Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur 130. Sitzung des Bundestages.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Haltung der Bundesregierung zur Frage einer
Umlenkung von Verkehrsinvestitionsmitteln
des Bundes für die Autobahn A 100 auf andere
Verkehrsprojekte des Bundes in Berlin
({0})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Omid Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth
({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Naturlandschaft Senne schützen - Militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes
nach Abzug der Briten beenden
- Drucksache 17/4555 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria
Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung
auf den Weg bringen
- Drucksache 17/7190 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Steuerabkommen mit der Schweiz und damit
zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global
umsetzen
- Drucksache 17/7182 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 7 und 9 zu tauschen. Morgen sollen der Tagesordnungspunkt 31 abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 33 an diese Stelle vorgezogen werden.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung ({4}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen
- Drucksache 17/5707 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-
verstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im
Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus
- Drucksache 17/6916 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
- Drucksachen 17/7067, 17/7130 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({7})
Otto Fricke
Roland Claus
Priska Hinz ({8})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({9})
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger
europäischer Stabilisierungsmaßnahmen sichern und stärken
- Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({10})
Otto Fricke
Roland Claus
Priska Hinz ({11})
Zu dem Gesetzentwurf, über den wir später namentlich abstimmen werden, liegen ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke, ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion
Die Linke und ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch darüber scheint es keine Meinungsverschiedenheiten zu
geben, sodass wir so verfahren können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir entscheiden unter diesem jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkt über
ein Projekt, das nicht wenige für das wichtigste einzelne
Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode halten.
Ihm kommt tatsächlich überragende Bedeutung zu, sowohl mit Blick auf die wirtschaftlichen und finanziellen
Größenordnungen als auch mit Blick auf die exemplarische neue Regelung parlamentarischer Mitwirkung bei
einem Vorgang, der bislang typischerweise in die exekutive Zuständigkeit fiel.
Darüber ist nun wochenlang in den verschiedensten
Gremien des Bundestages und in den Fraktionen verhandelt worden. Es wird nicht wirklich überraschen, dass
sich viele Kolleginnen und Kollegen mit dieser Entscheidung sehr schwergetan haben. Das wird sicher auch
in der Diskussion deutlich werden. Ich weise deswegen
schon jetzt darauf hin, dass über diese gerade vereinbarte
Redezeit hinaus einzelne Kolleginnen und Kollegen, die
deutlich machen wollen, warum sie für sich am Ende zu
einer anderen Abwägung gekommen sind, als es die
überwiegende Auffassung der jeweiligen Fraktion ist,
das während dieser Debatte tun können. Damit folgen
wir sowohl unserem Selbstverständnis wie den Regelungen, die wir in unserer Geschäftsordnung dafür vorgesehen haben.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSUFraktion.
({12})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Heute fällen wir im Deutschen Bundestag eine wichtige
Entscheidung, eine wichtige Entscheidung für die Zukunft unseres Landes und für die Zukunft Europas. Wir
fällen nicht nur eine inhaltliche Entscheidung, sondern
- der Präsident hat es angesprochen - es findet heute
auch ein kleiner, aber doch sehr bedeutender Paradigmenwechsel statt. Man kann sagen: Von einem Europa
der nationalen Regierungen, die in den Räten beieinandersitzen, sind wir auf dem Weg zu einem Europa der
Parlamente. Eine solche Parlamentsbeteiligung, wie wir
sie heute beschließen, hat es bei Aufgaben, die zunächst
einmal rein als Regierungshandeln gesehen wurden, im
Deutschen Bundestag noch nie gegeben.
({0})
Selbst über das, was wir im Zusammenhang mit dem
Einsatz der Bundeswehr beim Parlamentsbeteiligungsgesetz gemacht haben, gehen wir heute weit hinaus. Bisher lief Parlamentsbeteiligung immer so ab: Die Regierung hat einen Antrag vorgelegt, und wir haben dazu Ja
oder Nein gesagt, oder die Regierung hat verhandelt und
uns Ergebnisse mitgeteilt. Heute beschließen wir, dass
wir zunächst darüber entscheiden, wie sich die Vertreter
unserer Regierung in den jeweiligen Gremien zu verhalten haben. Das ist etwas ganz Neues. Es stärkt die
Rechte des Parlaments und geht weit über das hinaus,
was das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt hat.
Das heißt, die ganz bedeutenden Fragen „Wer kann unter
einen Schutzschirm kommen?“, „Wie sieht Hilfe aus?“
und „Welche Bedingungen verlangen wir dafür, dass wir
Hilfe gewähren?“ werden in Zukunft hier im Deutschen
Bundestag entschieden, und das ist auch richtig so.
({1})
Klar ist, dass es für uns nicht einfacher wird. Wir
müssen die Themen im Deutschen Bundestag inhaltlich
beraten. Es kann sein, dass wir sehr schnell entscheiden
müssen; denn bestimmte Entscheidungen lassen nicht
auf sich warten. Dies alles wissen wir. Dazu sind wir bereit.
Ich möchte sagen: Wir wissen sehr wohl, dass
schnelle Entscheidungen intensivere Beratungen erfordern. Aber eines ist klar: Eine Beratung, die mehrere
Monate dauert, führt nicht immer zu besseren Ergebnissen als eine schnellere Beratung, wenn sie intensiv
durchgeführt wurde. Ich kann nur sagen: Das, was wir
heute vorlegen, ist das Ergebnis eines intensiven Beratungsprozesses,
({2})
sowohl was die Beteiligungsrechte als auch was die inhaltliche Seite anbelangt. Ich möchte auch feststellen: Es
war ein Prozess, in dem jeder die Gelegenheit und Möglichkeit hatte, sich einzubringen, seine Fragen zu stellen
und sich zu beteiligen. Es war ein guter Gesetzgebungsprozess, ein gutes Gesetzgebungsverfahren. Wir fühlen
uns von niemandem überfahren.
({3})
Im Übrigen: Zu manch einer Äußerung, die ich in diesen Tagen gelesen habe - es hieß zum Beispiel: Regierung überfährt Parlament -, und zu all dem, was ich so
höre, kann ich nur sagen: Es sollte sich bitte niemand
täuschen. Wir sind selbstbewusst genug, um unsere
Rechte wahrzunehmen. Deswegen haben wir auch großen Wert darauf gelegt, dass nicht die Regierung uns einen Vorschlag zur Parlamentsbeteiligung macht, sondern
dass wir dies selber tun. Diesen Anspruch haben wir:
Wir sind ein selbstbewusstes Parlament und nehmen unsere Rechte wahr, so wie wir es für richtig und notwendig erachten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wenn man sich die Äußerungen mancher Wirtschaftsverbände in den letzten Tagen vor Augen führt, wird klar
und deutlich, dass es heute um mehr als nur um die Ertüchtigung bzw. Erweiterung eines Rettungsschirmes in
Europa geht. Vielmehr geht es hier tatsächlich um unsere
Zukunft. Es geht um Arbeitsplätze. Es geht um Perspektiven, vor allem die der jungen Generation.
Wir haben in unserer Generation, der ersten Nachkriegsgeneration, Europa als eine große Friedensversicherung angesehen, und wir haben damals gesagt: Wir
müssen in Europa zusammenkommen und eng zusammenarbeiten, damit es in Europa nie wieder kriegerische
Auseinandersetzungen gibt. - Diesen Anspruch, den wir
in unserer jungen Generation damals hatten, haben wir
erfüllt. Dieses Europa ist ein friedliches Europa und hat
damit die Voraussetzung für Sicherheit und Wohlstand
geschaffen.
({5})
Dieses Zusammenwachsen in Europa und dieses „Nie
mehr Krieg in Europa“ waren die existenziellen Voraussetzungen dafür, dass wir es in Europa zu Wohlstand gebracht haben. Die heutige junge Generation wird mit
dem Satz „Nie mehr Krieg in Europa“ nur relativ wenig
anfangen können. Sie wird ihn bestätigen und sagen:
Das ist ja in Ordnung. - Für die jetzige junge Generation
bedeutet Europa eine Perspektive und die Möglichkeit,
überall in Europa arbeiten, leben und sich ausbilden lassen zu können. Das heißt, mit diesem Europa können wir
im Wettbewerb auf der Welt vorankommen.
Schauen wir uns doch einmal die Situation an. Es gibt
große starke Zentren in Asien: in China, in Indien. Selbst
ein starkes Deutschland wäre zu schwach, um einen
Wettbewerb mit ihnen aufzunehmen. Deswegen haben
wir in unserer heutigen Zeit ein existenzielles nationales
Interesse an der Stabilität in Europa und an der Stabilität
des Euro.
({6})
Heute geht es darum, dass wir ein Instrument verbessern bzw. schärfen, das wir brauchen, um Probleme in
Europa lösen zu können. Um dies auch den Menschen zu
sagen, die uns heute zuhören: Es geht nicht um Griechenland und um die Auszahlung von Geld an Griechenland,
({7})
sondern es geht schlicht und ergreifend darum, dass wir
einen Schutzschirm spannen können, dass wir denjenigen, die Schwierigkeiten haben bzw. in Schwierigkeiten
geraten sind, unterstützend helfen und dass wir dafür
sorgen, dass andere nicht angesteckt werden. Dies ist in
unserem deutschen nationalen Interesse.
({8})
Wir sorgen vor, damit wir mit unserer Wirtschaftskraft in keiner Situation unter Druck kommen. Bei manchen Äußerungen, wie zum Beispiel „Was lädt Deutschland sich hier auf?“, kann ich nur sagen: Wir sorgen
dafür, dass wir unsere nationale Produktionskraft erhalten können. Wir sind in Europa noch immer die Produktionsnation und müssen dafür sorgen, dass das auch so
bleibt und dass unser Mittelstand ausreichend mit Kapital versorgt werden kann. Deswegen haben wir ein nationales Interesse an der Stabilität unserer Banken.
Natürlich ist dies nur ein erster Schritt, und natürlich
haben all diejenigen recht, die sagen: Wir müssen aber
auch Instrumente finden, mit denen es uns möglich ist,
Länder, die in Schwierigkeiten gekommen sind, zu restrukturieren und ihnen eine Perspektive zu geben. - Genau dies haben wir in einem weiteren Schritt vor, nämlich bei dem sogenannten ESM, dem Europäischen
Stabilitätsmechanismus. Wir werden dafür sorgen, dass
die Privaten noch stärker daran beteiligt werden; wir
werden Instrumente dafür schaffen, dass Länder, die in
Schwierigkeiten gekommen sind, mit Perspektive restrukturiert werden können, und wir werden dafür sorgen, dass auch Kontrollen und Überprüfungen schärfer
werden.
Ich habe mich sehr gefreut, dass im Europäischen
Parlament einen Tag vor dieser Diskussion heute im
Deutschen Bundestag ganz entscheidende und wegweisende Dinge vorangebracht wurden, die zu einer schärferen Kontrolle und besseren Struktur führen.
({9})
Dazu kann ich nur sagen: Diejenigen, die behaupten, es
bewege sich in Europa nichts zum Positiven, können einen Blick auf das werfen, was gestern im Europäischen
Parlament geschehen ist.
({10})
Wir können unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament dazu nur gratulieren, dass dies geschehen ist.
({11})
- Lieber Herr Trittin, was Sie - das gilt auch für die
SPD - in den letzten Tagen geboten haben, ist schon besonders bemerkenswert. Auf bestimmte Anzeigen, die
sich hart an der Grenze dessen bewegen, was man sich in
einer Demokratie noch erlauben kann, will ich gar nicht
zu sprechen kommen.
({12})
Mit Steuergeldern, die für Fraktionsarbeit vorgesehen
sind, solche Anzeigen zu schalten, ist nicht in Ordnung,
liebe Kolleginnen und Kollegen, um das mal klar zu sagen.
({13})
Herr Kollege Trittin, es ist durchaus richtig, wenn wir
jetzt sagen: In einer solchen Situation sind wir uns unserer Verantwortung bewusst. - Das wird auch von Ihnen
und von der SPD - wenn Sie heute zustimmen - so formuliert. Aber so zu tun, als ob Sie dabei nie ein Erkenntnisproblem gehabt hätten, ist schon bemerkenswert. Bei
den Euro-Bonds rotierten Sie herum: Zunächst einmal
hat Herr Steinbrück im Jahr 2010 gesagt, dass es sie auf
gar keinen Fall geben dürfe. Dann hat er gesagt: Ja. - Sie
haben auch mitgemacht. Ja, nein, ja. - Ich kann nur sagen: Bei uns war die Position klar: keine Vergemeinschaftung von Schulden. Wir waren immer gegen EuroBonds.
({14})
- Wenn man erwischt wird, wie man rumeiert, nutzt
auch ein doofes Geschrei nichts, meine sehr verehrten
Damen und Herren auf der linken Seite des Hauses.
({15})
Wir werden heute einen wichtigen Beitrag für unser
Land, für die Zukunft Europas und für die Stabilität des
Euro leisten. Wir werden heute, abgestimmt mit dem
Deutschen Bundestag, einen Beitrag leisten, der unserer
Regierung bei den schwierigen Verhandlungen, die auf
europäischer Ebene stattfinden werden, den Rücken
stärkt. Heute werden wir sicherlich eine breite Zustimmung im Deutschen Bundestag, aber auch in unserer
Koalition haben.
({16})
Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die heute eine andere
Auffassung haben.
({17})
Aber wir werden zeigen, dass diese Koalition handlungsfähig ist und die Probleme, die auf sie zukommen,
sachgerecht lösen kann.
({18})
Wir werden zeigen: Deutschland ist bei dieser Koalition
in guten Händen, Europa auch.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Peer Steinbrück für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gegen den ersten Teil Ihrer Rede, Herr
Kauder, habe ich nicht viele Einwände. Ich hatte nur den
Eindruck, dass das eine Rede war, die eher auf die Fraktionsebene - in den Fraktionssaal der CDU/CSU - gehörte.
({0})
Den zweiten Teil mit dem leichten Florettangriff gegen meine Fraktion vergessen wir schnell. Bezogen auf
meine Einwendungen und meine Position zu den EuroBonds haben Sie sich im Datum geirrt. Ich bin vor Ausbruch der Krise innerhalb der Währungsunion in der Tat
gegen Euro-Bonds gewesen, aber nicht mehr in der
Phase, als Euro-Bonds gegebenenfalls unter bestimmten
Bedingungen, unter einer gewissen Konditionalität - ({1})
- Das ist doch nichts Neues für Sie. Entschuldigen Sie
bitte. Sie lesen doch meine Interviews genauso wie ich
Ihre. Also vergessen Sie es! Und ich will mich davon
nicht ablenken lassen.
Ich will mit der Bemerkung beginnen, dass wir es,
wie ich glaube, gemeinsam in diesem Haus - damit
meine ich das gesamte politische Spektrum - versäumt
haben, den Menschen unseres Landes rechtzeitig eine
neue Erzählung von und über Europa zu liefern. Stattdessen haben wir Europa in den vergangenen Jahren in
unseren Beiträgen sehr stark reduziert: auf eine Währungsunion, einen Binnenmarkt, eine Dienstleistungsrichtlinie. Wir haben die Menschen mit finanztechniPeer Steinbrück
schen Begriffen und Abkürzungen überflutet und sind
selten in der Lage gewesen, uns selbst und vor allen Dingen den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes die
Komplexität dessen darzustellen, was in Europa passiert.
Wir haben Europa auf eine intergouvernementale Veranstaltung von 26 Männern und Frau reduziert. Wir haben gleichzeitig einer Entwicklung Vorschub geleistet,
dass sich die Europäische Kommission in dem einen
oder anderen Fall Kompetenzen aneignete, die eigentlich
nicht auf ihre Ebene gehörten, sondern in den nachgelagerten Ebenen sehr viel besser hätten organisiert werden
können. Das fängt bei dem Krümmungsgrad der Salatgurke an, geht über Regelungen zur Glühbirne bis hin zu
Eingriffen in den ÖPNV.
({2})
Jacques Delors hat darauf hingewiesen, dass wir über
diese Debatten andere Themen verdunkelt haben. Über
die Beschäftigung mit der Währungskrise haben wir die
Themen verdunkelt, welches Verhältnis Europa zu den
USA hat, zu Russland hat, wie ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept aussieht, wie das soziale Europa aussieht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass heute viele Menschen eher ein
gewisses Unverständnis gegenüber dem, was auf der europäischen Ebene passiert, ja Skepsis, gegebenenfalls
sogar gewisse Ressentiments haben. Einige dieser Ressentiments werden entweder durch naive oder unbedachte Äußerungen, auch aus dem Regierungslager, eher
geschürt als abgebaut.
({3})
Also müssen wir über Europa eine Neuerzählung entwickeln. Diese Neuerzählung beginnt dort, wo Herr
Kauder im ersten Teil seiner Rede gewesen ist. Diese
Neuerzählung über Europa beginnt in einer kleinen Kirche in Cornwall, in einer kleinen Kirche in der Bretagne
oder in einer kleinen Kirche in der Altmark, wo man Gedenktafeln sieht - das sage ich insbesondere denjenigen
der jüngeren Generation, die uns zuhören -, und zwar
mit den Namen der Toten aus den Kriegen von 1914 bis
1918 und 1939 bis 1945. Auf diesen Gedenktafeln sind
die Namen von Familien zu lesen, deren Ehemänner und
Kinder in diesen Kriegen verheizt worden sind.
Das heißt, in einer historischen Rückbetrachtung ist
dieses Europa die Antwort auf 1945. Es ist nicht deutlich
genug zu machen, dass seit 1945 und danach diejenigen,
die mit der europäischen Integration begannen, Schuman,
Monnet, De Gasperi, auch Adenauer, in einem privilegierten - ({4})
- Sind Sie nicht in der Lage, einem solchen Redebeitrag
einigermaßen ruhig zu folgen?
({5})
Wie nervös müssen Sie eigentlich sein, dass Sie eine solche Formulierung zum Anlass für Einlassungen nehmen?
({6})
Mit Beginn dieses europäischen Projektes Anfang der
50er-Jahre durch die Namen, die ich nannte, bewegen
wir uns in einem privilegierten Ausnahmezustand, jedenfalls gemessen an der europäischen Geschichte. Das
ist das eine.
Das andere ist, dass dieses Europa die Antwort auf
das 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund ist, dass sich
global ökonomische und politische Machtverhältnisse
verändern. Wenn wir die Vorstellung haben, dass
Deutschland in Europa in einer Alleinstellung diesen
globalen Veränderungen, den Machtverschiebungen, den
neuen Schwergewichten, gewachsen sein könnte, dann
täuschen wir uns selber.
Aber Europa ist mehr als das. Europa ist Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, die Tatsache, dass man die
Regierung verklagen kann. Europa ist Freizügigkeit,
Medien- und Pressefreiheit. Europa ist kulturelle Vielfalt. Europa ist so, dass niemand nachts Angst haben
muss, dass jemand an der Tür klingelt und einen abführt.
Vor dem Hintergrund dieser Qualitäten, insbesondere der
Medien- und Pressefreiheit, ist es umso beschämender
gewesen, dass weder die Europäische Kommission noch
der Europäische Rat noch die nationalen Parlamente gegen die ungarische Pressegesetzgebung so aufgetreten
sind, wie dies notwendig gewesen wäre.
({7})
Es bleibt hinzuzufügen, dass es ohne das Einvernehmen und die Zustimmung unserer europäischen Nachbarn keine deutsche Wiedervereinigung gegeben hätte.
Es bleibt schließlich auch hinzuzufügen - was Sie ja alle
wissen -, dass dieses Europa mit einem Bruttosozialprodukt von über 12 Billionen Euro und über 500 Millionen
Menschen einen ökonomischen Stellenwert hat.
All dies ist Europa. Das ist der Hintergrund - wenn
Sie so wollen: der Überbau - für die heutigen und kommenden Beschlüsse, an denen wir uns orientieren sollten.
Sie, Frau Bundeskanzlerin werden den Vorwurf ertragen müssen, dass Sie diesen Hintergrund für unsere Bürgerinnen und Bürger nicht hinreichend beleuchtet haben.
({8})
Ein Leitgedanke, eine Perspektive oder eine Strategie
auch unter Einschluss eines Planes B oder C ist seit Beginn der Krise in der europäischen Währungsunion vor
ungefähr anderthalb Jahren, im Frühjahr 2010, nicht erkennbar. Sie haben mindestens lange Zeit versäumt, den
Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland zu erklären,
warum und dass die Bundesrepublik Deutschland einen
bedeutenden und auch belastenden Beitrag zur Stabilisierung Europas leisten muss.
({9})
Sie haben Europa politisch nach innenpolitischen
Stimmungslagen und innerparteilichen Rücksichtnahmen betrieben. Sie haben laviert, unglaubwürdige Dementis abgegeben, mehrfache Volten geschlagen und
nach Ihren europäischen Arien in Brüssel manchmal
auch deutschtümelnde Volkslieder, nicht nur im Sauerland, gesungen.
({10})
Die Widersprüche innerhalb des Regierungslagers
und innerhalb Ihrer eigenen Fraktion sind offensichtlich.
Es sind nicht nur Widersprüche; es sind klaffende Risse.
Ihr Satz, Frau Merkel, „Scheitert der Euro, dann
scheitert Europa“ ist ja nicht falsch; denn uns allen ist
bewusst, dass in dem Fall, dass der Euro scheitert, automatisch auch die europäische Integration um zwei Jahrzehnte zurückgeworfen wird und einer monetären Renationalisierung selbstverständlich auch eine politische
Renationalisierung zulasten Europas folgt.
Dieser Satz von Ihnen ist also richtig. Nur: Der CSUVorsitzende Horst Seehofer sieht diesen Zusammenhang
im Gegensatz zu Ihnen nicht. Er glaubt auch nicht, dass
eine Stärkung der europäischen Institutionen mit zusätzlichen Kompetenzen etwas zur Lösung der aktuellen
Krise beitragen könnte. Tatsächlich? Sie und wir reden
aber mit Blick auf die rigidere Koordinierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik, auf eine makroökonomische
Überwachung, auf den Abbau der Staatsverschuldung
und auf mögliche Sanktionen über nichts anderes als
über eine Stärkung der europäischen Institutionen und
ihrer Kompetenzen.
({11})
Will sagen: In welchem Orbit zieht Herr Seehofer eigentlich seine Umlaufbahnen?
({12})
Wie passt das zu Ihrer Position?
Ich habe übrigens gestern in München erfahren, dass
Herr Seehofer zusammen mit Frau Stamm, der Präsidentin des Bayerischen Landtages, Anfang dieser Woche
eine Pressekonferenz gegeben hat, in der sie signalisierten, heute in der Abstimmung dem Gesetzentwurf zuzustimmen, aber ab morgen erklären zu wollen, warum das
nicht so gemeint sei. Warten wir also die morgigen Erklärungen ab.
Ihre Medizin, Frau Bundeskanzlerin, Zeit zu kaufen,
indem mit Hilfskrediten der Kapitaldienst Griechenlands
und anderer finanziert wird, und Griechenland parallel
dazu einer radikalen Diätkur zu unterziehen, mit der das
Land dann sehen soll, wie es wieder auf die Beine
kommt, ist gescheitert. Der erste Teil stellt sich als Placebo dar, und der zweite Teil, die Diätkur, als eine lebensgefährliche Angelegenheit für Griechenland.
({13})
Der Ansatz, Zeit zu kaufen, ist übrigens auch deshalb
gescheitert, weil die Zeiten immer schlechter geworden
sind, seit Sie vor anderthalb Jahren damit begonnen haben. An die doppelte Medizin glauben übrigens weder
die Märkte noch die Menschen, weder die Menschen bei
uns noch die Menschen in Griechenland. Es ist an der
Zeit, dass die Politik die Bürger auch nicht mehr glauben
zu machen versucht, dass dies eine Lösung sei und dass
diese Strategie verfangen könnte.
Griechenland wird aus eigener Kraft auf absehbare
Zeit nicht mehr zu einigermaßen verträglichen Konditionen an die Kapitalmärkte zurückkehren können. Das ist
die nackte Realität.
Die bloße Finanzierung seines Kapitaldienstes ändert
rein gar nichts an der fundamentalökonomischen Voraussetzung dafür, jemals wieder Wind unter die Flügel
zu bekommen, und der Rausschmiss aus der Währungsunion, der übrigens verfahrensrechtlich gar nicht vorgesehen ist, auch nicht.
({14})
Eine Diät à la Brüning’scher Notverordnungen, über die
der Wirtschaftsmotor mit massiven Folgen für das griechische Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt abgewürgt wird, bringt den Patienten endgültig auf das Lager und nicht mehr auf die Beine.
({15})
Die Ertüchtigung, die Mandatserweiterung des temporären Rettungsschirms mit dem Kürzel EFSF und die
Umsetzung des gestern in der Tat lobenswerterweise
vom Europäischen Parlament verabschiedeten sogenannten Sixpacks, also verschiedener Vorschläge der Europäischen Kommission, sind ein richtiger Schritt. Auf
die Darstellung von Einzelheiten verzichte ich in der Annahme, dass uns allen das geläufig ist.
({16})
Die SPD wird daher unbenommen ihrer grundsätzlichen Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung
aus einer übergeordneten Verantwortung für die Gesetzesänderung stimmen.
({17})
Die mit dieser Gesetzesänderung verbundene Einigung
über die Beteiligungsrechte des Bundestages im Vorfeld
von Entscheidungen des Managements über diesen
Fonds tragen wir ebenfalls mit. Diese Rechte stellen eine
Stärkung der parlamentarischen Beteiligung dar, wie sie
den Vorgaben der beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts entspricht.
Richtig ist allerdings auch: Wir stimmen heute über
notwendige Schritte ab, die dazu dienen, die EuropäiPeer Steinbrück
sche Währungsunion zu stabilisieren. Hinreichend sind
sie nicht.
({18})
Ich will Ihnen die Reden und die Zitate von FrankWalter Steinmeier, Sigmar Gabriel und mir sowie anderen Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion nicht
aufzählen,
({19})
in denen wir Ihnen seit anderthalb Jahren Vorschläge gemacht haben, aus denen hervorgeht, wie eine umfassendere und tiefgreifendere Strategie zur Stabilisierung der
Euro-Zone aussehen könnte. Kommen Sie mir nicht immer wieder, Herr Kauder, mit den ewigen Hinweisen
- diesen von Ihnen selbst geklebten Pappkameraden, die
Sie dann hier theatralisch erwürgen -, die die Schuldenunion betreffen, in die die SPD dieses Land hineinjagen
will.
({20})
- Überhaupt nicht! Sie können überall nachlesen, was
wir formuliert haben. - Diese Hinweise sind nichts anderes als Ausdruck Ihrer eigenen Ratlosigkeit und vor allem Ihrer Unwahrhaftigkeit, weil Sie längst den Weg in
eine Haftungsunion beschritten haben.
({21})
Sie haben diesen Weg in eine Haftungsunion durch das
Versagen des Europäischen Rates im Mai 2010 beschritten, wo die EZB zu einem Ersatzakteur gemacht bzw. genötigt wurde. Wenn mich nicht alles täuscht, wird inzwischen intern - zumindest in der Regierung, jedenfalls am
Rande des Treffens des IWF - eine weiter gehende Instrumentalisierung der Europäischen Zentralbank und über
mögliche Hebelwirkungen des Rettungsfonds debattiert.
Ich bin gespannt, ob dies heute im Rahmen dieser Debatte
offen angesprochen wird, weil das im Hinblick auf das
Abstimmungsverhalten der beiden Regierungsfraktionen
sehr delikat werden könnte.
Im Übrigen hat Frau Merkel den Finger zugunsten einer weiteren Haftungsgemeinschaft gehoben, als sie am
21. Juli der Mandatserweiterung des Rettungsfonds zustimmte, die zum Inhalt hat, dass dieser auch auf den Sekundärmärkten, also direkt von Banken, Staatsanleihen
aufkaufen darf. Frau Merkel, wenn ein Land seine
Staatsanleihen nicht zurückzahlen kann: Können Sie
dem Publikum erklären, wer dann haftet? Würden Sie
mir zustimmen, dass die Bundesrepublik Deutschland
pro rata mit 27 Prozent an einer solchen Haftungsgemeinschaft beteiligt ist? Ist es nicht an der Zeit, dies offen darzulegen und die Menschen dementsprechend zu
informieren?
({22})
Mit dem bisherigen Krisenmanagement kommen wir
jedenfalls nicht aus. Auch das Sixpack wird nicht reichen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir, bezogen auf
Griechenland, an einem Schuldenschnitt unter Einbeziehung der Gläubiger nicht vorbeikommen. Warum nehmen Sie nicht das ziemlich einhellige Urteil der Fachwelt zur Kenntnis, wonach wir an einem solchen
Schuldenschnitt nicht vorbeikommen? Wir reden längst
nicht mehr über das Ob, sondern darüber, wie, wann und
unter welcher Begleitung mögliche Kollateraleffekte minimiert werden können.
({23})
In diesem Zusammenhang wird es um die Rekapitalisierung von Banken gehen; das ist richtig. Aber ich
würde gerne Stichworte aufgreifen, die wir schon früher
genannt haben. Es ist an der Zeit, grenzüberschreitend in
Europa auch ein Verfahren für eine Bankeninsolvenz
vorzusehen, sodass einige Banken geordnet abgewickelt
werden können. Dies ist eine Antwort auf die leidige
Problematik des „too big to fail“ oder die Erpressbarkeit,
der die Politik unterliegt, indem sich Banken als systemrelevant immunisieren, mit dem Ergebnis, dass die
Steuerzahler anschließend zahlen müssen.
({24})
Griechenland wird ein wirtschaftliches Hilfsprogramm benötigen, um die realökonomischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, um wieder Überschüsse zu
produzieren. Wo ist dieser Ansatz aufgegriffen worden?
Wer ergreift die Initiative, die europäischen Strukturfonds, den Kohäsionsfonds und gegebenenfalls auch das
Aufkommen aus einer Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte zu benutzen, um Länder wie Griechenland wettbewerbsfähiger zu machen?
({25})
Wir brauchen einen verbindlichen Fahrplan zum Abbau der Staatsverschuldung. Die EZB muss auf ihre alleinige geldpolitische Funktion zurückgeführt werden,
und sie darf nicht mehr fiskalpolitisch instrumentalisiert
werden, wie es in den letzten anderthalb Jahren der Fall
war.
({26})
Finanzmarktgeschäfte sind zu besteuern, gegebenenfalls auch im Konvoi von den kontinentaleuropäischen
Ländern, die dazu bereit sind. Ich finde es bemerkenswert, dass die Europäische Kommission mit Blick auf
die Besteuerung von Finanzmarktgeschäften inzwischen
ehrgeiziger ist als diese Bundesregierung.
({27})
Es geht darum, die Wachstumsstrategie Europa 2020
zu konkretisieren und Sorge dafür zu tragen, dass sie
nicht ebenso scheitert wie die Lissabon-Strategie für das
erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Es geht darum, die
Wirtschafts- und Fiskalpolitik sehr viel rigider zu koor15210
dinieren, jedenfalls damit anzufangen, bevor man lange
über die Einführung einer Wirtschaftsregierung räsoniert. Es geht darum, Steuerdumping, Steuerbetrug und
Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Das Thema der Regulierung der Finanzmärkte gehört dringend wieder auf
die Tagesordnung.
({28})
Ich will eine abschließende Bemerkung machen.
({29})
- Mein Gott, dieses rituelle Echo, das ich von der CDU/
CSU bekomme!
({30})
Es könnte sein, dass hinter der Finanzkrise weit mehr
noch eine politisch-legitimatorische Krise liegt. Die
Grundidee der sozialen Marktwirtschaft, dass Risiko mit
Gewinn belohnt, aber dass Verspekulieren mit Ruin bestraft wird, gilt offenbar nicht mehr. Haftung und Risiko
fallen auseinander, Gewinne werden privatisiert, Verluste werden sozialisiert. Die Verursacher der Krise werden nicht an der Finanzierung der Folgekosten beteiligt,
weil sie sich, wie ich gesagt habe, als systemrelevant immunisiert haben.
({31})
Die Politik erscheint nicht mehr als Handelnder, sondern
als Getriebener. Ich erinnere an die Daumenbewegungen, die Ratingagenturen vollführen.
Täuschen wir uns nicht: Das prägt die Wahrnehmung
von vielen Menschen und ihr Verhältnis zu Staat und
Politik. Der Journalist Cordt Schnibben hat in einem
Artikel geschrieben: „Die ideologischen Folgen des monetären Kollapses sind dauerhafter als die wirtschaftlichen, …“. - Das könnte sein. Das Paradigma der Deregulierung, die Fixierung auf Quartalsbilanzen, die
Margenmaximierung und die Verachtung der alten
Deutschland AG haben einem ungezähmten Kapitalismus Raum gegeben. Dieser neigt zu Exzessen, er neigt
zur Zerstörung von Vermögen, und er erschüttert auch
die Ideale der Demokratie.
({32})
Was wir jetzt erleben - das müsste eigentlich die beiden Regierungsfraktionen beschäftigen -, greift auch das
bürgerlich-liberale und das konservative Selbstverständnis von Haftung und Risiko, Belohnung und Bestrafung,
Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums, Maß und
Mitte an. Es sind Ihre Wählerinnen und Wähler, die davon betroffen sind. Vielleicht waren es Ihre Wähler.
Diese wollen heute jedenfalls nicht, dass Sie ihnen das
Ideal des Modells Irland wie eine Monstranz vorhalten,
und können wahrscheinlich mit der Beschlusslage des
Leipziger Parteitags der CDU als Antwort auf die jetzige
Situation auch nicht mehr so viel anfangen.
Das eindimensionale Programm der FDP - weniger
Staat, mehr Markt, weniger Steuern - ist jedenfalls eine
Beschädigung der Handlungsfähigkeit des Staates und
wirkt nicht nur angesichts dieser Finanzkrise und Staatsverschuldung anachronistisch, die Wähler bewerten es
auch zunehmend als anachronistisch.
({33})
Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen
geben weder die Einsicht noch die Kraft zu erkennen,
das Krisenmanagement von einem Durchlavieren in einen umfassenderen Lösungsansatz zu überführen. Ich
wette, Sie werden den Deutschen Bundestag weiterhin
scheibchenweise mit Fortsetzungskapiteln konfrontieren.
Sie haben weder die Einsicht noch die Kraft, zu erkennen, dass das, was über den ungezähmten Finanzkapitalismus stattfindet, durchaus zu einer sozialen Entfremdung in dieser Gesellschaft beitragen könnte.
Ihnen und Ihrer Regierung, Frau Bundeskanzlerin,
fehlt in Zeiten der Gefahr die wichtigste politische Qualität: Vertrauen. Vertrauen erwächst aus Überzeugung
und Begründung, aus Konsistenz und Erkennbarkeit.
Aber genau daran fehlt es dieser Regierung.
({34})
Vor diesem Hintergrund geraten Ihre großen Sprechblasen - „Herbst der Entscheidungen“, „Jahr des Vertrauens“ und „die geistig-moralische Wende“ - zu einer
sehr bitteren Pointe. Nach dem chinesischen Kalender
befinden wir uns im Augenblick im Jahr des Hasen.
Nach meiner Wahrnehmung vermittelt diese Regierung
auch genau diesen Eindruck.
Vielen Dank.
({35})
Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat:
Die Welt sortiert sich neu. Dies ist kein europäisches
Zeitalter mehr. Zwei Drittel des weltweiten Wirtschaftswachstums stammen von Schwellenländern, etwa China,
Indien, Brasilien und Russland. Europa muss sich in diesem verschärften weltweiten Wettbewerb neu aufstellen.
Ich teile die Einschätzung, dass Europa für uns Staatsräson ist. Deutschland darf sich nie wieder singularisieren.
({0})
Wir brauchen Europa, aber wir müssen es richtig machen.
