsverfahren genau das Gegenteil dessen erreichen, was wir eigentlich gemeinsam wollen, nämlich die Unterstützung und das Festlegen für ein Engagement an der Schlichtung. Ich denke darüber hinaus, dass Sie zwei Dinge missachten. Wenn eine Lösung zustande kommt, ist es doch am besten, wenn es sich um eine freiwillige Lösung in Form einer Vereinbarung handelt, die nachher in ein Gesetz mündet. ({1}) Denn damit haben Sie am Ende genau das, was hier von vielen Rednern gesagt worden ist, nämlich die höchste Wirkung für die Betroffenen. Wer klagt schon, wenn man in der Schlichtungsstelle gemeinsam zu einem positiven Ergebnis kommt? So erzielen wir für diejenigen, die wir schützen wollen, am meisten. Die organisatorische Frage, ob das innerhalb der söp geschieht, ob es unter einem virtuellen Dach eine gleiche Anlaufstelle gibt oder ob eine eigene Schlichtungsstelle eingerichtet wird, ist aus meiner Sicht heute vollkommen zweitrangig. Wichtig ist vielmehr, dass gemeinsam ein Ziel erreicht wird und dass sich möglichst viele Fluggesellschaften freiwillig beteiligen. Nur so können wir es machen. Ich will ein Zweites sagen; ich glaube, Herr Döring hat das vorhin schon erwähnt. Wie viele Rechnungen bekommen Fluggesellschaften präsentiert, die am Ende nicht bezahlt werden? Diesen Zustand wollen wir zugunsten der Fluggäste ändern. Wir wollen eine ungezwungene ordnungsgemäße Stelle, die am Ende als Schlichtungsstelle so funktioniert, dass jeder Betroffene dort hingeht. Letzter Punkt, den ich ansprechen will: Eingangshürde. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass die Eingangshürde, um Missbrauch zu verhindern, ähnlich sein kann wie bei Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht, dass man also zunächst eine Vorprüfung macht, ob das, was beantragt wird, überhaupt Erfolg hat. So könnte man die Beschwerden abarbeiten. Ich denke, in diesem Sinne müssen wir noch viel tun. ({2}) Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich denke, Zwang auszuüben, wie Sie es beantragen, ist nicht der richtige Weg. Deswegen lehnen wir das ab. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinz Paula für die SPD-Fraktion. ({0})

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Tourismuspolitiker und Verbraucherschutzpolitiker haben uns bereits sehr intensiv mit diesem Thema befasst. Es wurden sehr wichtige und richtige Argumente ausgetauscht. Ich darf aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom 7. Juli 2011 einige Passagen zitieren: Der Verbraucher soll sich leicht informieren können, er soll gut beraten und seine Interessen sollen gut vertreten werden. Frau Mortler, wir stimmen Ihnen absolut zu. ({0}) Ich darf Sie weiter zitieren: Ihre erfolgreiche Tätigkeit - Sie meinen an der Stelle die söp stärkt den Verbraucherschutz im Tourismus. ({1}) Da kann ich nur sagen: Alle Achtung, söp! Ihr leistet eine hervorragende Arbeit. Ihr habt die entsprechende Anerkennung der Unternehmen und der Verbraucher. Ihr habt eine hervorragende Infrastruktur, und ihr habt hervorragende Experten, die es schaffen, bis über 90 Prozent der Schlichtungen zu einem positiven Ergebnis zu führen. Respekt, söp! ({2}) An dieser Stelle ist interessant, dass über ein Drittel der anhängigen Verfahren justament von Fluggesellschaften kommen. Interessant ist dabei auch - das richtet sich an alle diejenigen, die die Sorge haben, dass die ausländischen Fluggesellschaften nicht mit im Boot wären -, dass genau diese Fluggesellschaften bereits sehr aktiv mitmachen. Es funktioniert doch. Wir Sozialdemokraten wollen eine möglichst verbraucherfreundliche Regelung. Ich hoffe, Sie von der Regierungskoalition wollen das auch. Wir wollen, dass die Unternehmer verpflichtet werden, an einem Schlichtungsverfahren teilzunehmen, wenn sie einer Verbraucherbeschwerde nicht innerhalb von vier Wochen selbst abgeholfen haben. Verbraucherfreundlich heißt für uns darüber hinaus, dass man sich an eine gemeinsame, also verkehrsträgerübergreifende Stelle wenden kann. Eine Anlaufstelle und eine einheitliche Spruchpraxis, das brauchen wir. Verbraucherfreundlich heißt für uns außerdem, dass nicht die Kunden die Kosten zu übernehmen haben. Wo kommen wir denn hin, wenn nicht die Verursacher, sondern die Geschädigten dafür bezahlen sollen? Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Fluggesellschaften inzwischen von solchen Eingangsgebühren Abstand genommen haben. Damit sind sie bereits auf dem richtigen Weg. Jetzt muss der nächste Schritt folgen. ({3}) Es ist immer wieder davon die Rede, wie teuer die söp sei. Ein Blick in die geplante Beitragsordnung zeigt: Man kommt den Fluggesellschaften sehr weit entgegen. Es wird immer wieder die große Sorge geäußert, dass ein wilder Missbrauch drohe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die bisherige Arbeit der söp zeigt überdeut15718 lich, dass kein Missbrauch zu befürchten ist. Außerdem haben wir in unserem Antrag eine entsprechende Regelung vorgesehen. Sie können also ganz beruhigt sein. Entscheidend wird allerdings sein, dass wir endlich zu Ergebnissen kommen. Wenn wir in den nächsten 20 oder 30 Jahren immer noch verhandeln, nützt das den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht. ({4}) Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie die Argumente Ihrer eigenen Kollegen heranziehen. Die Verbraucherministerkonferenz wurde bereits angesprochen. Ich darf aus einer Pressemitteilung unserer früheren Kollegin Puttrich zitieren, die inzwischen in Hessen Ministerin ist. ({5}) - Ich hoffe, Sie sagen das auch nach dem Zitat aus der Pressemitteilung. - Ich darf zitieren: Für den Verbraucher ist es dabei nicht nachvollziehbar, dass es unterschiedliche Anlaufstellen des Schlichtungsverfahrens gibt. … Die Fluggesellschaften sind nun aufgefordert, sich aktiv an der Schlichtungsstelle zu beteiligen. Geschieht dies nicht, - Herr Schweickert, ich zitiere immer noch werden wir sie dazu verpflichten … Dazu kann ich nur sagen: Die Frau hat recht. ({6}) In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie die richtigen Aussagen getroffen. Richtige Aussagen ersetzen aber kein Handeln. Handeln Sie endlich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher! ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Zuschauerrängen! Wenn man Ihre Rede verfolgt hat, Herr Paula, könnte man meinen, die Regierungskoalition wüsste nicht, dass es zu Verspätungen kommt. Das wissen wir aber. Wir wissen sehr wohl, wie unangenehm das Ganze ist. Aus diesem Grunde haben wir in unserem Koalitionsvertrag genau das niedergeschrieben, was von allen Oppositionsfraktionen zitiert worden ist. Denn wir wollen den Umstand abschaffen, dass die Verbraucherrechte in diesem Bereich ungenügend sind. ({0}) Die Frage ist, wie wir das machen. Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, über den wir heute abstimmen werden. Die SPD geht darin auf die Schlichtungsstelle söp ein, die bisher nicht für den Flugverkehr zuständig ist. Weil die Schlichtungsstelle gut arbeitet, will die SPD die Teilnahme der Luftverkehrsbranche an der söp erreichen. Genau wie Kollegin Puttrich sage ich: Ja, die söp leistet gute Arbeit. Wir wollen aber mit unserer Regulierung die Richtigen treffen. Ich hätte gern den Kollegen Behrens gefragt, wer den Flug nach Larnaca ausgerichtet hat. Wir können gerne die deutschen Carrier verpflichten. Die Frage ist aber, ob die Probleme bei ihnen am größten sind. Haben wir nicht die größten Probleme mit Ryanair und easyJet, die sich niemals freiwillig einer Schlichtung unterwerfen werden, wenn wir den falschen Weg wählen? Wir wollen erreichen, dass die Schlichtungsergebnisse von den Verkehrsträgern anerkannt werden. Deswegen müssen wir eine Systematik finden, der alle folgen können. Jetzt ist der einzige Streitpunkt der, wie das aussehen soll. Wenn das später unter dem Dach der söp stattfindet und alle freiwillig unter dieses Dach gehen, dann haben wir das Problem nicht. Aber es zeigt sich, dass gerade die ausländischen Carrier nicht unter dieses Dach wollen. Zu den Gründen, die Sie angeführt haben, muss ich sagen, dass sie sekundär sind. Aus der Sicht des Verbrauchers ist es wichtig, dass er nur eine Nummer anrufen muss, egal ob er mit der Bahn gefahren oder mit dem Flugzeug geflogen ist, und dass er nur eine Homepage aufzurufen braucht. Es ist egal, ob er in der Zentrale der söp landet und anschließend in die Abteilung Bahn oder Flug durchgestellt wird. Es ist vollkommen unerheblich, wie die Struktur dahinter aussieht. Auch in einem Unternehmen, wie Sie es zeichnen, gibt es verschiedene Abteilungen, die sich mit unterschiedlichen Schlichtungsfragen beschäftigen. Wenn es eine Anlaufstelle gibt, ist es aus Verbrauchersicht vollkommen irrelevant, wie die Struktur dahinter aussieht. Uns geht es darum, eine niederschwellige, gute Verbraucherschutzpolitik zu machen. Genau das tun wir mit unserer Vorgehensweise. Sie wissen genau, dass es sehr schwierig ist, die ausländischen Carrier unter dieses Dach zu bekommen. ({1}) Deshalb sind wir dabei, nicht nur mit diesen Unternehmen zu reden, sondern auch zu schauen, wer mitzieht. Als Ultima Ratio sollen diejenigen, die nicht mitmachen, einer Zwangsschlichtung unterworfen werden. ({2}) Wenn das alles so einfach wäre, hätten Sie es damals schon machen können. Sie wissen genau: Wenn wir nicht alle Unternehmen der Branche einbeziehen, dann haben wir ein Problem. Ausnahmen werden wir nicht zulassen. Deswegen heißt gute Verbraucherschutzpolitik, alle in die Schlichtung einzubeziehen. Wir sind dabei nicht nur auf einem guten Weg, sondern ganz nahe dran. Ich gehe davon aus, dass wir mit Frau LeutheusserSchnarrenberger und Frau Aigner die richtigen Damen haben, um dieses Problem zu lösen. Vielen Dank für Ihr Zuhören. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer den Kolleginnen und Kollegen der Opposition und von der Regierungskoalition genau zugehört hat, der musste am Ende zu dem Ergebnis kommen, dass wir unter dem Strich gar nicht so weit auseinanderliegen. Ehrlich gesagt, auch ich bin unzufrieden darüber, dass wir noch kein abschließendes Ergebnis erzielen konnten. ({0}) Es geht in der Tat noch um einen wesentlichen Punkt, den der Kollege von der FDP gerade ausführlich erläutert hat. Ich glaube, es ist überhaupt nicht zielführend, wenn die Kollegen von der SPD so tun, als hätten sie mit ihrem Antrag einen großen Wurf gelandet. ({1}) Tatsache ist, dass der alte BDF, also der Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften, nicht nur akzeptiert hat, was in unserem Koalitionsvertrag zur Schlichtung steht, sondern auch aktiv geworden ist und beschlossen hat, dass die Schlichtung kommen wird. Auch für uns von der Union ist es zweitrangig, ob das unter dem Dach der söp oder separat erfolgt. An erster Stelle ist für uns wichtig, dass alle Verkehrsträger dabei sind. An zweiter Stelle ist uns wichtig, dass die Verkehrsträger die Kosten tragen und dass die Lösung aus Kundensicht praktikabel ist und sie schnell und unkompliziert umgesetzt wird. Ich möchte an der Stelle die söp, die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, loben. Ende 2009 ist sie gestartet, und sie macht zweifellos eine gute Arbeit. Sie hat im Sinne des Verbraucherschutzes auch im Bereich Tourismus die Anliegen der Kunden gestärkt. Deshalb ein herzliches Dankeschön. ({2}) Wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es im Bereich des Bus- und Schiffsverkehrs sehr selten, bei der Bahn jedoch in höherem Maße zu Schlichtungsanfragen kommt. Die Schlichtungsfälle, über die wir reden, werden - ich wiederhole es gerne - zu 90 Prozent einvernehmlich beigelegt. Wenn die Angaben vom alten BDF, vom Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften, stimmen, dann ist es auch hier so, dass 99 Prozent der Kundenbeschwerden außergerichtlich und damit zufriedenstellend gelöst werden. Wir sollten aber auch wissen, über welche Dimensionen wir insgesamt reden. Die Bahn befördert jährlich 2,4 Milliarden Fahrgäste. Bei 2 100 Schlichtungsanträgen ist das ein Verhältnis, das sich sehen lassen kann. Die Anzahl der Schlichtungsfälle ist doch sehr gering. Im Bereich der Fluggesellschaften werden in Deutschland jährlich 190 Millionen Fluggäste befördert. Im gleichen Zeitraum sind lediglich 1 500 Anträge als Schlichtungsverfahren bei der söp eingegangen. Sie haben jetzt vielleicht das Gefühl, das könne überhaupt nicht stimmen. Aber wir reden heute ausschließlich über die Schlichtung. Wir reden nicht über den ersten Schritt, das interne Verbraucherbeschwerdemanagement des jeweiligen Unternehmens. Hier werden bereits die meisten Beschwerden und Schadenersatzforderungen der Kunden abgearbeitet. Das halte ich für ein gutes Zeichen. Wir reden hier auch nicht über den dritten Weg, den sogenannten Klageweg, der jedem offensteht, sondern über die Schlichtung. Ich werbe am Schluss noch einmal dafür, weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen, unabhängig davon, ob die Fluggesellschaften nun unter dem Dach der söp oder selbstständig eine Schlichtungsstelle einrichten. Der Kollege Wichtel hat es schon gesagt: Wenn wir die Schlichtung gesetzlich verbindlich regeln, hat am Ende der Kunde das Nachsehen, weil er dann den Spruch akzeptieren muss. ({3}) Also noch einmal: Es geht um eine einvernehmliche Streitbeilegung für alle Verkehrsträger. Da sich abzeichnet, dass die Verhandlungen dazu in der letzten Phase sind, ist der Antrag der SPD überflüssig. Wir können ihn also mit ruhigem Gewissen ablehnen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7337 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, also Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterbrechen wir nun wegen einer Fraktionssitzung die Plenarsitzung bis 17.30 Uhr. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, Wolfgang Börnsen ({1}), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Sören Bartol, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Patrick Kurth ({2}), Reiner Deutschmann, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Josef Philip Winkler, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 Ein Ereignis von Weltrang - Drucksachen 17/6465, 17/7219 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Kretschmer Patrick Kurth ({3}) Dr. Rosemarie Hein Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ministerpräsident des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff. ({4}) Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident ({5}): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Mitglieder des Bundestages! Ich bin dankbar, heute vor Ihnen als Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt und Mitglied im Kuratorium zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums sprechen zu dürfen. Ich tue das auch im Namen meiner Kollegin aus Thüringen, Frau Ministerpräsidentin Lieberknecht, ({6}) und meines sächsischen Kollegen, Herrn Ministerpräsidenten Tillich. ({7}) Es gibt viele Städte in Mitteldeutschland, mit denen der Reformator eng verbunden war. Erfurt war die Stadt des jungen Luther. Auf der Wartburg in Eisenach fand er Zuflucht. Seine Frau stammte aus Sachsen. Ihr Gelübde als Nonne legte sie im Kloster Nimbschen ab. Torgau war ihr Sterbeort. Das eigentliche Lutherland ist jedoch das heutige Sachsen-Anhalt mit Mansfeld, ({8}) dem Heimatort der Eltern und der befreundeten Fürstenfamilie, mit Eisleben, dem Ort der Geburt und des Todes, und natürlich mit Wittenberg, dem wichtigsten Wirkungsort Luthers. Die Lutherstadt Wittenberg ist der zentrale Gedenkort der Reformation und die Stadt mit den bedeutendsten Lutherstätten: Schloss- und Marktkirche, Augusteum, Lutherhalle und die alte Universität Leucorea. Erste Anregungen, das Reformationsjubiläum des Jahres 2017 und die Jahre bis dorthin in einer Lutherdekade gemeinsam zu begehen, sind deshalb bereits im Jahre 2008 von Sachsen-Anhalt ausgegangen. Sie wurden noch durch meinen Amtsvorgänger Professor Böhmer an die Evangelische Kirche in Deutschland und an den Bund herangetragen und dort positiv aufgenommen. Daraus ist das schon erwähnte Kuratorium mit seinen inzwischen weitverzweigten Arbeitsstrukturen entstanden. Gemeinsam, das heißt für uns im Bewusstsein der Unterschiede zwischen Kirche und Staat mit Blick auf ein Ereignis, das ja unzweifelhaft zunächst einmal kirchlicher Natur ist, aber eben zugleich in enger freundschaftlicher Zusammenarbeit, weil die Bezüge dieses Ereignisses ebenso unzweifelhaft tief hineinwirkten und hineinwirken in den Staat und die Gesellschaft. Ich begrüße es deshalb, dass es in den Kirchen konkrete Überlegungen gibt, im Jahr des Reformationsjubiläums zu einem Kirchentag nach Berlin und Wittenberg einzuladen. ({9}) Dem Reformator wichtige Fragen der Weltverantwortung des Glaubens können so ganz bewusst vor dem Hintergrund einer inzwischen ausgeprägten Säkularisation an den Stätten der Reformation diskutiert und auf ihre Relevanz für uns im Hier und Heute hin reflektiert werden. Das unterscheidet unsere Herangehensweise im Übrigen fundamental von der Herangehensweise bei den staatlicherseits sehr verschämt gestalteten Feiern zum 500. Geburtstag Luthers im Jahre 1983 in Wittenberg, die ich noch in persönlicher Erinnerung habe. „Gemeinsam“ heißt für uns also auch: im Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen, ergänzt durch ein EngaMinisterpräsident Dr. Reiner Haseloff ({10}) gement der Zivilgesellschaft, soweit sie sich in ihrer geistigen und kulturellen Prägung auf Impulse Martin Luthers bezieht. Als Wittenberger füge ich beim Stichwort „gemeinsam“ hinzu: Ich wünsche mir, dass dieses Jubiläum eine spirituelle Kraft auch über konfessionelle Grenzen hinweg entfaltet. ({11}) Vor diesem Hintergrund bin ich für die Unterstützung des Deutschen Bundestages dankbar. Mit einem ersten Beschluss am 18. Juni 2009 und der Beschlussempfehlung, die Ihnen heute zur Entscheidung vorliegt, bekräftigen Sie nachdrücklich die Bereitschaft des Bundes, sich aktiv konzeptionell, fördernd und gestaltend an der Lutherdekade und am Reformationsjubiläum zu beteiligen. Besonders dankbar bin ich, dass die vorliegende Beschlussempfehlung fraktionsübergreifend von den Abgeordneten der CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen und ebenso einvernehmlich vom federführenden Ausschuss für Kultur und Medien wie von allen mitberatenden Ausschüssen getragen wird. Damit unterstreichen Sie den übergreifenden Charakter des Ereignisses und seine Bedeutung für Politik und Gesellschaft, Bildung und Kultur, Wirtschaft und Tourismus, nationale Identität und internationale Beziehungen. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken. Ich danke Ihnen auch dafür, dass die Unterstützung des Bundes bereits sehr konkret geworden ist. Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien hat mit Unterstützung des Deutschen Bundestages im laufenden Jahr ein neues Förderprogramm auf den Weg bringen können, das kulturellen Projekten, aber auch der Herrichtung der historischen Lutherstätten zugutekommt. Dafür danke ich Ihnen, sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann. Das Auswärtige Amt und das Innenministerium sind im Rahmen ihrer Zuständigkeiten hilfreich. Daneben helfen uns das Bau- und das Wirtschaftsministerium mit Blick auf bauliche und touristische Vorhaben. Natürlich wünsche ich mir, dass diese Unterstützung fortgeführt werden kann. Wahrnehmung und Bewertung des Reformationsjubiläums hängen entscheidend von der touristischen Infrastruktur, einem guten Veranstaltungsangebot, interessanten Projekten und vom baulichen Zustand kultureller Leuchttürme wie den Lutherstätten ab. All das sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg des Jubiläums. Hier steht der Bund aus meiner Sicht in einer besonderen Pflicht; diese Pflicht hat er erkannt. ({12}) Der Kulturstaatsminister hat sein Programm bereits in die mittelfristige Finanzplanung einbezogen. Dankbar bin ich für Überlegungen, eine ergänzende Unterstützung der großen Baumaßnahmen an Orten, die zum Weltkulturerbe gehören, aus dem Etat des Bauministeriums zu prüfen. Für die betroffenen Länder wäre dies eine große Erleichterung. Die heutige Beschlussempfehlung schafft dafür eine gute Basis. Dabei will ich betonen, dass sich bereits sechs Länder für das Reformationsjubiläum engagieren und auch Unterstützung des Bundes in Anspruch nehmen: Neben Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen arbeiten inzwischen Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz in den entsprechenden Gremien mit. Für Sachsen-Anhalt kann ich sagen, dass wir uns in erheblichem Maße engagieren: Sachsen-Anhalt wird die Jubiläumsvorbereitungen in den kommenden Jahren mit bis zu 75 Millionen Euro aus Landesmitteln unterstützen. ({13}) Wir sind für Mittel des Bundes und der Europäischen Union dankbar, die hier ergänzend wirken. Wir sind - wie die anderen genannten Länder - dringend darauf angewiesen. Sehr geehrte Damen und Herren, Deutschland bereitet sich auf das Reformationsjubiläum 2017, ein Ereignis von Weltrang, vor. Der Antrag, der Ihnen heute zur Beschlussfassung vorliegt, bringt kräftigen Rückenwind für das weitere Engagement des Bundes, aber auch der Länder. Ich danke allen, die daran mitwirken. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns weiter gemeinsam für den Erfolg dieses Jubiläums arbeiten. Im Jahr 2017 soll die Welt nur den besten Eindruck von einem geschichtsbewussten, kulturgeprägten, weltoffenen und gastfreundlichen Deutschland gewinnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Siegmund Ehrmann hat für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wer etwas will anfangen, der mag es beizeiten tun“ - so Martin Luther. Diesen Ratschlag befolgen wir, insbesondere die Regierung, im politischen Handeln nicht immer, aber im Fall des Reformationsjubiläums 2017 ist dies von den Akteuren - das haben wir gerade von Herrn Ministerpräsident Haseloff gehört - schon recht frühzeitig angepackt worden. Bereits im Jahre 2008 ist die sogenannte Lutherdekade feierlich eröffnet worden. Üblicherweise gestehen wir Jubilaren ein besonderes Jahr zu: Einsteinjahr 2005, Mozartjahr 2006 und das Schillerjahr 2009. Warum bekommt Martin Luther eine ganze Dekade? So erfolgreich die eben genannten Herren in ihren jeweiligen Bereichen auch gewirkt haben mögen - die Reformation revolutionierte nicht nur Theologie und Kirche. Sie führte zu Umbrüchen weit darüber hinaus. Sie prägte ganze Gesellschaften und stellt einen der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte des Abendlandes dar. Deshalb gilt sie auch als Eckpunkt für den Beginn der Neuzeit. Natürlich war die Reformation kein Geniestreich Einzelner, sondern sie stand in der Kontinuität reformerischer Ansätze des Spätmittelalters und konnte sich nur vollziehen, weil verschiedene Faktoren zusammenwirkten. Das macht sie aber nicht weniger bedeutsam. Im Gegenteil: Die Reformation hat der Aufklärung den Weg geebnet, und die prägt bis in die Gegenwart unsere Gesellschaft. ({0}) Ich will gerne etwas konkreter werden, weil ich es ausgesprochen hilfreich finde, dass die Organisatoren der Lutherdekade, insbesondere die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen, die jeweiligen Jahre unter ein Leitthema gestellt haben. 2011 stand unter der Überschrift „Reformation und Freiheit“. Luther hatte die theologisch revolutionierende Überzeugung, dass die Menschen durch ihren Glauben und in der Nachfolge als theologisch religiöse Begründung frei sind. Diese Freiheit können ihnen weder kirchliche noch staatliche Obrigkeiten nehmen. Der Mensch ist mündig und kann sich ohne Vermittlung einer Autorität ein eigenes Urteil bilden. ({1}) Das ist nicht verkehrt, nicht wahr? Im Gegenteil: Da bekommt die Bibelübersetzung eine ganz wesentliche Bedeutung. Was früher unter der Herrschaft des Klerus gestanden hat, nämlich die Schulung der Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil, eine eigene Kenntnis zu erarbeiten, wurde allen zugänglich. Langfristig entwickelten sich daraus die Ideen von Freiheit und Gleichheit als eine wesentliche Triebfeder der Reformation, die letztendlich Demokratie mitgestaltet hat. Das Jahr 2010 stand unter dem Motto „Reformation und Bildung“. Auf die Bibelübersetzung bin ich bereits eingegangen. Die Reformatoren setzten sich aktiv für die Entwicklung des Schulwesens ein. Sie forderten, die Schulpflicht für alle Kinder, unabhängig von Stand und Geschlecht. Sie forderten, dass die Städte ihrer Verantwortung gerecht und als Schulträger tätig werden. Luther predigte den Eltern: Die Kinder müssen lesen lernen. Die Folgen der reformatorischen Bildungspolitik sind wissenschaftlich nachgewiesen. Am Ende des 19. Jahrhundert war die Alphabetisierungsquote in den protestantisch geprägten Gegenden um 10 Prozent höher als in anderen Regionen. Das Themenjahr 2013 trägt den Titel „Reformation und Toleranz“. Es liegt auf der Hand, dass durch die Reformation Toleranz nicht einfach vom Himmel fiel. Die blutigen Religionskriege in der Zeit danach sprechen Bände und haben viel Elend über die Menschen gebracht. Nachdem jedoch die Reformation offensichtlich unumkehrbar war, musste man sich langfristig auf ein Zusammenleben der unterschiedlichen Konfessionen, aber auch mit Menschen, die nicht „religiös musikalisch“ sind, einrichten. Die Reformation hat insofern Europa genötigt, auf der Basis von Toleranz und wechselseitigem Respekt Regeln für das Zusammenleben unterschiedlicher Weltanschauungen zu entwickeln. Die religiös-kulturelle Differenzierung und Pluralisierung ist damit zu einem Wesensmerkmal, einer Signatur Europas geworden. Dies alles stelle ich voran, weil es deutlich macht, wie wichtig es ist, sich mit diesem Teil unseres kulturellen Erbes auseinanderzusetzen und deutlich zu machen, welche Prägekraft die Reformation in unsere Gesellschaft hineinbringt. ({2}) Es ist also wichtig - ich begrüße ausdrücklich die Ausführungen des Ministerpräsidenten -, dass viele Akteure zusammenwirken, um daran zu erinnern, was von der Reformation ausgegangen ist und wo ihre Dimension in Gegenwart und Zukunft liegt. Insofern unterstützt dieser von den Fraktionen des Deutschen Bundestages getragene Antrag genau das Bemühen, diese Dimension herauszuarbeiten. Ich möchte noch einen besonderen Aspekt in Erinnerung rufen: Die europäische Dimension sollte dabei nicht zu kurz kommen. Wir fordern konkret in diesem Antrag, dass der Aspekt des Reformationsjubiläums auch in die europäischen Programmplanungen aufgenommen wird. Was das Europäische Kulturerbe-Siegel ausmacht, merkt man daran, dass zum Beispiel die Luthergedenkstätten als Stätten der Reformation mit diesem Siegel ausgezeichnet worden sind. Das macht deutlich, welche Strahlkraft von den soeben näher geschilderten Lutherwelterbestätten ausgeht. ({3}) Wir sollten das Reformationsjubiläum 2017 und die Zeit bis dahin intensiv nutzen, um uns mit der Reformation als Teil unseres kulturellen Erbes ganz bewusst auseinanderzusetzen und um auch die aktuellen Aspekte aufzunehmen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper. ({0})

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung bringt sich aktiv in die Gestaltung der Lutherdekade und des eigentlichen Jubiläumsjahres ein und begleitet die Lutherdekade von Anbeginn, nämlich seit 2008. Der Kulturstaatsminister, Herr Neumann, ist für die Lutherdekade federführend zuständig. Wir, die Bundesregierung, lassen uns von dem Verständnis leiten, dass die Reformation ein Ereignis war, das kulturgeschichtlich bedeutende Veränderungen angestoßen hat - und zwar weltweit -, getreu der Aussage Martin Luthers: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Weg schon Frieden ist.“ Die Dimension der von der Reformation ausgegangenen Impulse will die Bundesregierung in Kooperation mit ihren Partnern unterstreichen. Am nächsten Donnerstag wird die Bundesregierung aus diesem Anlass zusammen mit der EKD, den Landeskirchen und den Bundesländern die sogenannte Dachmarkenkampagne hier in Berlin feierlich eröffnen. Wir wollen damit die Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum national und insbesondere über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter machen. Im Mittelpunkt der Kampagne stehen dabei nicht nur das auf einem der bekanntesten Lutherporträts basierende Logo, sondern auch Leuchtturmprojekte, zum Beispiel die Eröffnung des Themenjahres 2012 „Reformation und Musik“ am 31. Oktober dieses Jahres mit einem großen Festgottesdienst und Konzerten in Eisenach. ({0}) Mich freut besonders, dass wir dieses Jubiläum hier im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend - natürlich mit Ausnahme der Linken - würdigen und dass wir dies gemeinsam mit einer entsprechenden Dynamik angehen; denn das ist wichtig. Wichtig ist aber auch, dass wir international werben, ({1}) weil dieses Ereignis weltweit von kulturgeschichtlicher Bedeutung ist - ich habe es schon gesagt - und auch tourismuspolitisch einiges bewegen kann. Ich selbst bin Mitglied im Kuratorium und werde natürlich das Auswärtige Amt einbringen. Neben dem Auswärtigen Amt und dem Bundesinnenministerium engagieren sich acht Bundesministerien, das Bundeskanzleramt und das Bundespresseamt für die Lutherdekade. Die Bundesregierung hat - vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung des Bundestages - ihre Bereitschaft erklärt, sich auch am Reformationsjubiläum finanziell zu beteiligen. Immerhin haben wir 2011 5 Millionen Euro eingestellt. Wir werben für die Einstellung der entsprechenden Summen in den Haushalt 2012. ({2}) - Ja, das ist einen Applaus wert. - Dagegen ist die Summe beim Auswärtigen Amt - im Moment 200 000 Euro - noch etwas klein. Aber das kann sich bis 2017 noch steigern. ({3}) Lassen Sie mich für die Bundesregierung als Letztes - leider habe ich nur drei Minuten Redezeit - folgendes Plädoyer im Hinblick auf das Reformationsjubiläum halten: Auf internationaler Ebene werden wir für die Jahre 2013/2014 eine kunsthistorische Wanderausstellung zum Wirken Luthers und zu den weltweiten Auswirkungen der Reformation vorbereiten. Daneben soll die sogenannte Lutherbox an verschiedene Orte wandern, um über Luther und die Reformation zu informieren. Ich glaube, das alles sind hervorragende Projekte, mit denen wir auch für den Kulturstandort Deutschland, für die Kulturnation Deutschland in der Welt werben können. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Fraktionen, die sich an diesem Antrag beteiligt haben. Danke, dass Sie das so intensiv unterstützen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine schöne Aufgabe, sich im Parlament mit einem großen Ereignis in der Geschichte Deutschlands, ja Europas zu befassen - mit der Reformation. Es ist eher unschön, dass meine Fraktion bei der Antragstellung ein weiteres Mal ausgeschlossen wurde. Selbst bei einem Thema wie der Würdigung des Reformationsjubiläums darf meine Fraktion einen Antrag aller anderen Fraktionen nicht mittragen. ({0}) Grund: ein grundsätzlicher Boykott der Linken durch die CDU/CSU-Fraktion, der von den anderen Oppositionsfraktionen tapfer mitgetragen wird. ({1}) „Was ist eigentlich natürlich am Ausschluss der Fraktion Die Linke bei einem solchen Thema in der parlamentarischen Behandlung?“, frage ich mich und frage ich Sie. ({2}) Wenn wir an diesem Antrag schon nicht mitarbeiten durften, wähle ich den kurzen Moment meiner Rede, um Ihnen zu beschreiben, was diesem Antrag aus unserer Sicht fehlt. Wenn Sie die Reformation feiern wollen, müssen Sie sich mit mehr befassen als mit Luther, und Sie dürfen Luther auch nicht zu einer Lichtgestalt von Freiheit oder gar Toleranz stilisieren. ({3}) Kardinal Lehmann, kein geringerer als er, hat in einem Interview mit der Zeitung Die Welt konstatiert - Zitat -: Er wird wohl deshalb so gefeiert, weil er den Kampf gegen die Autorität des Papstes aufgenommen hat und sich nicht einschüchtern ließ. Dass er einen epochengeschichtlichen Einschnitt personifiziert, kann man nicht bestreiten. Aber der Held der Freiheit im weitesten Sinn ist er nicht. Das zeigt sein Verhalten gegenüber anderen Reformatoren, den Bauern bei ihrem Aufstand, Andersgläubigen, zum Beispiel den Wiedertäufern, aber auch gegenüber Katholiken und Juden. ({4}) In den lutherischen Territorien - lieber Kollege Ehrmann wurde die frühzeitliche Religionsfreiheit kaum beachtet, es herrschte allenfalls eine mildere Form von Toleranz als sonst im Reich. So weit Kardinal Lehmann. Von dieser Einordnung Luthers ist in Ihrem Antrag an keiner Stelle die Rede. Zwar versprechen Sie - Zitat -, „das weite Themenspektrum der Reformation“ in der Lutherdekade aufzunehmen, doch ich vermisse vor allem die Rolle des Volkes bei dieser Reformation: ({5}) das hoffende, das kämpfende, das umdenkende und das vielerorts schwer betrogene, ja niedergekämpfte Volk. Seiner bei diesem Jubiläum zu gedenken, wäre gerade heute, in einer Zeit der vielen Volksaufstände, die zumeist auch religiös motiviert oder gegenmotiviert sind, ein wichtiges Signal. ({6}) Sie führen eine imposante Liste von Weggefährten Luthers an. Aber wo bleiben die Zeitgenossen der Reformation, allen voran Thomas Müntzer, der, wohlgemerkt, die erste deutsche Predigt verfasst hat und dessen Freiheitsbegriff und Menschenbild durch und durch reformatorisch waren, auch wenn die Niederschlagung blutig war? Müntzer steht für Begriffe wie direkte Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Er propagierte Freiheit und Gleichheit der Menschen als göttliche Prinzipien. Der Reformation der Kirche sollte eine Reformation der Gesellschaft folgen. Ferner führen Sie eine imposante Liste von Orten an, die kulturgeschichtlich mit der Reformation in Verbindung stehen, von Augsburg bis Worms. Wo bleibt zum Beispiel Mühlhausen? Nein, Ihr Reformationsbild - es ist auf Luther fixiert, und Ihr Lutherbild ist ganz und gar einseitig - ist zu schmal, um dem Ereignis Reformation gerecht zu werden. Von den ständigen Ausrutschern in die Tourismusfalle, den ganzen Marketing- und Standortbeschwörungen bis hin - jetzt bitte ich, aufmerksam zu sein - zur „Dachmarkenkampagne Luther 2017“ durch den Staatsminister - ist er anwesend? - am 27. Oktober 2011 will ich gar nicht reden. Ich glaube, Luther würde sich in seinem Grab umdrehen, wenn er das Wortungetüm „Dachmarkenkampagne Luther 2017“ hören würde. ({7}) Ich kann nur hoffen, dass von den 5 Millionen Euro Bundesmitteln, die jetzt jährlich zur Verfügung stehen, auch Projekte und Orte der Seite der Reformation gefördert werden, die Sie in Ihren Antrag - sagen wir einmal: bisher - gar nicht einbezogen haben. In dieser Hoffnung stimmen wir als ausgeschlossene Fraktion diesem Antrag zu. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Agnes Krumwiede das Wort.

Agnes Krumwiede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004082, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, 5 Millionen Euro Bundesmittel pro Jahr bis 2017 für die Lutherdekade erfordern eine transparente Kommunikation darüber, wofür diese Mittel verwendet werden sollen. Jedes Jahr haben die Veranstaltungen andere thematische Schwerpunkte; wir haben schon gehört, dass das so ist. Das nächste Jahr zum Beispiel steht unter dem Motto „Reformation und Musik“. Ein Teil der Bundesfinanzierung wird in die Restaurierung und Vorbereitung der Wirkungsstätten Martin Luthers fließen. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass im vorliegenden Antrag auf eine nachhaltige Ausrichtung des Reformationsjubiläums Wert gelegt wird. ({0}) Bei Veranstaltungen und bei der Herstellung von Infomaterialien sollen Kriterien der Klimaneutralität berücksichtigt werden. Neben der investiven Vorbereitung auf das Großereignis im Jahr 2017 sind für uns die kulturelle und gesellschaftliche Dimension entscheidend. Zahlreiche Veranstaltungen sollen den Dialog zwischen Gesellschaft und Kirche programmatisch stärken. Wir begrüßen, dass dabei kulturelle, künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen im Zentrum stehen. ({1}) Diese Chancen der kulturellen Begegnung innerhalb der Lutherdekade wollen wir gern in den nächsten Jahren politisch begleiten. Eine Fokussierung auf rein touristische Aspekte lehnen wir ab. ({2}) Nicht ein möglichst repräsentatives Bild Lutherdeutschlands im Ausland steht für uns im Vordergrund, sondern die inhaltliche und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Luther, seiner Zeit und den Auswirkungen seiner Schriften. Um die Trennung zwischen Staat und Kirche in der Organisationsstruktur zu bewahren, gibt es zwei Geschäftsstellen: eine von staatlicher und eine von kirchlicher Seite. Bestrebungen - auch seitens des BKM -, diese beiden Stellen zusammenzulegen, lehnen wir ab. Kirchliche und staatliche Zuständigkeiten müssen klar voneinander getrennt bleiben. ({3}) Ein Jubiläum mit dem Anspruch auf ein kirchliches und kulturgeschichtliches Ereignis von Weltrang muss bei Projekten und Veranstaltungen alle Menschen ansprechen und einbeziehen, nicht nur Protestanten. Außerdem darf sich die Ausgestaltung der Jubiläumsfeierlichkeiten nicht auf einige wenige Prestigeevents beschränken. Dafür ist eine bundesweit flächendeckende, vielfältige und abwechslungsreiche Veranstaltungsstruktur in den Städten ebenso wie im ländlichen Raum notwendig. Auch die Förderung des Dialogs mit anderen Religionen, mit Nichtgläubigen und Atheisten sollte im Rahmen der Lutherdekade gestärkt werden. ({4}) Es darf nicht um eine Verherrlichung Martin Luthers gehen. ({5}) Auch kritische Fragen müssen aufgeworfen werden. Nur durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Institution Kirche, der Person Martin Luther und den umfassenden Konsequenzen seiner Schriften für die Geschichte wird die Lutherdekade ihren Aufgaben gerecht. ({6}) Martin Luthers Wirken hatte viele Facetten mit prägender historischer Ausstrahlung. Auf der einen Seite gilt er als Reformator, als Modernisierer der Kirche. Unbestritten ist sein Beitrag zur Demokratisierung, zur Entwicklung der deutschen Sprache und zum Zeitalter der Aufklärung durch die Stärkung der individuellen Eigenverantwortung und der Gewissensentscheidung. ({7}) Auf der anderen Seite, der unbequemen Schattenseite, gilt Martin Luther als populärer Vertreter des Antijudaismus. Einige Auszüge aus seinen Briefen und Predigten sind gerade durch die Brille der jüngeren deutschen Vergangenheit schwer verdaulich. Diese Aspekte dürfen im Glanz der Lutherdekade nicht untergehen. ({8}) Im Gegenteil: Die Lutherdekade kann ein Forum der kritischen Reflexion bieten, um über den Einfluss Luthers auf Vergangenheit und Gegenwart aus unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. In diesem Kontext sollten auch Moses Mendelssohn - der jüdische Luther, wie Daniel Barenboim ihn einmal bezeichnet hat - und Mendelssohns wenig beachteten Bibelübersetzungen eine Rolle spielen. Im vorliegenden Antrag sind die Rahmenbedingungen für das Jubiläum festgelegt. Als nächster Schritt muss die inhaltliche Ausrichtung, die Identifikation mit der Lutherdekade in der Bevölkerung gestärkt werden. Jetzt müssen die inhaltlichen Weichen für eine bunte Lutherdekade gestellt werden, mit Events, Diskussionsrunden und Foren, die alle gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen zum Mitreden, Mitdenken und Mitgestalten einladen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen für die Unionsfraktion. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach Martin Luther müsste ich in dieser 45-Minuten-Debatte schweigen. Er hat einmal seinen Glaubensbrüdern zugerufen: Ihr könnt predigen, was ihr wollt, aber nicht über 30 Minuten. ({0}) Ich schweige nicht. Ich möchte mich dem Lutherjubiläum in meinem Beitrag mit einer Aussage des Papstes, die er im Deutschen Bundestag getroffen hat, nähern: Die Kultur Europas - so hat es der Papst gesagt ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom - aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Unser Denken, unser Handeln und unsere Wertvorstellungen sind ganz wesentlich durch die christlich-jüdischen Religionen geprägt. Auch unserem neuen Eu15726 Wolfgang Börnsen ({1}) ropa haben sie mit die Seele gegeben. Eine europäische Kulturidentität ist ohne das Christentum nicht vorstellbar. ({2}) Dass unser Kontinent unabhängig davon eine bunte multikonfessionelle wie religiöse Landschaft bietet, empfinde ich als eine Bereicherung. Tatsache bleibt jedoch: Die Entchristlichung unseres Abendlandes hält an. Die Risse in Europas Fundament vergrößern sich. Eine Revitalisierung der geistig-moralischen Grundlagen unseres Kontinents ist nicht nur Kirchenverantwortung. Sie ist unser aller Verantwortung. ({3}) Auch deshalb befassen wir uns mit der Lutherdekade, mit dem Beitrag der Lutheraner zur kulturellen und europäischen Identität. Luthers Freiheitsverständnis nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein. Er sagte: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. ({4}) Zugleich sagte er: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Dieses Doppelgesicht von Freiheit und Gleichheit vor Gott und dem Gesetz hat unser Bürger-, unser Staatsund unser Demokratieverständnis in den folgenden Jahrhunderten ganz maßgeblich beeinflusst. Die Bill of Rights in England, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und die Aufklärung wären ohne Luther nicht denkbar. Besonders in Skandinavien, wo der Wegbegleiter des Reformators Johannes Bugenhagen gewirkt hat und wo sich bis heute fast 90 Prozent der Bevölkerung zum Protestantismus bekennen, lassen sich die Spuren dieser Glaubensausrichtung verfolgen. Dass Dänemark als erstes Land die Sklaverei abschaffte, hat mit dem damals neuen Freiheits- und Gleichheitsverständnis des Reformators zu tun. Die vorbildlichen Staatsgedanken der Schweden im Hinblick auf die soziale Ausrichtung der Politik sind ebenso darauf zurückzuführen wie der norwegische Widerstand gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges. Mut, Rechtfertigung und Kraft schöpften die Frauen und Männer damals aus den Lehren Luthers. Heute sind diese Länder ein unverzichtbarer Eckpfeiler Europas. Sie haben standgehalten - auch gegenüber Faschismus und Kommunismus, diesen menschenverachtenden Selbsterlösungsideologien. Diese Länder gehörten mit zu den ersten auf unserem Kontinent, die den Grundsatz der Glaubensfreiheit praktizierten, wie ihn das Luthertum forderte. In der ständisch hierarchisierten Welt Anfang des 16. Jahrhunderts trugen Forderungen nach Religionsfreiheit und demokratischen Gemeindestrukturen oder auch der Wahrung der Gleichheitsgrundsätze revolutionäre Züge. Heute sind sie in der Europäischen Union Allgemeingut. Gott sei Dank! Das muss so bleiben. Für die Mehrheit der Menschen auf unserer Welt gelten sie jedoch noch nicht. Deshalb ist es für die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion ein besonderes Anliegen, mit der Lutherdekade auch auf diese Defizite aufmerksam zu machen und weltweit Bürger- und Menschenrechte einzufordern. Geben wir als Parlament den 25 Millionen Protestanten in unserem Land - Frau Jochimsen, unseren Glaubensbrüdern - eine Stimme, ohne Spott. Stärken wir die 61 Millionen Protestanten in Europa und die über 400 Millionen in der Welt. Als Ausgangs- und Kernland des Protestantismus haben wir in Deutschland hier eine ganz besondere Verantwortung. ({5}) Das Lutherjubiläum wird sicher einen Beitrag zur Stärkung der europäischen Solidarität leisten können, und gerade in diesen Tagen ist Solidarität in Europa besonders gefordert. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Iris Gleicke. ({0})

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reformation war nicht nur ein wichtiges kirchliches, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis. Sie bedeutete Abschied vom Mittelalter, Stärkung der Aufklärung, Bildung für das Volk und Ausbildung einer deutschen Sprache und Kultur, und, ja, bis zur wirklichen Demokratie, bis zu wirklicher Freiheit und bis zu Toleranz war es dennoch noch ein weiter Weg. Trotzdem: Die Hammerschläge, mit denen Martin Luther im Jahr 1517 seine 95 Thesen an das Tor der Wittenberger Schlosskirche nagelte, erschütterten die Welt in ihren Grundfesten. Viele verbinden das Wort „Reformation“ mit unserem heutigen Reformbegriff, mit Umgestaltung und mit der Verbesserung des Bestehenden, mit der Art von Reformen, die wir im Parlament immer wieder in Gang setzen und die leider viel zu oft dazu führen, dass sich die Bürger entsetzt und genervt abwenden. Reformation bedeutet aber eigentlich Wiederherstellung und Erneuerung. Luther wollte die von ihm festgestellten Fehlentwicklungen des Christentums beseitigen und überwinden. Er wollte die Kirche eigentlich nicht spalten. Auch wir reden heute viel von Wiederherstellung und Erneuerung, zum Beispiel von einer Erneuerung und Wiederherstellung der sozialen Marktwirtschaft, die angesichts des wahnwitzigen Treibens an den Finanzmärkten aus den Fugen zu geraten droht. Manch einer findet, ein Reformator vom Range eines Martin Luther stünde uns auch heute noch ganz gut zu Gesicht. 2017 werden Martin Luther, sein Werk und seine Wirkungsstätten im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Ich finde, sie sollten Kristallisationspunkte für eine breite gesellschaftliche Debatte sein. Das sollten wir uns alle als Angehörige unterschiedlicher Religionen und Konfessionen gemeinsam wünschen. Das gilt auch für unsere Laizisten. ({0}) Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, hat erklärt, dass es einer kritischen und öffentlichen Debatte der gesamten Zivilgesellschaft bedarf. Er hat die evangelische Kirche aufgefordert, ihre Tore dafür sehr weit zu öffnen. Das ist ein gutgemeinter Hinweis. Ja, wir müssen gemeinsam darauf achten und darauf drängen, dass sich die gesamte Zivilgesellschaft an den geplanten Projekten beteiligt und es eine bunte Dekade wird. Aber mir erscheint auch in Erinnerung an den Besuch des Papstes hier im Deutschen Bundestag der Hinweis äußerst wichtig, dass sich die beiden großen Kirchen in ihrer bewussten Distanz zum Staat doch längst als Teil dieser Zivilgesellschaft begreifen. Insofern stehen die Tore längst sperrangelweit offen. Das ist ein gewaltiger Fortschritt, der neue Perspektiven hinsichtlich des Umgangs mit unserer gemeinsamen Geschichte und unseres Miteinanders eröffnet. Darauf dürfen wir gemeinsam stolz sein. ({1}) Ich bin in diesem Sinne dem Kulturstaatsminister dankbar, dass er bei dem Projekt „DenkWege zu Luther“ darauf gedrängt hat, dass Schülerinnen und Schüler aus Sachsen-Anhalt und Thüringen gemeinsam miteinander arbeiten. Als Ostdeutsche - das sei mir gestattet - wünsche ich mir natürlich eine Westerweiterung, weil ich glaube, dass dieses Projekt dabei noch spannender und fruchtbarer werden könnte. Ich denke, das werden wir alle in diesem Hause einmütig unterstützen. Es wäre doch wirklich gut, wenn sich junge Leute nicht nur aus den Kernländern der Reformation mit so spannenden Fragen beschäftigen würden, was ein so klassischer und theologischer Begriff wie „Gnade“ heute bedeutet. 500 Jahre nach Luthers Thesen ist unsere moderne Gesellschaft vielfach gnadenlos auf Leistung und Makellosigkeit ausgerichtet. Ein anderes Beispiel ist der kritische Umgang mit dem damaligen Ablasshandel. Wie weit sind wir davon heute in einer Gesellschaft entfernt, in der buchstäblich alles und damit auch das gute Gewissen käuflich zu sein scheint? Der unvergessene Johannes Rau hat einmal die Sorge geäußert, dass eine junge Generation heranwächst, die von allem den Preis und von nichts den Wert kennt. Meine Damen und Herren, „Am Anfang war das Wort“, so steht es in der Bibel, und so heißt ein Projekt, das die Thüringer Wartburg-Stiftung und die Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt ins Werk gesetzt haben. Dabei geht es um die Auswirkungen der Reformation auf die deutsche Sprache. Es geht darum, auch diejenigen auf unsere kulturellen Wurzeln aufmerksam zu machen, die mit Religionen nichts am Hut haben. Auch das ist ein wichtiges, gutes und sinnvolles Projekt. Hier sehe ich, liebe Frau Pieper, auch das Auswärtige Amt mit den Goethe-Instituten in der Verantwortung und in der Pflicht; denn die Reformation als Weltereignis wäre auch in Ihrem Ressort eine klassische Aufgabe. ({2}) Meine Damen und Herren, die Reformation gehört nicht der Kirche und nicht dem Staat. Sie gehört uns allen, so wie die Aufklärung und das Grundgesetz. Sie ist ein Menschheitserbe. Für das Jubiläum der Reformation müssen sich alle gesellschaftspolitischen Kräfte engagieren, und zwar nicht nur als Geldgeber und Gönner, als Stifter und Sponsoren. All das ist hochwillkommen; aber es muss einer übergreifenden Debatte dienen und diese unterstützen. Ersetzen kann es diese Debatte auf keinen Fall; sonst würde daraus ein neuerlicher Ablasshandel werden. Verantwortung muss man wahrnehmen. Man kann sich davon nicht freikaufen. Aber das, liebe Freunde, ist zweifellos ein weites Feld. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick Kurth das Wort. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident! Frau Jochimsen, ich habe nun besser verstanden, warum Herr Ramelow in dieser Woche so stark an einen Austritt aus der Linken dachte. 500 Jahre Thesenanschlag, 500 Jahre seit Beginn der Reformation und, leicht übertrieben, 500 Jahre evangelisches Christentum. Nicht übertrieben: Das Reformationsjubiläum ist kirchlich, kulturgeschichtlich und gesellschaftlich ein Ereignis von Weltrang. ({0}) Die Reformation war eine der ganz, ganz wichtigen Säulen für die Aufklärung. Sie ist ein Stück weit Voraussetzung für die Entwicklung hin zum mündigen Menschen im aufgeklärten Staat gewesen. Dem Menschen obliegt die Verantwortung für sich selbst. Sein Schicksal, seine Erfolge, seine Niederlagen - ja, dafür hat er eine Patrick Kurth ({1}) eigene Verantwortung. Und er übergibt diese persönliche Haftung nicht komplett an übergeordnete Institutionen oder Mächte. Diese Entwicklung stieß die Reformation an - nicht nur in der Kirche und schon gar nicht nur für die evangelische Kirche; denn der Impuls, den die Reformation gab, war ein Impuls für die Bildung der Menschen und insbesondere für das Verständnis von persönlicher Verantwortung für das eigene Handeln. Das sind heute, Jahrhunderte später, noch immer die Grundsätze, auf denen unser Gemeinwesen beruht. Einige wissen, wie schwer es ist, sich täglich schweißtreibend dafür einzusetzen, dass persönliche Freiheit und eigene Verantwortung verteidigt werden müssen. ({2}) Auf die christlichen Traditionen dieses Landes können wir mit Blick auf die Reformation stolz sein. Denn wir hier in Deutschland haben den aufgeklärten Staat ein Stück weit vorangetrieben. Uns Deutschen steht es gut zu Gesicht, wenn wir auch die protestantische Tradition des Landes nicht verstecken. Deshalb wird diese Lutherdekade, die wir feiern und die 2017 zu ihrem Höhepunkt kommt, eben nicht nur von Protestanten durchgeführt und gefeiert: Breite gesellschaftliche, wirtschaftliche, bürgerschaftliche Kräfte, freie Kirchen, Kommunal- und Landespolitik sind mit an Bord. Die öffentliche Verwaltung - meistens nicht erwähnt - trägt einen großen Teil dazu bei; Gleiches gilt für Ehrenamtliche und - das ist besonders wichtig - zahlreiche Katholiken. Mittlerweile ist diese gute Zusammenarbeit zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen den beiden Konfessionen, auch in der Lutherdekade eher selbstverständlich als außergewöhnlich, und das ist auch gut so. Meine Damen und Herren, alle Beteiligten sind sich einig: Die Lutherdekade wird nicht ausschließlich auf theologische und akademische Aspekte eingehen. Die Kirche hat gerade in Mitteldeutschland die Möglichkeit, sich gesellschaftlich breit zu öffnen. Insofern schlagen wir mit unserem Antrag nicht nur ein paar Punkte vor, sondern fordern dazu auf, natürlich auch wirtschaftliche, touristische und gesellschaftliche Aspekte in die Lutherdekade einzubringen. Ich freue mich übrigens darüber, dass wir am 27. Oktober - Sie alle sind dazu eingeladen - noch einmal über die Lutherdekade sprechen werden, genau in einer Woche um diese Zeit drüben im Paul-Löbe-Haus. Da geht es darum, über die einzelnen Aspekte zu sprechen. In diesem Sinne bedanke ich mich bei allen Beteiligten, insbesondere bei denen, die die Verhandlungen für den Antrag geführt haben. Ich bedanke mich ganz herzlich bei den Haushältern dafür, dass sie so viel Geld in den Haushalt des Bundeskanzleramts, nämlich für den Staatsminister, einstellen. Ich bedanke mich ebenso herzlich dafür, dass es demnächst auch im Auswärtigen Amt viel, viel mehr sein wird. Ich bedanke mich beim Staatsminister im Auswärtigen Amt, der derzeit im Ausland weilt. Ich bedanke mich beim Wirtschaftsministerium und beim Verkehrsministerium, das eigenständig Mittel für die Lutherdekade zur Verfügung gestellt hat. Bei der Präsidentin bedanke ich mich für ihre Geduld und dafür, dass ich hier kurz überziehen durfte. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Michael Kretschmer spricht nun für die Unionsfraktion. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In großer Einigkeit wurde und wird heute über die Lutherdekade und das Reformationsjubiläum diskutiert. Dazu gibt es einen Antrag, der von der Mehrheit der Fraktionen in diesem Hohen Hause gemeinsam eingebracht wurde. Ich finde, das ist ein erfreulicher Umstand. Ich freue mich sehr darüber, weil es dem Anliegen und der Bedeutung dieses Anlasses sehr gerecht wird. ({0}) Die Reformation - das wurde bereits angesprochen ist nicht allein eine kirchliche Angelegenheit; sie hat vielmehr die gesamte Gesellschaft geprägt. Unser Wunsch sollte sein, dass Deutschland und Europa die große Chance nutzen, mit dem Reformationsjubiläum einen neuzeitlichen Diskurs über die Grundlagen unserer Kultur, das Verhältnis zu anderen Kulturen sowie unsere Werte und Traditionen zu führen. Der freiheitliche Staat lebt von Grundlagen, die er selbst nicht schaffen kann. Dazu gehören Werte wie die Achtung des anderen, Toleranz, Demokratie und Gewaltenteilung. Über all das lohnt es zu debattieren und sich dessen immer wieder zu vergewissern. All das hat mit Sicherheit mit einem bedeutenden Punkt begonnen: mit der Reformation. Denn die Reformation ist die Geburtsstunde eines christlichen Freiheitsbegriffs, der das Menschenbild beeinflusst, die Eigenverantwortung und die Gewissensentscheidung des Einzelnen wieder in den Vordergrund gerückt und letzten Endes Aufklärung und Demokratie befördert hat. ({1}) Die Übersetzung der Bibel hat eine gewaltige Bildungsexpansion ausgelöst. Sie hat die deutsche Sprache befördert und - das wurde mehrfach angesprochen dazu geführt, dass Schulen gegründet wurden und Bildung ermöglicht wurde. All das sind Gründe, warum sich der Staat für dieses Jubiläum engagieren soll, statt es alleine den Kirchen zu überlassen. Aus diesem Grund ist es richtig, dass wir den Unterhalt der Luthergedenkstätten seit geraumer Zeit mit 1 Million Euro jährlich fördern und dass wir mit unserem Staatsminister Bernd Neumann in der Bundesregierung jetzt einen Koordinator haben, der sich um das Reformationsjubiläum und die Lutherdekade kümmert. Bernd Neumann, der heute leider nicht anwesend sein kann, weil er im Ausland weilt, arbeitet unglaublich erfolgreich und engagiert an diesem Projekt. ({2}) Es ist im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass es gelungen ist, für den Zeitraum bis 2017 immerhin 35 Millionen Euro für das Reformationsjubiläum zu organisieren, um Projekte, Ausstellungen und die Sanierung der Luthergedenkstätten zu finanzieren. Ich halte das für eine großartige Sache. ({3}) Wir alle wollen an diesem Projekt weiter mitarbeiten. Ich halte es für richtig, dass wir über den Denkmalschutz und die Denkmalpflegemittel zusätzliche Möglichkeiten schaffen, die Orte der Reformation in einen ordentlichen Zustand zu bringen. Ich bin auch der Meinung, dass wir das Reformationsjubiläum nicht touristisch „verzwecken“ dürfen. Natürlich ist es eine Chance für den Tourismus, den man auch ergreifen sollte. Aber es wäre viel zu kurz gesprungen, die Reformation und das Jubiläum vor diesem Hintergrund zu diskutieren. Nein, meine Damen und Herren, es muss um Werte und Kultur gehen. Das muss das Ziel dieses Prozesses sein, in dem wir mittendrin sind. Es liegen noch einige spannende Jahre vor uns. Nutzen wir sie! Bringen wir uns alle aktiv in die Diskussion ein! Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 - Ein Ereignis von Weltrang“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7219, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6465 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzmarktwächter im Verbraucherinteresse einrichten - Drucksache 17/6503 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Sobald die notwendigen Umgruppierungen im Plenarsaal vorgenommen sind, werde ich die Aussprache eröffnen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir derzeit auf den Finanzmärkten erleben, zeigt nicht nur, dass die Märkte dysfunktional sind, sondern das ist auch ein Zeichen für Politikversagen, für regulatorische Fehler, für mangelnden Vollzug und für politische Mutlosigkeit gegenüber einer Branche, die Vertrauen in großem Stil verzockt hat. Das belegt ein Blick auf die Schlagzeilen in der Tagespresse in beängstigender Weise, und das betrifft die Stabilität des gesamten Finanzsystems. Aus der Sicht der einzelnen Anlegerinnen und Anleger und der einzelnen Kreditnehmer, wenn wir also von unten her schauen, ist die Situation kaum besser als zu Beginn der letzten Finanzmarktkrise, als wir hier die Folgen des Lehman-Crashs diskutiert haben. Die Finanzbranche ist nicht verbraucherfreundlicher geworden. Das liegt zum einen an regulatorischen Fehlern der schwarz-gelben Bundesregierung. Ich nenne das Anlageberatungsprotokoll, das Produktinformationsblatt oder jetzt zuletzt den Gesetzentwurf zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts, nach dem man die Gewerbeaufsichtsämter statt der BaFin mit der Regulierung betrauen will. ({0}) Das liegt zum anderen daran, dass gesetzliche Regelungen, die wir zum Schutz der Anleger haben, in weiten Teilen der Finanzbranche als freundliche Hinweise verstanden werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Offenlegung von Provisionen. Die Bankkunden haben den gesetzlichen Anspruch auf Informationen. Eine aktuelle Erhebung des vzbv kam zu folgendem Ergebnis: Zwei Drittel der Banken und Sparkassen antworteten überhaupt nicht, und 94 Prozent der Auskünfte des einen Drittels, das geantwortet hat, waren wertlos. Dazu kann ich nur sagen: Wenn es Gesetze gibt, dann muss man sich daran halten; es sind keine freundlichen Hinweise, die man beachten kann oder eben nicht. ({1}) Dieses Problem wurde nicht von der BaFin, der Aufsichtsbehörde, entdeckt und skandalisiert, sondern von einem privaten Akteur, dem vzbv. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Beispiele: absurd hohe Dispozinsen, versteckte Gebühren, Restschuldversicherungen usw. Dies beweist, dass auf den Finanzmärkten eine ganze Menge im Argen liegt. Deshalb schlagen wir Ihnen unser Konzept des Finanzmarktwächters vor. Was bedeutet dieses Konzept? Zunächst bedeutet es die Stärkung der Marktbeobachtung aus Verbrauchersicht. Wir brauchen eine verbraucherorientierte Marktbeobachtung, die nicht nur die Stabilität der Märkte und die Solvenz der Banken, sondern auch die Interessen der einzelnen Kundinnen und Kunden im Blick hat. Die Marktanalyse von unten ist notwendig. Das hat die Bundesregierung im letzten Herbst selbst zugegeben, als sie ankündigte, verdeckte Testkäufer der BaFin losschicken zu wollen. Das heißt, auch die Bundesregierung hat erkannt, dass wir Marktbeobachtung nicht nur aus Sicht der Großen, sondern auch aus Sicht der Kleinen, der Kundinnen und Kunden, brauchen. Wir haben mit den Verbraucherzentralen und dem vzbv gute Partner, die wir weiter stärken können; denn in den Verbraucherzentralen kommen die aktuellen Probleme der Kundinnen und Kunden, die sich dort beraten lassen, an. Was gehört noch zu unserem Konzept des Finanzmarktwächters? Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit den Aufsichtsbehörden. Wir haben die BaFin, aber die kann, so finde ich, manchmal einen kleinen Schubs gebrauchen. Deshalb benötigen die Verbraucherzentralen und die vzbv ein Anrufungs- und Initiativrecht gegenüber der BaFin. Wir fordern, dass die BaFin analog zum Verfahren bei der britischen Super Complaint spätestens nach 90 Tagen zu einem vom Finanzmarktwächter eingereichten Problem öffentlich Stellung nimmt. Das ist im europäischen Ausland nichts Ungewöhnliches. Es wird damit auch kein Privater mit der Regulierung betraut, sondern die Regulierungsbehörden werden lediglich von unten, aus Verbrauchersicht, angeschubst. Das ist keine schlechte Sache. ({2}) Was soll der Finanzmarktwächter noch leisten? Ich nenne hier die Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung. Wir haben auf europäischer Ebene einen umfangreichen Konsultationsprozess zu Instrumenten der kollektiven Rechtsdurchsetzung. Wir sind der Meinung, dass gerade auf dem Finanzmarkt bessere Möglichkeiten für Sammel- und Gruppenklagen notwendig sind, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem guten Recht kommen. Märkte funktionieren nur, wenn es einen effektiven Rechtsschutz gibt. ({3}) Deshalb fordern wir Sie auf: Schaffen Sie die rechtlichen Voraussetzungen für die Arbeit eines Finanzmarktwächters! Stellen Sie im Haushalt die notwendigen Mittel zur Verfügung! Prüfen Sie, ob auch die Branche zur Finanzierung herangezogen werden kann! Ich erinnere an die letzte Finanzmarktkrise, als das BMELV in Kooperation mit den Verbraucherzentralen ein Verbrauchertelefon geschaltet hat. Das hat, soweit ich weiß, wenige Hunderttausend Euro gekostet. Nicht einmal da war die Finanzbranche bereit, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Das ist, finde ich, ein Armutszeugnis. Hier könnte sich die Regierung Gedanken machen, wie man die Banken und die Finanzvermittler beteiligen könnte. Lassen Sie mich zum Schluss noch mit einigen Vorurteilen und bewussten Missverständnissen aufräumen, die der Begriff „Finanzmarktwächter“ in schwarz-gelben Ohren gelegentlich auslöst. Erstens. Es handelt sich nicht um eine Vermischung von privater Initiative und staatlichem Handeln. Zweitens. Es ist keine neue Behörde, soll keine neue Behörde werden; das ist nicht geplant. Drittens. Es ist nicht die Lösung aller Probleme, und es ist auch nicht der Ersatz für effektive Regulierungen. Aber es ist eine wirksame Unterstützung für die Verbraucherschützer in der Arbeit, die sie leisten. Es ist eine wirksame Möglichkeit, das eklatante Ungleichgewicht zwischen Anbietern und Anlegern zu mindern, und es ist eine Unterstützung für fairen Wettbewerb statt Abzocke, für ehrliche Beratung statt provisionsgetriebenem Verkauf und für eine Regulierung, die sich an den Bedürfnissen der Kundinnen und Kunden orientiert. Ich würde die schwarz-gelbe Regierung auffordern, ihre Samthandschuhe, die sie gegenüber der Finanzbranche immer noch trägt, auszuziehen, ({4}) endlich effektiv zu regulieren und den Finanzmarktwächter im Sinne der Kundinnen und Kunden einzuführen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Mechthild Heil hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzkrise hat unser Vertrauen in die Märkte erschüttert. Quer durch alle Bevölkerungsschichten wird Bankern und Finanzleuten heute nur mit Kopfschütteln begegnet. Der Glaube an funktionsfähige Finanzmärkte ist geschwunden. Das mag die Sozialisten und die Globalisierungsgegner freuen, die Auswirkungen sind aber für uns alle fatal. ({0}) Denn in unserer sozialen Marktwirtschaft sind integere, effiziente und transparente Kapitalmärkte die entscheidende Voraussetzung für ein gesundes Wachstum der Wirtschaft einerseits, aber auch für die Leistungsfähigkeit unserer Sozialsysteme andererseits, an die wir uns so wunderbar gewöhnt haben und auf deren Niveau wir wirklich nicht verzichten wollen. Ich denke, auch die Linken, die Sozialisten und die Globalisierungsgegner wollen das nicht. ({1}) Es gilt, Vertrauen in die Finanzmärkte zurückzugewinnen. Liebe Frau Maisch, an erster Stelle ist das eine Aufgabe der Finanzmärkte selber. ({2}) Sie haben das Vertrauen verspielt, und sie müssen sich „tummeln“, es wiederzugewinnen. Ich habe deswegen überhaupt kein Verständnis für diejenigen in der Branche, die glauben, so weitermachen zu können wie zuvor. Das ist ein Armutszeugnis für die Institutionen und für die Menschen, die sich selbst zur Elite unseres Landes zählen. Sie haben kluge Köpfe in ihren Reihen, sie gehören zu den Spitzenverdienern in unserem Land, und sie haben die Verantwortung. Es wird Zeit, dass die Finanzbranche diese Verantwortung auch trägt. ({3}) Sosehr ich mich über den Prozess hin zu mehr Verantwortung der Akteure auf dem Finanzsektor freuen werde, so sehr bin ich aber auch fest davon überzeugt, dass wir diesen Prozess nicht nur politisch begleiten müssen, sondern ihn auch befeuern müssen. ({4}) Deshalb hat die christlich-liberale Koalition seit 2009 mit einem ganzen Bündel von Gesetzen die Stellung der Kunden gegenüber der Finanzwirtschaft gestärkt. ({5}) Wir haben das verpflichtende Beratungsprotokoll eingeführt, wir haben kurze und verständliche Produktinformationen, sogenannte Beipackzettel, eingeführt. Sie können heute auf zwei bis drei Seiten das Wesentliche eines Finanzprodukts erkennen, seine Funktionsweise, die damit verbundenen Risiken, die Chancen und die Kosten. Außerdem haben wir neue Instrumente für eine effektivere Beaufsichtigung des Vertriebspersonals und der dahinterliegenden Strukturen bei Kreditinstituten geschaffen. Die Sanktionsregelungen bei Falschberatung haben wir massiv verschärft. Wir schaffen im Bereich des grauen Kapitalmarkts erstmals - das ist sensationell ein Anlegerschutzniveau, das mit dem im Bankensektor vergleichbar ist. ({6}) Der Sachkundenachweis unterstützt die Qualität der Berater. Die Registrierungspflicht zeigt deutlich, wer verantwortlich ist, und eine Berufshaftpflichtversicherung sorgt für mehr Kundenschutz. Weitere Gesetzentwürfe liegen auf dem Tisch, um noch bestehende Lücken zu schließen. Die Vergangenheit hat gezeigt: Nicht immer stand bei der Anlageberatung das Kundeninteresse im Vordergrund. Provisionen und Vertriebsvorgaben haben zur Falschberatung eingeladen. Aus diesem Grund wollen wir die Honorarberatung als Alternative zum Provisionsmodell etablieren. Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag die Stärkung des Verbraucherschutzes in der Finanzaufsicht. Wir fordern nicht, wir handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. ({7}) Sie sind zu spät dran. Wir sind längst da, wo Sie gerne hinwollen. Die Koalition setzt sich erfolgreich für eine Stärkung des Verbraucherschutzes in der Finanzaufsicht ein. ({8}) Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben: Kein Anbieter von Finanzprodukten soll sich der staatlichen Finanzaufsicht entziehen können. ({9}) Dieses Ziel verfolgen wir seit 2009 konsequent, ({10}) wie Sie anhand der Vorschläge und Gesetze, die ich eben aufgezählt habe, erkennen können. ({11}) Welches Ziel verfolgen Sie von den Grünen? Sie glauben, die Finanzwelt disziplinieren zu können - Frau Maisch, Sie müssten vielleicht einmal Ihren ganzen Antrag vorlesen -, zum Beispiel durch eine Pflicht zur Kennzeichnung von ökologischen und ethischen Komponenten eines Anlagepapiers, ({12}) durch viel mehr verdeckte Testkäufer und durch das Sammeln von Daten, ({13}) deren Aufbereitung und statistische Verarbeitung. Das sind wahrhaft gute Mittel, um die Finanzwelt zu disziplinieren. Die Grünen greifen mit ihrem nun zum zweiten Mal vorgelegten Antrag alte Forderungen der Verbraucherzentrale auf, die - verständlicherweise - immer auf der Suche nach neuen Aufgabenfeldern ist und als Finanzmarktwächter ihren Aktionsradius erweitern könnte. Bei allem Verständnis für den Wunsch der Verbraucherzentrale müssen wir als politisch Verantwortliche uns die Frage stellen, ob ein solches Vorgehen sinnvoll ist. Ich sage: nein. Die Verbraucherzentrale ist zwar in erheblichem Maße mit öffentlichen Geldern finanziert, bleibt aber dennoch eine unabhängige Privatorganisation. Deshalb ist der vzbv aus Sicht der Koalition nicht der primäre Ansprechpartner, wenn es um die hoheitliche Aufgabe geht, die Finanzmarktaufsicht wahrzunehmen. Das ist der BaFin, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, vorbehalten. Nicht, dass ich hier falsch verstanden werde: Eine Stärkung der individuellen Beratungstätigkeit der Verbraucherzentralen ist grundsätzlich wünschenswert und auch förderungswürdig, und sowohl ich persönlich als auch unsere Koalition unterstützen das. Das sieht man daran, dass wir allein im aktuellen Haushalt 10 Millionen Euro zusätzlich für die Deutsche Stiftung Verbraucherschutz zur Verfügung gestellt haben, um die Verbraucherzentralen noch unabhängiger und schlagkräftiger zu machen. ({14}) Die bürokratische Instanz eines Finanzmarktwächters, die Sie von den Grünen heute fordern, ist in Großbritannien längst wieder abgeschafft worden. Warum sollten wir sie dann hier einführen? Wir lernen lieber aus den Fehlern, auch wenn wir sie nicht selber gemacht haben. Wir wollen kein Verzetteln in unübersichtlichen Strukturen, die zudem noch mit anderen um Aufmerksamkeit und finanzielle Ressourcen konkurrieren. Wir unterstützen die vorhandenen Strukturen. Das sind neben der BaFin die Stiftung Warentest, die in ihrer Zeitschrift Finanztest ganze Marktsektoren von Finanzprodukten untersucht und auch Langzeitbeobachtungen vornimmt, und viele weitere Fachpublikationen, in denen Finanzprodukte bereits jetzt bewertet werden. Die Koalition hat die notwendigen Maßnahmen für eine Stärkung des Verbraucherschutzes im Finanzsektor längst erarbeitet und vieles erfolgreich auf den Weg gebracht. Wir entlassen die Akteure der Finanzwirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung, und wir stärken den Kunden im Kampf gegen Falschberatung und fehlende Information. Ihr Antrag ist schlicht überflüssig. Sie laufen hinterher. Wir haben längst gehandelt. Vielen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack das Wort. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Heil, ich möchte zunächst ganz deutlich sagen: Die CDU/CSU-Fraktion hat im Jahre des Herrn 2009 die Einführung eines Finanzmarktwächters beschlossen. Was Sie heute hier als Teufelswerk darstellen, haben wir damals im Frühjahr des Jahres 2009 in der Großen Koalition gemeinsam vereinbart. ({0}) Dieser Beschluss ist von Ihnen aber nicht umgesetzt worden. Man kann ja sagen, dass man zu neuen Erkenntnissen gekommen ist. Das müsste man dann erklären. Aber zu sagen, dass man dieses Instrument schon immer für nicht tragfähig gehalten hat, ist nicht nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass man noch vor zwei Jahren davon überzeugt war, dass es sich um ein ganz hilfreiches Instrument handelt, das man auch einführen will. Ich bitte deshalb ganz herzlich darum, sich die alten Beschlüsse noch einmal anzuschauen. Man kann sicherlich sagen, dass man das Ganze heute anders sieht. Das mag so sein. Man kann aber nicht sagen, dass man dieses Instrument schon immer für Teufelswerk gehalten hat. Wir haben uns damals in der Großen Koalition in einem sehr umfangreichen Antrag zum Verbraucher- und Anlegerschutz unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie wir es schaffen, dass die Verbraucherzentralen die Funktion eines Marktwächters übernehmen können. Damals war es unser gemeinsames Ziel, die Verbraucherzentrale diesbezüglich zu stärken. Was wollten wir? Wir wollten, dass die Verbraucherverbände die Beschwerden von Verbrauchern systematisch auswerten, unseriöse Vertriebswege aufdecken, auf Regulierungslücken hinweisen und unlautere Geschäftspraktiken durch Abmahnung oder auf dem Klageweg unterbinden können. Die kollektive Rechtsdurchsetzung, wie sie jetzt auf der europäischen Ebene diskutiert wird, ist deshalb außerordentlich zu begrüßen. Wir haben auch immer wieder gesagt, wie wir diesen Marktwächter finanzieren wollen. Wir wollen ihn über die Deutsche Stiftung Verbraucherschutz finanzieren, die dafür allerdings zusätzliches Kapital benötigt. Dieses Kapital soll sich zum einen aus den Bußgeldern aus Kartellverfahren speisen. Dieses Geld, das den Verbraucherinnen und Verbrauchern vorher durch unlauteren Wettbewerb sozusagen genommen wurde, kommt ihnen dann zugute, indem es in die verbraucherbezogene Arbeit fließt. Zum anderen sollen Mehreinnahmen aus der Veräußerung des Zweckvermögens der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank an die Stiftung fließen. Wie gesagt, das haben wir miteinander 2009 so vereinbart. Die derzeitigen Regelungen, die Sie angesprochen haben - das sind insbesondere die völlig unzureichende Protokollierung und die völlig unzureichenden Informationsblätter, für die Sie keine Standards festlegen wollen -, sind aus unserer Sicht nur bedingt wirksam. Die von Ihnen geplante Bankenabgabe ist ein Hohn; das wissen wir. Die Finanztransaktionsteuer findet schon in Ihren eigenen Reihen keine Zustimmung. ({1}) Es ist völlig verständlich, dass derzeit auch in Deutschland Verbraucherinnen und Verbraucher auf die Straße gehen. Sie sagen, dass dieser Sektor nicht vernünftig geregelt ist. Das ist aus meiner Sicht absolut nachvollziehbar. ({2}) Der Anlegerschutz, den Sie vorhin als hervorragend beschrieben haben, funktioniert aus unserer Sicht nicht. Sie schaffen es nämlich nicht - das ist aber eines der höchsten Ziele des Verbraucher- und Anlegerschutzes -, dass eine Einheitlichkeit der Aufsicht, sowohl der Aufsicht über die Finanzvermittler und -berater ({3}) als auch der Aufsicht über die Finanzprodukte, gewährleistet ist. Das stellen Sie nicht sicher. Die Verbraucherinnen und Verbraucher genießen keinen einheitlichen Schutz. Der hängt davon ab, welches Finanzprodukt sie kaufen und ob sie es bei einer Bank oder bei einem freien Vermittler erwerben. ({4}) Die Einheitlichkeit zu erreichen, haben Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung versprochen. Das setzen Sie aber nicht um. Das ist skandalös. ({5}) Die Honorarberatung - von der Sie vorhin gesagt haben, dass das eines Ihrer wesentlichen Ziele sei - ist uns bereits vor acht Monaten großspurig angekündigt worden. Das ist eine Ihrer vielen Ankündigungen, die zu keiner weiteren Umsetzung geführt haben als zu einem Eckpunktepapier, zu dem noch nicht einmal intern eine Abstimmung stattgefunden hat. Auch hier werden wir sicherlich noch Monate oder gar bis zum Ende der Legislaturperiode warten müssen, bis es zumindest einen vorzeigbaren Entwurf gibt, geschweige denn eine Einigung innerhalb der Koalition. ({6}) Die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, deren Vorlage wir in den nächsten Tagen erwarten, enthält keine Aussagen im Hinblick auf Finanzprodukte. Dabei - auch das möchte ich sagen - hat sich der Kollege Goldmann von der FDP im Jahre 2009 - damals noch in der Opposition - an das Redepult gestellt und gesagt, ganz wichtig sei es, im Rahmen der Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes die Ausweitung auf die Finanzprodukte zu installieren. Die Novelle zum VIG wird das jedoch nicht vorsehen. Man sieht also: Das, was man damals gefordert hat, ist in Regierungsverantwortung auf einmal nicht mehr umsetzbar. Auch hier scheint die Koalition nichts miteinander auf den Weg bringen zu können. Was bewirken Sie mit einer solchen Vorgehensweise? Sie zerstören nicht nur das Vertrauen in den Markt, sondern - das ist noch viel wichtiger für uns alle - Sie zerstören das Vertrauen in die Demokratie. Wenn wir es jetzt nicht geregelt bekommen, vernünftige Strukturen der Aufsicht zu installieren, dann tragen Sie die Verantwortung. ({7}) Wir wollen für die Verbraucherinnen und Verbraucher Zugänge zu einer freien und unabhängigen Finanzberatung schaffen. Dabei spielen die Verbraucherzentralen eine ganz wichtige Rolle. Diese brauchen - über die Frage nach einem Marktwächter hinaus - weitere eigene Mittel, um ihre Angebote in der Finanzberatung ausweiten zu können. Denn die Verbraucherzentralen sind für viele Verbraucherinnen und Verbraucher eine zentrale und wichtige Anlaufstelle im Bereich der unabhängigen Beratung. Zum Schluss möchte ich unsere Forderung nach der Intensivierung der Verbraucherbildung bekräftigen. Wir brauchen insbesondere im Finanzwesen nicht nur eine bessere Information, sondern auch Bildungsarbeit. Diese vermisse ich seitens der Bundesregierung. Auch hier waren wir im Jahr 2009 gemeinsam längst weiter; denn da hatten wir schon beschlossen, Konzepte zur ökonomischen Bildung von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu entwickeln. Nichts davon ist passiert. Das wäre ja auch zu schön gewesen! ({8}) Alles in allem geht der Antrag der Grünen in die richtige Richtung, weil er unseren Forderungen von 2009 und denen, die wir in den letzten Monaten immer wieder aufgestellt haben, sehr entgegenkommt. Ich gehe davon aus, dass wir hier mit dieser Koalition und dieser Bundesregierung nicht weiterkommen. Deshalb werden wir auf diese Maßnahmen noch lange warten können. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Erik Schweickert von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da soll noch einmal jemand sagen, man würde im Plenum nichts dazulernen. Frau Kollegin Tack, zu dem, was in der letzten Legislaturperiode geschehen ist, kann ich nicht aus dem Nähkästchen plaudern, weil ich nicht dabei war. Zum Thema VIG und Finanzaufsicht kann ich jedoch etwas sagen. Wir wollten die drei Bereiche - UIG, IFG und VIG zusammenlegen und in einem Informationsgesetz bün15734 deln, weil das die Materie vereinfacht. Aber Sie und ich sowie die anderen Verbraucherschützer in diesem Hause wissen, was das zur Folge gehabt hätte, nämlich dass die Federführung für ein solch wichtiges Gesetz sicherlich nicht beim BMF gelegen hätte. Aus diesem Grunde sind die Verbraucherorganisationen von dieser Forderung zurückgetreten. Wir wollten diese Bündelung vornehmen, haben dann aber festgestellt, dass die Wirkungen für die Verbraucher nicht effizient genug gewesen wären. Deswegen haben wir jetzt ein VIG vorgelegt, das Informationsrechte enthält; die gleichen Rechte sind im IFG und im UIG verankert. Es steht fest, dass die Finanzkrise viele Verbraucherinnen und Verbraucher eine Menge Geld gekostet hat. Viele Betroffene waren einfache Sparer, also keine großen Spekulanten, die einfach nur etwas mehr Rendite haben wollten und die jetzt wahrscheinlich ohne höhere Rendite mit ihrer normalen Rente dastehen. Wir sind uns vor diesem Hintergrund in dem Ziel einig, dass Anleger und Sparer, die nicht wissentlich spekulieren, zu schützen sind. Der Anleger darf nicht der Dumme sein. Dafür muss man etwas tun. Wenn ich mir den vorliegenden Antrag genau anschaue, dann stelle ich fest, dass die Kollegen der Grünen suggerieren, es sei nichts getan worden. Ich muss hier klar sagen: Als Sie regiert haben, wurden beispielsweise Hedgefonds in Deutschland zugelassen. Sie haben aber versäumt, einen verbesserten Anlegerschutz in Deutschland umzusetzen. ({0}) Was haben wir in den knapp zwei Jahren, in denen wir regieren, getan? Wir haben aktiv regulatorisch eingegriffen, zum Beispiel bei den Banken. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes, kurz Anlegerschutzgesetz genannt, haben wir Beratungsprotokolle und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht und somit den Schutz vor Falschberatung gestärkt. ({1}) Wir haben auch Sanktionsmöglichkeiten implementiert, sodass Falschberatung tatsächlich sanktioniert werden kann, und dafür gesorgt, dass das Vertriebspersonal bei Kreditinstituten beaufsichtigt wird. Kommen wir zu den freien Finanzvermittlern. Wir haben einen guten Gesetzentwurf zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts vorgelegt. Für den grauen Kapitalmarkt, ein großes Problem der jetzigen Finanzkrise, wird ein mit dem Bankensektor vergleichbares Anlegerschutzniveau geschaffen. Es geht uns dabei nicht um die Mittel, sondern um die Ergebnisse. Das Niveau muss stimmen; das Schutzniveau muss gleich sein. Wir haben die Beratungsqualität erhöht, indem wir verpflichtende Beratungsprotokolle auch für freie Finanzanlagenvermittler eingeführt haben. Außerdem werden diese gewerblichen Vermittler einer stärkeren Kontrolle der Aufsichtsbehörden unterworfen. Dies beinhaltet verpflichtende Haftpflichtversicherungen und Sanktionen bis hin zur Rücknahme der Zulassung für die gewerbliche Finanzanlagenvermittlertätigkeit. Hier ist also einiges getan worden. Auch bei den Produkten waren wir nicht untätig. Durch Re-Regulierung haben wir dafür gesorgt, dass hochspekulative Anlageformen nicht mehr ungehindert zirkulieren. Wir haben mit dem Anlegerschutzgesetz Haltepflichten bei geschlossenen Immobilienfonds eingeführt. Wir haben die damit verbundenen Risiken für die Stabilität und die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte eindeutig verringert. Wir gehen das Problem der zersplitterten Finanzaufsicht an. ({2}) Die Bundesregierung hat erkannt, dass es auf nationaler Ebene zu viele Probleme bei den Schnittstellen in der Bankenaufsicht zwischen Bundesbank und BaFin gibt. Die christlich-liberale Koalition ist aktiv und baut diese Schnittstellen ab. Das Ganze muss natürlich in die Landschaft passen. Wir wollen die BaFin nicht mit Aufgaben überfrachten, die sie nicht erfüllen kann. Die BaFin muss ihren Aufgaben nachkommen können. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Im Zuge der laufenden Reform der nationalen Finanzaufsicht wird auch der Verbraucherschutz einbezogen. Bisher ist das nicht der Fall. Die Aufgaben des Verbraucherschutzes sind weder in der BaFin noch woanders verankert. Wir wollen den Verbraucherschutz dort verankern, wo er am besten aufgehoben ist. ({3}) Wir tun deutlich mehr als Sie, Frau Tack. Die entscheidende Frage ist: Was können wir tun? Sie wollen halbstaatliche Finanzsheriffs, sogenannte Finanzmarktwächter. Ich sage Ihnen, was wir als FDP uns vorstellen. Wir könnten uns eine Stiftung „Finanzdienstleistungen“ vorstellen, die die Aufgabe hat, zum Beispiel Produkte und deren Risiken zu bewerten, und deutlich macht, inwieweit Produkte vergleichbar sind. Wir haben immer die Forderung nach Vergleichbarkeit der Produkte erhoben. Es muss das draufstehen, was drin ist. Ein Paradebeispiel ist das Altersvorsorgekonto der Postbank. ({4}) - Ich stimme Ihnen völlig zu, dass wir den Etikettenschwindel bei den Produkten beenden müssen. Dort, wo Altersvorsorgekonto draufsteht, muss auch ein Altersvorsorgekonto drin sein. Genau in diesem Bereich würde, unabhängig von einem schönen Marketingbegriff - ich weiß! -, das Konzept einer einheitlichen Risikoklasse ansetzen, die offenbart, wie spekulativ das Anlageprodukt ist. Wenn keine staatliche Institution, sondern zum Beispiel eine Stiftung die Klassifizierung vornimmt, umgehen wir die Haftungsproblematik und geben in diesem Bereich gute Empfehlungen. Mir ist schon klar, warum man möchte, dass der Staat die Bewertung vornimmt: Es kann dem Verbraucher dann vollkommen egal sein, wie sich der Wert eines Produktes im Laufe von zehn Jahren entwickelt, weil er klagen könnte und der Staat haften müsste; das wäre ein Problem. ({5}) So werden wir in der christlich-liberalen Koalition nicht vorgehen. ({6}) Wir haben bis zum jetzigen Zeitpunkt mehr regulatorische Maßnahmen ergriffen, als Sie jemals gedacht hätten. Man muss einfach sehen, dass die christlich-liberale Koalition für einen effizienten Verbraucherschutz auf dem Finanzmarkt steht. Sie aber haben während Ihrer Regierungszeit die Aufgaben als Wächter des Finanzmarktes und Hüter der Verbraucherinteressen anders, als Sie es dargestellt haben, nicht wahrgenommen, sondern haben hier in meinen Augen völlig versagt. Einen besseren Finanzmarktwächter als die christlich-liberale Koalition kann sich der Verbraucher überhaupt nicht vorstellen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Karin Binder von der Fraktion Die Linke. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nach wie vor hat der finanzielle Verbraucherschutz in Deutschland einen enormen Nachholbedarf. Ich möchte Ihnen die derzeitige Situation vor Augen führen: Bei der derzeit bestehenden Beratungsstruktur der Verbraucherzentralen würde es noch immer an die 30 Jahre dauern, bis jeder Haushalt wenigstens einmal eine unabhängige Finanzberatung erhalten könnte. Noch immer haben wir weit überhöhte Dispozinsen; die Stiftung Warentest hat es im September erneut bestätigt. Noch immer haben die Verbraucherverbände weder die finanziellen Mittel noch die rechtlichen Möglichkeiten, um auch nur annähernd so tätig zu werden, wie es nötig wäre. Dennoch leisten die Verbraucherzentralen hervorragende Arbeit. Aus ihren Beratungsgesprächen machen sie meist als Erste auf Missstände aufmerksam. Durch ihre Beobachtung liefern sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern und uns Politikerinnen und Politikern wertvolle Hinweise. In diesem September hat der Verbraucherzentrale Bundesverband offengelegt, dass viele Banken geltende Rechtsprechung ignorieren und eine ehrliche Auskunft über Provisionen verweigern. Leider können die Verbraucherschützer mangels entsprechender Kapazitäten keine kontinuierliche Marktbeobachtung durchführen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat nicht einmal ausreichende finanzielle Mittel, um die wertvollen Informationen und Daten, die er über Gespräche und Verbraucherbeschwerden erhält, auswerten zu können. Nach wie vor haben die Verbraucherzentralen weder ein Recht auf Sammelklage noch rechtliche Möglichkeiten, die Finanzaufsicht wirksam zum Handeln zu zwingen. Meine Damen und Herren, die Linke und die anderen Oppositionsfraktionen haben hier immer wieder Vorschläge gemacht und Verbesserungen gefordert; aber die Koalitionsfraktionen haben gemauert. Drei Jahre nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers sollte die Bundesregierung die Verbraucherinteressen am Finanzmarkt endlich ernst nehmen. Es ist an der Zeit, zu handeln. ({0}) Die Linke fordert deshalb, die Verbraucherzentralen zu stärken und sie zu Finanzwächtern auszubauen. Diese Finanzwächter müssen erstens den Finanzmarkt umfassend und verbraucherorientiert beobachten können. Zweitens müssen sie kollektiv klagen können. Drittens müssen sie an den Gremien der Finanzaufsicht beteiligt werden und ein wirksames Beschwerderecht erhalten. ({1}) Der Finanzwächter allein wird es aber nicht richten; wir brauchen auch einen Finanz-TÜV. Da halte ich die BaFin wirklich nicht für die richtige Adresse; ich glaube, sie ist dafür nicht aufgestellt. Dafür braucht es eine separate Einrichtung. Bisher gilt in Deutschland der Grundsatz: Alle Formen der Geldanlage, die nicht ausdrücklich verboten sind, sind erlaubt. Die Folge ist, dass immer neuer Finanzschrott ungehindert auf den Markt kommt. Frau Heil, ich muss wirklich sagen: Uns kümmert es sehr, wenn die Menschen ihr Erspartes verlieren, ({2}) wie das bei vergangenen Krisen schon passiert ist und wie es wahrscheinlich auch in den nächsten Monaten oder Jahren noch passieren kann. ({3}) Dagegen möchten wir präventiv vorgehen, und dafür brauchen wir die Einrichtung eines Finanz-TÜV. ({4}) Er muss als Zulassungsstelle alle Anlageformen prüfen, und zwar bevor sie auf den Markt kommen. Nur so können wir vorbeugen und den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher und auch der Wirtschaft gewährleisten. Die Linke hatte bereits 2010 ein umfassendes Konzept vorgelegt, um die Verbraucherinteressen auf dem Finanzmarkt zu stärken. In den diesjährigen Haushaltsverhandlungen fordern wir noch einmal finanzielle Mittel für den Verbraucherzentrale Bundesverband, damit er als Finanzwächter aktiv werden kann. Verbraucherschutz ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Die Bundesregierung muss dafür ausreichend und dauerhaft Mittel zur Verfügung stellen. Beginnen Sie damit in den derzeitigen Haushaltsverhandlungen. Dann haben wir die Chance auf eine rasche Umsetzung und Erfüllung der vor uns liegenden Aufgaben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/CSU. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Tack, lesen Sie doch einfach das Plenarprotokoll vom vorletzten Jahr zu dem Antrag der Grünen, der hier wieder vorgelegt wird. Wenn man bedenkt, wie die SPD zu diesem Thema Stellung genommen hat, dann wird sich einiges aufklären. ({0}) Lassen Sie mich vorab eine Bemerkung machen. Der Begriff „Finanzmarktwächter“ - egal wer den Begriff geprägt hat - gefällt mir nicht. Er ist beunruhigend. Die Grünen haben ihn von den Verbraucherzentralen übernommen, die die Initiative „Finanzmarktwächter“ ins Leben gerufen haben. ({1}) Vielleicht haben es die Verbraucherzentralen auch von den Grünen. Vielleicht sind beide zusammen auf die Idee gekommen, die ganze Geschichte auf den Weg zu bringen. ({2}) Man weiß es nicht. Es war sicherlich nicht böse gemeint, aber „Finanzmarktwächter“, das hört sich nach Kontrolle und Überwachung an. Ganz ehrlich: Mir macht die Vorstellung, dass Menschen durch die Gegend laufen und überwachen, ob ich mich richtig oder falsch verhalte, Angst. ({3}) Ein zweiter Punkt. Der Antrag der Grünen läuft nach dem üblichen Muster ab - alle Anträge haben das gleiche Muster -: Erstens. Die Welt ist fürchterlich schlecht. Zweitens. Die Regierung tut nichts dagegen. Drittens. Wir haben die Lösung, und die Lösung heißt Bürokratie, Regeln, Kontrolle und Bevormundung. ({4}) Man könnte an dieser Stelle eigentlich Schluss machen, aber es lohnt sich, auf den einen oder anderen Aspekt einzugehen. Wir haben in Deutschland seit 111 Jahren das beste Verbraucherschutzgesetz der Welt, nämlich das Bürgerliche Gesetzbuch. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat dazu beigetragen, dass sich in Deutschland Verbraucher und Anbieter seit 111 Jahren in der überwiegenden Zahl der Fälle ganz hervorragend vertragen. Das kommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht durch. ({5}) Sie zeichnen ein Bild, als ob der Finanzsektor ein komplett rechtsfreier Raum wäre. Wissen Sie, was Sie damit machen? Sie unterstellen damit den Verbrauchern, dass sie schwach, unmündig und uninformiert sind, ({6}) und Sie unterstellen den Anbietern, dass sie stark sind und ihre Stärke nur dazu benutzen, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu übervorteilen. ({7}) Damit diskreditieren Sie nicht nur die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch Hunderttausende von Menschen, die in der deutschen Finanzindustrie arbeiten, die morgens zur Arbeit gehen und einen anständigen Job machen. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({8}) Ich komme zu einem weiteren interessanten Aspekt. Sie stellen Ihren Antrag in den Kontext der Finanzkrise. Das scheint auf den ersten Blick plausibel, ist aber schlichtweg falsch. Die Finanzkrise 2008 war eine Bankensystemkrise und keine Verbraucherschutzkrise - bis auf wenige Ausläufer bei Lehman, aber das war wirklich sehr wenig. ({9}) Die Finanzkrise 2010 ist eine Staatsverschuldungskrise und keine Bankenkrise, wie so mancher SPD-Parteivorsitzender momentan versucht zu suggerieren, und sie ist erst recht keine Verbraucherschutzkrise. ({10}) Nichtsdestotrotz muss man konstatieren - das schreiben Sie in Ihrem Antrag ganz richtig -, dass es Verbraucherinnen und Verbraucher gibt - zu viele Verbraucherinnen und Verbraucher, da haben Sie absolut recht -, die mit den Produkten, die sie erworben haben, nicht klargekommen sind und Enttäuschungen erlebt haben. Man könnte nun sagen: Das ist Marktwirtschaft. Menschen treffen Entscheidungen. Menschen treffen auch falsche Entscheidungen und müssen dann die Konsequenzen tragen. Aber das ist an dieser Stelle zu kurz gegriffen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brinkhaus, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Das ist an dieser Stelle zu kurz gegriffen, weil es schon ein Unterschied ist, ob man ein Stück Kuchen vom Konditor oder ein Produkt für eine Altersversorgung erwirbt. Das ist deswegen ein Unterschied, weil sich ganze Lebensentwürfe durch eine FehlentscheiRalph Brinkhaus dung, zum Beispiel bei einer Altersversorgung, erledigt haben und weil es Menschen gibt, die eine falsche Finanzanlageentscheidung getroffen haben und die deshalb ihren Lebensabend nicht mehr in Ruhe verbringen können, sich nicht mehr selber versorgen können und dann von der Gesellschaft getragen werden müssen. Das ist nicht tolerabel. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir an Finanzprodukte andere Maßstäbe ansetzen als an Kuchen oder Brötchen. Das tun wir auch. Das hat die CDU/CSU immer gemacht. ({0}) Sie haben recht: Wir haben uns noch im Rahmen der Großen Koalition zusammen mit der SPD mit Schuldverschreibungen beschäftigt. Wir haben das Beratungsprotokoll eingeführt, und wir haben die Verbraucherrechte an dieser Stelle gestärkt. Wir haben in der christlich-liberalen Koalition das Anlegerschutzgesetz auf den Weg gebracht, die Beratungsqualität gestärkt, Produktinformationsblätter eingeführt und Produkte verbessert, die problematisch waren, zum Beispiel offene Immobilienfonds. Wir haben beispielsweise OGAW IV, das europäische Richtlinienwerk, umgesetzt und in diesem Zusammenhang sogar mehr umgesetzt, als wir mussten. Wir haben die Verbraucherrechte im Bereich der offenen Fonds gestärkt. Diese Woche haben wir im Ausschuss das Finanzanlagevermittlergesetz auf den Weg gebracht und Bereiche angepackt, die bisher überhaupt nicht reguliert waren, ({1}) nämlich einen Vertriebsbereich, der nicht reguliert war, und einen Produktbereich, der wenig reguliert war. Das muss man doch einmal anerkennen. ({2}) Die christlich-liberale Koalition hat ihr Versprechen gehalten. Wir haben gesagt: Wir machen uns auf den Weg. Wir werden nicht dulden, dass es Produkte oder Vertriebswege gibt, die nicht reguliert werden. Das haben wir umgesetzt. ({3}) Wir haben noch etwas gemacht: Wir haben gesagt, dass wir eine Stiftung für Finanzprodukte errichten wollen. Auch das steht im Koalitionsvertrag. Damit sind wir beim Antrag der Grünen. Die Grünen wollen etwas Ähnliches, aber sie wollen die Verbraucherzentralen damit beauftragen. Lassen Sie uns einmal über die Verbraucherzentralen reden. Verbraucherzentralen informieren und beraten, sie helfen auch bei der Rechtsdurchsetzung; das ist gut und wichtig. Aber Verbraucherzentralen sind eines nicht: Sie sind nicht unabhängig. Verbraucherzentralen ergreifen Partei, und das müssen sie auch. Sie müssen für die Verbraucher Partei ergreifen. Das ist deren Job. ({4}) Aber sie sind nicht in der Lage, den Markt zu beobachten; das ist kein fairer Ausgleich zwischen Anbieter und Verbraucher. Dementsprechend sind Verbraucherzentralen nicht unabhängig. Das dürfen sie nicht sein. Die Überhöhung der Verbraucherzentralen, die Sie in Ihrem Antrag vornehmen, ist nicht richtig; sie ist falsch. ({5}) Aber kommen wir nun zu den konkreten Inhalten. Verbraucherzentralen sollen den Markt beobachten und Verbraucheraufklärung betreiben. Das tun sie, im Übrigen mit der Initiative „Finanzmarktwächter“; wir hatten uns ja gerade die Frage gestellt, wer die Idee zuerst hatte, Sie oder die Verbraucherzentralen. Man kann sich jetzt darüber unterhalten, ob sie mehr Geld dafür brauchen oder nicht. Aber das ist eine haushaltstechnische Frage und keine grundsätzliche Verbraucherschutzfrage. Das kann man anpacken. Da sind wir an Ihrer Seite. Jetzt geht es aber weiter: Sie wollen mehr Elemente des kollektiven Verbraucherschutzes bei den Verbraucherzentralen ansiedeln. Ich sage Ihnen eines: Die Verbraucherzentralen verfügen bereits über Elemente des kollektiven Schutzes. Sie können entsprechend vorgehen. Noch mehr würde noch mehr Sammelklagen bedeuten. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mit Sammelklagen haben wir im Umweltbereich nicht immer nur gute Erfahrungen gemacht. Dementsprechend sind wir da sehr vorsichtig. ({6}) Es geht weiter: Sie wollen, dass die Verbraucherzentralen - das zieht sich durch alle Elemente Ihres Antrags nicht nur den Markt, sondern auch die Aufsicht beaufsichtigen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brinkhaus, jetzt würde Frau Maisch gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Keine Zwischenfragen, keine zusätzliche Redezeit. Jetzt kommen wir in eine sehr interessante Gemengelage: Verbraucherzentralen sollen die BaFin beaufsichtigen. Wo sind wir denn, dass wir Nichtregierungsorganisationen damit beauftragen, den Staat zu beaufsichtigen! Das ist doch eine ganz unheilvolle Entwicklung, die den Grünen an sehr vielen Stellen gefällt: Wir verlagern Verantwortung an runde Tische, an Nichtregierungsorganisationen und an sonstige Institutionen. Aber das geht nicht! ({0}) Die Verantwortung und die Rahmensetzung für funktionierende Märkte ist eine staatliche Aufgabe. Das wird von uns erledigt und nicht von den Verbraucherzentralen. Das wird es mit uns nicht geben. ({1}) Ein abschließender Punkt: Verbraucherschutz findet immer im Spannungsfeld zwischen Transparenz auf der einen Seite und Bürokratie auf der anderen Seite statt, zwischen Schutz auf der einen Seite und Bevormundung auf der anderen Seite. ({2}) Die Union steht für Transparenz und nicht für Bürokratie. Sie steht für Schutz und nicht für Bevormundung. Wenn ich mir aber Ihre Anträge anschaue, insbesondere die Anträge der Grünen, die krampfhaft versuchen, sich in diesem Bereich zu profilieren, dann muss ich sagen, dass darin von Bevormundung und Bürokratie ausgegangen wird und nicht für Schutz und Transparenz gesorgt wird. Deswegen lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. Abschließend komme ich noch einmal auf das Unwohlsein zu sprechen, das ich am Anfang meiner Rede angesprochen habe: Wir brauchen keinen Wächterstaat; denn wir haben einen Rechtsstaat, und das ist auch gut so. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun das Wort der Kollege Carsten Sieling von der SPDFraktion. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben hier ein wichtiges Thema auf der Tagesordnung, das ganz viele Menschen in unserem Land betrifft. Es sind nämlich Tausende Menschen von dem betroffen, was auf den unregulierten Finanzmärkten abgelaufen ist. Tausende Menschen haben infolge ihrer treuherzigen Anlageversuche persönlich einen finanziellen Schaden erlitten. ({0}) Viele wurden im Zusammenhang mit der Finanzkrise zu Geschädigten. Wir sprechen nicht nur über die sogenannten Lehman-Geschädigten in den USA, sondern auch über ganz viele Geschädigte, die ihr Geld bei deutschen Banken angelegt haben. Darüber muss man reden. Man muss handeln. Es reicht nicht, hier große, ideologische Reden zu halten. Es geht darum, den Leuten wirklich zu helfen. ({1}) Mein Vorredner hat eine ganz neue Art und Weise der Auseinandersetzung in diese Debatte eingebracht. Sie haben uns einen Schattenboxkampf vorgeführt. Das war nichts anderes als Schattenboxen. ({2}) In dieser Disziplin sind Sie der Champion. Diesen Titel lasse ich Ihnen aber gerne. In Ihrer Rede kam sehr deutlich der gesamte Frust zum Ausdruck, den die Koalition nach einem Tag wie dem heutigen in sich trägt, und nichts anderes. ({3}) Jetzt möchte ich aber erst einmal Ihre Aussagen zum Finanzmarktwächter geraderücken. ({4}) Sie haben das grundlegend missverstanden. Wenn Sie all unsere Anträge dazu lesen, werden Sie feststellen, dass wir die Gesellschaft stärken wollen. Wir wollen die Zivilgesellschaft stärken. Wir wollen mit der Einbindung der Verbraucherzentralen kein Kontrollorgan einführen. Sie sollen die Märkte beobachten und die Missstände melden. ({5}) Natürlich muss man staatliche Instrumente entwickeln. Lesen Sie die Anträge, die dazu vorliegen, wenigstens richtig, wenn Sie sie hier schon kritisieren und versuchen, sie auseinanderzunehmen. Warum Sie das in Wahrheit gemacht haben, haben Sie selbst gesagt: Mit dem Gesetzentwurf, den die Koalition zum Anlegerschutz auf den Weg gebracht hat, produzieren Sie nichts anderes als löchrigen Käse. Vor anderthalb Jahren wurde uns vom Bundesfinanzministerium ein Vorschlag zu einem wirklich einheitlichen Anlegerschutz vorgelegt. Mittlerweile wurde dieses Vorhaben zerlegt und durchlöchert. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagen- und Vermittlergesetzes, worüber wir in der nächsten Woche beraten sollen, ({6}) ist nichts anderes als eine zweite Regulation geplant. Das, was Sie machen, ist kein Anlegerschutz. ({7}) In Wirklichkeit betreiben Sie Lobbyschutz. Gerade für die gefährlichsten, nämlich die sogenannten grauen Finanzmärkte sehen Sie eine Sonderregelung vor. ({8}) Frau Kollegin, Sie haben hier gesagt, die BaFin müsste besser ausgestattet werden. Da gebe ich Ihnen sofort recht. Aber Ihre Antwort, 7 800 kleine Gewerbeämter und vielleicht auch ein größeres Gewerbeamt zu beauftragen, diese gefährlichen und unkontrollierbaren Märkte zu kontrollieren, ist eine Farce. Das ist eine Veräppelung der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({9}) Dieses Problem schreit geradezu nach Finanzmarktwächtern. Diese Regierung und diese Koalition brauchen nämlich Finanzmarktwächter angesichts des Unheils, das sie anrichten. Darum geht es hier im Kern. ({10}) Eine weitere Bemerkung will ich Ihnen nicht ersparen: ({11}) Wenn ich mir die vorläufige Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche anschaue, dann weiß ich, dass Sie sich für Ihre eigenen Taten schämen. ({12}) Wenn am Donnerstagabend, spät in der Nacht, über einen Gesetzentwurf diskutiert werden soll, weist das darauf hin, dass diese Koalition nicht stolz auf ihre Arbeit ist, sondern dass Lobbyarbeit verschleiert werden soll. Ich finde, es ist ein Skandal, dass laut der Tagesordnung für die nächste Woche der Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts spät in der Nacht debattiert werden soll. Sie wollen hier die Wahrheit verschleiern. So geht das nicht, meine Damen und Herren! Bringen Sie die Wahrheit ans Licht und hören Sie auf, Chaos zu verbreiten, indem Sie Steuersenkungen ankündigen - das ist unverantwortlich - und am gleichen Tag die so wichtige Regierungserklärung für morgen absagen. Sie verschleiern und schaffen keine Transparenz. Das ist eine unwürdige Regierung für Deutschland. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6503 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a bis d auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane RatjenDamerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ländliche Entwicklung und Ernährungssicherheit weltweit verbessern - Drucksache 17/7185 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen- Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Illegale Landnahme verhindern, Eigentums- freiheit schützen, Ernährungsgrundlage in Entwicklungsländern sichern - Drucksachen 17/5488, 17/5965 - Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Heiderich Dr. Christiane Ratjen-Damerau Thilo Hoppe c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine großflächige Landnahme und Spekula- tionen mit Land oder Agrarproduktion in den Ländern des Südens - Drucksachen 17/3541, 17/4820 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Dr. Bärbel Kofler Annette Groth d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur Grundlage deutscher, europäischer und internationaler Agrar- und Entwicklungspolitik machen - Drucksachen 17/3542, 17/4490 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Röring Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Christiane RatjenDamerau von der FDP-Fraktion. ({4})