Jetzt geht es darum, dass wir die Wirtschaftskraft Europas schützen und stärken. Auch müssen wir unsere
Währung schützen und stabil halten, damit Europa eine
gute Perspektive hat. Eine Lehre der Geschichte ist:
Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht. Auch das haben wir in der deutschen Geschichte gehabt:
von Hyperinflation über Massenarmut bis hin zum Krieg
und den fatalen Fehlentwicklungen in Deutschland.
({1})
Deshalb ist unsere Mitgift für die europäische Zukunft
die deutsche Stabilitätskultur. Deswegen schaffen wir
die EFSF als einen Zwischenschritt hin zu einem dauerhaften Mechanismus.
Die Kriterien, die wir damals mit dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt - eine Wirtschafts- und Währungsunion,
keine politische Union! - auf den Weg gebracht haben,
wurden gerissen: als Erstes von Rot-Grün in Deutschland, aber auch von Frankreich. Die Kriterien wurden in
der Summe 68-mal gerissen. Aber Konsequenzen und
Sanktionen gab es nie. Deshalb müssen wir einen Stabilitätspakt II schaffen. Das, was wir heute beschließen, ist
der Zwischenschritt auf dem Weg dahin, einen Stabilitätspakt II zu schaffen und zu gestalten.
({2})
Entscheidend ist, dass man Regeln hat, die eingehalten werden. Europa kann und muss rechtsstaatlich sein.
Aber Rechtsstaatlichkeit heißt auch, dass man vereinbarte Regeln einhält. Die Realität darf nicht sein, dass
man Beschlüsse fasst und Verträge schließt, die nicht
eingehalten werden. Deshalb müssen wir dies neu ausrichten.
({3})
Wir brauchen quasi Automatismen. Herr Steinbrück,
Sie haben sich zu dem bekannt - Stichwort „Sixpack“ -,
was gestern im Europaparlament beschlossen wurde.
Aber Sie wissen, dass Ihre Genossen und auch die Grünen dagegen gestimmt haben. Sie haben es abgelehnt,
die Stabilität in Europa zu stärken. Als es ernst wurde,
haben sie sich mal wieder vom Acker gemacht.
({4})
Eines hat Rot-Grün in Europa beschlossen: Wenn
Deutschland Exporterfolge hat, dann müssen wir sie in
der Makroökonomie zurückführen. Erklären Sie einmal
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betriebsräten und den Gewerkschaften, dass wir unsere Erfolge, die wir aufgrund von Fleiß und Anstrengungen erreicht haben, einseitig zurückführen müssen. Das ist Ihre
Politik. Das müssen Sie den Arbeitnehmern in Deutschland einmal erklären.
({5})
In den Worten hart, in den Taten weich: Das erinnert
an Ihren Umgang mit dem Stabilitätspakt.
({6})
Deshalb ist es entscheidend, dass es nationale Schuldenbremsen gibt und private Gläubiger beteiligt werden,
dass es Tests für Wettbewerbsfähigkeit und Elemente einer staatlichen Insolvenzordnung gibt und dass die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank - Herr
Steinbrück, da haben Sie recht - wiederhergestellt wird.
Ihre Aufgabe ist Geldpolitik und nicht Fiskalpolitik.
Deshalb schaffen wir heute dieses Instrument, damit
diese Fehlentwicklung bei der Europäischen Zentralbank, die Gelddruckmaschine an der falschen Stelle einzusetzen, gestoppt wird.
({7})
Volker Kauder hat zu Recht herausgestellt, dass durch
unsere Beratungen etwas Modellhaftes für Europa entstanden ist, nämlich eine umfassende Parlamentsbeteiligung. Vielleicht werden noch andere Länder unserem
Beispiel folgen. Ohne den Willen Deutschlands, ohne
den Willen des deutschen Parlaments wird es eine Auszahlung von weiteren Mitteln nicht geben. Die klare
Botschaft ist: Der Souverän, die Vertretung des Volkes,
entscheidet darüber. Das ist auch richtig.
({8})
Wir müssen doch allem, worüber im Dunstkreis von
Tagungen aufgeblasen diskutiert wird, klar entgegentreten. Der Rettungsschirm darf nicht zu einer Investmentbank werden - Stichwort „Hebelwirkung“. Warren
Buffett hat die Hebelprodukte als Massenvernichtungswaffen bezeichnet. Dieser Unfug muss unterbleiben. Wir
sollten diesen Versuchungen widerstehen.
({9})
Wenn wir anders handeln würden, Herr Steinbrück, dann
kämen wir auf die schiefe Ebene. Da sind wir einer Meinung.
({10})
- Nein, Herr Schäuble hat sich dazu klar geäußert. Ich
habe heute Morgen im Deutschlandfunk gesagt: Einem
ehrenwerten Finanzminister wie Wolfgang Schäuble zu
unterstellen, dass er hier tarnt und täuscht, ist unredlich.
Dieser Mann ist in Ordnung und hat unsere volle Unterstützung.
({11})
- Herr Trittin, Sie haben Deutschland das Dosenpfand
beschert. Sie möchten gerne Finanzminister werden. Wir
werden verhindern, dass Sie Europa eine Blechwährung
bescheren werden.
({12})
Wir müssen den Finanzjongleuren ihr Spielzeug wegnehmen. Der Entschließungsantrag der SPD heute enthält einen richtigen Gedanken. Dieser umfasst die Eigenkapitalunterlegung von Risikoprodukten. Das halte
ich für richtig. Darüber sollten wir diskutieren, und dies
machen wir. Das Bundesverfassungsgericht hat für den
Rettungsschirm einen klaren Deckel hinsichtlich der
Rettungsinstrumente gesetzt.
Herr Steinbrück, Sie haben heute ein bisschen an Ihrem Image der Vergangenheit, an Ihrem Heiligenschein
poliert. Das ist verständlich; denn der Wettlauf, wer
Kanzlerkandidat der SPD wird, hat begonnen nach dem
Motto „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der
schönste Sozi im Land?“.
({13})
Okay, das kann man so machen.
({14})
Aber wie war es denn bei der Lehman-Krise? Da haben Sie gesagt: Das ist ein rein amerikanisches Problem.
Dass uns das voll erwischt hat, das haben Sie nicht erkannt.
({15})
Das hat uns viel Zeit gekostet. Dann haben Sie über die
Hypo Real Estate schwadroniert, und an der Börse hat es
gebumst. Also, so doll ist es mit den Erkenntnissen
nicht. Sie sind da sehr selektiv.
({16})
Daraus folgt die klare Erkenntnis: Besserwisser sind
noch keine Bessermacher.
({17})
Sie haben heute vieles von dem, was Sie draußen erzählen, nicht gesagt. Ich zitiere einmal: Griechenland ist
pleite - es ist so langsam Zeit, sich das einzugestehen -;
ohne einen Schuldenschnitt kommt man da nicht heraus;
im Extremfall geht es um ein geordnetes staatliches Insolvenzverfahren. - Wenn der Vizekanzler nur zart andeutet, dass man das nicht völlig ausschließen kann,
wird er von Ihnen massiv beschimpft. Sie predigen das.
({18})
- Sind Sie kein Sozialdemokrat mehr, Herr Steinbrück?
({19})
- Sie sind Steinbrück; das ist bemerkenswert. Sie sind
nicht mehr Sozialdemokrat; Sie sind Steinbrück.
({20})
Möglicherweise ist das ein Fortschritt. Herzlichen
Glückwunsch!
({21})
Aber, Herr Steinbrück, wo waren Sie, wo war Herr
Steinmeier, als Herr Gabriel, Ihr Parteivorsitzender, die
SPD sich bei dem ersten Hilfspaket für Griechenland hat
kraftvoll enthalten lassen? Das ist eine tolle Haltung:
Nicht Ja, nicht Nein; man enthält sich; „Ich weiß nicht,
was ich wissen will“, meine Damen und Herren.
({22})
So kann man das nicht machen.
({23})
Sie stimmen heute zu, weil es ja gar nicht anders geht.
({24})
Vorher haben Sie gesagt: Ich weiß nicht. Vielleicht sagen
Sie morgen wieder Nein. Das ist Zickzack. Ihre Genossen in Europa sagen Nein; Sie sagen: Es ist notwendig.
({25})
Irgendwann müssen Sie sich einmal entscheiden, was
Sie wollen, welche Meinung Sie haben, und Sie dürfen
die Menschen nicht nur verwirren.
({26})
Thema Euro-Bonds. Das ist in Ihrem Entschließungsantrag gar nicht mehr drin. Uns haben Sie dafür beschimpft, dass wir gegen diese Vergemeinschaftung der
Schulden sind. Ich empfehle Ihnen, den Arbeitnehmern
an den Werkstoren einmal zu sagen, was auf sie zukommt, wenn Deutschland für sämtliche Schulden Europas geradesteht. Das ist wie eine Enteignung breiter
Teile der deutschen Bevölkerung.
({27})
Ihre Basis lehnt das ab. Das Bundesverfassungsgericht lehnt das ab.
({28})
Die Wirtschaftsweisen lehnen es ab. Diese neue Form
von Zinssozialismus ist der falsche Weg.
Stellen Sie sich hier einen Moment vor, wir hätten
jetzt in Deutschland eine rot-grüne Regierung. Dann wären wir schon längst in der Transferunion, in den Transfermechanismen Europas. Es ist ein Glücksfall, dass
jetzt eine bürgerliche Regierung dran ist.
({29})
Solche Regierungen haben immer die Wegmarken der
Republik gesetzt: bei den europäischen Verträgen, bei
der Wiedervereinigung und jetzt bei der Neuausrichtung
Europas.
({30})
Eine rot-grüne Regierung wäre ein hohes Risiko für die
europäische und deutsche Entwicklung. Deshalb müssen
Sie dort bleiben, wo Sie sind: in der Opposition.
({31})
Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich beantworte keine Zwischenfragen. Ich diskutiere am Stück.
Es war Gerhard Schröder, der den Euro als „kränkelnde Frühgeburt“ bezeichnet hat. Die Entscheidungen
dieses Kanzlers wirken bis heute und sind Mitursache
für die europäische Krise: Ihre Aufnahme Griechenlands, Ihre Fehlentscheidung bezüglich Griechenlands,
Ihre Brechung des Stabilitätspaktes, das sind doch die
Ursachen der heutigen Probleme. Sie sollten in Demut
hier sitzen, die Köpfe nach unten senken und keine dicken Backen machen.
({0})
Die Augen der Welt
({1})
bezüglich der Euro-Rettung sind auf Deutschland gerichtet,
({2})
und zwar deshalb, weil Deutschland wieder Powerhouse der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Das ist ein
Ergebnis des Fleißes der Menschen in Deutschland, aber
auch der richtigen Politik dieser Koalition.
({3})
Zu Zeiten von Rot-Grün waren wir der kranke Mann
Europas. Heute sind wir das Powerhouse.
Meine Damen und Herren, es geht weit über Europa
hinaus. Wir müssen sehen, dass weltweit neue Strategien
entwickelt werden. Die Chinesen wollen ihre Währung
in den Vordergrund stellen. Außerdem spielt die Dollardominanz eine Rolle. Die Äußerungen des Präsidenten
der USA der letzten Tage - auch wenn es Wahlkampf
war - haben bei mir den Eindruck erweckt, dass die
Amerikaner möglicherweise gar kein Interesse daran haben, dass der Euro in Europa eine Erfolgsgeschichte ist.
Umso wichtiger ist es, dass wir das Richtige machen.
Die Bundeskanzlerin hat klare Signale zur Änderung der
europäischen Verträge gesetzt. Wenn jemand Geld
nimmt, muss er Kontrolle akzeptieren. Wenn er die Ursachen nicht beseitigt, muss es Durchgriffsrechte geben.
Dann muss er temporär einen Teil seiner Souveränität an
Europa abtreten. Nur die Hand aufzuhalten und die Ursachen der Fehlentwicklung nicht zu beseitigen, ist nicht
solidarisch. Das ist unfair. Deshalb muss das ein Ende
haben.
({4})
Die Chance, mit dem Stabilitätspakt II den ESM neu
auszurichten, müssen wir nutzen. Der ESM könnte eine
Art Wettbewerbfähigkeitsminister sein. Wir brauchen
keinen europäischen Finanzminister. Wir brauchen klare
Strukturveränderungen, die Europa voranbringen.
Wir haben lange miteinander gerungen. Wir haben
diskutiert, und wir haben uns entschieden. Wir stehen
- und das ist gut so -, und wir werden auch weiter stehen. Wir sind da, und wir bleiben da. Wir werden auch in
Zukunft für die richtigen Ziele kämpfen. Es ist gut, dass
Deutschland Rot-Grün erspart bleibt.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Brüderle, ich habe Ihnen wieder gerne zugehört.
({0})
Ich muss Ihnen allerdings eines sagen: Wenn Sie weiter
so leidenschaftlich sind, bekommen Sie bald einen Herzinfarkt. Passen Sie etwas auf!
Herr Brüderle, mit Ihrer Rede haben Sie den Wahlkampf eröffnet. Sind Sie sich so sicher, dass es Neuwahlen gibt, dass Sie glauben, jetzt schon solche Attacken
reiten zu müssen? Das ist wirklich interessant.
({1})
Herrn Steinbrück habe ich natürlich auch gern zugehört. Herr Steinbrück, Sie haben festgestellt, die CSU
werde heute zustimmen und morgen erklären, warum es
falsch sei. Sie haben mir aber heute schon erklärt, dass es
falsch sei und Sie trotzdem zustimmen. Darauf wollte
ich lediglich einmal hingewiesen haben.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat eine höhere Parlamentsbeteiligung gefordert. Herr Kauder hat erklärt,
diese Vorgabe sei übererfüllt. Ich sage Ihnen: Ich halte es
für einen Skandal, dass schon wieder ein Geheimausschuss gebildet werden soll, der entscheidet, ob Tranchen aus dem aufgestockten Rettungsfonds ausbezahlt
werden.
({3})
Was heißt das denn? Die Mitglieder dieses Geheimausschusses dürfen noch nicht einmal die anderen Abgeordneten, geschweige denn die Bevölkerung informieren. Hierbei geht es aber um das Geld der Bevölkerung.
Es ist unerhört, dass die Bevölkerung nicht informiert
wird, wenn dieses Geld ausgegeben wird. Das ist nicht
hinnehmbar. Das ist keine wirkliche Parlamentsbeteiligung.
({4})
Der Präsident der USA hat erklärt, dass die Krise in
Europa der ganzen Welt Angst mache. Außerdem hat er
gesagt, dass die Regierungen in Europa nicht rasch genug
und nicht konsequent genug entschieden hätten. Jeder
weiß, dass er damit in erster Linie die deutsche Bundesregierung gemeint hat. Weiter hat Herr Obama gesagt,
dass wir hier in Europa nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus der Krise des Jahres 2008 gezogen hätten.
Wir hätten uns den Herausforderungen, um die es eigentlich geht, nicht gestellt. Ich weiß nicht, ob Obama über
WikiLeaks bei uns abschreibt, aber auf jeden Fall ist es
genau das, was wir Ihnen seit geraumer Zeit sagen. Nun
sagt es selbst der amerikanische Präsident. Vielleicht hören Sie ja wenigstens ihm zu.
({5})
Am letzten Wochenende fanden zwei Jahrestagungen
statt, zum einen vom Internationalen Währungsfonds
und zum anderen von der Weltbank. Da gab es, glaube
ich, zwei wichtige Momente. Erstens hat der US-Finanzminister erklärt, dass die Staatsschulden und der Bankenstress in Europa größte Risiken für die Weltwirtschaft nach sich ziehen. Zweitens hat die Direktorin des
Internationalen Währungsfonds, Madame Lagarde, gefordert, was wir ebenfalls seit Jahren fordern: die großen
privaten Banken öffentlich-rechtlich zu gestalten.
({6})
Das sagt die ehemalige, konservative Finanzministerin
Frankreichs!
({7})
Wir können diese Banken nicht privat lassen, weil die
Abhängigkeit der Regierungen und Parlamente von den
großen privaten Banken politisch, demokratisch und
auch wirtschaftlich unerträglich ist.
({8})
Aber Sie vollziehen auch nicht die weiteren Schritte,
die erforderlich sind. Sie alle erklären immer, wir
bräuchten gegen die privaten amerikanischen Ratingagenturen endlich eine öffentlich-rechtliche Ratingagentur in Europa. Wo bleibt sie denn? Wo ist Ihr Vorschlag?
Wo ist das Konstrukt?
({9})
Nichts passiert diesbezüglich! Die Frau Bundeskanzlerin, der französische Präsident - alle sprechen jetzt von
der Finanztransaktionsteuer. Nun kommt der EU-Chef
Barroso und sagt: 2014 soll sie eingeführt werden. Darf
ich Sie daran erinnern, dass dieser Bundestag in der
Lage war, zur Rettung der Banken innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen? Für
die Finanztransaktionsteuer aber brauchen Sie sechs
Jahre. Noch glaubt kein Mensch, dass sie 2014 kommt.
({10})
Wir brauchen - und das muss eines Tages auch die
FDP begreifen - die Unabhängigkeit der Euro-Staaten
von den großen privaten Banken, das heißt: vom derzeitigen Finanzmarkt. Wie könnten wir das erreichen? Wir
könnten das erreichen, wenn wir endlich eine öffentlichrechtliche Bank in Europa schüfen - oder die Europäische Zentralbank dazu machten -, die berechtigt sein
soll - ({11})
- Kommen Sie mir nicht mit Ihrer blöden WestLB, die
Sie mit in den Sumpf gefahren haben, und zwar weil Sie
verlangt haben, dass sie wird wie die Deutsche Bank,
statt zu sagen, sie soll eine öffentlich-rechtliche Bank
sein.
({12})
Die Sparkassen sind öffentlich-rechtlich, und die sind
nicht unser Problem. - Also zurück: Diese öffentlichrechtliche europäische Bank könnte dann an Staaten wie
Griechenland, Italien, Irland, Spanien oder Portugal
zinsgünstige Kredite geben. Dann wären sie nicht mehr
auf die privaten Banken angewiesen. Dann könnten die
privaten amerikanischen Ratingagenturen diese Staaten
sogar herabstufen, solange sie wollen - es änderte ja
nichts daran, dass sie zinsgünstige Kredite von dieser
Bank bekämen. Dann wäre das Problem gelöst. Warum
gehen Sie denn nicht diesen Weg? Stattdessen machen
Sie die privaten Banken täglich mächtiger.
({13})
Der Höhepunkt ist, dass eine private Bank bei der Europäischen Zentralbank - also von unser aller Geld, dem
Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aller EuroStaaten - Kredite für 1,5 Prozent Zinsen bekommt. Anschließend gibt sie das Geld weiter an Griechenland für
18 Prozent Zinsen. Das ist eine unvertretbare Zocke, die
Sie zulassen, gegen die Sie nichts unternehmen!
({14})
Jetzt passiert Folgendes: Herr Schäuble, in der EUKommission gibt es immer mehr Menschen, die das
Ganze so sehen wie die Linke in Deutschland. Die sagen: Das geht so nicht weiter. Sie wollen eine europäische öffentlich-rechtliche Bank, die entsprechende Kredite gewähren kann. Warum? Weil sie gemerkt haben,
dass die Abhängigkeit von den großen Privatbanken ins
Fiasko führt; weil sie gemerkt haben, dass die Demokratie schwer beschädigt wird.
Es gibt zwei Gegner in der EU-Kommission: Bundeskanzlerin Merkel und Bundesfinanzminister Schäuble.
Ich bitte Sie, doch mal zu erklären: Was haben Sie denn
dagegen, ein Primat der Politik über die Banken wiederherzustellen? Was haben Sie denn gegen mehr Demokratie, gegen die Unabhängigkeit der Staaten von den privaten Finanzmärkten, gegen eine Unabhängigkeit der
Euro-Staaten gegenüber den Privatbanken? Was haben
Sie dagegen? Warum gehen Sie auf die Vorschläge der
anderen Mitglieder der EU-Kommission nicht ein?
Übrigens, diese Unabhängigkeit erreichten wir natürlich schneller und konsequenter, wenn wir die Banken
dezentralisierten und sie eben, wie es auch Frau Lagarde
gefordert hat, öffentlich-rechtlich gestalteten. Ich sage es
Ihnen noch einmal - ich habe es schon im Zusammenhang mit den Landesbanken gesagt -: Die Sparkassen in
Deutschland waren und sind nicht unser Problem und
werden es nicht sein. Selbst Brüssel hat inzwischen aufgehört, über die Sparkassen zu meckern. Hätten wir die
Sparkassen nicht gehabt, wären wir in einer viel größeren Katastrophe.
({15})
Wenn dieser staatliche Weg beschritten würde, könnte
übrigens ein wirklicher Schuldenschnitt erfolgen. Ich
weiß: Darüber redet noch keiner gern; aber - ich sage es
Ihnen - er wird kommen. Jetzt sage ich Ihnen, was aus
unserer Sicht hinter der Ausweitung des Rettungsschirms steht - wir glauben es sehr ernsthaft; darüber
wird immer mehr gesprochen und niemand kann es widerlegen -: Über kurz oder lang wird es einen Schuldenschnitt geben. Wenn es einen Schuldenschnitt gibt, ist
die Auszahlung der zweiten Tranche von 109 Milliarden
Euro an Griechenland gar nicht mehr erforderlich, weil
Griechenland dann sowieso nur noch die Hälfte der
Schulden hat etc. Dann haben aber die großen Privatbanken riesige Verluste. Wer erstattet sie? Der Rettungsschirm. Deshalb wird er aufgestockt. Ich sage Ihnen: Das
ist ein Rettungsschirm nicht für die Griechinnen und
Griechen, sondern für die Banken. Genau deshalb sagen
wir Nein dazu.
({16})
Lieber Herr Brüderle, lieber Herr Kauder, Sie haben
wieder mit großer Leidenschaft Euro-Bonds abgelehnt.
Ich finde das unfair, und zwar deshalb, weil Sie der Bevölkerung nicht die Wahrheit sagen. Ich habe es hier
schon am 7. September gesagt - ich muss mich aber
gleich korrigieren, weil inzwischen schon wieder drei
Wochen vergangen sind und mehr passiert ist -: Die Europäische Zentralbank, mithin das Eigentum der Steuerzahlerinnen und -zahler aller Euro-Staaten, damit vornehmlich auch der deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler, hat
Staatsschulden aufgekauft; damals habe ich gesagt: „im
Wert von 129 Milliarden Euro“, und zwar „von Griechenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien“. Ich
habe Ihnen auch gesagt: „Den privaten deutschen Banken und Versicherungen hat sie ein Drittel dieser Staatsschulden abgekauft.“ Jetzt gehören sie alle uns. Da sagen
Sie, es gebe keine Euro-Bonds? Damit haften wir doch
dafür.
In den drei Wochen ist aber etwas passiert, Herr
Brüderle - Sie waren an der Regierung -: Die Europäische Zentralbank hat weitere Staatsanleihen gekauft.
Nun besitzt sie solche im Werte von 150 Milliarden
Euro. Warum sagen Sie denn der Bevölkerung nicht,
dass das längst unser Eigentum ist? Da haben Sie doch
die Euro-Bonds indirekt eingeführt. Lassen Sie doch die
Diskussion um etwas, das längst Realität geworden ist.
({17})
Wir können aus diesen Gründen der Ausweitung des
Rettungsschirms nicht zustimmen. Aber es gibt weitere
Gründe: Bei Griechenland, Spanien und den anderen
Ländern wird ein völlig falscher Weg beschritten. Man
handelt nicht nur sozial ungerecht, sondern schwächt
auch die Wirtschaft, senkt die Einnahmen des Staates
und verbuddelt damit auch unser Geld. Diese Länder
brauchen keinen Abbau der Investitionen, sondern mehr
Investitionen.
({18})
Sie brauchen keinen Abbau von Löhnen, Renten und Sozialleistungen, sondern eine Steigerung, auch um die
Kaufkraft zu stärken und damit die Binnenwirtschaft zu
beleben. Nur über eine solche Politik flössen Steuern an
die Staaten; damit flösse das Geld, das kreditiert wird,
auch an uns zurück. Alles andere - der gegenteilige
Weg, den Sie beschreiten - heißt auch, die deutschen
Steuergelder zu veruntreuen. Sollte Griechenland pleitegehen oder in der Nähe der Pleite stehen, wird der Rettungsschirm, den sie heute ausweiten, eben nicht ihm zugutekommen, sondern den privaten Banken und - ich
muss ergänzen - den Fonds, Versicherungen und Hedgefonds. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften
dafür.
Aber auch das reicht noch nicht. Es gibt Vermögende
in Europa. Über dieses Vermögen muss hier gesprochen
werden.
({19})
Denn die weltweite Verteilung des Vermögens, auch in
Europa und Deutschland, wird immer ungerechter. Eine
Linke ist keine Linke, wenn sie nicht Eigentumsgerechtigkeit fordert; sie wird sonst von keiner Fraktion im
Bundestag gefordert.
({20})
Ich sage Ihnen dazu etwas: Sie haben festgelegt, dass die
Vermögen der Vermögenden in Europa und Deutschland
nicht mit einem halben Cent zur Finanzierung der gesamten Krise herangezogen werden; die Vermögenden
haben die Krise verursacht und sind dadurch reich geworden, aber sie müssen keinen halben Cent von ihrem
Vermögen dafür zahlen. Das, was Sie hier an Ungerechtigkeit organisieren, ist nicht hinnehmbar.
({21})
Ich sage es noch einmal: Die Staatsschulden der EuroStaaten belaufen sich auf 10 Billionen Euro. Das Vermögen nur der Vermögensmillionäre der Euro-Zone beträgt
7,5 Billionen Euro.
({22})
- Nein, nein. Ich sagte: eine angemessene Steuer. Das ist
nicht Wegnehmen. Seien Sie doch nicht so plump! Machen Sie doch einmal eine richtige Steuer! Dann können
wir gerne miteinander reden und über die Höhe verhandeln.
({23})
Die Staatsschulden in Deutschland belaufen sich auf
2 Billionen Euro. Das Vermögen der 10 Prozent, die den
reichsten Teil der Bevölkerung ausmachen, beläuft sich
auf 3 Billionen Euro. Die haben 1 Billion Euro mehr, als
wir insgesamt an Staatsschulden haben. Diese Tatsache
muss doch einmal genannt werden.
({24})
Ich gebe zu: Ich war etwas naiv. Ich habe mich geirrt.
Ich dachte, in der Finanzkrise nimmt die Zahl der Vermögensmillionäre ab; wie ich darauf gekommen bin,
weiß ich heute gar nicht mehr. Die Zahl hat aber zugenommen. Es sind jetzt 51 000 mehr. Wir haben jetzt
861 000 Vermögensmillionäre, die, wie gesagt, nicht mit
einem halben Cent haften.
Herr Brüderle, ich bitte Sie um eines - Sie spucken
hier schließlich immer große Töne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer -: Erklären Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und
Rentnern, den Arbeitslosen sowie den Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmern, weshalb die Löhne, die
Renten und Sozialleistungen sowie die Einnahmen seit
zehn Jahren real zurückgeschraubt wurden, während Sie
das Vermögen der immer zahlreicher werdenden Vermögensmillionäre nicht mit einem halben Cent belasten. Erklären Sie es! Erklären Sie es der Bevölkerung!
({25})
Nun komme ich zum letzten Punkt. Seitens der Regierung - das gilt insbesondere für Sie, Frau Bundeskanzlerin - fehlt eine notwendige Garantieerklärung. Ich
möchte an Folgendes erinnern: Bei der ersten Finanzkrise
im Jahre 2008 sind Sie zusammen mit Ihrem damaligen
Bundesfinanzminister vor das Mikrofon getreten - das
war übrigens die Zeit, als Sie Herrn Steinbrück noch zugeklatscht haben; das haben Sie auch schon vergessen und haben eine Garantieerklärung für die Sparerinnen
und Sparer abgegeben. Sie haben gesagt: Die Spareinlagen werden im Rahmen der Krise nicht gekürzt. Warum
machen Sie heute nicht etwas Ähnliches? Die Frage wird
man doch stellen dürfen.
({26})
Wenn der Rettungsschirm in Anspruch genommen
wird, haftet die deutsche Bevölkerung für 211 Milliarden
Euro. Die Deutsche Bank hat ausgerechnet, dass sich das
Ganze durch die Zinslasten, die noch hinzukommen, auf
bis zu 400 Milliarden Euro steigern kann. Sie organisieren, dass dieser Fall eintritt.
({27})
Es stellt sich mir die Frage, wer das bezahlen soll. Wir
könnten es durch eine Millionärsteuer, einen höheren
Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer, eine Finanztransaktionsteuer, eine höhere und gerechtere Körperschaftsteuer und eine endlich nennenswerte Bankenabgabe finanzieren. Oder müssen etwa wieder die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen
und Rentner, die Arbeitslosen und die Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer das Ganze bezahlen? Auf
diese Frage antwortet niemand aus der Regierung. Es
wird aber höchste Zeit, dass Sie darauf antworten.
({28})
Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte, dass Sie heute
eine Garantieerklärung abgeben und den Betroffenen sagen, dass sie nicht dafür bezahlen müssen.
({29})
Sie haben noch etwas Zeit, Frau Bundeskanzlerin. Wenn
Sie diese Garantieerklärung nicht vor der Ratifizierung
der entsprechenden Verträge abgeben, dann wissen alle
Bürgerinnen und Bürger, wen es treffen wird, wenn der
Haftungsfall eintritt.
({30})
Ich sage Ihnen: Es gibt wieder einen Riesenunterschied zwischen SPD und Grünen auf der einen und uns
auf der anderen Seite. Wir verlangen die Garantieerklärung. Sie verlangen sie nicht. Warum eigentlich nicht?
Warum machen Sie das nicht wenigstens zur Bedingung
Ihrer Zustimmung?
({31})
Nun gibt es auch Abgeordnete von FDP und Union,
deren Gewissen ein Nein verlangt. Aber sie stehen vor
der Frage, was sie höher bewerten: ihr Gewissen oder
die Angst vor Neuwahlen. Wir werden es nachher sehen.
Auf das Ja von SPD und Grünen können Sie sich verlassen. Unser Nein ist sicher. Ich weiß schon jetzt, dass
Herr Trittin uns dann als europafeindlich bezeichnen
wird. Deshalb möchte ich ihm sagen, dass er auch in diesem Punkt schwer irrt.
({32})
Ich sage Ihnen, warum er sich irrt: Ich weiß aufgrund
der Geschichte meiner Familie sehr gut, dass die vergangenen Jahrhunderte von Kriegen zwischen den Ländern
in Europa, die heute Mitgliedsländer der Europäischen
Union sind, gezeichnet waren. Der große Fortschritt der
Europäischen Union ist, das verhindern zu können. Das
ist eine zentrale Frage, an der in Deutschland niemand
vorbeikommt. Das begrüßen wir in jeder Hinsicht.
({33})
Wir wissen auch, dass die EU für die Wirtschaft wichtig
ist. Auch das muss man uns nicht erklären. Aber wir haben bei der Einführung des Euro vor Fehlentwicklungen
gewarnt. Sie waren ja alle schlauer, auch die Grünen,
und haben gesagt: Nichts davon wird passieren. - Vielleicht schauen Sie sich das noch einmal an und nehmen
zur Kenntnis, dass unsere Warnungen gestimmt haben
und nicht die Glorifizierung der gesamten Vorgänge, die
Sie an den Tag gelegt haben.
({34})
Ich sage Ihnen auch: Wir wollen die EU. Wir wollen
auch den Euro. Wir machen ja Vorschläge zu seiner Rettung, aber keine unsozialen. Das ist der Unterschied. Wir
wollen sogar mehr Europa. Jetzt nenne ich Ihnen den
Unterschied - der Unterschied ist ganz klar -: Sie alle
wollen ein Europa der Banken. Wir aber wollen ein Europa der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger, der Bevölkerungen. Das ist der eigentliche Unterschied.
({35})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Gregor Gysi, wer für Europa ist, wer für internationale
Solidarität ist, der darf sich heute nicht einem Instrument
verweigern, das dazu dient, Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor der Spekulation an den Finanzmärkten
in Schutz zu nehmen.
({0})
Das ist das Versagen von Solidarität, und das ist nicht
europäisch; das ist national und klein und borniert.
({1})
Genau darum geht es. Es geht nicht darum, ob wir die
nächste Tranche für Griechenland zahlen.
({2})
Es geht um etwas, das diese Bundesregierung um mehr
als ein Jahr verschleppt hat. Es geht darum, wie dieses
gemeinsame Europa künftig mit solchen Krisen besser
umgehen kann, und zwar bevor man Hunderttausende
Beamte entlassen muss, bevor man die Pensionen kürzen
muss. Um solche Instrumente geht es. Die sollen heute
hier verabschiedet werden. Es geht darum, liebe Freundinnen und Freunde von der Linken, dass Spekulationen
gegen den Euro und Spekulationen gegen unser gemeinsames Europa erschwert und verhindert werden.
({3})
Diese Aufgabe wird nicht länger einer getriebenen
Regierung überlassen. Künftig muss die Bundesregierung den Bundestag fragen. Wir müssen zustimmen.
Künftig gilt Schweigen nicht mehr als Zustimmung. Das
ist ein Gewinn an demokratischer Souveränität. Das hat
dieses Haus gegen diese Regierung durchgesetzt.
({4})
Diese Diskussion findet in einem bemerkenswerten
Umfeld statt. Noch nie in der Geschichte der Europäischen Union war Deutschland so isoliert wie heute.
({5})
Sie haben über ein Jahr lang den Ankauf von Staatsanleihen durch die Stabilisierungsfazilität blockiert, angestiftet von den Neoliberalen und den Europafeinden aus
Bayern in ihren eigenen Reihen. Sie haben sich öffentlich gegen einen europäischen Währungsfonds ausgesprochen.
Als Nächstes geht es um den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Er stellt die Instrumente für eine Staatsinsolvenz zur Verfügung. Er ermöglicht einen Schuldenschnitt mit privater Gläubigerbeteiligung. Und was passiert? Während die Welt, die USA, China und der Rest
Europas, darauf drängen, dass das möglichst schnell in
Kraft gesetzt wird, höre ich heute Morgen von Herrn
Seehofer und zuvor von Herrn Brüderle: Nein, so schnell
geht das nicht; da müssen wir noch ein bisschen nachbessern und nachdenken. Was passiert mitten in der
Krise? Diese Koalition spielt erneut auf Zeit.
Liebe Frau Bundeskanzlerin, Sie haben versucht, dieses Auf-Zeit-Spielen bei Günther Jauch als Politik der
kleinen Schritte zu verharmlosen. Aber ich sage Ihnen:
Dieses Zaudern und Zögern, diese kleinen Schritte haben die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
viel Geld gekostet, weil sie die Krise verlängert und damit verteuert haben. Das ist das Ergebnis der kleinen
Schritte. Diese Krise ist zu groß für kleine Schritte und
offensichtlich zu groß für Sie.
({6})
Ich neige ja manchmal auch zu Lautstärke, lieber Kollege Brüderle. Aber bei Ihrer Lautstärke habe ich mich
gefragt: Woran mag das wohl liegen? Ich will es Ihnen
sagen. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben?
Nicht nur Gewerkschaften, sondern auch der Bundesverband der deutschen Industrie, die Industrie- und Handelskammern und die deutschen Arbeitgeber mussten öffentlich einen Brief an die Abgeordneten Ihrer Koalition
schreiben, um sie aufzufordern, der Erweiterung des
Euro-Rettungsschirms zuzustimmen. Man muss sich das
auf der Zunge zergehen lassen. Ausgerechnet diejenigen,
die immer Schwarz-Gelb wollten, die Ihren Wahlkampf
mit Millionen gesponsert haben,
({7})
müssen nun für eine Kanzlermehrheit für den Rettungsschirm werben. Ich glaube, da haben Sie eine Erklärung
für Ihre Lautstärke. Sie wissen, dass Sie sich fürchterlich
verrannt haben, meine Damen und Herren.