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004204, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Die Bilder der hungernden Menschen in Somalia führen es uns erneut schmerzhaft vor Augen: Das Hungerproblem in dieser Welt ist akuter denn je, und das nicht nur am Horn von Afrika. Rund 925 Millionen Menschen auf der Erde leiden zurzeit an Hunger; das sind 75 Millionen mehr als im Vorjahr. Allein in Somalia sind 750 000 Menschen vom Hungertod bedroht. 60 000 Menschen sind dort bereits gestorben, davon waren die Hälfte Kinder. So lautet die Bilanz des gerade vorgestellten Welthungerberichts 2011 der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. Ursächlich für den Hunger in der Welt sind die Menschen selbst. Zwar verschärfen Naturkatastrophen wie Dürren und Überflutungen oftmals eine Hungersnot, doch vor allem menschliches Fehlverhalten wie Kriege, politische Konflikte, instabile und korrupte Regierungen, illegale Landnahme und die Missachtung von Menschenrechten sind hauptursächlich für den Hunger in der Welt. Hinzu kommt die Vernachlässigung des ländlichen Raums in den vergangenen Jahrzehnten durch die Politik. Dies trägt dazu bei, dass ehemalige Kornkammern in Afrika heute auf Lebensmittelhilfen aus dem Ausland angewiesen sind. Die vorliegenden Anträge der christlich-liberalen Koalition zur Ernährungssicherheit weltweit und zur Verhinderung der illegalen Landnahme sind ein bedeutender Schritt hin zur nachhaltigen Lösung des Welternährungsproblems. ({0}) In Afrika, Lateinamerika und Südostasien verkaufen Regierungen fruchtbares Land an Unternehmen oder Staaten. Dieses Land ist seit Jahrzehnten im Besitz von Gemeinschaften oder Familien. Ganze Dörfer werden vertrieben, ohne die Menschen zu entschädigen oder sie in irgendeiner Weise am Verkaufsprozess zu beteiligen. Vordergründig geschieht dies, weil keine formalen Besitzrechte existieren, hintergründig, weil sich die Regierungen kurzfristige Einnahmen sichern wollen. Juristisch können sich die Vertriebenen kaum dagegen wehren. Meist existiert in diesen Ländern keine rechtsstaatlich funktionierende Justiz. Fortan sind die Gemeinschaften und Familien heimatlos und ohne jegliche Ernährungsgrundlage. Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung auf, betroffene Länder bei der Umsetzung von Maßnahmen zur guten Regierungsführung und beim Abbau ihrer Defizite im Justiz- und Vergabesystem sowie im Katasterwesen zu unterstützen. Reicht das nicht aus, muss die Bundesrepublik Deutschland offiziell protestieren und das Recht auf Eigentum für diese Menschen einfordern. Genauso nehmen wir die Unternehmen in die Pflicht. Auch sie können ihren Beitrag leisten und ihre unternehmerische Pflicht erfüllen, um derartige Entwicklungen in den betroffenen Ländern zu verhindern. Selbst wenn in einem Land Rechtsstaatlichkeit vorherrscht, bedeutet dies nicht, dass sich ein Bauer sicher sein kann, seine Ernte lagern, verkaufen und von dem Erlös leben zu können. Schätzungen zufolge belaufen sich die Verluste nach der Ernte in den Entwicklungsländern auf Rund ein Drittel bis sogar die Hälfte der gesamten Ernte. Durch niedrige Preise auf dem Weltmarkt oder auf den heimischen Märkten können Bauern nicht von ihrer Arbeit leben. Dies ist zum Teil durch marktverzerrende Agrarsubventionen oder Zölle der Industrienationen hervorgerufen. Diesen Problemen stellen wir uns mit diesen Anträgen. Der ländliche Raum muss weiter unterstützt, die Infrastruktur und die Agrarforschung müssen massiv vorangetrieben werden. Wesentliche Forderungen sind daher: Die Industrienationen müssen den Weg zum freien Handel ohne jegliche Verzerrungen weitergehen und die Partnerländer gute Regierungsführung und verantwortungsvolle Landnutzungskonzepte verwirklichen. Auf nationaler und subnationaler Ebene müssen wir helfen, die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, wenn nötig, neu zu erarbeiten, Wertschöpfungsketten und Infrastrukturen auszubauen und in der Landwirtschaft eine ergebnisorientierte finanzielle Unterstützung zu leisten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004204, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sofort. - Dabei müssen insbesondere Frauen stärker gefördert und in die Entwicklung einbezogen werden. Auf lokaler Ebene müssen wir dazu beitragen, dass die Interessen der Landwirte stärker vertreten und Kooperationsmöglichkeiten geschaffen werden. Ich bitte Sie daher, unseren Anträgen zuzustimmen. Die Menschen in den Entwicklungsländern setzen auf unsere Solidarität. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ländliche Entwicklung ist ein wichtiges Thema. Deswegen hätte es uns gefreut, wenn der Minister persönlich anwesend wäre. Anscheinend ist ihm dieses Thema nicht so wichtig. Heute ist er nicht einmal hier. Letztes Mal, bei der Debatte zum 50-jährigen Bestehen des Ministeriums, hat er das Wort nicht ergriffen. Dies zeigt, dass er nicht mit dem Herzen bei der Entwicklungszusammenarbeit ist. So kann man Entwicklungszusammenarbeit nicht erfolgreich bestreiten. Wir diskutieren heute unter anderem über einen Antrag der Koalitionsfraktionen, in dem als Schwerpunkt die ländliche Entwicklung genannt wird. In der Begründung heißt es, dass die Investitionen im ländlichen Raum im letzten Jahrzehnt zu niedrig gewesen sind. Das ist ein Teil der Wahrheit. Aber zur Ehrlichkeit würde dazugehören, dass Union und FDP auch sagen würden, warum vor fünf oder zehn Jahren vonseiten der internationalen Geberländer, aber auch von den Regierungen in den Entwicklungsländern in der Tat wenig in die Landwirtschaft investiert wurde. Das lag daran, dass die Landwirte in den USA, aber auch in Europa - also auch deutsche Landwirte - übersubventioniert worden sind, und zwar gerade die großen, und dann Dumpingagrarexporte die Märkte in Afrika, Lateinamerika und Asien zerstört haben. ({0}) Es hätte keinen Sinn gemacht, wenn wir - nachdem die Hühnerzuchten schon überall kaputtgegangen sind und die Bauern in Afrika ihre Kühe irgendwann verkaufen mussten, weil sie ihre Milch nicht mehr losgeworden sind - noch mehr Geld für einen Wirtschaftszweig in die Hand genommen hätten, der durch die Dumpingagrarexporte der Industriestaaten kaputt gemacht wurde. ({1}) Auch dies gehört zur Wahrheit. Das hätten Sie auch in Ihrem Antrag benennen müssen. ({2}) Als wir mit den Grünen zusammen die Regierung gestellt haben - damals hatten wir mit Renate Künast eine engagierte Landwirtschaftsministerin -, haben wir im Rahmen der Welthandelsorganisation versucht, das zu ändern. Dabei sind wir immer wieder auf die Betonlobby der Bauernverbände gestoßen. Insbesondere von Frankreich und von der Union ist sie kräftig unterstützt worden. Landwirtschaftsministerin Aigner zum Beispiel hat erst vor kurzem wieder einmal Schweinefleischexportsubventionen gewährt. Zur Förderung der ländlichen Entwicklung gehört auch, dass wir gerechte Handelsbedingungen schaffen. Sie müssen endlich dafür sorgen, dass nicht nur der Bauer in Deutschland, sondern auch der Kleinbauer in Afrika Chancen bekommt. ({3}) Auch der zweite Teil dieser Koalition, die FDP, hat ihren Teil dazu beigetragen, dass die ländliche Entwicklung in den ärmsten Ländern brachlag. Sie hat mit der ständig wiederholten Forderung nach Liberalisierung und mit ihrem Credo „Märkte öffnen!“ auch dazu beigetragen, dass die Entwicklungsländer ihre Zölle abschaffen mussten, wodurch die Dumpingagrarexporte auf die Märkte kamen. Ich würde mir von Ihnen ein klares Bekenntnis wünschen, dass auch die ärmsten Länder Schutz brauchen. In dem Antrag, den wir zu Zeiten der Großen Koalition erarbeitet haben, lieber Kollege Ruck, haben wir das so formuliert. Jetzt haben Sie sich anscheinend nicht durchsetzen können und dieses Anliegen dem Motto der FDP geopfert: Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt. - Das ist schäbig. Wir brauchen Schutz für die Entwicklungsländer. ({4}) Wenn man sagt, man möchte mehr Geld für die ländliche Entwicklung ausgeben - das ist sinnvoll, weil sich in der Tat die Agrarpreise nach oben entwickeln, was zwar Nachteile hat, den Bauern aber auch Chancen bietet, ihre Agrarprodukte wieder zu verkaufen -, dann muss man natürlich auch sagen, woher dieses Geld kommen soll. Wenn Sie den Haushalt insgesamt nicht aufwachsen lassen wollen, ({5}) dann muss das Geld, das zusätzlich in die Landwirtschaft fließen soll, beispielsweise aus den Bereichen Bildung und Gesundheit genommen werden, aus Bereichen, die für die Entwicklungszusammenarbeit auch sehr wichtig sind. Deswegen ist es ja gerade so schäbig, dass dieser Entwicklungsminister, der heute durch Abwesenheit glänzt, im jetzigen Haushalt nur einen Miniaufwuchs von 1,8 Prozent vorgesehen hat, während wir hier im Haus einen entwicklungspolitischen Konsens haben, den 368 Abgeordnete unterschrieben haben, wonach wir jetzt eigentlich 18 Prozent bräuchten. Ich würde mir wünschen, dass dieses Projekt 18 von der FDP verwirklicht wird. Sie machen das aber entsprechend Ihrem Er15742 gebnis in Berlin, wo Sie bei 1,8 Prozent gelandet sind, und sehen im Entwicklungshaushalt deshalb nur noch einen Aufwuchs von 1,8 Prozent vor. Das ist schäbig, das ist wenig. So können wir natürlich weder den Menschen noch der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern wirklich helfen. ({6}) Ich kenne schon jetzt die Replik von einem der nächsten Redner, der fragen wird, wo das Geld für diese Steigerung im Haushalt herkommen soll. Es gibt natürlich eine Quelle, nämlich die Finanztransaktionsteuer, für die Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker seit über zehn Jahren auf den Straßen kämpfen. Gruppen wie Attac haben diese Tobin-Tax damals eingefordert, und auch viele kirchliche und zivilgesellschaftliche Gruppen - ich nenne nur einmal die Kampagne „Steuer gegen Armut“ - fordern sie seit Jahren. Jetzt ist diese Finanztransaktionsteuer greifbar nah, die Steuer, mit der wir dann auch unsere Verpflichtung erfüllen könnten, bis zum Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Dieser Entwicklungsminister müsste jetzt eigentlich mit wehenden Fahnen vorneweg gehen und sagen: Ich will, dass diese Steuer kommt, je schneller, desto besser, und natürlich will ich, dass das Geld dann auch für die Entwicklungszusammenarbeit genommen wird. - Es ist doch ein Witz, dass ausgerechnet dieser Entwicklungsminister derjenige in der jetzigen Regierung ist, der überall sagt, er sei gegen die Finanztransaktionsteuer. Er möchte diese Steuer nicht. Wo soll dann das Geld herkommen? Er fällt der Bewegung der Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker, der Entwicklungshelfer und der Zivilgesellschaft in den Rücken, anstatt diese zu stärken. Das ist eine Schande. ({7}) Es gibt ja auch einen Grund dafür, warum er das nicht möchte: Für ihn sind Regulierungen des Finanzmarktes natürlich Teufelswerk. Liberalisierung ist das Stichwort: freie Wirtschaft, freie Märkte, freie Finanzmärkte. Gerade bei der ländlichen Entwicklung sehen wir aber doch, welch verheerende Auswirkungen Agrarspekulationen, die Spekulationen mit Agrarrohstoffen, haben. Mittlerweile werden 80 Prozent der gehandelten Agrarrohstoffe nur noch spekulativ gehandelt und nicht mehr, um die Preise der Bauern zu schützen, sondern damit die Ackermänner und die Deutschen Banken dieser Welt einen Reibach machen können. Es kann doch angesichts der Diskussion über die Förderung der ländlichen Entwicklung nicht sein, dass der Entwicklungsminister und seine Partei nach wie vor sagen: Hände weg von jeder Regulierung des Finanzmarktes. Lasst die Deutsche Bank und die Finanzspekulanten machen, was sie wollen, lasst sie mit dem Hunger in dieser Welt spekulieren. - Das darf nicht wahr sein. Dem müssen wir hier in diesem Haus die rote Karte zeigen. ({8}) Deswegen brauchen wir auch ganz scharfe Regeln gegen Land Grabbing. Das gehört auch dazu. Immer mehr große Flächen von Land werden nämlich von Konzernen und anderen Ländern aufgekauft, um dann die Rohstoffe in andere Länder zu exportieren, anstatt sie der dort lebenden hungernden Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Deswegen sage ich an dieser Stelle: Ich unterstütze die soziale Bewegung, die sich gebildet hat und deren Akteure im Augenblick in Zelten vor der Europäischen Zentralbank kampieren und zum Teil auch hier in Berlin demonstrieren. An den Transparenten können Sie erkennen, dass diese Menschen eben auch der Hunger in dieser Welt bewegt und dass sie die Finanzmärkte regulieren wollen, damit die ärmsten Menschen der Welt nicht diese Nachteile haben. Weil auch die Deutsche Bank kräftig mit dem Hunger, mit dem Leid und mit Agrarrohstoffen spekuliert, hat diese Bewegung heute einen Aufruf gemacht und zu Herrn Ackermann gesagt: Machen Sie sich vom Acker, Mann. Ich sage: Herr Minister, machen Sie sich auch vom Acker. Das wäre besser für diese Republik. Danke. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht eine Vorbemerkung zu dem, was der Vorredner hier gerade geboten hat: Das war nichts, was zum Thema beigetragen hat. ({0}) Das war allenfalls - um seine eigenen Worte zu wählen eine schäbige Schlechtrederei über viele Themenfelder. ({1}) Um Ihren eigenen Begriff zu wählen: Das war allenfalls ein Witz. Wenn man Sie hätte ernst nehmen sollen, dann hätte ich erwartet, dass die SPD-Fraktion hier als Beitrag einen Antrag vorlegt, in dem wirklich etwas steht und in dem wirklich auch Themen abgearbeitet werden - aber nicht so einen albernen Rundumschlag, wie er eben hier geboten wurde. ({2}) Gerade ist uns der Welthunger-Index 2011 zugegangen, Sie haben ihn sicherlich gelesen. Dort steht, dass sich die Situation in diesem Bereich seit 20 Jahren nicht verbessert hat. Die Zahl der Betroffenen ist nicht, wie wir alle einmal versprochen haben, um die Hälfte zurückgegangen. Es sind immer noch, wie eben gesagt, rund 1 Milliarde Hungernde auf der Erde. Wenn wir das einmal übersetzen, heißt das, dass wir an diesem Anspruch, den Hunger in der Welt zu bekämpfen und zurückzuführen, gescheitert sind. Wo sind die Ursachen? Ich will ein paar Dinge erwähnen. Gut drei Jahrzehnte - das ist eben schon einmal angesprochen worden; Herr Raabe, hören Sie zu - haben sinkende Preise bei den Grundnahrungsmitteln mit gleichzeitiger Überschussproduktion falsche Signale für eine vermeintliche Sicherheit gegeben. In der Folge wurden die Mittel zur Finanzierung der Entwicklung des Agrarsektors, zum Beispiel im Bereich der ODA-Ausgaben, über Jahrzehnte gekürzt. Im Jahre 2000 sind wir bei diesem Investment auf das Niveau des Jahres 1973 zurückgefallen - 30 Jahre lang Rückgang in diesem Bereich der Förderung! Auch die Weltbank, die 1982 noch 30 Prozent ihrer Kredite in den Agrarsektor vergeben hatte, gab 2006 nur noch kümmerliche 7 Prozent. Die USAID hat gerade nur noch 1 Prozent ihres Budgets für Landwirtschaftsprogramme ausgegeben. Und - auch das gehört zur Wahrheit - Ihre Kollegin Wieczorek-Zeul, die elf Jahre lang als Entwicklungsministerin auf der Regierungsbank gesessen hat, hat diesen Bereich im bundesdeutschen Haushalt bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen. ({3}) Deswegen sind wir froh, dass der neue Minister hier wieder für einen Aufwuchs auf 700 Millionen Euro in diesem Jahr gesorgt hat. Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, wie wir hier wieder vorangekommen sind. ({4}) Wir müssen trotzdem zur Kenntnis nehmen, dass rund drei Viertel aller vom Hunger betroffenen Menschen ausgerechnet in ländlichen Regionen leben. Deshalb ist es an der Zeit, so meine ich, dass wir von der bisher defensiven Strategie des „Weniger Hunger für weniger Menschen“, die meist noch durch Nahrungsmittelhilfe von außen bedient worden ist, wegkommen und sagen: Wir brauchen eine neue offensive Ausrichtung. Diese muss heißen: Ernährung für alle aus eigener Kraft. Das muss das Ziel einer zukunftsorientierten Entwicklungspolitik sein. ({5}) Ich sage das gerade angesichts der Erkenntnis, dass bald 2 bis 3 Milliarden Menschen mehr auf der Erde leben werden, dass die FAO ausgerechnet hat, dass wir daher 70 Prozent mehr Agrarmittel produzieren müssen. Wir stehen vor einer Zeitenwende. Ich denke, das hat niemand besser als der Präsident des IFAD beschrieben, der neulich bei uns im Ausschuss war, Herr Nwanze. Er hat Folgendes gesagt: Wir müssen aus der kleinbäuerlichen Landwirtschaft der Entwicklungsländer ein profitables Geschäft machen. Kein Sektor hat mehr Chancen für Arbeitsplätze. Kein Sektor bringt mehr gesellschaftliche Stabilität. - Damit ist genau beschrieben, wohin die Reise gehen muss. ({6}) Es ist gut, dass die neue Bundesregierung bereits im Koalitionsvertrag die ländliche Entwicklung als Schlüsselsektor ausgewiesen hat. Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass das Ministerium mit einem neuen Strategiepapier „Entwicklung ländlicher Räume und ihr Beitrag zur Ernährungssicherung“ nachgezogen hat. Wir haben diese Anträge eingebracht, damit wir aus dem Parlament heraus dieses Vorhaben nicht nur unterstützen, sondern es weiter ausbauen und zu weiteren Ergebnissen in der Zukunft kommen. Ich gehe einmal davon aus, dass der Aufwuchs im Haushalt auch in den kommenden Jahren in diesen Bereichen weitergehen wird, weil es einfach notwendig ist. ({7}) Ziel unseres Einsatzes muss sein, dass wir Wertschöpfungsketten aus lokal erzeugten Nahrungsmitteln aufbauen, mit denen nicht nur die Eigenversorgung gesichert, sondern auch zusätzliches Einkommen und damit eine Beschäftigungsperspektive in den eben genannten ländlichen Räumen erreicht werden kann. Das ist in unseren Anträgen alles ausführlich beschrieben; das will ich hier nicht wiederholen. Weil es notwendig ist, dürfen wir uns nicht scheuen, uns mit privaten Organisationen und Unternehmen zusammenzutun. Dadurch erreichen wir Synergieeffekte. Es ist nicht so, wie häufig gesagt wird, dass wir damit eine Förderung der Privatwirtschaft vornehmen. Nein, es gibt einen doppelten Nutzen. Ich will ein Beispiel nennen. Das ist die sogenannte AGRA in Nairobi, „Alliance for a Green Revolution in Africa“. Da ist Kofi Annan Vorsitzender und verfolgt mit der Bill-Gates-Stiftung zusammen genau das, was ich eben beschrieben habe, nämlich einen neuen integrierten Ansatz für die Agrarförderung der Entwicklungspolitik. Ein zweites Beispiel aus dem Hause der GIZ hat mich sehr beeindruckt: die Afrikanische Cashew-Initiative, die ebenfalls mit der Bill-Gates-Stiftung zusammen seit zwei Jahren betrieben wird. Dort sind inzwischen 1 800 Bauern an einer Genossenschaft beteiligt. Zusammen mit einem deutschen Softwareunternehmen wurde hier eine Wert15744 schöpfungskette aufgebaut. Das Ergebnis sind Ertragsund Qualitätssteigerungen, gute Marktpreise und deutliche Verbesserungen der Lebenssituationen der betroffenen Bürger. ({8}) Da wollen wir hin, und so muss Entwicklungspolitik weitergehen. Deswegen - das sage ich auch an die Adresse des Vorredners und der SPD - müssen wir als Parlament natürlich dazu beitragen, dass die Neuausrichtungen, die zu spüren sind bei den G 8, beim Weltwirtschaftsforum, bei der FAO, bei den G 20, die gerade ein neues internationales Agrarforschungsprojekt anschieben, oder bei den vielen UN-Organisationen, nicht nur auf dem Papier stehen bleiben, sondern in die Praxis umgesetzt werden, und zwar möglichst zügig. Dazu müssen wir unseren Beitrag leisten und dürfen nicht über alle möglichen Themen aus anderen Bereichen herumalbern. Es soll natürlich auch nicht verschwiegen werden - das ist doch völlig klar -, dass diesen positiven Entwicklungen einige große Problemfelder entgegenstehen. So verzeichnen wir seit der Wirtschaftskrise 2007 heftige Preisausschläge bei Agrarprodukten. Die Gründe sind vielfältig, wie man in einer aktuellen Untersuchung des Committee for World Food Security der UN nachlesen kann. Auf der Nachfrageseite werden verschiedene Ursachen genannt: niedrige Welterntevorräte, hohe Produktverluste nach der Ernte - auch ein wichtiges Thema -, ein verändertes Nachfrageverhalten der Schwellenländer und die Getreidenutzung für Biosprit. Die US DA - um den letzten Punkt aufzunehmen -, also das amerikanische Ministerium selbst, hat dazu kürzlich veröffentlicht, dass in diesem Jahr, 2011, etwa 40 Prozent der amerikanischen Maisernte für die Produktion von Ethanol eingesetzt werden. Das hat natürlich Folgen für die Märkte. Das sehen wir doch auch. Darüber muss man hier reden. Allerdings sind nicht die steigenden Preise das Hauptproblem. Diese haben durchaus auch positive Effekte, weil sie Produktions- und Investitionsanreize setzen. Das Problem sind die starken unberechenbaren Preissprünge, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Daran tragen - das sagen verschiedene Studien unisono die Spekulanten zumindest eine Teilschuld. Deshalb ist für uns klar - das sage ich ganz deutlich -: Marktfremde Spekulanten haben im Lebensmittelbereich nichts zu suchen. Das müssen wir versuchen umzusetzen. ({9}) Die internationale Gemeinschaft ist weiter gefordert, Lösungen zu finden, die über das reine Monitoring - so etwa AMIS der G 20 - hinausgehen, und neue Konzepte und neue Möglichkeiten zu schaffen. Dass wir, wie ich eben gesagt habe, an einer Zeitenwende in Bezug auf Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Produkte stehen, hat natürlich längst andere Begehrlichkeiten ausgelöst. Landwirtschaftsflächen sind inzwischen eine globale Kapitalanlage geworden. Den Umfang beschreibt das CFS in einer weiteren Studie mit etwa 50 bis 80 Millionen Hektar. Auch das hat einen zweiseitigen Effekt: Einerseits - so sagen sie - sei höheres Investment dringend erforderlich, damit der Bedarf zukünftiger Generationen gedeckt werden kann. Andererseits seien große Landkäufe oder Pachtungen häufig mit negativen Folgen für die örtliche Bevölkerung verbunden. Davon war bereits die Rede. Deswegen müssen wir auch hier weiter aktiv werden. Darüber kann es kein Missverständnis geben. Das CFS verlangt deshalb, dass betroffene Regierungen einen jährlichen Bericht über Bedingungen und Ergebnisse der Landnahme vorlegen müssen, der dann gegebenenfalls nach Prüfung durch die FAO Voraussetzung für die weitere entwicklungspolitische Unterstützung des jeweiligen Landes sein sollte. Ich denke, dass mit diesem Vorschlag die Forderungen in unseren beiden Anträgen durchaus weiter ausgebaut werden können, zumal die Weltbank in ihrem aktuellen Bericht davon ausgeht, dass sich die Landnachfrage in Zukunft weiter verstärken wird. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusammen: Insgesamt müssen die Verbesserung der Produktion und der Lebensbedingungen vor Ort, der ökonomische Erfolg der ländlichen Bevölkerung und die Strukturverbesserung im ländlichen Raum die entscheidenden Kriterien für unsere Anstrengungen sein, ({10}) und zwar nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Kriterium kann und darf aus meiner Sicht nicht sein, was wir an finanziellen Mitteln ausgeben; Bewertungsmaßstab muss vielmehr sein, was die Empfänger an Lebenschancen gewinnen. Daran müssen wir uns messen. Das ist das entscheidende Ziel. Ich hoffe, dass Sie wenigstens unsere Initiative und unsere Anträge unterstützen, wenn Sie schon selbst keinen Antrag eingebracht haben. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Niema Movassat von der Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle drei Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger. Auch deshalb muss das Menschenrecht auf Nahrung Vorrang vor den Gewinninteressen von Investoren haben. Das muss der politische Grundsatz dieser Debatte sein. ({0}) Eines der Dinge, die dieses Menschenrecht am meisten verletzen, ist das neokoloniale Phänomen des Landraubs. Ich möchte Ihnen an einem Beispiel deutlich machen, was Landraub bedeutet. Im Dorf Meanchey in den Wäldern im Nordosten Kambodschas lebt das indigene Volk der Stean. Dieses betreibt dort seit Jahrhunderten Wanderfeldbau, sammelt Früchte und Pilze. Im Juli 2008 tauchten plötzlich Bulldozer auf, die den Wald zerstörten. Dies taten sie für eine ausländische Firma, die dort überall Gummibäume pflanzen ließ, angeblich um die Gegend zu entwickeln, um Arbeitsplätze zu schaffen und um Armut zu bekämpfen. Tatsächlich aber vertrieben sie die Menschen, die dort seit Generationen lebten. Sie nahmen ihnen die Lebensgrundlage. Landraub heißt Vertreibung, Verelendung und Hunger. Deswegen sagen wir heute, dass dies endlich gestoppt werden muss. ({1}) Das Beispiel der Stean steht für das Schicksal von Hunderttausenden Menschen auf der Welt. Laut der Entwicklungsorganisation Oxfam wurde seit 2001 weltweit eine Fläche aufgekauft oder gepachtet, die so groß ist wie Westeuropa. Auch deutsche Firmen sind daran beteiligt. Ich nenne drei Beispiele dafür aus Afrika, dem Kontinent, auf dem derzeit 300 Millionen Menschen hungern und wo drei Viertel aller Land-Grabbing-Fälle stattfinden. Erstes Beispiel: In Äthiopien baut die Münchener Firma Acazis AG Jatropha- und Castorpalmen zur Produktion von Biodiesel an, und zwar auf Land, von dem die äthiopische Regierung in sogenannten Umsiedlungsprogrammen derzeit im großen Stil Bauern vertreibt. Zweites Beispiel: Auf Madagaskar pflanzen die deutschen Firmen JatroGreen und JSL Biofuels Biokraftstoffpflanzen auf über 30 000 Hektar Land an. Zur Erinnerung: Madagaskar war das Land, in dem die Firma Daewoo Ende 2008 die Hälfte des fruchtbaren Landes auf 99 Jahre pachten wollte. Dadurch wurde der Stein in puncto Landraub erst richtig ins Rollen gebracht. Drittes Beispiel: Der DWS-Fonds der Deutschen Bank, 110 Millionen Euro schwer, hat 27 000 Hektar Land in Sambia, 25 000 Hektar im Kongo und 5 000 Hektar in Tansania aufgekauft, um damit zu spekulieren. Dies zeigt eine Studie der Menschenrechtsorganisation FIAN. Allein in Tansania sind derzeit 126 000 Menschen von Vertreibung durch Landraub bedroht. Dass auch deutsche Firmen dabei mitmachen, ist ein Skandal. ({2}) Sie von der Koalition müssten endlich dagegen aktiv werden. Doch statt Landraub zu verurteilen, sprechen Sie, die Bundesregierung, oft sogar beschönigend von Landinvestitionen, Jobs, Infrastrukturausbau und Technologietransfers. Alles Lüge! Das Institut für Entwicklungsstudien der Universität Sussex hat 100 Landdeals untersucht. In keinem einzigen der Fälle wurden die Zusagen eingehalten. Nehmen Sie das zur Kenntnis und erzählen Sie keine Märchen! ({3}) Die Wahrheit ist: Ackerland ist spätestens seit der Nahrungsmittelkrise 2008 zu einer hochprofitablen Anlage für Spekulanten, Banken und Unternehmen geworden. Auch westliche Staaten haben das zugelassen, nicht um ländliche Regionen in Afrika und Asien zu entwickeln, sondern damit die eigenen Unternehmen Profite machen können. Angesichts 1 Milliarde hungernder Menschen ist das zutiefst inhuman. ({4}) Hinzu kommt, dass die Bundesregierung Landraub sogar noch fördert. Sie setzen sich weiter dafür ein, dass die verantwortlichen Konzerne straffrei bleiben. Sie wälzen die Kontrolle und die Durchsetzung von Sicherheitsmechanismen auf die völlig überforderten Partnerländer oder korrupten Eliten ab. Das ist unverantwortlich. ({5}) Die Linke fordert, dass gegen deutsche Unternehmen, die das Menschenrecht auf Nahrung verletzen, direkt vorgegangen wird. Das ist der zentrale Punkt in unserem Antrag zum Landraub. Wenn Sie von der Koalition tatsächlich ein Interesse an der Hungerbekämpfung haben, dann stimmen Sie heute unserem Antrag zu. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es klarzustellen: Wir debattieren hier über drei verschiedene Anträge. Die Debatte war etwas verwirrend, weil hier zu verschiedenen Anträgen Stellung bezogen wurde. Wir haben einen Antrag der Linken zum Thema Land Grabbing. Wir stimmen diesem Antrag zu. ({0}) Er enthält Forderungen, die die Grünen allerdings schon vor einigen Monaten in sehr ähnlicher Form eingebracht hatten. Aber doppelt hält vielleicht besser. Dann liegt ein Antrag vor, in dem es darum geht, Erkenntnisse des Weltagrarberichts aufzunehmen. Auch das ist ein Anliegen der Grünen. Auch dem Antrag können wir nur zustimmen. Jetzt aber möchte ich zu dem Antrag der Koalition zum Thema Ländliche Entwicklung reden. Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass die Koalition diesem Thema große Aufmerksamkeit schenkt. Das BMZ hat ein neues Konzept dazu verabschiedet, an dem wir mitgearbeitet und zu dem wir Vorschläge eingereicht haben. Es ist von Minister Niebel eine neue HungerTaskforce eingerichtet worden, und jetzt wird dieser Antrag vorgelegt. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Koalition das Problem erkannt hat und angemessen darauf reagieren wird. Aber leider gibt es zwischen den Worten und den Taten doch noch eine Diskrepanz, die ich ansprechen möchte. Es fängt schon beim Geld an. Wir haben das gestern in den Haushaltsberatungen im Ausschuss erlebt. Alle unsere Anträge, die mehr Geld für die ländliche Entwicklung bedeutet hätten, wurden leider von der Koalitionsmehrheit abgelehnt. Aber es gibt auch inhaltliche Unterschiede bei den Zielen. Herr Heiderich, vieles von dem, was Sie gesagt haben, kann ich voll und ganz unterschreiben, aber bei den Methoden, die wir einsetzen wollen, gibt es Unterschiede. Sie loben in Ihrem Antrag die grüne Revolution der 70er-Jahre. Die hat mit den Grünen nichts zu tun, sie hat aber viel zu tun mit den sogenannten Errungenschaften der modernen industriellen Landwirtschaft. Aber sie hat eben nicht zu den gewünschten Erfolgen in Afrika geführt. Sie hat vielmehr dazu beigetragen, dass es große Umweltschäden gab, dass die Böden ausgelaugt wurden und dass es Pestizidund Insektizidprobleme gab. Sie hat gerade die Kleinbauern in die Schuldenfalle geführt. Eine Neuauflage dieser grünen Revolution kann nicht die Lösung sein. ({1}) Wenn wir die Kleinbauern unterstützen, dann können wir das nur mit angepassten Methoden tun, bei denen die Bodenfruchtbarkeit und der Gewässerschutz mit berücksichtigt werden. ({2}) Es muss eine Strategie sein, die nicht nur die Kleinbauern, aber vor allem die Kleinbauern unterstützt. Ihnen muss Zugang zu Wasser, Saatgut, Mikrofinanzsystemen und vor allem Land verschafft werden. ({3}) Im Antrag der Koalition kann man feststellen, dass der Zusammenhang von Landwirtschaft und Klimawandel vernachlässigt wird. Je nachdem wie Landwirtschaft betrieben wird, kann sie Teil der Lösung oder Teil des Problems sein. Industrielle Landwirtschaft trägt maßgeblich zu den Emissionen bei. Angepasste und umweltgerechte Landwirtschaft kann hingegen Teil der Lösung des Klimaproblems sein. Sie haben die Governance-Strukturen in dem Antrag anders als in Ihrer Rede gewichtet, Herr Heiderich. Sie, Herr Heiderich, haben dankenswerterweise das CFS, das reformierte Komitee für Welternährung bei der FAO, gelobt und unterstützt, aber in dem Antrag findet sich das nicht wieder. Da wird vielmehr auf die G-8- und G-20Initiativen der Fokus gerichtet. Es geht gerade jetzt darum, die FAO im Kampf gegen Land Grabbing zu unterstützen, damit sie in der Lage ist, wirklich wirksame Leitlinien zum Thema Zugang zu Land zu erarbeiten. Das ist wichtig und nicht der Fokus auf G 8 und G 20. ({4}) Der Kollege Raabe hatte in seiner Rede den Schwerpunkt auf die europäische Agrarpolitik, auf ungerechte Subventionen und ungerechte Handelsstrukturen gelegt. Auch das ist in diesem Antrag völlig unterbelichtet, kommt in diesem Antrag kaum vor. Im Kampf gegen den Hunger hilft wirklich nur ein kohärenter, ganzheitlicher Ansatz weiter, der sowohl die ländliche Entwicklung in den Entwicklungsländern unterstützt als auch hemmungslose Spekulationen mit Agrarrohstoffen sowie Land Grabbing eindämmt und gerechte Handelsstrukturen schafft. Wir haben jetzt in dieser Debatte keinen Antrag eingereicht, aber wir haben in der letzten Wahlperiode einen sehr umfassenden zum Thema Ländliche Entwicklung eingereicht und in dieser Wahlperiode einen mit ganz konkreten Vorschlägen, wie Agrarspekulationen eingedämmt werden können, einen sehr umfassenden Antrag zum Thema Land Grabbing. Dieses Maßnahmenbündel ist nach wie vor sehr aktuell und hat an Gestalt und Wahrheitskraft nichts eingebüßt. Deshalb können wir diesmal Ihrem Antrag nicht zustimmen, stimmen aber den Anträgen der Linken zu. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Dr. Edmund Geisen von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich in Anbetracht der kurzen Redezeit Folgendes feststelle: Wer die Welternährung sichern will und sicherer machen will als in der Vergangenheit, der muss neue Wege gehen. Er muss es natürlich einerseits wegen der rapide ansteigenden Bevölkerungszahl tun und andererseits, weil die Entwicklungsstrategien der vergangenen Jahrzehnte weitgehend versagt haben. Verehrter Herr Kollege Raabe, zwölf Jahre Entwicklungshilfepolitik der SPD an einem Stück sind verantwortlich für die heutigen Missstände. ({0}) Da können Sie nicht mehr einfach nur mitreden. Sie müssten dazu etwas ganz anderes sagen. Sie müssten erklären, wie man den von Ihnen zu verantwortenden Missständen jetzt begegnen und wie man sie korrigieren kann. ({1}) Die internationale Zusammenarbeit muss jetzt auch neu ausgerichtet werden. Dies wird mit der christlich-liberalen Koalition möglich sein. Die FDP-Fraktion bedankt sich besonders bei Herrn Minister Niebel dafür, dass er den Weg in diese neue Politik eingeschlagen hat. Zukünftig müssen die politischen Rahmenbedingungen und das politische Bewusstsein in den Entwicklungsländern selbst verbessert und unterstützt werden. Unsichere Land- und Wassernutzungsrechte, Korruption und auch fehlende Verwaltungsstrukturen behindern jegliche Investition vor Ort. Insbesondere in Afrika könnten die bestehenden Reserven auch durch eine produktivere Landwirtschaft genutzt werden, wenn man es denn täte. Innovative Betriebsmittel wie moderne Maschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel, auch Biotechnologie müssen standortund bedarfsgerecht genutzt werden. Es gilt auch mehr denn je, die Landwirte vor Ort besser auszubilden und die Mittel für die Agrarforschung vor allem in den Entwicklungsländern aufzustocken. Nichts davon ist in der Vergangenheit geschehen. Dies ist die Zielrichtung unserer Anträge und auch des Positionspapiers der FDP-Fraktion. Meine Damen und Herren, in dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist sich die christlich-liberale Koalition völlig einig. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Satz zu den Rohstoffbörsen sagen. Exzessive Spekulationen mit Nahrungsmitteln gilt es einzudämmen; darüber gibt es keinen Zweifel. ({2}) Hierbei ist internationales Handeln gefragt. ({3}) Deshalb begrüße ich auch, dass die G-20-Agrarministerkonferenz schon im Sommer einen umfassenden Aktionsplan vorgelegt hat. Kernpunkte müssen natürlich mehr Transparenz und klare zeitgemäße Rahmenbedingungen sein. Allerdings kann es nicht das Ziel sein, ganz ohne Märkte und Warenbörsen auszukommen. Wohin das geführt hat, sollten wir eigentlich noch nicht vergessen haben. Man kann es nur besser machen, als die Linken es in der Vergangenheit gemacht haben. ({4}) Beispiele dafür gibt es in 70 von den Linken beherrschten Ländern, und in allen Entwicklungsländern kann man die Ergebnisse der Politik in der Vergangenheit sehen. ({5}) Wir wollen und können es besser machen. Die christlich-liberale Koalition steht für einen neuen, besseren, fruchtbareren Weg in der Entwicklungspolitik. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7185 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Illegale Landnahme verhindern, Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage in Entwicklungsländern sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5965, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5488 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- men der Oppositionsfraktionen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine großflächige Landnahme und Spekulationen mit Land oder Agrarproduktion in den Ländern des Südens“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4820, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3541 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD- Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh- rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur Grundlage deutscher, euro- päischer und internationaler Agrar- und Entwicklungs- politik machen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/4490, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3542 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der SPD-Fraktion. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen Schulz ({0}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen Hochschulpakt Plus - Zusätzliche Studienplätze schaffen und Masterangebot ausbauen - Drucksache 17/7340 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hochschulpakt 2020: Für mehr Studienplätze und gute Arbeitsbedingungen - Hochschulen sozial öffnen - Drucksache 17/7341 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Swen Schulz von der Fraktion der SPD das Wort. ({3})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verzeichnen eine steigende Nachfrage nach Studienplätzen. Das hat mit den doppelten Abiturjahrgängen und der Aussetzung von Wehrpflicht und Zivildienst zu tun, es hängt aber auch mit der steigenden Studierneigung zusammen, und das ist positiv. Das ist zunächst einmal eine gute Nachricht. ({0}) Darum war es auch gut und wegweisend, dass wir gemeinsam den Hochschulpakt geschaffen haben. Der Hochschulpakt wirkt. ({1}) Er verschafft vielen jungen Leuten die Möglichkeit, zu studieren. Auch das ist eine gute Nachricht. Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht stehen bleiben; denn wir sehen, dass der Hochschulpakt unterdimensioniert ist. Seit langem weisen wir darauf hin, dass der Hochschulpakt auf veralteten Prognosen basiert. Wer denkt, dass die Bundesbildungsministerin Schavan in dieser Situation die Erste ist, die auf Verbesserungen drängt, der liegt falsch. Wir müssen die Bundesministerin Schavan leider immer wieder zum Jagen tragen. Ein unrühmliches Beispiel dafür ist die Geschichte rund um die Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes. Als die Bundesregierung angekündigt hatte, dass sie die Wehrpflicht aussetzen will, haben wir sofort gesagt, dass die Mittel für den Hochschulpakt entsprechend aufgestockt werden müssen; denn diejenigen, die nicht Zivildienst leisten und die nicht zur Bundeswehr gehen, streben natürlich zu einem gewissen Teil an die Hochschulen. ({2}) Wir haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Aber wir mussten eine Verweigerungshaltung der Regierungskoalition feststellen. Immer wieder wurde gesagt: „Mal sehen! Die Länder sind zuständig!“ Ich erinnere mich noch daran, wie im Ausschuss diese Haltung von den Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition vertreten wurde, bis endlich - einen Tag nach der Ausschusssitzung - die Bundeskanzlerin dem Druck nachgegeben und den Ministerpräsidenten eine entsprechende Zusage gegeben hat. ({3}) Jetzt melden viele Hochschulen tatsächlich „Land unter“. Was macht die Bundesregierung? Sie macht nichts. ({4}) - Sie sagen, weil alles bestens ist. ({5}) Wenn Sie uns von der Opposition das nicht glauben, dann glauben Sie es vielleicht den Medien. Ich nenne Ihnen einmal ein paar Überschriften: „Stresstest für Hochschulen“, „Universitäten sind knüppeldicke voll“, „Hörsäle sind überfüllt“, „Die Invasion“, „Unis schotten sich mit Numerus clausus ab“, „Flucht vor dem Numerus clausus ins Ausland“, „Platzangst im Hörsaal“, „Flickwerk an deutschen Unis“ usw. ({6}) Angesichts dieser Situation können Sie doch nicht sagen, dass alles gut ist. Das ist zu wenig von der Regierungskoalition. ({7}) Wir haben das Problem angepackt und einen Antrag für einen Hochschulpakt Plus vorgelegt, über den heute diskutiert wird. Ich will Ihnen die wichtigsten Punkte kurz skizzieren. Erstens. Wir wollen, dass mindestens 50 000 Studienplätze zusätzlich geschaffen werden. Das kann schnell realisiert werden und ist ein Beitrag für ein besseres Angebot an den Hochschulen. Zweitens. Es gibt immer mehr Probleme beim Angebot von Masterstudienplätzen. Darum wollen wir ein Sonderprogramm. Wir wollen, dass allen Bachelorabsolventen das Masterstudium offensteht. ({8}) Das ist ein wichtiges Ziel, für das wir streiten. Swen Schulz ({9}) Drittens. Wir führen die Idee des Abschlussbonus ein. Bisher finanzieren wir nur die Studienanfänger; das ist so weit in Ordnung. Aber die Frage ist, was danach passiert. Wir möchten einen finanziellen Anreiz, eine Belohnung für diejenigen Hochschulen schaffen, die eine gute Lehre anbieten und die die Studierenden erfolgreich zum Abschluss führen. ({10}) Das ist eine wichtige Ergänzung des Hochschulpaktes, die wir hier vorschlagen. ({11}) Es ist vollkommen klar, dass alles entsprechend finanziert werden muss. Darum haben wir zusätzlich einen nationalen Pakt für Bildung und Entschuldung formuliert. Er beinhaltet auch Steuererhöhungen für diejenigen, denen es wirklich sehr gut geht, damit wir endlich mit der viel beschworenen Bildungsrepublik Deutschland vorankommen. So toll ist das nämlich nicht, was Frau Merkel uns bisher präsentiert hat. Heute gab es einen Vorgang, der mir im Zusammenhang mit der Finanzierung von Bildung nachgerade den Atem verschlagen hat. Pünktlich zur geplanten Sitzung der Kultusminister, also der Bildungsminister der Länder, mit Bundeskanzlerin Merkel, gab es heute unter der Überschrift „Schwarz-Gelb einig über Steuersenkung“ die Meldung: Die Bundesregierung erwartet eine Entlastung von 6 bis 7 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Gemeinden. Das sind doch genau diejenigen, die die Hauptlast bei der Finanzierung der Bildung tragen. ({12}) Sie können doch nicht eine Bildungsrepublik Deutschland schaffen, wenn Sie gleichzeitig die finanzielle Basis dafür zerschlagen. ({13}) Das ist nichts weiter als eine Verzweiflungstat zur Rettung der FDP, Kollege Döring, auf Kosten der Bildung und auf Kosten der Menschen. ({14}) Wir erwarten von der Bundesbildungsministerin Schavan, dass sie gegen diesen Unsinn angeht und dass sie sich für Bildung einsetzt. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Tankred Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen, mit einem von den Linken und mit einem von der SPD. Als ich den Antrag der Linken gelesen habe, musste ich feststellen, dass er wieder jeglichen Realitätssinn und jegliche Kenntnis des deutschen Grundgesetzes vermissen lässt. Einen Antrag mit dieser Rhetorik können Sie auf Ihrem Parteitag in Erfurt einbringen, aber nicht in diesem Hohen Hause. ({0}) Sie sprechen von einer ständischen Gliederung des Schulsystems. Sie verkennen, dass das Abitur Studierfähigkeit bescheinigt und somit Hochschulzugangsberechtigung ist. Sie haben noch nicht einmal mitbekommen, dass es die ZVS seit 2008 gar nicht mehr gibt; und es ist Ihnen völlig neu, dass wir in einem föderalen Bundesstaat leben, in dem die primäre Bildungskompetenz bei den Ländern liegt. Wir alle wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie bei Ihrem nächsten Antrag nicht wieder die Textbausteine Ihrer vorherigen Anträge bzw. Parteitagsreden zusammensetzen, sondern einmal einen konstruktiven Beitrag für die Bildungsrepublik Deutschland leisten würden. ({1}) Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte ist ein Antrag der SPD. Der Kollege Schulz hat es gerade vorgetragen: Die SPD fordert einen „Hochschulpakt Plus“. Wir wollen uns doch einmal die Ausgangslage ins Gedächtnis rufen: ({2}) Mit dem Hochschulpakt wurden in der ersten Programmphase von 2007 bis 2010 185 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten geschaffen; das sind doppelt so viele wie ursprünglich vereinbart. ({3}) Auch für die zweite Programmphase haben Bund und Länder vereinbart, ein bedarfsgerechtes Studienangebot zu schaffen. Auf der Basis der Vorausberechnungen der KMK wurden 320 000 bis 335 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten bis zum Jahr 2015 zugesichert. Wenn in diesem Wintersemester mehr Studienmöglichkeiten als erwartet benötigt werden, so werden auch diese gemäß der Systematik des Hochschulpakts - das heißt nachlaufend nach zwei Jahren - bundesseitig finanziert. Ein Überschreiten des vereinbarten Deckels ist vor 2014 nicht zu erwarten. Von daher sehe ich gegenwärtig gar keine Notwendigkeit, den Hochschulpakt anzupassen oder gar einen „Hochschulpakt Plus“ aufzulegen. Ich darf daran erinnern, dass wir darüber hinaus bundesseitig einen Pakt für Qualität und Lehre aufgelegt haben, über den bis 2020 rund 2 Milliarden Euro für bessere Studienbedingungen und mehr Lehrqualität an den Hochschulen bereitgestellt werden. ({4}) Das ist die Ausgangslage. ({5}) Diese positive Ausgangslage wird heute in einem Artikel der Zeit - das ist mit Sicherheit eine Zeitung, die der Koalition nicht nahesteht - vollumfänglich bestätigt. Der Heidelberger Rektor Professor Eitel sagt: „Aber es herrscht keinerlei Chaos oder nicht zu bewältigender Andrang.“ Der Regensburger Rektor Professor Strothotte sagt, von den „von vielen Seiten skizzierten Schreckensszenarien“ sei man weit entfernt. Der Präsident der Hochschule Osnabrück sagt, dank der „sehr guten“ finanziellen Unterstützung habe man „frühzeitig und dauerhaft“ zusätzliche Professoren eingestellt und Baumaßnahmen zur Verbesserung der Studiensituation „zügig“ umsetzen können. Der Präsident der Uni Hannover sagt: „Die Chance, einen Studienplatz zu bekommen, war sogar besser als in den Vorjahren.“ ({6}) Eine junge Frau, Anouk Fechner, hat sich mit einem Abi-Schnitt von 2,7 an 20 Hochschulen für Jura und BWL beworben und zehn Zusagen bekommen. Meine Damen und Herren, das ist die Realität in der Bildungsrepublik Deutschland! ({7}) Was machen Sie mit Ihrem Antrag? Angst machen, Schwarzmalen und - wie immer - vonseiten des Bundes mit einer Gießkanne das Geld über die deutschen Hochschulen verteilen. Das ist abzulehnen! Zudem soll ein angeblicher struktureller Mangel des Hochschulpaktes beseitigt werden - der Kollege Schulz hat es vorgetragen. Trennen Sie doch bitte ganz scharf zwischen dem Hochschulpakt, den Bund und Länder miteinander vereinbart haben, und den Hochschulpakten, die die Länder mit ihren Hochschulen schließen. Dann werden Sie erkennen, dass viele Ihrer Forderungen bereits umgesetzt worden sind. Denn die Mittelzuweisungen und Verteilungsschlüssel der Länder an ihre Hochschulen berücksichtigen zum einen bereits die Zahl der Studienanfänger und zum anderen die Anzahl der Absolventen. Ihr Vorwurf, die Vergabe von Masterstudienplätzen würde nach ideologischen Gesichtspunkten geschehen, ist schlichtweg falsch. Masterstudienplätze stehen in ausreichender Anzahl für die Bachelorabsolventen zur Verfügung, die einen guten Bachelorabschluss haben. ({8}) Die Weiterführung eines Studiums an die bisherigen Leistungen zu koppeln, ist sinnvoll und systemimmanent, weil die Masterausbildung größtenteils auf den Grundkenntnissen und Methoden eines Bachelorstudiums aufbaut. Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, wenn Sie einen Beitrag für ein Gelingen des Starts dieses Wintersemesters leisten möchten, dann sollten Sie das nicht mit derartigen Anträgen machen, sondern Sie sollten mit Ihren Genossen Bürgermeistern und Oberbürgermeistern der Hochschulstädte in Kontakt treten. Nicht Studienplätze fehlen, sondern eine gute Infrastruktur. In München unter SPD-Oberbürgermeister Ude mussten Matratzenlager eingerichtet werden. ({9}) Der Jenaer SPD-Oberbürgermeister weigert sich, weiteren Wohnraum für Studenten zu schaffen. Das sind die eigentlichen Probleme der Erstsemester. ({10}) Die Koordination zwischen Städten und Studentenwerken, die Kommune als Bildungspartner vor Ort zu begreifen - das sind die Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Es darf nicht einfach gießkannenartig Bundesgeld über die Hochschulen verteilt werden, die gar nicht im verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereich des Bundes liegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Yvonne Ploetz von der Fraktion Die Linke. ({0})

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche hat das neue Semester begonnen. ({0}) - Ich bin nicht mehr eingeschrieben. Ich habe mein Studium beendet, und zwar erfolgreich. Herzlichen Dank für die Nachfrage! ({1}) Es gibt eine gute Nachricht: Mehr junge Menschen als jemals zuvor strömen an die Hochschulen. Mehr junge Menschen als jemals zuvor wollen eine wissenschaftliche Ausbildung in Angriff nehmen. Diejenigen, die tatsächlich einen Studienplatz ergattert haben, dürfen sich glücklich schätzen. Zwar haben sie vielleicht nicht den Studienplatz ihrer Wahl bekommen, vielleicht auch nicht in der Stadt, in der sie gerne studieren möchten, aber immerhin haben sie einen Studienplatz. Sie müssen sich glücklich schätzen, weil Tausende Studienplatzbewerber eine Absage von den Hochschulen bekommen haben. Diese jungen Menschen haben ihre Studienberechtigung hart erkämpft. Sie haben Abitur bzw. Fachabitur gemacht. Aber die Studienberechtigung nutzt ihYvonne Ploetz nen in diesem Semester rein gar nichts. Das ist absurd, eine Frechheit und ein politischer Skandal, ({2}) ein Skandal auch deshalb, weil all das nicht wie eine Naturkatastrophe über uns gekommen ist. Wir alle wissen, dass es durch die Einführung von G 8 zu doppelten Abiturjahrgängen kommt. Wir alle wissen nicht erst seit gestern von der Abschaffung der Wehrpflicht. Die neuen Erstsemester kommen schon an ihrem ersten Studientag in der neuen Wirklichkeit an den Hochschulen an. Sie müssen im Einführungsseminar wahrscheinlich auf dem Boden sitzen, weil der Platz nicht ausreicht. ({3}) Sie haben vermutlich keine Unterkunft, weil kleine und kostengünstige Wohnungen auf dem Immobilienmarkt kaum noch vorhanden sind und die Wohnheime hoffnungslos überfüllt sind. Kümmern Sie sich endlich darum! ({4}) Die Infrastruktur der Hochschulen reicht hinten und vorn nicht aus. Das Centrum für Hochschulentwicklung - das CHE ist nicht gerade eine linke Organisation, wie Sie vielleicht wissen - gab im Juli bekannt, dass für das Jahr 2011 mindestens 50 000 Studienplätze fehlen und dass 500 000 Studienanfängerinnen und -anfänger bis 2015 an die Hochschulen strömen werden. Aber selbst nach dieser Meldung ist wieder einmal nichts passiert. Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie erklären immer lauthals, dass Sie bestens auf die Situation vorbereitet sind und dass durch den Hochschulpakt 2020 ausreichend Studienplätze zur Verfügung stehen. Ich befürchte, Sie haben sich ordentlich verrechnet. ({5}) Hinzu kommt, dass der Hochschulpakt derzeit hoffnungslos unterfinanziert ist. Laut Statistischem Bundesamt kostet ein Studienplatz durchschnittlich 7 150 Euro. Sie stellen den Universitäten aber nur 6 500 Euro zur Verfügung. Das kann so nicht funktionieren. Bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit irgendeinem Beispiel, wo es an einer Hochschule oder in einem bestimmten Fachbereich besser aussieht. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es nicht ein Glücksspiel ist, ob man gute Studienbedingungen vorfindet. Es geht hier um das Menschenrecht auf Bildung und nicht um Lotteriescheine. ({6}) Die Linke fordert die Aufstockung der Mittel für den Hochschulpakt. Wir brauchen mindestens 500 000 zusätzliche Studienplätze. ({7}) Der Hochschulpakt muss das politische Ziel erreichen, Zulassungsbeschränkungen durch ein ausreichendes Angebot an Studienplätzen überflüssig zu machen. Wir möchten, dass jeder und jede die Möglichkeit hat, das Fach zu studieren, das er oder sie gerne möchte. ({8}) An dieser Stelle möchte ich kurz an das Versprechen von Frau Schavan erinnern. Im Juli 2009 hat sie als Reaktion auf den Bildungsstreik verkündet: Studierende sollen selbst entscheiden können, ob sie einen Master machen wollen oder nicht. ({9}) Die Erfüllung dieses Versprechens sind Sie seitdem schuldig geblieben. ({10}) Setzen Sie das endlich um! Wir fordern das Recht auf einen Master für alle. ({11}) Selbst Frau Merkel hat vor einigen Tagen Verständnis für die Proteste gegen die Macht der Banken und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise geäußert. ({12}) Ich denke, sie wird dieses Verständnis auf die Studierenden ausdehnen können; denn sie werden nicht das ganze Studium über am Boden sitzen. Die Parole „Geld für Bildung statt für Banken“ ist heute richtiger denn je. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Martin Neumann von der FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Studienanfänger in Deutschland ist in diesem Semester auf einem Rekordniveau: Mehr als 500 000 Erstsemester studieren - es ist schon gesagt worden -, und zwar dank der steigenden Studienneigung - das ist positiv -, aber auch wegen der doppelten Abiturjahrgänge in Bayern und Niedersachsen und der Aussetzung der Wehrpflicht. Diese Umstände waren der Grund dafür, dass in der ersten Phase des Hochschulpakts in den Jahren 2007 bis 2010 rund 182 000 zusätzliche Studienplätze geschaffen wurden. Der Bund - das kann man an der Stelle zusammenfassend feststellen hat die Länder bei ihrer Aufgabe, zusätzliche Studienplätze zu schaffen, mehr als anständig unterstützt. ({0}) In der zweiten Phase des Hochschulpakts stehen weitere 5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das Geld, das der Dr. Martin Neumann ({1}) Bund an der Stelle zahlt, ist mit der Erwartung verbunden, dass die Länder die Mittel zur Gegenfinanzierung gleichermaßen aufstocken. Der Qualitätspakt Lehre zur Verbesserung der Studienbedingungen wurde bereits angesprochen. Dafür stellt der Bund bis zum Jahr 2020 nochmals 2 Milliarden Euro zur Verfügung. So weit zu den Tatsachen. Die Oppositionsfraktionen fordern heute, dass der Bund die Mittel für den Hochschulpakt angesichts der doppelten Abiturjahrgänge und der Aussetzung der Wehrpflicht aufstockt, obwohl - das will ich an der Stelle hervorheben - die GWK, die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, erst im März 2011 aus genau diesen Gründen den Hochschulpakt angepasst hat und 1,5 bis 1,7 Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen wird. ({2}) - Kollege Gehring, Sie haben gleich die Gelegenheit, dazu etwas zu sagen. Jetzt komme ich auf etwas zu sprechen, das ich in den letzten Tagen in der Presse gelesen habe. Herr Gehring, Sie sind in den Medien mit den Worten zitiert worden, dass das, was die Koalition hier gegenwärtig unternehme - es sind massive Anstrengungen -, „halbherzig“ sei; so entnehme ich es den Medien. Zur Erinnerung: In diesem Jahr stellen wir im Rahmen des Hochschulpaktes 600 Millionen Euro zur Verfügung. Ich finde Ihre Äußerung angesichts der realen Hochschulpolitik in den Ländern - ich komme gleich genauer darauf zu sprechen nicht nur kaltherzig, sondern auch etwas kaltschnäuzig. ({3}) Meine Damen und Herren, wie sieht denn die Hochschulpolitik von SPD, Linken und Grünen im wahren Leben, also jenseits der Lippenbekenntnisse, die wir hier immer wieder hören, tatsächlich aus? Es könnten viele Beispiele genannt werden. Aufgrund der begrenzten Redezeit will ich mich auf zwei Beispiele konzentrieren. Ich nenne als Beispiel das Land Rheinland-Pfalz, das von Rot-Grün regiert wird: Dort werden die Studienbeiträge für Langzeitstudenten trotz des Studentenansturms in diesem Jahr abgeschafft. Das führt zu Mindereinnahmen von etwa 4 Millionen Euro, die vom Land nicht kompensiert werden. Abgesehen davon nehmen die Langzeitstudierenden den anderen Studierenden den Studienplatz weg. Vielleicht ein brisantes Beispiel dazu: An der Uni Mainz gibt es sieben Dauerstudenten, die - man höre! - im 79. Semester sind und demnach jetzt wieder kostenfrei studieren können. ({4}) Im Land Nordrhein-Westfalen, das unter Tolerierung durch die Linke von Rot-Grün regiert wird, ist das Studium ab diesem Semester wieder gebührenfrei. ({5}) Jetzt fallen Tutoren aus; es werden weniger Bücher für die Bibliotheken gekauft. ({6}) An der Uni Bonn sind zum Beispiel 50 Stellen in Gefahr. Ich könnte das weiterführen, belasse es aber an dieser Stelle dabei. Zur Krönung des Ganzen möchte ich mein Heimatland Brandenburg ansprechen; ich habe schon mehrfach das eine oder andere zur dortigen Situation gesagt. Im Haushaltsentwurf der rot-roten Landesregierung für das kommende Jahr findet sich eine globale Minderausgabe in Höhe von 12 Millionen Euro, die von den Hochschulen eingespart werden müssen. Zudem kommt es zu einer Entnahme aus den Rücklagen zur allgemeinen Haushaltskonsolidierung in Höhe von 10 Millionen Euro. Die Linken formulieren in ihrem Antrag süffisant - ich zitiere -: Der Bund muss dementsprechend dafür sorgen, dass ein ausreichendes Angebot an Studienplätzen zur Verfügung steht. Da kann man nur noch sprachlos den Kopf schütteln. ({7}) Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie befinden sich wahrscheinlich immer noch in einem Schockzustand; ({8}) denn in den letzten Tagen ist eines Ihrer zahlreichen ideologischen Totschlagargumente in Sachen Bildungspolitik wissenschaftlich fundiert entkräftet worden. Ich zitiere aus der taz, die nun wirklich nicht unser Parteiorgan ist. ({9}) In der Ausgabe vom 11. Oktober 2011 steht - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -: ({10}) Diese Nachricht ist ein Schock für alle Gegner von Studiengebühren. Die Campus-Maut - so wird sie oft bezeichnet schreckt offenbar nicht einmal die Kinder aus nichtakademischen Haushalten vom Studieren ab. ({11}) Nach Einschätzung einer aktuellen Studie des Wissenschaftszentrums Berlin, des WZB, mit dem Titel „War all die Aufregung umsonst?“ gibt es keinen negativen Effekt von Studienbeiträgen auf die Studierneigung. Im Gegenteil: Sie haben positive Effekte. ({12}) Ich will das kurz begründen. Studierende schätzen ihre Ertragsaussichten besser ein, wenn es Studiengebühren gibt, und in den Ländern, in denen Studienbeiträge erhoben wurden, ist die Anzahl der Studenten soDr. Martin Neumann ({13}) gar noch stärker als in Ländern ohne Studienbeiträge angestiegen. ({14}) Als hätte ich es nicht anders erwartet, wird Herr Gehring in dem genannten Blatt zitiert. Am 12. Oktober hat er gesagt: „Die WZB-Untersuchung ist methodisch zweifelhaft …“, ganz nach dem Motto: Was nicht sein darf, das kann auch nicht sein. ({15}) Ich komme zum Schluss. Die Anträge, die Sie gestellt haben, sind wieder einmal viel Lärm um nichts. ({16}) Sie fordern den Bund zu Maßnahmen auf, für die er eigentlich nicht zuständig ist. Trotzdem nimmt er - das betone ich - bereits enorme Investitionen vor. Sie vergessen immer wieder Ihre eigene Verantwortung in den Ländern. Daher appelliere ich an Sie zum Wohle der vielen Studierenden in Deutschland: Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben, und beenden Sie diese Spielchen! Schönen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während die Bundesregierung seit Monaten über Fachkräfte- und Akademikermangel lamentiert, schnuppert seit wenigen Tagen eine halbe Million Studienanfänger akademische Luft. Wir Grüne freuen uns über diese Rekordeinschreibung zum Wintersemester. ({0}) Wir wollen, dass aus Studienanfängern Absolventen werden. Deshalb wünschen wir allen Erstsemestern, sicherlich auch im Namen des ganzen Hauses, ein erfolgreiches Studium. ({1}) Seit mehreren Semestern hält das Studierendenhoch dank gestiegener Studierneigung, geburtenstarker Jahrgänge und doppelter Abiturjahrgänge an. Wie erwartet ist der Ansturm zu Beginn dieses Semesters durch den überfälligen, aber überstürzten Ausstieg aus der Wehrpflicht ganz besonders groß. ({2}) Leider hält seit mehreren Semestern das Hochschulzulassungschaos an. Daher möchte ich an dieser Stelle deutlich machen: Wir brauchen schnellstmöglich ein funktionierendes, dialogorientiertes Serviceverfahren und endlich bundeseinheitliche Zulassungsregeln, damit der Einstieg gelingt. ({3}) Die zentrale politische Aufgabe ist, den Studienplatzmangel zu überwinden, anstatt den Hochschulzugang durch immer höhere lokale NCs zu blockieren. Zentrale Aufgabe von Bund, Ländern und Hochschulen ist es auch, den Studierenden bestmögliche Studienbedingungen zur Verfügung zu stellen. Wer einen Studienplatz ergattert, braucht auch einen Platz im Seminar, ({4}) einen Sitzplatz im Hörsaal, einen Professor mit Zeit, mehr Qualität in der Lehre und eine gute soziale Infrastruktur, das heißt Beratungsangebote, bezahlbaren Wohnraum, moderne Bibliotheken und Mensen. Darum muss es jetzt gehen. All das gehört zu einem Studienplatz dazu. Daran mangelt es vielerorts. Daran muss bundesweit dringend gearbeitet werden. ({5}) Ärgerlich ist, dass der aktuelle Ansturm seit längerer Zeit bekannt ist und es zwei Bundesregierungen dennoch nicht geschafft haben, nachhaltige Lösungen zu schmieden. Der Hochschulpakt ist wichtig, ({6}) er war ein Kraftakt, aber er ist trotzdem weiterhin unterfinanziert, gedeckelt, und er ist zu kurz gedacht. Anstatt aus dem ominösen 12-Milliarden-Paket von Frau Schavan zu klotzen, kleckern FDP und CDU/CSU nur herum ({7}) und versprechen an einem Tag wie heute, an dem überall über die Euro-Krise diskutiert wird, 6 bis 7 Milliarden Euro an Steuersenkungen. Dabei wissen sie, dass das Geld dann in den Länderhaushalten fehlt. Es fehlt auch für den Ausbau unseres Hochschulsystems. Ein solches Vorhaben ist völlig falsch. ({8}) Schon im ersten Semester droht Ihre Pakt-II-Phase zur Makulatur zu werden, weil mindestens 50 000 Studienplätze fehlen ({9}) und Sie nicht die realen Masterübergangsquoten zugrunde legen. Deshalb muss der Hochschulpakt dringend dynamisiert und an den tatsächlichen Studierendenzahlen gemessen werden, damit junge Talente auf den Uni-Campus und nicht in die Warteschleife geschickt werden. ({10}) Für dieses Semester braucht man kreative Lösungen und Notmaßnahmen vor Ort. NRW und BadenWürttemberg sind hier Vorreiter. ({11}) Sie gehen weit über die Paktzusagen hinaus. Das ist einfach so. Man muss Geld vorstrecken. Die finanziellen Vorleistungen sind höher als das, was im Pakt verhandelt wurde. Das ist ein gutes Zeichen. ({12}) Da Herr Neumann die Studiengebührendebatte hier aufgemacht hat, sage ich für meine Fraktion sehr deutlich: Hochschulfinanzierung ist eine öffentliche und keine private Aufgabe. Studiengebühren sind und bleiben sozial ungerecht. ({13}) Sie haben den Nachweis schlichtweg nicht erbracht, dass dadurch die Qualität gesteigert wird. Deshalb freue ich mich darüber, dass wir statt in sieben nur noch in zwei Ländern eine „Campusmaut“ haben, mit der Studierende abkassiert werden, und dass CDU und FDP mit uns Grünen im Saarland die Studiengebühren abgeschafft haben. ({14}) Ich freue mich darüber, dass Grün-Rot in BadenWürttemberg und Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen die Einnahmen aus den Studiengebühren durch Qualitätsverbesserungsmittel vollständig kompensieren ({15}) und dass beide Landesregierungen so viel wie nie zuvor in Hochschulen investieren und damit die Attraktivität für Studierende erhöhen. Das ist die grün-rote und rotgrüne Bilanz in den Ländern. Die Bundesregierung darf sich jetzt nicht länger zurücklehnen. Sie muss den Hochschulpakt jetzt ausweiten, mit den Ländern nachverhandeln und endlich bessere und klügere Finanzierungsmechanismen verabreden. Es ist notwendig, dass wir mehr Bachelor- und auch Masterstudienplätze schaffen, damit niemand auf ein Studium verzichten muss. Zudem brauchen wir unbefristete Beschäftigungsmöglichkeiten und klare Karriereperspektiven für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch jenseits der Professur. Darüber hinaus brauchen wir zusätzlich zu bestehenden Professorenstellen ein Anreizprogramm für Juniorprofessuren, und wir brauchen ein transparentes Studienvergabesystem. All das sind Hausaufgaben, die Frau Schavan erledigen muss, wo Bund und Länder gemeinsam zusammenarbeiten müssen. Nur so würde der Hochschulpakt tatsächlich seinem Anspruch gerecht, dass jeder junge Studienberechtigte in Deutschland tatsächlich studieren kann. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 2007 wurde zwischen dem Bund und den Ländern der Hochschulpakt geschlossen. Wenn man sich die Entwicklung bei den Studienanfängern seither anschaut, wird deutlich, welch großer Wurf ({0}) damals unter Führung von Bundesministerin Schavan gelungen ist. ({1}) Man ging 2007 davon aus, dass bis 2010 91 000 neue Studienplätze geschaffen werden müssen. Die Basis damals waren die Zahlen von 2005. 2005 haben 356 000 junge Menschen ein Studium begonnen. Das waren 37 Prozent des Altersjahrgangs. Im Jahr 2010 waren es über 440 000 Studienanfänger; das waren 46 Prozent des Altersjahrgangs. ({2}) Das war ein Rekordwert. Die ursprüngliche Zielmarke aus dem Jahr 2007, nämlich 91 000, wurde mit 182 000 zusätzlichen Studienanfängern zwischen 2007 und 2010 bei Weitem übertroffen. Das zeigt, wie wichtig dieser Hochschulpakt war und wie richtig es war, dass wir ihn damals mit Ihnen und gemeinsam mit den Ländern eingeführt haben. ({3}) Der Hochschulpakt wird fortgeführt. 2009 wurde die Verlängerung des Hochschulpakts beschlossen. Bis 2015 werden wir weiterhin investieren. Wir werden ihn auch darüber hinaus verlängern, falls es notwendig ist. Wir haben in diesem Jahr sehr flexibel reagiert, als wir vor dem Hintergrund der Aussetzung der Wehrpflicht gemeinsam mit den Ländern die Anzahl der Studienplätze noch einmal erhöht haben. ({4}) Allein in der zweiten Programmphase investiert der Bund 4,7 Milliarden Euro in den Ausbau der Studienplätze. ({5}) Das unterstreicht deutlich: Die Förderung von Bildung und Forschung ist und bleibt ein Schwerpunkt der Arbeit dieser Koalition. Natürlich wollen wir auch die Lehre verbessern. ({6}) Dafür gibt es den Qualitätspakt Lehre; der Kollege Schipanski hat ihn bereits angesprochen. In der ersten Auswahlrunde wurden 111 Hochschulen aus allen Regionen Deutschlands ausgewählt, die in den nächsten fünf Jahren unterstützt werden, damit sie die Studienbedingungen und die Lehrqualität verbessern können. Das ist der richtige Weg. ({7}) Der Versuch, die Verbesserung der Lehre über den Anreiz einer Abschlussprämie zu erreichen, ist fragwürdig. Das wäre dann sinnvoll, wenn es einheitliche und zentrale Prüfungen gäbe. Das möchte aber niemand. Wenn Sie den Hochschulen Geld entsprechend der Anzahl der bestandenen Prüfungen geben, die sie selbst stellen und selbst bewerten, besteht die Gefahr, dass die Prüfungen leichter werden und sich nichts verbessert. Das wäre der falsche Ansatz. Wir wollen bei einer großen Zahl von Studenten ein qualitativ hohes Niveau der Abschlüsse beibehalten. ({8}) Verehrte Kollegen von der SPD, wenn Sie ernsthaft etwas für die Verbesserung der Studienbedingungen tun möchten, dann reden Sie einmal mit Ihren Kollegen in den Landesregierungen, zum Beispiel in NRW. ({9}) Dort wurde ein großes Wahlversprechen eingelöst und die Studienbeiträge gestrichen. ({10}) Nur hat die rot-grüne Landesregierung den zweiten Teil ihres Wahlversprechens nicht eingelöst, ({11}) nämlich den Hochschulen den Ausfall vollständig zu kompensieren. ({12}) Im ganzen Land werden Assistentenstellen und Tutorien gestrichen: ({13}) Aachen, Köln, Bonn, Wuppertal, Münster. Ich könnte die Liste fortführen. Von überall erreichen uns die Klagen. So haben sich die Studenten und die Hochschulen das Wahlgeschenk nicht vorgestellt. ({14}) Das Ganze geschah zu einem Zeitpunkt, an dem absehbar war, dass aufgrund der doppelten Abiturjahrgänge und der Aussetzung der Wehrpflicht die Anzahl der Studienanfänger auch in NRW massiv ansteigen würde. ({15}) Dass Ministerin Schulze in ihrer Pressekonferenz zum Semesterbeginn nicht gesagt hat, wie sie diese Finanzierungslücke schließen will, zeigt, dass dort, wo die SPD Verantwortung trägt, den Studienbedingungen kein hoher Stellenwert eingeräumt wird, obwohl Sie das hier vollmundig verkünden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPDFraktion das Wort. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen ausdrücklich einstimmen in die große Freude darüber, dass wir so viele Studienanfänger haben. ({0}) Das sind so viele wie noch nie. Es ist schön, dass niemand mehr von der Studentenschwemme spricht, sondern dass diese vielen neuen zusätzlichen Studenten positiv aufgenommen werden. Ich will auch ausdrücklich sagen: Wir freuen uns, dass so viele Studienanfänger in die neuen Bundesländer gehen. ({1}) Das ist etwas, was wir gemeinsam erarbeitet haben. ({2}) Wir freuen uns schließlich darüber, dass es sich bei diesen Hochschulpakten um eine gemeinsame Bund-Länder-Finanzierung handelt. Sie hat 2007 begonnen, als wir gleichberechtigt Verantwortung getragen haben. Herr Kretschmer, weil wir uns heute beide freuen, will ich betonen: Sie sind ein besonderer Freund unserer Sache, weil Sie in Sachsen erfolgreich verhindert haben, dass Studiengebühren erhoben werden. ({3}) Im Übrigen ist Dresden eine wunderschöne Stadt in Sachsen, in der vor drei Jahren der erste sogenannte Bildungsgipfel stattgefunden hat. ({4}) An dieser Stelle kann ich an die Ausführungen des Kollegen Schulz anknüpfen, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass Steuerentlastungen in Höhe von 6 Milliarden Euro, die ja bei Ihnen diskutiert werden, bei den Ländern zu Mindereinnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro führen. ({5}) Auch bei den Kommunen und beim Bund führt das zu Mindereinnahmen. Dabei wissen Sie genau, wie die Bildungsausgaben in Deutschland finanziert werden: Den kleinsten Beitrag leistet der Bund mit 16 Prozent, den mittleren Beitrag leisten die Kommunen mit 20 Prozent und den stärksten Beitrag die Länder mit 64 Prozent. An dieser Stelle den Ländern und den Kommunen Geld zu entziehen, das verträgt sich drei Jahre nach dem Bildungsgipfel, der damals unter Fanfarenklängen von Ihrer Seite in Dresden eingeleitet worden ist, nicht mit der Priorität für Bildung. ({6}) Das ist ein Desaster. Wir machen es der Kanzlerin nicht zum Vorwurf, dass sie heute bei der KMK abgesagt hat; denn sie hat an anderer Stelle für Milliarden einzustehen; dafür muss sie kämpfen. Aber einem Bildungsgipfel den Boden unter den Füßen wegzuziehen, indem man den Ländern und Kommunen am Anfang und am Ende der Legislaturperiode Geld wegnimmt, steht im Widerspruch zur Bildungsrepublik, von der Sie immer sprechen; das entlarvt Sie. ({7}) Was könnte mit den besagten 2,5 Milliarden Euro nun konkret umgesetzt werden? ({8}) Entsprechend unserer Initiative erfordern 50 000 zusätzliche Studienanfängerplätze in etwa 750 Millionen Euro. Dies ist das Signal, das die Studierenden und auch die Hochschulen aktuell brauchen: Bildungschancen finanzieren statt Steuern senken. Herr Schipanski, auch ich habe Die Zeit gelesen; es ist eine gute Zeitung. Man kann das nur unterstreichen. Viele Hochschullehrer und Rektoren haben sich wirklich ins Zeug gelegt und auf Basis der gemeinsamen Verpflichtungen aus dem Hochschulpakt etwas Ordentliches auf die Beine gestellt. Aber es findet sich in diesem von Ihnen zitierten ZeitArtikel genauso wissenschaftliche Expertise, zum Beispiel von Professor Dohmen, der sagt: Die 335 000 bisher zusätzlich finanzierten Studienanfängerplätze reichen nicht; sondern wir können es unter Umständen mit einem maximalen Korridor von 1 Million erwarteter Bewerber zu tun bekommen. Wir Sozialdemokraten sagen, dass wir dagegen, sozialdemokratisch bescheiden, zumindest ein verlässliches Signal von mindestens 50 000 Studienanfängerplätzen setzen sollten. Damit stärken wir auch den entsprechenden Elan in den Hochschulen, bei den Hochschulverwaltungen und auch in den Ländern, der von RheinlandPfalz über Baden-Württemberg, über Nordrhein-Westfalen bis hin nach Niedersachsen vorhanden ist. ({9}) Ja, wir sind nicht einäugig, so wie Sie es immer gerne darstellen. Auch Niedersachsen hat sich ordentlich ins Zeug gelegt. Nur, auch dort werden zusätzliche Mittel gebraucht. ({10}) Und Herr Döring: Auch Sie könnten auch einmal auf alle Länder schauen und die Wirklichkeit nicht immer nur einseitig aus Ihrer 3-Prozent-Perspektive heraus betrachten. Sie diskutieren immer nur einseitig über die 3 Prozent. ({11}) Also, ich lobe Niedersachsen; es ist CDU/FDP-regiert. Sie könnten im Gegenzug auch einmal Lob an andere Länder aussprechen; ansonsten sind Sie ein kleiner Frosch ({12}) - Entschuldigung, wenn ich das so sage -: aufgeblasen, aber nicht viel Substanz darin. ({13}) Deshalb noch einmal: Wir müssen darum werben, dass wir mit 50 000 zusätzlichen Studienanfängerplätzen ein Signal setzen; denn dies würde zeigen, dass wir die Studierenden und die Hochschulen in ihren Anstrengungen ernst nehmen. Hier sind wir doch eigentlich gar nicht so weit auseinander. Herr Schipanski, wenn Sie sagen, der Deckel sei nicht fest, sondern soll gegebenenfalls gehoben werden, dann ist das eine Ansage. ({14}) Nur, man kann es in Bezug auf die 50 000 noch dingfester machen. Und darum geht es.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Rossmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Brandl, eine letzte Bemerkung, weil ich gern noch etwas sachlich zu bedenken geben möchte. ({0}) So wie wir Studienanfängerplätze fördern, bei denen man nicht weiß, ob sie für die Hochschulen eigentlich immer ein Anreiz sind, über die Studienanfängerzeit hinaus diese Studierenden an der Hochschule zu halten, könnte man eine neue Balance finden, indem man auch Abschlüsse fördert. Diese Balance brauchen wir. Wir brauchen das Signal auch für die Studierenden und ihre Hoffnung auf Hochschule. Deshalb: Setzen Sie mit uns dieses Signal, und seien Sie nicht einäugig! Danke. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/7340 und 17/7341 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes - Drucksache 17/7020 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 17/7378 - Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dr. Daniel Volk Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll ge- nommen werden.1) Deswegen kommen wir sofort zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7378, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7020 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausgrenzung stoppen - Alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes in das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen - Drucksachen 17/6455, 17/7278 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Tauber Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Paul Lehrieder von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben heute wieder einmal einen Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD zu behandeln und stellen fest: Der Antrag würde Sinn ma- chen, wäre er denn vor knapp sieben Jahren eingebracht worden. Sie monieren in Ihrem Antrag die Ausgrenzung von bedürftigen Kindern im Sozialbereich. Das hat man damals schlichtweg übersehen; das haben Sie in Ihrer 1) Anlage 21 rot-grünen Regierungszeit übersehen. Jetzt, da Sie in der Opposition sind, veranstalten Sie ein Riesenlamento. Sie fordern, dass wir an dieser Stelle im Asylbewerberleistungsgesetz nachbessern. Das passt nicht zusammen. Sie hätten das bei Einführung der SGB-II-Regelungen in Ihrer Regierungszeit mit abdecken können. Sie hätten den bedürftigen Kindern bereits vor sechs, sieben Jahren Bildungsmöglichkeiten gewähren können. Das haben Sie nicht getan. Jetzt zu schimpfen und zu sagen: „Es geht uns nicht schnell genug“, ist zu billig und auch zu dieser weniger prominenten Uhrzeit nicht angebracht. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen selbst, was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Die christlich-liberale Koalition hat zunächst einmal die von Ihnen zu verantwortende Ausgrenzung bedürftiger Kinder gestoppt, um das mit aller Deutlichkeit zu sagen. Es ist schade, dass Sie sich in der Einbringung populistischer Anträge üben, statt uns mit konstruktiver Oppositionsarbeit zu begleiten. Der Antrag der SPD ist ein gutes Beispiel für eine wenig zielführende Oppositionsarbeit. Er ist populistisch. Er befasst sich mit einem Sachverhalt, dessen Problematik längst erkannt wurde und für den bereits Lösungen erarbeitet worden sind. Sie dürfen davon ausgehen, dass dieser christlich-liberalen Koalition die Bildungsangebote für Kinder sehr wohl am Herzen liegen. Da brauchen wir Ihre Unterstützung nicht. ({1}) Ihr Antrag läuft darüber hinaus größtenteils in Leere, da seine Inhalte in die Kompetenz der Länder fallen. Es ist fast wie bei der vorherigen Debatte: Wir haben über Hochschulpolitik diskutiert und dabei verkannt, dass bei diesem Thema auch die Länder mitzureden haben. Hier ist es genauso; ich komme im Detail noch darauf zu sprechen. Außerdem kommt Ihr Antrag zum falschen Zeitpunkt, nämlich knapp sieben Jahre zu spät. Ich bin geduldig genug, Ihnen den Sachverhalt an dieser Stelle noch einmal zu erklären. Das Bildungs- und Teilhabepaket, mit einem Umfang von immerhin 1,6 Milliarden Euro, gibt bedürftigen Kindern aus Geringverdienerfamilien mehr Zukunftschancen. Es ermöglicht rund 2,5 Millionen jungen Menschen die Teilnahme an Schulausflügen, die Wahrnehmung sportlicher Aktivitäten, die Teilhabe an Musik und Kultur und die Teilnahme am Mittagessen in der Schule, im Kinderhort oder in der Kita. Liebe Sozialdemokraten, Sie sehen, dass wir zunächst einmal Ihr Versäumnis beheben mussten. Das haben wir gern gemacht, im Interesse der Kinder. Auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene „haben nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes … Anspruch auf die Leistungen für Bildung und Teilhabe analog dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch …“, um aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken, Drucksache 17/5633, zu zitieren. Auch nach § 3 berechtigte Kinder und Jugendliche mit einer kürzeren Aufenthaltsdauer als 48 Monate können Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten, allerdings nur als Ermessensleistung. Dieses Ermessen liegt im Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Behörde vor Ort, also bei den Ländern und Kommunen. Da der Bund hier zudem eindeutig nur für die Rahmengesetzgebung zuständig ist, läuft Ihr Antrag bereits aus diesem Grund leider ins Leere. ({2}) Nichtsdestotrotz wird ebendiese Ermessensleistung gerade überprüft, lieber Herr Kurth. Dies belegt ein weiteres Zitat aus der eingangs erwähnten Antwort der Bundesregierung: Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3 AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungen für Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfung der Bemessung der Leistungssätze. Diese Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Auch dies hätten Sie bei aufmerksamem Lesen längst selbst herausfinden können. Die Bundesregierung plant - das möchte ich festhalten - die Anpassung der Regelsätze im Asylbewerberleistungsgesetz und will bis Ende des Jahres Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung entwickeln und vorstellen. Liebe Sozialdemokraten, wir haben uns des Themas angenommen und müssen nun abwarten, was die Prüfungen ergeben. Dass wir gute Voraussetzungen für alle Kinder in unserem Land schaffen wollen, steht völlig außer Frage. Hier sind wir gar nicht weit auseinander. Kinder sind der Keim unserer Gesellschaft. Die christlich-liberale Koalition eröffnet allen Kindern Chancen und fördert deren Potenziale und Talente - völlig unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund. ({3}) - Sie hätten ja mitklatschen können, Frau Kollegin Kramme, dann wäre es lauter gewesen. ({4}) Sie können davon ausgehen: Die Bildungschancen der Kinder aus allen Familien sind bei uns in guten Händen. Wir freuen uns auf Ihre kritische Begleitung. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute gemeinsam die Chance, ein Stück mehr soziale Gerechtigkeit für die ärmsten Kinder in unserem Land herzustellen. Auch Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, haben diese Chance. Nach Ihrer Rede, Herr Kollege Lehrieder, fürchte ich allerdings, dass es schlecht aussieht. Es geht um rund 40 000 Flüchtlingskinder, deren Existenz über das Asylbewerberleistungsgesetz abgedeckt wird und die bis zu vier Jahre in unserem Land sind. Es sind Kinder, die oft unter traumatisierenden Umständen mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sind, um hier überleben zu können. Sie stammen aus dem Irak, aus Afghanistan, dem Kosovo, aus Syrien, Nigeria und anderen Ländern, die von Krieg und Unruhen gekennzeichnet sind. Sie wären sicherlich lieber bei ihren Verwandten und Freunden geblieben. Die Not hat sie zu uns in ein für sie fremdes Land getrieben. Wie begegnen wir diesen Flüchtlingskindern? Zeigen wir Mitleid mit ihrem Schicksal? Nein, das tun wir nicht. Wir schicken diese Kinder in Sammelunterkünfte, verweigern ihnen notwendige medizinische und psychologische Betreuung und speisen sie mit Leistungen ab, die deutlich unter denen für bedürftige deutsche Kinder liegen. Sie müssen mit bis zu 40 Prozent weniger Regelsatz auskommen. Das ist beschämend und verstößt gegen die Menschenwürde und unser Grundgesetz. ({0}) Der Gipfel der sozialen Kälte ist jedoch, dass die Bundesregierung diesen Kindern noch nicht einmal das Bildungs- und Teilhabepaket gewährt, das die Bundesverfassungsrichter für bedürftige Kinder ausdrücklich eingefordert haben. ({1}) Das bedeutet für viele Flüchtlingskinder ganz konkret: kein warmes Mittagessen in Kita und Schule, keine finanzielle Unterstützung bei Teilhabe an Sport und Kultur, keine Lernförderung, keine Kostenerstattung für Schülerbeförderung, kein Geld für Klassenfahrten und Ausflüge, keine 100 Euro jährlich für Schulbedarf. Erst nach vier langen Jahren erhalten Flüchtlinge Leistungen analog zur Sozialhilfe. Dann haben auch diese Kinder einen Rechtsanspruch auf höhere Regelsätze und das Bildungs- und Teilhabepaket. Vier Jahre sind eine lange Zeit, gerade für Kinder, die schlimme Zeiten von Flucht und Vertreibung aus gewohnter Umgebung verarbeiten müssen. Förderung in Kita und Schule und Teilhabe, zum Beispiel im Sportverein, sind wichtige Hilfestellungen, die diese Kinder dringend brauchen. Staatsministerin Emilia Müller aus Bayern hat da jedoch eine andere Einstellung. Sie lehnte im Bundesrat das Bildungs- und Teilhabepaket für diese Flüchtlingskinder für Bayern und Hessen mit der Begründung ab ich zitiere -: Einer … Einbeziehung in das Bildungs- und Teilhabepaket bedarf es aus Sicht von Bayern und Hessen nicht. Dies gilt insbesondere für integrative Leistungen wie Vereinsbeiträge, da hier der nur vorübergehende Aufenthalt von Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu berücksichtigen ist. Vier Jahre sind weiß Gott kein vorübergehender Aufenthalt. ({2}) Vier Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Schwarz-Gelb zeigt: Zwei Jahre sind eigentlich schon zu viel. ({3}) Wir debattieren heute nicht das erste Mal über unseren Antrag für ein Bildungs- und Teilhabepaket auch für Flüchtlingskinder. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, haben erklärt, dass Sie einen Rechtsanspruch für nicht erforderlich halten. Es sei den Ländern und Kommunen schließlich nicht verboten, diesen Kindern Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket zu gewähren. Sie verweisen dabei auf § 6 Asylbewerberleistungsgesetz, der sonstige Leistungen zulasse. Ich gebe Ihnen recht: Theoretisch wäre es durchaus möglich, dass Flüchtlingskinder in ganz Deutschland bessere Bildungs- und Teilhabechancen bekommen. Doch hier geht es nicht um Theorie, sondern um knallharte Praxis. Diese kann von Bundesland zu Bundesland, von Stadt zu Stadt, von Landkreis zu Landkreis eben sehr unterschiedlich aussehen. Das bedeutet über 400 verschiedene zuständige Behörden. Weil das in Deutschland so ist, hat das Bundesverfassungsgericht uns Bundespolitiker aufgefordert, für gleichwertige Bildungs- und Teilhabechancen in ganz Deutschland zu sorgen. Aus diesem Grund wurde schließlich das Bildungsund Teilhabepaket überhaupt auf den Weg gebracht. Die Länder tragen die Verantwortung für die Bildungspolitik. Darauf haben auch wir uns unter rot-grüner und rot-schwarzer Regierung, Herr Kollege Lehrieder, verlassen. Aber wir mussten eben lernen, dass das anders ist. Das Bundesverfassungsgericht hat uns dies ins Stammbuch geschrieben. Wir, der Bundestag, müssen gleichwertige Bildungs- und Teilhabechancen für alle Kinder in Deutschland sicherstellen. Natürlich sind damit auch die Flüchtlingskinder, die bei uns leben, gemeint. Alles andere wäre doch absurd. ({4}) Ohne ein entsprechendes Rahmengesetz ist es den Ländern und Kommunen jedoch völlig freigestellt, ob sie den Kindern Bildungschancen gewähren oder eben nicht. Das dürfen wir nicht zulassen. ({5}) Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, unserem Antrag zur Einbeziehung von Flüchtlingskindern in das Bildungs- und Teilhabepaket zuzustimmen und endlich ein entsprechendes Rahmengesetz auf den Tisch zu legen. Ohne einen solchen Rechtsanspruch für alle Kinder und Jugendlichen ist es möglich, dass ein Flüchtlingskind, das noch keine vier Jahre in Deutschland ist, anders behandelt wird als ein Flüchtlingskind, das länger als 48 Monate bei uns lebt. Beide Flüchtlingskinder besuchen die gleiche Schule, gehen in dieselbe Klasse. Das eine Kind bekommt die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets, das andere nicht. Ungerechter geht es wohl nicht! Inzwischen haben auch die Bundesländer eingesehen, dass dies ein unhaltbarer Zustand ist. 13 der 16 Bundesländer fordern genau wie die SPD-Bundestagsfraktion eine einheitliche Rahmengesetzgebung auch für Kinder im Regelkreis des Asylbewerberleistungsgesetzes. Das, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, sollte Sie aufhorchen lassen. Ihre eigenen Parteifreunde fordern Sie zum Handeln auf. Wenn Sie schon nicht auf uns hören wollen, so hören Sie auf Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Landtagen. Reden Sie sich nicht länger mit fehlender Zuständigkeit und damit heraus, dass die Bundesregierung bereits prüfe. Wie lange soll die Ungleichbehandlung der Kinder denn noch dauern? Wie lange wollen Sie dieses beschämende Unrecht in unserem Land zulassen? Der Rechtsanspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket für alle Kinder ist der erste Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Mit diesem Schritt sind wir jedoch noch lange nicht am Ende des Weges angekommen. Das gesamte Asylbewerberleistungsgesetz muss reformiert werden. ({6}) Die Grundsicherung entspricht nicht dem Urteil der Bundesverfassungsrichter. Sie ist verfassungswidrig. ({7}) Hier muss dringend etwas geschehen. Wir werden dazu einen Antrag vorlegen. Tun Sie heute etwas für die Kinder, und unterstützen Sie uns anschließend bei der längst überfälligen Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Hiller-Ohm, manches, was Sie außerhalb des Bildungs- und Teilhabepaketes am Asylbewerberleistungsgesetz kritisiert haben, besteht nun schon seit 1993. ({0}) In der Zwischenzeit - ich habe Ihrer Rede gelauscht gab es auch sieben Jahre mit rot-grüner Bundesregierung. Wenn das alles so skandalös ist, dann ist doch die Frage zu stellen, warum Sie das in diesen sieben Jahren nicht geändert haben. ({1}) - Ich habe gesagt: alles, was außerhalb des Bildungsund Teilhabepaketes zum Asylbewerberleistungsgesetz von Ihnen gesagt worden ist. Dazu haben Sie auch noch Worte gefunden. ({2}) Ich möchte darauf hinweisen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz Ergebnis eines großen Konsenses in der Politik ist, den damals Oskar Lafontaine - damals noch für die SPD - mit verhandelt hat. Insofern sollten Sie, liebe Frau Hiller-Ohm, wenn Sie insgesamt so viel kritisieren, auch kritisch zu sich selber sein und fragen: Was haben Sie in Ihrer Regierungszeit gemacht? ({3}) Jetzt, liebe Frau Hiller-Ohm, geht es in der Tat um Ihren Antrag. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, Kindern und Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich im Leistungsbezug nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes befinden, umgehend einen Rechtsanspruch auf die Leistungen des Bildungsund Teilhabepaketes zu gewähren. Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, fordern Sie, dass der Bund den Rechtsanspruch eröffnet und die Länder zur Finanzierung des Bildungs- und Teilhabepaketes für Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene verpflichtet, nach dem Motto: Der Bund bestellt, die Länder bezahlen. ({4}) - Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Frau HillerOhm. - Es ist in der Tat nicht unsachgerecht, was Sie fordern; denn es entspricht insgesamt der Systematik des Asylbewerberleistungsgesetzes, bei dem der Bund den gesetzlichen Rahmen beschreibt, den die Länder dann erfüllen und ausfüllen. Ich möchte aber doch etwas zu bedenken geben: Wenn wir uns klarmachen - darauf haben auch Sie verwiesen -, dass wir insgesamt vor der Aufgabe stehen, das Asylbewerberleistungsgesetz zu reformieren, und wenn wir uns klarmachen, dass es sich dabei um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt, dann ist es meines Erachtens nur sachgemäß, wenn wir die Länder frühzeitig in die Beratungen einbeziehen. Deshalb ist es völlig richtig, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Länder eingeladen hat, sich frühzeitig an dem Prozess der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes zu beteiligen. ({5}) Wir sind also gemeinsam in einem Prozess, das Asylbewerberleistungsgesetz zu überarbeiten. In diesem Prozess sollten wir auch die Frage beantworten, ob und inwieweit Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene berechtigt sein sollen, Leistungen aus dem Bildungsund Teilhabepaket zu bekommen. Wenn wir uns aber daran erinnern, wie schwierig und langwierig sich die Verhandlungen um die Neufestsetzung der Hartz-IV-Regelsätze im Vermittlungsausschuss dargestellt haben, wie schwierig es war, am Ende zu einem guten Kompromiss zu kommen, finde ich es - wie gesagt - sinnvoll, wenn wir uns die Zeit nehmen, frühzeitig gemeinsam mit den Ländern eine Lösung zu erarbeiten. ({6}) Wir sollten auch beachten, dass in wenigen Wochen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ansteht. ({7}) Meines Erachtens wäre es sinnvoll, auch diese richterliche Rechtsprechung in die Beratungen einzubeziehen. Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, befinden wir uns in einem laufenden Prozess um das Asylbewerberleistungsgesetz, in dem wir die Fragen insgesamt beantworten sollten. Sie selber haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Länder, wenn sie möchten, nach § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes den Kindern schon jetzt diese Leistungen gewähren können. Einzelne Länder tun dies; auch das haben Sie zu Recht bemerkt. Andere Länder tun es nicht, auch SPD-regierte Länder. Da gibt es Gesprächsbedarf. Miteinander werden wir, glaube ich, zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Ich denke, diese Zeit sollten wir uns nehmen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Kollegin Diana Golze hat ihre Rede zu Proto- koll1) gegeben. Damit erteile ich Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kober, wenn ich Sie über die anstehenden und un- 1) Anlage 20 zweifelhaft notwendigen Änderungen beim Asylbewerberleistungsgesetz und speziell bei der Höhe der Regelsätze reden höre, bin ich schon sehr verwundert. Am 9. Februar 2010 ist das Verfassungsgerichtsurteil zu den Arbeitslosengeld-II-Regelsätzen verkündet worden. Damit war klar, dass die wesentlich niedrigeren und seit den 90er-Jahren nicht mehr erhöhten Sätze im Asylbewerberleistungsgesetz ebenfalls angepasst werden müssen. Sie verschleppen den Prozess mutwillig. Das ist die Wahrheit. Dass Sie die Abstimmung mit den Ländern suchen, trifft nicht zu. ({0}) Die Kollegin Hiller-Ohm hat darauf hingewiesen, dass die Länder weitaus mehrheitlich - es sind 13 Bundesländer - zumindest diese kleinen Änderungen beim Bildungs- und Teilhabepaket wollen. Die Bundesregierung hätte längst die Gelegenheit gehabt, zum Ende dieses Jahres nicht nur Eckpunkte, sondern einen Gesetzentwurf mit der Neufestsetzung der Regelsätze vorzulegen. Statt uns wieder in Retroschallplatten zu ergehen, wer wann was hätte machen können, sollten wir uns noch einmal sachlich vergegenwärtigen, worum es eigentlich geht. Ich zitiere in diesem Zusammenhang die Sachverständige Professor Dr. Frings, die in einer Anhörung zum Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ganz klar festgestellt hat, dass alle Flüchtlingskinder, die regulär im Kindergarten oder in der Schule eingebunden sind, bei einer Sonderbehandlung gegenüber anderen Kindern, was Bildungszugänge und Schulbücher anbelangt, stigmatisiert und ausgegrenzt sind. Sie hat weiter ausgeführt, es sei ein Wertungswiderspruch, wenn es einerseits eine Schulpflicht für diese Kinder und einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gebe, ihnen aber andererseits Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket vorenthalten würden. ({1}) Es ist auch vernünftig, ihnen die vollen Zugänge zu Bildung zu ermöglichen, und zwar nicht erst dann, wenn diese Kinder vier Jahre in Deutschland sind. Eine solche Stigmatisierung und Ausgrenzung sind zudem teuer, wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte dieser Kinder dauerhaft in unserem Land bleiben. Ich zitiere noch einmal Frau Professor Frings: Wenn wir sie in dieser Phase der ersten Jahre in dieser Weise ausgrenzen, dann zerstören wir die Möglichkeit, dass sie zu unserem Humankapital beitragen, und es ist auch volkswirtschaftlich sehr bedauerlich, dass wir Hinderungsgründe setzen, die erschweren, dass hier qualifizierte junge Menschen heranwachsen können. Darum geht es im Kern. Unter anderem aus diesem Grunde wäre es geboten, diesen Kindern wenigstens die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zugutekommen zu lassen. Das wäre sogar aufgeklärter Eigennutz, wenn Sie schon das christliche Motiv der Nächstenliebe nicht interessiert. ({2}) Ich stelle aber abschließend fest, dass dies ein sehr kleiner Schritt ist. Meine Fraktion ist der Ansicht, dass es mit einer Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht getan ist. Dieses Gesetz hat seine Untauglichkeit bewiesen. Wir meinen, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Menschenwürde auf alle in Deutschland lebenden Menschen - dazu gehören auch Flüchtlinge - ausgedehnt wird. Das Asylbewerberleistungsgesetz gehört aus diesem Grunde nicht reformiert, sondern schlicht und ergreifend abgeschafft. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zum Schluss der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt erhält Kollege Peter Tauber für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD kritisiert in ihrem Antrag, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einen Rechtsanspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben. Darüber kann man trefflich streiten. An dem Antrag ist aber zu kritisieren, dass darin der Eindruck erweckt wird, asylsuchende Kinder und Jugendliche würden in Deutschland systematisch ausgegrenzt und benachteiligt. ({0}) Das ist definitiv nicht der Fall, wie auch die Praxis vor Ort in den Kommunen zeigt. Der vorliegende Antrag ist identisch mit einer Bundesratsinitiative vom September dieses Jahres. Wider besseres Wissen behaupten Sie einiges, von dem ich glaube, dass es klargestellt werden sollte. Erstens. Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene können sehr wohl Leistungen aus dem Bildungsund Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das ist unstrittig. Vor Ort in den Kommunen werden die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket sehr wohl auch Kindern aus Asylbewerberfamilien gewährt. Zweitens. Alle Beteiligten wissen auch, dass die Leistungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz Gegenstand der laufenden Beratungen zwischen Bundesarbeitsministerium, Innenministerium und den Ländern sind. Ich bin ganz sicher, dass der Staatssekretär, der auch heute der Debatte folgt, aber auch die Kollegen hier diese Beratungen begleiten, und zwar im positiven Sinne und im Sinne der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Drittens. Die Möglichkeit, den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket zu gewähren, ist laut dem Flüchtlingsrat in Berlin - das ist keine Gliederung der CDU - bereits in 13 Bundesländern geregelt. Es gibt zwar in einigen Bundesländern somit Nachholbedarf, aber es gibt bereits eine Regelung in diesem Bereich. Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben das Land Hessen erwähnt. Sie hatten vielleicht nicht den aktuellen Sachstand. Ich kann aus einer Auskunft des hessischen Sozialministeriums vom 22. August dieses Jahres zitieren. Das Sozialministerium schreibt dem Hessischen Städtetag: Aus hiesiger Sicht steht daher nichts im Wege, bei entsprechenden Anträgen jugendlichen Grundleistungsempfängern nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zunächst auf Grundlage des § 6 Asylbewerberleistungsgesetz als sonstige Leistung zu gewähren. - Also, auch in Hessen ist das gängige Praxis. ({1}) Vielleicht lesen Sie das einmal nach und bringen Ihre Unterlagen auf den aktuellsten Stand. ({2}) Richtig ist auch, dass durch die Zuständigkeit für die Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes es den Kommunen freisteht, den Kindern und Jugendlichen Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zukommen zu lassen. Sie dürfen dies eben nicht mit Bundesmitteln bezahlen, so wie generell die Kosten von den Kommunen in diesem Bereich getragen werden müssen. Wir haben bereits in der Ausschussdebatte darauf hingewiesen, was wir seit Beginn dieses Jahres alles auf den Weg gebracht haben, um die Kommunen zu entlasten. Ich glaube, dass eine grundsätzliche Regelung getroffen werden muss, aber es muss nicht zwingend um eine Kostenübernahme des Bundes gehen. Darüber wird noch zu sprechen sein. Ich möchte es wiederholen: Grundsätzlich können die Kinder und Jugendlichen die Leistungen des Bildungsund Teilhabepakets in Anspruch nehmen. Die Frage, warum Sie, die Sie sich für die Abschaffung dieses Gesetzes in toto so stark machen, das Gesetz nicht schon früher abgeschafft haben, müssen Sie sich stellen lassen. ({3}) - Sie haben es versucht, aber Sie haben es nicht geschafft. ({4}) Wir geben jetzt Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, am Bildungspaket teilzuhaben. Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke geantwortet: Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3 AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungen für Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfung der Bemessung der Leistungssätze. Diese Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Das wurde in der Debatte schon mehrfach erwähnt. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole - der Erfolg der Pädagogik liegt manchmal in der Wiederholung -: Es ist jetzt schon möglich und in 13 Ländern, nicht nur in SPD-regierten Bundesländern, gelebte Praxis, dass Kinder, die nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt sind, diese Leistungen in Anspruch nehmen können und gewährt bekommen. Wir haben uns des Themas angenommen. Sie wissen, dass die Bundesländer, das Innenministerium und das Arbeits- und Sozialministerium den Sachverhalt zum Wohle der Kinder und Jugendlichen prüfen. Wir sollten den Ergebnissen nicht vorgreifen. Ich bin mir sicher, dass die Länder und Kommunen schon jetzt ihrer Verantwortung in diesem Bereich im Sinne der Kinder und Jugendlichen gerecht werden. Darauf kommt es an. Langer Rede kurzer Sinn: Wir haben das Thema auf der Tagesordnung. Die Gespräche laufen. Ihr Antrag ist entbehrlich und daher von uns abzulehnen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Ausgrenzung stoppen Alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes in das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7278, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6455 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels - Drucksachen 17/7316, 17/7368 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Elisabeth Winkelmeier-Becker, Norbert Geis, Dr. Eva Högl, Sibylle Laurischk, Andrej Hunko und Memet Kilic.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/7316 und 17/7368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Missbrauch von Werkverträgen verhindern Lohndumping eindämmen - Drucksache 17/7220 ({1}) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Einige Kollegen geben ihre Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Kollegen Gitta Connemann, Ulrich Lange und Pascal Kober.2) Damit erteile ich zunächst Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke das Wort. ({3})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor circa einem Dreivierteljahr kam ein Kol- lege zu mir mit der Bitte, seinen Arbeitsvertrag zu über- prüfen. Der Kollege war Leiharbeitnehmer bei der Firma Adecco in meiner Region, und sein Vorgesetzter hatte ihm einen neuen Arbeitsvertrag gegeben, jetzt von der Firma Adecco Outsourcing GmbH. Der Vorgesetzte hatte das mit der Aussage gemacht, es sei alles gleich ge- blieben - Lohnhöhe, Urlaub -, nur der Firmenname habe sich geändert. Dem Kollegen war klar, dass er, bevor er unter- schreibt, sein Recht in Anspruch nimmt, den Arbeitsver- trag von seiner Gewerkschaft überprüfen zu lassen, und das hat er klugerweise gemacht. Der neue Arbeitsvertrag war jedoch ein tiefer Einschnitt in seine bisherigen Lohnleistungen und Rechte. Mit der Unterschrift wäre mein Kollege kein Leiharbeitnehmer mehr gewesen, sondern Werkvertragsarbeitnehmer. Die - wenn auch schlechten - Tarifverträge gelten für Leiharbeitnehmer, nicht für Werkvertragsarbeitnehmer. Die Möglichkeit, den Betriebsrat im Entleihbetrieb in Anspruch zu neh- men, gilt nicht für Werkvertragsarbeitnehmer. Das Recht, den Betriebsrat im Entleihbetrieb mit zu wählen, 1) Anlage 23 2) Anlage 22 gilt nicht für Werkvertragsbeschäftigte. Wenn vor einem Dreivierteljahr „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ im Gesetz vereinbart worden wäre, hätte es nicht für Werkvertragsbeschäftigte gegolten. Sie sind ja keine Leiharbeitnehmer. Die ganze Zeit wird darüber gesprochen, dass die Zahl der Leiharbeitnehmer über 1 Million ansteigen soll. Vielleicht haben sich alle schon einmal gefragt: Wieso ist sie noch nicht über 1 Million gestiegen? Ich habe eine aktuelle Zahl gelesen. Im August 2011 waren es 909 000 Leiharbeitnehmer, nicht mehr. Ich behaupte, ganz viele von denen sind nun in anderen Arbeitsverhältnissen, in Outsourcing GmbHs, die mittlerweile jede Verleiharbeitsfirma hat. Sie sehen, was da passiert ist, wenn Sie einmal ins Internet schauen. Woher kommen Werkverträge? Historisch gesehen sind sie kein Problem. Jeder Handwerker arbeitet, indem er völlig selbstständig eine genau definierte Arbeit verrichtet, ohne dass der Arbeitgeber ihm bei der Erfüllung seiner Aufgabe hineinredet. Beispiele sind die Reparatur eines Autos durch einen Kfz-Mechaniker oder der Einbau einer Steckdose durch einen Elektriker. Bis hier gibt es keine Probleme, und daran gibt es auch nichts zu kritisieren. Ein Problem ist es dann, wenn Werkverträge als verdeckte Leiharbeit, sprich Scheinwerkverträge, oder Outsourcing ganzer Abteilungen mit dem Ziel der Kosteneinsparung genutzt werden. Ergebnis ist eine Aufspaltung und Entsolidarisierung ganzer Belegschaften und Betriebe. Ähnlich wie bei der Leiharbeit verdienen Werkvertragsbeschäftigte 30 bis 50 Prozent weniger als die Stammbelegschaft, ({0}) und das noch ohne kollektiven Schutz und ohne kollektive Rechte. Für die Linke ist klar: Wer unsichere Beschäftigung bekämpfen will, muss auch eine Antwort auf den zunehmenden Missbrauch von Werkvertragsbeschäftigung haben. ({1}) Wir haben in unserem Antrag klar dargelegt, welche Maßnahmen der Gesetzgeber hierfür ergreifen muss. Dazu gehört zwingend, ein Gesetz vorzulegen, welches das Vorliegen eines Scheinwerkvertrages definiert. Stimmen der Arbeitsvertrag und das dann realisierte Arbeitsverhältnis nicht überein, müssen den Beschäftigten gesetzlich die Anrechte auf die im Betrieb üblichen Entgelte zugesprochen werden. Gleiches Geld für gleiche Arbeit auch für diese Werkvertragsbeschäftigten! Außerdem will die Linke den Betriebsräten ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei der Vergabe von Aufgaben an Fremdfirmen geben. Dafür muss das Betriebsverfassungsgesetz geändert werden. Diese Regierung hat bis jetzt immer versagt, wenn es darum ging, die Beschäftigten vor Lohndumping zu schützen. Das Gesetz von Frau von der Leyen in Sachen Leiharbeit war eine Nullnummer und hat nichts gebracht - außer der Festschreibung der Lohnungleichheit in Ost und West. Es wird Zeit, dass in diesem Haus endlich etwas unternommen wird, um dem unsäglichen Lohndumping mancher Unternehmen etwas entgegenzusetzen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Debatte. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier häufig darüber, wie Arbeit in unserem Land entlohnt wird. Wir verfallen dabei meistens in die gleichen Denkmuster: Die linke Seite des Hauses klagt Lohndumping an. Die rechte Seite des Hauses betont, dass es bei den Arbeitgebern vielleicht einzelne schwarze Schafe gebe, die ihre Mitarbeiter schlecht bezahlten, dass es aber Sache der Tarifpartner sei, für faire Löhne zu sorgen. Sosehr wir auch über dieses Thema streiten müssen, sollten wir dabei die Frage nicht vergessen: Wie viel ist uns Arbeit eigentlich wert? Bei den Unternehmen und in der ganzen Gesellschaft ist der Werbeslogan „Geiz ist geil“ zu einem Lebensmotto geworden. Überall wird daran gewerkelt, wie man für möglichst wenig Geld möglichst viel Leistung erhält. In den Einkaufs- und Personalabteilungen wird nicht mehr die Frage gestellt, wie viel uns die Arbeit wert ist, sondern es wird gefragt: Wer erledigt die Arbeit am billigsten für uns? Das mag bis zu einem gewissen Grad eine betriebswirtschaftliche Logik haben. Aber das, was derzeit in unserer Republik passiert, hat keine betriebswirtschaftliche Logik mehr, sondern ist eine Zerstörung unserer volkswirtschaftlichen Grundlage. ({0}) Die Unternehmen geben den Wettbewerbsdruck immer stärker an die Beschäftigten weiter. Daher ertönt vielerorts der Ruf nach Leiharbeit und Werkverträgen. Damit werden keine eigenen Mitarbeiter mehr im Unternehmen beschäftigt, sondern das Risiko wird auf den Subunternehmer verlagert, der mit seinen Mitarbeitern bei schlechter Auftragslage von jetzt auf gleich abgeschoben werden kann. Der Druck, der auf dem Subunternehmer lastet, wird potenziert auf die Arbeitnehmer übertragen. So entstehen massenhaft sogenannte Randbelegschaften. Die Stammbelegschaften in den Unternehmen werden immer kleiner. Leiharbeit, Fremdfirmen und Outsourcing bestimmen das Personal der Unternehmen. Das führt zu einer Entsolidarisierung im Betrieb. Ich wage es gar, von einem Vierkastensystem zu sprechen. Die erste Kaste sind die oft reichlich bezahlten Führungskräfte. An zweiter Stelle steht die Stammbelegschaft, unbefristet und einigermaßen anständig entlohnt. Die dritte Kaste sind die befristet Beschäftigten, die mit großer Unsicherheit leben müssen. Ganz unten, in der vierten Kaste, finden wir Leiharbeiter und Werkverträge, um die sich das Stammunternehmen einen feuchten Kehricht schert. Die Betriebsräte erhalten dabei immer weniger Einfluss. In den Unternehmen wird diese Personalpolitik zunehmend in der Einkaufsabteilung betrieben. Denn die Arbeitnehmer werden, wie sonst Büromaterial oder Maschinen, eingekauft und nicht mehr angestellt. Das zeigt, dass die Arbeitskraft nur noch als betriebswirtschaftlicher Faktor gesehen wird. Die Arbeit ist zur Ware geworden. Es geht nicht mehr darum, einen Menschen mit seinen Fähigkeiten und seinem Know-how anzustellen. Hier ist die Frage, was die Arbeit wert ist, vollkommen ins Hintertreffen geraten. Die Folgen dieser Personalpolitik sind verheerend. Die Arbeitnehmer müssen mit immer weniger Lohn auskommen und zu immer schlechteren Bedingungen arbeiten. Die Betriebsräte müssen damit kämpfen, dass die Tarifverträge durch externe Arbeit, durch Leiharbeit und Werkverträge immer weiter unterwandert werden. ({1}) Zudem wird Mitbestimmung immer schwieriger. Bei Werkverträgen beispielsweise können die Betriebsräte gar nicht mitreden. Aber auch für die Unternehmen - das möchte ich besonders betonen - entstehen zahlreiche langfristige Nachteile. Die Arbeitnehmer identifizieren sich nicht mehr mit ihrem Unternehmen. Wenn die Arbeitnehmer wissen, dass sie in ihrem Unternehmen keine Beschäftigungsperspektive haben, werden die Arbeitsergebnisse schlechter, und dann sinkt die Produktivität. Auch die Innovationsfähigkeit sinkt; denn Ideen der Arbeitnehmer zur Verbesserung werden nicht mehr aufgenommen. Zudem besteht auch ein Problem der Steuerung. Wie kann ein Unternehmen eine Belegschaft einlernen, die dauernd wechselt? Wie können hier Prozesse angestoßen werden? Eingespielte Arbeitsabläufe werden durch häufigen Personalwechsel gestört. Auch das Image des Unternehmens leidet, zum Beispiel bei der Fachkräftesicherung. Wer will denn schon bei einem Unternehmen anfangen, das für schlechte Arbeitsbedingungen bekannt ist? Leiharbeit und Werkverträge sind zudem nur für die Einkaufsabteilung so billig. Versteckte Kosten wie Einarbeitungszeit oder Qualitätsmängel in der Produktion werden hier nicht mitberechnet. Das zeigt: Die Personalpolitik, die in den Einkaufsabteilungen der Unternehmen gemacht wird, ist nicht zukunftsfähig. ({2}) Der kurzfristige Profit nach betriebswirtschaftlicher Logik zerstört den langfristigen Erfolg unserer ganzen Volkswirtschaft. Das so hoch gelobte Modell der Tarifparteien wird durch die Entsolidarisierung im Betrieb ausgehöhlt. Immer mehr Menschen, die durch diese Personalpolitik schlechte Löhne erhalten, müssen aufstocken und brauchen staatliche Leistungen. Das belastet unseren Staatshaushalt und ist keine sinnvolle Sozialpolitik. Langfristig leidet unsere ganze Wirtschaft: Die Kaufkraft nimmt ab, die Qualität der Produkte sinkt, das Know-how unserer Arbeitnehmer verschwindet. Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, diese Analyse kennen auch Sie. Es ist geradezu absurd, wenn Ihre Ministerin von der Leyen immer wieder betont, ihr sei kaum Missbrauch in der Leiharbeit und bei den Werksverträgen bekannt. Ich kann Ihnen erklären, woran das liegt: Wer die Unternehmen nicht ausreichend kontrolliert, findet auch keine Verstöße. ({3}) Das ist wie im Straßenverkehr: Wenn die Polizei keinen Blitzer aufstellt, weiß man nicht, wie viele Leute zu schnell um die Kurve fahren. Nach der Logik von Frau von der Leyen hieße dies aber, dass auch niemand zu schnell fährt. Man hat ja keine Beweise. Hier müssen wir dringend in eine andere Richtung steuern. ({4}) Es ist bezeichnend, dass der Konzern, der früher mit „Geiz ist geil“ geworben hat, heute damit wirbt, den „ersten Preis ohne den Preis-Irrsinn“ zu haben. In diesem Sinne müssen wir auch in der Politik umsteuern. Wir brauchen wieder Löhne ohne diesen Niedriglohnirrsinn. Wir brauchen reguläre und faire Beschäftigung. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Durch den sogenannten SchleckerSkandal wurden die Methoden des Lohndumpings in der Leiharbeit bekannt. Selbst die Bundesregierung musste dieses Jahr in dieser Sache endlich tätig werden. Doch die Lohndrückerei in Deutschland geht weiter. Schon die minimalen Regulierungen bei der Leiharbeit schrecken manche Unternehmen ab. Da verlegt man sich lieber auf Werkverträge; denn diese bergen alle unternehmerischen Vorteile und noch mehr. Bei Werkverträgen gibt es nämlich keinen Mindestlohn, und häufig fehlen Tarifverträge. Außerdem existiert keine Equal-Pay-Regelung. Werkverträge sind also ein weiteres Instrument für Lohndumping. Wir werden weiter für die Rechte der Beschäftigten streiten müssen. Im Bremer Einzelhandel beispielsweise beträgt der Einstiegsstundenlohn nach dem Tarifvertrag von ver.di 10,20 Euro; Leiharbeitskräfte verdienen nach Mindestlohn wenigstens noch 7,79 Euro. Doch inzwischen räu15766 men Werkverträgler die Regale von Rossmann, Real oder REWE ein; genauso wie zuvor festangestellte Beschäftigte. Und anstatt 10,20 Euro oder wenigstens 7,79 Euro verdienen sie nur noch 6,50 Euro die Stunde. Das kann nicht angehen. So etwas ist für uns nicht akzeptabel. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, es kann mir niemand weismachen, dass das Einräumen von Regalen ein Werk ist: selbstständig und in Eigenregie, ohne Weisung vom Chef der Filiale. Es kann mir auch niemand weismachen, dass die Werkvertragsbeschäftigten nicht in den normalen Betrieb der Filiale eingebunden sind. All dies sind Kriterien, die einen Werkvertrag ausmachen. Wenn diese Kriterien aber nicht vorliegen, dann liegt auch kein Werkvertrag vor. Dann handelt es sich um klassische Leiharbeit, und die muss wenigstens auch wie Leiharbeit bezahlt werden. Alles andere ist zutiefst ungerecht. ({1}) Ein Beleg, dass es sich häufig um Scheinwerkverträge handelt, zeigt auch die Nähe zur Leiharbeitsbranche; das wurde vorhin schon ausgeführt. So bietet beispielsweise „Randstad Outsourcing“ Dienst- und Werkverträge für unbefristete Aufgaben an und bewirbt die Leistung im Internet folgendermaßen - ich zitiere -: Mit Randstad setzen Sie auf: Wahrung der Wettbewerbs-, Wachstums- und Ertragschancen, höhere Unternehmenserträge durch Umwandlung von Personalkosten in planbare Sachkosten … So wird auch für die Leiharbeit geworben - mit „Sachkosten“ sind Menschen gemeint. Für mich ist das alles ziemlich unerträglich. ({2}) Wie kann es angehen, dass sich in unserem Land immer mehr Lohndumping breitmacht und wir inzwischen schon Spitzenreiter in der EU sind? Ich frage mich: Wo bleibt da die soziale Verantwortung in der Arbeitswelt? Wohin treibt unsere Gesellschaft, wenn die Wirtschaft jede kleinste Möglichkeit ausnutzt, um prekäre Beschäftigung auszubauen? ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Nein?

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, das wäre jetzt auch relativ komisch, weil der Herr Kober ja selber hätte reden können. Dann hätte er ja etwas dazu sagen können. ({0}) Die Bundesregierung interessiert das Thema aber nicht, sie sieht keinen Handlungsbedarf. ({1}) Ich habe gerade schon angesprochen, dass kein Handlungsbedarf gesehen wird. Die Regierungsfraktionen sitzen hier. Sie haben die Reden zu Protokoll abgegeben; das heißt, hier wird in keinerlei Weise etwas ernst genommen. Man hätte ja wenigstens zu dem Thema reden können. ({2}) - Sie hätten sich noch die zehn Minuten Zeit nehmen können, um etwas hierzu zu sagen. Das sehe ich schon so. ({3}) Auf jeden Fall nehmen wir das Thema ernst. Wie die Linken wollen auch wir diese weitere Krankheit des deutschen Arbeitsmarkts angehen. Allerdings greift uns die Linke zu sehr in die unternehmerische Freiheit ein. Uns geht es in erster Linie um eine klare und deutliche Abgrenzung zwischen Werkverträgen und Leiharbeit. Wir Grünen diskutieren zurzeit einen Weg, wie diese Leiharbeit unter dem Deckmantel von Werkverträgen enttarnt werden kann und vor allem, welche Kontrollen notwendig sind, um diesen Missbrauch zu stoppen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie dürfen sich also darauf freuen, demnächst in diesem Hause auch unseren Antrag zu diskutieren. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Werte Kolleginnen, wir sollten es nicht einführen, uns wechselseitig vorzuwerfen, wenn jemand eine Rede zu Protokoll gegeben hat. Das sind immer Gentlemen’s Agreements, die wir da eingehen. Daraus sollten wir keinen Vorwurf entwickeln. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7220 ({1}) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes - Drucksachen 17/7317, 17/7369 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Alois Gerig, Gustav Herzog, Christel Happach-Kasan, Alexander Süßmair und Harald Ebner.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

2009 wurde in der Europäischen Union nach schwierigen Verhandlungen zwischen Parlament, Rat und Kommission das EU-Pflanzenschutzpaket beschlossen. Mit dem Paket werden für Pflanzenschutzmittel strenge und einheitliche Standards beim Verbraucher-, Anwender- und Umweltschutz europaweit festgelegt. Das Pflanzenschutzpaket ist ein wichtiger Schritt, um auf dem europäischen Markt für Pflanzenschutzmittel die dringend notwendige Harmonisierung voranzubringen. Wir in Deutschland sollten bei der Umsetzung des Pakets unseren Beitrag dazu leisten, dass diese Zielsetzung erreicht wird. Die Bundesregierung hat zur Umsetzung des EUPflanzenschutzpakets den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes vorgelegt. Der Gesetzentwurf setzt die richtigen Schwerpunkte: Bei Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln haben auch in Zukunft der Schutz von Menschen, Tieren und Umwelt absolute Priorität. Pflanzenschutzmittel sollen dazu beitragen, eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Landwirtschaft in Deutschland zu erhalten. Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln werden in Deutschland so geregelt, dass sie im Einklang mit den europäischen Vorgaben stehen. Wichtig ist die Botschaft an die Verbraucher, dass weder mit dem EU-Pflanzenschutzpaket noch mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung das Schutzniveau abgesenkt wird. Es ist vielmehr so, dass sich das EUPflanzenschutzpaket am hohen deutschen Schutzniveau orientiert. So müssen künftig in allen Mitgliedstaaten die Anwender von Pflanzenschutzmitteln ihre Sachkunde nachweisen und ihre Pflanzenschutzgeräte überprüfen lassen - dies ist in Deutschland bereits vorgeschrieben. Ein weiteres Beispiel ist der integrierte Pflanzenschutz, der ab 2014 in der gesamten EU anzuwenden ist. Integrierter Pflanzenschutz bedeutet, dass im Pflanzenschutz biologische, pflanzenzüchterische und anbautechnische Verfahren Vorrang vor chemischen Mitteln haben. In Deutschland ist dieser Grundsatz bereits gesetzlich festgeschrieben mit dem Ziel, die Pflanzenschutzmittelanwendung auf das notwendige Maß zu beschränken. Neben der Einführung des integrierten Pflanzenschutzes werden alle EU-Mitgliedstaaten darüber hinaus verpflichtet, im Rahmen sogenannter Nationaler Aktionspläne daran zu arbeiten, die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln zu verbessern und Risiken zu minimieren. An diesen Vorgaben des EU-Pflanzenschutzpakets wird ersichtlich, dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln nicht leichtfertig erfolgen soll. Im Rahmen der bestehenden und künftigen Schutzbestimmungen für Verbraucher, Anwender und Umwelt bleibt die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln aber absolut notwendig. Mithilfe von Pflanzenschutzmitteln können sich Landwirte gegen Schädlinge und Krankheiten zur Wehr setzen, die die Erträge in ihren Anbaukulturen empfindlich mindern können. Pflanzenschutzmittel tragen wesentlich zu hohen Erträgen und damit zu einer guten Versorgung mit bezahlbaren Lebensmitteln bei. Nirgendwo auf der Welt werden Lebensmittel so intensiv auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln geprüft wie in Deutschland. Die Überschreitung der Rückstandshöchstgehalte ist seit Jahren rückläufig und war 2009 nur bei 1,6 Prozent der in Deutschland erzeugten Lebensmittel zu beanstanden. Dies zeigt zweierlei: Der Verbraucher kann sich auf sichere Lebensmittel aus deutschem Anbau verlassen. Die Landwirte in Deutschland setzen Pflanzenschutzmittel verantwortungsvoll ein. Um wettbewerbsfähig produzieren zu können, ist es für deutsche Landwirte mitunter äußerst wichtig, durch Anwendung von Pflanzenschutzmitteln die Erträge zu steigern. Es ist für die deutschen Landwirte ein klarer Wettbewerbsnachteil, wenn Konkurrenten in anderen EU-Staaten Pflanzenschutzmittel zur Verfügung stehen, die in Deutschland nicht zugelassen sind. Bei vielen deutschen Landwirten stößt auf Unverständnis, dass Lebensmittel, die mithilfe bei uns nicht zugelassener Pflanzenschutzmittel in anderen EU-Staaten erzeugt werden, im Handel den Verbrauchern angeboten werden. Im Gesetzgebungsverfahren sollten wir prüfen, wie wir bestehende Wettbewerbsnachteile durch das Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechts beseitigen können. Eine Schlüsselrolle kommt dem Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel zu. Das EU-Pflanzenschutzpaket sieht als Neuerung vor, das Zulassungsverfahren um 3 Monate auf 12 Monate zu verkürzen. Neu ist auch, dass die EU in drei Zonen aufgeteilt wird: Ist ein Pflanzenschutzmittel in einem Mitgliedstaat zugelassen, kann die Zulassung dieses Mittels in Mitgliedstaaten, die der gleichen Zone angehören, innerhalb von 120 Tagen erfolgen. Die Zulassungsbehörden können auf Prüfungsergebnisse anderer Mitgliedstaaten zurückgreifen, um zu beurteilen, ob die beantragte Zulassung erteilt werden kann. Die Zulassung kann nicht ohne Weiteres versagt werden, wenn das Mittel bereits in einem anderen Mitgliedsland der gleichen Zone zugelassen wurde. Die EU-Mitgliedstaaten einer Zone sind grundsätzlich verpflichtet, ihre Zulassungen gegenseitig anzuerkennen. Die gegenseitige Anerkennung stellt einen bedeutenden Beitrag zur Harmonisierung des europäischen Marktes für Pflanzenschutzmittel dar. Im Ergebnis ist zu erwarten, dass sich die Verfügbarkeit von Pflanzenschutzmitteln deutlich verbessert. Damit dieser positive Effekt auch in Deutschland eintritt, ist es erforderlich, dass die deutschen Zulassungsbehörden mit dem vereinfachten Verfahren der zonalen Zulassung und mit den kürzeren Zulassungsfristen zurechtkommen. Derzeit dauern die Zulassungsverfahren wesentlich länger. Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht vor, dass neben dem federführenden Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, auch weiterhin das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, das JuliusKühn-Institut, JKI, und das Umweltbundesamt, UBA, am Zulassungsverfahren beteiligt sind. Wir müssen in den Gesetzesberatungen der Frage nachgehen, wie die Zulassungsverfahren mit vier beteiligten Behörden effektiv durchgeführt werden können. Insbesondere mit Blick auf die gegenseitige Anerkennung der Zulassung erscheint es mir zweckmäßig, im Zulassungsverfahren die Anwendung der von der EU-Kommission entwickelten Leitlinien vorzuschreiben. Die gegenseitige Anerkennung wird erleichtert, wenn alle Zulassungsbehörden in der EU einheitliche Bewertungsmaßstäbe verwenden. Eine effektive Zusammenarbeit von BVL, BfR, JKI und UBA ist nicht nur im Zulassungsverfahren gefragt. Auch in allen anderen Fällen, in denen das Pflanzenschutzgesetz eine Zusammenarbeit vorschreibt, müssen praktikable und ergebnisorientierte Verfahren gewährleistet sein. Dies gilt beispielsweise für die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln mit Luftfahrzeugen und die Festlegung von Anwendungsbestimmungen in Sondergebieten. Wie die Zulassungsverfahren durchgeführt werden, ist besonders für die Hersteller von Pflanzenschutzmitteln von Interesse. Nicht nur für den Anwender, sondern auch für den Hersteller ist wichtig, dass neue Pflanzenschutzmittel schnell auf den Markt gelangen. Nur so können die hohen Forschungs- und Entwicklungskosten wieder eingespielt werden. Neue Pflanzenschutzmittel haben häufig einen größeren Nutzen für den Anwender und im Hinblick auf den Verbraucher- und Umweltschutz bessere Eigenschaften. Da die Sicherung der Welternährung in den kommenden Jahrzehnten eine große Herausforderung sein wird, kann auf innovative Pflanzenschutzmittel, die eine Steigerung der Agrarproduktion ermöglichen, nicht verzichtet werden. Wir tun also gut daran, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass die Innovationsfähigkeit der Branche erhalten bleibt. Deutsche Pflanzenschutzmittelhersteller nehmen eine führende Rolle auf dem Weltmarkt ein und tragen dazu bei, Arbeitsplätze hierzulande zu sichern. Effektive Zulassungsverfahren sind notwendig, damit Deutschland ein zukunftsfähiger Standort für Forschung, Entwicklung und Herstellung von Pflanzenschutzmitteln bleibt. Bei der Neuordnung des Pflanzenschutzrechts sind neben verbraucher- und agrarpolitischen Aspekten auch industriepolitische zu beachten. Im Gesetzgebungsverfahren werden wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung prüfen. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird zu diesem Zweck eine Sachverständigenanhörung durchführen. Die Zielsetzung der CDU/CSU ist klar: Wir wollen auf der Grundlage hoher Standards im Verbraucher- und Umweltschutz eine sichere Anwendung und eine effektive Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ermöglichen.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf mit dem doch recht technisch anmutenden Titel „Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes“. Was da in der Drucksache 17/7317 auf 164 Seiten so ordnungspolitisch daherkommt hat weitreichende Auswirkungen bis in unser aller Alltag. Denn Pflanzenschutz geht uns alle an. Er ist ein wichtiger Produktionsfaktor bei der Erzeugung unserer Nahrungsmittel, er sichert die Ernten auf hohem Niveau und beeinflusst die Qualität der Erntegüter. Und spätestens hier scheiden sich die Geister: Die einen denken an Mycotoxine in Getreide und meinen damit mehr chemischen Pflanzenschutz auf deutschen Äckern, und die anderen denken an Chemiecocktails auf Paprika und meinen damit weg mit den Agrargiften aus der Landwirtschaft. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns, und es ist an uns, den Grat zu bestimmen, auf dem wir uns bewegen. Wir müssen so viel Pflanzenschutz zulassen, wie es notwendig ist, dabei aus den „Sünden der Vergangenheit“ lernen und die mit dem Pflanzenschutz verbundenen Risiken minimieren. Die Probleme der Vergangenheit und auch der Gegenwart, die wir mit Pflanzenschutzmitteln haben, sind nicht zu unterschätzen, um nicht zu sagen: oftmals auch gravierend. Hier geht es um Anwender, die sich den Mitteln aussetzen müssen, es geht um Rückstände in Lebensmitteln, die wir tagtäglich zu uns nehmen, und es geht um unseren Naturhaushalt, der als Nichtzielorganismus in vielgestaltiger Form mitunter schwer leidet. Es geht aber auch um unsere ausreichende Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln, die derzeit nicht ohne den chemisch-synthetischen Pflanzenschutz auskommt. Der Pflanzenschutz muss sich weiterentwickeln. Die Mittel sind in ihren Risiken weiter zu reduzieren. Die Unternehmen, die Pflanzenschutzmittel entwickeln, tragen eine hohe Verantwortung dafür, was ihre Mittel hier und in der Welt bewirken, sowohl positiv wie auch negativ. Wir geben ihnen mit dieser Novelle den Rahmen vor, in dem sie sich rechtssicher bewegen dürfen. Deutschland gehört zu den Ländern, die ganz weit vorne sind bei der Entwicklung und Anwendung neuer Pflanzenschutzmittel. Unser Zulassungsverfahren war Zu Protokoll gegebene Reden und ist eines der strengsten - aber auch eines der sichersten. Und ich hätte gerne, dass es auch noch das schnellste wäre. Unser Pflanzenschutzrecht wurde oftmals als Blaupause für europäisches Recht genutzt. Dieser Vorbildcharakter wurde in der Vergangenheit häufig als Wettbewerbsnachteil heftig kritisiert, sowohl von der Landwirtschaft als auch von der Agrarindustrie. Jetzt macht er sich bezahlt, denn die Umsetzung europäischer Vorgaben in nationales Recht ist nicht so tief greifend, wie es in anderen Mitgliedstaaten Europas der Fall sein dürfte. Unsere vermeintlichen Wettbewerbsnachteile kehren sich jetzt in Vorteile um. All dies hat nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit verbessert, sondern auch einen Beitrag zu der Lebensqualität in unserem Land geleistet. Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln waren stets Gegenstand heftiger gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Ich erinnere an Stichworte wie „Gifttomate“, „Bienensterben“ oder die „Schlapphutaffäre“, die eine Kontrolle der Landwirtschaft durch das Umweltbundesamt als Spitzelei diffamiert hat. Der vorliegende Gesetzentwurf setzt das europäische Regelwerk, das bei seiner Verabschiedung seinerzeit Schauplatz dieser Auseinandersetzungen war, folgerichtig um. Das begrüßen wir zwar im Grundsatz, müssen aber doch die erhebliche Zeitverzögerung anmahnen, die die Bundesregierung mit ihrer offensichtlich schwierigen Abstimmung verursacht hat. Diese Verzögerung geht auf das Konto der Bundesregierung, und wir werden nicht zulassen, dass sie den Druck nun auf uns abwälzt. Das Parlament muss sich die Zeit nehmen, die es braucht, um dieses umfassende Regelwerk zu beraten. Es liegen umfangreiche Stellungnahmen und zahlreiche Vorschläge vor. Allein der Bundesrat hat 57 Änderungsvorschläge beschlossen. Berufs- und Umweltschutzverbände mahnen viele Punkte an, wie auch die Hersteller, Handel und Ämter. Das müssen wir uns in Ruhe anschauen und die Anhörung der Sachverständigen auswerten, um dem Gesetz den notwendigen Feinschliff zu geben. Hierzu müssen wir uns unter anderem das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung im Detail anschauen, die Regelung der Pflanzenstärkungsmittel oder die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Eindämmung illegaler Pflanzenschutzmittel. Der Einsatz Letzterer nimmt ein ernst zu nehmendes Ausmaß an, das all unsere Bemühungen um einen sicheren Umgang mit Pflanzenschutzmitteln zunichtemacht. Ungeprüfte Formulierungen und gefälschte Wirkstoffe gefährden all unsere Schutzgüter. Landwirte sollten aus Eigeninteresse auf fragwürdige Produkte verzichten. Neben dem Gesetz haben wir aber auch den Prozess des in § 4 geforderten Nationalen Aktionsplans, NAP, fest im Blick. Es stimmt schon nachdenklich, wenn die einen behaupten, alles sei ein guter und transparenter Diskurs, während zahlreiche andere ihren Ausstieg androhen. Das müssen wir klären, denn der NAP ist als wesentliches Element zur Minimierung der Risiken durch Pflanzenschutzmittel viel zu wichtig, als dass man ihn in einer Randnotiz abhakt. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie in den Jahren der Arbeit mehr produziert als viel Papier und Reisekostenabrechnungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Wir brauchen eine Agenda, die auch zu einer tatsächlichen Reduzierung des Einsatzes gefährlicher Chemikalien führt. Wir brauchen eine Ökologisierung der Landwirtschaft in der Breite, und wir brauchen eine Stärkung des ökologischen Landbaus, der nicht nur in Sachen Pflanzenschutz Vorbildcharakter hat. Ich freue mich auf die parlamentarische Beratung.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben einen gemeinsamen EU-Binnenmarkt, die Landwirtschaft ist maßgeblich von europaweit einheitlichen Bestimmungen geprägt. Um für die Betriebe gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, war es überfällig, die Zulassungsregeln für Pflanzenschutzmittel EU-weit zu harmonisieren. Es ist für keinen Betrieb einsichtig, wenn Pflanzenschutzmittel westlich des Rheins erlaubt sind, die östlich davon verboten sind, die Produkte jedoch auf demselben Markt miteinander konkurrieren. Auf europäischer Ebene wurden neue Bestimmungen zur Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln bereits im Jahr 2009 endgültig beschlossen. Sie sind seit Juni dieses Jahres in Kraft. Es gilt nun, die neuen Anforderungen so direkt und praktikabel wie irgend möglich in deutsches Recht umzusetzen. Pflanzenschutzmittel sind für eine gute Produktqualität wie auch für sichere Ernteerträge unabdingbar. Niemand mag Salat mit Blattläusen oder verpilzte Erdbeeren essen. Die landwirtschaftliche Produktion wie auch der Garten- und Gemüsebau können auf die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln nicht verzichten. Das Lebensmittelmonitoring zeigt in jedem Jahr, dass unsere Landwirte Pflanzenschutzmittel sehr verantwortungsvoll anwenden und die Bestimmungen sorgfältig beachten. Auch bei hoher Qualität der zugelassenen neuen Pflanzenschutzmittel bleibt es ein wichtiges Ziel, deren Einsatz auf das unabdingbar notwendige Maß zu beschränken. Das neue EU-Pflanzenschutzpaket sieht unter anderem eine Einteilung der EU in drei Zulassungszonen von Nord nach Süd vor. Neue Pflanzenschutzmittel müssen innerhalb einer Zone nur noch einmal ausführlich in einem europäisch einheitlichen Verfahren geprüft werden. In den anderen Ländern einer Zone ist eine schnelle und unkomplizierte Anerkennung vorgesehen. Die schnellere Einführung bereits geprüfter Pflanzenschutzmittel könnte vor allem für Sonderkulturen, deren Marktumfang bisher in einem einzelnen Land zu gering war, eine große Chance bieten. Für uns Liberale ist es im Hinblick auf einheitliche Wettbewerbsbedingungen sehr wichtig, dass die nationalen Regelungen sich eins zu eins an den Vorgaben der EU-Verordnung orientieren. Neue Pflanzenschutzmittel sind besser als alte. Die Anwendung verschiedener Pflanzenschutzmittel vermindert die Möglichkeit der Resistenzbildung. Deswegen ist eine zügige und harmonisierte Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auch ein Vorteil für Natur und Umwelt. Es darf bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln keine deutschen Alleingänge Zu Protokoll gegebene Reden oder Sonderwege geben. Die Beachtung der Guidelines der Kommission zur Wirkstoffprüfung muss selbstverständlich sein. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wenn beispielsweise die Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf Nichtzielorganismen in den verschiedenen EU-Ländern nach unterschiedlichen Kriterien bewertet werden. Das für die Zulassung zuständige BVL, das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, muss mit dem JKI, dem Julius-Kühn-Institut, und mit dem BfR, dem Bundesinstitut für Risikobewertung, lediglich ein Benehmen in wichtigen Fragen wie der Gefährdung von Mensch und Tier herstellen, jedoch mit dem UBA, dem Umweltbundesamt, das Einvernehmen bei allen Fragen zur Vermeidung von Schäden für den Naturhaushalt sowie durch Abfälle von Pflanzenschutzmitteln herstellen. Diese Gewichtung ist und bleibt für die FDP unlogisch und nicht nachvollziehbar. Warum hat der Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier einen geringeren Wert als der Schutz des Naturhaushalts? Die Einhaltung der geforderten 120-Tage-Frist bei der gegenseitigen Anerkennung ist von großer Bedeutung. Die Beteiligung von vier verschiedenen Behörden beim nationalen Zulassungsverfahren stellt große Anforderungen an die Ablauforganisation. Zwar kann das BVL für die Abgabe von Bewertungen oder Stellungnahmen eine Frist festlegen. Aber leider bleibt die Frage unbeantwortet, was geschieht, wenn die vorgegebene Frist nicht eingehalten wird. Eine Nichteinhaltung einer Frist durch eine einzelne Behörde sollte dem Benehmen/ Einvernehmen gleichkommen. Das neue Pflanzenschutzgesetz stellt neue Anforderungen an den Vertrieb und die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Der Graue Markt des Parallelhandels und der Reimporte muss sorgfältig überwacht und kriminelles Handeln konsequent bestraft werden. Die Strafbewehrung ist ein erster, wichtiger Schritt. Die Forderungen von Herstellern und der Länder über weitergehende Maßnahmen nehmen wir sehr ernst und sind bereit, diese zu prüfen. Vor allem der Import von gefälschten, falsch deklarierten und gefährlichen Nachahmerprodukten muss weitestgehend unterbunden werden. Dies dient insbesondere dem Schutz der Anwender und der Umwelt. Wir erwarten einen konstruktiven Umgang mit dem neuen Gesetz. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren müssen wir sicher stellen, dass die kulturellen Besonderheiten der einzelnen Obst- und Gemüseanbauregionen im Gesetz Berücksichtigung finden. Sonderregelungen für Obstanbaugebiete wie das Alte Land müssen erhalten bleiben. Die weitere Entwicklung neuer hochselektiver und leicht abbaubarer Wirkstoffe für den Pflanzenschutz ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. Das Gesetz muss einen Rahmen schaffen, der die Genehmigung der erforderlichen Freilandversuche unbürokratisch ermöglicht und sicherstellt, dass auch mittelständische Unternehmen mit ihren Ideen daran teilhaben können. Der vorliegende Gesetzentwurf bietet eine gute Voraussetzung für ein gutes Gesetz. Wir werden die Vorschläge der Anhörung sorgfältig prüfen.

Alexander Süßmair (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004172, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Auf über 90 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen in Deutschland und Europa wird „konventionell“ - das heißt unter anderem mit dem Einsatz diverser chemischer Pflanzenschutzmittel - gewirtschaftet. Die in der Landwirtschaft eingesetzten Pestizide werden damit auf einem beachtlichen Flächenanteil eingesetzt, und bei dem anhaltend hohen Niveau des Pestizidverbrauchs sind Auswirkungen auf Umwelt und menschliche Gesundheit oft dokumentiert und nachgewiesen worden. Dem Gesundheitsschutz und dem Umweltschutz räumt die neue EU-Pestizidgesetzgebung eine hohe Relevanz ein; sie verschärft die Regelungen der Pestizidverwendung für besonders sensible Gebiete und stärkt den Gewässerschutz. Mit der Neuordnung des deutschen Pflanzenschutzrechtes müssen die Ziele der EU-Richtlinien umgesetzt werden, und es muss abgesichert werden, dass die Umwelt vor unvertretbaren Auswirkungen der Pestizide geschützt wird. Die Linke unterstützt die Intention der EU-Pestizidgesetzgebung. Neu ist dabei, dass die auf EU-Ebene entwickelten Ziele, wenn sie in der Umsetzung in das nationale Pflanzenschutzrecht ernsthaft umgesetzt werden, einen deutlich höheren Standard im Pflanzenschutzrecht bedeuten als bislang. Dabei zieht die alte Debatte um Sonderwege höherer Umweltstandards in Deutschland nicht mehr - es geht hier um die Realisierung höherer EU-Standards. Das ist im Ergebnis also mehr als die bloße Umsetzung von EU-Recht. Die alte Debatte um die gegenüber der EU höheren Standards in Deutschland kehrt sich ein Stück weit um. In der nun kommenden Erörterung der Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes ist schon eine Reihe kontroverser Positionen, zwischen Fachleuten aus dem Bereich Umwelt auf der einen Seite und den Vertretern der Pestizidanwendung auf der anderen Seite, erkennbar. Die Frage stellt sich, wie umfassend es gelingt, der ambitionierten Zielstellung der EU-Vorgaben gerecht zu werden. So werden zum Beispiel in der EU-Zulassungsverordnung die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln und Genehmigung von Wirkstoffen geregelt. Zentrales Element der Zulassungsverordnung ist das Vorsorgeprinzip, mit dem sichergestellt werden soll, dass in Verkehr gebrachte Wirkstoffe oder Produkte die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt nicht beeinträchtigen. Sie räumt den Mitgliedstaaten ausdrücklich ein, „das Vorsorgeprinzip anzuwenden, wenn wissenschaftliche Ungewissheit besteht, ob die in ihrem Hoheitsgebiet zuzulassenden Pflanzenschutzmittel Gefahren für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt bergen“. Hier zeigt sich schon in der EU-Verordnung, dass es Spielräume in der nationalen Umsetzung der EU-Rahmengesetze gibt. Neben der Zulassungsverordnung für Pflanzenschutzmittel sind das die EU-Rahmenrichtlinie zur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden sowie weitere Europäische Rechtsakte wie die Flora-Fauna-Habitat-Richtline. Die Linke wird sich in den Beratungen zur Novelle für eine ernsthafte Umsetzung der EU-Rahmengesetze einsezten. Es geht bei den Beratungen zu diesem Gesetz nicht zuletzt um die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen, es darf nicht um den Profit der Agrarindustrie geZu Protokoll gegebene Reden hen. Ermessensspielräume müssen im Sinne von Art. 20 a unseres Grundgesetzes genutzt werden. Da heißt es, der Staat schützt unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Darauf wird Die Linke achten.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die schwarz-gelbe Koalition legt mit der Neuordnung des Pflanzenschutzrechts eine erschreckende Kontinuität an den Tag. Nach dem Hin und Her beim Atomausstieg, der fatalen Verzögerungstaktik in der Euro-Krise und der verschlafenen Wahlrechtsreform mit eklatanter Fristversäumnis kommt auch der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf ein halbes Jahr zu spät. Die Novelle des Pflanzenschutzgesetzes hätte nach den Vorgaben der EU spätestens am 11. Juni dieses Jahres in Kraft treten müssen. Wenn ein Gesetzentwurf zusätzliche sechs Monate benötigt und deshalb sogar ein eigenes Übergangsgesetz beschlossen werden muss, dann darf man eigentlich einen großen Wurf erwarten, also ein ganzheitliches Konzept, das sich stringent in ein modernes Landwirtschaftskonzept einfügt. Leider ist das Gegenteil der Fall: Mit ihrem Gesetzentwurf versucht die Bundesregierung, den Status quo so weit wie irgend möglich fortzuschreiben. Im Unterschied zu den Vorgaben aus Brüssel fehlt jegliche Aktualisierung der Zielsetzung in der Pflanzenschutzthematik, die auch die zentralen aktuellen Herausforderungen in der Land- und Ernährungswirtschaft aufgreift: den dramatischen Schwund der Artenvielfalt gerade in den Agrarlandschaften, die wissenschaftlich immer besser begründeten Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher an Lebensmittel ohne Pestizidrückstände oder die europaweit stark wachsende Zahl der Landwirte, die auf den ökologischen Landbau umstellen. Die Bundesregierung und speziell das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz offenbaren mit diesem Gesetzentwurf entweder ihr Unvermögen oder ihre mangelnde Bereitschaft, ein modernes Modell einer multifunktionalen und ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft zu entwickeln und politisch umzusetzen. Vor allem der Einsatz chemischsynthetischer Pflanzenschutzmittel in seiner breit praktizierten Form ist ein klassisches End-of-Pipe-Instrument zur Bekämpfung bereits aufgetretener Probleme. Ein glaubwürdiges politisches Konzept für den Pflanzenschutz setzt aber einen agrarpolitischen Rahmen voraus, der zunächst alle ökologisch notwendigen und ökonomisch realisierbaren Möglichkeiten zur Vorbeugung von Schadwirkungen ausschöpft. Dazu zählen vielfältige Fruchtfolgen, spezielle Anbauverfahren, die gezielte Förderung von Nützlingen und der Einsatz biologischer Schädlingsbekämpfungsmethoden ebenso wie die Weiterentwicklung von Beratungs- und Fortbildungskonzepten für die potenziell von Schädlingsbefall betroffenen Stufen der Lebens- und Futtermittelkette. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf, hier könnte sich die Bundesregierung mit einem engagierten, zukunftsorientierten Konzept profilieren. Diese Chance wird mit dem vorgelegten Entwurf jedoch leichtfertig verschenkt. Denn ein derartiger Ansatz widerspräche dem von der Bundesregierung verfolgten agrarpolitischen Modell der immer weiter getriebenen Intensivierung in Ackerbau und Tierhaltung. Das Festhalten an der ökologisch ebenso gefährlichen wie ökonomisch unsinnigen Agrogentechnik trotz der heute bekannten drastischen Zunahme des Herbizideinsatzes als Folge des Anbaus herbizidtoleranter Genpflanzen ist ebenfalls unvereinbar mit einer ernst zu nehmenden Berücksichtigung von Umwelt- und Verbraucherschutzaspekten im Pflanzenschutz. Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Novelle sowohl von einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen als auch der Wasserwirtschaft heftig kritisiert wird. Auch der Bundesrat hat mit seinen zahlreichen Änderungswünschen die Schwächen der Novelle aufgedeckt. Zwar ist es beruhigend, dass im Unterschied zum ersten Entwurf im Vorjahr nun das Umweltbundesamt seine entscheidende Korrekturfunktion als Einvernehmensbehörde in den meisten Anwendungsbereichen weiter wahrnehmen kann. Um so unverständlicher ist, dass dieses Einvernehmen beispielsweise beim besonders riskanten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln mit Luftfahrzeugen oder bei der Saatgutbeize nicht realisiert wurde. Der auch vom Bundesrat geforderte Mindestabstand der Pflanzenschutzmittelanwendung zu Oberflächengewässern fehlt dagegen ebenso wie die in der EU-Rahmengesetzgebung vorgesehenen Sonderregelungen für „bestimmte Gebiete“ wie Trinkwasserschutzgebiete. Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, ihr bisher passiv wie aktiv unterstütztes Agrarmodell und damit auch die Novelle des Pflanzenschutzgesetzes grundlegend zu korrigieren. Nur eine ökologisch zukunftsfähige, qualitätsorientierte Landwirtschaft mit einer konsequenten Minimierungsstrategie beim Pflanzenschutzmitteleinsatz bietet den deutschen Landwirten eine dauerhafte ökonomische Perspektive und Akzeptanz in der Gesamtgesellschaft. Erst gestern bekamen wir von Vertreterinnen und Vertretern vom Bund der Deutschen Landjugend im Agrarausschuss die diesjährige Erntekrone überreicht. Mit Gesetzentwürfen wie der heute vorgelegten Pflanzenschutzgesetz-Novelle setzt die Bundesregierung nicht nur die biologische Vielfalt und den Verbraucher- und Gewässerschutz, sondern auch die Zukunft dieser jungen Menschen aufs Spiel.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksachen 17/7317 und 17/7369 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 16: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10 Jahre Frauen in der Bundeswehr - Drucksache 17/7351 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Anita Schäfer, Karin Evers-Meyer, Burkhardt Müller- Sönksen, Inge Höger, Katja Keul und Parlamentarischer Staatssekretär Christian Schmidt.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7351 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18: Beratung des Antrags der Abgeordneten FranzJosef Holzenkamp, Peter Altmaier, Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Rainer Erdel, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Fischartenschutz voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für ein Kormoranmanagement - Drucksache 17/7352 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolleginnen und Kollegen Cajus Caesar, Holger Ortel, Christel Happach-Kasan, Jan Korte und Cornelia Behm.