({8})
Ja, es ist wahr. Es gibt keine gemeinsame Währung
ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Es war ein
sehr harter Kampf, lieber Kollege Kauder, den das Europäische Parlament und die Kommission zu führen hatten, um diesen neuen Wachstums- und Stabilitätspakt auf
den Weg zu bringen. Interessant ist nur, wenn Sie denen
jetzt auch noch gratulieren. Gegen wen musste dieser
Kampf geführt werden? Er musste geführt werden gegen
die deutsche Bundesregierung; denn sie war es, die nicht
wollte, dass auch die Überschussländer in Ergänzung zu
den Regeln dieses Stabilitäts- und Wachstumspakts
überwacht werden. Da haben Sie eine krachende Niederlage erlitten, und das ist gut so. Es ist gut so, dass Sie
sich nicht haben durchsetzen können, sondern das Europäische Parlament.
({9})
Es ist nämlich so, dass die Defizite der einen die
Überschüsse der anderen sind.
({10})
- Lieber Kollege Krichbaum, Sie wissen das als Vorsitzender des Europaausschusses sehr gut. Es ist an der
Zeit, dass Deutschland seine gravierende Nachfrageschwäche endlich behebt. Es ist Zeit dafür. Ich sage Ihnen, es ist deswegen Zeit dafür, weil nur das dazu führen
wird, dass diese Krise, die keine Krise der Defizitländer
ist, sondern eine Krise des gesamten Euro-Raumes,
überwunden wird. Das ist der Grund, warum das Parla15218
ment recht hatte und die deutsche Bundesregierung diese
Auseinandersetzung zu Recht verloren hat.
({11})
Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung.
Aber José Manuel Barroso hatte recht, als er gestern
sagte: Die Kommission ist die wirtschaftspolitische Regierung der Union. - Ihr Versuch, Frau Merkel, die
Kommission in dieser Frage zu entmachten, ist schädlich. Wir brauchen starke, demokratisch legitimierte europäische Institutionen. Das ist der Weg zu mehr Souveränität in einer globalisierten Welt.
({12})
Meine Damen und Herren, wer der Krise begegnen
will, der muss sich auch einmal klarmachen, um was für
eine Krise es sich handelt. Diese Krise ist keine staatliche Verschuldungskrise. Diese Krise begann 2007, als
Michel Glos - ich will Ihnen nicht ersparen, zu sagen,
dass auch Herr Steinbrück zu dieser Zeit im Kabinett gesessen hat - noch gesagt hat, das könnte nie zu uns hinüberschwappen. Diese Krise hat uns 6 Prozent des
Bruttosozialprodukts gekostet. Sie hat in Deutschland allein in einem Jahr 80 Milliarden Euro neue Staatsschulden verursacht. Sie hat ein Land wie Spanien, das bei der
Staatsverschuldung immer besser war als Deutschland,
mittlerweile an die Kante der Maastricht-Kriterien gebracht.
Das Schlimme ist: Diese Krise ist nicht beendet. Bis
heute haben Sie es nicht geschafft, die Krise der Banken
von der Schuldenkrise der Staaten zu trennen. Es gibt
keine schlagkräftige europäische Bankenaufsicht. Wo ist
Ihre Initiative für ein europäisches Insolvenzrecht? Warum gibt es immer noch keine Schuldenbremse für Banken? Wir brauchen sie so dringend wie für Staaten!
({13})
Es gibt Alternativen - nicht die von Herrn Gysi; vielleicht ist das für Sie kompatibler -: Schauen Sie einmal
in die Schweiz. Die Schweiz hat ihre beiden Großbanken
zu saftigen Erhöhungen des Eigenkapitals gezwungen.
Bei uns kann die Deutsche Bank 4 Milliarden Euro Gewinn machen, ohne dass sie gezwungen wird, ihr Eigenkapital zu erhöhen.
({14})
Sie sabotieren Maßnahmen gegen Spekulationen. Angeblich sind Sie für eine Finanztransaktionsteuer. Gestern hat die Kommission ihren Vorschlag vorgelegt. Die
erste Reaktion von Herrn Brüderle? Er ist gegen diese
Finanztransaktionsteuer. Liebe Frau Merkel, ich frage
Sie: Wer hat in Ihrer Koalition eigentlich die Richtlinienkompetenz,
({15})
Sie oder der rheinland-pfälzische Dampfplauderer?
({16})
Meine Damen und Herren, Ihr Zickzackkurs hat die
Krise verlängert, verschlimmert und verteuert. Ohne
diese regierungsunfähige Koalition hätten wir schon
lange einen dauerhaften Krisenmechanismus, und ohne
sie wären wir bei der Errichtung einer europäischen
Wirtschaftsregierung weiter. Nun sollen wir sogar die
Urabstimmung bei der FDP abwarten. Stellen Sie sich
einmal vor, was passieren würde, wenn sich die Mitstreiter von Herrn Schäffler durchsetzen würden und sich die
größte Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union gegen die Installation eines permanenten Rettungsmechanismus stellen würde. Ich möchte mir das nicht vorstellen; denn das würde für Deutschland unendlich teuer
werden. Das muss verhindert werden.
({17})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
({18})
Die Welt schaut zurzeit auf dieses Land. Müsste sie sich
nur auf die Bundesregierung verlassen, wäre sie verlassen. Dass sich unsere Nachbarn auf Deutschland verlassen können, liegt auch daran, dass es in diesem Hause
eine verantwortungsbewusste und europaverlässliche
Opposition gibt.
({19})
Die bürgerlichen Tugenden, die Sie so gerne in Anspruch nehmen - dazu gehört Verlässlichkeit -, haben
sich in Ihrem Koalitionszoff schon lange in schwarz-gelben Rauch aufgelöst. Damit muss Schluss sein. Deutschland hat eine Verantwortung. Wir müssen dieser Verantwortung in Europa bei dieser Krise gerecht werden. Das
geht nicht mit dem Dauerzoff in Ihren Reihen.
({20})
Das Wort erhält nun der Bundesminister der Finanzen
Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen diese Debatte in einer Zeit, in der die
Menschen in unserem Lande mit großen Sorgen auf das,
was wir hier zu behandeln und zu entscheiden haben,
schauen. Nicht nur die Menschen in unserem Lande,
sondern auch die Menschen in vielen anderen Ländern in
Europa und auf anderen Kontinenten dieser Welt machen sich Sorgen, dass sich die unruhige Lage auf den
Finanzmärkten - anders als 2008, aber in einer vergleichbaren Weise - zu einer großen Krise ausweiten
könnte. Das hat auch die Tagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in der vergangenen Woche sehr geprägt. Wir müssen uns dieser Verantwortung
bewusst sein.
Wir müssen uns im Übrigen auch bewusst sein - ich
glaube, das gilt auch für die Art und Weise, wie wir diese
Debatte führen, nämlich mit Respekt vor den Argumenten des einen und den Bedenken des anderen; denn keinem fällt diese Entscheidung leicht -, dass sich die große
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande
fragt: Ist die Politik in der Lage, diese Entwicklungen zu
steuern? Sind die Entscheidungen, die wir treffen, zu
verantworten? Haben wir die Chance, das, was wir in
Jahrzehnten erreicht haben, für die Zukunft zu sichern?
Es ist wichtig, dass man klarmacht: Wir haben im vergangenen Jahr, in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai
2010, beschlossen, übergangsweise eine Finanzstabilisierungsfazilität in Europa zu schaffen, die ermöglichen
soll, Ansteckungsgefahren zu bekämpfen, bis wir, um
den Zeitraum zu überbrücken, eine dauerhafte Regelung
in Europa zustande bringen. Das braucht in Europa
manchmal mehr Zeit, als wir für wünschenswert halten;
aber es ist so.
Diese ist auf ein Volumen von 440 Milliarden Euro
festgelegt worden. Diese 440 Milliarden Euro werden
durch die Entscheidungen, die wir jetzt in nationale Gesetzgebung umsetzen, bereitgestellt. Die Mechanik dieser Finanzstabilisierungsfazilität ist so ausgestaltet, dass
wir unter der Bedingung der Bewertung mit der höchsten
Bonitätsstufe nur dann 440 Milliarden Euro - dieser Betrag ist die Obergrenze - auf den Anleihemärkten aufnehmen können, wenn die Garantien der Länder, die
über diese Bonität verfügen, entsprechend aufgestockt
werden. Deswegen beträgt der deutsche Garantierahmen
211 Milliarden Euro; er wird nicht erhöht und steht nicht
zur Debatte. Das ist die Entscheidung, die getroffen
wurde.
Im Übrigen treffen wir heute auch die Entscheidung
- der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, hat
das ausgeführt -, dass in Zukunft alle Entscheidungen in
diesem Zusammenhang - niemand weiß, was die Zukunft bringt; das ist immer so gewesen - der Zustimmung des Deutschen Bundestags bedürfen. Insofern
sollten wir uns nicht gegenseitig fragen: Was kommt als
Nächstes? Wer hat dies oder jenes vor? Entweder führt
dies zu Verunsicherung oder es ist unseriös. In Wahrheit
ist es auch unanständig.
Herr Kollege Schneider, da gestern Vormittag unter
den Sprechern im Haushaltsausschuss verabredet worden ist, dass die persönliche Anwesenheit des Bundesfinanzministers im Haushaltsausschuss nicht erwartet
wird, sollte man abends nach der Sitzung nicht das Gegenteil sagen. Das ist eine Form der Diffamierung, die
ich persönlich für nicht in Ordnung halte.
({0})
Es wird auch nichts vergeheimnist und verschwiegen.
({1})
Natürlich darf man aber nicht zu jedem Zeitpunkt jede
Spekulation auf dem Markt austragen.
Herr Kollege Oppermann, von der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, die ein Gesamtvolumen von
440 Milliarden Euro hat - auch dazu braucht es keine
Aufforderung; die entsprechenden Zahlen sind oft genug
im Deutschen Bundestag genannt worden -, sind bisher
durch das Programm für Portugal insgesamt 26 Milliarden Euro und durch das Programm für Irland insgesamt
17,7 Milliarden Euro zulasten der EFSF belegt worden.
Davon wurden jeweils die bisherigen Raten ausbezahlt,
nicht mehr und nicht weniger. Das ist im Haushaltsausschuss zu jeder Zeit dargelegt worden. Hier wird also
nichts verschwiegen. Ich habe Ihre Aufforderung aber
gerne zum Anlass genommen, dies noch einmal klarzustellen.
Herr Minister, darf der Kollege Schick Ihnen eine
Zwischenfrage stellen bzw. eine Zwischenbemerkung
machen?
({0})
Bitte, ja.
Herr Minister, ich habe gestern in der Fragestunde die
Frage gestellt, ob die Bundesregierung eine Nutzung
der in Washington diskutierten Instrumente, die ein
Leveraging bezüglich der Garantien im Rahmen der
EFSF vorsehen, ausschließt. Daraufhin hat der Staatsminister bei der Bundeskanzlerin, Herr von Klaeden, gesagt: Ja. Dann hat Herr Kampeter weitere Ausführungen
gemacht, mit denen er meine Frage aber nicht beantwortet hat.
Ich möchte gerne von Ihnen wissen, was Sie mit der
Formulierung der effizienten Nutzung der EFSF, die Sie
in Washington getroffen haben, gemeint haben - alle
Fachleute verstehen darunter die Hebelung der EFSF;
das heißt, dass mit den gewährten Garantien ein wesentlich größerer Umfang an Krediten ausgereicht werden
kann - und ob diese Hebelung vor dem Hintergrund der
Entscheidung, die der Bundestag heute zu treffen hat,
möglich ist oder ob es dazu einer neuen Parlamentsentscheidung bedarf. Wenn es dazu nämlich keiner neuen
Parlamentsentscheidung bedarf, dann müssen die Abgeordneten dieses Hauses wissen - das gilt auch mit Blick
auf die Öffentlichkeit -, dass sie mit ihrer heutigen Entscheidung auch eine Hebelung ermöglichen. Mein
Kenntnisstand dazu ist, dass darüber bereits verhandelt
wird. Ich finde, dem Bundestag muss bekannt sein, ob
dem so ist oder nicht.
({0})
Herr Kollege, die Antwort ist völlig eindeutig: Die
Guidelines, die für die erweiterte EFSF angewendet werden, sind noch nicht abschließend verhandelt.
({0})
- Warten Sie vor dem „Aha“ doch meinen zweiten Satz
ab. - Der Bundestag hat die Absicht, zu beschließen
- genau das steht in dem Gesetzentwurf, den wir hier in
zweiter und dritter Lesung behandeln -, dass diese
Guidelines der Zustimmung des Deutschen Bundestags
bedürfen. Danach werden wir das in diesem Rahmen behandeln. Deswegen ist jede Verdächtigung und jede
Verunsicherung unanständig und unangemessen.
({1})
Im Übrigen bleibt es dabei: Wir beschließen einen
deutschen Garantierahmen von 211 Milliarden Euro. Der
ist hoch genug.
({2})
- Ich habe das doch gerade beantwortet. Durch Wiederholung der Frage wird es nicht besser. Herr Kollege
Schneider, Ihre Methoden habe ich gerade an einem konkreten Beispiel dargelegt.
({3})
Die Sache ist zu ernst,
({4})
als dass Sie die Bevölkerung, die verunsichert genug ist,
auf diese Weise weiter durch falsche Behauptungen und
Insinuierungen verunsichern sollten, wenn Sie mit uns
gemeinsam Verantwortung dafür tragen wollen, dass wir
Europas Sicherheit und unsere Währung erhalten.
({5})
Ich will eine zweite Bemerkung machen. Herr Kollege Steinbrück, man muss sich entscheiden. Wir sind
übereinstimmend der Auffassung, dass die Europäische
Zentralbank auch in Extremsituationen - Sie wissen,
was alles Extremsituationen sein können; Sie haben das
im Amt des Bundesfinanzministers erlitten - nicht die
Aufgabe hat oder nicht haben sollte, am Sekundärmarkt
zu intervenieren. Gerade deswegen ist es richtig, dass
wir der EFSF diese Möglichkeit unter engen Voraussetzungen einräumen. Es bedarf in jedem Fall eines Memorandum of Understanding, und auf jeden Fall ist durch
das, was wir heute beschließen, die Beteiligung des
Deutschen Bundestages an diesen Entscheidungen sichergestellt. Das eine oder das andere müssen wir machen. In Ihrer Rede haben Sie beides kritisiert. Das war
eines zu viel. Darauf wollte ich aufmerksam machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt noch einmal in
großer Klarheit: Wir sind in einer außergewöhnlich
schwierigen Lage, weil die Nervosität an den Finanzmärkten hoch ist und weil die Gefahr besteht, dass sich
die Beunruhigung der Finanzmärkte auch auf die Realwirtschaft auswirken kann.
({6})
Das haben wir erlebt. Sie haben das vor drei Jahren nicht
für möglich gehalten. Es ist dann so gekommen; man
kennt die Zukunft nicht genau im Vorhinein. Deswegen
ist es klug, dass wir unsere Verantwortung mit großem
Ernst wahrnehmen und dass über jeden Schritt offen diskutiert und auch entschieden wird.
Ich will daher die nächsten Schritte beschreiben: Wir
gehen jetzt hinsichtlich des Kreditprogramms für Griechenland, das im April des vergangenen Jahres beschlossen wurde, weiter vor. Internationaler Währungsfonds,
Europäische Zentralbank und Europäische Kommission, die zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für
die Auszahlung der nächsten Tranche gegeben sind, werden ihre Mission heute wieder aufnehmen. Nur wenn
diese Voraussetzungen gegeben sind, wird die nächste
Tranche ausgezahlt werden. Darüber wird voraussichtlich in der Sitzung der Euro-Gruppe am 13. Oktober
2011 eine Entscheidung zu treffen sein. Die Entscheidung ist offen, weil wir den Bericht noch nicht haben.
Erst wenn wir den Bericht haben, werden und können
wir entscheiden.
Dann wird sich zeigen - darüber haben wir im Juni
und Juli schon diskutiert -, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit Griechenland auf längere
Sicht tragfähig wird. Der griechische Ministerpräsident
hat in diesen Tagen auch auf Initiative der deutschen
Bundesregierung - Herr Kollege Rösler, wir beide haben
uns da sehr engagiert - mit vielen verantwortlichen Vertretern der deutschen Wirtschaft darüber geredet, ob die
deutsche Wirtschaft bereit ist, sich stärker am Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft in Europa zu beteiligen.
Die Europäische Kommission soll die Fonds noch effizienter und noch schneller nutzen können. Die Bundesregierung drängt darauf; die Staats- und Regierungschefs
haben das verlangt. Aber jeder weiß: Die Entscheidungsprozesse in Brüssel sind nicht so schnell und einfach,
wie wir uns das gelegentlich wünschen würden.
Um auch dieses zu sagen: Ich bin froh, dass die Europäische Kommission endlich - ich habe anderthalb Jahre
darauf gedrängt - eine Initiative für eine Finanztransaktionsteuer ergriffen hat; denn sie alleine hat das Recht
für solche Initiativen. In den letzten anderthalb Jahren
haben wir hier wieder und wieder darüber geredet. Gestern hat sie endlich den Vorschlag gemacht. Sie können
sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung alles daransetzen wird, dass diese Initiative so schnell wie möglich zu einem Erfolg gebracht wird. Ich glaube, dass das
ein weiterer guter Schritt ist.
({7})
- Wir sind uns doch in diesen Fragen einig. Das ist eine
gemeinsame Position der Bundesregierung. Die StaatsBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
und Regierungschefs der Euro-Zone haben das am
21. Juli wieder gefordert.
Übrigens, das, was jetzt in den fast sechs Gesetzgebungsvorschlägen zur Verstärkung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes im Parlament akzeptiert worden ist,
geht auf die Arbeiten der Taskforce unter dem Ratspräsidenten Van Rompuy zurück, die auf Initiative der Bundeskanzlerin zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im vergangenen Jahr eingeleitet wurden. Das
wird jetzt umgesetzt, und ich bin froh, dass es endlich erreicht worden ist.
Herr Kollege Trittin, mit allem Respekt: Überschüsse
und Defizite sind etwas Unterschiedliches. Im Gesetzgebungspaket ist genau festgelegt, dass das nicht das
Gleiche ist. Die Euro-Zone als Ganzes hat ein Gleichgewicht nur deswegen, weil Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss hat. Sonst wäre der Euro eine Defizitwährung. Gott sei Dank hat Deutschland einen
Leistungsbilanzüberschuss, mit dem wir Europa insgesamt stabilisieren können. Deswegen sollten Sie das
nicht kritisieren und nicht sagen, die Überschüsse seien
schuld an den Problemen. Nein, die Schulden und die
Defizite sind die Ursache der Probleme, und die müssen
wir gemeinsam bekämpfen.
({8})
Ich will auch sagen: Wir werden jede Möglichkeit
nutzen. Was wir national noch an Gesetzgebungsspielraum hatten, haben wir ausgeschöpft. Wir haben in
Deutschland im Gegensatz zu anderen ein Restrukturierungsgesetz für die Banken verabschiedet. Wir haben im
Gegensatz zu anderen im Alleingang - viel kritisiert bereits im vergangenen Jahr ungedeckte Leerverkäufe
national verboten.
({9})
Mehr Spielraum hat der nationale Gesetzgeber nicht.
Aber wir werden darauf drängen - ich hoffe, alle im Europäischen Parlament, auch Ihre Kollegen und Freunde -,
dass wir mehr und schneller regulieren. Ich bin in der Tat
der Meinung, dass die Frage, ob die Politik für die
Märkte schnell genug ist, so beantwortet werden muss,
dass wir als Politik die Märkte so regeln, dass klar ist,
dass die demokratisch legitimierte Politik die Regeln
macht, Grenzen setzt und dies auch durchsetzt.
Es darf nicht sein, dass wir wegen des Arguments der
Standortvorteile am Ende nicht in der Lage sind, zu Entscheidungen zu kommen. Nein, wir wollen besser regulierte Märkte. Wir wollen die strukturierten Produkte
transparenter und besser regulieren. Bei jedem Schritt in
diese Richtung werden wir im europäischen und weltweiten Rahmen darauf drängen, so schnell wie möglich
voranzukommen. Es muss klar sein: Gerade bei der
Frage der demokratischen Legitimation geht es einerseits darum, dass die Märkte der Welt nicht sicher sind,
ob die westlichen Demokratien noch schnell genug die
notwendigen Entscheidungen treffen können
Herr Minister, lassen Sie noch eine weitere Frage zu?
- Herr Präsident, ich würde gerne den Satz zu Ende
führen -, und andererseits darum, dass unsere Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Frage verzweifeln, ob
die Märkte die Oberhand haben oder ob die Politik entscheidet. Wenn die freiheitlich und rechtsstaatlich verfasste Demokratie stabil bleiben will, muss sie klarmachen, dass sie die Regeln setzt und diese auch durchsetzt,
und dazu ist die Bundesregierung entschlossen.
({0})
Herr Präsident.
Es gab noch den Wunsch nach einer Zwischenbemerkung durch den Kollegen Schlecht, die ich, auch wenn
die gemeldete Redezeit eigentlich überschritten ist, noch
gerne zulassen würde, weil sie vorher angemeldet war,
wenn Sie damit einverstanden sind.
Bitte, Herr Präsident.
Herr Minister, Sie haben eben die Außenhandelsüberschüsse Deutschlands angesprochen und behauptet, sie
seien nicht das eigentliche Problem, sondern das eigentliche Problem sei die Verschuldung. Sie müssten schon
noch einmal erläutern, weshalb jenseits der deutschen
Grenzen - rauf und runter - insbesondere die deutschen
Außenhandelsüberschüsse und die Schwäche des deutschen Binnenmarktes im Grunde genommen als eine der
zentralen Ursachen dafür benannt wird, dass die Verschuldung der anderen Länder spiegelbildlich zu dieser
Entwicklung zustande gekommen ist. Man muss konstatieren: Wir haben in Deutschland über die letzten zehn
Jahre einen aufsummierten Außenhandelsüberschuss
von 1,2 Billionen Euro. Dieser wurde nur möglich, weil
sich die anderen Länder verschulden mussten.
({0})
Die Frage ist, weshalb Sie diesen Zusammenhang einfach negieren und nicht sehen, dass wir in Deutschland
etwas dafür tun müssen, dass dieser Außenhandelsüberschuss abgebaut wird, insbesondere durch eine Stärkung
der Binnennachfrage.
({1})
Schauen Sie, Herr Kollege, das Problem liegt darin:
Wenn man wie die Linke davon überzeugt ist, dass eine
Wirtschaft möglichst staatlich durchreguliert und zentralisiert verwaltet werden muss
({0})
- lassen Sie mich doch die Frage beantworten -, und
man nicht an die Überlegenheit einer Ordnung, die auf
Markt und Wettbewerb gründet, glaubt, dann hält man
natürlich den Wettbewerb für etwas Negatives. Wenn
man aber an den Wettbewerb glaubt, dann heißt das, dass
derjenige, der erfolgreicher ist, von den anderen natürlich etwas beneidet wird. Es ist leicht, zu sagen: Wärt ihr
nicht so erfolgreich, würde unsere Schwäche nicht so
auffallen. - Aber Europa hängt an der Stärke der deutschen Wirtschaft.
({1})
Deswegen, liebe Freunde: Die Solidarität der Deutschen ist klar. Sie muss sich auch darin zeigen, dass wir
weiterhin eine Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben,
die dafür sorgt, dass Deutschland ein Anker der Stabilität
in Europa und ein Motor des europäischen Wachstums
bleibt. Die Bundesregierung wird auf diesem erfolgreichen Weg weiter vorangehen.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Carsten Schneider
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in einer kritischen Situation. Aber noch viel kritischer als die Situation an den Finanzmärkten in Europa
ist die Situation dieser Koalition; denn nicht anders kann
ich die Büttenrede interpretieren, die Sie, Herr Brüderle,
heute an die Adresse Ihrer Koalition gerichtet gehalten
haben.
({0})
Sie war weder angemessen noch in der Sache irgendwie
berechtigt.
Herr Minister Schäuble, Sie haben eben gesagt, wir
hätten darauf verzichtet, Sie gestern im Haushaltsausschuss zu hören. Das Gegenteil ist richtig: Ich habe beantragt, dass Sie uns im Haushaltsausschuss, bevor wir
hier im Bundestag über diesen Gesetzentwurf abstimmen - das auch nach Ihren Aussagen das wichtigste Gesetz dieser Legislaturperiode ist -, Klarheit darüber verschaffen, ob weitere Maßnahmen geplant sind oder
nicht, ob wir in Richtung einer weiteren Verschuldung
gehen oder nicht. Sie sind diese Antwort, auch im Rahmen der Frage des Kollegen Schick, schuldig geblieben.
Ich finde das nicht hinnehmbar!
Ich habe den Eindruck, dass wir, insbesondere vor
dem Hintergrund der wackligen Koalitionsmehrheit, hinter die Fichte geführt werden sollen. Worum geht es in
diesem Paket? Es wird nicht nur um die 750 Milliarden
Euro gehen. Es wird auch um die Frage gehen, ob das
Risiko eventuell noch höher ist. Das wird mit dem Begriff „Hebel“ beschrieben.
Ich will zitieren, was in der heutigen Ausgabe des
Handelsblatts steht:
Berlin habe Barroso „dringend gebeten“, das heikle
Thema in seiner Grundsatzrede zur Lage der EU am
Mittwoch im Straßburger Europaparlament nicht zu
erwähnen, sagte ein hochrangiger Vertreter der
Euro-Zone. … Dabei ist der Hebel längst beschlossene Sache. Frankreichs Premier François Fillon
hat ihn vorgestern im französischen Parlament bereits angekündigt: „Wir werden Vorschläge machen, um den Kampf gegen die spekulativen Angriffe auszuweiten.“ Dabei sprach er ausdrücklich
von einer „Hebelung der Mittel“ des Fonds.
Herr Minister, ich finde, Sie wären Ihrer Verantwortung als Bundesfinanzminister vor dem deutschen Volk,
aber auch vor den Kollegen, die hier im Bundestag abstimmen, dann gerecht geworden, wenn Sie Auskunft
darüber gegeben hätten, was Sie beim Internationalen
Währungsfonds beraten und bereits zugesagt haben.
({1})
Es ist nicht so, dass der Deutsche Bundestag darüber
entscheiden wird, ob es diesen Hebel geben wird. Es ist
so, dass der Haushaltsausschuss darüber entscheiden
wird. Jeder, der heute diesem Gesetzentwurf seine
Stimme gibt, muss wissen, dass er diese Entscheidung an
die Mitglieder des Haushaltsausschusses delegiert. Das
muss man wissen, bevor man abstimmt! Sie wollen das
aber nicht transparent machen, weil Sie Angst um die eigene Mehrheit in Ihrer Koalition haben. Das ist der
Grund.
({2})
Diese Angst und Unsicherheit ziehen sich ebenso wie Ihr
permanenter Zickzackkurs, wenn überhaupt von einem
Kurs die Rede sein kann, durch die gesamte Griechenland-Krise.
Ich will kurz daran erinnern, wie das Ganze abgelaufen ist. Im Februar 2010 haben Sie gesagt: Griechenland
ist kein Problem. Es wird kein deutsches Geld geben. Im Mai haben wir ein Hilfspaket in Höhe von 22 Milliarden Euro beschlossen. Der Kollege Fricke sagte hier
noch: 22 Milliarden Euro und keinen Cent mehr. Dem
hat keiner von Ihnen widersprochen. Am selben Tag, an
einem Freitag, ist die Bundeskanzlerin nach Brüssel gefahren und hat dort ein Paket über 123 Milliarden Euro
vereinbart.
Meine Damen und Herren, Sie sind in Europa Getriebene der Märkte. Sie führen nicht. Sie haben Deutschland isoliert, und Sie haben mit Ihrem fehlerhaften
Krisenmanagement die Krise verschärft, statt zu deeskalieren.
({3})
Dass Sie Angst um Ihre eigene Mehrheit haben, kann
ich nachvollziehen. Denn bei allem, was Sie bisher beschlossen haben, ist das Gegenteil eingetreten; denn Sie
sind von den Märkten und der Notwendigkeit, die anderen europäischen Länder zu überzeugen, überholt worden.
Ich habe einen Entschließungsantrag herausgesucht,
den die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP am
Carsten Schneider ({4})
26. Oktober 2010 zu dem Thema vorgelegt haben. Darin
geht es um den Stabilitätspakt, der gestern im Europäischen Parlament beschlossen worden ist. Unter Punkt 3
des Antrags steht - ich zitiere -:
Diese Sanktionen müssen zudem früher als bisher
und weitgehend automatisch zum Einsatz kommen.
Genau diesen Automatismus hat die Bundeskanzlerin einen Tag später in Deauville geopfert. Der Stabilitätspakt
war nicht Bestandteil ihrer Verabredung mit Herrn
Sarkozy. Erst das Europäische Parlament hat ihn wieder
eingebracht.
({5})
Unter Punkt 5 des Antrags steht:
Dies beinhaltet zur Vermeidung von Fehlanreizen
den Verzicht auf die Einrichtung eines dauerhaften
Fonds für überschuldete Staaten, in dem andere
Staaten der Währungsunion oder die EU Kredite
oder Garantien bereitstellen müssen. Auch eine
Entfristung des gegenwärtigen Rettungspakets wird
abgelehnt …
Heute beschließen wir wieder das glatte Gegenteil von
all dem, was Sie uns vor einem Jahr vorgetragen haben.
({6})
Das, was wir heute beschließen wollen, ist zwar richtig, es hätte aber ein Jahr früher kommen müssen. Dann
hätte es erst gar keine Krisensituation in Italien und Spanien gegeben, die dazu führt, dass wir heute mit mehr
Geld gegen die Finanzmärkte vorgehen müssen. Diesen
Punkt muss man Ihnen vorhalten; denn Sie sind nicht bereit, Führung zu übernehmen und der deutschen Öffentlichkeit zu sagen, was für Vorteile wir von Europa haben. Sie setzen auf Populismus, sind damit aber letztlich
zu Recht gescheitert.
({7})
Sie machen uns, die wir die Verantwortung mittragen,
Vorwürfe. Wir sind an dieser Stelle von Ihrer Seite beschimpft worden. Ich habe in Washington viele Gespräche mit Vertretern anderer Länder geführt. Ihre erste
Frage war immer: Wird denn die Opposition mit dafür
stimmen? Das ist uns wichtig. Denn auch wir wissen,
dass diese Regierung nicht mehr lange hält, und wir
brauchen Sicherheit in Europa.
({8})
All das, was dazu geführt hat, dass wir in Europa so
stark sind, dass wir wirtschaftlich prosperieren und dass
die Arbeitslosigkeit sinkt, haben Sie abgelehnt. Sie haben die Konjunkturprogramme, das Kurzarbeitergeld
und die Investitionsprogramme abgelehnt. Das alles aber
macht uns heute stark. Nichts davon ist Ihr Thema gewesen. Sie haben das in der Oppositionszeit abgelehnt und
keine Alternativen gehabt.
({9})
Sie sollten still sein und dankbar dafür sein, dass Sie
trotz dieser Regierung eine breite Mehrheit im Bundestag bekommen werden.
Zum Thema Schuldenbremse: Sie tun jetzt so, als wären Sie der intellektuelle Urheber gewesen. Wenn ich
mich richtig entsinne, geht der Entwurf der Schuldenbremse - die hoffentlich auch in anderen nationalen Parlamenten eingeführt wird und dazu führt, dass Europa
auch eine Stabilitätsunion wird und letzten Endes stärker
daraus hervorgeht als bisher, dass die Länder zusammenrücken, die Finanzpolitiken vereinheitlicht werden und
das bisherige Steuerdumping unterbunden wird - auf
Peer Steinbrück zurück. Wie haben Sie sich damals in
der Abstimmung im Deutschen Bundestag verhalten,
Herr Brüderle? Sie haben sich enthalten. Sehr mutig!
({10})
Wir Sozialdemokraten werden heute dem Gesetzentwurf zustimmen. Wir sind der Auffassung, dass wir ein
wehrhaftes Europa brauchen, das zusammenhält, und
zwar unter der klaren Kondition, die Haushalte zu sanieren und die Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, aber
auch den sozialen Zusammenhalt in Europa nicht zu gefährden. Das bedeutet, auch die Finanzmärkte an den
Kosten der Krise zu beteiligen. Das haben Sie in den
letzten Jahren verhindert.
({11})
Das bedeutet, dass die Finanzmärkte, diejenigen, die
Spekulationsgewinne erzielen und noch heute enorme
Gewinne mit griechischen Papieren machen, besteuert
werden und dass die daraus resultierenden Steuereinnahmen genutzt werden, um die Investitionstätigkeit in
Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern voranzubringen. Reines Sparen ist zu wenig. Wir brauchen
einen Ansatz, der die Investitionstätigkeit wieder anregt.
({12})
All dies bleiben Sie leider schuldig. Meine Hoffnung
ist, dass die anderen europäischen Länder Sie so wie bisher auf den rechten Weg bringen. Eine weitere Hoffnung, die ich habe, ist: Jede Abstimmung in diesem Parlament wird zu einem Lackmustest für diese Regierung.
Über kurz oder lang werden Sie daran zerbrechen. Heute
werden Sie vielleicht noch einmal die Mehrheit bekommen. Aber das wird nicht auf Dauer so sein. Je früher
Ihre Regierungszeit endet, desto besser für Europa und
für Deutschland!
({13})
Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirtschaft, Philipp Rösler.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir haben in Deutschland nicht nur
großartige Wachstumszahlen.
({0})
Gerade heute hat Frau von der Leyen auch großartige
Zahlen zu verkünden, was die Beschäftigung anbelangt.
Im September ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland unter 2,8 Millionen gesunken.
({1})
Dass wir Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung haben, ist unter anderem ein Verdienst eines starken, gemeinsamen Europas und eines starken, stabilen Euro.
Deswegen ist es richtig, dass wir alles dafür tun, beide
zu stärken. Wir brauchen ein starkes gemeinsames Europa, aber auch eine gemeinsame, starke Währung, eben
einen stabilen Euro.
Das ist das Problem: Die Menschen haben längst das
Vertrauen verloren.
({2})
- Ich komme gleich auf Sie zu sprechen, aber das
Schreien nutzt Ihnen nichts. - Es schadet der Politik insgesamt, dass die Menschen das Vertrauen verloren haben. Sie glauben nicht, dass ihnen Europa guttut und
dass Europa richtig ist. Deswegen müssen wir alles dafür
tun, das Vertrauen zurückzugewinnen. Jeder, der proeuropäisch denkt und fühlt, muss alles dafür tun, die Akzeptanz Europas zu erhöhen.
({3})
Das heißt, man muss alles, was man macht, vernünftig
erklären. Man muss die Frage beantworten, in welche
Richtung sich Europa in den nächsten Jahren entwickeln
soll. Wir beantworten diese Frage sehr klar. Wir wollen
nicht wie Sie ein Schuldeneuropa, sondern endlich eine
echte Stabilitätsunion in Europa.
({4})
Sie haben die Maastricht-Kriterien aufgeweicht. Sie
wollen Euro-Bonds für alle. Obwohl Sie hier anders reden, haben Rot und Grün gestern im Europäischen Parlament gegen eine Verschärfung der Stabilitätskriterien
gestimmt. Das hat nichts mit proeuropäischer Geisteshaltung zu tun und erst recht nichts mit wirtschaftspolitischer Kompetenz.
({5})
Herr Minister, darf der Kollege Heil Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Nein.
Es ist richtig, dass wir heute gemeinsam über die
EFSF und das Gesetz zum Stabilisierungsmechanismus
diskutieren.
({0})
Denn hier werden klare Kriterien vorgegeben. Rettungspakte sind immer nur das letzte Mittel.
({1})
Sie können und dürfen niemals der Ersatz für verfehlte
Haushaltspolitik und verfehlte Wirtschaftspolitik in anderen Mitgliedstaaten der Euro-Zone sein. Künftig wird
es Hilfen nur unter klar definierten Bedingungen geben.
Ob es solche Hilfen gibt, wird dann positiv beschieden,
wenn Einstimmigkeit in den entsprechenden Gremien
herrscht. Das ist ein eindeutiger Vorteil im Vergleich zu
anderen Gremien, in denen Deutschland wie in der EZB
überstimmt werden kann und Entscheidungen manchmal
vielleicht gegen die ordnungspolitische Vernunft und
den ordnungspolitischen Sachverstand getroffen werden.
Das wird jetzt durch die zu beschließenden Maßnahmen
eindeutig besser werden.
({2})
Die Haftungsobergrenze ist selbstverständlich festgelegt. Natürlich kann es hier nur mithilfe des Deutschen
Bundestages zu Änderungen kommen. Das heißt, das,
was immer gefordert wurde und was vollkommen richtig
ist, nämlich dass der Haushaltsgesetzgeber immer das
letzte Wort hat, wird hiermit verwirklicht. Damit bleibt
es dabei: Das Königsrecht, das Haushaltsrecht, bleibt
beim Parlament. Das ist eine richtige und kluge Entscheidung und eine vernünftige Ausgestaltung der im
Änderungsgesetz enthaltenen Maßnahmen.
({3})
Ich kann deswegen nur an Sie appellieren, nicht aus
parteitaktischen Erwägungen zuzustimmen, sondern
weil Sie wissen, dass Sie damit den richtigen Weg in
Richtung einer Stabilitätsunion gehen, die klare Regeln
vorgibt. So muss die Schuldenbremse in allen Mitgliedstaaten verankert werden, es muss ein Wettbewerbsfähigkeitstest, für den wir heute im Anschluss im Wettbewerbsfähigkeitsrat werben werden, eingeführt werden,
und es müssen Maßnahmen für all die Staaten ergriffen
werden, die nicht aus eigener Kraft in der Lage sind, die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit herzustellen. Dafür
brauchen diese Staaten die neuen Instrumente der EFSF
und später des ESM. Das zeigt, dass wir mit den Maßnahmen, die jetzt noch anstehen, genau die richtigen
Schritte in eine Stabilitätsunion tun; denn man muss den
Menschen die Frage beantworten: Wohin soll sich Europa in den nächsten Jahren entwickeln? Nur wenn man
diese Frage beantworten kann, dann wird man wieder
Vertrauen in die Politik insgesamt herstellen können.
Dafür steht die Regierungskoalition aus CDU/CSU und
FDP.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich mache jetzt einige wenige geschäftsleitende Bemerkungen. Es gibt zwei Wünsche auf Kurzintervention,
und zwar des Kollegen Heil und des Kollegen Ernst. Die
Kollegen werde ich gleich der Reihe nach aufrufen. Danach wird der Minister Gelegenheit haben, darauf zu
antworten.
Des Weiteren will ich, wie von Einzelnen gewünscht,
gerne darauf aufmerksam machen, dass im weiteren Verlauf der Debatte sowohl der Kollege Willsch als auch der
Kollege Schäffler das Wort erhalten, sie aber nicht für
die jeweiligen Fraktionen, denen sie angehören, reden.
Sie machen von dem Rederecht Gebrauch, das sie als
Mitglieder des Deutschen Bundestages selbstverständlich haben, mit und ohne Zugehörigkeit und Zuordnung
zur jeweiligen Fraktion. Ich denke, es entspricht sowohl
unserem Selbstverständnis als auch der völlig unmissverständlichen Verfassungslage, dass wir diesem Anspruch Rechnung tragen.
({0})
Nun bekommt der Kollege Heil die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister
Rösler, Sie haben eben davon gesprochen, dass es darum
gehe, eine klare proeuropäische Position zu beziehen,
dazu zu stehen und Vertrauen zu schaffen. Ich frage Sie
deshalb, warum Sie als Vorsitzender der FDP in den Tagen vor der Berliner Abgeordnetenhauswahl, als Ihre
Partei in dieser Stadt in unverantwortlicher Art und
Weise plakatiert und mit antieuropäischen Ressentiments gespielt hat, wobei die Strategie Gott sei Dank gescheitert ist, so beredt geschwiegen haben, wenn es Ihnen angeblich um Verantwortung geht. Im Gegenteil: Sie
haben die Stimmung noch befeuert.
({0})
Bei aller persönlichen Wertschätzung, Herr Rösler,
kann ich Ihnen einen Vorwurf nicht ersparen. Mich hat
Ihr Verhalten, kurz vor der Wahl populistische Strömungen Ihrer Partei nicht nur laufen zu lassen, sondern sie
sogar noch zu befeuern, an das Verhalten Ihres Vorgängers, der neben Ihnen sitzt, in einer Wahlkampfsituation
mit Herrn Möllemann erinnert. Ich sage Ihnen: Wenn Sie
nicht verhindern, dass Ihre Partei - wir werden gleich
Herrn Schäffler hören - in unverantwortlicher Art und
Weise antieuropäischen Populismus schürt, dann tragen
Sie dazu bei, dass sich die Bevölkerung in diesem Land
in die falsche Richtung orientiert. Herr Rösler, erklären
Sie einmal den Menschen hier, warum Sie heute so reden, vor einigen Wochen aber geschwiegen oder den
Populismus sogar noch befeuert haben.
Herzlichen Dank.
({1})
Nun hat Kollege Ernst Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Herr Rösler, ich habe eigentlich eine sehr einfache
Frage. Können Sie in dem Fall, dass die vielen Bürgschaften und Verpflichtungen, die wir heute, wenn wir
Ihrem Antrag folgen würden, in Deutschland eingehen,
wirksam werden, ausschließen, dass nicht die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland
durch sinkende Renten, durch sinkende Löhne und durch
sinkende Sozialleistungen zur Kasse für das gebeten
werden, was wir hier beschließen?
({0})
Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrter Herr
Abgeordneter Heil, Sie haben von antieuropäischen Tendenzen gesprochen. Ich habe die Wortmeldung des Abgeordneten eben sehr wohl als antieuropäisch verstanden. Das ist aber ausdrücklich nicht unsere Linie. Ich
habe immer gesagt: proeuropäische Ausrichtung gepaart
mit wirtschaftspolitischer Vernunft. Daran werden Sie
unsere Worte, aber auch unser Handeln messen müssen.
Jetzt frage ich Sie - am Abstimmungsverhalten sollt
ihr sie erkennen -: Wo ist denn Ihre proeuropäische Haltung gewesen, als Sie das aufgeweicht haben, was unsere
Vorväter bei der Einführung des Euro bedacht haben,
nämlich die Maastricht-Kriterien?
({0})
Wo ist denn Ihre proeuropäische Haltung, wenn es bei
Diskussionen um Euro-Bonds genau darum geht, solchen Wortbeiträgen wie gerade entgegenzutreten? Wir
wollen nicht, dass Schulden vergemeinschaftet werden.
Die Menschen dürfen auch nicht das Gefühl haben, es
würde in Deutschland so kommen. Wo waren Sie denn
gestern, als die Sozialdemokraten und die Grünen im
Europäischen Parlament bei den wichtigen Abstimmungen zu den weiteren Stabilitätsmaßnahmen und Stabilitätsmechanismen auf europäischer Ebene ihre Zustimmung verweigert haben? Am Abstimmungsverhalten
sollt ihr sie erkennen. Sie haben klar entgegen dem europäischen Geist und auch klar gegen wirtschaftspolitische
Vernunft gehandelt.
({1})
Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hätte es auch noch selbst gesagt: Ich spreche
heute leider nicht für meine Fraktion und bin dem Bundestagspräsidenten dankbar dafür, dass ich meine Gedanken gleichwohl hier vortragen kann.
Ich kämpfe zeit meines politischen Lebens dafür, dass
wir in dieser Konstellation christlich-liberal miteinander
arbeiten. Der Wirtschaftsminister hat die Erfolge gerade
aufgezählt, die sich sehen lassen können: 3,6 Prozent
Wirtschaftswachstum im letzten Jahr, und die Arbeitslosigkeit liegt unter 2,8 Millionen. Das ist eine stolze Leistung. Wir haben hier gut vorgelegt.
Da ich jetzt in einer Sachfrage nicht folgen kann,
möchte ich erläutern, was ich an diesem Weg für falsch
halte.
Erster Punkt: Im letzten Mai haben wir begonnen, uns
mit dem Griechenland-Paket auf eine schiefe Ebene zu
begeben. Danach gab es bekanntlich kein Halten mehr:
einmalig, befristet, konditioniert - aber es wurde immer
mehr. Das Konzept, zu versuchen, mit immer mehr
Schulden übermäßige Schulden zu bekämpfen, geht
nicht auf.
({0})
Es funktioniert nicht, Disziplin in Haushaltsfragen zu erreichen, indem man Zinsen heruntersubventioniert. Das
einzige Mittel gegen eine übermäßige Verschuldung sind
hohe Zinsen. Ich befürchte, dass dieser Weg viel Geld
kosten wird, das wir nicht haben.
Das Geld, das sich in Bürgschaften ausdrückt und
sich jetzt auf 211 Milliarden Euro summiert, wenn heute
hier entsprechend abgestimmt wird - alleine für die
EFSF; Griechenland kommt noch hinzu -, haben wir
nicht. Ich glaube, das Risiko, das wir den kommenden
Generationen damit aufladen, ist zu groß. Wir leihen dieses Geld, das wir ins Schaufenster stellen, von unseren
Kindern und Enkeln; wir haben es nicht.
({1})
Auch deshalb kann ich das nicht mittragen. - Das ist der
zweite Punkt.
Der dritte Punkt: Wir haben, als wir den Euro eingeführt haben, viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Die
D-Mark, die als weltweites Markenzeichen und als Anerkennung des Wiederaufstiegs, des wirtschaftlichen Erfolgs nach dem Krieg galt, hatte für uns Deutsche einen
hohen Symbolwert. Als wir die D-Mark aufgegeben haben, haben wir den Menschen versprochen: Der Euro
wird genauso sicher und genauso stabil, wie die D-Mark
es war. Zudem wird er nachhaltig von der Europäischen
Zentralbank geschützt, die der Geldwertstabilität verpflichtet ist. - Der Euro ist stark. Er ist mit 88 US-Cent
gestartet und liegt jetzt je nach Tagesform zwischen 130
und 145 US-Cent. Der Euro ist in dieser Zeit stabil gewesen. Aber ich befürchte, diese Stabilität werden wir
nicht aufrechterhalten können, wenn wir diesen Weg
weiter gehen.
Wir haben den Menschen ein weiteres Versprechen
gegeben. Wir haben gesagt: Niemand wird für die Schulden eines anderen Staates in diesem Währungsraum aufkommen müssen. Jeder muss seinen Haushalt selbst ausgleichen. Genau das brechen wir mit dieser SchirmPolitik.
({2})
Ich halte dies ökonomisch für den absolut falschen
Weg, der meinen Grundüberzeugungen widerspricht.
Natürlich gibt es Alternativen. Wir haben nach der
Finanzkrise Instrumente geschaffen, um Banken stützen
und rekapitalisieren zu können. Es wäre aber ein sehr
viel treffsicherer Weg, wenn wir sagen würden: Lasst die
Gläubiger ihren Teil tragen! Erst wenn es Probleme gibt,
sollten wir unterstützend helfen, damit systemrelevante
Bereiche unserer Volkswirtschaft nicht infiziert werden.
Zum Thema Gläubigerbeteiligung. Wir müssen uns
einmal einen Moment zurückbesinnen und uns fragen,
über was wir da eigentlich reden. Es gibt ein Vertragsverhältnis zwischen dem Gläubiger, also demjenigen,
der Geld gibt, und dem Schuldner, also demjenigen, der
den Kredit in Anspruch nimmt. Wenn der Kredit ausfällt,
dann ist das Sache des Gläubigers. Dass wir jetzt darüber
reden, ob nur ein Teil des Kreditausfalls von den Gläubigern getragen werden muss und ob nicht vielmehr der
Staat für dieses private Geschäft automatisch im Obligo
ist, zeigt, dass wir hier die Dinge auf den Kopf gestellt
haben. Wir sollten uns daher bemühen, die Diskussion
wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Ich appelliere im Interesse der nachfolgenden Generationen an Sie alle, dass wir diesen Weg möglichst
schnell beenden, anstatt ihn mit immer höheren Volumen
zu verlängern. Ich glaube, dass wir ansonsten dem Euro
und Europa schaden würden. Es wird in den Hauptstädten nicht mehr gegen die jeweiligen Regierungen demonstriert, sondern gegen Europa und einzelne Länder
wie Deutschland. Wir können nicht jedem unsere Art zu
leben aufdrängen. Wir können aber auf der Einhaltung
selbstakzeptierter Regeln bestehen. Genau das sollten
wir tun.
Ich bedanke mich ausdrücklich, dass es mir möglich
war, hier vorzutragen. Mit Blick auf meine eigene Fraktion sage ich: Danke, dass ihr das ertragen habt.
({3})
Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reden
aus den Reihen der Koalition zeigen bislang ganz deutlich, dass Sie ein echtes Problem haben. Ihnen fehlt
schlichtweg die Orientierung in dieser Krise.
({0})
Das hängt damit zusammen, dass der Regierung ein
Kompass fehlt und damit jegliche Überzeugungskraft,
wie man diese Krise in Europa, in der Europäischen
Union, in der Euro-Zone überwinden kann.
({1})
Das findet Ausdruck in Ihrer Salamipolitik. Seit anderthalb Jahren markieren Sie rote Linien, die Sie regelmäßig übertreten haben. Zunächst hieß es: kein Cent für
Griechenland; dann gab es das Rettungspaket für Griechenland. Die nächste rote Linie war: kein Rettungsschirm; dann gab es umgehend diesen Rettungsschirm.
Dann hieß es: kein dauerhafter Rettungsschirm; jetzt
wird es den ESM geben. Dann wurde gesagt: keine Ankäufe auf dem Sekundärmarkt, und heute werden wir sie
beschließen. Euro-Bonds haben Sie heute wieder ausgeschlossen. Über die Frage der Hebelung der jetzt erweiterten EFSF wird in der Regierung schon wieder trefflich
gestritten. Zumindest hat der Finanzminister dies vorhin
nicht ausgeschlossen. Es wäre aber notwendig, dass Sie
vor Abstimmungen der Bevölkerung und nicht nur den
Parlamentariern die Wahrheit sagen, damit Sie Vertrauen
in diesen Kurs herstellen können.
({2})
Dieses Verfahren kostet nicht nur Zeit und Geld, sondern es kostet vor allen Dingen Vertrauen in der Bevölkerung. Herr Bundesminister Rösler, ich fand es schon
vergnüglich, dass Sie hier vom fehlenden Vertrauen in
das Handeln der Regierung und in ihre Fähigkeit, die
Euro-Krise zu überwinden, sprechen. Sie tragen doch
höchstpersönlich dazu bei, dass dieses Vertrauen fehlt.
({3})
Sie fabulierten über die Insolvenz Griechenlands. Dabei
haben wir noch keinen Mechanismus für eine geordnete
Insolvenz. Die FDP war gegen Aktionen auf dem Sekundärmarkt. Das führte dazu, dass die EZB tätig werden
musste, was Sie hinterher umgehend wieder kritisiert haben. Sie sind gegen Finanzmarktregulierung und sprechen sich noch heute gegen eine Finanztransaktionsteuer
aus. Wie soll da Vertrauen in Regierungshandeln entstehen?
({4})
Auch wir Grünen führen Diskussionen. Auch wir
Grünen haben viele Fragen bezüglich der Euro-Rettung
und fragen, ob der eingeschlagene Weg richtig ist. Wissen Sie aber, was den Unterschied ausmacht? Wir haben
ein Ziel vor Augen: ein geeintes, starkes, soziales Europa.
({5})
Wir wollen den Erhalt der Euro-Zone, und wir wollen
weitere Schritte der politischen Integration. Danach können wir die ergriffenen Maßnahmen bewerten. Wir sagen
Ihnen seit über einem Jahr: Ihre Trippelschritte reichen
nicht aus. Wir sagen das nicht, weil wir immer alles besser wissen, sondern weil wir einen Maßstab haben, an
dem wir diese Maßnahmen messen können.
({6})
Wir sind für umfangreiche Lösungen, und Sie folgen
uns ja auch immer - allerdings leider nur mit Verzögerung. Wir brauchen die Entkopplung von Schulden- und
Bankenkrise. Wir brauchen die schnellere Einführung
des dauerhaften Rettungsschirms. Wir brauchen eine
strengere haushalts- und finanzpolitische Koordinierung,
und wir brauchen mindestens die Finanztransaktionsteuer als wichtigen Teil der Finanzmarktregulierung. Außerdem brauchen wir künftig gute Euro-Bonds
unter bestimmten Konditionen. Wenn es weitere Änderungen der europäischen Verträge für eine bessere europäische Integration braucht, dann müssen wir dafür
kämpfen. Dafür brauchen wir aber eine proeuropäische
Regierung und keine zaudernde Regierung.
({7})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Eine letzte Bemerkung. - Meine Damen und Herren,
das Gesetz ist nicht hinreichend, aber notwendig, und
wir stimmen ihm zu - nicht wegen, sondern trotz der Regierung. Europa hat nämlich Besseres verdient als die
Tatsache, dass eine Regierung auf zufällige schwarzgelbe Mehrheiten im Parlament angewiesen ist.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Gerda Hasselfeldt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der
heutigen Debatte verdient meines Erachtens eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Fakten, den konkreten
Entscheidungsalternativen und deren Konsequenzen. In
einer solch ernsthaften Debatte haben Spekulationen,
Unterstellungen oder gar Fehlinterpretationen keinen
Platz.
({0})
Deshalb will ich für die CSU klarstellen: Für uns - auch
für mich persönlich - ist Europa das größte Friedensprojekt unserer Geschichte.
({1})
Dazu gehört die gemeinsame europäische Währung, der
Euro. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir in Deutschland
davon auch ökonomisch profitiert haben und profitieren.
Deshalb haben wir eine ganz besondere Verantwortung
für die Stabilität dieser Währung und für den Zusammenhalt in Europa.
({2})
Wir sind für den Europäischen Stabilitätsmechanismus in dieser Form, weil damit Solidarität verankert
wird, und zwar nicht wegen irgendeines einzelnen Landes, sondern wegen des gemeinsamen Euro-Raumes,
wegen unserer gemeinsamen Währung und wegen unserer nationalen Betroffenheit und Verantwortung. Es geht
also einerseits um Solidarität und andererseits um die Eigenverantwortung der einzelnen Nationalstaaten. Beides gehört zusammen und ist im Projekt des Europäischen Stabilitätsmechanismus sowie im Projekt der
Ertüchtigung der EFSF enthalten.
({3})
Der Debatte darüber, was sonst noch notwendig ist,
will ich hinzufügen: Dieses Europa, wie wir es verstehen, ist ein Europa souveräner Nationalstaaten. Wenn
Kompetenzen abgegeben werden, muss ganz genau untersucht werden, ob das notwendig ist, ob das der Stabilität Europas und der Stabilität der gemeinsamen Währung dient, ja nicht nur, ob das der Stabilität dient,
sondern auch, ob das unabdingbar notwendig ist. Das
muss geprüft werden, weil wir an der nationalen Verantwortung festhalten.
({4})
Zur Klarstellung gehört aber auch, dass das Problem
durch die Nichteinhaltung von Regeln entstanden ist.
({5})
Die rot-grüne Koalition hat damals nicht nur ein bisschen dazu beigetragen, sondern sie hat die Weichen dafür gestellt, dass diese Regeln nicht eingehalten werden.
({6})
Das gehört auch zur Wahrheit. Die Konsequenzen daraus
waren nämlich das Aufweichen der Stabilitätskriterien,
der Weg in die Verschuldung einiger Euro-Staaten und
die fehlende Wettbewerbsfähigkeit einer Reihe von
Euro-Staaten, die zum Teil schon gegeben war, aber
dann noch verstärkt wurde. All das wirkt sich auf den
gesamten Euro-Raum und somit auch auf uns aus. Deshalb stehen wir mit in der Verantwortung.
({7})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Hendricks?
Ja.
Frau Kollegin Hasselfeldt, wir mögen uns persönlich
sehr. Außerdem glaube ich, dass wir in der Finanzpolitik
ähnliche Herangehensweisen haben. Deshalb will ich Ihnen auch nicht zum Vorwurf machen, was ich jetzt sage.
Vielmehr möchte ich ein für alle Mal für das ganze Haus
klarstellen - das habe ich schon häufiger versucht -: Als
die Stabilitätskriterien in Europa geändert wurden, in der
Tat auf Betreiben der französischen und der deutschen
Regierung
({0})
- das ist gar nicht zu bestreiten -, wurden die
Maastricht-Kriterien neu gefasst.
({1})
Das ist offenbar Teufelszeug für die andere Seite des
Hauses.
({2})
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Schuldenbremse, die in unserer Verfassung steht und die wir nach
ganz Europa exportieren wollen, genau diesen
Maastricht-Kriterien nachgebildet worden ist. Das ist offenbar aber kein Teufelszeug.
({3})
Wir sollten einfach einmal fachlich und redlich miteinander umgehen. Außerdem sollte die andere Seite dieses Hauses diese falsche Behauptung einfach nicht mehr
aufstellen.
({4})
Frau Kollegin Hendricks, ich lege großen Wert darauf, dass meine Behauptung nicht falsch war. Im Gegenteil, Sie haben sie sogar noch bekräftigt.
({0})
Sie haben zugegeben, dass auf deutsches und französisches Betreiben hin die Stabilitätskriterien auf europäischer Ebene geändert und damit in ihrer Wirkung
aufgeweicht wurden. Das ist unbestritten. Die SchulGerda Hasselfeldt
denbremse im nationalen Bereich hingegen ist auf eine
nationale Entscheidung zurückzuführen, die mit der europäischen nichts zu tun hatte. Diese finanzpolitische
Bindung der Haushalte des Bundes und der Länder hat
nichts mit der europäischen Regelung zu tun.
({1})
Diese hat im Übrigen eine ganz andere Qualität, weil wir
keine gemeinsame Finanzpolitik auf europäischer Ebene
haben. Auf nationaler Ebene haben wir aber sehr wohl
eine gemeinsame Finanzpolitik.
({2})
Jetzt bin ich bei der Situation in Europa. Gestern hat
das Europäische Parlament die Verschärfung des Stabilitätspakts beschlossen; das wurde schon angesprochen.
Ich muss schon sagen: Sie haben keine Konsequenzen
aus Ihren Fehlern gezogen; denn hier haben Sie den gleichen Fehler gemacht. Die Grünen, die Sozialdemokraten
und die Linken haben bei der Abstimmung über die Verschärfung des Stabilitätspakts wieder den Versuch unternommen, die Kriterien aufzuweichen und zwischen guten Schulden und schlechten Schulden zu unterscheiden.
Sie wollten differenzieren und haben, weil das nicht gelungen ist, nicht zugestimmt. Den gleichen Fehler, den
Sie damals gemacht haben, begehen Sie jetzt wieder.
Das ist wirklich unverantwortlich.
({3})
Sie haben wohl nichts aus dem gelernt, was wir in den
letzten Monaten erlebt haben.
Aufgrund unserer Erfahrungen aus der Aufweichung
der Kriterien und der Verschuldungssituation einiger
Länder haben wir einen europäischen Rettungsschirm
aufgespannt mit den entsprechenden Garantien und Kreditmöglichkeiten, aber auch in Verbindung mit strengen
Auflagen. Dass das Konzept grundsätzlich richtig ist,
zeigen die Entwicklungen in Irland und in Portugal. Da
funktioniert dieser Rettungsschirm mit genau diesem
Mechanismus. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir mit
unserem Grundansatz richtig liegen.
Was wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzes anstreben, ist eine Ertüchtigung dieses Rettungsschirms,
und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens kann sich die
EZB wieder auf ihre geldpolitische Verantwortung konzentrieren. Zum Zweiten kann die EZB Vorsorgemaßnahmen treffen. Zum Dritten - das ist das Wichtigste stehen bei definitiver Zahlungsunfähigkeit eines Landes
Instrumente zur Verfügung, um das Überschwappen der
Krise eines Landes auf die anderen Länder im EuroRaum zu verhindern.
({4})
Das ist der Kern dessen, was wir heute beschließen.
Wenn wir diese Instrumente nicht bekommen sollten,
dann riskieren wir eine Krise mit verheerenden und
unkalkulierbaren Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Spareinlagen, Versicherungen und unsere Wirtschaft - nicht
nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, vielleicht
sogar darüber hinaus. Das ist nicht zu verantworten.
({5})
Klar ist aber auch - das haben wir schon bei der Einrichtung des Rettungsschirms entschieden -, dass das
Ganze nur als Ultima Ratio in Betracht kommt, dass Einstimmigkeit herrschen muss und dass es vor allem verbunden sein muss mit strengen Auflagen und der Überprüfung dieser Auflagen. Mindestens so wichtig wie die
Auflagen selbst sind die Überprüfung der Auflagen und
die konsequente Einhaltung der Sanktionen, also die
Nichtkreditgewährung, wenn die Auflagen nicht eingehalten werden.
Das ist etwas ganz anderes als das, was Rot-Grün immer wieder vorschlägt und wovon Sie sich jetzt zu distanzieren versuchen: die Euro-Bonds. Damit wären nämlich keine Auflagen für die einzelnen nationalen Staaten
verbunden. Damit wären auch nicht der Druck zur
Durchsetzung von Reformen sowie der Druck hin zu
Veränderungen der Strukturen verbunden. Ebenso wenig
wäre damit die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
der einzelnen Nationen verbunden. Das wäre der Weg in
eine unbegrenzte Schuldenunion - zulasten der deutschen Steuerzahler noch dazu.
({6})
Diesen Weg kann niemand verantworten. Diesen Weg
werden wir mit Sicherheit nicht durchgehen lassen. Sie
haben schon einmal eine falsche Weichenstellung vorgenommen. Noch einmal werden wir Sie diesen Fehler
nicht machen lassen.
({7})
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf haben wir
durch die intensive Diskussion über die Fraktionsgrenzen hinweg eine umfassende, fast einmalige Parlamentsbeteiligung erreicht. Diese Parlamentsbeteiligung geht
weit über das hinaus, was wir bisher bei vergleichbaren
Entscheidungen erlebt haben. Bei jeder einzelnen Maßnahme, über die auf europäischer Ebene im Zusammenhang mit dem Rettungsschirm entschieden wird, muss
nämlich vorher die Zustimmung des Parlaments, mindestens eines Parlamentsgremiums, eingeholt werden.
Dieses Votum des Parlaments ist dann bindend. Das
heißt, der deutsche Vertreter ist quasi an der Leine des
Parlaments.
({8})
Man muss sich das einmal vor Augen halten. Ich finde,
das, was die Kolleginnen und Kollegen hier fraktionsübergreifend in den Verhandlungen erreicht haben, ist
ein großartiger Erfolg, der bei der Gesamtabstimmung
deutlich macht: Der Herr des Verfahrens ist das nationale
Parlament. Das, meine Damen und Herren, ist nicht etwa
gegen die Regierung durchgesetzt worden, sondern im
Einvernehmen mit der Regierung.
({9})
Nun wissen wir alle, dass sich keiner und keine von
uns heute die Entscheidung leicht macht. Wir haben viel
diskutiert, nicht nur in vielen Gremien des Parlaments,
sondern darüber hinaus mit vielen Fachleuten, die uns
im Übrigen ganz unterschiedliche Ratschläge gegeben
haben. Die einzige Bemerkung, die bei all diesen Ratschlägen einhellig fiel, lautete: Aber die Verantwortung
habt ihr.
Für mich ist klar, dass der vorgesehene Weg besser
verantwortbar ist als jeder andere Weg, der bisher diskutiert wurde. Er gibt uns Instrumente, um einen möglichen Flächenbrand einzugrenzen. Er stärkt der Regierung bei den schwierigen Verhandlungen auf EU-Ebene
den Rücken. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies in
der schwierigen Situation, die wir zu bewältigen haben,
der richtige Weg ist. Deshalb empfehle ich Ihnen die Zustimmung zu diesem Gesetz.
({10})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Frank Schäffler.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 11. Februar 2010 haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zum kollektiven
Rechtsbruch verabredet. Griechenland sollte auf jeden
Fall finanziell geholfen werden. Damit haben die Staatsund Regierungschefs nichts anderes verkündet als den
Bruch der Nichtbeistandsklausel in den europäischen
Verträgen.
Uns wurde im Deutschen Bundestag versprochen,
dass die Griechenland-Hilfe eine einmalige Hilfe ist, die
absolute Ausnahme, und sonst nichts. Die Tinte war
noch nicht trocken, schon wurde einen Tag später in
Brüssel der jetzige Schuldenschirm, die Einrichtung der
EFSF, vereinbart. Als der Deutsche Bundestag das sogenannte Euro-Rettungspaket verabschiedete, wurde hier
erklärt, dass ohnehin niemand unter diesen Schirm
flüchten wird. Bereits wenige Monate später drängten
sich erst Irland, dann Portugal und bald auch Griechenland unter den Schirm.
Am 27. Oktober 2010 erklärten Sie, Frau Bundeskanzlerin, hier im Hohen Hause:
Er läuft 2013 aus. Das haben wir auch genau so gewollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerung
kann und wird es mit Deutschland nicht geben, weil
der Rettungsschirm nicht als langfristiges Instrument taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaaten
falsche Signale sendet und weil er eine gefährliche
Erwartungshaltung fördert.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren,
keine vier Wochen später galt all dies nichts mehr.
Am 11. März 2011 wurde dann in Brüssel sogar ein
Weg zur Änderung der europäischen Verträge eingeschlagen, der erstens ein Weg zur Ausweitung des bestehenden Euro-Schuldenschirms ist, die der Bundestag nie
wollte, der zweitens ein Weg zur unbefristeten Verlängerung der Laufzeit des Euro-Schuldenschirms ist, die der
Bundestag nie wollte, und drittens ein Weg zur qualitativen Veränderung der europäischen Wirtschaftsverfassung ist, die der Bundestag nie wollte.
Allen Bekundungen zum Trotz hat bereits die erste
Griechenlandhilfe die Situation für Griechenland nicht
entschärft, sondern verschärft. Griechenland nimmt weniger Steuern ein als 2010 und gibt - absolut und prozentual, auch ohne Zinsen - mehr Geld aus. Allen Bekundungen zum Trotz hat der Schuldenschirm die
Überschuldungskrise von Staaten und Banken nicht entschärft, sondern verschärft. Es wird nur teure Zeit gekauft. Doch Griechenland kann aus seiner Überschuldung nicht herauswachsen, erst recht nicht mit noch
mehr Schulden.
Die angeforderten Hilfen und die Aufstockung des
Schuldenschirms werden die Lage noch weiter verschärfen. Am 17. März und am 10. Juni dieses Jahres haben
wir hier in diesem Hohen Hause beschlossen:
Der Deutsche Bundestag erwartet aus verfassungsrechtlichen, europarechtlichen und ökonomischen
Gründen, dass gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme ausgeschlossen
werden.
Genau diese Schuldenaufkaufprogramme sind Gegenstand des heutigen Gesetzes. Not bricht nicht jedes
Gebot. Der Verfassungsbruch ist nicht alternativlos!
Papst Benedikt XVI. zitierte in seiner großen Rede vor
dem Deutschen Bundestag den Heiligen Augustinus mit
den Worten: „Nimm das Recht weg - was ist dann ein
Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“
({0})
Nun wird beim Internationalen Währungsfonds, bei
der Zentralbank und bei der Kommission in Brüssel bereits über die Vervierfachung des Schuldenschirms gesprochen. Sie wollen ihn hebeln.
({1})
Die Wirkung wird dann jedoch sein, dass der Schuldenschirm dieselben Risiken ermöglicht wie ein Hedgefonds. Er wird auf Kredit spekulieren. Die europäischen
Steuerzahler aber haften für diese Spekulationen.
({2})
Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber. Aber
mit Angst wird seit September 2007 eine Politik gemacht, die Recht und Freiheit schleift. Sie fördert die
Angst vor dem Zusammenbruch unseres Finanzsystems.
Das vereinte Europa ist von seinen Gründervätern als
ein Ort der Freiheit gegen alle Formen der Diktatur, Unfreiheit und Planwirtschaft erträumt worden. Das heutige
Europa ist auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft
und in den politischen Zentralismus. Wir sind auf dem
Weg in die Knechtschaft, weil wir uns aus Angst vor eiFrank Schäffler
nem Zusammenbruch des Finanzsystems erpressen lassen.
Die Gründerväter Europas wollten ein Europa des
Rechts und der Rechtsstaatlichkeit. Die heutigen Regierungen des Euro-Raums, die EU-Kommission und die
Zentralbank verabreden sich hingegen wiederholt zum
kollektiven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommission
als Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungen
zum Schutz des Rechts verpflichtet sind.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Sie nutzen die Angst vor einem Zusammenbruch des
Finanzsystems, um Europa in eine neue Stufe des Zentralismus zu leiten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir im
Mai letzten Jahres die EFSF eingeführt haben, habe ich
damals schon der Einführung nicht zugestimmt, weil ich
folgende Sorge hatte - ich will das aus meiner persönlichen Erklärung von damals zitieren -:
Die institutionellen Veränderungen bedeuten einen
irreversiblen Schritt hin zur Transferunion, bei der
die Steuerzahler der stabilitätsorientierten Länder
automatisch für die Disziplinlosigkeit und Verschwendungssucht der anderen Staaten haften.
Das galt es zu verhindern. Wir haben aber jetzt eine andere Erfahrung gemacht. Deswegen komme ich jetzt zu
einer anderen Schlussfolgerung als die Kollegen Willsch
und Schäffler.
({0})
Die letzten anderthalb Jahre haben gezeigt, dass der
Prozess zurück zur Stabilitätsunion zwar nicht schlagartig, aber doch langsam und mühsam begonnen worden
ist und Früchte gezeigt hat. Man muss sich doch nur einmal die Ergebnisse und die Fakten anschauen: Irland war
eines der am schwersten belasteten Länder. Irland wird
heute schon zu niedrigeren Zinsen auf den Märkten bewertet als noch vor wenigen Wochen. Das zeigt: Die
Märkte haben den Aufschwung und die Entwicklung akzeptiert. Portugal und Griechenland unternehmen riesige
Anstrengungen. Portugal hat ebenfalls eine sehr positive
Perspektive. Griechenland ist ein extremer anderer Fall.
Spanien hat die Schuldenbremse in seiner Verfassung
bereits eingeführt.
({1})
Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass das so
schnell ginge? Italien und Frankreich haben im Übrigen
zugesagt, sie ebenfalls einführen zu wollen, und haben
Sparprogramme auf den Weg gebracht. Das heißt, die
Philosophie „Zurück zum Stabilitätspakt“ hat gezündet.
Was wir mit dieser Ertüchtigung des EFSF jetzt machen,
ist nichts anderes, als diesen Weg noch fachlicher zu begleiten, mit noch klareren Konditionen zu verbinden und
die Instrumente nachzureichen, die wir im Moment nicht
haben.
({2})
In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Dinge
ganz besonders herausheben:
Erstens. Endlich wird die Möglichkeit vorgesehen, im
Falle einer Krise eine Bankenrekapitalisierung zu finanzieren. Das wird die Union in die Lage versetzen, sich
aus der Situation einer ständigen Erpressung durch die
Finanzmärkte zu befreien. Dann kann dieser Infektionsprozess - von Bank zu Bank, von Land zu Land - nicht
mehr stattfinden. Wenn das Geld bereitsteht, ist es möglich, die gefährdeten Banken zu sichern, so wie das 2008
bei der Commerzbank gemacht worden ist. Sie haben
gesehen, dass die Commerzbank den größten Teil des
Darlehens bereits mit Zinsanteil zurückgezahlt hat.
({3})
Das war für den Staat und den Steuerzahler die viel
preiswertere Variante.
({4})
Das Zweite ist: All diese finanzwirksamen Entscheidungen stehen unter dem Vorbehalt der Zustimmung
durch den Deutschen Bundestag.