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Erhaltung der Biodiversität muss allumfassend behandelt werden und harmonisch erfolgen. Ich stimme dem Bundesumweltminister Röttgen zu: Die Bewahrung der Biodiversität und der Klimaschutz sind zwei zentra- len Herausforderungen der Politik - und nicht nur der Umweltpolitik. Wir, die Union, aber auch ich persönlich, wollen das Miteinander von Umweltinteressen und wirt- schaftlicher Entwicklung. Bei den Themen Biodiversität und Artenschutz darf das Gleichgewicht nicht in Verges- senheit geraten. Ein ausgewogener Artenschutz kann nicht dem Schutz einer ausgewählten Art gleichgestellt werden. Zudem darf er nicht nur über Wasser gelten, und das betrifft auch den Kormoran. Man könnte fragen: Warum sind vordringliche Maß- nahmen für ein Kormoranmanagement nötig? Immerhin wurde der Kormoran im vorigen Jahr vom NABU zum Vogel des Jahres ernannt. Nun handelt es sich um einen Vogel, der erhebliche Schäden verursacht und zudem langlebig, mobil und äußerst anpassungsfähig ist. Er jagt Fische in Trupps mit bis zu einigen Hundert Vögeln und kann bis 40 Meter tief ins Wasser tauchen. Die 1) Anlage 24 Trupps können Fische zusammentreiben und Gewässer völlig fischleer machen. Die rasante Bestandszunahme des Kormorans in den letzten dreißig Jahren hat gravierende Auswirkungen auf die natürliche Fischfauna. Europaweit sind mittlerweile etwa 600 000 Brutvögel vorhanden, die Gesamtzahl wird auf fast 2 Millionen Vögel geschätzt. Die Zahl der Brutpaare in Deutschland ist seit den 80er-Jahren von knapp 800 auf 23 500 im Jahr 2009 angestiegen. Mit 47 000 Brutvögel und der Gesamtvogelzahl von 130 000 hat sich der Bestand der Kormorane seit 1990 vervierfacht. Alleine in Nordrhein-Westfalen konnten im Jahr 2010 rund 1 000 Brutpaare verzeichnet werden. Dies hat zusätzliche Auswirkungen auf Deutschland durch Zugvögel, die sich hier vorübergehend aufhalten. Gleichzeitig hat der Kormoranbestand auch in unseren nordeuropäischen Nachbarländern zugenommen: Die Zahl der durchziehenden oder überwinternden Vögel im süd- und westdeutschen Raum ist hiermit deutlich gestiegen. Ein Kormoran verzehrt mit der täglichen Menge von 400 bis 500 Gramm einen voluminösen Fischbestand. Dies entspricht einer Menge von 160 Kilogramm pro Jahr. Mit über 2 Millionen Kormoranvögeln entsteht europaweit ein täglicher Fischverlust von etwa 1 000 Tonnen, mit etwa 130 000 Kormorane in Deutschland mehr als 20 000 Tonnen. Insbesondere kleinere Fischarten und Jungtiere größerer Fischarten sind bedroht. Dies ergibt eine weitere Problematik, die nach effektiven Lösungsansätzen verlangt. Heute müssen wir leider feststellen, dass die bisherigen Erfolge trotz zahlreicher Artenschutzprogramme eher bescheiden zu beurteilen sind. Einheimische Fischarten wie Lachs, Äsche, Meeresforelle oder Aal gelten weiterhin als ernsthaft gefährdet. Trotz Verbesserungen der Wasserqualität sind europaweit bereits 38 Prozent der Süßwasserfischarten in Gefahr. In Deutschland gelten nach Angaben des Bundesamtes für Naturschutz sogar 74 Prozent heimischer Rundmäuler und Fischarten als gefährdet oder ausgestorben. Dabei spiegelt ein gesunder Fischbestand die Qualität eines Gewässers wider. Das darf bei der Argumentation hinsichtlich der Kormoranpopulation nicht in Vergessenheit geraten. Der massive Bestandszuwachs von Kormoranen hat eindeutig negative Auswirkungen auf unsere Ökosysteme und die Artenvielfalt. Doch auch die Existenz unserer Fischerei und Teichwirtschaft ist dadurch ernsthaft bedroht. Insbesondere die kleineren teichwirtschaftlichen Familienbetriebe stehen unter starkem Preisdruck durch Importe aus Ländern mit industriemäßiger Fischproduktion. Ihre Marktposition können sie nur über hohe Qualität und ausreichenden Bestand behaupten. Dabei sind naturnahe Erzeugung und nachhaltige Wirtschaftsweise Markenzeichen unserer Fischereiwirtschaft. Sie ist erhaltenswert und sollte nicht durch Totalverluste gefährdet werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Fischerei ein traditioneller wirtschaftlicher Bestandteil sowohl an unserer Küste als auch an Flüssen, Seen und Teichen im ländlichen Raum ist. Auch im Tourismusbereich trägt sie zur Wirtschaftskraft bei. Inzwischen ist auch wissenschaftlich nachgewiesen, dass Kormorane sogar in Fischpopulationen freier Gewässer großen Schaden anrichten und bedrohte Fischarten massiv verringern. Doch was können wir dagegen tun? Die Auswertung der bisherigen Erfahrungen weist auf die Bekämpfung der Symptome hin. Bis jetzt wurden lediglich optische oder akustische Abwehrmaßnahmen vor Ort durchgeführt. Solche Maßnahmen wie Überspannungen mit Netzen oder Einsatz von Schutzkäfigen haben sich als inneffizient und teuer erwiesen. Auch mit anderen lokal angewandten Taktiken ist es bisher nicht gelungen, dieses Problem in den Griff zu kriegen. Unser Ziel muss die langfristige Bestandsregulierung sein. Wir müssen uns der Ursachenbekämpfung widmen. Denn nur mit einem erfolgreichen Populationsmanagement können wir unsere Ökosysteme und Artenvielfalt wieder ins Gleichgewicht bringen: effektiv, vergleichsweise preiswert und mit deutlich geringeren Nebenwirkungen. Dafür benötigen wir umgehend ein funktionierendes und langfristiges Kormoranmanagement. Das hat die CDU/CSU-Fraktion früh erkannt. Bereits im Jahr 2008 setzte sich Frau Bundesagrarministerin Aigner für ein europaweites Bestandsmanagement dieser Vogelart ein und erntete Unterstützung ihrer Kollegen in anderen Mitgliedstaaten. Weiterhin wurde auf Initiative der Bundesministerin im Rahmen der Agrarministerkonferenz Ende letzten Jahres eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kormoran“ eingerichtet. So konnte eine fachlich fundierte Datengrundlage hinsichtlich des bundesweiten Kormoranbestands, der gegebenen einschlägigen Rechtsrahmen sowie der bereits realisierten Abwehrmaßnahmen und fischereiwirtschaftlichen Schäden erfasst werden. Auch der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht einen EU-weiten Managementplan für Kormorane vor. Durch das Engagement der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurde bereits eine entsprechende Initiative sowohl beim EU Fischerei- als auch beim Umweltrat gestartet. Diese Maßnahmen sind richtig und wichtig. Doch langfristige Wirkung zeigen sie nur, wenn alle Beteiligten mitmachen. Die Kormorane lassen sich nicht durch Ländergrenzen abhalten. Die Maßnahmen der Bundesländer und der EU-Mitgliedstaaten müssen deshalb zukünftig besser koordiniert werden. Dafür ist längerfristig ein europaweiter Aktionsplan auf der EUEbene erforderlich. Das Ziel ist es, eine nachhaltige europaweite Bestandsregulierung einzusetzen und dessen Auswirkungen zu beobachten. Mit unserem Koalitionsantrag zum Kormoranmanagement gehen wir deshalb noch einen Schritt weiter. Heute fordern wir die Bundesregierung auf, vordringliche Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts beim Artenschutz sowohl auf der Bundes- als auch auf der EUEbene zu ergreifen. Für unsere Koalition ist der Fischartenschutz genauso wichtig wie der Vogelschutz oder der Tierschutz allgemein. Deshalb haben wir sowohl mit den Naturschützern als auch mit den betroffenen Fischern und Menschen aus dem Verarbeitungs- und Handelsbereich den Dialog gesucht. Wir brauchen Regelungen, die die gesamte ausgewogene Artenvielfalt genauso ernst nehmen wie die Belange unserer Fischereiwirtschaft.

Holger Ortel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003203, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich beginne meine Rede mit den gleichen Worten, wie in der Debatte im April dieses Jahres, als wir über den Antrag der Linken zum Kormoran sprachen: Der Artenschutz darf nicht an der Wasseroberfläche aufhören. Unter dieses Motto möchte ich auch meine heutige Rede stellen. Beim Artenschutz an Land gibt es viele Erfolgsgeschichten zu erzählen. Eine dieser Geschichten handelt vom Kormoran. Aber das Thema Artenschutz unterhalb der Wasseroberfläche ist keine Erfolgsgeschichte - bislang. Es gibt einige bedrohte Fischarten. Und es gibt für diese Fischarten Artenschutzprogramme. Aber diese Artenschutzprogramme drohen zu scheitern. Der Rückgang einzelner Fischbestände hat vielfältige Gründe. Die fehlende Durchgängigkeit der Gewässer und der teilweise noch schlechte ökologische Zustand der Gewässer sind zwei dieser Gründe. Ein weiterer wesentlicher Grund ist der Kormoran. Ich möchte heute aber nicht schon wieder einen Überblick über die Entwicklung des Kormoranbestandes in den letzten 30 Jahren geben. Die Zahlen werden zum einen immer wieder angezweifelt und wurden in der Vergangenheit sehr oft wiederholt, so auch im Plenarprotokoll der Debatte vom 7. April dieses Jahres. Wer diese Zahlen also unbedingt nachlesen möchte, kann es dort tun. Ich möchte aber den Bericht des Europaparlaments zum Kormoran erwähnen. Mein SPD-Kollege Heinz Kindermann hat im Dezember 2008 einen Bericht zum Kormoran vorgelegt. Dieser mündete in der am 4. Dezember 2008 verabschiedeten Entschließung des Europaparlaments zur Erstellung eines Europäischen Kormoranmanagementplans zur Reduzierung der zunehmenden Schäden durch Kormorane für Fischbestände, Fischerei und Aquakultur. Diese Entschließung wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. Die Kommission ist aber nicht gewillt, sich auf diesem Feld zu engagieren. Sie versucht immer wieder, den Mitgliedstaaten den schwarzen Peter zuzuschieben. Zuletzt haben wir gesehen, wie das Projekt Sustainable Management of Cormorant Populations torpediert wurde. Ich möchte aber auch auf die Aussagen der Koalition in der Debatte vom April eingehen, denn diese waren in Bezug auf ihren eigenen, den heute hier vorliegenden Antrag bemerkenswert. Die Union hat den Antrag der Linken mit dem Argument abgelehnt, dass es bei den unterschiedlichen Forderungen verschiedene Zuständigkeiten gibt. Wenn ich mir jetzt den vorliegenden Antrag ansehe, stelle ich fest, dass es auch hier unterschiedliche Zuständigkeiten gibt. So liegt ein Teil Ihrer Forderungen in der Zuständigkeit der Länder. Beispiele dafür sind die Forderungen Nr. 5 und 8. Jetzt frage ich Sie: Lehnen Sie diesen Antrag auch ab? Weiterhin haben Sie sich in der Debatte für ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement ausgesprochen. Diese Forderung wurde nun stark abgeschwächt, es ist noch von einer Harmonisierung der KormoranverordZu Protokoll gegebene Reden nungen der Länder die Rede. Dass sich diese Forderung in der Zuständigkeit der Länder bewegt, möchte ich nur am Rande erwähnen. Sie haben sich offensichtlich einfach die Forderungen der FDP zu eigen gemacht. Unsere geschätzte Kollegin Christel Happach-Kasan vertritt diese Standpunkte schon lange. Nur Ihr Bundesumweltminister und einige Umweltpolitiker haben Ihnen immer wieder Steine in den Weg gelegt. Ich frage mich nur, warum. Herr Röttgen hat sich nämlich in dieser Angelegenheit für gar nicht zuständig erklärt. Er will sich dem Kormoran erst wieder annehmen, wenn dieser in seinem Bestand gefährdet ist. Davon sind wir ja nun nachweislich weit entfernt. Der Herr Minister schlägt sich in die Büsche. Aber nun haben Sie ja nach zähem Ringen einen gemeinsamen Antrag geschrieben. Ich möchte Sie an dieser Stelle an Ihren Koalitionsvertrag erinnern. In diesem steht nämlich, dass Sie auf europäischer Ebene auf die Erstellung eines Managementplans für Komorane drängen wollen. Es hat bereits eine Initiative von Frau Aigner bei ihren Ministerkollegen in den anderen EU-Mitgliedstaaten gegeben. Aber diese Initiative ist im Sande verlaufen. Ein Drängen konnte ich noch nicht erkennen. Ich hoffe, dass sie auf diesem Gebiet noch mehr Initiative ergreifen werden. Wir müssen beim Kormoran nämlich sehen, dass es Menschen gibt, deren berufliche Existenz durch den Kormoran zunichtegemacht wird. Es mussten schon einige Teichwirte den Betrieb einstellen. Das sind oftmals über mehrere Generationen betriebene Familienbetriebe, die jetzt am Rande der Existenz stehen. Unter Punkt 5 Ihres Antrages machen Sie Eingriffe in Brutkolonien von Kormoranen von nachgewiesenen Gefährdungen der Fischfauna abhängig. In der Vergangenheit wurde von Umweltverbänden immer wieder bestritten, dass der Kormoran am schlechten Zustand der Fischfauna Schuld hat. Mit dieser Argumentation wird es sehr schwer werden, Eingriffe in Brutkolonien zu erreichen. Deshalb müssen wir Parameter für den Zustand des Kormorans festlegen, der Eingriffe in Brutkolonien möglich macht bzw. bedingt. Der Kormoran wurde, als es ihm schlecht ging, europaweit unter Schutz gestellt. Warum sollen wir ihn jetzt nicht auch europaweit managen? Die Vogelschützer haben seinerzeit doch offensichtlich erkannt, dass man die Probleme des Kormorans nur europaweit und nicht etwa lokal lösen kann. Gleiches gilt jetzt auch für die Gefahren, die durch den Kormoran entstehen. So wie der Kormoran Anfang der 1980er-Jahre in Europa unterrepräsentiert war, so ist er nun überrepräsentiert. Auf die Erstellung eines europäischen Managementplans für Kormorane drängen heißt dicke Bretter bohren. Wir werden zunächst aber über diesen Antrag im Ausschuss zu beraten haben. Ich freue mich darauf.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Schutz des Kormorans war überaus erfolgreich. Die Kormorane haben sich so stark vermehrt, dass inzwischen eine Bestandsregulierung erforderlich geworden ist. Es gibt in Europa keine Artenschutzmaßnahme, die so durchgreifend gewirkt hat wie der Kormoranschutz. Der Kormoran ist inzwischen Bestandsvogel nicht nur an der Küste, sondern auch in den südlichen Bundesländern, wo er in den letzten Jahrhunderten allenfalls als seltener Irrgast anzutreffen gewesen ist. Er gehört dort zu den invasiven Arten und bedroht Fischarten in ihrem Bestand, die an das Fraßverhalten des Kormorans nicht angepasst sind. Nach Angabe der Bundesregierung auf Anfrage der Linken auf Drucksache 17/980 ist die Anzahl der heimischen Brutpaare auf etwa 24 000 gestiegen. Die europäische Population des Kormorans wird von Wissenschaftlern auf etwa 600 000 erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamtzahl von beinahe 2 Millionen Vögel geschätzt. Es gibt sehr viele Brutvogelarten, bei deren Schutz wir uns so viel Erfolg wünschen wie beim Kormoran. Nach diesem Erfolg des Vogelschutzes ist es an der Zeit, auch den Fischartenschutz und speziell den Schutz autochthoner Fischbestände voranzubringen. Die Situation vieler bedrohter Fischarten hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter verschlechtert. Nach den Kriterien der IUCN, der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources, sind 38 Prozent der Süßwasserfischarten Europas gefährdet oder vom Aussterben bedroht. So sind beispielsweise die Bestände der Äsche, Thymallus thymallus, dem Fisch dieses Jahres 2011, in den vergangenen zehn Jahren in verschiedenen Gewässern zusammengebrochen. Laut Aussagen des Bundesamtes für Naturschutz, BfN, gelten in Deutschland 74 Prozent der heimischen Rundmäuler und Fischarten als gefährdet oder ausgestorben. Es bleibt unverständlich, warum der behördliche Naturschutz dennoch eine Bestandsregulierung des Kormorans ablehnt, das Bundesamt für Naturschutz in der Broschüre über die Äsche sogar ein Grußwort verweigert hat. Die Gefährdung von Fischbeständen ist genauso wie die wirtschaftliche Belastung von Teichwirtschaften durch den Kormoran vielfältig nachgewiesen worden. Ein Kormoran frisst pro Tag zwischen 240 und 1 000 Gramm Fisch, so die Bundesregierung in Drucksache 16/706. Die wirtschaftliche Belastung von Teichwirtschaften ist unmittelbar einsichtig. Die fränkischen Teichwirte beziffern den Verlust durch den Kormoran auf 60 Prozent. Der Kormoranfraß hat vielfach ein Wirtschaften unmöglich gemacht und die Wertschöpfung in den ländlichen Räumen erschwert. Viele Teichwirte in Mittelfranken und in ganz Deutschland wollen deswegen aufhören, ihre Teiche zu bewirtschaften. Der Erhalt der Kulturlandschaft mit ihren über 4 000 Teichen allein in Franken ist dadurch gefährdet. Fränkische Teichwirte fordern deshalb ein europaweites Kormoranmanagement. Es ist bemerkenswert, dass der NABU den Kormoran zum Vogel des Jahres 2010 gemacht hat, obwohl er als Besitzer der Blumberger Mühle in Brandenburg, einer Karpfenteichwirtschaft, seine Teiche mit Fischen aus einer tschechischen Satzfischaufzucht besetzen muss. Diese Fische sind so groß sind, dass Kormorane sie nicht mehr bewältigen können. Seit dem Jahr 2000 werden jährlich über 50 Tonnen Satzkarpfen in die Teiche der Blumberger Mühle gesetzt. Für einen gewerblichen Binnenfischer oder Teichwirt ist ein solches Verfahren viel zu teuer, unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit ist Zu Protokoll gegebene Reden dieses Vorgehen abzulehnen. Es ließe sich durch ein sinnvolles Kormoranmanagement vermeiden. Ebenso brauchen die freiwilligen Bemühungen der Anglerverbände zum Gewässerschutz sowie zur Wiederansiedelung bedrohter Fischarten die Unterstützung durch ein nachhaltiges Kormoranmanagement. Ein wirkungsvoller Fischartenschutz erfordert einen breiten Ansatz. Die Wasserqualität bzw. der Gewässerzustand von Fließgewässern muss vielerorts weiter verbessert werden. Der Gewässerverbau durch die kleine Wasserkraft zum Beispiel ist nur dann akzeptabel, wenn Umgehungsmöglichkeiten für wandernde Fischarten geschaffen werden. Nur so können sich bedrohte, autochthone Bestände erholen oder ausgestorbene Arten wieder ansiedeln. Gleichzeitig ist es unabdingbar, den Fraßdruck durch Raubtiere wie den Kormoran auf bedrohte Bestände zu begrenzen. Es besteht ein allgemeines Einverständnis, dass auch aufgrund des Fehlens von Wolf und Bär, also Raubtieren, die früher einmal bei uns heimisch waren, der Mensch Reh-, Rotwild- und Damwildbestände bejagen muss, um im Wald Schäden durch winterlichen Verbiss zu mindern. Genauso muss an bestimmten Gewässern der Kormoranbestand begrenzt werden, um bedrohte Fischarten zu schützen, um autochthone Bestände vor dem Aussterben zu bewahren. Nur so kann die innerartliche Biodiversität erhalten werden. Mehr als 120 000 Unterschriften wurden für ein Kormoranmanagement gesammelt, in Ulm haben über 6 000 Menschen für das Kormoranmanagement demonstriert. Ich bin erfreut, dass sich inzwischen die Linke unserer Forderung nach einem Bestandsmanagement angeschlossen hat. In den Landtagen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein wurden Entschließungen verabschiedet, die auf ein europaweites Kormoranmanagement und ein abgestimmtes und wirkungsvolles Vorgehen in Deutschland dringen. Es gibt im Rahmen der einzelnen Kormoranverordnungen der Bundesländer bereits viele Beispiele für regionale Aktivitäten, die eine Regulierung des Kormorans zum Ziel haben. Allerdings ist der Kormoran ein Wandervogel, und im Laufe des Jahres kommt es zu einem massenhaften Durchzug von Vögeln aus den nordeuropäischen Staaten, die zusätzlichen Druck auf bedrohte Fischbestände ausüben. Regionale Maßnahmen gegen den Kormoran sind richtig und wichtig. Aber ohne eine Koordinierung dieser Maßnahmen innerhalb Deutschlands und mit unseren Nachbarländern, also ohne ein europäisches Kormoranmanagement, können wir keinen sicheren und dauerhaften Artenschutz gewährleisten und Schaden von bedrohten Arten in heimischen Gewässern abwenden. Als Regierungskoalition sind wir uns der Wichtigkeit eines Kormoranmanagements zum Wohle der Biodiversität und des wirksamen Artenschutzes unter der Wasseroberfläche bewusst. Mit diesem Antrag setzen wir ein Ziel des Koalitionsvertrages um. Wir laden alle ein, denen der Schutz unserer bedrohten Fischfauna, der Erhalt wertvoller Teichflächen und ein ausgewogener Umweltschutz am Herzen liegt, unseren Antrag zu unterstützen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Koalitionsfraktionen es nun endlich geschafft haben, einen Antrag zum Kormoranmanagement zu erarbeiten, der - das begrüße ich natürlich auch - in weiten Teilen sowohl in der Analyse als auch in der Zielsetzung dem Antrag der Linken nahekommt, den wir im April dieses Jahres in den Bundestag eingebracht haben. Deshalb wundert es mich ehrlich gesagt, warum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, so lange dafür gebraucht haben - Sie hätten einfach dem Antrag der Linken zustimmen können. Als am 7. April im Bundestag über den Antrag der Linksfraktion „Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten - Kormoranmanagement einführen“, Drucksache 17/5378, diskutiert wurde, haben sich alle Fraktionen mit Ausnahme der Grünen, die offenbar ein eher selektives Verständnis von Natur- und Artenschutz haben, für ein Kormoranmanagement ausgesprochen. Die Koalitionsfraktionen haben einen eigenen Antrag zum Kormoranmanagement angekündigt, der praktisch nur noch aus der Schublade geholt werden müsse. Dass Sie nun so lange dafür gebraucht haben, würde ich Ihnen ja eigentlich nachsehen. Sie haben aber genau diesen Antrag als Grund dafür angeführt, den Antrag der Linken von der Tagesordnung des Agrarausschusses am 13. April 2011 zu nehmen, um ihn dann dort am 11. Mai mit den Stimmen der Jamaika-Koalition abzulehnen, um dann wiederum fast ein halbes Jahr nichts zu machen. Weil sich unser Antrag vom April diesen Jahres und Ihr jetzt vorgelegter Antrag nur in wenigen Punkten voneinander unterscheiden, frage ich mich, warum Sie die paar Punkte, in denen Sie anderer Meinung sind als wir, nicht als Änderungsantrag eingebracht haben. Dann wären wir in dieser Sache, in der sich offenbar ein großer Teil dieses Parlaments einig ist, schon viel weiter, und Sie hätten sich viel Arbeit erspart. Vor dem kommenden Winter, in dem wieder Tausende Kormorane - gerade an den nicht zugefrorenen Fließgewässern - massiven Schaden anrichten werden, hätten es Fischereiberechtigte und Naturschützer gerne gesehen, dass der Bundestag in diesem Punkt einmal Einigkeit demonstriert hätte, statt sich in kleinlichen parteipolitischen Auseinandersetzungen zu verlieren. Ich hätte das beim Thema Kormoranmanagement für nicht möglich gehalten; das muss ich an dieser Stelle einmal klar und deutlich sagen. Die Kormoranproblematik hätten Sie ausnahmsweise einmal sachlich und nicht ideologisch handhaben können. Nun aber zu Ihrem Antrag. Zuerst einmal möchte ich einmal anerkennen, dass der vorliegende Antrag weiter geht als der FDP-Antrag in der vergangenen Legislaturperiode. Die Koalitionsfraktionen haben es offenbar verstanden, dass wir nicht länger auf Europa warten können, sondern dringend eine bundesweite Koordination von Maßnahmen gegen die viel zu hohe Kormoranpopulation brauchen. Das ist zuerst einmal sehr zu begrüßen. Zu Protokoll gegebene Reden Warum ein bundesweites Kormoranmanagement notwendig ist, sollte heute mittlerweile bekannt sein; die Argumente dafür haben wir bereits Anfang April im Plenum ausgetauscht. Zwei regionale Beispiele aus der jüngsten Zeit möchte ich aber hier noch einmal anführen. In den Gewässern Südsachsens ist der Bestand an Äschen 2010 auf 7 Prozent der Bestandes des Jahres 2001 reduziert worden, das hat eine Auswertung der Fangmeldungen ergeben. Und in Brandenburg sinkt nicht nur die Menge an produziertem Fisch, auch die Arbeitsplätze nehmen ab, und immer weniger junge Menschen sehen in der Fischereiwirtschaft eine Zukunftsperspektive. Die kommerzielle Fischerei stellt wie auch die Freizeitfischerei und der damit verbundene Tourismus gerade im Osten der Republik große Entwicklungspotenziale dar. Wenn wir die nicht mehr von der Natur zu kompensierenden, von Kormoranen verursachten Schäden sowohl in den Flüssen als auch in den Seen und Teichwirtschaften nicht begrenzen, vergeben wir dieses Potenzial und entscheiden uns gegen regionale Wirtschaftskreisläufe, regionale Produktion und regionalen Tourismus. Das kann doch niemand ernsthaft wollen, erst recht nicht die Grünen, bei denen diese Schlagworte in jeder zweiten Broschüre zu finden sind. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, hätten beim Kormoranmanagement einmal die Chance, zu widerlegen, dass Sie sich bei Ihrer Artenschutzpolitik an der optischen Attraktivität von Tieren orientieren. Mit Ihrer Einstellung könnten Sie einen Zoo leiten, aber vom Artenschutz sollte man mit dieser Einstellung die Finger lassen. Denn Artenschutz endet nicht an der Wasseroberfläche. Wir sind uns offenbar einig, was die Regulierung des Kormoranbestandes zum Beispiel durch Maßnahmen zur Steuerung der Reproduktion angeht. Wir fordern die Einhaltung der EU-Wasserrahmenrichtlinie sowie die Gleichwertigkeit von Arten unter und über Wasser. Die Kollegin Stauche hat ja in ihrer Rede zum Kormoranantrag der Linken gesagt, ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement müsse an die Realität angepasst werden. Das, finde ich, ist eine richtige Aussage. Deshalb finde ich es auch gut, dass Sie sich an unserem realistischen Konzept ausgerichtet haben. Auch wenn die Richtung Ihres Antrags grundsätzlich richtig ist, bleibt er dennoch in einigen Punkten hinter unserem zurück, zum einen bei den Partnerinnen und Partnern, mit denen ein Management des Kormoranbestandes entwickelt wird. Sie nennen hier nur die Bundesländer. Deren Zuständigkeitsbereiche sind gerade in diesem Bereich klar, und deshalb ist die Entwicklung und Koordinierung von Maßnahmen mit den Ländern eine Selbstverständlichkeit. Wir fordern in unserem Antrag die Beteiligung von Fischerei-, Naturschutz- und Angelverbänden an der Planung und vor allem auch an der Zielsetzung eines Kormoranmanagements. Bevor wir mit einem Management beginnen, muss doch erst einmal geklärt werden, wie hoch eigentlich das Bestandsziel beim Kormoran sein sollte. Darüber gibt es seit Jahren fachliche, aber eben auch sehr emotional geführte Diskussionen; das dürfte auch Union und FDP nicht entgangen sein. Die Einbeziehung der betroffenen Interessenverbände soll nicht nur wegen des Sachverstands von Fischern und Naturschützern geschehen, sondern auch, um alle Beteiligten in ein Boot zu holen und am Ende einen Konsens zu erreichen. In Dänemark hat dies geklappt, vielleicht schaffen wir es in der Bundesrepublik auch. Zum Zweiten fehlt es bei Ihnen an einer Entschädigungsregelung für betroffene Fischereiberechtigte und Teichwirte. Klar können Sie sagen, das ist Sache der Länder. Aber das sind die Kormoranverordnungen auch, die Sie harmonisieren wollen - auf einem guten Niveau, hoffe ich, und nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Es gilt hier für alle, an einem Strang zu ziehen und dafür zu sorgen, dass es überhaupt einmal in allen Ländern Entschädigungszahlungen gibt, die sich an vergleichbaren Kriterien orientieren. Und drittens hätte ich mich gefreut, wenn Sie unseren Vorschlag eines grenzübergreifenden Kormoranmanagements im Ostseeraum als ersten Schritt zu einem europäischen Kormoranmanagement auch übernommen hätten. Das könnte man als Ergänzung ja noch aufnehmen. In unserer Debatte im April habe ich deutlich gemacht, dass die Linke zu einem konstruktiven Dialog bereit ist, um über die Parteigrenzen hinweg konkrete Lösungen für den Artenschutz, für die Fischerei und für über 3 Millionen Anglerinnen und Angler in der Bundesrepublik zu finden. Im Gegensatz zu Ihnen bewerten wir Anträge am Inhalt - und nicht daran, wer sie verfasst hat. Ich fordere Sie auf, sich bei den zukünftigen Beratungen ebenso offen für eine gemeinsames Vorgehen in dieser Sache zu zeigen. Und ich hoffe sehr, dass Ihr Antrag nach dieser ersten Lesung nicht wieder für Monate in den Schubladen verschwindet, sondern zügig mit Maßnahmen begonnen werden kann. An uns wird es nicht scheitern. Zum Schluss möchte ich noch denjenigen danken, die trotz erheblicher Rückschläge immer daran festgehalten haben, die Artenvielfalt in den Gewässern zu erhalten. Ohne die Besatzmaßnahmen der Fischerei und der Anglerverbände müssten wir heute von vielen Fischarten in der Vergangenheitsform reden. Diesem unermüdlichen Einsatz gilt unser voller Respekt.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Koalitionsantrag zum Fischartenschutz und zum Kormoranmanagement ist ein Etikettenschwindel; denn in ihm geht es weder um einen umfassenden Fischartenschutz noch um ein planvolles Kormoranmanagement. Er fordert schlicht eine ziellose Dezimierung der Kormoranbestände, ohne dass populationsökologisch überhaupt ermittelt werden soll, was denn eine tragbare Bestandsgröße überhaupt wäre, die sowohl den Erhalt der Kormoranbestände als auch der zu schützenden Fischarten gewährleistet. Das aber müsste Ausgangspunkt eines Kormoranmanagements sein. Dass die Regierungsfraktionen eine solche Bedingung aber nicht einmal formulieren, spricht Bände. Zu Protokoll gegebene Reden Der Antrag wird in seiner Armseligkeit aber auch sonst davon geprägt, was er an Fakten und Sachverhalten weglässt. So liefert er zum Beispiel keinerlei Analyse der europäischen und der deutschen Rechtslage, die nun einmal der Rahmen für die geforderten Eingriffe in die Kormoranpopulation ist. Die Antragsteller verschließen die Augen vor den Grenzen, die das Europarecht und auch das Bundesrecht Eingriffen in die Kormoranpopulationen setzt. Die von Ihnen geforderten Maßnahmen - eine schrittweise Verminderung des Brutvogelbestandes auf ein unbestimmtes Niveau und eine grundsätzliche Verhinderung von Neugründungen von Kormorankolonien - sind so jedenfalls nicht erlaubt. Rechtskonforme Vorschläge zu wirksamen Eingriffen in die Kormoranpopulationen, die den Zweck des Fischartenschutzes erfüllen, ohne Kollateralschäden an anderen geschützten Arten zu verursachen, finden sich in diesem Koalitionsantrag nicht. Da aber aus dem Antrag nicht ersichtlich ist, dass eine Rechtsänderung angestrebt wird, wird es bei dem bleiben, was bereits heute möglich ist: bei Kormoranverordnungen der Bundesländer zur Abwehr fischwirtschaftlicher Schäden. Die Länder können diese unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Sinne eines effektiven Schutzes der betreffenden Binnenfischereibetriebe vor Schäden durch den Kormoran optimieren und harmonisieren, mehr aber auch nicht. Und das müssten die Koalition eigentlich auch wissen. Man kann sicherlich darüber diskutieren, ob eine Ausweitung der Möglichkeit zu regional begrenzten Eingriffen zukünftig auch zum Schutz bestimmter natürlicher Gewässer und gefährdeter Arten sinnvoll ist, so wie man vonseiten des Naturschutzes zu dem Schluss kommen kann, dass in bestimmten Schutzgebieten die Prädation durch bestimmte Beutegreifer für bestimmte geschützte Arten ein Problem ist und deswegen regional begrenzt in die Population dieser Beutegreifer eingegriffen werden sollte. Das EU-Recht dürfte dies erlauben. Dabei muss aber gewährleistet sein, dass es weder für den Bestand des geschützten Kormorans noch für andere geschützte Arten erhebliche nachteilige Wirkungen gibt. Wie das gewährleistet werden kann, damit befasst sich der Antrag mit keinem Wort. Aber der Antrag lässt noch mehr wichtige Fakten einfach weg. So wird zwar richtigerweise dargelegt, dass zahlreiche Süßwasserfischarten in Europa und insbesondere in Deutschland gefährdet sind. Und das ist in der Tat ein Problem, das die Politik anpacken muss. Als Grund für diese Gefährdung wird aber nur ein einziger genannt: die gewachsenen Bestände des Kormorans. Das ist von atemberaubender Schlichtheit. Dass diese Gefährdung auch etwas damit zu tun hat, dass ein Großteil unserer Gewässer stark verbaut, begradigt und durch eine Kaskade von Staustufen inklusive Wasserkraftwerken beeinträchtigt sind, davon erfährt man genauso wenig wie über die Rolle von Gewässerbelastungen und Überdüngung der Gewässer durch nach wie vor sehr hohe Stickstoffüberschüsse in der Landwirtschaft. Entsprechende Gegenmaßnahmen fehlen folglich. Der monokausale Ansatz, der uns hier von der Koalition vorgelegt wird, ist selbst dann inakzeptabel, wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass die Kormoranbestände tatsächlich ein Teil des Problems beim Fischartenschutz sind, worüber sich der Naturschutz keinesfalls einig ist und wofür der Antrag Belege schuldig bleibt. Zusammengefasst ist festzuhalten: Die Koalition tut so, als könnten der Bund, die Länder und die EU im Rahmen des geltenden Rechts die Kormoranbestände dezimieren. Damit täuscht und verschaukelt sie die vielen Fischer und Angler, die Hoffnungen auf sie gesetzt haben, und weckt Erwartungen, die absehbar nicht erfüllt werden können. Mit diesem Antrag ist klar, dass von den vollmundigen Versprechungen der FDP und der schwarz-gelben Koalition an die Fischer und Angler in Sachen Kormoran auch weiterhin rein gar nichts in die Tat umgesetzt werden wird. Der Antrag ist ein reiner Schaufensterantrag zur Beruhigung von Fischern und Anglern, denen FDP und Union vollmundig Wahlversprechen gemacht haben. Das ist aber eine Rechnung, die nicht aufgehen wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7352 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes - Drucksache 17/7334 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Stefan Kaufmann, Swen Schulz, Patrick Meinhardt, Nicole Gohlke, Kai Gehring und Helge Braun.

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute beraten wir in erster Lesung das Vierundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Hintergrund ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juni diesen Jahres, derzufolge Absolventen von Studiengängen mit Mindeststudienzeiten bei der Gewährung eines Teilerlasses nicht benachteiligt werden dürfen. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werden wir jetzt fristgerecht umsetzen. Darum geht es, meine Damen und Herren, und um nichts anderes! Noch einmal zum Verständnis: Bei einem Studienabschluss vier Monate vor Ablauf der Förderungshöchstdauer bekommen die Studenten einen großen Teilerlass, bei einem Abschluss zwei Monate vor Ablauf der Förderungshöchstdauer einen kleinen Teilerlass. Im vorliegenden Fall hatte ein Medizinstudent aus Thüringen Verfassungsbeschwerde eingereicht. Er hatte in den 90er-Jahren BAföG bekommen und sein Studium zügig beendet. Genau wie seine ostdeutschen Kommilitonen hatte er jedoch keine Chance auf den großen Teilerlass. Während die Förderungshöchstdauer in Medizin in den alten Bundesländern noch bis 1993 bei 13 Semestern und die Mindeststudienzeit bei 12 Semestern lag, betrug die Förderungshöchstdauer in den neuen Bundesländern 12 Semester und 3 Monate bei identischer Mindeststudienzeit. Somit konnte der Medizinstudent aus Thüringen gar nicht vier Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer sein Studium beenden und den großen Teilerlass bekommen. Der Student hatte sein Studium nach 12 Semestern und einem Monat abgeschlossen, also zwei Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer in den neuen Bundesländern. Folglich wurde dem Studenten nur der kleine Teilerlass von 2 000 DM gewährt. In den alten Bundesländern hätte der Student sein Studium bei gleicher Studiendauer aber 5 Monate vor dem Ende der Förderungshöchstdauer beendet und damit den großen Teilerlass von 5 000 DM erhalten. Somit wurde der Thüringer Medizinstudent einerseits gegenüber Studenten benachteiligt, in deren Fächer es keine Mindeststudienzeit gibt, und andererseits gegenüber Medizinstudenten aus den alten Bundesländern. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 21. Juni 2011 erklärt: „§ 18b Abs. 3 Satz 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz ist mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit es Studierenden wegen Rechtsvorschriften zu einer Mindeststudienzeit einerseits und zur Förderungshöchstdauer andererseits objektiv unmöglich ist, einen sogenannten großen Teilerlass zu erhalten.“ Das Bundesverfassungsgericht führt über den entschiedenen Fall hinaus aus, dass auch in allen anderen nicht bestands- und rechtskräftigen bzw. zukünftigen Fällen, in denen ein großer Teilerlass aufgrund objektiver Unmöglichkeit nicht erreicht werden kann, § 18 b Abs. 3 BAföG nicht mehr angewendet werden darf. Mit diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht eine Regelung als zum Teil verfassungswidrig aufgehoben, die auch von der Regierungskoalition als ungeeignete Maßnahme zur Förderung besonderer Studienleistungen angesehen wurde, dies unter anderem gerade wegen der zwischenzeitlich nicht mehr zu gewährleistenden Einzelfallgerechtigkeit. Dementsprechend wurde bereits mit dem 23. BAföGÄndG im Jahre 2010 das Auslaufen dieser Regelung beschlossen. Aus Gründen des Vertrauensschutzes für diejenigen Studierenden, die bereits mit Blick auf die Erreichung des Teilerlasses besondere Studienanstrengungen unternommen haben, wurde eine Übergangszeit für das Auslaufen der angegriffenen Regelung bis zum 31. Dezember 2012 beschlossen. Dementsprechend betrifft die jetzige Neuregelung nur die Übergangszeit bis Ende 2012. Zudem dürfte sie auch nur in wenigen Fällen zum Zuge kommen, da die Deckelung der Rückzahlungssumme bei 10 000 Euro dem Teilerlass vorgeht. Abschließend wurde dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht aufgegeben, bis zum 31. Dezember 2011 die entsprechende Vorschrift verfassungskonform zu gestalten und die Darlehensteilerlasse bei frühzeitigem Studienabschluss neu zu regeln. Dieser Vorgabe kommen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf im Sinne der Betroffenen nach. Wir wollen sicherstellen, dass für die Übergangszeit kein Studierender von vornherein allein deshalb von einem großen oder kleinen Teilerlass nach §18b Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 BAföG ausgeschlossen ist, weil ihm ein ausreichend frühzeitiger Abschluss noch vor Ablauf der Förderungshöchstdauer durch das Zusammenspiel der Regelungen über Mindeststudiendauer, Förderungshöchstdauer und über den seiner Einflussnahme entzogenen Prüfungsablauf objektiv unmöglich gemacht wird. Dafür werden im Gesetz rechtlich verbindlich vorgeschriebene Mindestausbildungszeiten einschließlich erforderlicher Prüfungszeiten bei der Gewährung eines Geschwindigkeitsteilerlasses nach § 18b Abs. 3 BAföG künftig nach den Maßgaben der neuen Abs. 4 und 5 gesondert berücksichtigt. Was passiert nun, wenn sich Prüfungszeiten an reine Mindeststudienzeiten anschließen, die allein in einer Rechtsvorschrift bestimmt sind, ohne dass dort auch die gesamte Dauer der Mindestausbildungszeit ausdrücklich bestimmt wird? Dann werden diese Prüfungszeiten zusätzlich mit der Dauer angesetzt, die in diesen Studiengängen für einen erfolgreichen Studienabschluss auch noch nach Ablauf der Mindeststudienzeit regelmäßig erforderlich ist. In diesen Fällen bemisst sich die für den Teilerlass zusätzlich maßgebliche Prüfungsdauer unmittelbar nach der Rechtsvorschrift. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie beim Studium der Humanmedizin - ein kalendarisch festgelegter Zeitraum bestimmt ist, innerhalb dessen die Prüfungen abgenommen werden. Zu regeln sind auch Studiengänge, in denen trotz geregelter Mindeststudienzeit die Dauer der Prüfungszeit noch nach Ablauf der Mindeststudienzeit zusätzlich anzusetzen ist. Kann die Prüfungszeit nicht unmittelbar aus der maßgeblichen Regelung entnommen werden, so wird für die Teilerlassberechtigung pauschal eine dreimonatige Prüfungszeit als erforderlich vermutet. Diese drei Monate werden zudem zusätzlich zur Mindeststudienzeit der Erlassentscheidung als insgesamt maßgebliche Mindestausbildungszeit zugrunde gelegt. Somit ist kein Studierender mehr allein deshalb von einem großen Teilerlass nach § 18b Abs. 3 BAföG ausgeschlossen, weil ihm ein frühzeitigerer Abschluss noch vor Ablauf der Förderungshöchstdauer objektiv unmöglich gemacht wird. Dementsprechend kommt die CDU/ CSU-Fraktion mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nach und schließt eine bestehende Ungerechtigkeitslücke. Forderungen der Opposition nach Aktionismus und größeren Änderungen in der BAföG-Gesetzgebung sind auch vor dem Hintergrund der rot-grünen BAföG-Bilanz von 1998 bis 2005 absolut unglaubwürdig. Hier werden wir weiter auf rot-grün oder rot-rot regierte Bundesländer warten, die sich im Bundesrat für BAföG-Erhöhungen starkmachen. Weitergehende Diskussionen über das BAföG werden wir im nächsten Jahr nach dem Vorliegen des nächsten BAföG-Berichtes führen.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit großer Freude feiern wir in diesem Jahr das 40-jährige Bestehen des BAföG. Das BAföG - es ist und bleibt eine große Erfolgsgeschichte. 1971 unter Bundeskanzler Willy Brandt eingeführt, ermöglicht dieses Zu Protokoll gegebene Reden Swen Schulz ({0}) Gesetz, dass sich Millionen von Menschen ein Studium leisten konnten und bis heute können. Auch Bundesministerin Schavan hat zu den Feierlichkeiten öffentlich bekundet, dass für sie das BAföG eine für das Studium ermutigende Rolle gespielt hat. Das Entscheidende für den Erfolg ist dabei der Rechtsanspruch. Alle, die finanzielle Hilfe benötigen, können sich darauf verlassen, dass sie etwas erhalten, und ausrechnen, was sie erhalten. So konnte 40 Jahre lang erfolgreich Gerechtigkeit in der Studienförderung organisiert werden. Und damit das so bleibt, muss das BAföG ständig weiterentwickelt und aktuellen Erfordernissen angepasst werden. Nun könnte man meinen, die Regierungskoalition hätte dies erkannt. Dann schaut man aber auf dieses 24. BAföG-Novellierungsgesetz und findet nichts weiter als das formell Gebotene. Lediglich die Teilerlassregelung, die das Bundesverfassungsgericht teilweise als verfassungswidrig erklärt hat, wird korrigiert. Sonst nichts, sonst bleibt alles beim Alten. Das also ist das Geschenk der Koalition zum 40. Geburtstag. Da erlebt die Geburtstagsfeier eher verzogene Gesichter. Sie haben sich bei der Auswahl des Geschenkes augenscheinlich nicht wirklich Mühe gegeben. Das Ergebnis ist eine bunte Geschenkverpackung mit leerem Inhalt. CDU/CSU und FDP wissen selber, dass - wenn man schon eine Änderung des Gesetzes durchführt - noch einige bekannte Problemstellen des BAföG-Gesetzes zusätzlich hätten aufgegriffen werden können. Politik heißt nicht nur verwalten, Politik heißt auch gestalten. Nicht nur wir als Oppositionspartei, auch die Sachverständigen und Experten haben im vergangenen Jahr mehrfach darauf hingewiesen, dass die 23. BAföG-Novelle nicht ausreichend ist und das Ziel, mehr betroffenen Menschen ein Studium zu ermöglichen, nicht zufriedenstellend erreicht wird. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Änderung des BAföG-Gesetzes ist durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unweigerlich notwendig, ohne Frage. Von einer Regierungskoalition hätte ich - und vor allem Hunderttausende Studierende ebenso - nach aller Kritik und konstruktiven Vorschlägen aber deutlich mehr erwartetet. Was die Koalition stattdessen tagtäglich in der Hochschulpolitik treibt, bleibt ein Marathon der Ankündigungen, bei dem aber anschließend die Ziellinie nie erreicht wird und Chancen vertan werden. Bei allen Erfolgen des BAföG: Noch immer hindern finanzielle Gründe Menschen daran, ein Studium aufzunehmen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind uns dessen klar; denn wir verstehen Bildung als ein Menschenrecht, und nicht als Privileg. Wir haben das bereits im vergangenen Jahr mit einem umfassenden Antrag deutlich gemacht. Wir wollen, dass für jeden Einzelnen und jede Einzelne der bestmögliche Bildungsabschluss möglich ist, unabhängig von den finanziellen Voraussetzungen der Eltern. Was uns dagegen als 24. BAföG-Novellierung angeboten wird, ist schlicht lustlos und unzureichend. Dabei liegen die Handlungsfelder offensichtlich auf der Hand. Einerseits sind wir an der Hochschule heute mit unterschiedlichsten Bildungsbiografien konfrontiert. Der geradlinige Weg vom Abitur zum Studium zum Abschluss ist nicht mehr selbstverständlich. Hinzu kommen neue Herausforderungen durch Studierende mit Kind, Studierende, die Angehörige pflegen, Teilzeitstudierende oder Studierende mit berufsbegleitendem Studium. Zudem haben wir mit Bachelor und Master nun zwei mögliche Studienphasen etabliert, in denen sowohl ein konsekutiver Übergang als auch zeitversetztes Masterstudium möglich sind. Daraus entstehen neue Lücken während des Studiums als auch neue Varianten. Das bisherige BAföG aber gibt auf diese veränderten Rahmenbedingungen keine ausreichende Antwort. Wo sind in dieser BAföG-Novelle Anpassungen an Teilzeitstudierende? Wo sind die Anpassungen an das neue gestufte Studiensystem? Wo ist das BAföG, das genauso flexibel einsetzbar ist, wie Sie es von den Studierenden erwarten? Nichts davon findet sich in diesem Gesetz. Auch für individuellen oder zeitlich begrenzten finanziellen Bedarf haben Sie, liebe Regierungskoalition, keine Antworten im BAföG-Gesetz. Noch immer fallen etliche Studierende durch das BAföG-Netz, da das Einkommen ihrer Eltern nicht groß ist, aber knapp an der Grenze liegt. Dieses sogenannte Mittelstandsloch führt dazu, dass diese entweder gar keine oder nur eine geringere Finanzierung erhalten. Wer sich zudem während des Studiums ehrenamtlich betätigt oder sich für Auslandssemester entschieden hat, kommt beim Studienabschluss schnell in finanzielle Nöte, da dann oftmals auch die Erwerbsarbeit zurückgefahren werden muss. Was haben Sie diesen Studierenden zu bieten? Wir haben auf diese akuten Probleme reagiert und bereits im letzten Jahr Antworten präsentiert. Wir schlagen eine weitere Erhöhung der Freibeträge um 7 Prozent und der Förderbeträge um 1 Prozent sowie eine zweite Einkommensgrenze mit einem Nullzinsdarlehen vor. Damit wollen wir die Lücke weiter schließen und eine flexiblere Förderung in breite Bevölkerungsschichten hinein eröffnen. Wir wollen auf die neuen Herausforderungen der neuen Studienstruktur reagieren und das BAföG den neuen Rahmenbedingungen anpassen. Dazu zählen Änderungen für ein flexibleres BAföG, das die Vielfalt individueller Bildungsbiografien stärker berücksichtigt. Um Studierende in der Studienabschlussphase nicht in akute Geldnöte und somit zwangsweise in Kreditprogramme zu drängen, wollen wir die Förderhöchstdauer auf bis zu zwei Semester über der Regelstudienzeit anheben. Auch für die Pflege von Angehörigen wollen wir eine Verlängerung der Bezugsdauer ermöglichen. Dazu zählt auch die Anerkennung einer Schwangerschaft sowie die Erziehung von Kindern künftig bis zum 14. Lebensjahr statt wie bisher bis zum 10. Lebensjahr. Das alles nennt man Flexibilisierung und Familienfreundlichkeit des BAföG. Was hat die Koalition diesen Menschen anzubieten? Jetzt wäre auch für Sie die Gelegenheit gewesen, Versäumnisse aus dem letzten Jahr gutzumachen. Es war Zeit genug, um über unsere konstruktiven Vorschläge nachzudenken, auch über die Verbesserungsvorschläge der Sachverständigen und Experten. Von der Koalition aber kommt leider nichts. Sie schweigt sich in ihrem Gesetzentwurf zu diesen Themen aus und lässt damit die Betroffenen erneut im Stich. Zu Protokoll gegebene Reden Swen Schulz ({1}) Ich lade herzlich dazu ein, alle damals diskutierten Vorschläge noch einmal intensiv durchzugehen. Da stehen zahlreiche weitere Vorschläge drin, die auch dieser „Novelle“ gut zugestanden hätten. Wir dagegen wollen kurz- und mittelfristige Verbesserungen, die den jetzigen Studierenden und Studieninteressierten eine starke und flexible BAföG-Förderung anbietet und auf individuelle Bildungswege und Herausforderungen während des Studiums adäquat eingeht. Damit machen wir das BAföG weiter zukunftsfest. Wer jedoch Zukunft gestalten will - und das sollte eigentlich auch der Wunsch der Regierungskoalition sein -, der darf an diesem Punkt nicht verharren. Wir machen uns deshalb bereits heute Gedanken darüber, wie das BAföG zukünftig als flexibles und angepasstes Finanzierungsmodell unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenswegen Rechnung tragen, neue gesellschaftliche und berufliche Herausforderungen angemessen berücksichtigen und durch mutige Schritte eines sozialen und gerechten Bildungsfinanzierungssystems dem drohenden Fachkräftemangel und den gestiegenen Bildungsanforderungen unserer Gesellschaft erfolgreich begegnen kann. Die Regierungskoalition hat weder Antworten auf die heutigen Probleme und Herausforderungen noch den nötigen Weitblick für die Fragen der Zukunft. Stattdessen klammert sie sich weiterhin an ihr Nationales Stipendienprogramm, das bislang als gescheitert angesehen werden kann, und nutzt das BAföG nur noch als Alibiveranstaltung. Dieser Entwurf zum 24. BAföG-Änderungsgesetz ist der beste Beweis dafür. Aber es ist ja nicht zu spät. Wir machen der Koalition einen konstruktiven Vorschlag: Wir klammern bei dieser Novelle alle politisch besonders kontroversen Themen aus und konzentrieren uns auf die wichtigsten organisatorisch-technischen Fragen. Dazu gehört ganz sicher der BAföG-Bezug beim Übergang vom Bachelor in den Master, aber auch die Frage des Umganges mit Studierenden mit Kindern und mit pflegebedürftigen Angehörigen. Darüber hinaus gibt es einige Punkte hinsichtlich der Vereinfachung der Verfahren. Wenn wir uns zusammensetzen, finden wir sicher gemeinsam einige Punkte, die wir im Interesse der Studierenden verbessern können. Ich setze darauf, dass die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP bei den Beratungen dieses Gesetzes offen für eine solche Debatte sind und nicht nur einfach den Gesetzentwurf durchwinken.

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Bundesverfassungsgericht hat beim Teilerlass zum BAföG eine Entscheidung gefällt, die Koalitionsfraktionen haben schnell gehandelt, und jetzt liegt der Gesetzentwurf vor. Die FDP-Fraktion hat dieses Urteil gleich begrüßt. Es schließt eine Gerechtigkeitslücke. Der heutige Gesetzentwurf setzt dieses um. Deswegen sollten in diesem Hohen Haus auch alle zustimmen. Wir müssen jetzt einen zeitlichen Korridor schließen und rechtliche Sicherheit einräumen für circa 1100 Personen. Bei der umfassenden BAföG-Modernisierung des vergangenen Jahres war auch dieser Teilerlass schon Gegenstand und ist ab 1. Januar 2013 ohnehin außer Kraft gesetzt. Hier haben die Regierungsfraktionen schon umsichtig und vorausschauend gehandelt. Gerade deshalb haben wir auch bereits im dem 23. BAföG-Änderungsgesetz eine Neuregelung der sogenannten großen Förderungshöchstdauer vorgesehen. Dies zeigt, dass diese Koalition konsequent daran arbeitet, die Ausbildungsförderung in Deutschland noch moderner, noch gerechter und noch effizienter zu gestalten. Als eine der führenden Wirtschafts- und Wissenschaftsnationen müssen wir alles daran setzen, dass unsere jungen Menschen beste Voraussetzungen für ihre schulische, universitäre und berufliche Ausbildung haben. Und genau dies ist das Ziel dieser Koalition der Mitte. Deshalb haben wir bereits lange vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür gesorgt, dass der Widerspruch zwischen Förderhöchstdauer und Regelungen zur Mindeststudienzeit ausgeräumt wird. Wir hatten dies für die Zeit nach dem 31. Dezember 2012 vorgesehen, werden diese Regelung nun aber vorziehen und entsprechend dem Urteil bis zum 31. Dezember 2011 umsetzen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt in erster Linie die Bundesregierung in ihrer Politik für mehr Gerechtigkeit und mehr Fairness bei der Studienfinanzierung in Deutschland. Und das ist das gute Signal, das von diesem Urteil ausgeht. Wir beenden mit diesem Änderungsgesetz einen inakzeptablen Zustand bei dem durch das Zusammenkommen von Regelungen zur Mindeststudiendauer und Förderungshöchstdauer Studierenden ein wirklicher finanzieller Nachteil entsteht, ohne dass dies im Bereich der eigenen Einflussnahme liegt. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit, aber auch des Anstandes gegenüber unseren Studierenden. Dabei war es für dieses Koalition wichtig, keine zusätzlichen bürokratischen Belastungen für die Verwaltungen der Hochschulen oder für das Bundesverwaltungsamt zu schaffen. Wir orientieren uns deshalb an den vorgesehenen Mindestausbildungszeiten und den eventuell notwendigen Prüfungszeiten, sodass zukünftig alle Studierenden die Chance erhalten, den sogenannten großen Teilerlass zu erhalten. Damit fördern wir Leistung, schaffen mehr Gerechtigkeit und verhindern neue bürokratische Strukturen. Wir alle sind uns sicher einig, dass sich das BAföG als zentrales Element der breiten Bildungsförderung bewährt hat. Es garantiert Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und ist somit eine wesentliche Säule für mehr soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Daneben haben wir dank der großartigen Arbeit der Begabtenförderungswerke eine weitere wichtige Ergänzung insbesondere im Bereich der Spitzenförderung bei Akademikerinnen und Akademikern. Ein moderner und wettbewerbsstarker Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort braucht auch eine lebendige Stipendienkultur. Die deutsche Wirtschaft hat bereits eigene Stipendien zur Verfügung gestellt. Dies ist ein gutes Zeichen für das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein der UnterZu Protokoll gegebene Reden nehmen und Verbände in Deutschland. Es zeigt aber auch, dass eine führende Wirtschaftsnation wie Deutschland auf die Förderung von außergewöhnlicher Leistung und Einsatzbereitschaft angewiesen ist. Und genau deshalb ist es für uns auch selbstverständlich, dass wir eine entsprechende Förderung auch von staatlicher Seite benötigen. Mit dem Deutschlandstipendium haben wir deshalb den richtigen Weg eingeschlagen, um für unser Land eine moderne und zukunftsweisende Stipendienkultur zu schaffen - wie dies in anderen Industrienationen längst der Fall ist. Ein Stipendium während des Studiums ist ohnehin der bessere Weg als der, einen Teilerlass im Nachgang zu gewähren. Mehr Gerechtigkeit, weniger Bürokratie und mehr Leistungsfähigkeit - dies sind unsere Grundsätze für die Bildungsförderung in Deutschland. Wir stärken damit den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland, wir stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und wir stärken die Zukunftschancen der nachfolgenden Generationen.

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Pünktlich zum 40. Geburtstag des BAföG ließ Bildungsministerin Schavan vermelden, dass in diesem Jahr mit keiner weiteren Änderung des BAföG zu rechnen sei. Die magere BAföG-Erhöhung im Jahr 2010 sei ein „vorgezogenes Geburtstagsgeschenk“ gewesen. Ministerin Schavan gibt damit das BAföG dem Verfall preis. Denn faktisch haben die BAföG-Erhöhungen der letzten Jahre nicht einmal die Preissteigerung ausgeglichen. Wenn das BAföG nicht weiter steigt, bedeutet das eine reale Schrumpfung. Ministerin Schavans gleichzeitiger Hinweis auf Darlehen ist eine höflich verpackte, aber umso zynischere Aufforderung an die Studierenden, sich zu verschulden. Das ist gerade einmal sieben Wochen her. Überraschenderweise liegt uns heute jedoch ein 24. BAföG-Änderungsgesetz zur Debatte vor. Obwohl die Bundesregierung hier den anstrengenden Weg der parlamentarischen Verhandlung geht, verpasst sie wieder einmal die Gelegenheit für weitere notwendige Änderungen. Unser Antrag „40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiterentwicklung nutzen“ liegt Ihnen vor. Hierin benennen wir, wie das BAföG zu einer modernen und vor allem sozialen Ausbildungsfinanzierung weiterentwickelt werden kann. Sie wissen, es klafft eine Finanzierungslücke von mindestens 10 Prozent. Zwei Drittel der Studierenden arbeiten deshalb neben dem Studium. Diese Kluft muss dringend geschlossen werden. Das BAföG muss sofort um 10 Prozent angehoben werden. Die Umstellung auf eine Zuschussförderung ist zudem überfällig und verhindert die Verschuldung der Studierenden. Die Angst vor Verschuldung hält vor allem Studieninteressierte aus finanzschwachen Schichten von den Hochschulen fern. Es muss klar sein, dass sich alle Studierenden auch ein Masterstudium leisten können. Stellen Sie endlich die komplette Masterförderfähigkeit sicher. Die diskriminierenden Altersgrenzen von 30 bzw. 35 Lebensjahren müssen fallen. Sie stellen vor allem für Menschen ein Hindernis dar, die im Anschluss an eine Berufsausbildung, an Jahre der Berufstätigkeit oder an eine Familienphase studieren oder sich weiterbilden möchten oder die die Hochschulzugangsberechtigung anders als auf dem traditionellen Weg erworben haben. Also genau die Gruppen, die es besonders zu fördern gilt. In diesem Zusammenhang dürfen auch Studierende, Schülerinnen und Schüler in Teilzeit nicht generell von einer Förderung ausgeschlossen werden. Ich nenne als Beispiel nur die Psychotherapeutenausbildung. Schülerinnen und Schüler aus bildungsbenachteiligten Schichten müssen früh und durchgängig gefördert werden. Sie sind besonders auf eine verlässliche Ausbildungsförderung angewiesen. Dementsprechend soll das BAföG für Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe allgemeinbildender Schulen wieder vollständig eingeführt werden. Aus unserer BAföG-Debatte von Anfang September wissen wir schon, dass sich weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfraktionen aus FDP und CDU/CSU einen Meter bewegen wollen. Warum aber wollen die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung nur das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Darlehensteilerlässen umsetzen? Das ist doch absurd. Sie hätten die Gelegenheit, endlich auch handwerkliche Fehler im BAföG zu beseitigen. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Erstens die Unterdeckelung des Kranken- und Pflegeversicherungszuschlags: Eigentlich müsste es selbstverständlich sein, schließlich handelt es sich um einen gesetzlich festgelegten Pflichtbeitrag und nicht um eine Ausgabe, deren Höhe man durch Nutzung der Angebote am Markt selbst bestimmen kann. Seit dem Beginn des Sommersemesters 2011 - an den Fachhochschulen begann es im März, an den Unis im April - beträgt der Beitrag für die studentische Pflichtversicherung 64,77 Euro, für die Pflegeversicherung von kinderlosen Personen ab 23 Jahren 13,13 Euro. Im BAföG ist jedoch nur ein Zuschlag von 62 Euro bzw. 11 Euro festgelegt. Das entspricht einer Unterdeckung von insgesamt 4,90 Euro pro Monat. Zweitens die Anrechnung eines Kfz als Vermögen: Bis Ende 2010 wurde ein Kfz bis zum Wert von 7.500 Euro im Verwaltungsvollzug des BAföG einfach als Haushaltsgegenstand angesehen, der nicht als Vermögen angerechnet wird. Im Juli 2010 hat das Bundesverwaltungsgericht geurteilt, dass eine solche Betrachtung im BAföG nicht zulässig sei, da ein Kfz kein Haushaltsgegenstand ist. Da sie dieses Urteil nicht ignorieren dürfen, müssen die BAföG-Ämter seit Januar 2011 bei jeder neuen Bewilligung den Zeitwert des Fahrzeugs als Vermögen mitanrechnen. Was damals in der Presse als lapidare Randmeldung erschien, dürfte in der Praxis für manche BAföG-Bezieherinnen und -Bezieher zur Existenzfrage werden. Bessern Sie nach und fügen Sie in § 27 BAföG ein „angemessenes Kraftfahrzeug“ ein. Wer bei BAföG-Geförderten stets nur Studierende mit Semesterticket in Ballungszentren und gut ausgebautem NahZu Protokoll gegebene Reden verkehr vor Augen hat, vergisst, dass es auch Schülerinnen und Schüler sowie Studierende in der Fläche gibt.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

„Leistung muss sich lohnen“ - dieser viel zitierte Grundsatz ist auch Teil des BAföG. Viele Studierende, die besonders schnell ihr Studium abgeschlossen oder einen überdurchschnittlichen Studienerfolg erzielt haben, mussten den Darlehensteil des BAföG nicht komplett zurückzahlen. Den „großen Teilerlass“ erhält zum Beispiel jemand, der das Studium vier Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer abschließt. Den „kleinen Teilerlass“ gibt es, wenn die Ausbildung mindestens zwei Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer abgeschlossen wurde. Allerdings waren die Darlehenserlasse aufgrund schnellen Studiums mit Ungerechtigkeiten verbunden, die die 24. BAföG-Novelle notwendig machen. Am 21. Juni 2011 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass eine Neuregelung der Darlehensteilerlässe im BAföG erfolgen muss. Die jetzige Regelung sei nicht vereinbar mit dem Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Im Fall des klagenden Studierenden der Humanmedizin, dem die Karlsruher Richter recht gegeben haben, betrug die Mindeststudiendauer zwölf Semester, die Förderungshöchstdauer lag aber nur bei zwölf Semestern und drei Monaten, sodass es objektiv unmöglich war, den großen Teilerlass - damals 5 000 DM - zu erhalten. Dem betroffenen Studenten wurde nur der „kleine Teilerlass“ in Höhe von 2 000 DM zuerkannt, da er sein Studium zwei Monate vor Ablauf der Förderungshöchstdauer beendet hatte. Mit der 24. BAföG-Novelle wird diese Ungerechtigkeit gelöst, was wir als grüne Bundestagsfraktion begrüßen. Die Wirkung dieser Novelle wird indes nur von begrenzter Dauer sein. Denn die Möglichkeit zum Darlehenserlass läuft zum 31. Dezember 2012 aus - so hat es Schwarz-Gelb im letzten Jahr in der 23. BAföG-Novelle beschlossen. An dieser Stelle beseitigen Union und FDP im BAföG das Prinzip „Leistung muss sich lohnen“, obwohl sie doch stets gerne von sich behaupten, sie wären die einzigen, die diesen Grundsatz beherzigen. Das Gegenteil ist der Fall. Das gilt vor allem, wenn man an die anstehende Neuregelung zur Absetzbarkeit der Erstausbildung über das Steuerrecht denkt. Es ist zu befürchten, dass Union und FDP eine Regelung vereinbaren nach dem Motto „Je mehr jemand direkt nach dem Studium verdient, desto höher die Steuerrückerstattung“. Das hat mit Leistung während des Studiums nichts zu tun. Wir wollen, dass die Ausbildungsförderung danach ausgerichtet wird, wie bedürftig jemand zum Zeitpunkt des Studiums ist. Nur so kann die staatliche Studienförderung dazu beitragen, dass mehr Studienberechtigte aus einkommensschwachen Nichtakademikerhaushalten an die Hochschulen gehen. Statt Schavans DeutschlandStipendien oder einer steuerlichen Absetzbarkeit nach dem Studium brauchen wir eine breitere und bessere Studienfinanzierung während der Campuszeit. Wir wollen das BAföG kurzfristig aufstocken, um den Berechtigtenkreis zu erweitern, und mittelfristig zu einem Zweisäulenmodell ausbauen. Eine solche Modernisierung der staatlichen Studienfinanzierung schließt das Mittelschichtsloch, antwortet auf die Bologna-Struktur und Vielfalt der Bildungsbiografien, setzt in Zeiten des Fachkräfte- und Akademikermangels einen starken Studienanreiz und ermöglicht mehr Bildungsaufstiege. Nach dieser Minireparaturnovelle braucht es in diesem Haus eine Perspektivendiskussion über eine zukunftsfähige Studienfinanzierung und beherzte BAföG-Reformen, die zu mehr Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit führen.