({5})
Das ist eine fundamentale Veränderung im Verhältnis
zwischen Bundestag und Bundesregierung. Das wird
den Mitgliedern der Bundesregierung nicht immer ganz
angenehm sein.
({6})
Es hilft ihnen aber auch. Es stärkt ihre Position in den
Verhandlungen mit den anderen Staaten.
Herr Gysi hat sich wegen dieses kleinen Gremiums
aufgeregt. Das ist doch klar: Wenn am Wochenende eine
Krise wegen einer oder zwei Banken entsteht, dann muss
schnell gehandelt werden. Dann können wir nicht den
Deutschen Bundestag einberufen, sondern dann muss
ein kleines Gremium handeln, und zwar vertraulich, weil
diese Banken sonst sofort in eine Krise geraten würden.
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Der Bundestag kann
aber die Zuständigkeit für diese Genehmigung immer an
sich ziehen, sodass die Verdächtigungen, die in diese
Richtung zielen, wirklich unberechtigt sind.
({7})
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Wir haben uns bei der Einführung der Schuldenbremse
für Deutschland gemeinsam mehrere Jahre Zeit genommen, nämlich von 2011 bis 2016. Wir können von unseren Partnerländern nicht verlangen, dass sie das alles viel
schneller hinbekommen, obwohl sie eine schlechtere
Ausgangsposition haben. Auch diese Länder brauchen
natürlich einige Jahre der Anpassung. Diese Jahre der
Anpassung müssen begleitet werden, auch durch diese
gemeinschaftlichen Finanzinstrumente. Es müssen aber
immer strikte Bedingungen und Auflagen bestehen, damit der Weg zur Stabilitätsunion gesichert ist.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
({0})
Deswegen bin ich überzeugt davon, dass die heutige
Entscheidung eine richtige ist, die man gerade auch als
kritisch denkender Ökonom mit voller Überzeugung
treffen kann. Wir werden zustimmen.
Danke.
({1})
Nun hat Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst zwei Vorbemerkungen machen:
Erstens. Das, was die Kollegen Schneider und Schick
hier versucht haben, nämlich die Glaubwürdigkeit der
Bundesregierung zu untergraben, halte ich für einen
wirklich unanständigen Vorgang.
({0})
Wie kann man von der Bundesregierung Aussagen zu einem Vorgang erwarten, der noch gar nicht abgeschlossen
ist? Sich abschließend zu den Guidelines zu äußern, die
erst verhandelt werden, ist schlechterdings unmöglich.
({1})
Nebenbei bemerkt: Wenn wir dieses Gesetz heute beschließen und der Bundespräsident unterschrieben hat,
dann muss über diese Guidelines zuerst im Haushaltsausschuss entschieden werden, bevor der Bundesfinanzminister auf europäischer Ebene zustimmen kann. Das
weiß der Kollege Schneider ganz genau. Deshalb halte
ich sein Vorgehen für schäbig.
({2})
Zweite Vorbemerkung. Es ist sicherlich ein bemerkenswerter Vorgang, dass zwei der bekannten Neinsager
in dieser regulären Debatte reden konnten.
({3})
Ich denke, das ist einerseits bemerkenswert, aber andererseits auch Ausweis einer besonderen demokratischen
Kultur; denn in der Öffentlichkeit wurde ständig der Eindruck erweckt, die sogenannten Abweichler würden unterdrückt oder gar gemobbt. Heute haben wir das Gegenteil dessen erlebt. Darauf kann dieses Parlament auch
stolz sein.
({4})
Jetzt zur Sache. Ich glaube, abschließend kann man
drei Aspekte nochmals in den Vordergrund rücken:
Erstens. Verantwortung für Stabilität muss gelebte
Kultur aller Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion sein. Das ergibt sich, meine Damen und Herren, schon aus der Architektur dieses Rettungsschirms;
denn der Rettungsschirm dient der zielgerichteten, befristeten Krisenhilfe, die immer an strikte Auflagen für
Reformen und für Haushaltskonsolidierung geknüpft ist.
Es wird also aus diesem Fonds keine dauerhafte Unterstützung überschuldeter Staaten, keine Transferunion geben.
({5})
Aus diesem Rettungsfonds resultiert auch kein Einfallstor für die sogenannten Euro-Bonds; denn wir agieren
generell nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir
geben also betroffenen Ländern mehr Zeit, um sich
selbst helfen zu können. An dieser Stelle sage ich eindeutig und klar: Ich bin froh, dass Rot-Grün dieses Land
derzeit nicht regiert; dann hätten wir nämlich die EuroBonds schon.
({6})
Deshalb ist es gut für unser Land, dass wir eine christlich-liberale Regierung haben. Es ist gut für unser Land,
dass wir regieren.
({7})
Nebenbei bemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Erfreulicherweise lernt die SPD bei dieser Frage inzwischen dazu und distanziert sich vorsichtig von der Idee
der Euro-Bonds.
Was ist Ursache all dieser krisenhaften Entwicklungen? Das, meine Damen und Herren, sind unsolide
Staatsfinanzen. Deshalb sind unsolide Staatsfinanzen
auch der Ansatzpunkt für die Lösung der Probleme. Deshalb brauchen wir einen Wandel der Stabilitätskultur.
Aus diesem Grunde ist dieses Projekt in den betroffenen
Ländern nicht nur ein ökonomisches Projekt. Es ist - erlauben Sie mir, dies zu sagen - auch ein soziokulturelles
Projekt. Wir sollten alles dafür tun, dass bei den sogenannten Wackelkandidaten genau dieser Gesinnungswandel unterstützt wird. Das betrifft auch das Europäische Parlament. Das betrifft selbstverständlich auch
europäische Institutionen, die entsprechend gestärkt
werden müssen. Da halte ich die gestrigen Entscheidungen zum sogenannten Sixpack für einen ersten wichtigen
und guten Schritt.
Für alle, meine Damen und Herren, die an der Wirksamkeit dessen zweifeln, kann ich nur sagen: Von
Schlittschuhläufern wissen wir, dass das richtige Maß an
Druck auch das härteste Eis zum Schmelzen bringt, und
dann flutscht es. Genau in dem Sinne gehen wir weiter
voran.
Was wir derzeit an Veränderungen in Griechenland
erleben, sollten wir mit großem Respekt zur Kenntnis
nehmen; denn es geht letztlich um die simple Einsicht:
Ohne Verantwortung für Stabilität kann die Währungsunion nicht funktionieren. Genau deshalb ist auch unsere
Schuldenbremse mittlerweile für ganz Europa ein
Exportschlager geworden. Wir setzen darauf, dass Stabilität Grundlage ist für Vertrauen in der Wirtschaft und
für Vertrauen in den Märkten. Darin unterscheiden wir
uns übrigens auch von einigen anderen Staaten. Wir halten eben nichts davon, die Notenpresse anzuwerfen und
letztlich über Inflation Haushalte zu sanieren, sondern
wir setzen auf Stabilität.
({8})
Ein zweiter Aspekt. Dieser größere Rettungsfonds reduziert die Gefahr, dass kleine Länder die Stabilität der
gesamten Euro-Zone gefährden. Gerade deshalb ist die
Ausweitung, die Ertüchtigung dieses Rettungsschirms
von so großer Bedeutung. Um es auf den Punkt zu bringen - auch im Hinblick auf die Reden unserer beiden
Neinsager -: Derjenige, der ein gefährdetes Euro-Land
retten will, muss der Ausweitung der EFSF zustimmen.
Aber auch derjenige, der die Insolvenz eines Landes in
Kauf nehmen will, muss diesem Rettungsschirm zustimmen, damit wir die Folgen besser beherrschen können.
({9})
An dieser Stelle haben diejenigen, die diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, einen echten Bruch in der Logik
ihrer Argumentation. Diesen Vorwurf kann ich ihnen
nicht ersparen.
({10})
Lassen Sie mich auf den dritten wichtigen Aspekt, der
schon von mehreren Vorrednern benannt wurde, noch
einmal zusammenfassend eingehen. Mit diesen neuen
Regeln zur Parlamentsbeteiligung wird die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen massiv
gestärkt. Wir erleben eine Weichenstellung, die mit Sicherheit Strahlkraft auch auf zukünftige europäische
Projekte ausüben wird, denn es geht um eine bessere demokratische Legitimation fundamentaler Entscheidungen auf europäischer Ebene, die aber die nationale Politik im Kern betreffen.
Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist, die Arbeit dieses Rettungsschirms in Zukunft konstruktiv und auch
kritisch zu begleiten und dabei immer das Haushaltsrecht des deutschen Parlaments zu wahren. Darum geht
es im Kern. Deshalb bin ich überzeugt: Mit der Regelung, die wir getroffen haben, mit dem abgestuften Verfahren der Parlamentsbeteiligung, haben wir eine
Lösung gefunden, die Entscheidungen der Bundesregierung künftig auf eine ganz neue Form der demokratischen Legitimation stellt. Das ist ein Quantensprung in
dieser Richtung. Ich danke an dieser Stelle Herrn
Regling, dass er - dies hat er in der Anhörung gesagt darin keine Nachteile für die Wirksamkeit der EFSF
sieht. Das ist eine bedeutsame Aussage.
Ich komme zum Schluss und darf zusammenfassend
sagen: Die Erweiterung des europäischen Rettungsfonds
ist ein wichtiger Schritt hin zu einer stabileren und zukunftsfähigeren Währungsunion. Der italienische Finanzminister Tremonti hat kürzlich gesagt:
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Ich bin am Schluss. - „Jetzt hängt alles an Europa und
Europa hängt von Deutschland ab“. In diesem Sinne
bitte ich alle, der Verantwortung, die wir haben, gerecht
zu werden und diesem Gesetzentwurf mit großer Einigkeit zuzustimmen.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines eu-
ropäischen Stabilisierungsmechanismus. Der Haushalts-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksachen 17/7067 und 17/7130, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
auf Drucksache 17/6916 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/7179? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen gegen
die Stimmen der Linken abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen
die Stimmen der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den
Gesetzentwurf namentlich ab. Dazu liegen eine ganze
Reihe schriftlicher Erklärungen vor.1) Ebenso haben elf
Abgeordnete der Fraktion der Linken beantragt, mündli-
che Erklärungen zur Abstimmung abzugeben. Diese Er-
klärungen werden nach den Abstimmungen zu diesem
Thema abgegeben, damit wir jetzt eine reibungslose Ab-
stimmung haben.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Vorne rechts
fehlen noch Schriftführer. - Ich glaube, jetzt kann die
Abstimmung beginnen.
Ich eröffne die Abstimmung.
Nun die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mit-
glieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.2)
Wir kommen zu den Abstimmungen über die Entschließungsanträge.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herzlich,
Platz zu nehmen, damit wir diese Abstimmungen ordnungsgemäß, also übersichtlich, durchführen können.
Vor allem vor der Regierungsbank ist eine gewisse Unübersichtlichkeit eingetreten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie Platz neh-
men?
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/7175. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stim-
men der SPD und der Grünen abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7180. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
1) Anlagen 2 bis 5
2) Ergebnis Seite 15236 C
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke von allen anderen Fraktionen abgelehnt worden.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7194. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7195: Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der
SPD und der Grünen abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Haushaltsausschusses auf
den Drucksachen 17/7067 und 17/7130 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/6945 mit dem
Titel „Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäischer Stabilisierungsmaßnahmen sichern und stärken“
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP, Grünen und der Linken bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, kommen wir nun zu den mündlichen Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung. Aus der Fraktion
der Linken haben elf Kolleginnen und Kollegen verlangt, solche mündlichen Erklärungen abzugeben. Das
geschieht nun nacheinander und könnte eine Stunde dauern; mal sehen, wie lange es dauert.
Es beginnt Sahra Wagenknecht.
({2})
Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schon sagen: Ich habe selten eine Parlamentsdebatte im Deutschen Bundestag erlebt, in der so viel und so schamlos
geheuchelt und gelogen wurde wie in der heutigen Debatte.
({0})
Ich habe gegen die Erweiterung des sogenannten
Euro-Rettungsschirms gestimmt;
({1})
denn durch diesen Euro-Rettungsschirm wird die europäische Währung nicht gerettet, und schon gar nicht
werden die Lebensverhältnisse der Menschen in Europa
abgesichert und gerettet. Das Einzige, was durch diesen
Rettungsschirm wirklich gerettet wird, sind die Gewinne
der Banken, der Hedgefonds und der Spekulanten, und
das ist perfide.
({2})
Dass Sie das hier dann auch noch mit schönen Worten
und schönen Ideen verklären, ist unglaublich, zumal Sie
den Leuten noch nicht einmal reinen Wein darüber einschenken, wie hoch die Haftung wirklich ist, die hier
eingegangen wird - gerade auch vor dem Hintergrund
der aktuellen Pläne zur weiteren Hebelung.
({3})
Das ist kein Programm für weniger Schulden, sondern
das ist ein Programm für mehr Schulden und mehr Verschuldung,
({4})
und zwar einerseits in der Bundesrepublik Deutschland,
wenn nämlich all diese Bürgschaften irgendwann tatsächlich bedient werden müssen, und andererseits ist es
ein Programm für mehr Schulden und mehr Verschuldung in den betroffenen Ländern, denen damit angeblich
geholfen werden soll. In Wirklichkeit müssen diese Länder ihre Wirtschaft aber mit martialischen Sparprogrammen in die Knie zwingen. Es sollte Ihnen schon irgendwie zu denken geben, dass Griechenland eineinhalb
Jahre nach Beginn der angeblichen Rettung 20 Milliarden Euro mehr Schulden als vorher hat.
Wer Schulden wirklich reduzieren will, der muss erstens auch Vermögen reduzieren, aber bitte schön nicht
die Vermögen der einfachen Leute, die mit diesem ganzen Desaster nichts zu tun haben, sondern bitte schön die
Vermögen derer, die profitiert haben von der steigenden
Staatsverschuldung,
({5})
profitiert haben von Steuerdumping, profitiert haben von
der Bankenrettung, profitiert haben von der ganzen Spekulation. Es ist doch kein Zufall, dass die Vermögen der
Millionäre und Multimillionäre in Europa in den letzten
Jahren ähnlich explodiert sind wie die Schulden der
Staaten. Das hängt doch zusammen. Das sind zwei Seiten einer Medaille.
({6})
Darüber reden Sie nicht, weil Sie darüber nicht reden
wollen.
({7})
Wer Schulden wirklich reduzieren will, der muss
zweitens dieses aberwitzige System beenden, das dafür
sorgt, dass die Finanzierungsspielräume der Staaten am
Ende davon abhängen, ob Banker oder Ratingagenturen
den Daumen heben oder senken. Das ist ein völlig absurdes System. Wer nichts dafür tut, die Staaten aus der
Geiselhaft dieser Finanzhaie zu befreien, der hat die Demokratie abgeschrieben.
({8})
Sie haben die Demokratie abgeschrieben, und Sie haben auch abgeschrieben, einen wirklichen Ausweg aus
dieser Krise zu finden, und zwar nicht, weil es keine
Auswege gibt, sondern weil Sie alle - die Regierung und
auch die angebliche Opposition aus SPD und Grünen,
die heute wieder einmal belegt hat, dass sie mit der Regierung in solchen Fragen absolut einer Meinung ist schlicht und ergreifend zu feige und zu devot sind, eine
Politik zu machen, die sich mit den Bankern anlegt und
die gegen die Banker gerichtet ist. Das tun Sie alle nicht.
({9})
Der Weg, den Sie gehen, ist unverantwortlich; denn es
ist das hart erarbeitete Steuergeld von Millionen Menschen, das hier verpulvert wird, um die Ackermänner
zufriedenzustellen. Der Weg, den Sie gehen, ist ökonomischer Aberwitz; denn er wird am Ende sehr wahrscheinlich die Währungsunion sprengen. Und der Weg,
den Sie gehen, ist antieuropäisch; denn er trägt dazu bei,
das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt
restlos zu untergraben. Das ist das eigentliche Problem.
({10})
Deswegen meine ich: Jeder, dem die europäische Idee
oder die ökonomische Vernunft irgendwie am Herzen
liegt, musste bei dieser Abstimmung gegen die Erweiterung des sogenannten Rettungsschirms stimmen.
({11})
Nun hat Andrej Hunko das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe
eine persönliche Erklärung zur Abstimmung zur EFSF
als jemand ab, der aus der Europastadt Aachen kommt,
der dort im Dreiländereck Belgien-NiederlandeDeutschland aufgewachsen ist und der in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates aktiv an der europäischen Integration beteiligt ist. Ich gebe sie auch als
Mitglied von Attac ab, einer europaweiten Organisation,
die schon sehr frühzeitig etwa die Finanztransaktionsteuer gefordert hat.
Diese Debatte heute hat allerdings nichts mit proeuropäisch oder antieuropäisch zu tun, sondern sie hat etwas
damit zu tun, wer für die Kosten der Krise zahlen soll.
({0})
Ich habe die EFSF erstens abgelehnt, weil sie in erster
Linie ein Airbag für die Finanzindustrie sowie für die
Spekulanten und Finanzhaie ist, die aus Steuermitteln
gerettet werden sollen. Anstatt die Gläubiger an den
Kosten der Krise zu beteiligen, wird ein Mechanismus
zur Risikoabsicherung der Spekulationsgewinne, eine
dauerhafte Pipeline aus Steuergeldern in den Finanzsektor, geschaffen.
Der zweite Grund, warum ich das ablehne, ist, dass
die mit dieser EFSF verknüpften Austeritätsprogramme
die Krise gerade in Griechenland weiter verschärfen
werden. Anstatt etwa in Griechenland Sozialleistungen
zu kürzen und öffentliches Eigentum dem Ausverkauf
preiszugeben, wäre in Griechenland ein sozial-ökologisches Aufbauprogramm, finanziert durch Gläubigerbeteiligung, kräftige Vermögensabgaben und Reduzierung
der überhöhten Militärausgaben, notwendig.
({1})
Drittens lehne ich die EFSF ab, weil sie innerhalb der
Europäischen Union eine Entdemokratisierung - gerade
auch gegenüber dem griechischen Parlament; Griechenland ist ja die Wiege der Demokratie in Europa - bedeutet. Gerade jetzt in der Krise wäre es notwendig, zu einem Mehr an Demokratie zu kommen - etwa auch zu
einer Beteiligung der Bevölkerung durch Referenden
wie zum Beispiel in Island, wo darüber abgestimmt
wurde, wer die Kosten der Krise im Fall der IcesaveBank zahlen soll. Wir brauchen mehr Demokratie und
keine Entdemokratisierung in der Krise.
({2})
Die Euro-Krise steht im Zusammenhang mit den exorbitant gestiegenen privaten Vermögen, die in etwa den
gesamten Staatsschulden auf EU-Ebene entsprechen, sowie mit den extremen Leistungsbilanzunterschieden innerhalb des Euro-Raums. Um die Krise zu lösen, müssen
die Staatsschulden durch eine kräftige Vermögensabgabe
reduziert, die deutschen Exportüberschüsse durch nachhaltige Lohnerhöhungen ausgeglichen und die Finanzmärkte endlich reguliert werden. All das ist in der EFSF
nicht vorgesehen.
Besonders peinlich bin ich von dem Brief des griechischen Parlamentspräsidenten berührt, der uns allen vorgestern zugestellt wurde. Er bittet uns um Würdigung all
der Kürzungen im Sozialbereich, die er detailliert auflistet: Rentenkürzungen, Kürzungen im öffentlichen Dienst
usw. Sie kennen die Liste.
Ich kann diese Politik nicht würdigen. Ich kann ihr
auch nicht entsprechen. Im Gegenteil: Dieses Programm
findet nicht in meinem Namen und nicht im Namen der
Fraktion Die Linke statt. Ich würdige hingegen den Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die soziale
Barbarei, die dort stattfindet, und gegen die wirtschaftliche Unvernunft.
({3})
Ich möchte auch würdigen, dass jetzt von der spanischen Bewegung „¡Democracia real YA!“ versucht wird,
in Zusammenarbeit mit Attac europaweit endlich eine
Bewegung von unten zu schaffen: für ein anderes Europa, ein soziales Europa. Ich möchte dazu aufrufen,
beim europaweiten Aktionstag am 15. Oktober vor der
Europäischen Zentralbank in Frankfurt mitzumachen.
Das ist der Weg der direkten Bürgerbeteiligung. Wir
brauchen ein anderes Europa, ein Europa, das sozial ist,
sonst wird uns diese EU um die Ohren fliegen.
Vielen Dank.
({4})
Meine Damen und Herren, zwischendurch darf ich,
damit die Ungeduld nicht zu groß wird, das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von
Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsmechanismus, Drucksachen 17/6916, 17/7067
und 17/7130, mitteilen: abgegebene Stimmen 611. Mit
Ja haben gestimmt 523, mit Nein haben gestimmt 85,
Enthaltungen 3. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 611;
davon
ja: 523
nein: 85
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({8})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({12})
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
hierse
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({17})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({18})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({20})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({21})
Peter Weiß ({22})
Sabine Weiss ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({24})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({25})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({26})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({27})
Hubertus Heil ({28})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({29})
Frank Hofmann ({30})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({31})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({32})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({33})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({34})
Michael Roth ({35})
Marlene Rupprecht
({36})
Axel Schäfer ({37})
Bernd Scheelen
({38})
Werner Schieder ({39})
Ulla Schmidt ({40})
Silvia Schmidt ({41})
Carsten Schneider ({42})
Swen Schulz ({43})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({44})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({45})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({46})
Heinz Lanfermann
hierse
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({47})
Michael Link ({48})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({49})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({50})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({51})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({52})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({53})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({54})
Volker Beck ({55})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({56})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({57})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({58})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({59})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Bosbach
Thomas Dörflinger
Herbert Frankenhauser
Alexander Funk
Dr. Peter Gauweiler
Josef Göppel
Manfred Kolbe
Dr. Carsten Linnemann
Thomas Silberhorn
SPD
Wolfgang Gunkel
FDP
Jens Ackermann
Torsten Staffeldt
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({60})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
hierse
Harald Weinberg
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Enthalten
CDU/CSU
Veronika Bellmann
SPD
FDP
Sylvia Canel
({61})
Wir setzen jetzt die Serie der mündlichen Erklärungen
fort. Ich erteile das Wort Kollegin Sevim Dağdelen.
({62})
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Ich habe heute gegen die Erweiterung des sogenannten
Euro-Rettungsschirms gestimmt, weil ich es einfach verantwortungslos finde, dass jetzt schon wieder Milliarden
an Steuergeld versenkt werden, um Bankprofite und
Spekulationsgewinne zu sichern.
({0})
Die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungsschirms wird weder den Euro retten, noch Europa retten,
noch wird es den Menschen in Griechenland, Portugal,
Irland oder irgendwo anders helfen. Das Gegenteil ist
der Fall: Die wirtschaftlich unsinnigen und sozial ungerechten Kürzungsprogramme in den Krisenländern sind
Rettungsringe aus Blei, die zu noch mehr Schulden führen werden und diese Länder weiter in die Rezession
treiben werden. Das können wir ja aktuell in Griechenland beobachten.
Sie sagen, Sie wollen die Demokratie retten. Dabei
haben Sie heute wieder eine Politik gegen die Mehrheit
der Menschen im Land gemacht. Sie setzen heute das
Diktat der Finanzmafia um, statt den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, die gegen die Erweiterung dieses Rettungsschirms ist. Zu Recht ist die
Mehrheit der Bevölkerung gegen diesen Rettungsschirm; denn für die mindestens 253 Milliarden Euro
Bürgschaft Deutschlands muss letztlich der Steuerzahler
geradestehen. Ich werde mich nicht daran beteiligen, weder heute noch morgen, dass weiterhin die kleinen Leute
für die Party der Zockerbuden und der Superreichen zahlen sollen. Deshalb habe ich heute die Erweiterung dieses sogenannten Euro-Rettungsschirms abgelehnt.
Sie sagen, Sie wollen die Schulden reduzieren und abbauen. Wer die Schulden aber wirklich abbauen will, der
muss auch die Vermögen reduzieren. Die Schuldenkrise
und auch der wachsende private Reichtum der Vermögenden sind nämlich zwei Seiten einer Medaille.
({1})
Ich habe heute diesen sogenannten Rettungsschirm
abgelehnt, weil ich eine Politik ablehne, die sich den
Profitwünschen der Banken und Konzerne bedingungslos unterordnet. Ich sagte heute Nein zu einer Politik, die
nicht den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, sondern vor allem denen der Banken, Spekulanten und oberen Zehntausend dient.
({2})
Ihre Solidarität gilt nur diesen Zockerbanden, der
Finanzmafia. Unsere Solidarität gilt stattdessen den
Menschen in den Ländern, die diese Krise aufgrund der
von Ihnen betriebenen deutschen Wirtschaftspolitik, die
in den letzten Jahre zu Lohndumping führte, durchleben
müssen. Unsere Solidarität gilt den Menschen, die sich
in Griechenland gegen die Kürzungsprogramme und die
Rettungsringe aus Blei, die Sie ihnen vorwerfen, erheben. Wir sind solidarisch mit den Menschen in Portugal
und Irland, die Nein sagen zu einem Europa, das unsozial und ungerecht ist. Deshalb habe ich heute mit Nein
gestimmt.
({3})
Die nächste mündliche Erklärung gibt Diether Dehm
ab.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe heute gegen die Aufstockung der EFSF gestimmt,
({0})
weil mit dem Gesetzentwurf erneut gegen die großartige
Idee eines friedlichen und sozialen Europa verstoßen
wird. Mit der EFSF-Aufstockung werden nicht die Griechen gerettet, sondern die Besitzer griechischer Schuldverschreibungen.
Die mit der EFSF verordnete Austeritätspolitik für
Griechenland hat antieuropäische Konsequenzen, übrigens so wie das deutsche Lohndumping, das den Export
verbilligt und zu den Überschüssen führt. Wenn man,
wie in Deutschland, innerhalb von zehn Jahren die Reallöhne um 4,5 Prozent senkt,
({1})
dann werden zwar der Export verbilligt und die Exportüberschüsse gesteigert, dann führt das aber auch dazu,
dass die Binnennachfrage nicht steigt, und das in dem
Land mit der höchsten Bevölkerungszahl in Europa.
Ich weiß nicht, ob Herr Brüderle noch anwesend ist.
Er verbreitet sich ja gelegentlich in Interviews darüber,
dass der Druck auf die Griechen weiter verschärft werden muss. Aber richten Sie bitte den Blick auf die Konsequenzen: Die Streichung von 174 000 Stellen im öffentlichen Dienst bis Ende dieses Jahres, wie es die
griechische Regierung vorhat, und zwar 84 000 letztes
Jahr und 90 000 dieses Jahr, entspräche in Deutschland
dem Statistischen Bundesamt zufolge der Streichung
von 917 000 Stellen im öffentlichen Dienst.
Die Kürzung der Sozialausgaben in Griechenland, die
Sie verordnen, entspricht 1,5 Prozent des griechischen
BIP. Auf Deutschland übertragen entspräche das
131,8 Milliarden Euro, also fast einem Viertel der im
Einzelplan für Arbeit und Soziales veranschlagten Ausgaben.
Unter den europäischen Völkern zählen die Deutschen gewiss eher zu den duldsamen. Aber mit diesen
Kürzungen würden Sie auch in diesem Land ein Pulverfass anrühren.
Das alles geschieht, ohne die Ackermänner und Großprofiteure der Krise in Deutschland und die Jachtbesitzer
in Griechenland zur Steuerkasse zu bitten.
({2})
Ich denke, auch der soziale Frieden ist ein Wirtschaftsfaktor. Jedenfalls wurde das an diesem Rednerpult in der
Vergangenheit oft gesagt.
Wo der Staat seine in Art. 20 unseres Grundgesetzes
verbriefte Sozialstaatlichkeit aufgibt, verspielt er das
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und nährt die
Rechtspopulisten, die sich europaweit in einem einzigen
Siegeszug wähnen. Die deutsche und griechische Politik
verwalten den Mangel. Überall wird gekürzt. Aber die
europäischen Banken haben allein in diesem Jahr bereits
Dividenden in Höhe von 40 Milliarden Euro ausgeschüttet.
Die Großzocker werden weder gezähmt noch reguliert noch gerecht zur Kasse gebeten. Eine echte Gläubigerbeteiligung findet nicht statt. Bei der Deutschen Bank
ist bei einem gesamten Bilanzvolumen von 2 000 Milliarden Euro nur ein hartes Eigenkapital von 30 Milliarden Euro vorhanden. Das entspricht nicht dem, was wir
uns von der Aufstockung des Eigenkapitals erwartet haben.
Dieser unsozialen und ungerechten Politik, die nicht
zugunsten der Opfer, sondern zugunsten der Ackermänner und anderer Täter auf dem Rücken der Bürgerinnen
und Bürger ausgetragen wird, kann ich nach bestem
Wissen und Gewissen meine Stimme nicht geben.
({3})
Die nächste mündliche Erklärung gibt Inge Höger ab.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lehne
die Ausweitung und Stärkung des sogenannten EU-Rettungsschirmes ab. Das Gesetz ist eine schlechte Nachricht für die Menschen in Europa. Es ist eine schlechte
Nachricht für die Beschäftigten in Griechenland. Sie sollen dank der EU-Auflagen künftig noch weniger Geld in
der Tasche haben, dafür aber länger arbeiten - wie irrwitzig! Es ist eine schlechte Nachricht für Griechenlands
Rentnerinnen und Rentner. Auch sie sollen für eine
Krise zahlen, die sie nicht verursacht haben.
Den Beschäftigen des öffentlichen Dienstes droht nun
Arbeitslosigkeit. Und die Menschen in Griechenland, die
auf öffentliche Daseinsvorsorge angewiesen sind, sind
die Leidtragenden dieses ungerechten Krisenmanagements. Ich denke zum Beispiel an kranke Menschen, die
es sich nicht leisten können, die hohen Kosten in privatisierten Krankenhäusern zu tragen. Der Rettungsschirm
sieht nämlich weitere Privatisierungen vor. Das ist auch
eine schlechte Nachricht für die Studierenden, die sich
keine Studiengebühren leisten können. Zweiklassenbildung, Zweiklassenmedizin, Zweiklasseneuropa!
Das alles gilt letztendlich nicht nur für Griechenland,
sondern übt auch Druck auf andere EU-Länder aus. Ich
frage die Abgeordneten, die dafür gestimmt haben: Wissen Sie eigentlich, was Sie da anrichten? Ich befürchte,
einige von Ihnen wissen es. Der EU-Rettungsschirm ist
eine gute Nachricht für die europäischen Eliten, eine
gute Nachricht für die Konzerne und Banken, die an
Griechenland Kredite vergeben haben, denn sie können
weiter ungehindert Geschäfte machen - ich denke da besonders an die deutsche Rüstungsindustrie -, eine gute
Nachricht für Europas Spekulanten, denn sie können
weiter zocken in dem Vertrauen, dass es eine EU gibt,
die für ihren Schaden aufkommt. Zahlen müssen wieder
die kleinen Leute. Ich kann nur hoffen, dass die Proteste
und Streiks in Griechenland und anderswo so viel wie
möglich von dem verhindern, was Sie heute beschlossen
haben.
({0})
Ihre Euro-Rettung ist auch eine gute Nachricht für
diejenigen, die die Menschen in Europa gegeneinander
aufbringen wollen; denn das Problem sind nicht in erster
Linie die griechischen Staatsfinanzen. Schließlich sind
andere Staaten auch hoch verschuldet. Das Problem ist
vielmehr die Finanzmarktliberalisierung, die Rot-Grün
2004 eingeführt hat. Sie lenken von dieser gescheiterten
Politik im Interesse der Ackermänner ab. Sie machen die
Griechinnen und Griechen zu Sündenböcken und geben
damit Anlass für rassistische Hetzkampagnen. Sie spielen damit Faschisten und Nazis in die Hände. Was das
mit Völkerverständigung, Solidarität oder europäischer
Integration zu tun haben soll, soll mir mal einer erklären.
Ich kann nur wiederholen, was in den Reihen der europäischen Linkspartei in diesen Tagen des Öfteren gesagt wird: Die EU wird entweder demokratisch, sozial
und solidarisch werden, oder sie wird nicht bestehen.
({1})
Nächste persönliche Erklärung, Heidrun Dittrich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich stimmte gegen das Gesetz, weil ich gegen Ihre Politik des Lohndumpings stimme. Diese Politik hat erst recht in die Krise geführt. Sie wird fortgesetzt, sie wird aber keine Lösung bieten; denn das ist
keine Europarettung. Das ist ein Angriff auf die arbeitenden Menschen in ganz Europa. Diesem Angriff widersetzen wir uns hier als Linke.
({0})
Den Griechen wurde mit den Finanzhilfen der EU ein
Kürzungsprogramm aufgezwungen. Das ist unsozial.
Die Menschen in Griechenland mussten Rentenkürzungen, Erhöhungen des Renteneintrittsalters und Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr um 30 Prozent
hinnehmen. Die Mindestlöhne wurden gesenkt und der
Kündigungsschutz gelockert. Es ist noch nicht einmal sicher - so hat es der griechische Finanzminister im Fernsehen gesagt -, ob die Löhne und Renten überhaupt noch
ausgezahlt werden können. Wenn das auch der deutschen Bevölkerung droht, dann werden alle aufwachen.
Ich verstehe nicht: Aus welchem Grund müssen die
Schüler, die Rentner und die Beschäftigten die Krise allein bezahlen? Ich stimmte dagegen, weil ich meine,
dass die Verursacher und die Profiteure der Krise zur
Kasse gebeten werden müssen.
({1})
Das sind die Banken, die Investmentfonds und die Versicherungen. Es ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages, zum Wohle des Volkes zu handeln und nicht zum
Wohle der Finanzmärkte.
Allein das Gesamtvermögen der Millionäre in Europa
- das wurde heute schon gesagt - beläuft sich auf
7,5 Billionen Euro. Dem stehen Staatsschulden in Höhe
von 10 Billionen Euro gegenüber. Da muss man nicht
groß rechnen, sondern es wird klar: Besteuert die Superreichen, und es ist Geld da, um die Schuldenkrise zu
überwinden.
({2})
Europa besteht nicht nur aus Vorstandsmitgliedern
und Bankiers. Es besteht vor allem aus vielen Völkern.
Mein Respekt gilt den streikenden Menschen in Griechenland, in Spanien und in Großbritannien, wo die Gewerkschaften für den 2. Oktober zur Verteidigung des
Sozialstaats aufgerufen haben.
Ich stimmte dagegen, weil die Linke für ein soziales
Europa eintritt. Ich hätte dafür gestimmt, wenn wir soziale Mindeststandards eingeführt, höhere Mindestlöhne
festgelegt und das Renteneintrittsalter gesenkt hätten.
Europa kann nur funktionieren, wenn der Lebensstandard verbessert wird. Ebenso wie meine Kollegin vorhin
möchte ich François Mitterand zitieren, der bereits 1973
festgestellt hat: Europa wird sozial sein, oder es wird
nicht sein.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Es folgt Michael Schlecht.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
habe mit Nein gestimmt, weil alle sogenannten Hilfskredite mit scharfen Lohn- und Sozialkürzungen verbunden
sind, die das Leben der Menschen in Griechenland und
in anderen Ländern wie zum Beispiel in Portugal nur
noch weiter verschlechtern. Dies ist nicht nur unsozial,
sondern die betroffenen Länder werden noch weiter in
die Krise gestürzt. Deshalb habe ich mit Nein gestimmt.
Ich habe auch mit Nein gestimmt, weil diese Euro-Rettung in Wirklichkeit ein Rettungsring aus Blei ist, der alles nur noch schlimmer macht.
({0})
Wohin dies führt, kann man am brutalsten am Beispiel von Griechenland sehen: 2009, als in Deutschland
die Wirtschaft um 5 Prozent einbrach, ging es Griechenland noch einigermaßen gut. Aber als dann Griechenland
im Jahr 2010, maßgeblich durch Intervention der deutschen Regierung, die ersten Schritte hin zu einer Austeritätspolitik und die ersten Lohn- und Sozialkürzungen
aufgezwungen worden sind, brach das Wirtschaftswachstum in Griechenland um 4,5 Prozent ein. Es steht
zu befürchten, dass es im Jahr 2011 noch schlimmer
wird. Die Experten schätzen, dass das Wachstum in
Griechenland um mindestens weitere 5 Prozent einbricht. Das führt dazu, dass sich die Wirtschaft Griechenlands schlechter entwickelt; denn die Leute haben
kein Geld mehr, um Einkäufe zu tätigen, und die Unternehmer haben weniger zu tun. Es ist vollkommen klar,
dass in einer solchen Situation die Steuereinnahmen
noch stärker zurückgehen. Dadurch ist man von dem
Ziel der Haushaltskonsolidierung und einer besseren
wirtschaftlichen Entwicklung nunmehr himmelweit entfernt. Ich plädiere dafür, dass man die Lohn- und Sozialkürzungen in Griechenland und den anderen Ländern
stoppt und die Massenentlassungen, die jetzt diesen Ländern aufgebürdet werden, verhindert.
Ich habe auch deswegen gegen das Gesetz gestimmt,
weil nicht erkennbar ist, dass man dadurch dringend notwendige Maßnahmen auf den Weg bringt. Ich nenne als
Beispiel Aufbauhilfen für Griechenland und andere Länder. Das wäre wirklich notwendig; denn auch Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geholfen. Es ist
ein Skandal, dass das nicht im Fokus der Debatte steht.
({1})
Ich habe auch deshalb dagegen gestimmt, weil weder
das Gesetz noch die Debatten, die wir erlebt haben, davon zeugen, dass auch nur annähernd ein Verständnis da15242
für herrscht, wo die eigentlichen Ursachen der Krise liegen. Hier wird nur von der Verschuldung der
Krisenländer wie Griechenland und Portugal geredet und
so getan, als ob das deren eigene Schuld sei. Es gibt
überhaupt keinen Anhaltspunkt, dass verstanden würde,
dass die eigentlichen Ursachen dieser sogenannten EuroKrise in Deutschland liegen. Von den anderen vier Fraktionen in diesem Haus ist in den letzten zehn Jahren insbesondere mit der Agenda 2010 über Befristungen,
Leiharbeit, die Einführung von Minijobs und Hartz IV
ein Repressionssystem am Arbeitsmarkt eingeführt worden, das dazu geführt hat, dass die Tariferosion deutlich
zugenommen hat und die Löhne in Deutschland gesunken sind.
({2})
Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weil
nicht erkennbar ist, dass auf dieser Grundlage irgendwelche Verbesserungen erreicht werden. Denn die Ursachen
des Problems bestehen darin, dass die deutschen Exporte
durch das Lohndumping immer stärker und der Binnenmarkt immer schwächer geworden sind. Dadurch konnten die anderen Länder immer weniger importieren. Der
Außenhandelsüberschuss ist dramatisch auseinandergegangen, und die deutschen Unternehmer haben andere
Märkte erobert. Das hat dazu geführt, dass die Verschuldung in den anderen Ländern dramatisch angestiegen ist.
Das deutsche Lohndumping ist also die Ursache für die
Verschuldung dieser Länder.
Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weil er
überhaupt keine Elemente enthält, mit denen diesem
Problem begegnet und das Ganze wieder rückgängig gemacht werden kann.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nun Kathrin Vogler.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe gegen die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungsschirms gestimmt. Dies habe ich
als überzeugte Europäerin getan.
({0})
Ich sage ganz klar Ja zu Europa; denn ich komme aus
der deutsch-niederländischen Grenzregion und weiß,
was Europa für uns, die wir dort leben, bedeutet. Ich
sehe, wie wir uns unseren niederländischen Nachbarinnen und Nachbarn annähern, wie wir den Austausch verbessert haben und welche Erleichterung es für uns ist,
den Euro als gemeinsame Währung zu haben. Auch bin
ich Mitglied der Deutsch-Niederländischen Parlamentariergruppe, weil es mir wichtig ist, die Beziehungen zu
vertiefen und zu pflegen.
Dieser sogenannte Rettungsschirm ist aber nicht proeuropäisch. Er ist unsozial, ökonomisch unsinnig und ein
weiterer Schritt zur Spaltung Europas.
({1})
Die Auflagen, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem griechischen Volk heute verordnen wollen,
sind absolut kontraproduktiv. Statt die griechische Wirtschaft anzukurbeln, werden Löhne und Gehälter gekürzt.
Das Ergebnis dieser falschen Politik ist absehbar: Es
wird einen weiteren Rückgang der Wirtschaftsleistung
mit der Folge eines massiven Anstiegs der Arbeitslosigkeit geben. Gewerkschaften rechnen schon mit 26 Prozent Arbeitslosigkeit in Griechenland. In Spanien steht
eine Generation gut ausgebildeter junger Leute bereit,
denen der Einstieg in den Arbeitsmarkt vollständig verschlossen ist. Das ist eine soziale Katastrophe. Daran
kann ich mich nicht beteiligen.
({2})
Hinzu kommt: Die Wählerinnen und Wähler in meinem Wahlkreis und auch in den benachbarten Niederlanden verstehen überhaupt nicht, dass die Europäische Zentralbank Geld für 1,5 Prozent an Privatbanken verleiht,
die dieses Geld dann für Wucherzinsen zum Beispiel an
Griechenland weitergeben. Dabei haben die Privatbanken
überhaupt kein Risiko; denn wenn Griechenland nicht
zahlen kann, müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Europa, also die Verkäuferin bei Lidl und der
niederländische Tulpenzüchter, dieses Risiko tragen.
Deshalb ist dieser Euro-Rettungsschirm aus meiner Sicht
ein Rettungsschirm für die Banken und nicht für die Menschen.
({3})
Ich hätte zugestimmt, wenn wir die Banken mit einem
entsprechenden Programm unter öffentliche Kontrolle
bekommen hätten, wenn das Finanzsystem reguliert
worden wäre, damit Ratingagenturen und Hedgefonds
künftig nicht genauso weitermachen können wie bisher,
und wenn die Sozialleistungen und Löhne in Europa erhöht worden wären. Dann könnte nämlich nicht nur der
Euro gerettet werden, sondern dann könnte das Projekt
Europa als soziales Friedensprojekt wieder von mehr
Menschen akzeptiert werden.
Deshalb ist es mir gerade als Europäerin wichtig, dass
dieses erfolgreiche Friedensprojekt - und das ist die Europäische Union - nicht einer falschen Wirtschaftspolitik und den Profiten der Banken sowie ihrer Aktionäre
geopfert wird. Dafür kann ich meine Stimme nicht abgeben.
({4})
Nun Annette Groth.
({0})
Auch ich habe heute gegen den sogenannten Rettungsschirm gestimmt, weil ich absolut davon überzeugt
bin, dass dieser Bleischirm weitere soziale Verwerfungen nach sich ziehen und die Krise weiter verschärfen
wird.
({0})
Als überzeugte Europäerin, aber auch als Internationalistin kämpfe ich seit langem für ein soziales, ökologisches und gerechtes Europa. Die Einhaltung der
Menschenrechte und die Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit sind dabei von zentraler Bedeutung. Diesen
Weg hat die EU seit dem Maastrichter Vertrag aufgegeben. Mit der Aufnahme der durch den damaligen Bundesfinanzminister Waigel durchgesetzten Stabilitätskriterien
wurde der Weg in die Krise der EU vertraglich festgeschrieben.
Mit dem Rettungsschirm werden die Parlamente auf
weitere Haushaltskürzungen verpflichtet. Mit dem angeblichen Ziel der Schuldenreduzierung werden Sozialleistungen, Renten und Löhne gekürzt. Massensteuern
wie die Mehrwertsteuer dagegen werden erhöht. Das
heißt, Arme und Bezieher mittlerer Einkommen werden
immer stärker belastet. Reiche bleiben außen vor. Das,
was ich hier so kritisiere, ist das neoliberale Grundkonzept.
({1})
Wir alle, glaube ich, wissen, dass mit diesen Maßnahmen eine Schuldenreduzierung nicht möglich ist. Sie
versuchen aber, es uns glaubhaft zu machen. Eine effektive Schuldenreduzierung geht nur mit effektiven Umschichtungen des beispiellosen Privatvermögens von
10 Billionen Dollar. Profiteure der Krise sind Kapitalbesitzer, Großbanken und Hedgefondsmanager. Sie müssen an der Finanzierung beteiligt werden, sonst wird das
nichts.
({2})
Ich habe bis heute nicht verstanden, warum die damaligen Versprechungen von Frau Merkel und anderen,
Hedgefonds und andere toxische Papiere zu verbieten,
nicht eingehalten worden sind. Hätten Sie das gemacht,
wäre die Krise heute wesentlich kleiner.
({3})
Ich habe auch die Befürchtung, dass diese Politik der
Regierungsparteien die europafeindlichen und rechtspopulistischen Grundströmungen in einem Teil unserer
Gesellschaft noch weiter befördern wird. Damit werden
nationalistische und sozialdarwinistische Positionen gestärkt. Das will ich nicht verantworten.
({4})
Ich will ein soziales und gerechtes Europa. Darum bin
ich solidarisch und stelle mich hinter die vielen Millionen Menschen, die seit Monaten in anderen europäischen Ländern auf die Straße gehen und ihren Protest gegen Lohnkürzungen und Sozialkürzungen vehement
zum Ausdruck bringen.
({5})
Weil ich ab und zu selbst auf der Straße protestiere,
gehe ich natürlich am 15. Oktober nach Brüssel. Ich
möchte, dass dieser europäische Aktionstag ein Riesenerfolg wird. Wir müssen zeigen, dass ein anderes Europa
möglich und sehr, sehr nötig ist.
Danke.
({6})
Nun Heike Hänsel.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
habe heute gegen die Erweiterung des Rettungsschirms
gestimmt, weil ich nicht länger zusehen will, wie die Finanzmärkte die Politik weiter vor sich hertreiben. Ich
frage mich wirklich: Wo sind wir eigentlich angekommen, wenn Angela Merkel frühmorgens erst einmal die
Kommentare der Ratingagenturen und die Börsenkurse
anschauen muss, bevor sie ins Kabinett geht und ihre
Politik weiterentwickelt? Das ist ein Versagen jeglicher
Demokratie.
({0})
Ich kann das in dieser Form nicht verantworten.
Die ganze Politik, alles, was hier heute beschlossen
wurde, wird die Umverteilung von unten nach oben vorantreiben. Die Umverteilung ist eine Ursache dieser
Krise. Deswegen hilft diese Politik nicht aus der Krise
heraus; vielmehr verschärft diese Politik die Krise.
({1})
Es wurde schon mehrfach angesprochen: Diese Politik gefährdet ernsthaft jeglichen Ansatz einer europäischen Integration. Wir erleben in vielen Ländern, wie
rechtspopulistische Parteien und Bewegungen die Wut
und das Gefühl der Ohnmacht der Menschen zu instrumentalisieren versuchen. Eine Politik, die diese Entwicklung ignoriert, ist verantwortungslos. Wir müssen
eine soziale Politik für die Menschen dagegenstellen.
Nur so können wir auch rechten Bewegungen eine klare
Absage erteilen.
({2})
Ich habe auch deswegen gegen den sogenannten Rettungsschirm gestimmt, weil darin viel Geld gebunden
wird, das wir für gute, zukunftsweisende Ideen in Europa bräuchten. Wir könnten ganz Europa auf regenerative Energien umstellen. Wir könnten völlig neue Entwicklungen befördern. Das dafür benötigte Geld wird
gebunden, und das steht der Zukunft Europas entgegen.
Diese Politik ist negativ und zerstörerisch, und deswegen habe ich heute gegen diesen Gesetzentwurf gestimmt.
({3})
Ich möchte, dass wir ein Europa der Menschen entwickeln und nicht ein Europa der Banken. Dieses Signal
muss von diesem Parlament ausgehen. Die Krise können
wir nur überwinden, wenn das Finanzkasino - anders
kann man es gar nicht mehr nennen - endlich geschlossen wird und die Staaten sich unabhängig von Kapitalmärkten finanzieren können. Deshalb ist die Schaffung
einer Bank für öffentliche Anleihen so wichtig. Ich sage
Ihnen: Früher oder später wird es eine solche Bank geben. Wir haben letztes Jahr vor so vielen Dingen gewarnt, und vieles ist mittlerweile eingetreten. Ich betone:
Diese Entwicklung wird so stattfinden.
({4})
Wie bereits angesprochen wurde, werden nicht die
Verursacher und die Profiteure der Krise zur Verantwortung gezogen - auch das ist ein Grund, gegen diesen
Rettungsschirm zu stimmen -, sondern das Ganze wird
auf dem Rücken der Mehrheit der Bevölkerung ausgetragen.
Ich war schockiert, als ich vor einigen Wochen in
Griechenland war und dort mit vielen Menschen gesprochen habe. Die Lebenssituation vieler dort ist sehr
schwierig. Viele fühlen sich von dieser Politik, die auch
die Bundesregierung vorantreibt, gedemütigt. Es ist eigentlich beschämend, zu sehen, dass bei der Vergangenheit Griechenlands, die Deutschland zu verantworten
hat, heute ausgerechnet die Bundesregierung und Angela
Merkel den Menschen in Griechenland die Politik diktieren wollen. Ich wiederhole: Das ist beschämend. Deswegen habe ich heute gegen den Rettungsschirm gestimmt.
({5})
Ich möchte mich mit den Menschen solidarisieren, die
sich gegen diese Politik wehren. Ich unterstütze die Forderung der Griechen und Griechinnen, zum Ausdruck
gebracht auf dem Syntagma-Platz in Athen. Diese Menschen sagen: Wir brauchen einen umfassenden Schuldenschnitt für Griechenland; anders wird es keine Zukunft für unser Land geben. - Außerdem solidarisiere
ich mich mit den Menschen, die dahin gehend mobilisieren, dass am 15. Oktober ein großer Marsch der Empörten nach Brüssel stattfindet, weil sie meinen: So kann es
nicht weitergehen. - Es erschüttert die ganze Demokratie in Europa, wenn wir den aktuellen Entwicklungen
nicht endlich eine Politik der Menschen entgegenstellen.
Diese Menschen machen sich auf den Weg, und das unterstütze ich.
({6})
Letzte Rednerin derer, die eine mündliche Erklärung
abgeben, ist nun Kollegin Sabine Leidig.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
aus verschiedenen Gründen mit Nein gestimmt:
Erstens. Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass die
Investmentbank Goldman Sachs derzeit empfiehlt, gegen den Euro und gegen Europa zu wetten, und dass dieselbe Investmentbank zum Beraterstab der europäischen
Regierungen gehört.
({0})
Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass der Chef dieser Bank, Alexander Dibelius, die Bundesregierung berät - ein Mann, der explizit erklärt, dass er bei den Banken keinerlei Verantwortung für das Allgemeinwohl
sieht.
Ich habe mit Nein gestimmt, weil mit dieser Art der
Euro-Rettung die Allgemeinheit in Haft genommen
wird, um die Kapitalanleger zu bedienen. Die Macht der
Investmentbanken hingegen wird nicht angetastet. Es ist
nicht vorgesehen, dass große Geldvermögen abgeschöpft
werden. Keines der grundlegenden Probleme der Europäischen Union und auch keines der Krisenprobleme der
Weltwirtschaft wird auf diese Art und Weise auch nur
angepackt.
({1})
Im Gegenteil: Die verordneten Sparmaßnahmen werden
vor allem die kleinen Leute treffen. Wir werden in eine
Situation hineinmanövriert, die der großen Schuldenkrise der 80er-Jahre ähnlich ist, von der die lateinamerikanischen Länder betroffen waren. Damals hat der IWF
die Spardiktate, die Schuldknechtschaft ausgesprochen.
Dabei war völlig klar, dass damit die Masse der Bevölkerung in unerträgliche Zustände gebracht wurde.
Dieselbe Linie verfolgen Sie mit den Spardiktaten,
die jetzt beschlossen worden sind; und mit dem Sixpack,
das gestern im Europäischen Parlament verabschiedet
worden ist, werden die Zustände noch massiv verschärft.
Maastricht hoch zwei wird die Situation für die Menschen in Europa dramatisch verschlimmern, und zwar
auch in der Bundesrepublik.
({2})
An dieser Stelle möchte ich etwas sagen, was mich
wirklich sehr bewegt. Ich kann nachvollziehen, dass die
Gewerkschaften in einer bestimmten Situation hoffen
und glauben, dass es, wenn es den deutschen Unternehmen besser geht, wenn die Unternehmen besser durch
die Krise kommen, auch den Beschäftigten besser geht.
Ich selbst bin seit 32 Jahren Gewerkschaftsmitglied
und war zehn Jahre lang hauptamtlich tätig. In dieser
Zeit haben wir über den Pakt für Wettbewerb, Ausbildung und Arbeit diskutiert, der zur Folge hatte, dass sich
die Situation der Beschäftigten durch die Stärkung der
Wettbewerbssituation der deutschen Unternehmen insgesamt verschlechtert hat. Die Gewinne der DAX-Konzerne platzen aus allen Nähten; sie haben in der Nachkrisenzeit um 134 Prozent zugelegt.
Was ist davon bei den Beschäftigten angekommen?
Ich schaue meinen Kollegen an, der weiß, wovon ich
spreche. Ich glaube, dass die Gewerkschaften sich keinen Gefallen tun, wenn sie auf dieselbe Weise versuchen, die eigenen Beschäftigten zu stützen, aber nicht erkennen, dass Europa nicht nur ein Europa des Friedens,
sondern auch ein Europa der Kultur ist. Das ist ganz
wichtig. Europa ist ein großer Schatz. Man darf aber
nicht vergessen, dass es in Europa auch oben und unten
gibt. Die Beschäftigten in Griechenland stehen den Beschäftigten hier deutlich näher, wenn es um die Durchsetzung gemeinsamer Interessen geht.
({3})
Schließlich möchte ich sagen, dass nicht nur die
Linke diesen Stabilitätspakt ablehnt. Das europäische
Attac-Netzwerk - es wurde schon angesprochen -, dem
ich angehöre, appelliert an die Parlamentarierinnen und
Parlamentarier: Es ist an der Zeit, Nein zu sagen, Nein
zum Angriff auf soziale und demokratische Rechte in
Europa. Diesem Appell folge ich aus voller Überzeugung.
({4})
Damit sind wir am Ende der Liste der mündlichen Erklärungen von der Fraktion der Linken.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Langfristige Perspektive statt sachgrundlose
Befristung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Befristung von Arbeitsverhältnissen eindämmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Sachgrund, keine Befristung - Befristete Arbeitsverträge begrenzen
- Drucksachen 17/1769, 17/1968, 17/2922,
17/4180 Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem
für mich persönlich manchmal sehr ermüdenden Reigen
persönlicher Erklärungen bin ich froh, dass wir jetzt wieder in die eigentliche Debatte einsteigen.
({0})
Wir diskutieren die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen. Wenn Parlamentarier eine Rede vorbereiten, schauen sie in der Regel in der Bibliothek nach, was
es zu den betreffenden Themenstellungen an Literatur
gibt. Dabei bin ich auf folgende interessante Aussage gestoßen, die ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren
will:
… die Möglichkeit, bis zur Dauer von zwei Jahren
befristete Arbeitsverträge abzuschließen, die nicht
durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein
müssen … ist vor allem eine beschäftigungspolitisch sinnvolle Alternative zur Überstundenarbeit.
Zugleich bekommen Arbeitsuchende, insbesondere
auch solche, die längere Zeit arbeitslos waren, die
Gelegenheit, wieder im Berufsleben Fuß zu fassen,
ihre Eignung und Leistungsfähigkeit zu beweisen
und damit ihre Chancen auf eine unbefristete Weiterbeschäftigung zu verbessern.
Das Zitat stammt aus der Antwort der Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage im Februar 2005, also unter
Rot-Grün.
({1})
Zur historischen Einordnung: Im Zuge des Arbeitsmarktreformgesetzes wurde zum 1. Januar 2004 die
Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung in den ersten vier Jahren nach Unternehmensgründung für die
Dauer von bis zu vier Jahren eingeführt. Auch haben Sie
- Rot-Grün - die Altersschwelle für die erleichterte Befristung Älterer drastisch gesenkt,
({2})
im Jahr 2001 auf 58 Jahre und noch einmal im Jahr 2003
auf 52 Jahre. Das heißt, der Anteil der befristeten Beschäftigung ist vor allem durch die Weichenstellung der
Regierung Schröder kontinuierlich gestiegen. SPD und
Grüne beklagen mit ihren Anträgen die Ergebnisse ihrer
eigenen Politik.
({3})
Das lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder Sie
waren sich über die Folgen Ihrer Politik nicht ganz im
Klaren; dann waren Sie zum Regieren nicht fähig. Oder
Sie wussten es, und Sie verabschieden sich jetzt von
dem, was Sie einmal als richtige Politik gepriesen haben.
Sie reden also in der Regierung anders als in der Opposition. Ich weiß ja, dass nach Karl Marx das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, aber was sollen Ihnen die Menschen denn überhaupt noch glauben?
Nun zu den Anträgen selbst. Sie behaupten, dass die
Möglichkeit sachgrundloser Befristung keine positive
arbeitsmarktpolitische Wirkung habe. Das IAB hingegen
hat die sachgrundlose Befristung nicht negativ evaluiert.
Es stellt zwar eine Ambivalenz zwischen Brücken- und
Flexibilisierungsfunktion befristeter Beschäftigung fest,
kommt jedoch auch zu dem Ergebnis, dass befristet Beschäftigte nicht unbedingt schlechte Chancen auf eine
Entfristung ihres Arbeitsverhältnisses haben.
({4})
Wäre ausschließlich die arbeitsmarktpolitische Wirkung
der Maßstab, dürfte die sachgrundlose Befristung nicht
infrage gestellt werden.
({5})
Im Übrigen ist - auch dies entnehme ich der Studie
des IAB - das subjektive Teilhabeempfinden der Menschen in befristeter Beschäftigung höher als das bei Arbeitslosigkeit und auch höher als bei denjenigen, die in
Zeitarbeit stehen. Das würde ich nicht geringschätzen.
Bestimmte Formen der Arbeit können krankmachen;
längere Arbeitslosigkeit aber macht beinahe sicher
krank, weil sie das Bewusstsein der Ausgrenzung und
der mangelnden Teilhabe forciert.
({6})
Wer einmal Paul Lazarsfelds Studie über die Arbeitslosen von Marienthal gelesen hat, weiß, welche verheerenden individuellen und auch kommunitären Wirkungen
aus der Arbeitslosigkeit erwachsen. Wer vor diesem Hintergrund das Instrument befristeter Beschäftigung leichtfertig über Bord werfen will, handelt grob fahrlässig.
({7})
Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers war es,
einerseits den Arbeitgebern zu ermöglichen, flexibel auf
schwankende Auftragslagen zu reagieren, und andererseits Arbeitnehmern eine Alternative zur Arbeitslosigkeit zu bieten und eine Brücke zur Dauerbeschäftigung
zu öffnen.
Problematisch wird es dann, wenn es zu Befristungsketten kommt. Noch ist das Normalarbeitsverhältnis die
Regel. Allerdings nimmt die Zahl befristeter Beschäftigungsverhältnisse zu.
({8})
Die Folgen sind unter anderem bei der Lebensplanung
der Menschen zu beobachten. Die Befristung begünstigt
das Aufschieben von Lebensentscheidungen. Daher will
ich an dieser Stelle ganz klar sagen: Befristungen dürfen
nur aus gutem Grund eingesetzt werden,
({9})
nicht als verlängerte Probezeit, nicht als Instrument, Belegschaften einfacher abzubauen. Befristungen müssen
dosiert eingesetzt werden, damit das Normalarbeitsverhältnis nach wie vor die Regel bleibt.
Ich hoffe sehr, dass auch in der Wirtschaft ein Umdenken vonstatten geht. In Zeiten eines Mangels an qualifizierten Arbeitskräften kann man keine Loyalität zu einer Firma erwarten, die nur befristete Arbeitsverträge
anbietet. Die modernen Arbeitsnomaden mit befristeten
Verträgen werden nicht sesshaft, und sie haben nur eine
begrenzte Bindung zum Arbeitgeber. Sosehr ich den
Wunsch nach Flexibilität verstehen kann, tut sich hier
doch eine Rationalitätenfalle auf: Je mehr Flexibilität ich
in einem Unternehmen anstrebe, desto bindungsloser
sind meine Mitarbeiter. Darunter leidet nicht nur das Arbeitsklima, sondern auch die Arbeitseffizienz und die
Bereitschaft, für die und in der Firma Verantwortung zu
übernehmen. Dies wiederum kann betriebswirtschaftlich
massiv zu Buche schlagen.
({10})
Wir haben das Thema der heutigen Debatte vor knapp
einem Jahr im Ausschuss besprochen. Damals standen
wir noch unter dem Eindruck der gerade beendeten Wirtschaftskrise. Heute sprechen wir von einem Mangel an
qualifizierten Arbeitskräften. Innerhalb weniger Monate
hat sich also der Referenzrahmen unserer Debatte vollkommen geändert.
Nicht geändert hat sich jedoch meine politische Fantasie in dieser Frage. Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor,
in der die Firmen von sich aus Wert darauf legen, qualifizierte Mitarbeiter zu halten, weil dies den langfristigen
Firmenzielen entspricht.
({11})
Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der Befristungen
nur aus gutem Grund eingesetzt werden, nicht aber, um
Probezeiten zu verlängern oder Belegschaften einfacher
abbauen zu können.
({12})
Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der gerade junge
Menschen eine sichere Arbeitsperspektive haben, die es
ihnen erlaubt, Wurzeln zu schlagen und Familien zu
gründen. Ich stelle mir vor, dass die SPD einmal zu dem
steht, was sie gemacht hat;
({13})
aber zumindest das ist nur sehr schwer vorstellbar.
({14})
Das Wort hat Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal sage ich an die Adresse der Linken: Ich weiß
nicht, ob Sie uns einen Gefallen damit getan haben, hier
eine Stunde lang Erklärungen zur Abstimmung abzugeben; denn damit haben Sie dafür gesorgt, dass das
Thema der Befristung von Arbeitsverhältnissen, das
viele Menschen bei uns quält, aus der Kernzeit herausgeKlaus Barthel
schoben wurde, ohne dass die letzte Stunde mit Ihren Erklärungen einen großen Erkenntnisgewinn gebracht
hätte.
({0})
Eigentlich steht in den Anträgen, die vorliegen, genug
zu den befristeten Arbeitsverhältnissen. Es gibt genügend Gründe, die Befristung gesetzlich zurückzudrängen
und vor allen Dingen die sachgrundlose Befristung abzuschaffen. Denn wir haben jetzt ein Vierteljahrhundert Erfahrungen mit befristeten Arbeitsverhältnissen gesammelt und wissen: Sie schaffen keinen einzigen
zusätzlichen Arbeitsplatz. Sie sind ein Mittel, die Menschen unter Druck zu setzen und die Würde und den
Wert der Arbeit zu mindern. Vor allen Dingen sind sie
keine Brücke in den Arbeitsmarkt, in eine feste Beschäftigung. Vielmehr zeigt die Ausweitung der sachgrundlosen Befristung über alle Krisen und Aufschwünge hinweg, dass sie neben der Leiharbeit, den Minijobs, den
Praktika und der Niedriglohnbeschäftigung eine der vielen Formen der Flexibilisierung von Arbeit darstellt,
({1})
die dazu führen, dass sichere Arbeitsverhältnisse - also
gute Arbeit - in prekäre Arbeitsverhältnisse - also in unsichere, schlechter bezahlte Arbeit - umgewandelt werden. Das ist alles, was die sachgrundlose Befristung in
den letzten 25 Jahren bewirkt hat, und daraus müssen
wir alle hier Lehren ziehen.
Eines will ich ganz deutlich sagen - ich kenne die
Debatten der letzten Monate; Herr Zimmer hat diesen
Punkt ebenfalls angesprochen -: Auch wir Sozialdemokraten ziehen solche Lehren. Ich sage das auch, um die
Antwort auf entsprechende Redebeiträge, die noch kommen werden, vorwegzunehmen. Zur Geschichte der befristeten Arbeitsverhältnisse seit 1985 ist in unserem
Antrag - man kann das nachlesen - genug gesagt, auch
zu unserer Verantwortung. Die Frage ist heute doch nicht
mehr, wer wann was warum gemacht hat; darüber haben
wir uns längst ausgetauscht und tun das immer wieder.
Heute ist die Frage interessant: Was lernen wir daraus?
Was tun wir?
({2})
Keines der Versprechen der Neoliberalen, der Arbeitgeberverbände und der Gutgläubigen hat sich erfüllt.
Das sieht man zum Beispiel bei den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die nach geltendem Recht
besonders einfach in den Genuss sachgrundloser Befristung der Beschäftigung kommen sollen; ausgerechnet
bei den Älteren gibt es die Möglichkeit der erweiterten
Befristung, kombiniert mit Zuschüssen, Subventionen
und Erleichterungen, die sogenannte Einstellungshemmnisse beseitigen sollen. Das Ergebnis ist: Selbst während
des Aufschwungs in den Jahren 2010 und 2011, während
des „Beschäftigungswunders“, haben die Unternehmen
davon kaum Gebrauch gemacht. Trotz allen Fachkräftemangels und aller Kampagnen für über 55-Jährige ist
nicht nur der Anteil der Älteren an den Arbeitslosen und
den Langzeitarbeitslosen gestiegen, sondern auch die absolute Zahl der älteren Arbeitslosen. Das muss man sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen, wenn man über
befristete Beschäftigung als Brücke in den Arbeitsmarkt
redet. Es gibt also keinerlei positive Sachgründe für die
sachgrundlose Befristung, weder bei den Jungen noch
bei den Älteren.
Es gibt nicht nur arbeitsmarkt- und sozialpolitische
Gründe, nicht nur Gründe, die etwas mit Würde und Anstand zu tun haben, sondern es gibt auch handfeste wirtschaftliche Gründe, die gegen die massenhafte Befristung sprechen. Die haben natürlich etwas mit dem
Thema zu tun, mit dem wir uns eben beschäftigt haben:
der Situation zum Beispiel in der europäischen Wirtschaft. Befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Niedriglöhne, die ganze Verwilderung der Sitten auf dem Arbeitsmarkt haben die Krise selbstverständlich mit
verursacht. Wer ständig Angst um seine Weiterbeschäftigung haben muss, wer daran gehindert wird, Betriebsrat
zu werden oder Betriebsräte zu wählen, wer nicht weiß,
wie er in den nächsten Monaten seine Existenz finanzieren soll, der befindet sich nicht nur in einem würdelosen
Zustand, sondern er muss auch alle Zumutungen akzeptieren.
Derzeit sind fast die Hälfte aller neu abgeschlossenen
Arbeitsverhältnisse befristet. Das drückt das Selbstbewusstsein, die Löhne und wirkt sich negativ auf die Arbeitsbedingungen aus. Das hat - die Zahlen zeigen es ökonomische Folgen: Nur noch die Hälfte der Beschäftigten steht unter dem Schutz von Tarifverträgen, in immer mehr Betrieben gibt es keinen Betriebsrat mehr, und
der Niedriglohnsektor weitet sich aus. Befristete Verhältnisse spielen dabei eine entscheidende Rolle.
({3})
Das alles führt dazu, dass die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer seit 20 Jahren real stagnieren, zeitweise sogar zurückgehen. Die Lohnquote sinkt, das Geld fehlt
- weil die Sozialbeiträge ja auch zurückgehen - im Sozialstaat, was zu Kürzungen von sozialen Leistungen
führt. Alles zusammen bewirkt einen Rückgang der
Massenkaufkraft. Das Geld fließt auf die internationalen
Finanzmärkte, mit der Folge, dass die Reichen immer
reicher werden und die Mitte der Gesellschaft schwindet.
Was passiert dann? Dann entsteht der Stoff, aus dem
die Spekulation und die Krisen sind. Deutschland war
bei der Umverteilung leider besonders erfolgreich. Nirgendwo in den Industrieländern, außer vielleicht in den
USA, war die Umverteilung so massiv, sind die Löhne
und Lohnstückkosten so sehr zurückgeblieben und die
Millionäre so viel reicher geworden wie in Deutschland.
Die Unternehmen haben im Durchschnitt der letzten
zehn Jahre 130 Milliarden Euro pro Jahr mehr erlöst, als
im Inland verbraucht worden sind. Jeder Cent von diesen
130 Milliarden Euro - in den letzten elf Jahren mehr als
1,5 Billionen Euro - wäre in den Händen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien, der
Niedriglöhner, der Rentner und in den öffentlichen
Haushalten besser aufgehoben gewesen.
({4})
All das hat erhebliche Auswirkungen auf die Tarifabschlüsse und auf die Kampfkraft der Gewerkschaften.
Erst wenn wieder Recht, Ordnung, Anstand und Würde
durchgesetzt sind, erst wenn endlich die sachgrundlose
Befristung abgeschafft, Leiharbeit neu geregelt und der
Mindestlohn gesetzlich durchgesetzt ist, kann es mit den
Löhnen wieder bergauf gehen. Erst wenn es mit den
Löhnen wieder bergauf geht, wird auch die Binnennachfrage wieder steigen. Dann werden die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise bekämpft, und erst dann können wir die Schuldenberge abbauen. So herum wird ein
Schuh draus.
({5})
Allen, die heute das Lied von Flexibilisierung und
Wettbewerbsfähigkeit singen - auch Sie haben das ja getan -,
({6})
möchte ich Folgendes sagen: Sie verwehren den Menschen nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern Sie
erweisen auch der Wirtschaft einen Bärendienst. Die
Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt zu, und die
Arbeitswelt wird, so sagt die IG Metall jetzt, immer
mehr zu einer „Gefahrenzone“ für die Beschäftigten.
Herr Zimmer, Sie haben es doch eben selber am
Schluss zugegeben. Das sind genau die Sonntagsreden,
in denen beklagt wird, dass die jungen Leute nicht mehr
verwurzelt sind, keine Familie mehr gründen und nicht
mehr ehrenamtlich tätig sind. Dann müssen Sie aber
auch endlich die Konsequenzen daraus ziehen und auf
dem Arbeitsmarkt wieder Recht und Ordnung schaffen.
Sie würden einen guten Anfang machen, wenn Sie Ihren
Koalitionsvertrag, zumindest in diesem Punkt, in die
Tonne schmeißen und die sachgrundlose Befristung endlich wieder abschaffen würden, anstatt zuzuschauen, wie
das Bundesarbeitsgericht die Möglichkeiten dafür immer
mehr erweitert.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Heinrich Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Barthel hat ein tiefschwarzes - man könnte auch
sagen: ein dunkeldunkelrotes - Bild des deutschen Arbeitsmarktes gezeichnet.
({0})
Gott sei Dank sieht die Realität anders aus.
Die Bundesagentur hat heute die Zahlen für den Monat September bekannt gegeben. Das ist wirklich eine
einzigartige Erfolgsstory, die auch in diesem Monat fortgeschrieben worden ist.
({1})
Wir haben jetzt weniger als 2,8 Millionen Arbeitslose. Das
sind 141 000 weniger als im Vormonat und 231 000 weniger als noch vor einem Jahr. Das heißt, 231 000 Menschen
weniger sind arbeitslos. Das sind 231 000 Menschen mehr,
die einen Arbeitsplatz haben, denen die Teilhabe am Erwerbsleben ermöglicht wird, und zwar dank der Politik
dieser schwarz-gelben Bundesregierung.
({2})
Wir haben 41,3 Millionen Erwerbstätige. Das sind
515 000 mehr als im August des Vorjahres. Wir haben
28,36 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Das sind 672 000 mehr als noch vor
einem Jahr. Das ist ein unglaublicher Anstieg, den wir zu
verzeichnen haben.