Prof. Dr. Helge Braun (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003510

Das BAföG wird in diesem Jahr 40 Jahre alt. Es ist als bewährtes Sozialleistungsgesetz und nach wie vor zentrales Bildungsfinanzierungsinstrument gerade erst dank zweier vorangegangener wichtiger Novellen in dichter Folge unter der Verantwortung von Bundesministerin Schavan gut aufgestellt worden. Bereits 2008 haben wir mit dem 22. BAföGÄndG nach jahrelangem Stillstand im staatlichen Ausbildungsförderungsengagement mittels einer erheblichen Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge und durch zentrale strukturelle Weichenstellungen vor allem in der Auslandsförderung sowie durch eine integrationsfördernde Neuausrichtung und Ausweitung der Förderungsberechtigung von Auszubildenden aus Migrantenfamilien der Bildungsfinanzierung wieder ihren zentralen Stellenwert zurückgegeben. Dies konnten wir mit weiterem erheblichem finanziellem Engagement 2010 durch die 23. BAföG-Novelle nochmals vertiefen und verstetigen. Es wird allen hier im Hause noch deutlich in Erinnerung sein, welche Widerstände es für die Bundesregierung zu überwinden galt, bis Bund und Länder damit nochmals insgesamt zusätzlich rund 500 Millionen Euro jährlich für die Ausbildungsförderung bereitgestellt haben. So haben wir erreicht, dass der Förderungshöchstsatz mit jetzt 670 Euro wieder voll dem unterhaltsrechtlich maßgeblichen Regelsatz nach der sogenannten Düsseldorfer Tabelle entspricht, wobei das BAföG ja bekanntlich zusätzlich noch den vollen Kindergeldbetrag ohne Anrechnung belässt. Der Kreis der Berechtigten wurde durch nochmalige Anhebung der Einkommensgrenzen weiter gezogen und vergrößert. Wir haben die Altersgrenze für Auszubildende mit Kinderbetreuungszeiten flexibilisiert und für Masterstudierende generell angehoben. Damit haben Studierende seither genügend Zeit, nach dem BachelorAbschluss zunächst einen unmittelbaren Eintritt ins Erwerbsleben zu versuchen, bevor sie sich auf eine weitere Fortsetzung und Vertiefung ihres Studiums festlegen. Zur Erleichterung des BAföG-Bezugs und zugleich zur Vereinfachung der Verwaltung wurden die Wohnkosten voll pauschaliert, die Leistungsnachweise durch bloßen Nachweis der individuell erreichten ECTS-Leistungspunkte ermöglicht und bei Auslandsaufenthalten der vorherige Nachweis hinreichender Sprachkenntnisse als Fördervoraussetzung abgeschafft. Die Erfolge dieser kumulierten Verbesserungen konnten wir nicht nur bereits in der Ende Juli vom StatistiZu Protokoll gegebene Reden schen Bundesamt bekanntgegebenen BAföG-Statistik 2010 ablesen, sondern dürfen diesen wohl auch den deutlichen Wiederanstieg der Studienanfängerzahlen und nicht zuletzt auch das wieder zurückgewonnene Vertrauen junger Menschen in staatliche Ausbildungsförderung zugutehalten. Über die Gesamtentwicklung der für die Ausbildungsförderung relevanten Parameter wie der Entwicklung der Lebenshaltungskosten und Preisindizes einerseits und der Nettolöhne andererseits, aber auch der Zusammensetzung der Gruppe der BAföG-Geförderten und beobachtbaren Entwicklungen im Ausbildungsverhalten werden wir entsprechend dem gesetzlich in § 35 BAföG vorgesehenen Turnus als Bundesregierung dem Bundestag und dem Bundesrat Anfang 2012 ausführlich berichten. Dann werden wir unter Einbeziehung auch der finanzwirtschaftlichen Entwicklung das gesamte Datenbild kennen, das uns erst in den Stand versetzen wird, verantwortlich über etwaigen weiteren Fortentwicklungs- und Anpassungsbedarf zu entscheiden. Im Lichte der Empfehlungen des nächsten BAföG-Berichtes und der darin enthaltenen Stellungnahme des BAföGBeirates werden wir über die weitere Fortentwicklung des BAföG entscheiden. Heute geht es mit dem 24. BAföG-Änderungsgesetz nicht um eine grundsätzliche Novelle des BAföG, sondern einzig und allein um eine noch erforderlich gewordene Korrektur. Bekanntlich hat ja das Bundesverfassungsgericht mit seiner uns heute beschäftigenden Entscheidung vom 21. Juni dieses Jahres die Teilerlassregelung im BAföG für Studienabsolventen in solchen Studiengängen wie Humanmedizin für verfassungswidrig erklärt, in denen eine zwingend vorgeschriebene Mindeststudienzeit von vornherein die Möglichkeit eines hinreichend frühen Abschlusses ausschließt. Gerade wegen völlig inhomogener Beschleunigungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Studiengängen ist der Bundestag ja bereits letztes Jahr beim 23. BAföGÄnderungsgesetz dem Vorschlag der Bundesregierung gefolgt, die Teilerlasse nach § 18 b Abs. 2 und 3 des BAföG nach einer aus Vertrauensschutzgesichtspunkten noch erforderlichen Übergangszeit für Absolventen ab dem Jahr 2013 abzuschaffen. Die Bundesregierung steht selbstverständlich zum Grundsatz „Leistung muss sich lohnen“. Aber die Praxis dieses Teilerlasses hat leider gezeigt, dass diese Regelung dem Anspruch der Leistungsgerechtigkeit in der Umsetzung nur sehr unvollkommen erfüllt hat. In der Sache sieht sich die Bundesregierung durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts daher bestätigt. Die Abschaffung des bisherigen Teilerlasses im BAföG wurde verfassungsrechtlich in keiner Weise beanstandet. Für die noch bis einschließlich 2012 erfolgenden künftigen Abschlüsse muss zu den dazu folgenden Erlassentscheidungen gesetzlich gewährleistet werden, dass niemand wegen der rechtlichen Ausgestaltung seines Studiengangs mit einer Mindestausbildungsdauer, die kaum kürzer bemessen ist als die gleichzeitig geltende Regelstudienzeit, von der Gewährung eines Teilerlasses von vornherein ausgeschlossen ist. Die von der Koalition hierzu vorgeschlagene Neuregelung erfüllt mit Augenmaß die verfassungsrechtlichen Korrekturvorgaben für den betroffenen begrenzten Personenkreis. In den Fällen, in denen Mindeststudienzeiten einschließlich erforderlicher Prüfungszeiten so nah an die für denselben Studiengang gültige Regelstudienzeit und damit an die daran anknüpfende BAföG-Förderungshöchstdauer heranreichen, soll künftig die Einhaltung der Mindestausbildungszeit ausreichen, um den sogenannten großen Teilerlass geltend zu machen. Einige bedauern die Aufhebung des Teilerlasses und fordern wieder eine Honorierung der Studienleistung im BAföG ein. Nach eingehender Prüfung bin ich jedoch zutiefst überzeugt, dass diese bisherige Regelung ungerecht war. Eine leicht umsetzbare, gerechtere Lösung existiert nicht. Deshalb bleibt ganz im Sinne der Subsidiarität ein großer Zugewinn des zügigen Studiums übrig: Der schnelle Hochschulabsolvent belohnt sich selber mit der Chance auf eine frühzeitige Aufnahme einer qualifizierten und damit gut bezahlten Erwerbstätigkeit. Kernaufgabe des BAföG ist es, jungen Menschen mit steuerfinanzierter Unterstützung während der Ausbildung einen qualifizierten Abschluss zu ermöglichen, damit sie später mit Rückzahlung des zinslosen und über Jahre gestreckten nur hälftigen Darlehensanteils der Gesellschaft etwas von der Förderung zurückgeben können. Die Teilerlassregelung kann angesichts der erheblichen Diversifizierung der Studiengänge mit höchst unterschiedlichen Beschleunigungspotenzialen nicht mehr als Leistungsanreiz dienen. Mit dem Deutschlandstipendium hingegen hat die Koalition ein weitaus effektiveres und eben während des Studiums selbst wirkendes Anreizinstrument geschaffen. Es greift genau dann, wenn der Studierende es braucht, und motiviert ihn zu größerem Engagement und besonderen Leistungen. Durch das Deutschlandstipendium wurden seit dessen Start im Sommersemester bereits insgesamt 8,6 Millionen Euro an privaten Mitteln für Stipendien mobilisiert. Studierende werden dadurch ab sofort während des Studiums unterstützt. Schon jetzt hat es sich damit als überaus wirksamer Anreiz für bürgerschaftliches Engagement im Bildungsbereich erwiesen. Es ist und bleibt gerade eine der entscheidenden Errungenschaften dieser Regierung, dass wir das eine geschafft haben, ohne das andere zu lassen: ein Gesetz zum Deutschlandstipendium und eine verlässliche Sicherung der Sozialleistung BAföG. Die heute zur Diskussion stehende Korrektur wird sicherstellen, dass auch für die Übergangszeit, in der noch Erlassentscheidungen zu treffen sind, kein Studierender verfassungswidrig davon ausgeschlossen wird. Dazu bitte ich daher auch für die Bundesregierung um Ihre Zustimmung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7334 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Tagesordnungspunkt 19: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Investitionen in Antipersonenminen und Streumunition gesetzlich verbieten und die steuerliche Förderung beenden - Drucksache 17/7339 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Folgende Kolleginnen und Kollegen geben ihre Reden zu Proto- koll: Roderich Kiesewetter, Erich Fritz, Uta Zapf, Christoph Schnurr, Inge Höger und Agnes Malczak.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7339 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21 a und b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander Süßmair, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tiertransporte verringern - Tierschutz ver- bessern - Drucksache 17/6913 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Undine Kurth ({2}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tierschutz bei Tiertransporten verbessern - Drucksachen 17/5491, 17/5892 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Hans-Michael Goldmann Friedrich Ostendorff Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolle- gen Dieter Stier, Heinz Paula, Hans-Michael Goldmann, Alexander Süßmair und Friedrich Ostendorff. 1) Anlage 25

Dieter Stier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004168, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit diesen beiden heute vorliegenden und nahezu identischen Anträgen fordern die Fraktionen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, sie möge für Tiertransporte auf EU-Ebene und innerhalb Deutschlands die derzeitigen Regelungen zu den Tiertransportzeiten noch weiter begrenzen. Insbesondere sollen hier die Lebendtiertransporte nach Osteuropa und Russland wieder reduziert werden. Die Linken fordern eine zeitliche Begrenzung auf vier Stunden zuzüglich maximal zwei Stunden Ladezeit. Die Tiertransportzeiten seien sowohl auf europäischer Ebene, als auch innerhalb Deutschlands einzuschränken, fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie beabsichtigen eine Reduzierung auf acht Stunden innerhalb Europas und auf vier Stunden innerhalb Deutschlands. Darüber hinaus fordert die Linke-Fraktion die Schaffung eines dezentralen Netzes von Schlachthöfen, um Transporte unnötig zu machen, und die Anhebung der Mindesthöhe der Tiertransporter auf 4,20 Meter. Ich habe es schon oft gesagt und ich werde es auch immer wiederholen: Deutschland hat bereits die höchsten Tierschutzstandards auf der ganzen Welt. Was die Tiertransporte angeht, setzt sich die Regierungskoalition selbstverständlich dafür ein, dass Tierschutz nicht am Stalltor aufhört. Gerade beim Ausstallen und beim Transport ist auf optimale Bedingungen für die Tiere zu achten. Eine gute und fachgerechte Ausstattung der Transportfahrzeuge durch Futter, Wasser und gute Klimatisierung sollte beim Transport den Erfordernissen der Tiere Rechnung tragen. Vor der Sommerpause konnten die Bundestagsabgeordneten des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz an der Besichtigung eines Tiertransporters teilnehmen, so wie er täglich in Deutschland und Europa zum Einsatz kommt. In diesem Transporter konnte ich mich davon überzeugen, wie die Wasser- und Futterversorgung und eine Klimaanlage mit Luftzirkulation funktioniert. Auch die natürliche Bewegungsfreiheit der Tiere ist dort gewährleistet. Inzwischen sind die Spezialfahrzeuge für den Langstreckentransport mit Zwangsbelüftung ausgerüstet, damit gute Luftqualität überall im Transporter garantiert ist, um auch Hitzestress oder Unterkühlung der Transporttiere bei Verkehrsstaus sicher auszuschließen. Letztlich entscheidend für das Wohlergehen der Tiere sind das Verantwortungsbewusstsein und das Know-how der Transporteure und der damit befassten Mitarbeiter. Mit einer erstklassigen Ausbildung und der guten fachlichen Praxis der Transporteure können die tierschutzrelevanten Risiken beim Transport auf ein Minimum reduziert werden. Die Skandale in der Vergangenheit sind ausschließlich bei grenzüberschreitenden Langstreckentransporten quer durch Europa aufgetreten, für die die Regelungen in der nationalen Verordnung ohnehin nicht gelten. Einige wenige schwarze Schafe der Branche dürfen nicht einen gesamten Berufszweig in Misskredit bringen. Noch ein kleiner Nachtrag zum Vor-Ort-Termin im Tiertransporter: Die Grünen-Bundestagsabgeordneten des Agrarausschusses blieben dieser Informationsveranstaltung im Tiertransporter wiederholt fern. Ich hätte mir gewünscht, dass die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen endlich die Chancen zur sachlichen Information wahrgenommen hätten, ehe sie Anträge zu diesen Themen stellen. Statt über Gesetzesänderungen zu Transportzeiten zu diskutieren, welche die wirtschaftliche Freiheit der Unternehmer weiter einschränken würden, sollten wir vielmehr auf die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen gemäß der EU-Transportverordnung und unserer nationalen Tierschutztransportverordnung drängen. Auf der Basis der aktuellen Gesetzgebung und unter den Bedingungen der guten fachlichen Praxis wird der Tierschutz eindeutig gewahrt. Verstöße dagegen sind konsequent zu ahnden. Deshalb befürworten wir auch flächendeckende Kontrollen und die Verbesserung des Vollzugs und bei Verstößen die Anwendung der vorgesehenen Strafen und Sanktionen. Meiner Ansicht nach kann eine Verbesserung des Tierschutzes durch eine höhere Kontrolldichte und harte Sanktionen bei Verstößen erreicht werden. Hier liegt der Hebel, um die schwarzen Schafe zu disziplinieren. Neue Regelungen zu Transportzeiten bestrafen ungerechtfertigt die redlichen Spediteure - das wollen wir nicht. Die betroffene Wirtschaft spricht sich eindeutig für die Einhaltung der tierschutzrechtlichen Vorgaben aus. Die Durchführung von Transporten erfolgt fast ausnahmslos mit hoher Sorgfalt und hohem Verantwortungsbewusstsein. In den vergangenen Jahren hat die Branche erhebliche Investitionen erbracht, um die Transportfahrzeuge an die technischen Anforderungen der Gesetzgebung anzupassen. Die Branche sollte nun vonseiten des Gesetzgebers einen Vertrauens- und Bestandsschutz genießen, denn diese geforderten Modernisierungsmaßnahmen waren mit erheblichem finanziellen Aufwand für die Spediteure verbunden, und dieses Geld wurde hart verdient. Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit auf EUEbene sind unnötige finanzielle Belastungen der Transporteure unbedingt weiterhin zu vermeiden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt die vorliegenden Anträge zur Begrenzung der Transportzeiten ab, da ein Mehr an Tierschutz nicht durch eine Reduzierung der Transportdauer erreicht wird, sondern nur durch die konsequente Eliminierung der schwarzen Schafe. Mit Sorge sehe ich die Bestrebungen deutscher Behörden, die Transportverordnung dahin gehend zu revidieren, dass die Mindestmaße für die Laderaumhöhe ausgedehnt werden sollen. Ausgehend von der Gesamtfahrzeughöhe von 4 Metern würde sich so eine Erhöhung der Transporter auf 4,20 Meter ergeben. Damit kann der Lkw unter einigen Brücken nicht mehr durchfahren. Ebenso könnten die Rindertransporte nur noch einstöckig und die Schweinetransporte statt dreistöckig nur noch doppelstöckig gefahren werden. Zudem gibt es auch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse für die Notwendigkeit einer Erhöhung der Laderaumhöhe für die Tiere. Durch ein höheres Maß an Kopffreiheit würde das gegenseitige Aufspringen der Tiere erleichtert und stellt somit ein zusätzliches Verletzungsrisiko dar. Wir lehnen deshalb nationale Alleingänge zulasten der deutschen Viehtransportwirtschaft ab. Die daraus resultierende gravierende Wettbewerbsverzerrung zulasten deutscher Spediteure ist zudem auch EU-rechtlich nicht vertretbar. Im Hinblick auf die Verkehrsströme muss bei Einschränkung der Transportkapazität pro Fahrzeug mit einer deutlichen Zunahme des Güterverkehrs gerechnet werden, denn die Rindertransporte werden sich folglich verdoppeln und die Schweinetransporte werden um ein Drittel zunehmen. Dies ist aus volkswirtschaftlicher, umweltpolitischer und verkehrspolitischer Sicht keinesfalls akzeptabel. Deshalb lehnen wir die vorliegenden Anträge der Opposition ab.

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Zahl der Tiertransporte ist in den vergangenen Jahren sowohl innerhalb der EU-Staaten als auch innerhalb von Deutschland stark angestiegen. Insgesamt befinden sich jährlich über 400 Millionen Tiere auf einem Transport. Dies bringt oftmals eine unnötige Quälerei mit sich, und dem muss Einhalt geboten werden. Vor einigen Wochen berichtete die Bundesregierung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz über Lebendtiertransporte in die Türkei. Hier ging es speziell um Zuchttiere, die aus Deutschland in die Türkei transportiert werden. Die Bundesregierung hat das notwendige Veterinärabkommen mit der Türkei unterzeichnet - der Transport kann losgehen. Wer jemals mit dem Auto nach Südeuropa gereist ist, weiß, dass dies ohne lange Pausen, Beine vertreten, Austreten, viel Trinken nicht zu machen ist. Als es noch Grenzkontrollen zwischen den EU-Ländern gab, so erinnere ich mich persönlich, musste man sehr lange Wartezeiten an den Grenzübergängen in glühender Hitze in Kauf nehmen. Heilfroh war man, als man die Grenze endlich passiert hatte und sich die Füße vertreten konnte. Bei Tiertransporten ist das nun folgendermaßen geregelt: Auf EU-Ebene gibt es keine Transportzeitbegrenzung. Dies heißt im Klartext: Die Tiere bleiben in der Regel die gesamte Fahrtzeit im Transporter. 29 Stunden Aufenthalt auf den Transportern sind erlaubt. 14 Stunden Fahrtzeit, 1 Stunde Pause, 14 Stunden Fahrtzeit kein Abladen ist notwendig. Dies bedeutet für die Tiere: 29 Stunden auf engstem Raum zusammengepfercht, 29 Stunden ohne Bewegung, 29 Stunden ohne frisches Wasser, 29 Stunden Qual. Dazu kommen die langen Wartezeiten an der Grenze, wo die Tiere in der Regel nicht zwischendurch abgeladen werden: stunden-, teilweise tagelange Wartezeiten, die mit den notwendigen Kontrollen gerechtfertigt werden. Zu Protokoll gegebene Reden Dagegen verwehren wir Sozialdemokraten uns. Wir unterstützen die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die sich für eine Transportzeitbegrenzung innerhalb der EU auf acht Stunden einsetzen. Damit sind solche tierquälerischen Transporte wie oben geschildert obsolet und nicht mehr durchführbar. Dies begrüßen wir. Wir sind froh darüber, dass die Anfrage nach einem Transport von Schlachttieren in die Türkei von der Bundesregierung abgelehnt wurde. Aber auch die Überführung von Zuchttieren in die Türkei oder andere europäische Staaten ist nicht mehr notwendig. Der Export von Sperma ist möglich. Er verhindert nicht nur Tierquälerei, er ist aus meiner Sicht auch um vieles ökonomischer. Machen wir also Druck auf europäischer Ebene. Der Europäischen Kommission sind die Missstände sehr wohl bekannt. Auf die Anfrage eines niederländischen MdEP-Kollegen antwortet Herr EU-Kommissar Dalli: Der Kommission sind die Tierschutzprobleme im Zusammenhang mit dem Transport lebender Tiere aus einigen Mitgliedstaaten in die Türkei bekannt. - Gleichzeitig schließt er ein EU-weites Verbot von Lebendtiertransporten aus. Es gibt aber bisher auch keine Bemühungen, diesen Missständen durch eine entsprechende Transportzeitbegrenzung entgegenzutreten. Wir fordern Frau Bundesministerin Aigner also auf: Setzen Sie sich auf EU-Ebene dafür ein, dass die Transportzeit auf acht Stunden begrenzt wird! Sorgen Sie gleichzeitig dafür, dass Fleisch und Sperma anstatt der Tiere transportiert werden! Dies stärkt unsere heimische Viehzucht und unsere Fleischwirtschaft. Sorgen Sie dafür, dass die Kontrollen auf EU-Ebene verschärft und Verstöße entsprechend sanktioniert werden! Auch auf deutschen Straßen rollen verhältnismäßig viele Tiertransporter. Auch hier gilt für die Sozialdemokraten der Grundsatz: Transportiert Fleisch statt Tiere. Ein Ausbau der regionalen Schlachteinrichtungen ist wichtig. In diesem Punkt gehen wir mit den Damen und Herren der Linkspartei konform: Es ist sinnvoller, ökonomischer, ökologischer und tierfreundlicher, die regionale Fleisch- und Schlachtindustrie zu erhalten und auszubauen und das Fleisch zu transportieren, als stundenlang in großen Transportern Tiere über die Autobahn zu fahren. Dieses schadet den Tieren, der Umwelt, der heimischen Schlacht- und Fleischindustrie. Der Transport von Fleisch schafft Arbeitsplätze. Er kommt den Tieren zugute. Er schont die Umwelt durch weniger Verkehr. Bisher legt die Tierschutztransportverordnung eine Begrenzung der Transportzeiten auf acht Stunden fest. Es gibt jedoch zahlreiche Ausnahmeregelungen. Über eine Begrenzung der Transportzeiten innerhalb Deutschlands auf vier Stunden und eine streckenmäßige Begrenzung auf 200 Kilometer, wie sie die Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen vorschlagen, müssen wir reden. Ist es nicht sinnvoller, zunächst die Ausnahmeregelungen in der geltenden Tierschutztransportverordnung zu streichen, die zeitliche Begrenzung auch für grenzüberschreitende Transporte einzufordern und auch hier mehr Kontrollen durchzuführen sowie Verstöße entsprechend zu sanktionieren? Es gibt keinen Grund, Ausnahmeregelungen für die geltenden Bestimmungen zu erlassen. Die Schlachthofstruktur erfordert schon jetzt keine längeren Transporte, die über acht Stunden hinausgehen. In den nächsten Wochen werden wir ein Expertengespräch zum Thema führen und weitere Argumente hören. Danach werden wir eigene Vorschläge einbringen. Die Linkspartei erwähnt in ihrem Antrag auch die Ausstattung der Transportfahrzeuge. Das ist gut so. Denn auch hier liegt einiges im Argen, und es kann eine Menge getan werden. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert Verbesserungen hinsichtlich der Ladedichten. Der Transport der Tiere muss für diese so wenig belastend wie möglich sein. Sie müssen sich einigermaßen verhaltensgerecht bewegen können. Dementsprechend muss das Platzangebot in den Fahrzeugen auch bemessen sein. Die Tränkevorrichtungen sind oftmals so angebracht, dass sie von vielen Tieren, je nach Tierart, nicht erreicht werden können und dass einige Tiere aufgrund der Ladedichte keinen Zugang haben. Die Temperaturund Klimabedingungen in den Transportfahrzeugen müssen konkretisiert werden. Dies erleichtert den Transportunternehmen die Erfüllung der Anforderungen, den Kontrolleuren die Ahndung von Verstößen. Nicht zuletzt sollten bei der Überarbeitung der Tierschutztransportverordnung die Bestimmungen für den Transport von Zirkustieren mit aufgenommen werden. Selbst wenn wir ein Haltungsverbot von Wildtieren in Zirkussen durchsetzen, muss dafür gesorgt werden, dass die verbleibenden Zirkustiere tiergerecht befördert werden. Bisher fehlt eine solche Bestimmung völlig. Ergo: Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen befürworten wir, wir haben ihm im Ausschuss bereits zugestimmt. Es besteht dringender Handlungsbedarf angesichts der bestehenden Missstände. Der Antrag der Linkspartei geht in die richtige Richtung, weist aber einige Mängel auf. Eine Transportzeitbegrenzung auf EUEbene auf vier Stunden ist nicht realistisch. Noch in diesem Jahr werden wir einen eigenen Antrag einreichen, der auch die Ausstattungen der Transportfahrzeuge mitberücksichtigt.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ende September hat uns die Bundesregierung im Ausschuss von den Verhandlungen mit dem türkischen Landwirtschaftsministerium über eine Veterinärbescheinigung für Zuchtrinder berichtet. Nun ist das Abkommen abgeschlossen und der türkische Markt für Zuchtrinder aus Deutschland wieder offen. Die Nachfrage ist groß. Die Zahl der Langstreckentransporte wird steigen. Umso mehr und intensiver müssen wir uns über die Gewährleistung des Tierschutzes beim Transport unterhalten. Die Diskussion darf aber nicht so einseitig verlaufen, wie sie die Grünen in ihrem Antrag führen, indem sie das Tierwohl durch alleinige Transportzeitbegrenzung verbessern wollen. Vielmehr sollten wir uns auf die technischen Gegebenheiten und vor allem auf die menschlichen Kenntnisse und Fähigkeiten fokussieren. Zu Protokoll gegebene Reden Dass nicht die Transportdauer für die Sicherstellung des Tierschutzes ausschlaggebend ist, hat auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit in einem Bericht bestätigt. Angesichts der Vorgabe im „Handbuch Tiertransporte“, den beförderten Tieren sollten 20 Zentimeter Freiraum über der höchsten Körperstelle zur Verfügung stehen, überschreiten dann Doppelstocktransporter bei Großvieh die maximale Fahrzeughöhe von 4 Meter. Deswegen werden wir dafür kämpfen, eine Sondergenehmigung für eine Transporterhöhe von 4,20 Meter durchzusetzen. Sollte das nicht der Fall sein, wird Großvieh zukünftig nur einstöckig transportiert werden müssen. Für eine ganzheitliche Bewertung von Tiertransporten ist eine Ermittlung aussagekräftiger und tierbasierter Tierschutzindikatoren zur objektiven Bemessung des Tierschutzes erstrebenswert. Die Debatte über die Animal-Welfare-Indikatoren ist relativ neu; sie wird erst seit einigen Jahren international geführt. Erfreulicherweise wird sie auch durch die EU im Rahmen des Projektes „Welfare Quality“ unterstützt. Deutschland muss sich aktiv einbringen und Initiativen, wie das vom BMELV veranstaltete Fachgespräch zur Entwicklung von Tierschutzindikatoren, fortführen. Ein Kriterienkatalog wäre nicht nur ein praktikables Instrument für Kontrolleure, sondern könnte auch für Transporteure eine hilfreiche Orientierung für eine tierschutzkonforme Arbeit sein. Wichtig ist auch, dass alle Bereiche des Transportes vom Be- bis zum Entladen unter Beachtung der Tierschutzaspekte von sachkundigem Personal durchgeführt werden. Genaue Kontrollen, wirksame Überwachung und strenge Sanktionen bei Verstößen sind unerlässlich, damit alle Tierschutzdefizite aufgedeckt und behoben werden. Denn wir können nicht darüber hinwegschauen, dass es zu Missständen bei Tiertransporten kommt - wie bei jedem anderen wirtschaftlichen Tun im Übrigen auch. Diese müssen von den zuständigen Behörden erkannt und geahndet werden. Vor diesem Hintergrund begrüße ich das derzeit laufende Forschungsprojekt des Friedrich-Loeffler-Instituts zur Verbesserung der Kontrollstellen während Tiertransporten über lange Strecken sehr. Das Projekt läuft bis April 2012. Wenn wir dann die wissenschaftlichen Ergebnisse vorliegen haben, müssen wir darauf pochen, dass sie in die Praxis umgesetzt werden. Dieser ganzheitliche Ansatz ist nach meiner Auffassung unabdingbar, wenn wir ein Mehr an Tiergesundheit und Tiergerechtigkeit beim Transport erreichen wollen. Deswegen kann ich die eindimensionalen Anträge der Grünen und der Linken nicht unterstützen. Ich bin es aber gewohnt, dass die Fraktionen die Forderungen der Tierschutzverbände populistisch aufgreifen und die öffentliche Meinung mit unsachlichen Vorschlägen beeinflussen wollen. Wir Liberale wollen und werden das aber aus Verantwortung gegenüber Mensch und Tier nicht mitmachen. Wir setzen uns ein für forschungsbasierte Tierschutzauflagen, die im Einklang mit ökonomischen und ökologischen Aspekten stehen.

Alexander Süßmair (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004172, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir befassen uns heute mit einer Thematik, welche in der Öffentlichkeit immer wieder für kontroverse Diskussionen sorgt. Auch gab und gibt es immer wieder Berichte über Tiertransporte mit teils erschreckenden Bildern und katastrophalen Zuständen. Ich möchte aber hier gleich anführen, dass sich im Bereich der Tiertransporte in den vergangenen Jahren sehr viel getan hat, nicht zuletzt auch aufgrund von Maßnahmen auf europäischer Ebene. Leider befinden sich in der EU nicht alle Fahrzeuge auf dem neuesten Stand der Technik, und leider mangelt es auch an Kontrollen zur konsequenten Durchsetzung der gesetzlichen Vorgaben. In den letzten Jahren hat der Transport von Tieren, ähnlich wie das gesamte Transportaufkommen, deutlich zugenommen. Viele Schlachthöfe sind durch den Kostendruck des Marktes verschwunden, und aus einem ehemals fast flächendeckenden regionalen Netz von Schlachthöfen wurde durch Konzentration ein zentrales System immer größerer Schlachthöfe. Diese wollen „gefüttert“ werden, um profitabel zu sein. Deshalb werden die Tiere über immer größere Entfernungen herangekarrt. Transporte sind für die betroffenen Tiere immer mit Stress verbunden, ganz gleich ob sie über genügend Futter, Wasser und akzeptable Temperaturen verfügen. Es bleibt die räumliche Enge und auch der Lärm der Straße und der schaukelnde Lastwagen. Dabei interessiert es die Tiere herzlich wenig, ob sie innerhalb Deutschlands transportiert werden oder international. Hinzu kommen oftmals lange Wartezeiten an den Außengrenzen der EU. Wir fordern, Tiertransporte generell auf vier Stunden zu begrenzen, gleich ob Rinder oder Schweine nun von Sachsen nach Bayern gebracht werden oder von Sachsen nach Polen! Wie geht das in der Praxis? Das geht freilich nur, wenn dezentral Schlachthöfe vorhanden sind bzw. wieder eine Chance bekommen. Ist dies nicht der Fall, muss eben vor Ort geschlachtet werden. Die Technik dafür steht zur Verfügung. Mit dezentralen Schlachthöfen werden regionale Kreisläufe gestärkt und landwirtschaftliche Wertschöpfung bleibt in der Region. Das wollen auch die Verbraucherinnen und Verbraucher: Lebensmittel aus ihrer Region. Und es ist auch ökologisch sinnvoll, weil wir Verkehr vermeiden und Ressourcen sparen. Aber es fehlt noch ein entscheidender Punkt, über den aktuell immer häufiger diskutiert wird, nämlich die Frage der räumlichen Höhe in den Transportern. Dass sich die Tiere beim Transport auch bewegen wollen, dürfte allen klar sein. Die derzeitigen Transportbehältnisse sind dafür oft nicht hoch genug, und Tiere verletzen sich, wenn sie den Kopf heben wollen. Diesen Zustand wollen wir beenden. Damit aber laufen wir Gefahr, dass doppelstöckige Transporte künftig nicht mehr in dem Umfang, wie heute üblich, möglich wären. Dadurch würden die Transporte teurer und es gäbe ein Mehraufkommen an Transportfahrten. Dies wollen wir aber aus ökologischer Sicht vermeiden. Zu Protokoll gegebene Reden Derzeit dürfen Transporter nur maximal vier Meter hoch sein. Wir fordern daher in unserem Antrag die Bundesregierung auf, die zulässige Transporthöhe zu überprüfen und die Auswirkungen von höheren Transporten, also Sicherheit, Brücken, Unterführungen, Fahren von Umwegen etc., zu ermitteln. Das Tierwohl ist hierbei nicht Gegenstand der Prüfung. Der Tierschutz ist ein Staatsziel, nicht die Rentabilität von Tiertransporten. Doch muss hier natürlich eine Lösung mit Augenmaß gefunden werden, die auch die möglichen Auswirkungen, welche ich gerade skizziert habe, berücksichtigt. In Art. 20 a unseres Grundgesetzes heißt es: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung … Mit unserem Antrag haben wir in diesem Hause Gelegenheit, dieses Vorhaben bezüglich der Tiertransporte umzusetzen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung für den Antrag der Linken.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Allein 4 Millionen Rinder und über 6,5 Millionen Schweine wurden 2009 durch Deutschland transportiert, aber auch Pferde, Schafe, Ziegen und Geflügel. Für jedes einzelne Tier bedeutet dies Stress, für viele ist es mit Verletzungen, Hunger und Durst verbunden. Für einige Tiere bedeutet es den qualvollen Tod. Oft werden Schlachttiere über Tage hinweg quer durch Europa und bis in den Nahen Osten transportiert, und dies nur, weil die Kosten für Kühlfleischtransporte gespart werden oder die Ankäufer nur Lebendvieh kaufen wollen. Viel Leid also für ein paar Cent mehr Gewinn pro Schlachttier. Und auch innerhalb Deutschlands werden die Transportwege länger. Die verfehlte Förderpolitik zwingt immer mehr kleine regionale Schlachthöfe zum Aufgeben. Dagegen können die industrialisierten Schlachtbetriebe durch abenteuerliche Arbeitsverhältnisse mit ihren Dumpinglöhnen günstige Konditionen anbieten und verschärfen damit das Problem noch weiter. Aber auch durch die zunehmende Spezialisierung der Landwirtschaft werden Tiere oft mehrfach in ihrem Leben transportiert. Ferkel aus den neuen Bundesländern werden in die Schweinemastanlagen ins Münsterland oder nach Oldenburg transportiert und von dort als Schlachtschweine nach Italien oder Russland. Regelmäßig werden von den Überwachungsbehörden Missstände festgestellt. Der Transport kranker Tiere, die Überschreitung der Transportzeiten und Überladungen sind immer wieder an der Tagesordnung. Alleine in Niedersachsen wurden 2009 weit über 600 Verstöße festgestellt. Die Dunkelziffer liegt zweifellos noch deutlich höher. Und wie oft wird bei Verstößen auch noch weggeschaut? Dies ist so nicht länger hinnehmbar. Um unnötiges Tierleid endlich zu beenden, brauchen wir zuallererst und möglichst schnell eine Begrenzung der Transportzeiten. Es ist nicht einzusehen, warum lebende Tiere aus reinen Profitgründen immer noch quer durch Europa transportiert werden. Wir Grüne fordern daher in unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich auf EU-Ebene für eine Begrenzung auf maximal acht Fahrtstunden ohne Ausnahmen einzusetzen. Deutschland als ein Haupttransitland für Tiertransporte hat hier erhebliche Verantwortung. Auch für Transporte innerhalb Deutschlands brauchen wir eine Transportzeitbegrenzung. Ziel muss es sein, den nächstmöglichen Schlachthof anzufahren. Das ist in den von uns geforderten vier Stunden möglich. Flankierend müssen wir regionale Schlachthöfe stärker fördern, sodass die Tiere wieder verstärkt in der Region geschlachtet werden können. Sehr geehrte Frau Ministerin Aigner, aus Ihrem Hause haben wir nun schon oft gehört, dass Sie sich für eine Begrenzung der Transportzeiten innerhalb der EU einsetzen wollen. Immer wieder wurden wir vertröstet, zuletzt auf den Bericht der EU-Kommission zum Wohlbefinden von transportierten Tieren, der nun innerhalb der nächsten Wochen vorgelegt werden soll. Nun müssen Ihren Worten Taten folgen! Setzen Sie sich für die bereits 2009 vom Bundesrat beschlossene Forderung nach einer maximalen Transportdauer von acht Stunden ein! Die Dauer von Tiertransporten ist der entscheidende Faktor für eine Verbesserung der Transportbedingungen. Zwar haben wir durch die EU-Tiertransportverordnung in den letzten zehn Jahren schon einige Verbesserungen erreicht, wie die veterinärbehördliche Zulassung von Transportfahrtzeugen bei Viehtransporten von über acht Stunden. Doch die realen Zustände zeigen: Weitere Verbesserungen und vor allem Konkretisierungen sind nötig. Wir brauchen Verbesserungen bei Belüftung, Temperaturvorgaben, Fahrt- und Pausenzeiten, Versorgung der Tiere, und verbindliche Melkvorgaben für laktierende Kühe. Zudem müssen die Ladedichten dringend verringert werden, sodass Kontrollen und Zugang zu jedem einzelnen Tier jederzeit möglich sind. Die Überarbeitung der EU-Tiertransportverordnung ist schon seit Jahren seitens der EU-Kommission angekündigt. Doch weder der Zeitplan noch das Ergebnis sind derzeit absehbar. Daher, liebe Frau Ministerin Aigner, muss sich Deutschland nicht nur auf EU-Ebene mit aller Kraft für Verbesserungen einsetzen, sondern auch auf nationaler Ebene handeln und mit Tierleid verbundene Marathontransporte beenden! Während in der EU wenigstens noch die Einhaltung der Bestimmungen überprüft werden kann, ist das außerhalb der EU-Grenzen nur schwer möglich. Das heißt: Wenn wir vermeiden wollen, dass Rinder aus Deutschland an der türkischgriechischen Grenze aus wirtschaftlichen Erwägungen lebend transportiert werden und dann dort bis zu mehreren Tagen in sengender Sonne unter tierschutzwidrigen Bedingungen auf die Abfertigung warten, müssen wir diese Transporte einstellen. Dies ist der einzig mögliche Weg. Und auch durch Handelsabkommen mit Ländern wie Libyen zur Abnahme von deutschen Rindern machen Sie sich mitverantwortlich an vielfachem Tierleid. Auf Zu Protokoll gegebene Reden längeren Strecken und außerhalb der EU können nur geschlachtete Tiere gehandelt werden. Zurecht sind auch doppelstöckige Transporte von Rindern in die Diskussion geraten. Immer wieder werden Transporter aufgegriffen, bei denen Tiere mit dem Rücken an der Decke scheuern und nicht einmal aufrecht stehen können, und dies stunden- oder sogar tagelang. Hier müssen die unklaren Vorgaben der EU-Verordnung konkretisiert werden. Dies ist jetzt im Handbuch für Tiertransporte geschehen, allerdings nicht verbindlich. Gefordert werden dort 20 cm Luft über dem Rücken der Tiere. Wer nachrechnet, wird schnell feststellen, dass sich damit viele doppelstöckige Tiertransporte von alleine erledigen. Der Zuchtfortschritt hat auch bei Rindern zu immer größeren Tieren geführt. Schlachtrindern von einem Jahr oder älter haben eine Rückenhöhe von 1,50 bis 1,60 Meter. Rechnen wir für zwei Ebenen je 20 cm Raum über dem Rücken der Tiere dazu, sind wir schon bei 3,40 bis 3,60 Meter. Bei einer maximal erlaubten Höhe der Transporter bleiben also nur 40 bis 60 cm für Reifen und Böden des Transporters. Ausziehbare Lkw-Dächer sind nach der Straßenverkehrszulassungsverordnung nicht erlaubt. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, würde die zusätzliche Höhe in vielen Fällen gar nicht ausreichen. Dies kann nur zu einer Folgerung führen: Der Transport von Rindern muss sich klar an deren Größe orientieren. Hier sind uns einige unserer Europäischen Nachbarn wieder einmal voraus: Sowohl in den Niederlanden als auch in Dänemark sind 20 cm Raum über dem Tierrücken verbindlich vorgeschrieben, in der Schweiz sind es sogar bis zu 35 cm. Schon jetzt müssen Tiertransporter an den Grenzen zu diesen Ländern umladen oder aber von vorneherein diese Vorgaben einhalten. Umso mehr Sinn macht es für Deutschland als Transitland für Transporte aus und nach Italien, Dänemark oder Russland, mit unseren Nachbarländern an einem Strang zu ziehen. Die Klagen von Transporteuren und Agrarindustrie, dass damit mehr Transporte nötig sind und die Kosten steigen, dürfen wir nicht über millionenfaches Tierleid stellen. Vielmehr werden Lebendviehtransporte gegenüber Kühltransporten unrentabler. Aber jede gesetzliche Regelung ist nur so gut wie ihre Umsetzung und Kontrolle. Die Realität auf den Straßen zeigt, dass es fortwährend zu Verstößen der ohnehin nicht ausreichenden Vorgaben kommt. Pausenzeiten werden nicht eingehalten, Transporter überladen oder verletzte Tiere transportiert. Dem können wir nur durch mehr Kontrollen begegnen. Regelmäßige Schulungen für Polizei, Kontrolleure und Fahrer sind unabdingbar. Auf lange Sicht müssen Tiertransporte auf ein absolut unumgängliches Minimum reduziert werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6913 an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21 b, Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „Tierschutz bei Tiertransporten verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5892, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5491 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 22: Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der älter werdenden Gesellschaft gerecht werden - Barrieren in Wohnungen und im Wohnumfeld abbauen - Drucksache 17/7188 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, Daniela Ludwig, Sören Bartol, Sebastian Körber, Ilja Seifert und Daniela Wagner.

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jeder will alt werden, keiner will alt sein. Das hört man landauf, landab. Ich will damit sagen: Kluger Mann bzw. kluge Frau baut vor! Deshalb ist das Thema Barrierefreiheit für uns Baupolitiker, die immer langfristig an die zukünftigen Entwicklungen denken müssen, von zentraler Bedeutung für unsere Entscheidungen. Mit dem vorliegenden Antrag zum barrierefreien Wohnen folgen Bündnis 90/Die Grünen in vielen Punkten dem, was wir in der Regierungskoalition bereits konsequent bearbeiten. Das, was uns unterscheidet, ist die Praktikabilität der Herangehensweise durch die christlich-liberale Koalition. Wir müssen hier immer die Lehren aus der Vergangenheit im Blick haben. Wenn es um Mobilität und um eigenständiges Handeln geht, dann gehören unsere ostdeutschen Mitbürger mit einer Behinderung mit Gewissheit zu den Gewinnern der deutschen Einheit. In kürzester Zeit war es dank besserer technischer Hilfsmittel und dank der breiteren Schultern der Sozialverbände möglich, dass behinderte und ältere Menschen wieder am öffentlichen Leben teilnehmen konnten. Sozialkassen und staatliche Fördersysteme flankierten diesen Prozess. In kaum einem anderen sozialen Bereich wurde deutlicher, dass das von manchen verherrlichte DDR-Sozialsystem tatsächlich nur Volkmar Vogel ({0}) die Grundversorgung sicherte und oft die Verwahrung für unsere behinderten Mitbürger bedeutete. Lediglich die Hilfsbereitschaft und die menschliche Wärme des Pflegepersonals - und natürlich der Angehörigen konnten dies mildern. Breite Schultern in Form vieler karitativer Einrichtungen haben hier gleich Anfang der 90er-Jahre Hervorragendes geleistet. Für uns sind Barrierefreiheit und Zugänglichkeit und die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allen Lebensbereichen selbstverständliche Grundrechte. Darin sind wir uns sicherlich alle einig. Das bedarf keiner Diskussion. Gerade in den letzten 20 Jahren ist im Bereich der Mobilitätsverbesserung für ältere und behinderte Menschen - auch durch unsere beiden Konjunkturprogramme - sehr viel Positives geschehen. Es wurde zum Beispiel die Barrierefreiheit auf vielen kleinen Bahnhöfen hergestellt. Allerdings - auch darin sind wir uns einig - können wir uns mit den Gegebenheiten nie vollständig zufrieden geben. Deshalb arbeiten die christlich-liberale Koalition und die Bundesregierung intensiv an der ständigen Verbesserung der Situation. Was sind nun die Herausforderungen für die Zukunft? Abweichend zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen muss man dies einer differenzierten Betrachtung unterziehen: Wir haben zum einen den Bereich der öffentlichen Gebäude mit seinen öffentlichen Einrichtungen ebenso wie die öffentliche Infrastruktur und zum anderen den riesigen privaten Wohnbestand, wo Menschen zur Miete oder in den eigenen vier Wänden leben, im Blick. Klar ist für uns, dass für die Menschen die barrierefreie Benutzung der öffentlichen Einrichtungen aus eigener Kraft - wo immer möglich - sichergestellt werden muss. Die Kosten für den Steuerzahler dafür sind sehr hoch. Das gilt übrigens nicht nur für die Bundesrepublik, sondern Mobilität muss heute weltweit gesehen werden. Den Wohnbereich muss man differenzierter betrachten. Zum einen ist ganz klar: Barrierefreiheit ist mit hohem konstruktivem Aufwand und hohen Kosten verbunden. Das können sich nur wenige leisten. Auch der Staat und die Sozialkassen können das nicht in Gänze ausgleichen. Der demografische Wandel führt dazu, dass mehr ältere Menschen mit körperlichen Gebrechen Wohnraum nutzen. Deshalb sollten wir - mehr als bisher - die Möglichkeit barrierearmer und altersgerechter Wohnraumzuschnitte in den Fokus nehmen. Das ist finanziell günstiger und kann auch von Hauseigentümern mit kleinem Geldbeutel sowie mit geringerer staatlicher Unterstützung geschultert werden. Das beste Beispiel hierfür liefert das KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“. Durch dieses Förderprogramm erhalten vor allem ältere oder behinderte Menschen die Chance, dank reduzierter Wohnbarrieren so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden zu leben. Das Programm definiert erstmals einen bundesweit einheitlichen Standard für Barrierereduzierung im Wohnungsbestand. Es bietet wahlweise ein zinsgünstiges Darlehen oder einen Investitionszuschuss - sowohl für selbstgenutztes als auch für vermietetes Wohneigentum. Die KfW ist durch ihre Förderprogramme ein gutes, nachahmenswertes Beispiel, wenn es darum geht, intelligent die Kopplungsfunktion zwischen Demografiewandel - sprich: barrierearm - und Energieeffizienz - sprich: CO2-Gebäudesanierungsprogramm - herzustellen. Bei aller Attraktivität, Intelligenz und Wirksamkeit des Programms muss man ganz ehrlich und deutlich sagen, dass die finanzielle Quelle nicht unbegrenzt sprudeln kann. Wir werden im Mietwohnungsbau nicht alle Wohnungen barrierefrei oder -arm bauen oder umbauen können, aber wir müssen dafür sorgen, dass es in jedem Quartier welche gibt. Wir werden nicht jeden Eigentümer in den eigenen vier Wänden zum Umzug bewegen können, schon aus nachvollziehbaren emotionalen Gründen nicht. Hier müssen wir mehr als bisher neben Förderanreizen die Beratung und Begleitung auch und vor allem junger Eigentümer intensivieren. Wie ich eingangs sagte: Kluger Mann bzw. kluge Frau baut vor! Die Nachhaltigkeit beim Bauen wird zukünftig eine größere Rolle spielen. Das gilt für den öffentlichen Bereich ebenso wie für den privaten. Die Betrachtung eines Gebäudes über den gesamten Lebenszyklus hinweg muss auch mögliche Neunutzungen berücksichtigen. Wer privat nicht von Anfang an barrierearm baut, sollte, wenn möglich, zumindest die Voraussetzungen dafür schaffen, diesen Umbau später nachholen zu können - auch schon dann, wenn der Kinderwagen zum Einsatz kommt. Für mich hat es sich bewährt - und das vermisse ich ebenfalls im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen -, engen Kontakt zu den Verbänden aus dem Bereich der Behindertenbetreuung zu halten. Es sind doch oftmals die vielen kleinen Dinge des Lebens und die einfachen Lösungen in Zeiten knapper Mittel, die unseren Mitmenschen mit Behinderung helfen, in ihren vier Wänden zurechtzukommen. Dieser Erfahrungsaustausch sollte - dafür kann ich bei allen Kollegen nur werben - noch intensiver geführt werden. Dasselbe gilt natürlich auch für die Architekten und Bauplaner. Nichtsdestotrotz wird nicht jedes Handicap im Verkehrs- oder im Baubereich für unsere behinderten Mitbürger zu beseitigen sein. Die Möglichkeiten der technischen Hilfsmittel kommen im Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen viel zu kurz, werden aber von der christlichliberalen Koalition - weniger durch uns Verkehrs- und Baupolitiker als vielmehr durch unsere Kollegen aus dem sozialen Bereich - intensiv beackert. Denn die direkte Hilfe der Betroffenen durch ausgereifte Prothetik, Zu Protokoll gegebene Reden Volkmar Vogel ({1}) hochwertige Orthopädie und Hightechmedicare ist die allerbeste Lösung, um mit den Gegebenheiten klarzukommen. In diesen Bereichen gehört Deutschland zu den Weltmarktführern: Mittelständische Familienunternehmen wie die Hans B. Bauernfeind AG aus dem thüringischen Zeulenroda und die Duderstädter Otto Bock HealthCare GmbH und viele weitere Global-Player-Firmen spiegeln wider, dass sich soziales Empfinden und wirtschaftliche Interessen eben nicht ausschließen müssen. Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen werden niemals abschließend oder endgültig geregelt werden können. Entgegen dem Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen kommt es aus unserer Sicht darauf an, die rechtlichen Rahmenbedingungen differenziert in Wohnbzw. Eigentumsformen so zu formulieren, dass sie kostenseitig vertretbar und technisch einfach machbar sind. Finanzielle Fördermöglichkeiten haben Grenzen. Umso wichtiger sind Informations- und Beratungsangebote für einfache Lösungen. Im Neubau ist Barrierefreiheit einfacher machbar als im Bestand, auch was die Kosten betrifft. Bei knappem Geld müssen wir unsere Förderprogramme besser verzahnen und andere Förderquellen erschließen. Ich denke dabei an die Pflegeversicherung, steuerlichen Vorsorgeaufwand oder die staatlich geförderte private Altersversorgung. Bei allen baulichen Aktivitäten wird nie eine 100-prozentige Barrierefreiheit möglich sein. Deshalb werden moderne Hilfsmittel weiter an Bedeutung gewinnen und nicht zuletzt die Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erst vor wenigen Wochen haben wir uns mit einem ganz ähnlichen Antrag der SPD-Fraktion beschäftigt, daher ist klar, dass wir diesbezüglich bereits ausgiebig bis ins Detail über das Thema Barrierefreiheit und altersgerechtes Wohnen gesprochen haben. Auch damals wurde vonseiten der Union darauf verwiesen, dass wir bereits genau das tun, was Sie fordern, denn wir wünschen uns alle eine Gesellschaft, in der man auch im Alter oder mit Behinderung noch aktiv sein kann. Eine umfassend gestaltete Barrierefreiheit durchzusetzen, beginnend beim Design von Alltagsgegenständen bis hin zum sozialen Nahraum, sollte unser aller Anliegen sein. Barrierefreiheit erleichtert sowohl Menschen mit Behinderung den Zugang zu Gebäuden und Transportmitteln als auch Eltern oder Großeltern mit Kinderwagen, Älteren mit Rollator oder Einkaufswagen. In puncto Barrierefreiheit haben wir in den letzten Jahren viel erreicht. Zudem hat auch ein Umdenken stattgefunden. Wir sind nicht nur gegen äußere Barrieren vorgegangen, sondern auch gegen die Barrieren im Kopf. Beides hängt nämlich zusammen bzw. wirkt aufeinander ein. Auch wenn zweifellos noch viel zu tun bleibt, um alle Barrieren abzubauen, ist die Öffentlichkeit in den letzten Jahren doch sensibilisiert worden. Wir haben erkannt, dass Barrierefreiheit die Voraussetzung darstellt, damit Menschen mit Behinderung ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen können. So wie sie es wollen und seit Jahr und Tag einfordern. Und so wie sie es können. Der Punkt ist nicht, dass sich Menschen unterscheiden, der Punkt ist vielmehr, die Lebensbedingungen diesen Unterschieden anzupassen. Wir fragen jetzt, welchen besonderen Bedarf Menschen mit Behinderung haben, um im Alltag so gut wie möglich klarzukommen. Wir fragen, was getan werden kann, um ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern. Sie haben die Studie des BMVBS ja selbst erwähnt. Die Probleme sind also bekannt und werden auch gezielt angegangen. An dieser Stelle möchte ich nur kurz darauf verweisen, dass die Prognosen über das Altern unserer Gesellschaft ja nicht erst seit gestern bestehen, sondern schon zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung bekannt waren. Da sind wir uns doch einig!? Also müssen sich Rot-Grün, wenn sie heute Verfehlungen anprangern, auch an die eigene Nase fassen. Niemand denkt gern daran, was einem im Alter alles widerfahren könnte. Und man sollte sich auch nicht mit zu vielen vorausschauenden Überlegungen belasten. Um eine gewisse Vorsorge fürs Alter kommt jedoch niemand herum. Und zu ihr gehört, sich rechtzeitig zu fragen, wie man im Alter wohnen möchte bzw. was für eine Wohnung den eigenen Erfordernissen und Möglichkeiten dann wohl am besten entspricht. Gerade im Alter, wenn die Menschen immer mehr Zeit im eigenen Zuhause verbringen, wird Wohnen zunehmend wichtig. Komfort ist gefragt und eine altersgerechte Einrichtung, der Wohlfühlaspekt gewinnt an Bedeutung. Das Programm der KfW „Altersgerecht Umbauen“, das seit 2009 läuft und das der Kreditfinanzierung von Maßnahmen zum Zwecke der seniorengerechten Anpassung von bestehenden vermieteten und selbstgenutzten Wohngebäuden dient, hat einen wertvollen Beitrag für die Erhöhung und den Bestand der Lebensqualität im Alter geleistet. Durch die Förderung werden und wurden die Finanzierungskonditionen insbesondere für die senioren- und behindertengerechte Modernisierung des Wohnungsbestandes deutlich attraktiver gestaltet. Damit wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, in den eigenen vier Wänden alt zu werden und dort möglichst lang ein selbstbestimmtes Leben zu führen, das nicht daran scheitert, dass Treppenstufen oder kleine Badezimmer bei einer Gehbehinderung den Umzug in ein Heim erforderlich machen, obwohl ansonsten die Selbstversorgung noch bestens funktioniert. Generell gilt, dass zum Abbau von Barrieren Investitionen in großem Umfang getätigt werden müssen. Aber diese Anforderungen generieren auch einen Markt. Wenn man heutzutage baut oder Eigentum kauft, achtet man auf vieles, in der Regel auch darauf, dass dieses Eigentum auch im Alter und mit möglichen Gebrechen noch bewohnbar ist. Aber auch viele, die zur Miete leben, stellen diese Ansprüche an ihr Mietobjekt. Zu Protokoll gegebene Reden Momentan ist es so, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft in erster Linie die Eigentümer für die nachfragegerechte Fortentwicklung der Wohnungsbestände und des Neubaus verantwortlich sind. Sie müssen die Verantwortung übernehmen für ältere und behinderte Menschen und erhöhen gleichzeitig auch die Vermietbarkeit ihrer Wohnungen, und sie tun das oftmals in vorbildhafter Weise. Und seien wir doch ehrlich: Auch die Kommunen kommen schon längst ihrer Verantwortung nach, wenn es zum Beispiel darum geht, die öffentlichen Räume in Stadtquartieren altersgerecht umzubauen und die Planung und Beratung hinsichtlich des alters- und behindertengerechten Wohnens zu unterstützen. Sie sprechen unter anderem die sogenannte Musterbauordnung an, die konkret die Länder betrifft; denn in deren Hand und Regelungsbereich fallen die Bauordnungen. Generell liegt auch weiterhin die Gesetzgebungskompetenz ausschließlich bei den Ländern, und der Bund sollte sich mit Aufgabenzuweisungen und Ratschlägen zurückhalten, insbesondere dann, wenn die Forderungen Kosten verursachen, die zulasten der Landeshaushalte gehen. Aber die Bundesländer sind nicht untätig: In 14 Bundesländern enthält die Landesbauordnung - angelehnt an die Musterbauordnung - im Neubau eine Aufzugspflicht bei mehr als fünf Vollgeschossen eines Wohngebäudes. Zwei Länder fordern bereits bei mehr als 4 Vollgeschossen den Einbau von Aufzügen. Um es abzuschließen - in den vergangenen Ausschusssitzungen wurde schon oft darauf eingegangen -: Die Gestaltung barrierefreien Wohnens und barrierefreier Mobilität für ältere sowie für behinderte und in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen hat für das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und für die Union eine hohe Bedeutung, die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels künftig auch noch wachsen wird. Die Herstellung von Barrierefreiheit beim Personenverkehr ist ein ebenso wichtiger Faktor für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wie die Barrierefreiheit in den eigenen vier Wänden. Bei dem genannten KfW-Programm handelt es sich allerdings keinesfalls um die einzige Maßnahme des Bundes, die Barrierefreiheit fördert. Da gibt es nicht zuletzt den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, mit dem die Bundesregierung einen wichtigen Schritt nach vorne geht und mit dem sie ein weiteres wichtiges Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umsetzt. Der Aktionsplan beinhaltet ein Maßnahmenpaket und stellt einen Motor für Veränderung dar, aber er ist kein Gesetzespaket. Es geht darum, bestehende Lücken zwischen Gesetzeslage und Praxis zu schließen. Zudem hat der Aktionsplan einen Zeithorizont von zehn Jahren, der uns also viel Zeit für nötige Veränderungen gibt, uns aber auch eine Frist setzt. Ziel ist es, ihn dabei kontinuierlich auf den Prüfstand zu stellen und entsprechend neuerer Erkenntnisse weiterzuentwickeln, das erste Mal in zwei Jahren. Wie ein roter Faden muss sich mit ihm die Inklusion auf allen politischen Ebenen durch unsere Überlegungen und Entscheidungen ziehen. Und das heißt zum Beispiel, dass die gemeinsame Erziehung und Bildung von behinderten und nichtbehinderten Kindern konsequent vorangetrieben werden muss. Aber es gibt auch weitere Punkte, die es zu beachten gilt: Es gilt Hilfe- und Unterstützungsleistungen so zu organisieren, dass sie sich an den Lebenslagen und Bedürfnissen von Personen orientieren und nicht an Strukturen von Organisationen und Institutionen. Darüber hinaus müssen wir langfristig eine inklusive Arbeitsgesellschaft schaffen.

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wissen alle, dass wir in einer älter werdenden Gesellschaft leben und auf den demografischen Wandel reagieren müssen: Die Anzahl der über 80-Jährigen wird bis 2050 auf über 10 Millionen steigen. Mit zunehmendem Alter nehmen körperliche Einschränkungen zu. Stufen und Treppen machen vielen, insbesondere älteren Menschen, das Leben schwer. Das Thema Barrierefreiheit spielt für Ältere ebenso eine große Rolle wie für Menschen mit Behinderungen. Nach Schätzungen der Wohnungswirtschaft ist derzeit jedoch nur 1 Prozent des Wohnungsbestandes barrierefrei und nur weitere 4 Prozent barrierearm ausgestaltet. Nach einer Studie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird der Bedarf an barrierefreien und -armen Wohnungen bis 2020 auf zusätzlich 2,5 Millionen Wohnungen geschätzt. Es liegt auf der Hand, dass wir mehr barrierefreien Wohnraum benötigen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich mit dem Antrag „Barriefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen Voraussetzungen für Teilhabe und Gleichberechtigung“ ausführlich zu diesem Thema in den Deutschen Bundestag eingebracht. Fest steht: Es fehlt schon jetzt eklatant an altersgerechtem Wohnraum, und die Situation wird sich mit der steigenden Anzahl älterer Menschen noch weiter verschärfen. Investoren, Politik und Verwaltung müssen sich daher frühzeitig auf die sich verändernden Rahmenbedingungen einstellen. Die Bundesregierung muss jetzt handeln. Stichwort „gezielte Förderpolitik“: Die brauchen wir dringend. Umso unverständlicher ist es, dass die Bundesregierung das KfW-Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen“, wie aus dem Bundeshaushaltsentwurf von 2012 hervorgeht, auslaufen lässt. Dabei hat die Bundesregierung selbst das Programm als sehr positiv eingestuft: In ihrer Antwort auf die Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion bescheinigte sie dem Programm „eine erfreuliche Bilanz“, zudem bereitete es „in der Umsetzung keine Probleme.“ Da kann ich mich nur fragen: Warum aber soll dann das Programm „Altersgerecht Umbauen“ gestrichen werden? Das Förderprogramm ist doch von enormer Bedeutung: Älteren Menschen ermöglicht es, lange und selbstbestimmt in ihrer Wohnung und in ihrem gewohnten Umfeld zu leben. Zu Protokoll gegebene Reden Vergessen wir nicht, dass Wohnen ein Grundrecht ist, die Bundesregierung die UN-Behindertenkonvention unterschrieben hat und somit in der Pflicht steht, für barrierefreien Wohnraum zu sorgen. Barrierefreier Wohnraum kommt im Übrigen nicht nur Älteren und Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sondern auch Familien zugute. Aber barrierefreie Umbauten sind eben auch kostenintensiv, „Altersgerecht Umbauen“ leistet hierbei wichtige finanzielle Unterstützung. Statt das Förderprogramm auslaufen zu lassen, gilt es, das Programm zu erhalten. Wenn die Bundesregierung das Programm mit dem Argument streicht, dass die Mittel nicht voll abgerufen werden, schüttet sie das Kind mit dem Bade aus. Es muss doch vielmehr darum gehen, die Förderkonditionen so zu gestalten, dass das Programm angenommen wird. Es muss darum gehen, bei Hauseigentümern und Wohnungsunternehmen Bewusstsein für die Notwendigkeit barrierefreien Umbaus zu schaffen. Die Politik ist hier gefordert, aber ganz klar auch die privaten Hauseigentümer und die Wohnungswirtschaft. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung dazu auf, das Programm „Altersgerecht Umbauen“ auf bisherigem Niveau zu erhalten. Mit unserem Antrag stehen wir übrigens nicht nur für den bloßen Erhalt, sondern vielmehr für eine Weiterentwicklung des Programms: Unser Ziel ist es, langfristig den Bedarf an altersgerechtem Wohnraum schneller zu decken als bisher. Um das Thema Barrierefreiheit anzugehen, bedarf es darüber hinaus eines Gesamtpakets: Das Informationsund Beratungsangebot muss insgesamt ausgebaut und besser auf ältere Menschen abgestimmt werden. Noch immer mangelt es an einer Evaluation des Status quo bei der Zugänglichkeit von Gebäuden - und das, wo es doch erfolgreiche Beispiele wie die Wheelmap gibt: eine Onlinekarte vom Berliner Verein Sozialhelden, mit der körperlich eingeschränkte Menschen wie Rollstuhlfahrer, aber auch Ältere die Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude im Vorfeld prüfen können. Nach dem Ampelprinzip werden hier öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Bahnhöfe kategorisiert. Damit es zukünftig noch mehr solcher Projekte gibt, sollte der Bund solche Vorzeigeprojekte fördern. Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, Barrierefreiheit nicht nur beim Wohnungsbau, sondern auch im Wohnumfeld zu berücksichtigen, das heißt Mobilität im Sinne der Erreichbarkeit von Arbeitsstätten, Einkaufsmöglichkeiten, ärztlicher Versorgung, Bildungs- und sozialen Angeboten. Genau aus diesem Grund hat die SPD-Bundestagsfraktion mit dem bereits erwähnten Barrierefreiheitsantrag einen umfassenderen Ansatz als die Grünen gewählt: Barrierefreiheit muss auch für das Lebensumfeld gewährleistet werden, das heißt im Bereich der Mobilität und Infrastruktur. Ein Beispiel: Klapprampen für Geschäfte sind kostengünstig - und erleichtern das Leben von Mobilitätsbehinderten auf einfache Weise. Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass die Förderung von Barrierefreiheit integraler Bestandteil der Städtebauförderung wird. Es ist Aufgabe des Bundes, barrierefreies Bauen und Umbauen von Wohnraum stärker zu fördern. Eine stärkere Kopplung staatlicher Förderung an Kriterien der Barrierefreiheit wäre zielführend. Damit Barrierefreiheit bereits bei Planung und Ausführung mitbedacht wird, muss sie insbesondere für Baumaßnahmen der öffentlichen Hand gelten - man bedenke hier die Vorbildfunktion. Um das umzusetzen, wäre ein Programm zur Förderung der Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden notwendig; so könnten auch finanzschwache Kommunen die Anforderungen der UNBehindertenkonvention erfüllen. Da barrierefreie Umbauten kostenintensiv sind, wäre es nur logisch, bereits im Planungsprozess die DIN-Normen für barrierefreies Bauen zu berücksichtigen. Doch derzeit ist noch das Gegenteil der Fall, die Normen sind nur zum Teil im Baurecht verankert. Hier sind die Länder gefordert: Sie müssen die Standards setzen. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass die Musterbauordnung im Hinblick auf die Anforderungen an Barrierefreiheit bei Bau und Umbau überarbeitet wird. Die Länder müssen die Umsetzung dieser Anforderungen effektiver überwachen und Verstöße sanktionieren. Ich appelliere nochmal an die Bundesregierung, die Kürzungen bei der Städtebauförderung zurückzunehmen und das erfolgreiche KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ auf bisherigem Niveau langfristig weiterzuführen. Auch die bestehenden KfW-Programme müssen weiterentwickelt und ergänzt werden - nur so können wir den Anforderungen der Behindertenkonvention gerecht werden. Barrierefreiheit muss selbstverständlich werden bei Bau und Umbau. Bis dahin aber ist es noch ein weiter Weg, den die Bundesregierung aktiv gestalten muss. Das Programm „Altersgerecht Umbauen“ ist so ein wichtiger Baustein. Deshalb fordere ich Sie auf: Setzen Sie dieses Programm zumindest auf bisherigem Niveau fort!