Das führt übrigens nicht nur dazu, dass sich die Steuerkassen füllen, sondern auch dazu, dass sich die Lage
der Sozialversicherungen stabilisiert, Herr Kollege
Barthel. Das gilt zum Beispiel für die Kasse der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Deswegen vergießen Sie
sicherlich keine Krokodilstränen, was im Übrigen das
Leitmotiv Ihrer Rede war.
({3})
Warum sind diese Erfolge möglich? Weil wir nicht
wie Sie unsere Meinung geändert haben. Als Sie regiert
haben, haben Sie das noch anders gesehen. Man muss
das ja hier einmal laut sagen: Das Teilzeit- und Befristungsgesetz ist in der heutigen Fassung von Rot-Grün
verabschiedet worden. Damals haben Sie das Hohelied
der Flexibilität gesungen, und heute wollen Sie mit alldem nichts mehr zu tun haben. So geht das nicht. Wir
stehen weiter für Flexibilität.
({4})
Wir halten das für richtig, und der Erfolg gibt uns recht.
Die Hälfte der entstandenen Stellen sind unbefristete
Vollzeitstellen; die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse sind befristet. Ein Viertel, also die Hälfte der
Hälfte, ist sachgrundlos befristet. Die SPD sagt: Wir
wollen auf die sachgrundlose Befristung verzichten. Die
Linken sagen: Wir wollen überhaupt keine Befristung
mehr. Und die Grünen schließen sich, wenn ich das richtig gelesen habe, der Meinung der Linken an.
({5})
Sie wären bereit, auf ein Viertel bzw. die Hälfte der
heute neu entstehenden Arbeitsverhältnisse zu verzichten.
({6})
Das ist die Wahrheit. Wir wollen, dass auch künftig
Menschen eine Beschäftigungschance haben, mit Befristung, sachgrundlos und auch mit Sachgrund.
({7})
- Herr Kollege Barthel, Sie machen manchmal Milchmädchenrechnungen auf. Ich will Ihnen ein Beispiel aus
unserem Themenfeld nennen, den Mindestlohn. Nach einer Prognos-Studie wären alle Probleme gelöst, wenn
wir in Deutschland einen Mindestlohn von 8,50 Euro
einführen würden. Dann würden die Einnahmen der Sozialversicherungen sprudeln. Dann wäre alles toll. Schlaraffenland! Diese Studie basiert auf einer Annahme:
Man geht davon aus, dass die Beschäftigungseffekte der
Einführung eines Mindestlohns gleich null wären. Das
ist in der Praxis aber nicht zu erwarten.
Sie gehen von Folgendem aus: Auch wenn wir heute
die Befristungsmöglichkeiten streichen, würde in gleichem Umfang eingestellt werden. Aber das wird nicht
funktionieren. Ich habe Ihnen das schon vor einem Jahr
gesagt, als wir uns in der Frühphase des Aufschwungs
befanden. Wenn Unternehmen die Zukunft nicht abschätzen können, stellen sie vernünftigerweise - das
würden Sie, wenn Sie Unternehmer wären, auch nicht
anders handhaben - befristet ein. Auch heute, ein Jahr
später - wir sind über die Spitze des Aufschwungs möglicherweise schon hinweg; jedenfalls sind die Zeiten unsicherer geworden -, finde ich es noch gut, dass Unternehmen die Möglichkeit haben, befristet einzustellen.
Das ist besser, als wenn sie überhaupt nicht einstellen,
sondern versuchen, die Aufträge mit der bestehenden
Belegschaft und mithilfe von Überstunden abzuarbeiten.
Uns geht es darum, möglichst viele Menschen in Beschäftigung zu bringen. Dabei sind wir erfolgreich. Wir
lassen uns auch von Ihnen nicht beirren. Wir werden
weiter versuchen, möglichst viele Menschen in Arbeit zu
bringen. Dabei werden wir die volle Breite, den gesamten Mix an Beschäftigungsformen, die uns zur Verfügung stehen, nutzen: Vollzeit wie Teilzeit, befristet wie
unbefristet, Zeitarbeit, Mini- und Midijobs.
Sie wollen Rosinenpickerei betreiben. Aber damit
sind die Erfolge am Arbeitsmarkt, die wir derzeit erfreulicherweise in Deutschland haben, nicht zu erreichen.
Das unterscheidet uns von Ihnen. Im Interesse der Menschen, die arbeitslos sind und einen Eintritt in den Arbeitsmarkt suchen, werden wir weiter die erfolgreiche
Politik dieser Bundesregierung fortsetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kolb. - Jetzt für die
Fraktion Die Linke unser Kollege Klaus Ernst. Bitte
schön, Kollege Ernst.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben gerade wieder eine Rede gehört, Herr
Dr. Kolb, die das Ziel der FDP klar definiert. Sie wollen
eine Deregulierung der Arbeitsmärkte,
({0})
um die Löhne zu senken; denn Sie wissen, Herr Dr. Kolb
- das unterstelle ich Ihnen jetzt einfach einmal -, dass
bei befristet Beschäftigten die Angst, nach der Befristung nicht übernommen zu werden, dazu führt, dass die
Betroffenen bereit sind, für weniger Lohn zu arbeiten,
auch einmal eine Überstunde ohne Bezahlung zu machen oder längere Arbeitszeiten zu akzeptieren. Sie sind
bereit, auch Demütigungen am Arbeitsplatz hinzunehmen. Wenn Sie hier der Befristung das Wort reden, zeigt
das: Sie sind mit diesen Verhältnissen einverstanden.
Das ist der Grund dafür, dass die FDP bei den Umfragen
so schlecht dasteht, Herr Kolb, und das mit Recht, um
das einmal in aller Klarheit zu sagen.
({1})
Nahezu jeder Zweite - fast 50 Prozent - derjenigen,
die zurzeit neu eingestellt werden, wird nur noch befristet eingestellt. Ich habe auch einmal etwas Anständiges
gelernt, nämlich Elektromechaniker.
({2})
Das ist schon eine Zeit her. Es war damals völlig selbstverständlich, dass man nach der Ausbildung in dem Beruf, den man erlernt hat, übernommen wurde. Da ist über
die Frage einer Befristung nicht einmal diskutiert worden. War das damals eigentlich eine schlechtere Situation für die Menschen, oder war das eine bessere Situation? Wenn Sie so tun, Herr Kolb, als sei die Situation
jetzt besser, dann verkennen Sie, dass von den 2,7 Millionen, die gegenwärtig einen befristeten Arbeitsvertrag
haben, nur 2,5 Prozent sagen: Ja, wir sind damit einverstanden, dass das befristet ist. - Die überwältigende
Mehrheit der Betroffenen möchte eine ganz normale, unbefristete Beschäftigung.
Diejenigen, die nicht über eine unbefristete Beschäftigung verfügen, finden eine ganz andere Situation in ihrem Leben vor. Haben Sie schon einmal versucht, zum
Beispiel mit einem 21-, 22-Jährigen zu reden, der nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat und einen Kredit haben möchte, weil er möglicherweise eine Familie gründen will? Was glauben Sie, was die Bank zu dem sagt?
Oder stellen Sie sich vor, er sucht eine Wohnung. Der
Vermieter fragt: Wo schaffst Du denn? - In der und der
Firma. - Bist du da unbefristet beschäftigt? - Sagt der:
Für ein halbes Jahr oder für ein Jahr. - Glauben Sie, dass
der dann die Wohnung kriegt, wenn ein anderer kommt,
der einer unbefristeten Arbeit nachgeht? Was glauben
Sie eigentlich, wie es darum bestellt ist, eine Familie zu
gründen, wenn die Menschen überhaupt keine Perspektive, keine Zukunftssicherheit haben, wenn sie nicht wissen, wie es mit ihnen nach einem Jahr, nach eineinhalb
oder nach zwei Jahren weitergeht, weil sie nur noch befristete Jobs haben? Mit der Position, die Sie hier vertreten, Herr Dr. Kolb, gefährden Sie die Zukunftsperspektive insbesondere der jungen Leute, und das ist ein
Skandal. Ich sage in aller Klarheit: Das ist ein Skandal.
({3})
Ich sage Ihnen auch: Insbesondere die Jungen kommen in ganz hohem Maße nur noch in befristete Arbeitsverhältnisse. Die IG Metall hat 2009 festgestellt, dass
40 Prozent der bis 24-Jährigen nur befristete Arbeitsverträge haben. Das ist ein ungeheuerlicher Zustand.
Meine Damen und Herren, Herr Dr. Kolb, ich möchte
versuchen, Ihnen das an einem sehr einfachen und eigentlich sehr nachvollziehbaren Punkt deutlich zu machen. Arbeit hat auch etwas mit Würde zu tun.
({4})
Würde ist dann gegeben, wenn man in einigermaßen
abgesicherten Verhältnissen lebt und nicht Freiwild für
den Arbeitgeber ist, der ohne Kündigungsschutz einen
befristet Eingestellten nach Ablauf der Befristung wieder aus dem Betrieb entfernen kann. Es hat etwas mit
Würde zu tun, dass man sozial abgesichert ist.
({5})
- Ich glaube, ich lasse es einmal zu.
Dann ist die Zwischenfrage schon erlaubt. - Bitte
schön, Herr Kollege Kolb. - Ich stoppe auch die Zeit,
damit nichts angerechnet wird. - Bitte schön.
Ihre Redezeit drohte zu Ende zu gehen. Deswegen,
glaube ich, kommt Ihnen die Frage ganz recht, Kollege
Ernst.
Ich weiß, dass Sie mich mögen, Herr Dr. Kolb.
Wir fragen uns ja durchaus gerne einmal zu wechselnden Zeitpunkten. Meine Frage ist folgende. Sie sagen,
dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat.
({0})
Würden Sie mir recht geben, dass es würdevoller ist,
wenn ein Mensch in Arbeit ist statt arbeitslos?
({1})
Wissen Sie, dass das IAB - das ist nicht das Zentralorgan der FDP, sondern ein anerkanntes Institut - uns gesagt hat, dass jede zweite befristete Stelle in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mündet?
({2})
Würden Sie mir vor diesem Hintergrund recht geben,
dass es für die Würde der Betroffenen - da reden wir
wirklich über jeden einzelnen Fall - besser ist, sich aus
der Arbeitslosigkeit zunächst mit einem befristeten Arbeitsverhältnis, von denen 50 Prozent in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übergehen, zu befreien? Ich bin der
Meinung: Wenn die Alternative Arbeitslosigkeit ist, ist
das eindeutig der bessere und würdevollere Weg.
({3})
Diese Alternative, die Sie darstellen, gibt es nur deshalb, weil der Gesetzgeber bis jetzt nicht geregelt hat,
dass solche Befristungen ohne Grund nicht möglich
sind.
({0})
Wäre die Befristung ohne Grund nicht möglich, müsste
sich der Arbeitgeber, der jemanden einstellt, überlegen:
Will ich, dass die Tätigkeit verrichtet wird, oder nicht?
Wenn er will, dass sie verrichtet wird, muss er jemanden
einstellen. Wenn die gesetzlichen Regelungen stimmen,
muss er unbefristet einstellen. Deshalb sagen wir: Wir
wollen, dass die sachgrundlose Befristung verboten
wird.
({1})
Ein Weiteres. Herr Dr. Kolb, es ist geradezu schön,
dass Sie diesen Punkt ansprechen. Wenn Sie sagen, dass
es würdevoller ist, eine Arbeit zu haben, frage ich: Ist es
vielleicht auch würdevoll, eine bestimmte Arbeit unter
bestimmten Bedingungen nicht machen zu müssen?
Wenn Sie die Auffassung vertreten, dass jede Arbeit,
egal welche - das ist der Punkt -, immer würdevoller ist
als nicht zu arbeiten
({2})
- tut mir leid, das haben Sie gerade gesagt, Herr
Dr. Kolb -,
({3})
dann sage ich Ihnen: Wenn es tatsächlich so ist, dass jede
Arbeit sinnvoller und würdevoller ist als nicht zu arbeiten, dann sagen Sie damit, dass die Sklaven im alten
Rom würdevolle Arbeit geleistet haben. Das haben sie
aber nicht.
({4})
Sie haben nicht einmal Lohn bekommen.
({5})
- Herr Dr. Kolb, jetzt bin ich dran; Sie können mir gerne
noch eine Zwischenfrage stellen. Ich würde sie auch beantworten.
({6})
Mit Ihrer Position sagen Sie Folgendes: Es ist in Ordnung, weil auch die Sklaven im alten Rom gearbeitet haben. Sie haben zwar überhaupt kein Geld bekommen,
aber es war gut, dass sie Arbeit hatten. Denn das ist besser, als keine Arbeit zu haben.
({7})
- Ich bin noch nicht ganz fertig. - Herr Dr. Kolb, ich
sage Ihnen: Es ist sinnvoll, dass wir Arbeit so organisieren, dass sie würdevoll ist. Sie zeigen dauernd eine Alternative auf, die es in der Realität so nicht gibt.
({8})
Herr Dr. Kolb, wir wollen, dass dies nicht weiter so
stattfindet. Ich zitiere jetzt den Vorsitzenden des DGB,
Michael Sommer. Es sagte - es müsste uns allen hier zu
denken geben, dass der Vorsitzende des DGB das sagt -:
Inzwischen haben wir in Deutschland den Zustand, dass
Arbeit so billig ist wie Dreck.
Dazu sage ich Ihnen: Das hat damit zu tun, dass wir
Arbeit nicht vernünftig reguliert haben. Zur Regulierung
der Arbeit gehört, dass wir die Regeln wieder so gestalten, dass die Menschen tatsächlich würdevolle Arbeit erhalten. Dazu brauchen sie eine unbefristete Beschäftigung. Wenn sie dann tatsächlich nicht beschäftigt
werden können, Herr Dr. Kolb, dann müssen sie eben
das Recht in Anspruch nehmen können, zum Beispiel
eine Kündigungsschutzklage zu führen. Sie wollen den
Menschen, die dann nicht mehr gebraucht werden, das
Recht nehmen, eine Kündigung vom Arbeitsgericht
überprüfen zu lassen. Letztendlich heißt Befristung:
Ausschluss der Möglichkeit, eine Kündigung vom Arbeitsgericht überprüfen zu lassen. Das wollen Sie. Diese
liberale Position ist auch ein Grund, warum Sie zurzeit
in den Umfragen nicht besonders gut dastehen.
Zum Schluss möchte ich darstellen, zu was Ihre Politik führt: Bei VW Salzgitter sind von 7 000 Beschäftigten 1 100 nur noch in befristeten Beschäftigungsverhältnissen, bei Siemens in Bad Neustadt sind von
2 500 Beschäftigten 450 nur noch in befristeten Beschäftigungsverhältnissen, bei der IB GmbH sind von
2 000 Beschäftigten annähernd die Hälfte nur noch in
befristeten Arbeitsverhältnissen. Sie machen den Ausnahmetatbestand, dass man jemanden für einen kurzen
Zeitraum einstellen kann, weil es dafür einen sachlichen
Grund gibt, zur Regel. Wir wollen - da sind wir uns in
der Opposition, glaube ich, alle einig - wieder Regulierung auf dem Arbeitsmarkt und kein Wildwest à la FDP.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege Ernst. - Bitte schön, Frau
Kollegin Ernstberger.
Herr Präsident, im Namen meiner Fraktion möchte
ich die Herbeizitierung der Ministerin beantragen, da es
sich um ein existenzielles und wichtiges Thema für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer handelt.
({0})
Im Vorfeld des G-20-Treffens halte ich es für angemessen, dass die Ministerin hier im Plenarsaal erscheint.
Zur Geschäftsordnung der Herr Kollege Kaster.
Wir hatten eine angeregte und inhaltsreiche Debatte.
Die Regierungsbank war bzw. ist durch Staatssekretäre
vertreten.
({0})
Ich denke, wenn es Ihnen mit diesem Thema ernst ist,
dann sollten wir mit der gebotenen Sachlichkeit debattieren. Sie sollten hier aber keine Geschäftsordnungskaspereien machen.
({1})
Wir werden einen solchen Antrag unsererseits ablehnen.
({2})
Ich will nur noch geklärt haben, ob die Ministerin
überhaupt erreichbar ist
({0})
oder ob sie entschuldigt ist.
Vizepräsident Eduard Oswald
({1})
- Sie ist also nicht entschuldigt.
Herr Kollege Kolb zur Geschäftsordnung.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde, dass der bisherige Verlauf der Debatte gezeigt hat,
dass wir unsere Argumente ausgetauscht haben.
({0})
- Frau Kollegin Pothmer, hören Sie mir doch erst einmal
zu.
({1})
Ich stelle fest, dass das Ministerium in der Person
des Parlamentarischen Staatssekretärs Hans-Joachim
Fuchtel, eines ebenso beliebten wie kompetenten Kollegen,
({2})
hier vertreten ist. Ich stelle auch fest, dass im bisherigen
Verlauf der Debatte das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales und auch die Bundesministerin für Arbeit
und Soziales,
({3})
Frau Dr. Ursula von der Leyen,
({4})
mit keinem einzigen Wort erwähnt worden sind.
({5})
- Ja, da darf man gerne auch einmal applaudieren.
({6})
Insofern nimmt es wunder - das muss ich ganz deutlich
sagen -,
({7})
dass plötzlich von der SPD beantragt wird, dass die
Ministerin höchstpersönlich für die Bundesregierung erscheinen soll.
({8})
Ich will deutlich sagen: Wir haben genug Material
und Stoff.
({9})
Die vorliegenden Anträge der Fraktion der Linken, der
Fraktion der SPD und der Fraktion der Grünen sind
Thema und Gegenstand der heutigen Debatte.
({10})
Es gibt zahlreiche Kollegen, die in dieser Debatte bereits
das Wort ergriffen haben oder es noch ergreifen werden.
({11})
Vor diesem Hintergrund, glaube ich, wir sind gut beraten
- das ist auch vollkommen ausreichend -,
({12})
wenn wir diesen Tagesordnungspunkt unter uns beraten,
wenn wir uns gegenseitig zuhören - das sollte übrigens
ohnehin gute parlamentarische Übung sein - und wenn
wir alle nach dem Ende der Beratungen - das wünsche
ich mir sehr - in uns gehen und überlegen, was wir gemeinsam tun können, um bei Abstimmungen Mehrheiten zu erzielen.
Ich glaube, gerade signalisiert die SPD, dass sie ihren
Geschäftsordnungsantrag zurückziehen will. Interpretiere ich das richtig?
({13})
- Ach so, Sie wollen, dass wir abstimmen. Dann habe
ich das falsch verstanden. Ich dachte, Sie würden den
Antrag zurückziehen. Das hätte mir die weitere Argumentation an dieser Stelle ersparen können.
({14})
So wie die Situation jetzt ist, müssen wir über den Geschäftsordnungsantrag abstimmen.
({15})
Dann werden wir sehen, wie die Mehrheitsverhältnisse
sind.
({16})
Die Geschäftsordnung ist ziemlich eindeutig: Die
Möglichkeit einer Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer ist gegeben. Jetzt lasse ich über den Antrag
abstimmen.
Vizepräsident Eduard Oswald
({0})
Jede Fraktion hat sich geäußert; so sieht es die Geschäftsordnung vor. Wer für den Antrag der Fraktion der
SPD ist, den bitte ich um das Handzeichen. ({1})
Gegenprobe! ({2})
Im Präsidium besteht Uneinigkeit.
({3})
Deshalb kommen wir nun zu dem bewährten Verfahren
des Hammelsprungs. - Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen.
Ich unterbreche die Sitzung, bis dieses Verfahren eröffnet wird.
({4})
Es haben alle den Saal verlassen. Ich bitte, die Türen
zu schließen.
Die Abstimmung ist eröffnet.
Ich frage die Schriftführer, ob sich noch jemand in der
Lobby befindet. - Ich höre und sehe, dass das nicht der
Fall ist. Dann können wir die Türen schließen. Ich bitte
die Schriftführer, mir das Ergebnis bekannt zu geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Platz nehmen wollen, dann haben Sie dazu die Möglichkeit. Sie
können das Ergebnis aber auch stehend zur Kenntnis
nehmen.
Ich gebe das Ergebnis des Hammelsprungs bekannt: Mit Ja haben gestimmt 176 Kolleginnen und Kollegen. Mit Nein haben gestimmt 260 Kolleginnen und
Kollegen.
({0})
Enthalten hat sich niemand. Damit ist der Antrag der
Fraktion der Sozialdemokraten auf Herbeizitierung der
Frau Bundesministerin abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben selbstverständlich die Gelegenheit, bei der laufenden Debatte anwesend zu sein und sie zu verfolgen.
({1})
Wenn Ruhe eingekehrt ist, gebe ich das Wort der
nächsten Rednerin in unserer Debatte.
Ich erteile nun das Wort unserer Kollegin Frau Beate
Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Zwischen 1996 und 2010 hat sich die Zahl der
befristeten Beschäftigungsverhältnisse auf über 2,5 Millionen nahezu verdoppelt. Entscheidend ist aber: Mittlerweile hat jede zweite neue Stelle ein Verfallsdatum, ist
also befristet. Wir Grüne sehen diese Entwicklung mit
Sorge
({0})
und kritisieren die Tendenz hin zu immer mehr atypischer und prekärer Beschäftigung.
({1})
Auch Rot-Grün trägt hierfür Verantwortung; das wissen wir. Das haben wir schon häufig gesagt. Wir hatten
damals die Hoffnung, dass die sachgrundlose Befristung
eine Brücke in Dauerbeschäftigung insbesondere für Ältere ist und zu mehr Arbeitsplätzen insgesamt führt.
Aber es funktioniert nicht. Herr Kollege Kolb, Politik
muss hin und wieder lernen und sollte nicht krampfhaft
an Positionen festhalten.
({2})
Das schafft übrigens auch Vertrauen. Das kann gerade
die FDP momentan gut gebrauchen.
({3})
Zu viele Arbeitgeber nutzen nur den vorhandenen gesetzlichen Rahmen und stellen ohne Not befristet ein,
statt reguläre, unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zu
schaffen. Sie, die Regierungsfraktionen, behaupten immer noch, dass sachgrundlose Befristung arbeitsmarktpolitisch Sinn macht. Unkritisch setzen Sie auf Flexibilität für die Arbeitgeber und ignorieren, dass der Preis für
die Beschäftigten zu hoch ist. Befristete Jobs werden
deutlich schlechter vergütet. Befristet Beschäftigte haben
ein größeres Armutsrisiko, sie werden schneller arbeitslos. Eine Familien- und Lebensplanung gestaltet sich
schwierig.
({4})
Wer befristet angestellt ist, macht sich auch mehr Sorgen
über Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut im Alter.
Die Flexibilität der Arbeitgeber geht voll und ganz zulasten der Beschäftigten. Diese Fehlentwicklung ist für
uns nicht mehr akzeptabel.
({5})
Eine Entwicklung beschäftigt mich ganz besonders.
Die Befristungsmöglichkeit, aber auch die Personalpolitik der Arbeitgeber treiben eine ganze Generation - ich
meine die Jungen - in unsichere Jobs. Die Arbeitgeber
begnügen sich nicht mehr mit einer Probezeit von sechs
Monaten. Mit befristeten Arbeitsverträgen werden junge
Menschen zwei Jahre hingehalten. Nur noch 25 Prozent
haben Glück und werden übernommen, die anderen
75 Prozent müssen wieder von vorne beginnen. Wir haben nicht nur eine Generation Praktikum, sondern wir
haben mittlerweile auch die Generation Probezeit.
({6})
Für junge Menschen wird der Schwebezustand damit
zum Dauerzustand, und das Fehlen von Zukunftsplänen
wird zur Normalität. Lebensplanung ist ein Begriff, über
den viele jüngere Beschäftigte nur noch müde lächeln
können. Befristung bedeutet beim Berufseinstieg aber
auch weniger Lohn. Es dauert sehr lange, bis diese Verdienstlücke zwischen befristet und unbefristet Beschäftigten wieder geschlossen ist. Laut einer Studie brauchen
Männer dafür zwölf Jahre. Bei Frauen geht es schneller.
Sie brauchen nur sechs Jahre, aber sie verdienen auch
weniger als die Männer.
Viel zu viele junge Menschen haben also einen langen
und unsicheren Berufseinstieg. Das ist nicht nur ungerecht, sondern vor allem auch unverantwortlich.
({7})
Es muss also damit Schluss sein, dass Arbeitgeber das
unternehmerische Risiko auf die Beschäftigten übertragen, auf billigere Löhne spekulieren und mithilfe von
Befristungen den Kündigungsschutz umgehen. Deshalb
fordern wir in unserem Antrag auch die Streichung im
Teilzeit- und Befristungsgesetz.
({8})
Wenn der Blick auf die Beschäftigten und auf die unsichere Lebenssituation die Regierungsfraktionen nicht
überzeugen kann, dann hätte ich abschließend noch ein
weiteres Argument für unseren Antrag: Zu viele befristete Jobs schwächen auch die Gewerkschaften; denn befristet Beschäftigte sind weniger organisiert.
({9})
Wenn die Fluktuation im Betrieb groß ist, dann haben
die Gewerkschaften und Betriebsräte weniger Möglichkeiten, neue Mitglieder zu werben. Mit unserem Antrag
wollen wir also auch die Gewerkschaften stärken.
({10})
Dieses Argument müsste eigentlich auch die Regierungsfraktionen überzeugen, die stets die Tarifautonomie
hochhalten und damit gesetzgeberische Maßnahmen ablehnen.
Ich komme zum Schluss. Mit unserem Antrag wollen
wir den Arbeitgebern nicht jegliche Flexibilität nehmen.
Sie haben weiterhin die Möglichkeit, befristet einzustellen, sofern ein Grund vorliegt. Unser Ziel ist aber, eine
neue, eine gerechte Balance herzustellen, die den Interessen der Arbeitgeber und der Beschäftigten gleichermaßen
gerecht wird. Wir wollen keine Spaltung zwischen regulär und prekär Beschäftigten; denn die Menschen brauchen soziale Sicherheit.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ulrich Lange. Bitte
schön, Kollege Ulrich Lange.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zum wiederholten Male in diesem Haus beschäftigen
wir uns heute mit dem Thema der sachgrundlosen Befristung. Es ist ein wiederholter Versuch, ein bewährtes,
inzwischen fest eingeführtes Instrumentarium im Kanon
des deutschen Arbeitsrechtes - ich sage es so deutlich zu schleifen. Dabei waren Sie es zu mutigen rot-grünen
Zeiten - dies ist heute schon mehrfach angesprochen
worden -,
({0})
die das TzBfG eingeführt haben. Wir hatten vorher keine
echte Regelung für Befristungen. Wir haben uns bis zum
1. Januar 2001 immer wieder durch viel Rechtsprechung
gearbeitet. Trotz aller Kritik am Anfang gilt das TzBfG
aus dem Jahre 2001 in der Fachwelt heute, auch wenn
Sie es nicht hören mögen, durchaus als gelungen.
({1})
Gleiches hat die Anhörung am 4. Oktober letzten Jahres
deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich möchte in diesem
Zusammenhang an den Beitrag von Professor Thüsing
erinnern, der ganz klar gesagt hat, dass die Abschaffung
der sachgrundlosen Befristung ein Schritt zur Verkomplizierung des deutschen Befristungsrechtes sei. Auch
hat er das Thema der Zuvor-Arbeitsverhältnisse, die in
keinem sachlichen Zusammenhang stehen, angesprochen.
Gerade in diesem Punkt hat das Bundesarbeitsgericht
im April dieses Jahres ein durchaus bemerkenswertes
Urteil gefällt, indem es auf die Klage einer studentischen
Hilfskraft, die dann als Lehrerin eingestellt wurde, festgestellt hat, dass es sich nach mehr als drei Jahren Unterbrechung um kein Zuvor-Arbeitsverhältnis handelt. Das
BAG hat also ganz klar den Dauerausschluss, von dem
wir arbeitsrechtlich bisher ausgegangen sind, abgelehnt.
({2})
Diese Entscheidung entspricht nicht nur den Bedürfnissen der Praxis, sondern sie hat in der Fachwelt durchaus
große Zustimmung erfahren.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, insbesondere der Gewerkschaften - Herr Kollege Barthel,
Sie sind ja bei Verdi -, ich habe mir das Protokoll über
die Anhörung angeschaut und dabei erfreut festgestellt,
dass die Kollegin des DGB festgehalten hat - anders als
in der Rede auf dem Verdi-Bezirkstag -, dass bei der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung die Gefahr bestehe, dass andere atypische Beschäftigungsverhältnisse
zunähmen. Das heißt im Ergebnis - so ist es im Wortprotokoll festgehalten -, dass dann mit einer Zunahme von
Leiharbeit und sonstigen Dienstverhältnissen gerechnet
werden müsse.
({4})
Genau deshalb sollten Sie sich sehr gut überlegen, wo
Sie die Axt anlegen.
({5})
- Nein, die Kollegin des DGB denkt nicht theoretisch
wie Sie, sondern sie steht mit beiden Beinen in der Arbeitswelt und weiß, wie es in den Betrieben zugeht. Sie
vertritt damit die Interessen der Menschen, die arbeiten
und arbeiten wollen und die Hoffnung auf den Klebeeffekt und auf eine Brücke hin zu unserem deutschen Arbeitsmarkt haben.
({6})
- Lesen Sie selbst! Sie waren wahrscheinlich bei der Anhörung nicht dabei.
({7})
- Dann lesen Sie nach, was Ihre Sachverständige gesagt
hat. Schicken Sie doch das nächste Mal eine andere
Sachverständige, wenn Ihnen das, was bei einer Anhörung herauskommt, nicht passt.
({8})
Wir erwarten von Sachverständigen in einer Anhörung,
dass sie offen und ehrlich antworten. Sonst könnten wir
uns das sparen.
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen,
nämlich dass befristete Arbeitsverhältnisse ein Weniger
an Rechten darstellen. Das ist definitiv nicht der Fall.
({9})
Auch für befristet Beschäftigte gelten Tarifverträge und
Urlaubsansprüche. Auch die Wahl in den Betriebsrat ist
selbstverständlich möglich.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube nicht, dass
hier die Befristung mit Sachgrund eine Lösung ist. Ich
will jetzt nicht auf das Thema Probezeit eingehen; denn
- ohne hier jetzt ins Detail zu gehen - die Probezeit in
§ 622 BGB meint eine andere Erprobung als
§ 14 TzBfG.
Eines ist klar geworden: Was heute gesagt worden ist,
nämlich dass die Generation Praktikum keine Anschlusschance im gleichen Betrieb hat, wurde durch die neue
Rechtsprechung des BAG im April dieses Jahres korrigiert. Diejenigen, die in einem Unternehmen studentische Hilfskräfte waren, können nach dieser im Urteil genannten Dreijahresfrist in ebendiesem Betrieb Arbeit
finden. Wir sollten uns auf den Weg machen, die Detailfragen im Lichte dieser Entscheidung zu klären.
Ich halte fest: Die sachgrundlose Befristung hat eine
Brückenfunktion.
({11})
Sie bietet Flexibilisierungsmöglichkeiten, die wir benötigen. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen, dass wir
nicht der Theorie folgen, die der Kollege Ernst präsentiert hat. Was er mit Blick auf das alte Rom gesagt hat,
halte ich für unwürdig; denn unsere Arbeitsverhältnisse
sind keine Sklavenarbeit.
({12})
Wir sind ein moderner Rechtsstaat, in dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr wohl Rechte haben.
({13})
Ich glaube auch nicht, dass wir mit einer billigen Neidkampagne weiterkommen. Wir sollten froh sein, dass
wir statt 5 Millionen Arbeitslose weniger als 3 Millionen
Arbeitslose haben.
Aufgrund der sachgrundlosen Befristung ist ein Weg
in die Unternehmen möglich. Natürlich wünschen wir
uns unternehmerischen Erfolg sowie gute und fleißige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen.
Dann ist es möglich, Dauerarbeitsverhältnisse zu schaffen. Sie sind die Idealarbeitsverhältnisse. Die Politik
sollte die Menschen aber nicht glauben machen, dass es
eine arbeitsrechtliche Vollkaskogesellschaft geben kann,
indem die befristeten Arbeitsverhältnisse abgeschafft
werden.
({14})
Denn auch in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis ist
die Kündigung unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen jederzeit möglich.
({15})
Lassen Sie uns also den Gedanken des DGB aufnehmen, die sachgrundlose Befristung beizubehalten, um
nicht mehr atypische Arbeitsverhältnisse zu bekommen.
Arbeiten wir an den genauen Leitplanken, die uns das
Bundesarbeitsgericht vorgegeben hat. Wir sind dann,
was das Befristungsrecht angeht, auf einem guten und
erfolgreichen Weg für die Beschäftigung in unserem
Land.
Herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank, Kollege Lange. - Jetzt spricht für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Ottmar
Schreiner. Bitte schön, Kollege Ottmar Schreiner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist zurzeit etwas schwierig, die Position der Koalition
herauszuarbeiten, weil hier sehr unterschiedliche Reden
gehalten worden sind. Am einfachsten hat es der Kollege
Kolb von der FDP, der sagt:
({0})
Alles, was ist, ist gut. Sozial ist, was Arbeit schafft.
({1})
Ich will gar nicht auf die Sklavenarbeit zurückkommen,
die Herr Ernst angesprochen hat. Aber Sie wissen, dass
es 400-Euro-Jobs gibt, in denen überwiegend Frauen auf
der Basis von Vollzeitarbeit 32, 34 und auch 36 Stunden
zu Stundenlöhnen arbeiten, die irgendwo zwischen 2 und 3
Euro liegen.
({2})
Wenn Sie sagen, das sei sozial hinnehmbar, dann kann
ich nur fragen, ob Sie noch alle Tassen im Schrank haben. Es geht einfach nicht, dass die Menschen mit diesen
Hungerlöhnen nach Hause geschickt werden.
({3})
Herr Zimmer, ich habe sehr viel Verständnis für Ihre
Position. Aber nach dieser Logik müssten Sie den vorliegenden Anträgen zustimmen. Ich will Sie einmal zitieren. Sie haben soeben gesagt, Sie wünschten sich eine
Arbeitswelt, in der Befristungen nur noch aus guten
Gründen erfolgen. Die Befristung ohne Sachgrund abzuschaffen, ist exakt der Sinn der Anträge.
({4})
Sie haben gesagt, Sie wünschten sich eine Arbeitswelt,
in der vor allen Dingen junge Menschen sichere Arbeitsbedingungen vorfinden. Sie wissen genau, dass mehr als
die Hälfte der jungen Leute unter 30 Jahren in prekären
Beschäftigungsverhältnissen mit überwiegend zeitlicher
Befristung sind. Sie wissen genauso gut wie wir, dass arbeitsrechtlich nichts familienfeindlicher ist als die prekären, instabilen, unsicheren Beschäftigungsverhältnisse.
({5})
Schließlich trauen sich manche betroffene junge Leute
nicht mehr, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie nicht
wissen, ob sie ihre Kinder nach Ablauf der zeitlichen
Befristung noch angemessen ernähren und kleiden können.
({6})
Sie haben soeben gesagt, die Befristung begünstige
die Aufschiebung von Lebensentscheidungen. Es kann
doch nicht ernsthaft der Wille des Gesetzgebers sein, Regelungen zu dulden, durch die notwendige Lebensentscheidungen von Menschen aufgeschoben werden. Folgt
man der Logik Ihres Vortrages, Herr Zimmer, müssten
Sie eigentlich - herzlichen Glückwunsch! - für zumindest einen der vorliegenden drei Anträge sein. Wenn das
die Position der Unionsfraktion ist, dann sage ich ebenfalls: Herzlichen Glückwunsch! Das Ganze ist so ähnlich
wie beim Mindestlohn. Ich habe gelesen, dass die Frau
Ministerin inzwischen für allgemeine Mindestlöhne ist.
({7})
Sie sind auf einem guten Weg. Jetzt müssen Sie nur noch
sehen, dass Sie mit dem Bremsklotz FDP zurande kommen. Das ist das eigentliche Problem in der Koalition.