Sebastian Körber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004078, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Wohnen im Alter bleibt Schwerpunkt unserer Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik, damit „ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen länger und lebenswerter in ihrem gewohnten Umfeld wohnen können“ - so der Koalitionsvertrag von Union und FDP. Von Winston Churchill soll der Satz stammen: Der Pessimist sieht in jeder Aufgabe ein Problem, der Optimist in jedem Problem eine Aufgabe. - Und da wir als Liberale von Hause aus Optimisten sind, sehen wir im demografischen Wandel eine große Aufgabe. Denn - gleich vorneweg gesagt - wir sind heute nicht zusammengekommen, um den demografischen Wandel zu beklagen. Denn es ist ganz entscheidend, dass alle Akteure gemeinsam anpacken und entschlossen an einem Strang ziehen. Keine andere Entwicklung wird unsere Gesellschaft so stark beeinflussen und nachhaltig verändern wie der demografische Wandel. Wir stehen bekanntlich vor einer mehrfachen Herausforderung: Zum einen sinken in Deutschland seit den 70er-Jahren die Geburtenzahlen und unterschreiten seit Zu Protokoll gegebene Reden langem den Schwellenwert, der für ein Gleichgewicht aus Geburten und Sterbefällen nötig wäre. Die Bevölkerung schrumpft. Sodann steigt gleichzeitig aufgrund des medizinischen Fortschritts Gott sei dank die Lebenserwartung stetig an. Die Anzahl älterer Menschen innerhalb der Bevölkerung steigt. Und zudem haben immer mehr Bürgerinnen und Bürger einen Migrationshintergrund. Zuwanderer kommen zu uns. Kurz gesagt: Wir werden weniger, älter und kulturell vielfältiger - mit allen Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialversicherungen und im Alltag. Der demografische Wandel ist kurz- und mittelfristig nicht umkehrbar. Selbst wenn heute mehr Kinder geboren würden, würde es mindestens 20 Jahre dauern, bis diese das erwerbsfähige Alter erreichen. Allerdings wird sich der demografische Wandel in Deutschland regional sehr unterschiedlich - Abwanderungen im ländlichen Raum, Zuwanderungen in Ballungszentren - bemerkbar machen. Die Alterung wird den ländlichen Raum besonders stark betreffen. Übrigens: Ländliche Regionen deshalb aufs Abstellgleis zu schieben, wäre der absolut falsche Weg. Das würde der großen Bedeutung des ländlichen Raumes keinesfalls gerecht. Lassen Sie mich deshalb bei dieser Gelegenheit für die FDP nochmals klarstellen: Keine einzige Region darf abgehängt werden. Wir setzen in ganz Deutschland auf gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Gleichwertig heißt dabei nicht gleichartig. Aber es geht um vergleichbare Chancen. Themen wie die zukünftige ärztliche Versorgung im ländlichen Raum, die Stärkung der Innenstädte und Ortskerne, Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur stehen ganz oben auf der Agenda. Die Herstellung der weitestgehenden Barrierefreiheit ist ein dynamischer Prozess, der nur schrittweise und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vollzogen werden kann. Deutschland hat die UNBehindertenrechtskonvention als einer der ersten Staaten unterzeichnet. Sie ist seit dem 26. März 2009 verbindlich. Das deutsche Recht genügt bereits heute den Anforderungen der VN-Behindertenrechtskonvention. Im Koalitionsvertrag haben sich die Regierungsparteien gleichwohl darauf verständigt, einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention zu entwickeln, um die bestehende Lücke zwischen Gesetzeslage und Praxis zu schließen. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr“, sagt das Sprichwort. Es ist doch ein verständlicher Wunsch, dass Menschen im Alter möglichst lang zu Hause bleiben wollen. 86 Prozent der „jungen“ Alten - die heute 50- bis 65-Jährigen - wollen so lange wie möglich in der eigenen Wohnung leben. Wohnbarrieren müssen reduziert werden. Aktuelle Situation: Wohnen zuhause ist die bevorzugte Wohnform im Alter: 93 Prozent der 65-jährigen und älteren Menschen leben in „normalen“ Wohnungen, auch rund zwei Drittel der 90-Jährigen. Von Senioren genutzte Wohnungsangebote sind vielfach nicht altersgerecht, sondern weisen erhebliche Barrieren beim Zugang zur Wohnung und im Sanitärbereich auf. Mehr als drei Viertel der Senioren wohnen in Gebäuden mit zwei oder mehr Stockwerken - auch im Einfamilienhaus über 50 Prozent; deutlich über 90 Prozent ohne technische Hilfen. Senioren wohnen überwiegend in älterer Bausubstanz. Über 60 Prozent der Senioren in Beständen mit Baujahr vor 1971, Schwerpunkt Nachkriegszeit 1949 bis 1971; weitere 20 Prozent in Gebäuden der Baujahre 1972 bis 1980. Je circa 50 Prozent Mieter und Eigentümer, vor allem jüngere Senioren überwiegend im selbst genutzten Eigentum. Zukünftig wächst der Anteil Hochaltriger mit erhöhtem Pflegerisiko in diesem Marktsegment. Die Lage der genutzten Wohneinheiten kann die selbstständige Lebensführung im Alter beeinträchtigen. Vor allem in Randlagen und Siedlungen außerhalb geschlossener Ortschaften bestehen oft Einschränkungen in der Mobilitätsversorgung und in Bezug auf die versorgende Infrastruktur. Barrierearmut ist als zukunftsfähiges Qualitätsmerkmal einer der zentralen Begriffe, die das öffentliche Leben in den nächsten Jahren bestimmen werden. Die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP spricht sich klar dafür aus, Mobilität zu ermöglichen und nicht zu behindern, und fordert zudem mehr Barrierearmut im Wohnumfeld und im öffentlichen Raum. Unser Ziel ist eine höhere Lebensqualität für alle Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Hier ergibt sich Handlungsbedarf vor dem Hintergrund, dass der Anteil älterer Menschen deutlich zunehmen wird. Nur circa 1,2 Prozent der Wohnungen in Deutschland sind altersgerecht und bis 2020 werden rund 2,5 Millionen zusätzlich benötigt - denn 86 Prozent der „jungen“ Alten - die heute 50- bis 65-Jährigen - wollen so lange wie möglich in der eigenen Wohnung leben. Dies bedeutet: Wohnbarrieren müssen reduziert werden. Wünschenswert wäre eine Verzehnfachung der Quote an altengerechtem Wohnraum auf 20 Prozent bis 2030. Investitionen zur Bereitstellung eines ausreichenden Angebots altersgerechten Wohnraums sind vorrangig von den Eigentümern der Wohnungen, sei es als Vermieter oder als Selbstnutzer, zu erbringen. Der Staat kann sie dabei auf verschiedene Weise unterstützen, zum Beispiel durch finanzielle Anreize. Für die Beseitigung von Barrieren im Wohnbereich können auch steuerliche Vorteile genutzt werden. Vermieter können entsprechende Aufwendungen entweder sofort in voller Höhe oder über mehrere Jahre verteilt im Wege der Abschreibung steuerlich berücksichtigen. Selbstnutzende Eigentümer und Mieter können auch für die entsprechenden Aufwendungen die Steuervergünstigung für Handwerkerleistungen in Anspruch nehmen und so ihre Steuerlast um maximal 1 200 Euro im Jahr mindern. Die Länder erhalten bis 2013 insgesamt 518,2 Millionen Euro zweckgebunden für die soziale Wohnraumförderung vom Bund. Sie finanzieren daraus zusammen mit eigenen Mitteln unter anderem Programme für die Barrierereduzierung im Bestand, Mietwohnungsneubau für Menschen mit Behinderungen, Modernisierung von Alten- und Pflegeheimen. Die Praxis zeigt: Weitestgehende Barrierefreiheit beim Bauen ist nahezu kostenneutral, wenn sie rechtzeiZu Protokoll gegebene Reden tig beachtet wird. Gleichzeitig ermöglicht ein langes Wohnen im Zuhause eines jeden Einzelnen deutliche Kostenvorteile bei notwendiger Pflegeunterstützung. Die ambulante Pflege in den eigenen vier Wänden ist deutlich günstiger als die stationäre Pflege und damit gleichermaßen entlastend für die Pflegeversicherung. Dies ist eine Entlastung für die zukünftige Generation. Während im Jahr 2000 noch etwa vier Arbeitnehmer für die Rente eines Rentners aufgekommen sind, müssen im Jahr 2040 etwa zwei Arbeitnehmer die Rente eines Senioren tragen. Zukunftsfähige Baupolitik kommt an einer Fortführung des KfW-Programms „Altersgerechter Umbau“ nicht vorbei. Reden und Handeln klaffen aber bei Ihnen auseinander. Die Frage sei erlaubt: Wenn den Grünen das Thema so wichtig ist, warum hat sich deren Fraktion bei der Abstimmung am 8. Juli im Bundestag zum schwarz-gelben Antrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention enthalten und nicht zugestimmt? SPD und Linke haben ganz dagegen gestimmt. Schließlich wird in diesem Antrag die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, das auslaufende Programm zum altersgerechten Umbau über 2011 hinaus zu verstetigen. Im Übrigen: Das Programm wird nicht „eingestellt“ oder gar „abgeschafft“, wie Sie das immer behaupten, sondern es läuft schlicht aus, war - aus Mittel des Konjunkturpakets I gespeist - nur bis 2011 befristet. Bitte bei der Wahrheit bleiben! Die Weiterentwicklung des Programms ist Auftrag der schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung, auch in schwieriger Finanzlage. Aufgrund der positiven Erfahrungen werbe ich in den Haushaltsberatungen intensiv für eine ordentliche Mittelausstattung bei einer Weiterführung des Programms. Sie wissen sicher: Regelungen zur Barrierefreiheit in Gebäuden gehören zum Bauordnungsrecht. Für diese Rechtsmaterie liegt die Gesetzgebungskompetenz unverändert - auch nach der letzten Föderalismusreform ausschließlich bei den Ländern. Ich bin daher sehr gespannt, wie und ob Sie das dort, wo Sie Verantwortung in den Länderregierungen tragen, auch umsetzen. Davon sollte man ja ausgehen, allein sehen kann ich davon nichts. Dort sparen Sie und hier erstellen Sie einen Wunschzettel. Ich selbst baue gerade mein Elternhaus in ein Mehrgenerationenhaus für meine Eltern, meine Großmutter und mich barrierearm und energieeffizient um - falls Sie also Anregungen aus der Praxis brauchen, lade ich Sie gerne ins schöne Forchheim ein. Am Umgang mit unseren Senioren, am Respekt vor den Älteren beweist sich die menschliche Qualität unseres Landes, die keine kalte Gesellschaft werden darf. Die höhere Lebenserwartung ist ein großer Gewinn für den Einzelnen, für die Familien und für die gesamte Gesellschaft. Noch nie war die Generation der über 60-Jährigen so gesund und aktiv wie heute. Senioren haben eine enorme Lebenserfahrung und Kompetenz. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auf den Erfahrungsschatz dieser Generation zu verzichten! Als junger Abgeordneter sage ich: Wir bauen heute auf dem auf, was vor uns geschaffen wurde. Dank des Einsatzes, der Arbeit und des Fleißes der jetzt älteren Generation steht Deutschland hervorragend da. Wir brauchen hier einen positiven Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft: Ich wünsche mir, dass unser Land auch künftig für Alt und Jung lebenswert ist. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir in Deutschland auch in Zukunft ein selbstbestimmtes, generationengerechtes und barrierearmes Leben führen können.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jede und jeder von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kennt das Schild, das an fast allen Aufzügen steht: „Im Brandfall nicht benutzen“. Im Klartext heißt das, dass gehbehinderte Menschen sich im Notfall nicht selbst retten können. In der Brandschutzordnung unseres Deutschen Bundestages heißt es unter anderem: „Die Evakuierung von Behinderten im Zuständigkeitsbereich der Fraktionen ist eigenverantwortlich zu organisieren und sicherzustellen. Entsprechende Hinweise auf die Büros von Behinderten sind in den Pforten des jeweiligen Gebäudes zu hinterlegen. Was - das werden Sie sich jetzt fragen - hat das mit dem vorliegenden Antrag zu tun? Menschen mit Behinderungen sind bei fast allen Gebäuden mit Barrieren konfrontiert, die sie nur schwer oder gar nicht überwinden können. Das betrifft sowohl das Hineinkommen in ein Gebäude, die Fortbewegung innerhalb des Gebäudes und - zum Beispiel bei Bränden - auch das Verlassen eines Gebäudes. Dabei gibt es längst Aufzüge, die auch im Brandfall noch längere Zeit - eben zur Evakuierung - nutzbar sind. Sie sind nur etwas teurer als die allgemein üblichen Aufzüge. Das führte dazu, dass der eigentlich mit vergleichsweise hervorragend barrierefreien Gebäuden ausgestattete Bundestag 300 Menschen mit Behinderungen erst zu einem Dialog mit den Bundestagsabgeordneten am 2. und 3. Dezember 2011 einlud und - da sich darunter zu viele Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen befinden - wieder auslud. Dieser an Peinlichkeit kaum zu übertreffende Vorgang zeigt, wie das wirkliche Leben ist und wie weit wir noch von einer inklusiven Gesellschaft entfernt sind. Kaum ein Gebäude ist barrierefrei. Das betrifft Wohngebäude, Arztpraxen, Schulen, Hotels, Gaststätten, Verwaltungsgebäude, Bahnhöfe, Kultureinrichtungen usw. Das Problem ist nicht neu, aber die Aktivitäten zur Beseitigung der Barrieren und zur Vermeidung neuer Barrieren lassen arg zu wünschen übrig. Es beginnt beispielsweise damit, dass an der Spitze des Bundesbau- und Verkehrsministeriums mit Herrn Ramsauer, CSU, ein Minister steht, der das Wort „Barrierefreiheit“ nicht zu kennen scheint, erst recht nicht, welche Probleme sich damit verbinden und was - auch durch ihn zu tun ist. Wer es nicht glaubt, sollte sich mal die rund 700 Pressemitteilungen des Ministers auf seiner Homepage oder seine Reden im Bundestag sowie auf diversen Veranstaltungen oder seine Antworten auf meine diesbeZu Protokoll gegebene Reden züglichen Anfragen ansehen. Vorschläge seinerseits für gesetzliche Rahmenbedingungen, zum Beispiel durch verbindliche Vorgaben zum barrierefreien Bauen, im Baugesetzbuch? - Fehlanzeige! Initiativen seinerseits, mit Konjunkturprogrammen der Bundesregierung, steuerlichen Anreizen oder KfW-Programmen barrierefreies Bauen zu fördern? - Fehlanzeige? Im Gegenteil: Das kleine Pflänzchen KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ soll 2012 wieder gerodet werden. Dabei gibt es seit März 2009 mit der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Behindertengleichstellungsgesetz aus dem Jahr 2002 Gesetze in Deutschland, welche Bund, Länder und Kommunen verpflichten, sich aktiv für die Schaffung von Barrierefreiheit in Wohnungen und im Wohnumfeld einzusetzen. Nicht einmal 2 Prozent aller Wohnungen in der BRD sind barrierefrei. Wer behinderungs- bzw. altersbedingt auf Barrierefreiheit angewiesen ist, steht - so meine Erfahrungen - vor gravierenden Problemen. In einigen Fällen sind Anpassungsmaßnahmen am Wohngebäude oder in der Wohnung möglich. Voraussetzungen dafür sind die Zustimmung des Eigentümers und die Klärung der Finanzierung. Beide Hürden sind oft nicht überwindbar. Hinzu kommt der absurde Fakt, dass die Schaffung der Barrierefreiheit nicht etwa als Wertsteigerung begriffen wird, sondern sie bei Auszug oder Tod auf Kosten der behinderten Menschen sogar wieder rückgängig gemacht werden muss. Also bleiben drei Möglichkeiten: erstens der Verbleib in der nicht barrierefreien Wohnung unter Inkaufnahme menschenunwürdiger Bedingungen - dazu zähle ich massive Bewegungseinschränkungen innerhalb der Wohnung, Einschränkungen in der Nutzung von Toilette und Waschmöglichkeiten und äußerst eingeschränkte Möglichkeiten, die Wohnung zu verlassen -, zweitens der Umzug in eine barrierefreie Wohnung, was angesichts des fehlenden Wohnungsangebotes und der mit dem Umzug verbundenen Kosten ebenfalls schwer zu realisieren ist, sowie drittens der Umzug ins Heim - ein Weg, der für viele Menschen aus mir sehr verständlichen Gründen nicht erstrebenswert ist. Deswegen unterstütze ich ausdrücklich die Losung des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, GdW, „Aufzug statt Auszug“ und diesbezügliche Initiativen des sächsischen Verbandes der Wohnungsgenossenschaften. Wir brauchen dringendst deutlich mehr barrierefreie Wohnungen, Wohngebäude und ein entsprechendes Wohnumfeld. Deswegen wird die Linke den vorliegenden Antrag unterstützen. Ein Weg ist die Beseitigung vorhandener Barrieren. Dazu brauchen wir verbindliche Regelungen im Baugesetzbuch und den Landesbauordnungen, entsprechende Förderprogramme und intelligente Lösungsvorschläge von Architektinnen und Architekten sowie den Baufirmen. Bei den Förderungen kann man von den bewährten Instrumenten hinsichtlich der Sanierung in denkmalgeschützten Gebäuden und bei der energetischen Sanierung lernen. Statt eine Einstellung des KfW-Programms „Altersgerechtes Umbauen“ fordert die Linke schon mit dem Bundeshaushalt 2012 dessen Erhöhung und Verstetigung. Auch eine andere Bezeichnung dieses KfW-Programms halte ich für sinnvoll. Neubauten müssten künftig generell barrierefrei bzw. so barrierearm gebaut werden, dass individuelle Anpassungen unkompliziert möglich sind. Das ist auch eine Herausforderung für die Firmen, welche Einfamilienhäuser und andere kleine Eigenheime anbieten. Ich habe zwei Visionen hinsichtlich der Barrierefreiheit von Wohnungen und anderen Gebäuden. Erstens hoffe ich, dass irgendwann alle Gebäude und alle Wohnungen barrierefrei sind. Ich möchte - egal mit welcher Behinderung - uneingeschränkt in meiner Wohnung leben und auch jederzeit Verwandte, Bekannte und Freunde in deren Wohnungen besuchen können. Auch das gehört zu umfassender Teilhabe, wie sie in der UNBehindertenrechtskonvention festgeschrieben wurde. Zweitens möchte ich in jedes Gebäude nicht nur hinein-, sondern auch bei Notfällen wie andere Menschen ohne Behinderungen wieder hinauskommen können.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Alle wollen alt werden, niemand will alt sein. Obwohl sich alles ständig im Wandel befindet - eines ist sicher wir alle werden älter, auch wenn wir es nicht unbedingt wahrhaben wollen. Zum Glück sind wir damit nicht alleine, denn bis 2030 wird die Anzahl der über 65-Jährigen auf 22,3 Millionen und die der über 80-Jährigen auf 6,4 Millionen steigen. Wir befinden uns also in guter Gesellschaft. Dieser Tatsache muss auch im Wohnbereich Rechnung getragen werden, vor allem weil wir alle selbstbestimmt leben wollen, ob kerngesund, im hohen Alter oder mit einer körperlichen Beeinträchtigung, auch vor dem Hintergrund der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Die eigene Wohnung, sei es eine Miet- oder Eigentumswohnung, steht unter dem besonderen Schutz unserer Rechtsordnung. Sie bietet uns einen geschützten Raum zur freien Persönlichkeitsentfaltung. Deswegen wollen und sollen auch ältere Menschen so lange wie möglich unabhängig und selbstbestimmt wohnen. Aber über die Hälfte der Seniorenhaushalte lebt in Gebäuden, die zwischen 1949 und 1980 gebaut wurden. Hier ist eine barrierearme Bauweise kaum zu finden. Aber es besteht eine hohe Bereitschaft, entsprechend altersgerecht umzubauen. Doch häufig fühlen sich die Menschen, gerade wenn sie schon etwas älter sind, diesbezüglich überfordert. Ich vermute, dass aus diesem Grund die bisher bereitgestellten Bundesmittel über das KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ so schlecht abgeflossen sind. Hinzu kommt, dass es erfahrungsgemäß eine Weile dauert, bis Förderprogramme bei Bürgern „ankommen“ und ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse daran geweckt werden. Von den 2010 bereitgestellten 90 Millionen Euro wurden nur rund 32 Millionen Euro abgerufen. Das zeigt aber nicht, dass das Programm sinnlos ist und gestrichen werden sollte, so wie es die Bundesregierung plant, im Gegenteil. Es muss besser beworben und zielgruppengerecht ausgestaltet werden. Altersgerechtes und barrierearmes Wohnen ist menschenrechtes Wohnen. Es profitieren nicht nur alte oder Zu Protokoll gegebene Reden hochbetagte Bewohner, auch Bewegungseingeschränkte, Rollstuhlfahrer oder Familien mit kleinen Kindern gewinnen mehr Bewegungsfreiheit. Mit dem Auslaufen des Programms „Altersgerecht Umbauen“ zeigt sich einmal mehr, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung ein wohnungspolitischer Totalausfall ist. Selbstverständlich sehen auch wir die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung. Gerade weil „nur“ 32 Millionen Euro von 90 Millionen Euro abgerufen wurden, kann mit einem reduzierten Mitteleinsatz ein immer wichtiger werdendes KfW-Programm erhalten werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7188 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia Möller, Inge Höger, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg schließen - Drucksache 17/5757 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({0}) Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Wolfgang Götzer, Werner Schieder, Joachim Spatz, Kornelia Möller und Thomas Gambke.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit den 30er-Jahren leben die Menschen in der Region Siegenburg mit den Belastungen und Risiken, die der Luft-Boden-Schießplatz mit sich bringt: Unfälle, teilweise beträchtlicher Lärm und Bodenkontamination beeinträchtigen die Lebensqualität. Seit Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit in den 80er-Jahren ist der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg ganz oben auf der Liste der besonders wichtigen Themen meiner Wahlkreisarbeit. In zahllosen Gesprächen, Briefen, Anfragen, Ortsterminen unter anderem auch mit dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesministerium der Verteidigung, Christian Schmidt, kämpfe ich seitdem - gemeinsam mit den Politikern vor Ort und der Bürgerinitiative - dafür, dass der Bombenabwurfplatz geschlossen wird. Dies wurde stets vom Bundesverteidigungsministerium mit dem Hinweis abgelehnt, dass der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg militärisch unverzichtbar sei. Daran hat sich übrigens auch unter der rot-grünen Regierung nichts geändert. Deshalb habe ich all die Jahre dafür gekämpft, dass wenigstens die Zahl der Überflüge reduziert wird. Dieser Einsatz hat sich gelohnt: Waren es 1993 noch 1741 Flüge pro Jahr, so sank die Zahl der Flüge im Jahr 2000 auf 660 und erreichte schließlich 2009 einen absoluten Tiefststand von 17 Flügen pro Jahr. Ein weiterer Erfolg ist, dass im gültigen Nutzungskonzept für die beiden Luft-Boden-Schießplätze in Deutschland - nämlich Siegenburg und Nordhorn - der geplante Nutzungsumfang und die planerische Obergrenze festgelegt sind. Letztere liegt deutlich unter den Einsatzzahlen der 90er-Jahre. Die tatsächliche Nutzung in Siegenburg lag in den vergangenen Jahren wiederum deutlich unter dem geplanten Nutzungsumfang. Trotzdem bleibt unser Ziel die Schließung des LuftBoden-Schießplatzes Siegenburg. Dafür spricht aus meiner Sicht eine ganze Reihe von Gründen: Praktikabilität, Kosten, Gefährdung und Nutzbarkeit sind hier zu nennen. Bereits im Jahr 2007 empfahl der Bundesrechnungshof der Bundeswehr, die Mitfinanzierung und -nutzung des LBS Siegenburg aufzugeben. Vor allem bin ich aber der Auffassung, dass die Nutzung des Bombenabwurfplatzes in Siegenburg aufgrund der veränderten militärischen Herausforderungen nicht mehr notwendig ist. Wegen seiner geringen Fläche können auf dem Platz nämlich nur ungelenkte Waffen eingesetzt und erprobt werden. Solche werden aber in absehbarer Zeit kaum noch zum Einsatz kommen. Beispielsweise der Eurofighter verfügt über solche Waffensysteme schon gar nicht mehr. Dies ist für mich der entscheidende Punkt, denn selbstverständlich muss gewährleistet sein, dass unsere Soldaten und die unserer Verbündeten auf ihre immer gefährlicher werdenden Einsätze nach wie vor bestmöglich vorbereitet werden können. Siegenburg ist dafür aber nicht mehr erforderlich. Der Standort Siegenburg wird derzeit im Rahmen der Bundeswehrreform überprüft. Im Zuge dieser Überprüfung finden im Bundesministerium der Verteidigung Untersuchungen zum künftigen Übungsbetrieb der Luftwaffe statt. Ob und in welchem Umfang die Ergebnisse dieser Untersuchungen oder die anstehenden Entscheidungen zur zukünftigen Struktur der Bundeswehr konkrete Auswirkungen auf die Nutzung des Luft-BodenSchießplatzes Siegenburg durch die Bundeswehr haben werden, ist nach Auskunft des BMVg noch nicht absehbar. Im Zuge der Bundeswehrreform muss erst ein sicherheitspolitisch unterlegtes Standortkonzept für die gesamte Bundesrepublik vorliegen, das im Übrigen auch Nordhorn berücksichtigt. Dieses ist in Kürze zu erwarten. Dieses Konzept wird aus der Sicht des BMVg Aussagen über die Notwendigkeit der weiteren Mitnutzung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg durch die Bundeswehr beinhalten und gegebenenfalls Verhandlungen mit den US-Streitkräften in Deutschland über die Schließung des Übungsplatzes zur Folge haben. Die Siegenburg Range ist den US-Streitkräften gemäß Art. 48 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut zur Nutzung überlassen worden und wird von der Bundeswehr mitgenutzt. Die Entscheidung zur Beendigung der militärischen Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes liegt somit nicht in der alleinigen Zuständigkeit des Bundesverteidigungsministeriums. Auf meine kürzliche Anfrage hin hat mir der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt allerdings mitgeteilt, dass die US-Streitkräfte die militärische Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes aktuell nicht infrage stellen und dass seitens der USA auch keinerlei Pläne zur Aufgabe des Luft-Boden-Schießplatzes existieren. Eine verbindliche und seriöse Aussage über die Zukunft des Standortes Siegenburg kann seitens des Bundesverteidigungsministeriums somit zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht getroffen werden. Gerade jetzt, im Rahmen der umfassenden Bundeswehrreform, sind die Chancen für eine Schließung des Bombenabwurfplatzes so groß wie nie. Deshalb gilt es, den derzeit im BMVg laufenden Entscheidungsfindungsprozess zu einem im Sinne der Menschen in der Region erfolgreichen Ergebnis zu bringen. In einem von mir als gewähltem Vertreter des Wahlkreises initiierten gemeinsamen Brief mit den ebenfalls befassten Kollegen von FDP, SPD und Grünen an den Bundesverteidigungsminister wurden deshalb diesem nochmals die Gründe, die für die Schließung sprechen, dargelegt und die Beendigung der Nutzung des Bombenabwurfplatzes gefordert. Eine eventuelle Überführung des Platzes in eine zivile Nutzung muss dem Standortkonzept der Bundeswehr überlassen bleiben.

Werner Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch die SPD will die Schließung des Luft-BodenSchießplatzes Siegenburg, weil sich die Bedingungen für seine Nutzung über die Jahre grundlegend verändert haben. Seit Jahrzehnten steht das Übungsgelände gemäß Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, Art. 48, unter hoheitlicher Verwaltung der US-Streitkräfte. Während die US-Seite ihre Übungen immer mehr reduziert hat - zuletzt nutzten die Amerikaner den Übungsplatz 2008 -, nutzt nunmehr nur noch die Bundeswehr das Gelände für Übungsflüge - und das auch nur gelegentlich. Seit Jahren beklagen die Anwohner und die „Bürgerinitiative gegen den Fluglärm e.V.“ in unermüdlichem Einsatz massivste Fluglärmbelästigung durch den LuftBoden-Schießplatz Siegenburg und auch große Umweltgefahren für das anliegende Grundwasserschutzgebiet. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und parteiübergreifend alle Kommunalpolitiker verlangen meines Erachtens zu Recht die Schließung des Militärgeländes und die Überführung in eine zivile Verwendung siehe Onlineumfrage der „Mittelbayrischen Zeitung“ vom 3. Dezember 2010. Wiederholt habe ich mich im Verteidigungsministerium für die Schließung des Luft-Boden-Schließplatzes eingesetzt. Schließlich sprechen auch objektive Gründe dafür: Der Bundesrechnungshof hat bereits im Jahr 2007 die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die hohen Unterhaltskosten bemängelt, die in keinem Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen. Immerhin kostet der Erhalt des Übungsgeländes mehr als eine halbe Million Euro jährlich. Besonders bedeutsam ist in meinen Augen aber Folgendes: Auf dem relativ kleinen Übungsgelände ist nur das Training mit ungelenkten Waffen möglich. Diese Waffengattung ist aber ein Auslaufmodell angesichts der Weiterentwicklung zu nur noch ferngelenkten Waffensystemen an Bord moderner Kampfjets wie zum Beispiel dem Eurofighter. Der Zeitpunkt, zu dem die ungelenkten Raketen nicht mehr eingesetzt werden, ist absehbar, sodass die Notwendigkeit eines entsprechenden Übungsgeländes entfällt. In einer neuen Initiative habe ich mich nun gemeinsam mit den regional zuständigen Kollegen von den Grünen, der FDP und der CSU an den Verteidigungsminister de Maizière gewandt und um eine baldige Entscheidung und Klärung bezüglich der Zukunft des LuftBoden-Schießplatzes Siegenburg gebeten. Besonders vor dem Hintergrund, dass im Zuge der Bundeswehrreform das Standortkonzept für die Übungsplätze sowieso überarbeitet wird, ist die Chance für eine Schließung des Übungsgeländes im Sinne der Menschen vor Ort äußerst günstig. Voraussetzung ist allerdings, dass die Bundesregierung in Verhandlungen mit den USStreitkräften das alleinige Verfügungsrecht über die Nutzung des Militärgeländes in Siegenburg erhält. Deswegen sollte die Bundesregierung unverzüglich in Verhandlungen treten. Von amerikanischer Seite wurde mir signalisiert, dass Gespräche möglich sind. Die Initiative muss aber von der Bundesregierung kommen. Nach meiner Überzeugung gibt es keinerlei objektive oder gute Gründe, die gegen eine Schließung des LuftBoden-Schießplatzes Siegenburg sprechen. Die Bundesregierung muss jetzt im Sinne der Bevölkerung Konsequenzen ziehen. Der Antrag der Linken ist zwar schön und gut. Wir von der SPD wollen aber keine Schaufensterpolitik betreiben. Wir brauchen vielmehr Unterstützung aus allen Fraktionen, um die Bundesregierung endlich dazu zu bringen, dass sie sich bewegt.

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Belastung von Anwohnern in der Nähe militärischer Übungsplätze ist naturgemäß hoch, vor allem aufgrund der im Zusammenhang mit Flugbewegungen entstehenden Lärmbelastung. Vor kurzem hat das Bundesverteidigungsministerium den Bericht zum Truppenübungsplatzkonzept für das Jahr 2010 herausgegeben. Diese Aufstellung wird aufgrund einer Entschließung des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages seit 1992 jährlich vorgelegt und umfasst die an den Luft-Boden-Schießplätzen Wittstock, Nordhorn und Siegenburg stattgefundenen Flugbewegungen. Insgesamt lag die Anzahl der Einsätze mit Kampfflugzeugen der Bundeswehr im Jahr 2010 auf Luft-Boden-Schießplätzen und Truppenübungsplätzen im Inland mit 320 um 74 Einsätze unter der Zahl des Vorjahres. Davon entfielen 133 Einsätze auf den Übungsplatz Siegenburg, wobei die überwiegende Zahl der Übungsflüge auf die Bundeswehr entfiel. Die Nutzung des Schießplatzes Siegenburg liegt aufgrund eines NATO-Truppenstatuts grundsätzlich in der Zuständigkeit der US-Streitkräfte. Insgesamt führte die Bundeswehr im Jahr 2010 129 Übungsflüge durch, während sich die Nutzungszahl unserer NATO-Partner auf 4 belief. Die militärische Ausbildung und Inübunghaltung der Angehörigen unserer Luftwaffe sowie unserer alliierten Zu Protokoll gegebene Reden Partner sind dringend erforderlich. Beides stellt eine Grundvoraussetzung dafür dar, dass die Bundeswehr als Instrument einer umfassend angelegten und vorausschauenden Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes leisten kann. Gleiches gilt für unsere NATO-Partner. Hieraus folgt, dass die Bundeswehr und vor allem auch die fliegende Besatzung in Kampfflugzeugen die Möglichkeiten haben müssen, entsprechend zu trainieren. Dies umfasst auch als wesentlichen Bestandteil einer wirksamen und am Auftrag orientierten Ausbildung das regelmäßige Üben von Waffeneinsatzverfahren auf Luft-Boden-Schießplätzen im Inland. Sowohl die Interessen der betroffenen Anwohner als auch die notwendigen Ausbildungsmöglichkeiten der Soldatinnen und Soldaten liegen uns am Herzen. Beide Anliegen stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zueinander und können nicht einseitig aufgelöst werden. In einer solch komplexen Frage gibt es keine einfachen Lösungen. Daher müssen wir die Anstrengung unternehmen, ein für beide Seiten angemessenes Ergebnis zu finden. Es spricht für sich, dass die Antragsteller gerade nicht um einen solchen Lösungsweg bemüht sind. Stattdessen fordern die Linken die umgehende Schließung des Luft-Boden-Schießplatzes in Siegenburg. Dies ist eine plakative Forderung, die den unrühmlichen Versuch darstellt, sich bei den vor Ort Betroffenen als Fürsprecher zu gerieren. Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich wieder einmal, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Linken über verantwortungsvolle Sicherheitspolitik nicht möglich ist. Wer Auslandeinsätze unserer Bundeswehr pauschal ablehnt und die Auflösung der NATO fordert, der hat auch kein Problem damit, Übungsplätze schließen zu wollen. Verantwortungsvolle und realitätsorientierte Politik sieht jedoch anders aus. Wir unterstützen die Bundesregierung ausdrücklich und nehmen ihr Bemühen ernst, bei allen Entscheidungen bezogen auf die Nutzung inländischer Truppenübungsplätze zwischen operationellen Notwendigkeiten für unsere Bundeswehr auf der einen und den berechtigten Interessen der betroffenen Bürger auf der anderen Seite abzuwägen. Wir haben dabei auch in Zukunft volles Vertrauen in die Kompetenz des Bundesministeriums der Verteidigung, den Ausbildungs- und Einsatzflugbetrieb in dem gerade erforderlichen Maße zu planen, um damit die Belastungen durch notwendige militärische Flüge in Deutschland auf das unvermeidbare Maß zu begrenzen und auch weiterhin minimalinvasiv auszugestalten. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr müssen weiterhin auch in Deutschland die Möglichkeit haben, sich auf ihre gefährlichen Auslandseinsätze vorzubereiten. Schließlich ist ihr Einsatz oftmals mit einer hohen Gefahr für Leib und Leben verbunden und bedarf deshalb ohne Wenn und Aber einer optimalen Vorbereitung. Dies muss mit den berechtigen Schutzinteressen der Bewohner Hand in Hand geben, und nicht gegeneinander. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen ohne dabei die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr oder unserer Partner zu gefährden.

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Noch bevor wir hier heute über den Antrag der Linken „Luft-Boden-Schließplatz Siegenburg schließen“ debattieren, hat die Linke in Niederbayern, in meinem Wahlkreis Landshut/Kehlheim, dafür gesorgt, dass sich der Dauerschläfer Dr. Götzer, seit 20 Jahren direkt gewählter Abgeordneter, zumindest ein wenig bewegt. Ein wenig, aber immerhin! Der Antrag hätte auch gut ein gemeinsamer Antrag aller hier im Bundestag vertretenen Fraktionen sein können. Doch leider ist dieses anfangs gut gestartete gemeinsame Unterfangen im Interesse von über 40 000 bayerischen Bürgerinnen und Bürgern an der Unfähigkeit - nein, an der Unwilligkeit - eines Einzelnen gescheitert. Doch dazu später. Zunächst möchte ich einen kurzen Überblick zu dem Sachverhalt des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg geben, sodass jeder sich ein Bild von der Notwendigkeit der Schließung machen kann. Erstmalig genutzt wurde der Platz vor dem Zweiten Weltkrieg. Kurz vor Ende des Krieges wurde auf dem Platz von NS-Soldaten Munition vergraben. Leider sind weder Art, Anzahl noch die genauen Stellen der vergrabenen Munition bekannt. Auch die US-Streitkräfte, denen im Rahmen des Zusatzabkommens zum NATO-Truppen-Statut in Art. 48 das Gelände zur alleinigen Nutzung überlassen wurde, haben über Jahre hinweg Müll verschiedenster Art auf dem Gelände vergraben. Ganz besonders besorgniserregend ist dies vor dem Hintergrund, dass der Luft-Boden-Schießplatz im Dürnbucher Forst in einem ausgewiesenen Grundwasserschutzgebiet liegt. Erhebliche Gefahren bestehen durch die gegenwärtige Nutzung des Platzes: So könnte durch den Absturz eines US-Kampfjets vom Typ F 16 das stark wassergefährdende Hydrauliköl Hydrazin ins Grundwasser einsickern. Auch der von der USAF geflogene Flugzeugtyp A 10 stellt eine Gefährdung dar, weil dieser Typ mit Uran angereicherter Munition, sogenannter DU-Munition, ausgerüstet ist. Das Übungsgelände ist mit 2,6 Quadratkilometern sehr klein, sodass die Jets regelmäßig über Wohngebieten fliegen. Es besteht die unmittelbare Gefahr des Absturzes von Kampfjets über den umliegenden Gemeinden. Einer der häufig eingesetzten Jets stürzte beispielsweise im April dieses Jahres in der Eifel nur wenige hundert Meter von einem Wohnhaus entfernt ab. Und noch weitere dauerhafte Gefährdungen und Belästigungen gehen vom Übungsgelände aus: Bei Übungsflügen entsteht für die Anwohnerinnen und Anwohner eine massive Lärmbelästigung, die über 110 Dezibel betragen kann. Von den aus Fluglärm nachweislich hervorgerufenen Gesundheitsgefährdungen und -schädigungen sind unmittelbar rund 40 000 Menschen beZu Protokoll gegebene Reden troffen - dem Lärm kann man sich nicht einfach entziehen. Falls diese Gefahrenargumente noch nicht überzeugt haben, verweise ich gerne noch auf finanzielle Aspekte. Der Bundesrechnungshof empfahl bereits 2007 der Bundeswehr, die Mitfinanzierung und -nutzung des LBSSiegenburg aufzugeben: Für jede Nutzung des unter hoheitlicher Verwaltung der US-Streitkräfte stehenden Geländes sind Gebühren an die US-Regierung zu zahlen. Die Kosten dafür sind in den letzten Jahren ständig gestiegen. Laut Bundesverteidigungsministerium ist bis 2014 mit Kosten von über 500 000 Euro pro Jahr zu rechnen. Doch das schwerwiegendste Argument, diesen Antrag zu unterstützen und mitzutragen, ist, das zu tun, wofür wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herrn, in dieses Hohe Haus gewählt worden sind: die Belange der Bevölkerung ernst zu nehmen und ihren Willen umzusetzen. Und genau das ist es, was wir hier mit unserem Antrag tun. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der betroffenen Region sowie eine Reihe von Volksvertreterinnen und Volksvertreter verschiedener Parteien fordern die umgehende Schließung des Übungsplatzes. So haben bei einer am 3. Dezember 2010 in der Mittelbayerischen Zeitung durchgeführten Onlineumfrage 86,22 Prozent der Beteiligten für die Schließung des Luft-BodenSchießplatzes gestimmt, nur 13,78 Prozent waren für eine Beibehaltung, falls die Bundeswehr den Platz noch benötigen sollte. Das ist ein klares Signal, dem sich niemand verschließen kann. Seit 33 Jahren setzt sich die sehr aktive „Bürgerinitiative gegen den Fluglärm e.V. Siegenburg“ mit Engagement und Ideenreichtum für die Belange der Bevölkerung vor Ort ein und hat zum Beispiel ein Nachtflugverbot und ein Flugverbot bei Hochzeiten und Beerdigungen erreicht. Im November letzten Jahres habe ich die BI nach Berlin eingeladen, damit sie ihr Anliegen, die Schließung des LBS, direkt ihren gewählten Volksvertreterinnen und Vertretern vortragen konnten. In unserem Fraktionssaal trafen sich die BI, der Landrat und mehrere Bürgermeister sowie etliche betroffene Bewohnerinnen und Bewohnern mit regionalen Bundestagsabgeordneten fast aller Fraktionen, auch die Abgeordneten der CSU/CDU waren der Einladung der BI und mir gefolgt. Lediglich die FDP lies sich entschuldigen. Bei dem konstruktiven und zielführenden Gespräch haben wir uns einvernehmlich darauf verständigt, gemeinsam und wirkungsvoll die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger umzusetzen und für die Schließung des LBS zu sorgen. Nachdem ich zum ersten gemeinsamen Treffen einen Antragsentwurf vorgelegt hatte, schien das verabredete gemeinsame Vorgehen aller Fraktionen gut zu laufen. Leider stellte sich bald heraus, dass nicht alle beteiligten regionalen Abgeordneten ihre parlamentarischen Möglichkeiten für die Lösung des Problems nutzen wollten, so wie sie es den Bürgerinnen und Bürgern versprochen hatten. So komme ich nun auf das zurück, was ich zu Anfang meiner Rede bereits angedeutet habe: Das gemeinsame Unterfangen scheiterte an der Unwilligkeit eines einzelnen Abgeordneten; denn leider hat sich Herr Dr. Götzer von der CSU gegen die Zusammenarbeit entschieden. Nach über 20 Jahren hohler Phrasendrescherei würde es wohl an ein Wunder grenzen, wenn Herr Dr. Götzer sich am Ende doch für die Belange seiner Wählerinnen und Wähler einsetzen würde. So ist es ihm zu verdanken, dass das fraktionsübergreifende gemeinsame Vorgehen kurz vor dem Erfolg noch zum Erliegen kam. Nun aber, aus lauter Angst davor, dass Die Linke mit einem Antrag dem Anliegen der Bürgerinnen und Bürger aus der Region Rechnung trägt, entschieden sich CSU, SPD, FDP und Grüne dazu, zumindest mit einem Brief ans Verteidigungsministerium tätig zu werden. Statt durch ein gemeinsames parlamentarisches Vorgehen, wie mit allen Fraktionen vereinbart, die Schließung des LBS endgültig zu besiegeln, begnügen sich Grüne, SPD, CSU und FDP damit, einen Bittstellerbrief an den Verteidigungsminister zu schicken und auf seine Gutmütigkeit bzw. auf die Bundeswehrreform zu hoffen. Zudem beschränkt sich diese Koalition der Zauderer bei ihrer Bitte auf die Beendigung der Nutzung des Bombodroms durch die Bundeswehr, was soviel heißen würde, dass die NATO weiterhin auf dem Gelände üben kann. Von einer wirklichen Schließung des LBS - im Sinne der Bürgerinnen und Bürger - mit einer zivilen Nachnutzung des Platzes kann dabei keine Rede sein. Aber so, wie die BI den Kampf nicht aufgegeben hat, werde auch ich mich weiter dafür einsetzen, mit Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition und Koalition, an einer gemeinsamen Lösung, an einem gemeinsamen Antrag zu arbeiten. Vor allem die Kolleginnen und Kollegen von der CSU/CDU lade ich herzlich ein, dem Anliegen ihrer Basis und kommunaler Vertreterinnen und Vertreter zu folgen und sich für die Schließung, aber vor allem für die zivile Nachnutzung des LBS-Siegenburg, wie in unserem Antrag gefordert, auszusprechen. Die Zeit ist noch nicht abgelaufen; für eine Zusammenarbeit stehe ich gerne und immer zur Verfügung.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Partei Die Linke hat einen Antrag zur Schließung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg in Niederbayern, Kreis Kelheim, vorgelegt. Sie fordert die umgehende Schließung des Platzes und die Zuführung des Geländes in eine zivile Verwendung. So richtig die Grundrichtung des Antrages ist, umso genauer müssen wir hinschauen, was denn seine eigentliche Zielsetzung ist. Und da finden sich Aussagen und Ziele, denen ich und unsere Fraktion so nicht zustimmen können. Ich will an dieser Stelle feststellen: Die Bundeswehr braucht auch und gerade in Deutschland militärische Übungsplätze. Wenn die Linke so tut, als könnten wir alle militärischen Übungsplätze in Deutschland schließen, so ist dies einfach ein Zeichen von Verantwortungsund Orientierungslosigkeit. Wenn es bei Einzelnen eine Zu Protokoll gegebene Reden pazifistische Grundhaltung gibt, wie ich es bei der Kollegin Möller der Linken vermuten kann, dann respektiere ich das, auch wenn ich ihre Auffassung nicht teilen kann. Eine reine Verweigerungshaltung ist schlicht kein Lösungsansatz. Vielmehr muss es darum gehen, die Notwendigkeit zur Bereitstellung benötigter militärischer Übungsplätze mit den Erfordernissen einer möglichst geringen Belastung der Natur und der Menschen zu verbinden. Es darf nicht sein, dass die Belastungen durch den militärischen Übungsbetrieb an eine andere Stelle verlagert werden. Deshalb ist auch im vorliegenden Fall des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg eine Abwägung vorzunehmen. Wie ist die Sachlage? Der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg hatte lange Zeit eine wesentliche Bedeutung für die Ausbildung der Luftwaffe und war als solcher für die Bundeswehr unverzichtbar. Die intensive Nutzung war durch in der Spitze 1 741 Übungsflüge im Jahr 1993 gekennzeichnet. Dabei war aufgrund der geringen Fläche des Übungsplatzes die Belastung für die umliegende Bevölkerung ungleich höher als an anderen Luft-BodenÜbungsplätzen. So verfügt der Platz Siegenburg nur über eine Fläche, die etwa 12 Prozent der Größe des Übungsplatzes in Nordhorn ausmacht. Auch amerikanische Luft-Boden-Übungsplätze sind wesentlich größer und vor allem in weitgehend menschenleeren Gebieten. Auch deshalb ist die Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg durch die US-Streitkräfte fast völlig zum Erliegen gekommen. Nicht zuletzt durch die hohe Belastung des Umlands bildete sich in Siegenburg eine breite Bürgerbewegung, die sich für die Verminderung der Lärmemissionen einsetzte. Die Bürgerbewegung mündete in einen Verein: „Bürgerinitiative gegen den Fluglärm e.V. Siegenburg“. Die Initiative hatte dabei nie das Ziel der Schließung des Platzes. Vielmehr ist das Ziel des Vereines die Förderung des Natur- und Umweltschutzes. Gemäß Vereinssatzung soll dies erreicht werden mit einer Reduzierung der Abgas- und Lärmwerte, die durch militärische Flugbewegungen rund um den Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg verursacht werden. Weiterhin sind die Förderung von spezifischen Naturschutzprojekten und Landschaftsschutzgebieten in der Vereinssatzung festgeschrieben, wie sie noch im Februar 2010 mit breiter Mehrheit von den Vereinsmitgliedern bestätigt wurde. In den Jahren 2006 bis 2009 hatte die Zahl der Übungsflüge am Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg deutlich abgenommen. Seit 2007 waren es deutlich unter 100 Übungseinsätze pro Jahr. Damit waren die Ziele der Bürgerinitiative im Prinzip erreicht. Vor drei Jahren hat dazu der Bundesrechnungshof festgestellt, dass das Nutzen-Kosten-Verhältnis eine Weiternutzung des Platzes nicht sinnvoll erscheinen lässt. Und im Konzept für die Nutzung der Luft-Boden-Schießplätze in der Bundesrepublik Deutschland von 2008, zwar „VS - Nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichnet, aber im Internet verfügbar, heißt es zum Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg wörtlich: Er ist … aufgrund seiner geringen Größe ausschließlich für den Einsatz ungelenkter Abwurfmunition bei Tag aus dem Geradeaus- und Sinkflug geeignet. Er ist nicht an das Nachttiefflugsystem angebunden und liegt nicht in räumlicher Nähe zu einem für militärische Übungen geeigneten reservierten Luftraum. Das Einsatzverfahren „LOFT“, das Schießen mit Bordkanone sowie Übungseinsätze bei Nacht sind dort nicht möglich … Durch die geringe Größe des Platzes und die Nähe der umliegenden Gemeinden ist die Belastung durch den Übungsflugbetrieb hoch. Dem ist nichts hinzuzufügen. In mehreren Initiativen habe ich versucht, die niedrige Zahl von Übungsflügen festschreiben zu lassen. Das Verteidigungsministerium wollte eine solche Aussage bislang allerdings nicht abgeben. Im Mai 2011 verwies Staatssekretär Schmidt auf die gerade laufenden Untersuchungen und Festlegungen im Rahmen der sogenannten Bundeswehrstrukturreform. Das Ergebnis wurde uns für Herbst dieses Jahres zugesagt. So habe ich diese Woche in einem gemeinsamen Brief mit den Abgeordneten Dr. Götzer, CSU, Werner Schieder, SPD, und Horst Meierhofer, FDP, den Verteidigungsminister gebeten, nunmehr Stellung zur weiteren Verwendung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg zu nehmen. Gleichzeitig haben wir unsere wohlbegründete Forderung vorgetragen, die Nutzung des Platzes als Luft-Boden-Schießplatz endgültig aufzugeben. Wir sind der Auffassung, dass eine Nutzung des Platzes in der Größenordnung von 100 Überflügen nicht die Bereitstellung einer Infrastruktur mit Kosten von einer halben Million Euro im Jahr rechtfertigt, besonders nicht in Verbindung mit der sehr beschränkten Eignung des Platzes sowie seiner geringen Größe und der damit verbundenen hohen Belastung für die anliegende Bevölkerung. Wenn es weiterhin im Rahmen der Bundeswehrstrukturreform keine vernünftige Verwendung des Platzes geben sollte, ist der Platz einer zivilen Nutzung zuzuführen. Es ist selbstverständlich, dass damit die Bereinigung des Platzes von möglichen Altlasten aus der Nutzungszeit als Luft-Boden-Schießplatz verbunden sein muss. Ich setze auf den Dialog mit dem Verteidigungsministerium und erwarte nunmehr die angekündigte, substanzielle und begründete Aussage zur weiteren Verwendung des Luft-Boden-Schießplatzes in Siegenburg. Dafür will und werde ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln einsetzen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 24: Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Flächenverbrauch wirkungsvoll reduzieren - Drucksache 17/6502 15802 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Peter Götz, Ulrich Lange, Hans-Joachim Hacker, Rita Schwarzelühr-Sutter, Petra Müller, Heidrun Bluhm und Bettina Herlitzius.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem vorliegenden, von Ideologie geprägten Antrag der Grünen wird das untaugliche Ziel aus der sozialistischen Mottenkiste der 70er-Jahre des vorherigen Jahrhunderts verfolgt, über eine Flächenverbrauchsabgabe das Bauen zu verteuern. Abgesehen davon, dass dies nur mit einem neuen bürokratischen Monster zu bewältigen wäre, ist es der falsche Weg. Bereits die im Länderwettbewerb rot-grüner oder rotroter Landesregierungen nach oben gepuschte Grunderwerbsteuer verteuert das Wohnen unangemessen und bremst die von allen erwartete Mobilität. Den Kommunen sollen nach dem Grünen-Antrag Flächenausweisungsrechte zugestanden werden. Von wem denn? Vom Bund? Von den Ländern? Wollen Sie damit eine neue „Flächenausweisungsrechtebehörde“ schaffen? - Wir haben einen anderen Ansatz: Wir wollen die kommunale Planungshoheit weiter ausbauen, damit die Gemeinden eigenverantwortlich ihre kommunale Planung steuern können. Die kommunalen Mandatsträger vor Ort wissen am besten, wie sie die Zukunft ihrer Gemeinde gestalten. Dazu bedarf es keiner Bevormundung aus Berlin. Auch für uns sind die Stärkung der Innenentwicklung und das Flächensparen wichtig. Deshalb werden wir das Baurecht im zweiten Teil der Novelle zum Baugesetzbuch, BauGB, in diese Richtung konsequent weiterentwickeln. Ich erinnere daran, dass das zuständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vor einem Jahr einen bundesweiten öffentlichen Beteiligungsprozess zur Erarbeitung eines „Weißbuchs Innenstadt“ durchgeführt hat, der zu Recht hohe Anerkennung erhielt. Für uns sind Innenstädte und Ortskerne die Schlüsselfaktoren für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Deshalb muss es um die Frage gehen, wie wir die Innenentwicklung erleichtern und attraktiver machen können. Neue Strafsteuern und Abgaben für Flächeninanspruchnahme sind der falsche Weg. Sie sind investitionshemmend und führen zu keiner wirklichen Stärkung der Innenentwicklung. Und wenn, wie im Antrag der Grünen vorgesehen, neue kommunale Aufgaben wie „Nachweispflichten für Innenentwicklungspotenziale“, „verpflichtendes Flächenmonitoring“ oder die bei der letzten Novelle zum BauGB abgeschaffte „Revisionspflicht für Flächennutzungspläne“ erfunden werden, so sind dies bestenfalls Beschäftigungsprogramme für Städteplaner, die von den Kommunen zu bezahlen sind. Sie tragen weder zum Bürokratieabbau bei noch sind sie als Zwangsvorgabe zielführend. Die Städte und Gemeinden sehen sehr wohl selbst, wie und an welcher Stelle sie die Entwicklung ihrer Kommunen verändern. Dazu bedarf es keiner bevormundenden „Zwangsbeglückung“ aus Berlin. Unabhängig davon, haben wir nach der Föderalismusreform I zu Recht im Grundgesetz verankert, dass der Bundesgesetzgeber den Gemeinden keine neuen Aufgaben mehr übertragen darf. Schon allein deshalb kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Antrag der Grünen nicht zustimmen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie wir den Gestaltungsspielraum kommunaler Selbstverwaltung und die kommunale Planungshoheit erweitern können. Die anstehende Novelle zum BauGB bietet dafür eine Reihe von Möglichkeiten, die wir gemeinsam angehen sollten: So wollen wir die im ersten Teil der BauGB-Novellierung zurückgestellte Bestimmung des § 136, die Klimaschutz- und Klimaanpassung im Rahmen der städtebaulichen Sanierung beinhaltet, als wichtiges neues Element der Innenentwicklung den Kommunen anbieten. Zusammen mit dem ebenfalls neuen, jährlich mit 92 Millionen Euro ausgestatteten Programm „Energetische Stadtsanierung“ kann die energetische Bilanz in Stadtquartieren verbessert werden. Dies sind wesentliche Beiträge zur qualitativen Stärkung der Innenentwicklung. Auch werden wir darüber hinaus die klassische Städtebauförderung, die in diesem Jahr ihr 40-jähriges Bestehen feiert, auf hohem Niveau fortsetzen und weiterentwickeln. Wie Sie sehen, verfolgen wir den Ansatz, Fehlentwicklungen auf der „Grünen Wiese“ nicht mit neuen Steuern und Abgaben, sondern mit Anreizen entgegenzuwirken. Wir trauen den Menschen, die vor Ort in den Städten und Gemeinden kommunalpolitische Verantwortung tragen, sei es als Oberbürgermeister, Bürgermeister oder als Rat in den kommunalen Parlamenten, zu, selbst zu entscheiden, was für ihre Kommune gut ist, und welche planerische Entwicklung sie gehen wollen. Wir sollten darauf verzichten, sie ständig bevormunden zu wollen. Vielmehr wollen wir ihnen helfen, nicht nur im planerischen Bereich, sondern auch finanziell. Wir wollen die kommunale Selbstverwaltung stärken. Deshalb entlasten wir in den nächsten Jahren durch schrittweise Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter die kommunalen Haushalte in den Städten, Gemeinden und Kreisen in Milliardengrößenordnungen. Das hilft den Kommunen mehr als neue Bürokratie.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute befassen wir uns mit dem Antrag der Grünen „Flächenverbrauch wirkungsvoll reduzieren“. Lassen Sie mich aber zuerst klarstellen: Sprachlich korrekt müssen wir von Flächeninanspruchnahme reden, da die Fläche nicht verbraucht, sondern durch eine neue Nutzung in Anspruch genommen wird. Man versteht darunter die Umwandlung von bisher vor allem landwirtschaftlich genutzten, aber auch naturbelassenen Flächen in Siedlungs- und Verkehrsfläche. Gemeint ist bei der Flächeninanspruchnahme der Verlust von landwirtschaftlicher Nutzfläche oder natürlichen Lebensräumen. Diese Flächen werden für Wohnen, Straßen oder Gewerbe genutzt. Der als gleitender Vierjahresdurchschnitt berechnete tägliche Flächenzuwachs hatte zwischen 1997 und 2000 noch 129 Hektar betragen. Ziel der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung war und ist es, die tägliche Inanspruchnahme neuer Siedlungs- und Verkehrsflächen bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar pro Tag zu reduzieren. In den Jahren 2001 bis 2005 sank der Flächenzuwachs auf 115 Hektar bzw. 114 Hektar und reduzierte sich im Vierjahresdurchschnitt zwischen den Jahren 2006 bis 2009 weiter auf 94 Hektar pro Tag. Damit verlangsamte sich die Flächeninanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrszwecke in den letzten Jahren sehr deutlich. Wenn ich jetzt die Jahre mit den jeweiligen Werten vergleiche, stelle ich fest, meine lieben Grünen, dass die Flächeninanspruchnahme während Ihrer Regierungszeit mit der SPD im Vergleich zu 1997 leicht zurückgegangen ist. Aber erst nach Ihrer Regierungszeit ist die Flächeninanspruchnahme drastisch gesunken. Wie so häufig erheben Sie als Opposition Forderungen, um die Sie sich als Regierungspartei in keiner Weise gekümmert haben. So viel zum Thema Glaubwürdigkeit. Aber dennoch ist die heutige Debatte zu begrüßen. Sparsamer Umgang mit Grund und Boden - Minderung der Flächeninanspruchnahme für Siedlungen und Verkehr im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie ist wichtig und von der Bundesregierung und unserer Fraktion gewollt. Wenn ich mir aber Ihre Forderungen ansehe, muss ich leider sagen, dass Ihre „Erziehungskonzepte“ im Großen und Ganzen nur auf Bestrafung hinauslaufen, ohne dass ein wirklich positiver Aspekt zu erwarten ist. Vorschläge, die die Außenentwicklung gegenüber der jetzigen Rechtslage schwieriger gestalten, wirken lediglich investitionshemmend, führen aber zu keiner tatsächlichen Stärkung der Innenentwicklung. Dies gilt zum Beispiel für die Vorschläge zu § 35 BauGB, Außenbereich, und zur Verankerung eines Nachhaltigkeits- und Demografiechecks. Die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme ist ein wesentliches Teilziel einer nachhaltigen Raumentwicklung, aber nicht das einzige. Eine sachgerechte Umsetzung dieses Teilziels kann nicht einseitig zulasten anderer Nachhaltigkeitsziele erfolgen, wie etwa der Sicherung wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandorte und einer angemessenen Wohnungsversorgung. Auch dies muss berücksichtigt werden. Was können wir machen? Welche Maßnahmen sind sinnvoll? Ich möchte einige Schwerpunkte von einer Kette vieler kleiner Detailmaßnahmen aufführen: Erstens vorrangige Ausrichtung der Siedlungsentwicklung am Bestand durch Nutzung von Baulücken, Baulandreserven, Brachflächen und Möglichkeiten der Verdichtung, Vorrang der städtebaulichen Innenentwicklung vor der Außenentwicklung; zweitens Vermeidung einer flächenhaften Zersiedelung durch Konzentration der Siedlungstätigkeit in zentralen Orten, Entwicklungsachsen und in Siedlungsschwerpunkten; drittens Sicherung ausreichender Freiräume zum Schutz der ökologischen Ressourcen und für Zwecke der Erholung sowie Vorhaltung von Flächen für land- und forstwirtschaftliche Nutzungen, den vorbeugenden Hochwasserschutz und die Nutzung regenerativer Energiequellen; viertens Vermeidung der Inanspruchnahme von Böden mit besonderer Bedeutung für den Naturhaushalt sowie für landwirtschaftliche Nutzungen. Fünftens. Zur Stärkung der Innenentwicklung gilt es, die bestehenden Planungsinstrumente der Raumordnung, die Möglichkeiten der Bauleitplanung und Fachplanung aber auch informelle Instrumente und Verfahren verstärkt zu nutzen durch sechstens die Präzisierung flächensparender Vorgaben in den Raumordnungsplänen, siebtens den Abbau von Hemmnissen der Innenentwicklung, achtens die Bestandsmobilisierende Stadtentwicklung, neuntens die Vereinfachung von Entwicklungsmaßnahmen im Innenbereich und zehntens den Ausbau des Flächenmonitorings. Die Bundesregierung wird deshalb demnächst den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden vorlegen. Vorgesehen ist damit zum Beispiel eine Flexibilisierung des § 17 BauNVO, Erleichterung bei der Überschreitung der Maßobergrenzen; zudem soll die Bodenschutzklausel des § 1 a Abs. 2 BauGB präzisiert, die Ausübung des Vorkaufsrechts zugunsten Dritter erweitert und das Rückbaugebot weiterentwickelt werden. Politische Zielsetzung ist es, die Innenentwicklung zu erleichtern und attraktiver zu machen. Je besser es gelingt, den künftigen Bedarf im Wege der Innenentwicklung zu befriedigen, desto eher ist es gerechtfertigt, die Inanspruchnahme neuer Flächen einzuschränken. Auch für die Minderung der Flächeninanspruchnahme sind die Planungsinstrumente der Raumordnung, die Möglichkeiten der Bauleitplanung und Fachplanung aber auch informelle Instrumente und Verfahren zu nutzen.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jeden Tag werden in Deutschland Flächen in der Größe von mehr als 130 Fußballfeldern verbaut. Das sind nicht nur Straßen und Wege, sondern auch Wohnhäuser, Gewerbe- und Industriegebäude. Was auf der einen Seite die wirtschaftliche Kraft unseres Landes symbolisiert, hat auf der anderen Seite jedoch Auswirkungen auf Natur und Umwelt. Insbesondere die Landwirtschaft hat unter dem Verlust wertvoller Kulturböden zu leiden. Die zunehmende Versiegelung von Flächen hat Folgen für die natürliche Verdunstung und stört die Versickerung von Regenwasser. Auch dies trägt zu Hochwasser bei, führt dazu, dass sich weniger Grundwasser neu bildet, und hat damit ganz konkrete Auswirkungen auf das lokale Klima. Zu Protokoll gegebene Reden Es war deshalb bereits das Ziel der rot-grünen Bundesregierung, den täglichen Flächenverbrauch in Deutschland deutlich zu reduzieren. Danach sollten bis 2020 weniger als ein Drittel der heute täglich verbrauchten Fläche in Anspruch genommen werden: nur noch 30 Hektar pro Tag. Dies war ein ambitioniertes Ziel und ist auch heute Teil der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung - zugleich ist es nicht unumstritten. So kritisieren nicht nur Wohnungsunternehmen, sondern auch der Städte- und Gemeindebund das Reduktionsziel. Mit dem Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte haben wir in Zeiten der Großen Koalition bereits konkrete Beschlüsse im Interesse der Reduzierung des Flächenverbrauchs gefasst. Dadurch kann im städtischen Bereich schnell und unbürokratisch bei Investitionsvorhaben gehandelt werden, um die Planungen vor allem auf die Innenentwicklung zu konzentrieren und eben nicht auf die „grüne Wiese“. Ausdrückliches Ziel dieses Gesetzes ist es, die Inanspruchnahme von Flächen außerhalb des bereits besiedelten Raumes zu mindern. Wer auf der „grünen Wiese“ bauen will, muss dagegen zunächst eine eingehende Umweltprüfung für das Vorhaben durchlaufen. Ziel des Gesetzes ist es, dass brachliegende innerstädtische Grundstücke wieder nutzbar gemacht werden. Das dient auch dem Prozess eines sinnvollen Umbaus von Stadtquartieren, die damit besser erhalten, erneuert und weiterentwickelt werden können. Es war für uns als SPD-Bundestagsfraktion ein großer Erfolg, dieses Gesetz mit auf den Weg gebracht zu haben und einen konkreten Beitrag zur Senkung der Flächeninanspruchnahme zu leisten. Dieser Ansatz muss auch bei der bevorstehenden Novelle des Baugesetzbuches weiterverfolgt werden, im Interesse der Stärkung der Innenstädte und der Reduzierung des Flächenverbrauches. Die Länder und Kommunen stehen in der Frage der Flächeninanspruchnahme besonders in der Verantwortung. Wir Sozialdemokraten haben deshalb vorgeschlagen, in einem Pilotverfahren das Konzept von Flächenzertifikaten zu erproben. Die Kommunen können Flächenzertifikate erhalten, nachdem eine Verständigung auf Obergrenzen für jährliche Siedlungsausweitungen erfolgt ist. Diese Flächenzertifikate können die Kommunen dann untereinander handeln. Aber auch diese Obergrenze muss jedes Jahr sinken, um den Flächenverbrauch nachhaltig zu reduzieren. Ein solches Konzept kann nur gemeinsam mit den Kommunen, nicht gegen sie gelingen. Deshalb ist hier noch Überzeugungsarbeit notwendig. Erinnert sei daran, dass auf Länderebene kontrovers über das Thema debattiert wird. Auf der für Raumordnung zuständigen Ministerkonferenz wurde 2010 engagiert über eine gemeinsame Positionierung gerungen und immerhin in vier Punkten ein Konsens erreicht. Demnach befürworten die Länder, die Nachfrage nach neuen Flächen künftig stärker auf besiedelte Flächen zu lenken, die Erfassung der Flächeninanspruchnahme stärker an der tatsächlichen Umwidmung, Versiegelung und Zerschneidung von Landschaften zu orientieren und vorhandene Planungsinstrumente konsequenter anzuwenden. Dagegen wurde der Vorschlag interkommunal handelbarer Flächenausweisungsrechte abgelehnt. Ich möchte deshalb die Koalition an ihren Koalitionsvertrag erinnern, in dem sie versprochen hat, einen Modellversuch zu initiieren, in dem Kommunen auf freiwilliger Basis ein überregionales Handelssystem für die Flächennutzung erproben. Dies sollte auch nach der Positionierung der Länder auf freiwilliger Basis möglich sein. Die für Raumordnung zuständigen Landesminister haben sich - ausdrücklich als Ergänzung zu dem im Koalitionsvertrag genannten Modellvorhaben - für ein weiteres Modellvorhaben zur Möglichkeit des interkommunalen Austauschs von Flächenreserven und der Option zu Neuausweisungen ausgesprochen. Auch hier warten wir auf entsprechende Aktivitäten der Bundesregierung. Wir sollten dabei auch auf die Ergebnisse des Technikfolgenabschätzungsprojektes „Reduzierung der Flächeninanspruchnahme - Ziele, Maßnahmen, Wirkungen“ zurückgreifen. Der entsprechende Bericht wurde uns Anfang 2007 übergeben. Demnach hält das Büro für Technikfolgenabschätzung die planungsrechtlichen Instrumente zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme für ausreichend und geeignet, empfiehlt aber einige Ergänzungen für das Bauen im Außenbereich, Änderungen bei der Gültigkeitsdauer von Bauleitplänen und bei Mindestdichten für Baugebiete und schlägt schließlich eine Reform der Baunutzungsverordnung vor. Ziel ist es dabei, Nutzungsmischungen zu erleichtern. Auf der fiskalischen Seite werden eine Diskussion über Reformen bei Grundsteuer, Gewerbesteuer und Grunderwerbssteuer empfohlen, andererseits auch neue Abgaben für Neuerschließungen, Baulandausweisungen und Bodenversiegelungen. Entscheidend bleibt nach Ansicht der Technikfolgenabschätzer die freiwillige interkommunale Kooperation, bei der die Position der Kommunen gestärkt werden muss. Als Bund können und müssen wir ganz konkret unsere Beiträge leisten: mit einer entsprechenden Wohneigentumsförderung, die den Erwerb von Bestandsgebäuden fördert oder den Neubau auf Brachflächen bevorzugt, sowie mit einer gestärkten Städtebauförderung mit den Schwerpunkten Altbauförderung und von Gebieten mit hohen Leerständen. Gerade bei der Städtebauförderung ist durch die aktuelle Bundesregierung in den letzten Jahren durch die verheerende Kürzungspolitik viel zerstört worden. Dies hat auch Auswirkungen auf die Flächeninanspruchnahme, weil nicht die notwendigen Impulse für die Innenentwicklung gegeben wurden. Es ist auch unverständlich, dass die Bundesregierung die Vorschläge in dem von ihr in Auftrag gegebenen Gutachten zur Altschuldenproblematik in den neuen Ländern nicht aufgreift. Danach werden konkrete Empfehlungen unterbreitet, die Entlastung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen von Altschulden - im wesentlichen im Plattenbaubestand - direkt mit dem Erwerb von Immobilienbeständen im Innenbereich der Städte zu verZu Protokoll gegebene Reden binden. Das würde einen direkten Beitrag zur Aufwertung des Innenbereiches leisten und über Rückbau einen Beitrag zur Reduzierung des Flächenverbrauches bringen. Wir werden die Vorschläge der Länder und Kommunen zusammen mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diskutieren. Uns eint das Ziel, den zunehmenden Flächenverbrauch weiter zu begrenzen. Dabei sollten wir jedoch nicht neue bürokratische Hürden errichten. Ein überzogener Bürokratismus wird uns an dieser Stelle nicht weiterhelfen. Viele in dem Antrag der Fraktion genannten Vorschläge wurden in der Vergangenheit bereits diskutiert. Jetzt muss es darum gehen, geeignete und praktikable Instrumente zu finden, wie in Deutschland die Flächeninanspruchnahme tatsächlich reduziert werden kann. Das Patentrezept hat dafür noch niemand gefunden. Eine gemeinsame Diskussion zwischen Bund, Ländern und Kommunen lohnt sich zu diesem Thema aber allemal, um sich am Ende mindestens im Konsens auf die Umsetzung und Bewertung der bereits angedachten Modellvorhaben zu verständigen - und dies noch möglichst vor dem Jahr 2020.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In Europa wird in jedem Jahr für den Siedlungsneubau, für Gewerbegebiete und Infrastrukturmaßnahmen eine Fläche verbraucht, die der Größe Berlins entspricht. Auch in Deutschland verharrt der tägliche Flächenverbauch auf einem hohen Niveau. Ein Ziel der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist es, bis 2020 den täglichen Flächenverbrauch auf maximal 30 Hektar zu reduzieren. Dieses Ziel werden wir mit Sicherheit verpassen, wenn wir nicht gegensteuern. Die Diskussion um die nachhaltige Entwicklung ist kein Selbstzweck. Es geht darum, die vorhandenen Ressourcen so einzusetzen, dass nachfolgenden Generationen ein angemessener Handlungsspielraum bleibt. Die Ursachen für den Flächenverbrauch sind übereinstimmend erkannt. Nun müssen wir den Mut aufbringen, effektiver zu handeln und die Vorgaben der Nachhaltigkeitsstrategie ernsthaft anzugehen. Es ist richtig, dass wir insbesondere intakte und vor allem leistungsfähige Böden ins Zentrum einer vorsorgenden Stadt- und Regionalpolitik stellen, wie es die Grünen in ihrem Antrag fordern. Das bedeutet in der Konsequenz aber auch, dass wir die potenziellen Kompensationsflächen, die wir für Flächeninanspruchnahme zukünftig nutzen wollen, anhand modifizierter Bewertungskriterien auswählen sollten. Meiner Auffassung nach sollten Ausgleichsflächen zukünftig und in erster Linie nach ihrer ökologischen Wertigkeit ausgesucht werden. Wir sollten vorrangig die ökologisch wertvollsten Flächen und nicht die produktivsten als Ausgleichsflächen nutzen. Die SPD setzt sich dafür ein, dass die Flächeninanspruchnahme in Deutschland nicht einseitig die Landwirtschaft belastet. Wir müssen alle berechtigten Flächennutzungsinteressen abwägen. Vor Ort müssen Lösungen gefunden werden, die niemanden einseitig belasten. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch kritisch mit den zusätzlichen Anforderungen auseinandersetzen, die sich aus dem Ausbau der erneuerbaren Energien ergeben. Wenn ich so manche Mitteilung zum Thema Biomasseproduktion lese, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass mancher Hektar wertvollen Acker- oder Grünlandes schon mehrmals als potenzielle Anbaufläche für Energiepflanzen verrechnet wurde. Es muss aber klar sein, dass die Fläche, die die landwirtschaftlichen und Forstbetriebe für die Energiewende zur Verfügung stellen können, begrenzt bleibt. Bereits heute werden knapp 18 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche für den Anbau nachwachsender Rohstoffe genutzt. Das heißt aber auch: Wir benötigen eine nachhaltige Biomassestrategie. Diese muss selbstverständlich die Interessen des Naturschutzes berücksichtigen. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir weiterhin wertvolle Flächen durch die Ausweisung von Baugebieten und Infrastrukturflächen versiegeln und damit dem Naturkreislauf wie auch der Landwirtschaft entziehen. Wir müssen aufpassen, dass durch einseitige Überförderung bestimmter Produktionsrichtungen nicht weitere Flächen für die erforderliche Nahrungsmittelproduktion verloren gehen. Das führt zwangsläufig auch zu strukturellen Brüchen im land- und forstwirtschaftlichen Bereich. Das müssen wir im Interesse unserer leistungsfähigen Land- und Ernährungswirtschaft vermeiden. Ich schließe mich daher ausdrücklich der Forderung des Deutschen Bauernverbands und des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland an, die in seltener Übereinstimmung fordern, dass die Prinzipien „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ und „Ausbau vor Neubau“ und die Stärkung des Grundsatzes der Flächenschonung gelten müssen. Dies sollte sowohl für den Wohnungsbau als auch für Industriegebiete gelten. Das heißt, dass die zukünftige Stadtentwicklung weitestgehend eine Entwicklung im Bestand sein wird. Brachgefallene oder mindergenutzte Flächen in Städten und im ländlichen Raum müssen revitalisiert werden. Gemeinden brauchen dafür wirkungsvolle Instrumente, um diese Strategie umzusetzen. Wir wollen Kommunen in die Lage versetzen, zu prüfen, ob tatsächlich neue Bauvorhaben und Flächenausweisungen erforderlich sind. Dafür wollen wir mehr Mittel im Rahmen der Städtebauförderung einsetzen. Wir benötigen aktuelles Datenmaterial zum Flächenverbrauch auf kommunaler Ebene. Nur mit exakten Daten können Kommunen Flächennutzungsmöglichkeiten in ihrem Gebiet besser kontrollieren und ein gutes Flächennutzungsmonitoring betreiben. Das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Zahl von 100 Hektar, die täglich versiegelt werden, keine präzise Zahl darstellt. Die amtliche Flächennutzungsstatistik, die auf Einträgen in den Liegenschaftsbüchern basiert, gibt den Flächenverbrauch nicht ganz genau wieder. Teilweise sind die Angaben im Liegenschaftskataster veraltet. Dies macht sich vor allem bei großflächigen Renaturierungs- und StraßenbauZu Protokoll gegebene Reden projekten bemerkbar. Die Folge: Die Einhaltung des 2020-Ziels kann auf diese Art nicht exakt gemessen werden. Die Verantwortlichen des Leibniz-Institutes schlagen daher vor, ihr IÖR-Monitor zu Grundlage der Berechnung zu machen. Der regelmäßig aktualisierte IÖR-Monitor liefert Informationen zur Flächenstruktur und deren Entwicklung für die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des amtlichen topografisch-kartografischen Informationssystems. Die Berechnungsgrundlage sind genaueste topografische Geodaten. Die Entscheidungsträger auf kommunaler Ebene erhalten Informationen für ein besseres Flächennutzungsmonitoring. Die Kommunen sind aufgefordert, sich dieses Instruments zu bedienen. Die SPD unterstützt die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie. Dabei müssen wir auch ein Hauptaugenmerk auf die Sicherung wertvoller Produktionsflächen für die Nahrungs- und Energiepflanzenproduktion legen.

Petra Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004115, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In Ihrem Antrag monieren Bündnis 90/Die Grünen, dass Deutschland noch weit vom 30-Hektar-Ziel beim täglichen Flächenverbrauch entfernt sei. Das stimmt. Sie verschweigen aber auch, woher wir bei der Umwidmung von Freiflächen in Siedlungs- und Verkehrsflächen kommen: Seit 2004 nimmt diese Quote Jahr für Jahr ab. Lag sie vor sieben Jahren noch bei etwa 140 Hektar pro Tag, sank sie 2005 auf knapp unter 120 Hektar, 2006 auf rund 100 Hektar, 2007 auf 96 Hektar. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag die Quote für 2008 bei 78 Hektar pro Tag und erreichte damit einen vorläufigen Tiefpunkt. Wir sind uns einig, dass diese starke Absenkung im Jahr 2008 vor allem Folge der konjunkturellen Schwäche infolge der weltweiten Banken- und Immobilienkrise war. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass seit Einführung des 30-HektarZiels im Jahre 2002 Erfolge zu verzeichnen sind und ein zunehmendes Bewusstsein für die ökologischen, sozialen und kulturellen Gefahren der Flächenzersiedlung geschaffen wurde. In themenangemessener Abwandlung des Bildes ist für uns Liberale das Glas daher bereits halb leer und nicht mehr halb voll. Wir sind auf dem richtigen Weg und halten am Ziel des kontinuierlich geringeren Flächenverbrauchs fest. Daher bedeutet Ihre Aufforderung an uns und die Bundesregierung, am 30-Hektar-Ziel festzuhalten, Eulen nach Athen zu tragen. Wir halten selbstverständlich daran fest und dafür braucht es auch keinerlei Nachhilfe durch Bündnis 90/Die Grünen. So wohlmeinend ist Ihr Antrag politisch betrachtet denn auch nicht. Denn Forderungen zu stellen ohne substanziellen Bedarf, kann doch wohl nur als Durchhalteparole an die eigenen Reihen gemeint sein. Mit Infrastruktur- und Bauplanungspolitik hat die grüne Partei ja so manchen Schiffbruch in den vergangenen Monaten erlitten: Eine geplatzte Koalition in Hamburg wegen Moorburg. Rolle rückwärts bei der Moseltalbrücke in Rheinland-Pfalz. In Berlin scheiterte sie an 3,2 Kilometer Autobahn, und wie es nach dem Volksentscheid um Stuttgart 21 mit der grünen Partei weitergeht, das warten wir mal noch ab. Alles nichts, womit man sich einen grünen Verdienstorden anheften lassen könnte. Da scheint es nur verständlich, wenn hier Anträge eingebracht werden, die sich innerparteilich gut verkaufen lassen, die politisch aber den Innovationsfaktor Null besitzen. Nichtsdestotrotz freut es mich erstens, dass wir uns über die Fraktionsgrenzen dieses Hohen Hauses hinweg mal einig sind. Zweitens möchte ich zu gern die gebotene Möglichkeit nutzen, die Position der FDP zur weiteren Reduzierung des Flächenverbrauchs in Deutschland zu erläutern: Auch wir sehen, dass Sinken und Steigen der Flächenverbrauchszahlen heute noch zu stark von der konjunkturellen Entwicklung beeinflusst wird statt vom Willen der politischen und bauplanenden Akteure. Hier werden wir weiter an der Stärkung des rahmenpolitischen Hebels arbeiten, ohne die zur wirtschaftlichen Entfaltung notwendigen Freiheitsrechte und Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken. Dem richtigen und notwendigen Ziel der Stärkung der Innenentwicklung fühlen wir uns verpflichtet - aus demografischen Gründen ebenso wie im Rahmen der Erreichung der Klimaschutzziele. Wesentliche Kristallisationspunkte der aktuellen Fortentwicklung der Städtebauförderung durch die christlich-liberale Koalition sind die Stärkung der Innenstadtkerne und Ortsteilzentren, die Nachverdichtung und Wiedernutzung von Brachflächen. Alles Maßnahmen, die dem Flächenverbrauch im Außenbereich bzw. der Erschließung neuer Flächen entgegenwirken. Ebenso arbeitet die Koalition intensiv an der Novellierung des Baugesetzbuches und wird auch in diesem Bereich dem Anspruch auf nachhaltige Entwicklung gerecht werden. Wir wollen die Beschränkung des Anwendungsbereichs des Rückbaugebots für Bebauungsplangebiete aufheben und so das Rückbaugebot zu einem vollwertigen Rechtsinstrument fortentwickeln. Damit erhielten die Kommunen eine effektive Handlungsmöglichkeit der Eingriffsverwaltung, zum Beispiel im Umgang mit verwahrlosten Gebäuden oder Schrottimmobilien. Das ist echte Innovationspolitik. Die beschriebenen Ziele und Notwendigkeiten unserer zukünftigen Infrastruktur- und Raumplanung sind anspruchsvoll und eine politische wie ökonomische wie soziale Herausforderung. Wohl wissen wir, dass das 30-Hektar-Ziel zum Jahre 2020 praktisch kaum noch zu erreichen ist. Das liegt vor allem an der Vielzahl der Akteure und der Komplexität von Entscheidungsprozessen und Nachteilsabwägungen. Trotzdem ist es und bleibt es ein richtiges und wichtiges Ziel. Das formuliert auch die Gemeinsame Erklärung „Institutionalisierung von Nachhaltigkeitsbewertungsverfahren in der Flächenpolitik stärken“ des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung. Dort heißt es: Unambitionierte Ziele können keine Visionen tragen, sondern neigen im Gegenteil dazu, nach der Zielerreichung aus dem Auge verloren zu werden, so dass ein „Roll back“ auf nicht nachhaltige Zustände droht. Zu Protokoll gegebene Reden Petra Müller ({0}) In diesem Sinne verstehen Sie unsere Zielsetzung als unbedingten Willen zur Nachhaltigkeit, nicht als Wegmarke, von der wir annehmen, sie morgen oder Ende nächsten Monats erreichen zu können. Sarkastisch könnte man an die Adresse der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sagen: Auch Weltfrieden zu fordern, bleibt ein richtiges und wichtiges Ziel. Sich aber allenthalben oppositionell zu entrüsten, die Regierung habe dieses Ziel nicht erreicht, wirkt dann doch reichlich armselig - wie ihr Antrag zum Flächenverbrauch.

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist der tägliche Flächenverbrauch in Deutschland immer noch erschreckend hoch. Das Ziel einer Reduzierung des Flächenverbrauchs auf 30 Hektar pro Tag liegt in weiter Ferne, ist jedoch im Hinblick auf die ökologischen Konsequenzen in naher Zukunft nach unserer Meinung unbedingt umzusetzen. Gerade deswegen ist dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen rundherum zuzustimmen, wenn auch einige Ansatzpunkte noch weiter ausgebaut und weitere Planungs- und Steuerungsinstrumente hinzugefügt werden müssen. Voraussetzung für eine strategische Planung ist eine einheitliche Normierung der Terminologie. Denn was ist eigentlich gemeint mit Flächenverbrauch? Sprechen wir von einer Umnutzung natürlicher Flächen und dem Neubau von Siedlungen und Infrastruktur? Flächenverbrauch meint hier Flächenversiegelung, agrarwirtschaftlich genutzte Flächen gelten dem Antrag der Grünen zufolge nicht als Verbrauchsflächen. In Bezug auf großflächige Monokulturen stellt sich allerdings die Frage nach der Gültigkeit dieser Definition. Auch objektive Maßstäbe hinsichtlich der Kategorisierung von Flächen fehlen, sind allerdings als einheitliche Planungs- und Bewertungsgrundlage zwingend notwendig. Derzeit obliegt die Flächenbewertung den jeweiligen Kommunen. So gilt der ehemalige Truppenübungsplatz in Kommune A als Brachfläche, während Kommune B denselben aufgrund seines natürlichen Erscheinungsbildes und fehlender Altlasten als Naturfläche klassifiziert. Dadurch hat Kommune A einen deutlich größeren Bestand an potenziellen Renaturierungsflächen bei gleicher Ausgangslage. Dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit einer einheitlichen Terminologie und damit verbundenen gemeinsamen Bewertungsmaßstäben. Die aktuelle Gesetzeslage sieht die Schaffung von Ausgleichsflächen im Gegenzug zum Flächenverbrauch vor. Doch nur die Schaffung von Ausgleichsflächen ist hierbei nicht genug. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird gefordert, dass alle nicht privilegierten Vorhaben im Außenbereich nur zulässig sein sollen, wenn an einer anderen Stelle der Gemeinde Flächen entsiegelt und renaturiert werden. Das befürwortet die Linke. Die Renaturierung und Entsiegelung ist unserer Meinung nach ein wesentlich besseres Planungs- und Steuerungsinstrument als die bloße Schaffung von Ausgleichsflächen und muss aufgrund dessen viel stärker in den Fokus kommunaler Planung gerückt werden. Für jedes Bauvorhaben, jeden Flächenverbrauch sollten im Gegenzug, wenn vorhanden, andere Flächen entsiegelt und renaturiert werden. Auch die öffentliche Förderung muss sich viel stärker auf Brachflächen fokussieren, bevor neue Flächen versiegelt werden. Trotz einer stagnierenden Bevölkerungszahl nimmt das Siedlungswachstum weiterhin zu. Damit nimmt die Flächenversiegelung zu. Die Nutzung bereits versiegelter und brachliegender Flächen, sprich eine effiziente Flächennutzungspolitik und Konversion von Flächen, muss somit viel mehr in den Vordergrund gestellt werden, als neuen Flächenverbrauch zuzulassen. So können auch dem Deutschen Bauernverband, DBV, seine Sorgen um den Schutz und Erhalt landwirtschaftlicher Böden genommen werden. Denn die Art und Weise der Reduzierung des Flächenverbrauches ist dabei ausschlaggebend. Der Ausgleich von Flächen darf nicht auf Kosten der Landwirtschaft gehen. Bei Schaffung von Ausgleichsflächen nach Ausweisung eines Gewerbegebietes verliert die Landwirtschaft nicht nur Produktionsfläche, sondern soll gleichzeitig auch noch Fläche für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Verfügung stellen. Ein Beispiel: Um die neuen Reihenhäuser wird eine artenreiche Hecke gepflanzt; weil dies aber noch nicht ausreicht, um den Eingriff angemessen auszugleichen, wird in der Nähe noch ein Ackerrandstreifen angelegt. Auf allen drei Flächen kann der Bauer nicht mehr ackern. Der Grundsatz muss also gelten, wie auch vom DBV gefordert, dass bei Versiegelung landwirtschaftlicher Flächen durch Siedelung und Verkehr an anderer Stelle eine gleich große Fläche entsiegelt und zur Verfügung gestellt werden muss. Bodenschutzgebiete mit einer hohen Bodenqualität müssen ausgewiesen und unter besonderen Schutz gestellt werden. Gleichzeitig sollte durch Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen nicht auch noch auf die Agrarfläche zugegriffen, sondern möglichst gebündelt im Rahmen kommunaler Ökokonten Entsiegelungen und Dekontamination vorgenommen werden, zum Beispiel auch innerhalb eines Stadtgebietes als grüne Lunge. Um solche Ziele zu schaffen, müssen neben gesetzlichen Regelungen auch Anreize da sein; Anreize, den Flächenverbrauch oder vielmehr die Flächenversiegelung zu reduzieren und schon versiegelte Flächen besser zu nutzen. Ein mögliches Instrument zur Beeinflussung der Nachfrage ist zum Beispiel die Anpassung der Grunderwerbsteuer, sodass der Erwerb von Brachflächen finanziell lohnender ist als der Erwerb zuvor ungenutzter Flächen. Tatsächlich ist sogar der Wegfall der Grunderwerbsteuer für Brachflächen, insbesondere Flächen in Nähe des Siedlungskerns, vorstellbar. Für bereits versiegelte Flächen wird damit ein viel höherer Kaufanreiz gesetzt als für Naturflächen im Außenbereich. Dagegen gilt die Anpassung der Grundsteuer, wie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gefordert, unter Experten als ungeeignetes räumliches Steuerungsinstrument. Die Grünen fordern eine Reform der Grundsteuer, die mehr Steuergerechtigkeit schafft und Fehlanreize zum Flächenverbrauch vermeidet. Da die Grundsteuer als Vermögensteuer jedoch auf potenzielle Mieter umgelegt werden kann, beeinflusst sie dadurch nicht die AusweiZu Protokoll gegebene Reden sung neuer Siedlungsgebiete, sondern vielmehr die Miete in den bereits besiedelten Gebieten. Als Anreizinstrument für einen geringeren Flächenverbrauch ist damit die Grunderwerbsteuer zu reformieren. Eine weitere Anreizmöglichkeit ist die Belohnung von Gemeinden über den kommunalen Finanzausgleich für eine niedrige Neuversiegelungsquote. Grundlage dafür ist, wie schon vorher erläutert, eine einheitliche Klassifizierung und Terminologie über auszuweisende Flächen. Es geht hier nicht darum, Wirtschaftswachstum und Entwicklung einzugrenzen oder zu stoppen. Aber der Flächenverbrauch innerhalb Deutschlands ist immer noch zu hoch, um ökologisch hinnehmbar zu sein. Gerade dem Trend, eine reichliche Verfügbarkeit preisgünstiger Flächen in wirtschaftlich schwachen Gebieten zu suggerieren, muss entgegengewirkt werden. Bereits im Jahre 2009 hat die Kommission Bodenschutz beim Umweltbundesamt einen umfangreichen Bericht mit Empfehlungen zur konsequenten Flächenverbrauchsreduzierung herausgebracht. Bis jetzt ist die Bundesregierung darauf aber nicht eingegangen, geschweige denn hat sie entsprechende Maßnahmen eingeleitet.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir bringen heute unseren Antrag zur Reduzierung des Flächenverbrauchs ein. Wir wollen mit diesem Antrag das Ziel, den Flächenverbrauch bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag zu reduzieren, endlich mit wirkungsvollen Maßnahmen unterlegen. Das 30-Hektar-Ziel ist ein wichtiges Zwischenziel für eine nachhaltige Stadtentwicklungspolitik. Das eigentliche Ziel ist jedoch, perspektivisch Siedlungsentwicklung ohne zusätzlichen Flächenverbrauch anzustreben. In der Diskussion um den Flächenverbrauch wird gerne der Mythos verbreitet, dass der Flächenverbrauch doch eigentlich gar kein Problem mehr sei. Belegt wird die These mit sinkenden Flächenverbrauchszahlen in der Mitte des letzten Jahrzehnts. Doch die Statistiker warnen, dass mit anziehender Konjunktur auch der Flächenverbrauch wieder zunehmen wird. So ist zum Beispiel in Bayern der Flächenverbrauch 2010 im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent gestiegen. Damit werden allein in Bayern jeden Tag 21 Hektar Fläche verbraucht. Nimmt man das 30-Hektar-Ziel ernst, bleiben noch 9 Hektar für den Rest der Republik. Auch eine aktuell vom Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung veröffentlichte Studie kommt zu der Schlussfolgerung, dass das 30-Hektar-Ziel der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie auch bei fortschreitendem demografischen Wandel kein Selbstläufer ist. Obwohl die Bevölkerung in Deutschland schrumpft, ist es nicht ohne Weiteres möglich, das Flächenwachstum auf unter 40 Fußballfelder am Tag zu beschränken. Die Studie räumt auch auf mit dem Mythos, der Flächenverbrauch benachteilige periphere Räume nicht. Im Gegenteil: Legt man einen gerechten Verteilungsschlüssel zugrunde, so entsteht für die peripheren Räume ein deutlich geringerer Anpassungsdruck als für andere Regionen. Die suburbanen Gebiete werden den höchsten Reduktionserfordernissen ausgesetzt. Wenn man also ehrlich über den Flächenverbrauch debattieren will, muss man auch über die Konsequenzen einer flächensparenden Politik sprechen. Dabei liegen natürlich zuerst die positiven Konsequenzen auf der Hand. Eine Reduktion des Flächenverbrauchs schützt wertvolle Böden, gerade für die Landwirtschaft. Weniger neue Verkehrsfläche bedeutet auch weniger Zerschneidung zusammenhängender Lebensräume. Darüber hinaus ist zunehmender Flächenverbrauch in einer schrumpfenden Gesellschaft auch ökonomisch fragwürdig. Unterausgelastete Infrastrukturen müssen aufwändig betrieben und instand gehalten werden. Eine Reduzierung des Flächenverbrauchs geht deshalb auch mit einer Reduzierung neuer Infrastrukturfolgekosten einher. Diese Zusammenhänge finden in der Planungspraxis noch zu wenig Beachtung. Wir Grüne fordern deshalb, eine fiskalische Wirkungsanalyse in das Baugesetzbuch aufzunehmen, die der Erhebung langfristiger Infrastrukturfolgekosten für die kommunalen Haushalte dient. Auch obligatorische Demografiechecks sind ein hilfreiches Instrument im Rahmen von Planungsverfahren. Dennoch kann bei einer Verknappung von Bauland in angespannten Märkten eine Verteuerung von Wohnraum drohen. Die Strategie flächensparsamer Siedlungsentwicklung im Außenbereich muss von flankierenden Maßnahmen der Baulandmobilisierung im Innenbereich begleitet werden, um so den Preisdruck abzufedern. Das bestätigt auch die aktuelle Studie des Ministeriums. Bislang hat uns die Regierung keine Vorschläge unterbreitet, wie die Baulandmobilisierung im Innenbereich forciert werden soll. Leider machen auch die aktuellen Diskussionen zur Novellierung des Baugesetzbuch wenig Hoffnung auf Hilfestellung vom Bund für die Kommunen. Wir Grüne fordern deshalb in unserem Antrag, eine Nachweispflicht fehlender Innenentwicklungspotenziale in das Baugesetzbuch aufzunehmen, um so der regelmäßigen Abwägung zuungunsten des Flächensparens entgegenzuwirken. Außerdem sollte der § 200 des Baugesetzbuchs zu einem verpflichtenden Flächenmonitoring, das Informationen über den ökologischen und sozialen Wert der Flächen enthält, weiterentwickelt werden. Potenziale müssen systematisch erfasst werden, um reduzierten Flächenverbrauch sozialgerecht zu gestalten. Damit die Stadtentwicklung den komplexen Anforderungen einer nachhaltige Planung gerecht werden kann, fordern wir die Wiedereinführung der Revisionspflicht für Flächennutzungspläne im 10-Jahres-Rhythmus in das Baugesetzbuch. Auch die Kürzungen bei der Städtebauförderung gefährden Projekte der Innenentwicklung. Wir fordern, die Städtebauförderung des Bundes von weiteren Kürzungen auszunehmen und auf das für 2010 ursprünglich vorgesehene Niveau von 610 Millionen Euro anzuheben sowie perspektivisch auf einem Volumen von 700 Millionen Euro zu verstetigen. Zu Protokoll gegebene Reden Ordnungsrechtliche Vorgaben und Förderung allein werden nicht reichen, um das 30-Hektar-Ziel zu erreichen. Der Tatsache, dass Bauland auf der grünen Wiese für jeden Einzelnen erst einmal viel günstiger als innerstädtische Brachen ist, muss begegnet werden. Wir fordern, die Einführung einer Flächenverbrauchsabgabe im Modellprojekt analog zu handelbaren Flächenausweisungsrechten zu prüfen. Dabei ist besonders in den Blick zu nehmen, wie die Einnahmen aus Flächenausweisungsrechten oder einer Flächenverbrauchsabgabe der Innenentwicklung dienen könnten. Wichtige Ansätze dafür, wie Innenentwicklung wirksam betrieben werden kann, liefern schon heute Flächenrecylingfonds. Abschließen möchte ich mit einem Punkt aus der Studie, bei dem ich mir besonders wünsche, dass das BMVBS seinen eigenen Erkenntnissen auch Taten folgen lässt. Da heißt es: „Die politischen Entscheidungsträger in Bund und Ländern sind darüber hinaus gefordert, das 30-haZiel zeitlich, räumlich und sachlich zu konkretisieren.“ Vor der räumlichen Konkretisierung des 30-Hektar-Ziels scheut sich die Politik schon seit Jahren. Das 30-HektarZiel ist so schön nebulös, man kann es nicht wirklich fassen. Kaum jemand kann sich etwas darunter vorstellen. Sagt man, der Flächenverbrauch liege bei 30 Hektar, fragt der Laie: Pro Jahr? In Europa? Mit einem solche Ziel trifft man keine Befindlichkeiten, weil sich niemand direkt betroffen fühlt. Erst wenn man anfängt, das 30-Hektar-Ziel kleinräumlich zu verorten, wird klar, wo wirklich die Anstrengungen getätigt werden müssen. Hier ist die Bundesregierung in der Verantwortung. Das Leugnen des Flächenverbrauchs muss enden. Die Regierung muss einen Plan erstellen, wie das 30-Hektar-Ziel erreicht werden kann: sowohl räumlich und zeitlich als auch beinhaltend, welche Instrumente sie den Gemeinden zur Bekämpfung des Flächenverbrauchs zur Seite stellen möchte. Packen Sie es an!

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6502 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 25: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbot der Einfuhr, des Handels und der Verwendung von Steinprodukten, die durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden - Drucksachen 17/5803, 17/7150 Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Weiss ({1}) Karin Roth ({2}) Niema Movassat Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar der Kolleginnen und Kollegen Sabine Weiss, Karin Roth, Christiane Ratjen-Damerau, Harald Weinberg und Uwe Kekeritz.

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

115 Millionen Kinder weltweit zwischen 5 und 17 Jahren müssen tagtäglich unter ausbeuterischen und extrem gefährlichen Bedingungen arbeiten. Sie schuften schwer - häufig unter Einsatz ihre Lebens - für einen Hungerlohn. Viele von ihnen erhalten noch nicht mal einen Lohn. 115 Millionen Kinder werden um ihre Kindheit betrogen, weil sie nicht mehr Kind sein dürfen. Sie stehen vielmehr schon viel zu früh in der harten Pflicht, ihren Beitrag zum Familieneinkommen leisten zu müssen. In einem Alter, in dem ihre Altersgenossen hier bei uns in der Regel eine unbeschwerte und sorglose Kindheit erleben dürfen, lernen sie die harte Arbeitsrealität kennen und dass ohne ihren Lohn häufig das Essen noch knapper als sonst ist. Sie werden beraubt um das, was für viele die schönste und unbeschwerteste Zeit im Leben ist. 115 Millionen Kinder werden jeden Tag ohne Rücksicht auf gesundheitliche oder seelische Konsequenzen ausgebeutet. Nur zum zahlenmäßigen Vergleich: Mehr Kinder müssen sich jeden Tag unter ausbeuterischen Bedingungen den Rücken krumm schuften, als Deutschland, Belgien, die Niederlande und die Slowakei insgesamt Einwohner haben. Ich glaube, bei diesen Zahlen wird die Dimension der ausbeuterischen Kinderarbeit erst so richtig deutlich. Weltweit müssen sogar rund 215 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation arbeiten. 115 Millionen davon eben unter Bedingungen, die ihre seelische und körperliche Unversehrtheit so extrem negativ beeinträchtigen und gefährden, dass von ausbeuterischer Kinderarbeit gesprochen wird. Kinder müssen unter sklavenähnlichen Bedingungen von früh bis spät in Haushalten ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie arbeiten ohne Schutz vor Pestiziden und Düngemitteln auf Feldern, sie müssen sich prostituieren oder sie werden als billige Arbeitskräfte ohne jeglichen Schutz in Steinbrüche geschickt. In einigen Ländern ist ausbeuterische Kinderarbeit gar zu einem grenzüberschreitenden Geschäft geworden, so werden beispielsweise Tausende junge Mädchen jährlich von Nepal nach Indien verschleppt und gezwungen, dort als Prostituierte zu arbeiten. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung können viele Kinder keine Schule besuchen und sind damit mehr oder weniger von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Die Kinder, die zumindest stundenweise eine Schule besuchen, können häufig dem Unterricht nicht folgen, weil sie von der vielen und körperlich anstrengenden Arbeit ermüdet sind. Ohne Schulbildung allerdings haben sie auch in ihrem späteren Erwachsenenleben so gut wie keine Aussicht auf einen Job, der es ihnen ermöglicht, ihre Fa15810 Sabine Weiss ({0}) milie mit ihrem Einkommen zu ernähren. In der Konsequenz müssen dann häufig auch ihre eigenen Kinder schon in jungen Jahren Geld für das Familieneinkommen erarbeiten. Damit setzt sich der Teufelskreis aus Armut und mangelnder Bildung fort. Zwar ist die Kinderarbeit in den letzten Jahren leicht zurückgegangen, dies gilt aber leider nicht für alle Regionen, in Afrika südlich der Sahara beispielsweise nimmt sie weiter zu. Das Problem der ausbeuterischen Kinderarbeit ist vielschichtig und zwar so vielschichtig, dass es leider keine einfachen Lösungen gibt. Allein mit einem Importverbot, wie in dem Antrag der Linken gefordert, ist es bedauerlicherweise nicht getan. Abgesehen davon, dass es zweifelhaft ist, ob Importverbote einer WTO-rechtlichen Prüfung überhaupt standhalten, hat ein solches, in den USA erlassenes Importverbot beispielsweise keine Wirkung gezeigt. Selbst UNICEF ist der Auffassung, dass „undifferenzierte Handelssanktionen und Boykotte kontraproduktiv sein können und dazu führen, dass Firmen Kinder in ihren Betrieben einfach entlassen und so die Familien noch tiefer ins Elend stürzen.“ Da man Produkten zudem nicht ansehen kann, ob sie durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden oder nicht, wäre insbesondere bei längeren Lieferketten eine wirksame Überprüfung eines solchen Importverbotes praktisch sehr schwierig. Wir können die ausbeuterische Kinderarbeit nur durch einen wirksamen Maßnahmenmix erfolgreich und nachhaltig eindämmen. Die zentrale Ursache für Kinderarbeit ist bittere Armut, die die Eltern zwingt, ihre Kinder arbeiten zu schicken, damit die Familie ernährt werden kann. Kinderarbeit ist nur in den Griff zu bekommen, wenn wir die Wurzel des Problems beseitigen. Die nachhaltige Armutsbekämpfung und der Zugang zu Bildung ist eine zentrale Aufgabe deutscher Entwicklungszusammenarbeit, und damit packt die Bundesregierung - anders als die Linken mit ihren Forderungen - das Problem genau an der richtigen Stelle an. Deutschland hat in den 90er-Jahren das ILO-Programm „International Programme on the Elimination of Child Labour“ mit initiiert und ist seitdem mit rund 55 Millionen Euro einer der wichtigsten Geber. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert zudem zahlreiche Projekte, mit deren Hilfe Kinderarbeit bekämpft wird und wirtschaftliche Alternativen für die Kinder und ihre Familien geschaffen werden. Deutschland bekämpft damit die sozialen Ursachen von Kinderarbeit. Importverbote oder Boykotte hören sich zwar gut an und mögen auch den Konsumenten ein gutes Gewissen suggerieren, sie beseitigen jedoch nicht allein die sozialen Ursachen von Kinderarbeit und werden deshalb auch - so bedauerlich es ist - wenig Wirkung erzielen. Die Instrumente, die die christlich-liberale Koalition zur Eindämmung der Kinderarbeit einsetzt, sind sehr viel zielführender und effektiver als Importverbote. Eine weitere wichtige Maßnahme zur erfolgreichen Bekämpfung von Kinderarbeit ist die Sensibilisierung und Bewusstseinsschärfung der Konsumenten. Es darf nicht immer nur der günstigste Preis kaufentscheidend sein. Vielmehr muss auch die Frage, unter welchen Bedingungen ein Produkt hergestellt wurde und ob das Produkt nur durch ausbeuterische Kinderarbeit so preisgünstig angeboten werden kann, bei der Verbraucherentscheidung einen größeren Stellenwert erhalten. Firmen, Privatpersonen und Kommunen müssen ihren Einfluss geltend machen und die Durchsetzung von Mindeststandards - wie die Ächtung von Kinderarbeit - einfordern. Mit der Kaufentscheidung hat es jeder Konsument selbst in der Hand, zu entscheiden, welche Produkte er aus welchem Grund kauft und auf welche er - auch bei einem noch so günstigen Preis - verzichtet. Je mehr fair gehandelte Produkte wir nachfragen, desto mehr werden auch angeboten - das ist eine einfache Rechnung. Das Problembewusstsein dafür, dass viele Produkte nur so günstig sind, weil sie unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wurden, ist erfreulicherweise in den letzten Jahren enorm gestiegen. Kommunen und Bundesländer berücksichtigen bei der öffentlichen Beschaffung in immer größerem Maß soziale Kriterien. Mehr als 250 Gebietskörperschaften machen bei der vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Kampagne „Aktiv gegen Kinderarbeit“ mit. Fair-Trade-Produkte erfreuen sich bei den Konsumenten immer größerer Beliebtheit. Es gilt nun, den Anteil von fair gehandelten Produkten noch weiter zu steigern. Die Bundesregierung setzt sich sowohl international als auch national mit einem erfolgreichen Instrumentenmix für die Bekämpfung von Kinderarbeit ein. Armutsbekämpfung und der Zugang zu Bildung sind zentrale Aufgaben deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Auf europäischer Ebene hat sich Deutschland unter anderem für die Verlängerung des APSplus-Instruments aktiv eingesetzt. Die APSplus-Regelung gewährt Herstellern aus Drittländern attraktive Zollvergünstigungen, wenn die ILO-Konventionen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit und zum Mindestbeschäftigungsalter effektiv umgesetzt werden. Zudem setzt sich Deutschland dafür ein, dass bei Verhandlungen über EU-Freihandelsabkommen Regelungen zu Sozial- und Arbeitsstandards verankert werden. Die Bundesregierung unterstützt das Ziel, dass durch Kinderarbeit hergestellte Produkte nicht länger verkauft oder genutzt werden. Die Länder, in denen Kinder ausgebeutet werden, bedürfen der Unterstützung bei der wirksamen Umsetzung der beiden ILO-Konventionen zur Beseitigung der ausbeuterischen Kinderarbeit. Sie müssen unterstützt, aber auch konsequent angehalten werden, sich stärker im Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit zu engagieren. Die Ursachen von Kinderarbeit sind vielschichtig, und es gibt leider keine einfachen Lösungen dafür. Importverbote allein sind kein wirksames Mittel zur nachhaltigen Eindämmung von Kinderarbeit. Wir lehnen deshalb den Antrag der Linken ab. Ein Importverbot mag zwar gut klingen und den Konsumenten ein ruhiges Gewissen suggerieren, es beseitigt jedoch nicht die soZu Protokoll gegebene Reden Sabine Weiss ({1}) zialen Ursachen von Kinderarbeit und greift deshalb zu kurz.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor zwei Wochen - am 7. Oktober 2011 - hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof eine von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte, aber dennoch umso wichtigere Entscheidung getroffen. Die Richter gaben einer Verfassungsbeschwerde der Stadt Nürnberg recht, die sich damit erfolgreich gegen eine Klage eines Steinmetzbetriebs zu Wehr gesetzt hat. Der Auslöser: Die Stadt Nürnberg hat in ihrer Bestattungs- und Friedhofssatzung festgelegt, dass auf städtischen Friedhöfen nur Grabmale aufgestellt werden dürfen, „die nachweislich in der gesamten Wertschöpfungskette ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt werden.“ Dagegen hatte der Steinmetz geklagt. Das Verfassungsgericht gestand mit seiner Entscheidung jetzt der Stadt Nürnberg das Recht zu, im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung derartige Regelungen, zu denen auch die Ächtung von in Kinderarbeit hergestellten Produkten gehört, zu treffen. Auch wenn dieser Fall noch nicht endgültig entschieden ist, so macht er doch deutlich, dass die geltende Rechtslage zur öffentlichen Vergabe unter Einbeziehung internationaler Standards wie den ILO-Konventionen 138 und 182 zur Bekämpfung der Kinderarbeit Möglichkeiten bietet, auch hier bei uns gegen Kinderarbeit in der Welt vorzugehen, ganz nach dem Prinzip: Global denken - lokal handeln. Wie dramatisch die Lage nach wie vor ist, zeigt auch der aktuelle Jahresbericht des US-Arbeitsministeriums zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit, der Ende September dieses Jahres vorgestellt wurde und durch die aktuellen Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, bestätigt wird. Danach arbeiten tagtäglich rund 215 Millionen Kinder weltweit, mehr als die Hälfte von ihnen unter gefährlichen und ausbeuterischen Bedingungen. 53 Millionen dieser Kinder sind jünger als 14 Jahre. Der höchste Anteil von Kinderarbeit in der heimischen Produktion ist in Indien, Bangladesch und auf den Philippinen festzustellen. In Indien arbeiten Kinder in Steinbrüchen, in Ziegeleien, in der Landwirtschaft; sie stellen Feuerwerkskörper und Fußbälle her. In Bangladesch werden Kinder - vor allem Mädchen - in der Textil- und Schuhindustrie ausgebeutet. Auf den Philippinen müssen Kinder in der Tabakernte und -verarbeitung arbeiten. Eine der am weitesten verbreitete Form von Kinderarbeit ist die Arbeit in privaten Haushalten. Sie ist zudem besonders problematisch, weil Zwangsarbeit und Missbrauch hier sehr schwer nachzuweisen sind. Die ILO schätzt die Zahl der Hausangestellten auf mindestens 53 Millionen. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer bei bis zu 100 Millionen liegt. 83 Prozent aller Hausangestellten sind Frauen und Mädchen. UNICEF zufolge ist in Bangladesch jedes fünfte in privaten Haushalten beschäftigte Kind erst zwischen fünf und zehn Jahren alt. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb ausdrücklich, dass die Internationale Arbeitskonferenz im Juni dieses Jahres die neue ILO-Konvention 189 über menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Hausangestellte beschlossen hat. Damit ist es erstmals gelungen, Arbeitsstandards für den informellen Sektor festzulegen. Ich fordere die Bundesregierung auf, die Konvention schnellstmöglich dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorzulegen und so ein international wichtiges Signal zu setzen. Klar ist: Armut ist die Hauptursache für Kinderarbeit. Die wirtschaftliche Not lässt Familien oft keine andere Wahl: ihre Kinder müssen mitverdienen, um die Existenz zu sichern. Viele Familien sind auch zu arm, um ihre Kinder in die Schule zu schicken. Schulgeld und Schulmaterial sind für ihre Eltern oft unbezahlbar. Damit beginnt ein Teufelskreis: Ohne schulische und berufliche Ausbildung bekommen sie später auch keine bessere Arbeit. Sie bleiben arm und können oft auch ihren Kindern kein besseres Leben ermöglichen. Für Mädchen gilt dies besonders. Sie bleiben ohne Bildung, werden oft früh verheiratet und können auch ihren Kindern nur wenig Wissen weitergeben. Um die Armut als wesentliche Ursache für Kinderarbeit wirksam und nachhaltig zu bekämpfen, muss vor allem die wirtschaftliche Situation der Familien verbessert werden. Dazu gehört es, dass soziale Grunddienste wie Bildung und Gesundheitsversorgung auch die ärmsten Familien erreichen. Dem Auf- und Ausbau von Systemen der sozialen Sicherung - vor allem im Gesundheitsbereich - kommt dabei besondere Bedeutung zu. Denn nach wie vor ist Krankheit das größte Verarmungsrisiko. Jahr für Jahr sind rund 150 Millionen Menschen ruinierenden Gesundheitsausgaben ausgesetzt, und 100 Millionen Menschen fallen unter die Armutsgrenze alleine deswegen, weil sie Krankheitsbehandlungen direkt aus eigener Tasche zahlen müssen. Ziel sozialer Sicherungssysteme muss es daher sein, dieses Armutsrisiko zu beseitigen und eine Mindestversorgung mit Medikamenten und Gesundheitsdienstleistungen diskriminierungsfrei für alle zu garantieren. Die ILO-Initiative eines Social-Protection-Floors und das Konzept der Weltgesundheitsorganisation, WHO, für eine universelle Absicherung im Krankheitsfall bieten dafür die systematische Grundlage. Der Social-Protection-Floor ist zudem der zentrale Ansatz zur Bekämpfung von Armut und Kinderarbeit, da er nicht nur die Gesundheitsversorgung sicherstellt, sondern auch staatliche Transferleistungen für Kinder garantiert und so Kinderarbeit direkt verhindert. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher die Bundesregierung auf, die Partnerländer multi- und bilateral beim Aufbau solidarisch finanzierter Systeme der sozialen Sicherung aktiv zu unterstützen. Außerdem fordern wir, dass das Verbot und die Abschaffung von Kinderarbeit bei allen EU-Handelsabkommen verpflichtend vereinbart wird. Sollte ein Land diese Verpflichtung nicht eingehen wollen, darf es kein Handelsabkommen geben. Die Bundesregierung hat deshalb im Rat und gegenüber der Kommission dafür Sorge zu tragen, dass dieser Grundsatz in der europäischen Handelspolitik verankert wird. Das Gleiche gilt für die Gewährung von Zollpräferenzen. Ich erwarte daher ganz konkret von der Bundesregierung, dass sie gemeinsam mit der EU-Kommission im Rahmen der laufenden Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Indien auf die Einhaltung international verbindlicher Sozialstandards - vor allem das VerZu Protokoll gegebene Reden Karin Roth ({0}) bot von Kinderarbeit - besteht. Dass dies möglich ist, zeigen das in Kraft getretene Handelsabkommen mit Südkorea und die ausverhandelten Handelsabkommen mit Kolumbien und Peru. Und ich sage es ganz deutlich: Die Kinderrechte, die in indischen Steinbrüchen Tag für Tag mit Füßen getreten werden, sind nicht verhandelbar und dürfen keinesfalls wirtschaftlichen Profitinteressen untergeordnete werden. Aber es ist nicht nur die Aufgabe der Politik, der Ausbeutung von Kindern entgegenzuwirken. Auch Unternehmen und Konsumenten können ihren Teil dazu beitragen, Kinderarbeit zu bekämpfen. Die neuen Leitsätze der OECD für multinationale Unternehmen bieten dafür einen international anerkannten Handlungsrahmen und beschreiben die Sorgfaltspflicht der Unternehmen für die eigenen Beschäftigten und die Beschäftigten in den Zulieferfirmen. Danach sind sie verpflichtet, „ zur wirksamen Abschaffung der Kinderarbeit beitragen und unverzügliche und wirksame Maßnahmen zur Gewährleistung des Verbots und der Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu ergreifen.“ Ich erwarte von den Unternehmen, dass sie sich an die OECD-Vorgaben halten und darüber hinaus in Selbstverpflichtungen ein klares Bekenntnis gegen Kinderarbeit abgeben. Konkret bedeutet dies: International tätige Unternehmen legen in ihren Verträgen mit Produzenten und Zulieferern einen Verhaltenskodex, mit dem Kinderarbeit ausgeschlossen wird, zugrunde. Die Einhaltung des Kodex muss jedoch auch überprüft werden. Auch beim Einkauf von Gütern und Dienstleistungen muss darauf geachtet werden, dass die Zulieferer die Rechte der Kinder respektieren und Schutzmaßnahmen gegen Ausbeutung ergreifen. Ziel ist ein verbindliches Zertifizierungssystem entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette. Damit schaffen wir Transparenz über Herstellung der Waren und Dienstleistungen. Dies ist ein zentraler Schlüssel für die Sicherung fairer Arbeitsbedingungen und eine Voraussetzung für die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit. Besonders begrüße ich in diesem Zusammenhang die aktuellen Initiativen der Gewerkschaft Bauen-AgrarUmwelt, IG BAU, und Erziehung und Wissenschaft, GEW. Die IG BAU macht deutlich, dass in vielen - insbesondere indischen - Steinbrüchen Kinder unter sklavenähnlichen Zuständen ausgebeutet werden. Die dort hergestellten Natursteine werden anschließend auf deutschen Baustellen verarbeitet. Deshalb fordert die IG BAU, beim Kauf von Natursteinen stärker auf die Herkunft der Materialien zu achten. Die Gewerkschaft fordert ein unabhängiges Gütesiegel, mit dem die Kommunen bei der Auftragsvergabe auf Nummer sicher gehen können. Die GEW hat die Stiftung Fair Childhood ins Leben gerufen und will so dem Verbot von Kinderarbeit Geltung verschaffen. Neben der Bildungsarbeit in Deutschland in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sollen in den Ländern des Südens Projekte initiiert und gefördert werden, die zur Befreiung von Kinderarbeitern und zu deren Schulbildung führen. Dies zeigt: Die Bekämpfung der Kinderarbeit können wir nur gemeinsam schaffen. Politik, Wirtschaft, öffentliche Hand und die Verbraucherinnen und Verbraucher haben es in der Hand, und alle zusammen tragen Verantwortung. 215 Millionen Kinder, die teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, damit sie und ihre Familien überleben können, haben ein Recht darauf, dass wir unsere Verantwortung endlich wahrnehmen.

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004204, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im September hat die vietnamesische Polizei bei einer Razzia in einer Bekleidungsfirma 23 Kinder und junge Erwachsene, die dort als Arbeitssklaven festgehalten wurden, befreit. Die Opfer sind zwischen 10 und 21 Jahre alt. Der zwölfjährige Trang, einer der befreiten Arbeitssklaven, sagte, er sei aus einem kleinen Dorf mit 35 Haushalten nach Saigon gebracht worden, wo er Stoffe zuschneiden musste und regelmäßig geschlagen wurde. Wie viele Stunden er täglich arbeiten musste, wusste er nicht: Er kann die Uhr nicht lesen. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass weltweit 215 Millionen Kinder ähnliche Schicksale erleiden müssen wie Trang. 115 Millionen von ihnen sollen gezwungen sein, einer gefährlichen oder einer ihre Entwicklung behindernden Arbeit nachzugehen. 5,7 Millionen Kinder müssen moderne Formen von Zwangsarbeit leisten oder befinden sich aufgrund von Schuldknechtschaft in einer modernen Form von Sklaverei, um die Schulden ihrer Eltern abzuarbeiten. Vor allem Subsahara-Afrika ist von Kinderarbeit betroffen - dort muss jedes dritte Kind arbeiten. Diese Zahlen können für einen deutschen Politiker nicht hinnehmbar sein. Die Frage ist allerdings, welche Maßnahmen gegen die Kinderarbeit helfen. Schnell kann das Verbot von Produkten gefordert werden, die mit den Händen von Kindern hergestellt werden. Man könnte meinen, damit löse sich das Problem, da nun keiner in Deutschland die Produkte abnehmen kann. So einfach ist es jedoch nicht. Der kleine Trang wurde von seinen Eltern verkauft. Man hatte ihnen versprochen, dass ihre Kinder gut bezahlte, angenehme Arbeit bekommen. Erst nachdem sie fast kein Geld erhalten hatten, haben sich die Eltern an die Behörden gewendet. Ausbeuterische Kinderarbeit wird in erster Linie durch die soziale und wirtschaftliche Situation in den Herkunfts- und Produktionsländern hervorgerufen. Hier müssen wir ansetzen. Und genau das tun wir: Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, Kinderarbeit zu ächten und international zu verbieten. Wir haben die Übereinkommen 138 und 182 der Internationalen Arbeitsorganisation dazu unterschreiben. Im März letzten Jahres wurde ein Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Menschenrechte weltweit schützen“ verabschiedet. Darin wurde das Thema behandelt. Die Bundesregierung setzt den Antrag um, indem sie die Ursachen der Kinderarbeit, die vor allem in der Armut der Eltern begründet liegen, entschieden bekämpft. Doch wir sollten nicht glauben, dass wir Länder von außen entwickeln können. In China ändert sich nichts, weil wir hier etwas verbieten. Aber wenn wir von Staaten eine gute Regierungsführung einfordern, ihnen bei Zu Protokoll gegebene Reden der Erneuerung von staatlichen Strukturen helfen und nicht zuletzt die Kinder unterstützen, indem wir einen noch stärkeren Fokus auf Bildung und Gesundheit legen, dann können wir etwas bewirken - kurz- und langfristig. Es wäre jedoch zu einfach, zu sagen, dass wir hier gar nichts tun könnten. In den vergangenen Jahren sind durch Natursteinimporteure, Agenturen und Organisationen eine Vielzahl von Initiativen entwickelt worden, die das Thema der Zertifizierung und Standardentwicklung für den Natursteinsektor angehen. Öffentliche Auftraggeber haben schon heute das Recht, in Ausschreibungen festzulegen, dass eine Ware nachweisbar nicht durch Kinderarbeit hergestellt wurde. Wir müssen das Problem an den Wurzeln anfassen. Die Lebensbedingungen in den betroffenen Ländern müssen sich verbessern und die Menschenrechte für jedermann anerkannt werden. Im Fall Trang wurden Kinder und junge Erwachsene durch die lokalen Behörden befreit. Dass diese in Vietnam sehr hart gegen Kinderhandel und -arbeit kämpfen, ist eine gute Nachricht. Jetzt muss dort noch die Gesetzgebung insgesamt reformiert werden. Dabei kann die Bundesrepublik helfen. Der vorliegende Antrag dient lediglich dem guten Gewissen der Konsumenten. Das Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und die Regierungskoalition im Bundestag hingehen arbeiten intensiv und konsequent daran, die weltweite ausbeuterische Kinderarbeit zurückzudrängen - durch die Förderung sozialer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Strukturen. Daher kann die FDP den vorliegenden Antrag nicht unterstützen.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist gut, wenn die verheerenden Auswirkungen und Ursachen von Kinderarbeit ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden, auch diese Debatte leistet ihren Beitrag dazu. Der Antrag meiner Fraktion, über den wir heute diskutieren, beinhaltet aber keinen allgemeinen Plan zur weltweiten Bekämpfung ausbeuterischer Kinderarbeit, wie es ihm einige Redebeiträge bei der ersten Lesung abverlangten. Selbstverständlich gehört zu einer solchen Strategie die Bereitstellung kostenfreier Bildung in allen Weltregionen, und selbstverständlich lässt sich ausbeuterische Kinderarbeit nur beseitigen durch einen konsequenten Kampf gegen die Ursachen von Armut nicht im Kampf gegen die Armen, wie er der derzeit beispielsweise von der Europäischen Union an den Außengrenzen geführt wird. Das Anliegen unseres Antrages ist, wie gesagt, keine umfassende Strategie gegen ausbeuterische Kinderarbeit so notwendig und dringend diese auch ist. Es geht um einen konkreten, praktischen Schritt auf dem Weg dorthin. Von einer Bundesregierung, die, wie ihre Vorgängerregierungen, nicht den politischen Willen aufbringt, die zugesagten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, und die auch einen erheblichen Teil der eigenen Kinder und Jugendlichen zu Armut und Perspektivlosigkeit verdammt, sind allerdings keine umfassenden oder gar tragfähigen Konzepte in diese Richtung zu erwarten. Deswegen will ich zum konkreten Anlass für unseren Antrag kommen: In den letzten Jahren gab es in verschiedenen Kommunen und im Saarland Initiativen, um gegen die Verwendung von Grabsteinen vorzugehen, die durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden. Durch Regelungen in den Friedhofssatzungen wollten Kommunen die Aufstellung von Grabsteinen verbieten, bei denen kein Nachweis dafür vorliegt, dass alle Schritte der Wertschöpfung ohne ausbeuterische Kinderarbeit erbracht wurden. Eine solche Regelung wird auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Human Rights Watch oder Terre des Hommes Deutschland gefordert. Die kommunalen Beschlüsse wurden allerdings sowohl vom Oberverwaltungsgericht RheinlandPfalz wie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben. Der bayerische Fall wurde auch vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die Kommunen in diesem Punkt über keine Gesetzgebungskompetenz verfügen. Die Gerichte sind der Ansicht, dass hier Fragen des Warenverkehrs mit dem Ausland berührt werden. Hierfür weist das Grundgesetz dem Bund die alleinige gesetzgeberische Kompetenz zu. Es geht bei einem solchen Importverbot um die konsequente Umsetzung des Übereinkommens 182 der International Labour Organization, ILO, in dem notwendige Maßnahmen zur Abschaffung von ausbeuterischer Kinderarbeit vereinbart sind. Ein Bundesgesetz, das Einfuhr, Handel und Verwendung von Steinprodukten aus ausbeuterischer Kinderarbeit verbietet, wäre ein wichtiger Schritt zu ihrer Ächtung im Sinne der benannten ILO-Konvention. Außerdem würde es die kommunalen und zivilgesellschaftlichen Initiativen stärken, die eine solche Ächtung anstreben, denen aber die Regelungskompetenz hierfür fehlt. Es wäre auch ein erster Schritt, um im Rahmen der Europäischen Union ein solches Verbot anzustoßen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass keine rechtlichen Möglichkeiten vorlägen, um ein Importverbot für solche Produkte zu erwirken, weder im Rahmen der EU, noch auf Ebene der WTO. Union und FDP setzen stattdessen einseitig und blauäugig auf die gesellschaftliche Selbstverantwortung von Unternehmen und sogenannte positive Handelsanreize, bei denen Zollvergünstigungen auf Produkte gewährt werden, die nachweislich ohne ausbeuterische Kinderarbeit erzeugt worden sind. Die staatlichen Möglichkeiten zur konsequenten Regulierung fallen dabei unter den Tisch. Solche Maßnahmen würden sich auch gegen die Profitinteressen großer Unternehmen richten, die von „günstigen Produktionsbedingungen“ der Kinderarbeit ebenso profitieren wie die Endverbraucher in den Industriestaaten. Die Würde großer Unternehmen und des uneingeschränkten freien Handels wiegen für die Bundesregierung offenbar schwerer als die „unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen“, wie sie in der Grundrechtecharta der Europäischen Union festgehalten sind und die auch ein Verbot von Kinderarbeit beZu Protokoll gegebene Reden inhalten. Wer in der Grundrechtecharta und nicht im Ideal liberalisierter Märkte den geeigneten politischen Kompass für den Kampf gegen Kinderarbeit sieht, sollte für diesen Antrag stimmen.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es sind unvorstellbare Zahlen: Etwa 250 Millionen Kinder zwischen 5 und 14 Jahren sind weltweit als „Kinderarbeiter“ tätig. Und diese Zahl steigt erneut. Viele von ihnen leben und arbeiten unter unwürdigen, sklavenähnlichen Bedingungen und sind hemmungsloser Ausbeutung ausgesetzt. Bei diesen Kindern zeichnet sich unweigerlich ab, dass sie nie lesen oder schreiben lernen werden und keine Zeit zum Spielen und zur persönlichen Entwicklung haben. Ihre grundlegenden Bedürfnisse und Menschenrechte werden von klein auf mit Füßen getreten. Die Versklavung und Ausbeutung von Kindern, von jungen Menschen, die sich kaum wehren können, ist eine besonders abstoßende Form von Menschenrechtsverletzungen. Es muss ein zentrales Ziel unserer Politik sein, ausbeuterische Kinderarbeit zu bekämpfen! Daher teilen wir die Auffassung der Linken: Es muss etwas unternommen werden, damit in Zukunft keinerlei Handel mit Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit stattfindet. Ganz so einfach, wie es sich die Linke vorstellt, ist es jedoch nicht. Die erste Forderung des Antrages überrascht, da sie doch recht unrealistisch und unüberlegt ist. Hat die Linke nicht mitbekommen, dass die Handelspolitik vergemeinschaftet wurde? Handelsverbote können nicht von der Bundesregierung erlassen, sondern nur über die EU oder gar die WTO durchgesetzt werden! Es mag berechtigte Kritik an der Politik dieser beiden Institutionen geben - solange diese jedoch in ihrer heutigen Form bestehen, müssen wir einen Prozess bei der EU bzw. der WTO anstoßen, um etwas zu erreichen. Darüber hinaus ist ein Handelsverbot in diesem Fall rein praktisch bei Weitem nicht so leicht umsetzbar wie im Fall von Handelsverboten bei anderen Produkten. Die Kontrolle ist nicht so leicht wie bei seltenen Tieren, Elfenbein oder dem Handel von leicht nachweisbaren Giftstoffen. Ein internationales Handelsverbot ist daher schlicht ein sehr umständlicher und langsamer Weg, auch wenn dieser so verlockend entschlussfreudig erscheinen mag. Wenn ich den Antrag lese, dann zweifle ich an der Bereitschaft der Linken, sich ausreichend mit dem komplexen Thema der Kinderarbeit auseinanderzusetzen. Dringend muss sich die Bundesregierung verstärkt dafür einsetzen, dass der ausbeuterischen Kinderarbeit weltweit ein Ende gesetzt wird. Ein unreflektiertes „Weiter so, alles ist auf dem rechten Wege“, wie es seit diesem Frühjahr auf mehrfache Nachfrage von der Bundesregierung zu hören war, ist nicht akzeptabel. Wir brauchen Konzepte, die sofort beginnen, ihre Wirkung zu entfalten. Die ausgebeuteten Kinder brauchen jetzt unsere Unterstützung! Häufig wird auf die rund 174 Staaten verwiesen, welche bereits das ILO-Übereinkommen gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit unterzeichnet haben. Das ist ein wichtiger Impuls. Beschlüsse wie die ILO-Norm 182 stellen jedoch nur einen ersten Schritt im Kampf gegen die ausbeuterische Kinderarbeit dar. Denn das Abkommen muss auch umgesetzt werden, und das muss in erster Linie in den betroffenen Ländern und Regionen erfolgen. Ich will mich dafür einsetzen, dass wir im Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit ernsthaft vorankommen, und dafür brauchen wir konkrete Maßnahmen, die an der Situation der Kinder etwas ändern, das Problem also an der Wurzel packen. In nahezu allen Fällen ist Armut die tieferliegende Ursache für die Ausbeutung von Kindern. Armut können wir jedoch nicht verbieten. Nur mit guter Entwicklungszusammenarbeit können wir sowohl das Symptom der ausbeuterischen Kinderarbeit lindern als auch die dahinter stehende Armut bekämpfen. Soziale Absicherung ist hierbei ein Schlüsselfaktor. Das Überleben der Familien darf nicht von der Arbeit der Kinder abhängen, auch nicht, wenn die Eltern arbeitslos oder krank sind oder schlicht nicht genug einnehmen. Wir müssen aktiv den Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung in Entwicklungs- und Schwellenländern vorantreiben. Hier in Deutschland kann und muss die Bundesregierung über die Beschaffung Verantwortung übernehmen. Indem nicht nur Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit vom Import ausgeschlossen werden, sondern auch alle weiteren ILO-Kernarbeitsnormen generell im Einkauf berücksichtigt werden müssen, kann die Bundesregierung unmittelbar handeln. Ein solcher Schritt, mit dessen Umsetzung die Bundesregierung prompt und nahezu eigenständig beginnen kann, führt implizit und auf eine praktikable Weise auch unmittelbar zu faireren Außenhandelsbeziehungen. Zudem ist die Bundesregierung in der Position, Gesetze zu erlassen, welche innerhalb Deutschlands deutlich machen, wie Länder und Kommunen gegen die weltweite Armut und die daraus resultierende Kinderarbeit vorgehen können. Indem die Bundesregierung Länder und Kommunen jedoch im Unklaren lässt, unterbindet sie, anscheinend bewusst, sinnvolle Beiträge von aktiven Gruppen und Initiativen. Die Bayerischen Verfassungsrichter haben das in dieser Woche sehr deutlich gemacht: Sie haben klar festgestellt, dass es unsere Verfassung gebietet, aktiv gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit vorzugehen und dass verwaltungstechnische Vorbehalte diesem Ziel untergeordnet sind. Zuvor hatte das oberste Verwaltungsgericht wegen einer unklaren Gesetzeslage einer Nürnberger Gemeinde untersagt, nur Grabsteine aufzustellen, die nachweislich frei von ausbeuterischer Kinderarbeit sind. Diese Unklarheit ist nun ausgeräumt, und auch die Bundesregierung muss dieser Vorgabe endlich folgen! Auch unsere deutschen transnationalen Unternehmen müssen künftig mehr Verantwortung übernehmen. Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen wurden erst im Frühsommer 2011 in überarbeiteter Form Zu Protokoll gegebene Reden neu vorgestellt. Das Problem ist die Umsetzung: Sanktionen für Unternehmen, die die Leitsätze verletzen, gibt es überhaupt nicht. Das einzige Mittel ist, Menschenrechtsverletzungen öffentlich anzuprangern. Doch daran zeigt die Bundesregierung kein Interesse. Die Staaten sind verpflichtet, eine sogenannte „Nationale Kontaktstelle“ einzurichten, die die Verbreitung und Umsetzung der Leitsätze fördert und Beschwerden entgegennimmt. Im Konfliktfall soll sie vermitteln und eine Lösung finden. Leider ist die deutsche Kontaktstelle wenig konstruktiv. Sie ist im Bundeswirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen angesiedelt. Ein Interessenkonflikt ist damit vorprogrammiert. Leider will die Bundesregierung diesen Widerspruch nicht erkennen. Ohne politischen Willen sind die Leitsätze nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Wir Grüne fordern auch hier klare Regelungen: Transnationale Unternehmen müssen über die Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf die Menschenrechtssituation zunächst verpflichtend Bericht erstatten. Es muss Transparenz über die Folgen des weltweiten unternehmerischen Handelns geschaffen werden. Sollten Unternehmen Menschenrechte, Arbeits- und Umweltstandards nicht einhalten, sollte unser wirtschaftlicher Erfolg durch die Arbeit von Kindern erwirtschaftet werden, muss dies öffentlich gemacht werden, und Unternehmen müssen von jeglicher öffentlicher Förderung, ebenso wie von öffentlichen Aufträgen, ausgeschlossen werden. All das sind klare Konzepte, die weit über bloße Handelsverbote hinausgehen. Wir müssen das Thema Kinderarbeit umfassend angehen, und wir können morgen damit beginnen. Die Bundesregierung muss endlich Verantwortung übernehmen. Die Selbstgefälligkeit, mit der Schwarz-Gelb die vielen Probleme abtut und Lösungen konstant verweigert, muss endlich ein Ende haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7150, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5803 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Oktober 2011, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen noch einen freundlichen Abend und eine gute Nachtruhe. Die Sitzung ist geschlossen.