Der Kollege Lange hat hier zahlreiche Sachverständige bemüht. Das Argument „Wenn ihr die sachgrundlose Befristung streicht, dann gibt es mehr Leiharbeit“
zu bemühen, ist ungefähr so, als wenn man sagt: Wenn
ihr nicht ins Fegefeuer wollt, dann kommt ihr gleich in
die Hölle. Das ist eine Argumentation, die wirklich unter
Ihrem Niveau ist, Herr Kollege Lange. Da bin ich Besseres gewohnt. Ich weiß nicht, von wem Sie diese Argumentation - ({8})
- Sie sollten jetzt einmal eine Weile schweigen. Das
wäre einmal hilfreich, Frau Kollegin Connemann.
({9})
Sie wären wirklich die letzte Kandidatin für ein Kloster
mit Schweigegelübde. Das könnte nicht funktionieren;
denn bereits nach fünf Minuten wären Sie als Nonne entlassen.
({10})
Das ist eine Vorstellung, die ich jetzt nicht weiter ausführen will.
Die SPD-Fraktion hat den Antrag gestellt, die Ministerin herbeizuzitieren. Von Herrn Kollege Kolb ist darauf hingewiesen worden, dass wir einen beleibten und
sachkundigen Staatssekretär haben.
({11})
- Ja, das ist er: „Beleibt und sachkundig“ haben Sie gesagt.
({12})
- „Beliebt“ und sachkundig, okay. Sie haben gesagt,
dass Sie einen beliebten und sachkundigen Staatssekretär hätten. Das ist ebenfalls in Ordnung. Er ist hier. Herzlichen Glückwunsch!
Ich will jetzt aus einem Agenturbericht von vorgestern zitieren. Daraus kann man vielleicht ableiten, warum es angemessen wäre, wenn die Ministerin an diesen
Debatten teilnähme. Vorgestern ist in einer thüringischen
Zeitung nach einer Meldung der AFP ein Artikel erschienen, in dem es heißt:
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({13}) forderte zu Beginn
des zweitägigen Treffens
- der europäischen Arbeits- und Sozialminister „bessere Arbeitsplätze“ - es sei Besorgnis erregend,
dass die Einkommensungleichheit ständig zunehme, dass es immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse gebe und dass die Reallöhne in vielen
Ländern stagnierten oder sogar zurückgingen …
Alle drei Vorhaltungen treffen auf die Bundesrepublik
Deutschland uneingeschränkt zu: massive Zunahme von
zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnissen, eine
seit Jahren rückläufige Reallohnentwicklung, eine sinkende Lohnquote, eine steigende Gewinnquote und eine
ständig zunehmende Einkommensungleichheit. Das ist
die Vorhaltung der OECD, gemacht auf dem Treffen
- nochmals - der europäischen Arbeits- und Sozialminister.
In diesem Text heißt es weiter:
Die G-20-Minister sollten nicht nur darüber nachdenken, wie mehr Arbeitsplätze geschaffen werden
könnten, forderte die Organisation, sondern sie sollten auch Maßnahmen ergreifen, „die zu fairen und
hochwertigen Beschäftigungsverhältnissen führen“.
Jetzt bitte ich um die Stellungnahme der Bundesregierung. Das, was ich zitiert habe, ist eine Aussage der
OECD. Sie ist keine Vorfeldorganisation irgendeiner
Oppositionsfraktion hier. Sie ist eine international anerkannte Organisation. Wenn sie sagt, sie sei besorgt darüber, dass es in Deutschland immer mehr befristete,
prekäre Beschäftigung, immer geringere Löhne und zu
wenig faire und hochwertige Beschäftigung gebe, dann
müsste doch die Bundesregierung in Gestalt des beliebten Staatssekretärs dazu etwas sagen können, und es
dürfte kein Schweigen im Walde herrschen. Was ist die
Position der Koalition zu ebendiesen Vorhaltungen?
Jetzt sehe ich, dass ich mit meinem Manuskript überhaupt noch nicht begonnen habe, meine Redezeit aber
fast zu Ende ist.
({14})
Das ist ein bedauerlicher Vorgang.
Herr Kollege Lange, Sie haben ständig Sachverständige zitiert. Ich will Ihnen sagen: Es gibt Sachverständigenbefragungen, die eindeutig sind. Es ist nicht gut, nur
Professoren zu befragen. Professoren haben nämlich einen lebenslang gesicherten Job, in der Regel mit sehr guten Arbeitsbedingungen und sehr guten Einkommensverhältnissen. Ihre Tätigkeit unterliegt keinen zeitlichen
Befristungen usw.
Fragen Sie einmal die einfachen Leute auf der Straße
danach, wie sie sich gute Arbeit vorstellen. Dann bekommen Sie fast zu 100 Prozent die gleiche Antwort:
Unter guter Arbeit stelle ich mir ein auf Dauer angelegtes, stabiles Arbeitsverhältnis mit auskömmlichem Lohn,
von dem ich meine Familie und mich ernähren kann, und
mit einer angemessenen sozialen Sicherung vor. - Das
ist die Antwort von nahezu 100 Prozent der befragten
Leute auf der Straße, die die für uns wichtigen Sachverständigen sind. Deshalb können mir die Aussagen einiger von Ihnen erwähnten Professoren ziemlich egal sein.
({15})
Das sogenannte normale Arbeitsverhältnis ist in der
Tat modernisierungsbedürftig. Dazu kann ich aufgrund
der mir noch zur Verfügung stehenden Redezeit aber
nichts mehr sagen. Die eigentliche Aufgabe besteht nicht
darin, darüber nachzudenken, wie die prekäre Beschäftigung ausgeweitet werden kann, wie es die Koalition androht. Die eigentliche Frage lautet vielmehr, wie wir das
sogenannte normale Arbeitsverhältnis an modernen Entwicklungen orientieren können wie zum Beispiel an der
gleichberechtigten Arbeit von Mann und Frau.
Das Normalarbeitsverhältnis orientiert sich eher am
althergebrachten Bild des Mannes als Ernährer der Familie. Diese Zeiten sind aber unwiderruflich vorbei.
Also müsste in das Normalarbeitsverhältnis die Möglichkeit eingebaut werden, Auszeiten und Phasen verringerter Arbeitszeiten in Anspruch zu nehmen, und zwar
aus Pflegegründen, aus Erziehungsgründen oder aus
Weiterbildungsgründen. Außerdem müssten Regelungen
geschaffen werden, damit diejenigen Männer und
Frauen, die von dieser Option Gebrauch machen, wieder
in reguläre Beschäftigung zurückkehren können.
Das wäre ganz überschlägig gesehen die Modernisierung des normalen Arbeitsverhältnisses. Ich will dazu
noch einen letzten Satz sagen.
Ich bitte darum.
Der letzte Satz, Herr Präsident. - Das normale Arbeitsverhältnis ist deshalb ein historisches Ereignis, weil
zum ersten Mal in der Geschichte von Arbeit auch für
diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
keine großen Vermögen haben und die nur von ihrer Arbeit leben, eine soziale Sicherung geschaffen worden ist,
sodass in Zeiten der Nichtarbeit - Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Alter - stabile und sichere Verhältnisse
gegeben sind. Das sollten wir nicht leichtfertig aufs
Spiel setzen.
Deshalb besteht die Hauptaufgabe im Zurückdrängen
von prekärer Beschäftigung und in einem Ausbau des
modernisierten Normalarbeitsverhältnisses. Wenn Sie
sich dazu bereitfinden könnten, wäre schon viel erreicht.
Sie sind ein hoffnungsloser Fall, Herr Kollege Kolb,
aber es gibt Anzeichen dafür, dass man die Kollegen von
der Union dafür gewinnen könnte. Dann wären wir in
diesem Hohen Haus einen Riesenschritt weiter, nicht in
unserem Interesse, sondern im Interesse der abhängig
Beschäftigten.
({0})
Kollege Schreiner, bei nächster Gelegenheit unterhalten wir beide uns über die Länge eines Satzes.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schreiner, ich finde es wirklich gut, dass
Sie auf die Untersuchungen der OECD verweisen. Diese
Untersuchungen beschäftigen sich aber nicht nur mit
Deutschland, sondern mit sämtlichen OECD-Ländern.
Sie haben recht: Es ist natürlich berechtigt, nach der
Qualität von Arbeit zu fragen. Diese Frage sollten wir
uns alle stellen. Mir gefällt aber nicht, dass Sie scheinbar
völlig aus dem Auge verloren haben, dass Quantität vor
Qualität steht. Bevor man sich nach der Qualität eines
Arbeitsverhältnisses fragen kann - Kollege Kolb hat übrigens nicht gesagt, dass sozial ist, was Arbeit schafft -,
muss zunächst einmal ein Arbeitsverhältnis gegeben
sein.
Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal auf die Lage
in Deutschland hinzuweisen. Wir haben weniger als
2,8 Millionen Arbeitslose. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, da Sie immer auf die Statistik verweisen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass
auch die Unterbeschäftigung um eine halbe Million
niedriger ist als noch vor einem Jahr. Das ist eine gute
Nachricht.
Zur Jugendarbeitslosigkeit muss ich nichts sagen. Wir
stehen im europäischen Vergleich exzellent da. Ich kann
nachvollziehen, dass Sie sich immer aufregen, wenn Ihnen vorgehalten wird, was Sie damals unter Rot-Grün
gemacht haben.
({0})
Wenn es ein Fehler wäre, wäre es richtig, diesen zu korrigieren. Die Wahrheit ist aber, dass es kein Fehler war.
Vielmehr war es richtig, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, weil dies nicht die einzige, aber eine wesentliche
Ursache für das deutsche Jobwunder ist. Deshalb ist es
richtig, bei der Befristung zu bleiben und Ihren Anträgen
nicht zuzustimmen.
({1})
Jetzt sagen Sie, das gelte nicht mehr; denn durch die
Befristung sei alles schlimm. Ich habe mir einmal Ihre
Argumente aufgeschrieben. Kollege Barthel hat vorhin
gesagt, die befristete Beschäftigung sei erstens keine
Brücke in unbefristete Beschäftigung. Zweitens würden
immer mehr unbefristete Beschäftigungen umgewandelt,
es gebe immer mehr „schlechte“ Arbeit und immer mehr
Befristungen.
Ein kluger Sozialdemokrat, Kurt Schumacher, hat
einmal gesagt: „Politik beginnt mit der Betrachtung der
Wirklichkeit.“
({2})
Ich halte das für sehr richtig und wahr. Schauen wir uns
doch einmal die Lage im Bereich der Befristung an.
Richtig ist: Mitte der 90er-Jahre gab es 5 Prozent befristet Beschäftigte, heute sind es 9 Prozent. Zur Betrachtung der Wirklichkeit gehört aber auch die Analyse, dass
die Statistik verändert wurde.
({3})
Das wissen Sie alles so gut wie wir. Weil die Statistik
verändert wurde, ist der Prozentsatz gestiegen; denn jetzt
werden Saisonarbeiter - Arbeitskräfte im Weihnachtsgeschäft, Erntehelfer - mit in die Statistik einbezogen.
({4})
Es ist eben nicht so, dass der Anteil der befristet Beschäftigten weiter explodieren würde. Das ist schlicht
nicht wahr.
({5})
- Das ist richtig, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Kommen wir zu den Neueinstellungen. Davon sind insbesondere junge Leute betroffen, übrigens gerade Hochqualifizierte. Es gibt viele Bereiche, in denen der Anteil
Johannes Vogel ({6})
der Befristungen in der Tat hoch ist: in der Wissenschaft,
im öffentlichen Dienst, auch beim DGB, Herr Kollege
Schreiner. Der DGB stellt seit 2004 grundsätzlich nur
noch befristet ein.
({7})
Wir können mit den jeweiligen Akteuren einmal das Gespräch suchen, wie man das verändern kann.
({8})
- Nein, ich beklage das nicht. Nur, Herr Kollege Barthel:
Es wird behauptet, dass immer mehr umgewandelt wird
und befristete Beschäftigung nicht in unbefristete führt.
Das ist schlicht nicht wahr. Über die Hälfte derjenigen,
die einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen, erhalten
anschließend einen unbefristeten Arbeitsvertrag beim
selben Arbeitgeber. Das heißt: Der Einstieg funktioniert.
Man bleibt nicht in der befristeten Beschäftigung hängen.
({9})
Überhaupt: Frau Kollegin, nur 15 Prozent derjenigen,
({10})
die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, haben fünf
Jahre später - ({11})
- Der Kollege Ernst will eine Zwischenfrage stellen.
Ja, er will eine Zwischenfrage stellen. Sie gestatten
das auch, Herr Kollege?
Aber gerne, mit Blick auf die Redezeit umso mehr.
Bitte schön, Herr Kollege Ernst.
({0})
Herr Vogel, Sie haben eben angesprochen, dass die
Hälfte derer, die einen befristeten Arbeitsplatz hatten,
danach eine unbefristete Stelle bekommen hätten. Ist das
nicht Beweis dafür, dass es sich offensichtlich um eine
unbefristete Stelle gehandelt hat, die allerdings nur befristet besetzt wurde?
({0})
Ist dieser Zustand für den Menschen, der diese Stelle
innehat, nicht ein Zustand der wirklich großen Unsicherheit? Er kann sich nämlich nicht darauf verlassen, dass
er hinterher beschäftigt wird, sondern er muss sich so
lange wohl verhalten, bis seine befristete Stelle in eine
unbefristete umgewandelt wird. Bis dahin wird er
schlechtere Bedingungen akzeptieren als andere.
Können Sie sich vorstellen, Herr Vogel, dass die
Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden,
sich natürlich botmäßiger verhalten und damit das Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen eines ganzen Betriebes nach unten drücken?
({1})
Wollen Sie solche Arbeitsbedingungen? Wenn Sie sie
nicht wollen, warum sind Sie dann nicht mit uns der
Auffassung, dass - wenn es schon um unbefristete Jobs
geht, von denen Sie reden - diese Jobs nicht von Anfang
an, mit einer bestimmten Probezeit versehen, unbefristet
besetzt werden müssen?
({2})
Herr Ernst, erstens danke ich Ihnen für die Frage drei
Sekunden vor Ende meiner Redezeit. Zweitens zeigt
meiner Meinung nach diese Statistik im Hinblick auf den
deutschen Arbeitsmarkt vor allem - aus vielen Gründen,
unter anderem wegen unseres Kündigungsschutzrechts,
das wir alle so wollen -, dass die Unternehmer sich die
Menschen erst einmal anschauen wollen.
({0})
Ich bin der Meinung, dass sie eben nicht von vornherein
ein unbefristetes Arbeitsverhältnis schaffen wollen. Drittens, Herr Ernst, zeigt die Statistik, dass das Ganze funktioniert, weil es eben nicht so ist, dass die Menschen in
der Unsicherheit verbleiben,
({1})
weil die Hälfte der Beschäftigten in den jeweiligen Betrieb übernommen wird. Überhaupt, Herr Ernst - das
will ich noch sagen: - Nur 15 Prozent derjenigen, die mit
einem befristeten Vertrag beginnen, sind fünf Jahre später noch befristet angestellt. Die übergroße Mehrheit ist
dann unbefristet beschäftigt. Der Einstieg über die Flexibilität funktioniert. Sie wollen das kaputtmachen.
({2})
Herr Ernst, ich habe es Ihnen gerade erklärt. Wenn Sie
es nicht verstehen wollen, kann ich Ihnen nicht helfen.
Ich kann mich in die Lage der Betroffenen sehr gut hineinversetzen, weil ich im engsten Freundes- und Familienkreis Menschen kenne, die über eine befristete Stelle
die unbefristete Stelle beim selben Arbeitgeber bekommen haben, die die Chance, sich mit ihrer guten Arbeit
Johannes Vogel ({3})
zu beweisen und sich beim Arbeitgeber bekannt zu machen, genutzt haben.
({4})
Herr Ernst: Es kann doch - gerade mit Blick auf den internationalen Vergleich - nicht gut sein, die Chancen, die
uns die Flexibilität am Arbeitsmarkt bringt, kaputtzumachen. Diese Menschen haben überhaupt erst eine Perspektive, weil sie einen Arbeitsplatz haben.
Wir sollten uns gemeinsam fragen: Wie sorgen wir für
die notwendige Qualität der Arbeit? Was können wir in
der Politik gemeinsam tun, damit es bei mehr Menschen
weitergeht, also Einstieg auch Aufstieg bedeutet, und sie
sich im Unternehmen weiterentwickeln können? Das
Beste, was wir politisch dafür tun können - das wissen
wir alle, die wir Statistiken des IAB lesen -, ist, in die
Qualifizierung der Mitarbeiter zu investieren.
({5})
Dazu nenne ich nur ein Beispiel: Die Koalition hat
hier am letzten Freitag ein Gesetz verabschiedet, das dafür sorgt, dass die Weiterbildung von Mitarbeitern in allen kleinen und mittleren Unternehmen - von Beschäftigten, Herr Ernst, die den Einstieg geschafft haben durch die Bundesagentur für Arbeit kofinanziert werden
kann. Das ist ein echter Baustein des Arbeitsmarkts der
Zukunft, der für eine bessere Perspektive der Menschen
sorgt.
({6})
Sie haben dagegen gestimmt. Dies passt leider ins Bild.
Wir haben den Eindruck, dass Sie die guten Errungenschaften einer gesteigerten Flexibilität, die Sie selber zu
Recht eingeführt haben, kaputtmachen wollen und sich
nicht wirklich mit uns Gedanken machen wollen, wie
wir die Perspektive aller Betroffenen verbessern können.
Ich finde das schade. Ihre Anträge werden wir ablehnen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Vogel. - Jetzt spricht für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Jutta
Krellmann. Bitte schön, Frau Kollegin Krellmann.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vorletzte Woche wurde in der Zeitung
Die Welt ein Artikel mit dem Titel „Die befristete Generation“ veröffentlicht. Über der Überschrift stand nicht
die Kategorie „befristete Arbeitsverhältnisse“, sondern
das Wort „Zeitarbeit“, nicht „Leiharbeit“. Befristete Arbeit ist demnach Zeitarbeit. In dem Artikel sind junge
Menschen zu Wort gekommen und hatten die Möglichkeit, ihre prekäre Situation zu schildern. Das waren aber
keine unqualifizierten Menschen, sondern hochqualifizierte junge Menschen, unter anderem eine Physiotherapeutin, die es, obwohl die Vorgesetzten ihr während der
ganzen Zeit Hoffnungen gemacht haben, in drei Jahren
nicht hinbekommen hat, einen festen Arbeitsplatz zu finden.
Das andere Beispiel betraf eine junge Frau, die technische Übersetzerin in einem Unternehmen in Deutschland geworden ist, nachdem sie in Schweden einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatte. In Schweden gab es das
nicht; da hatte sie einen unbefristeten Arbeitsvertrag.
Wenn sie dort keinen unbefristeten Arbeitsplatz gehabt
hätte - jetzt in Deutschland ist das Arbeitsverhältnis befristet -, hätte sie kein Kind in die Welt gesetzt; das sagt
sie ganz offen. Das sind Beispiele für das, was von unterschiedlichen Personen schon angesprochen wurde: die
Auswirkungen von Befristungen und prekärer Beschäftigung.
Diese und die vorherige Bundesregierung zeichnen
sich dadurch aus, dass sie in den letzten Jahren nichts gemacht haben, was im Interesse der Beschäftigten gewesen wäre. Die Überschrift heißt - das hat mein Kollege
Klaus Ernst schon gesagt - „Deregulierung“, und das
jetzt schon über Jahre hinweg. Es gibt keine Verbote.
Lohndumping auf breiter Front ist überall erlaubt, über
die Möglichkeiten der Befristung, der Leiharbeit, der
Werkverträge, der Flexibilisierung, bis zum Erbrechen.
Junge Fachkräfte bekommen keine Chance auf eine gesicherte Perspektive.
Am Samstag, dem 1. Oktober, also in zwei Tagen,
protestieren die Jugendlichen der IG Metall in Köln gegen genau diese Lebensperspektive der prekären Beschäftigung,
({0})
unter dem Motto:
„Laut und stark“ - Zukunft und Perspektive für die
junge Generation
15 000 Jugendliche werden erwartet, davon allein 1 500
aus Niedersachsen.
Arbeitgeber, besonders im Metallbereich, klagen über
Fachkräftemangel;
({1})
aber gleichzeitig müssen betroffene junge Beschäftigte
für die Übernahme nach der Ausbildung kämpfen. Nach
Aussage der IG Metall hangeln sich viele Jugendliche
von Praktika zu einem befristeten Arbeitsverhältnis oder
werden in die Leiharbeit gedrängt. Über 15 Prozent der
jungen Menschen zwischen 15 und 25 sind erwerbslos.
Allein das ist schon ein unglaublicher Skandal.
({2})
25 Prozent der zwischen 20- und 25-Jährigen arbeiten in
befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Ergebnis einer
Umfrage der IG Metall, bei der circa 5 000 Betriebsräte
befragt wurden, war, dass 42 Prozent der Neueinstellungen einen befristeten Arbeitsvertrag erhalten und 43 ProJutta Krellmann
zent in der Leiharbeit landen. In der Summe sind das
85 Prozent. Das bedeutet: Nur 15 Prozent haben die
Chance, in ein gesichertes Arbeitsverhältnis zu kommen.
Herr Lange, ein Wort zu dem, was Sie über die Gewerkschaft Verdi erzählt haben. Ich als Metaller sage: Ich
fürchte, Verdi hat recht. Das Beispiel belegt das doch.
Was ist denn die Konsequenz? Die Konsequenz kann
doch nicht sein, dass man nichts gegen befristete Beschäftigungsverhältnisse unternimmt! Die Konsequenz
muss sein, dass wir auch die Leiharbeit neu regeln. Wir
müssen dafür sorgen, dass der Grundsatz „Gleiches Geld
für gleiche Arbeit“ gilt.
({3})
Wenn es nach uns ginge, käme noch ein Zuschlag in
Höhe von 10 Prozent dazu. Dann hätten wir das Thema
Leiharbeit gleich mit geregelt.
({4})
Stichwort „Fachkräftemangel“. Ich persönlich halte
es für unerträglich, wenn in solchen Diskussionen
gleichzeitig permanent über den Fachkräftemangel gesprochen wird. Wir reden über Fachkräftemangel in allen wirtschaftlichen Bereichen: in Dienstleistungsbereichen, in Industriebereichen und in der Pflegebranche.
Überall gibt es Befristungen. Sie nehmen nirgendwo ab,
sondern immer nur zu.
({5})
Im Grunde lässt die Bundesregierung, und damit wir
alle, die junge Generation ohne Schutzschirm im Regen
stehen.
({6})
Meine Aufforderung an alle ist, jetzt endlich im Interesse der jungen Menschen und der jungen Gewerkschafter, die am Wochenende in Köln auf die Straße gehen werden, zu handeln. Wir sind in der Lage, innerhalb
kürzester Zeit - das haben wir heute erlebt - Milliarden
auszugeben, aber für die Lösung von sozialen Problemen, die es an den unterschiedlichsten Stellen gibt, brauchen wir Jahre bzw. kommen überhaupt nicht voran.
Wir als Linke sagen: Als ersten Schritt brauchen wir
die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. Es
geht nicht um die Abschaffung der Befristung an sich.
({7})
Wegen Schwangerschaft und Krankheit wird es weiterhin Befristungen geben.
Wir bitten darum, unserem Antrag zuzustimmen. Wir
werden den Anträgen von SPD und Grünen zustimmen.
Es geht uns um die Sache. An dieser Stelle muss endlich
etwas passieren.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. - Jetzt spricht
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Frau Brigitte Pothmer. Bitte schön, Frau Kollegin
Pothmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
es in Deutschland inzwischen mit einem doppelt gespaltenen Arbeitsmarkt zu tun. Wir haben nicht nur eine
Spaltung zwischen den Arbeitslosen und den Beschäftigten, sondern wir haben auch eine Spaltung zwischen der
Randbelegschaft und der Stammbelegschaft. Wir müssen feststellen, dass sich die letztgenannte Spaltung auf
dem Vormarsch befindet. Wir haben eben keine durchlässigen Übergänge zwischen den Teilarbeitsmärkten.
({0})
Die Teilarbeitsmärkte sind weitgehend starr voneinander
abgeschottet.
Lieber Herr Kolb,
({1})
Ihr Jobwunder, das Sie immer gebetsmühlenartig vortragen, hat viele Verlierer. Ich nenne die Leiharbeiter, die
Minijobber, den Niedriglohnsektor insgesamt und auch
die befristet Beschäftigten.
({2})
Vor allen Dingen für Berufsanfänger ist eine befristete
Beschäftigung - das wurde bereits ausgeführt - nicht
mehr die Ausnahme, sondern die Regel.
Ich will nicht so tun, als sei befristete Beschäftigung
schlechter als Arbeitslosigkeit.
({3})
Das Gegenteil ist der Fall.
({4})
Aber als Brücke in ein normales Arbeitsverhältnis eignet
sich das befristete Beschäftigungsverhältnis in nur sehr
geringem Maße.
({5})
Insbesondere für gering Qualifizierte ist die befristete
Beschäftigung kein Sprungbrett in eine gute berufliche
Zukunft,
({6})
sondern sie ist eine Sackgasse.
({7})
Sie führt in einen Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit,
Leiharbeit und Befristungsketten.
({8})
Deswegen gibt es dringenden Handlungsbedarf.
Wir wollen nicht so tun, als würde dieser Handlungsbedarf nur von der Opposition gesehen. Er wird doch
längst auch in der Union gesehen. Wer Herrn Zimmer
aufmerksam zugehört hat, der hat das zwischen den Zeilen herauslesen können. Herr Zimmer, Ihre Rede war gespalten. Da hat eine gespaltene Persönlichkeit geredet.
({9})
Sie haben hier geredet als jemand, der die CDU repräsentiert, aber gleichzeitig als jemand, der CDA-Vorsitzender in Hessen ist.
({10})
Was steht denn in dem CDA-Antrag, der auf dem
Bundesparteitag der CDU eingebracht werden soll? Da
wird nicht nur für einen Mindestlohn gekämpft. Da wird
nicht nur eingetreten für gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Nein - jetzt hören Sie einmal zu -,
da wird auch für die Einschränkung befristeter Beschäftigung geworben. In diesem Antrag werden die Auswirkungen der befristeten Beschäftigung für die Betroffenen hinlänglich formuliert. Ich will aus dem Antrag
zitieren:
({11})
Die Folgen sind unter anderem bei der Lebensplanung zu beobachten. Befristung verunsichert und
begünstigt das Aufschieben von Lebensentscheidungen. Empirisch erwiesen ist, dass befristete Beschäftigung die Bereitschaft zur Familiengründung
hemmt.
({12})
Ich empfehle dieser Regierung, dass sie ihre unterschiedlichen politischen Ziele miteinander in Einklang
bringt. Auf der einen Seite wird das Elterngeld eingeführt, um junge Familien anzuregen, die Familiengründung voranzutreiben. Auf der anderen Seite wird in der
Arbeitsmarktpolitik einer Flexibilität das Wort geredet,
die genau dies konterkariert.
({13})
So kommen wir nicht weiter.
Wir wollen, wie im CDA-Antrag beschrieben, die
Einschränkung der befristeten Beschäftigung. Wir wollen die befristete Beschäftigung nicht abschaffen, aber
wir wollen sehr wohl die Flexibilitätsanforderungen in
den Betrieben mit den Sicherheitsbedürfnissen der Beschäftigten in Einklang bringen. Wenn wir die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung streichen, gibt es immer noch acht Tatbestände, aus denen heraus Verträge
befristet werden können. Das ist eine Menge Flexibilität,
die wir den Betrieben weiterhin zugestehen.
({14})
Was wir nicht wollen, ist, dass die Probezeit auf zwei
Jahre ausgedehnt wird.
({15})
Das betrifft inzwischen die Hälfte aller befristeten Verträge. Die CDA hat erkannt, dass es Verwerfungen auf
dem Arbeitsmarkt gibt - das wird in ihrem Antrag deutlich -, und sie will diesen Verwerfungen entgegentreten.
({16})
- Jetzt wende ich mich einmal an Sie. Sie sollten besser
zuhören, wenn Ihr Parteivorsitzender und Minister Interviews gibt.
({17})
Er hat in einem Interview im Deutschlandfunk darauf
hingewiesen, wie schwierig es für junge Menschen ist,
unbefristete Arbeitsverträge zu bekommen. Das hat er
beklagt. Die CDA sieht das so, Ihr Parteivorsitzender
sieht die Probleme,
({18})
nur Sie haben ein Brett vor dem Kopf, Herr Kolb.
({19})
Vor diesem Hintergrund können Sie unseren Antrag
nicht einfach ablehnen. Unterbreiten Sie wenigstens selber einen Vorschlag, wie das korrigiert werden kann.
Ablehnen können Sie den Antrag nicht, jedenfalls nicht,
wenn Sie glaubwürdig bleiben wollen.
Ich danke Ihnen.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser
Kollege Dr. Johann Wadephul. Bitte schön, Herr
Dr. Wadephul.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir
in einer Zeit über derartige Anträge diskutieren, in der
wir die Arbeitslosenzahl in Deutschland unter die Marke
von 2,8 Millionen gesenkt haben,
({0})
in der wir eine Beschäftigungsquote haben, von der wir
vor einigen Jahren noch geträumt haben, in der wir offene Stellen haben, in der Arbeitgeber die besten Köpfe
suchen, in einigen Fällen aber überhaupt keine Fachkräfte mehr finden.
({1})
In dieser Situation malen Sie hier, im Deutschen Bundestag, ein Bild, als wären Prekariat, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Beschäftigungslosigkeit auf dem deutschen
Arbeitsmarkt der Regelfall. Diese Schwarzmalerei hat
mit der Realität überhaupt nichts zu tun. Sie stellt die Erfolgsgeschichte der deutschen Wirtschaftspolitik schlicht
und ergreifend in Abrede.
({2})
Niemand in diesem Hause bestreitet, dass ein befristetes Arbeitsverhältnis weniger gut ist als ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis. Ich kenne niemanden, der ein befristetes Arbeitsverhältnis für wünschenswert hält. Wenn Sie
jetzt in Ihren Anträgen darauf hinweisen, welche Folgen
das für die Familiengründung hat - da haben wir Sie
endlich an unserer Seite - oder dass man deswegen
krank zur Arbeit geht oder sich nicht als Betriebsrat zur
Verfügung stellt, dann muss ich Ihnen sagen: Wenn das
denn alles so schlimm ist, dann war es erst recht
schlimm und bedrückend für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im Jahre 2001, als Sie von Rot-Grün diese
Regelungen hier in Kraft gesetzt haben. Insofern fällt
diese Argumentation auf Sie selbst zurück.
({3})
An dieser Stelle können Sie nicht sagen, dass Sie das
in dieser Debatte schon fünf- oder sechsmal eingeräumt
und „mea culpa“ in den Raum gerufen haben. 2001
wurde nicht erstmalig Befristungsrecht in Deutschland
kodifiziert, sondern - das steht in den Anträgen und
wurde heute, glaube ich, auch schon gesagt - wir haben
seit 1985, und zwar durch das Beschäftigungsförderungsgesetz von Norbert Blüm, eine derartige Gesetzgebung in Deutschland. Deswegen war das nach 15 Jahren
nichts Neues. Sie haben - wenn es denn so schlimm war den Menschen zu Beginn der Jahrtausendwende mit Ihrer Agenda 2010 noch viel mehr zugemutet, als man ihnen heute zumuten würde. Wenn es denn verantwortungslos war, dann war es 2001 erst recht
verantwortungslos, so etwas zu machen. Das fällt voll
auf Sie zurück.
({4})
- Ich komme gleich dazu. Ich habe noch ein bisschen
Redezeit, und Sie können auch gleich eine Frage dazu
stellen, Herr Kollege Ernst.
Jetzt müssen wir uns im Einzelnen mit der Beurteilung der befristeten Arbeitsverhältnisse auseinandersetzen.
({5})
Ich möchte erstens festhalten, dass es in der Tat wünschenswert ist, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu haben. Zweitens möchte ich sagen, dass aber die Gleichstellung, die hier der eine oder andere Redner vorgenommen
hat - auch Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke -, nämlich von vornherein zu sagen, ein befristetes Arbeitsverhältnis sei automatisch ein prekäres Arbeitsverhältnis,
falsch ist. Das entspricht nicht der Wirklichkeit. Das müssen wir ganz eindeutig festhalten. Die Alternative zu einem befristeten Arbeitsverhältnis ist in aller Regel die Arbeitslosigkeit.
({6})
Deshalb bleiben wir im Grundsatz bei unserer Aussage:
Sozial ist, was Arbeit schafft.
({7})
Jeder Arbeitsplatz, auch wenn es nur ein befristeter ist,
ist ein guter Arbeitsplatz.
Herr Kollege Ernst, Sie sind etwas verfangen in den
Marx’schen Ideen und sehen deshalb den Sklavenstaat
als eine Vorstufe der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert.
({8})
Wir sind im 21. Jahrhundert, lieber Herr Kollege Ernst.
({9})
Das haben Sie und Ihre Partei noch nicht bemerkt. Wir
haben halt ein paar andere Probleme als zu Zeiten von
Karl Marx.
({10})
Vielleicht holen Sie noch auf. Sie haben noch einen weiten Weg vor sich.
({11})
Ich halte fest: Ein befristetes Arbeitsverhältnis ist zunächst ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis, das ein Haushaltseinkommen von etwa 91 Prozent
des Einkommens von unbefristet Beschäftigten ermöglicht. Das ist an dieser Stelle immerhin ein guter und erfolgreicher Zwischenschritt, den wir für richtig halten.
({12})
Nun sagen Sie - das ist vollkommen richtig, das unterstützen wir; das hat auch Kollege Zimmer gesagt und
ist von unserer Seite nie bestritten worden -, dass das befristete Arbeitsverhältnis natürlich nicht das Regelarbeitsverhältnis in Deutschland, insbesondere für Berufseinsteiger, werden soll.
({13})
Das stellen wir uns nicht vor. So ist es in aller Regel
auch nicht.
({14})
Man muss sich ganz genau anschauen, warum Arbeitsverhältnisse befristet werden und in welcher Art
und Weise Ihre Vorschläge geeignet sind, um die Probleme zu minimieren. Ich sage Ihnen: In kleinen, mittleren und größeren Betrieben hätte die Umsetzung Ihrer
Vorschläge ganz unterschiedliche Wirkungen.
Ein großes Unternehmen mit vielen Hundert Beschäftigten wird, wenn Sie die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung streichen, gar kein Problem haben, einen
Befristungsgrund zu finden.
({15})
In letzter Zeit wurden in den Medien einige solcher Fälle
öffentlich erörtert. Beim Internetversandhandel beispielsweise soll es der Regelfall sein, dass befristet beschäftigt wird. Ich halte das für skandalös, um das ganz
klar zu sagen. Ich bin der Meinung: Wir müssen überlegen, was wir hier tun können.
({16})
Nur, diese Unternehmen werden in aller Regel einen Befristungsgrund finden.
({17})
Nicht finden wird ihn ein Handwerksmeister mit 15 Beschäftigten, der - zu Recht - den Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes unterworfen ist.
({18})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde es
etwas traurig, dass in dieser Debatte zwar richtigerweise
von den Problemen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Rede ist, dass aber noch kein Redner darauf
hingewiesen hat, dass auch die Arbeitgeber eine Rolle
spielen.
({19})
In Deutschland gibt es glücklicherweise zum Beispiel
Handwerksmeister, die kleine Betriebe führen und
15 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen.
Diesen Arbeitgebern nehmen Sie an dieser Stelle jede
Möglichkeit, auf die aktuelle Auftragslage zu reagieren.
({20})
Das Beschäftigungswunder, das es in Deutschland gab,
hat nur zu einem gewissen Teil in den großen Unternehmen stattgefunden.
({21})
Zur Stärke Deutschlands
Herr Kollege.
- wenn ich diesen Satz vollenden darf - tragen insbesondere die kleinen und mittelständischen Betriebe und
das Handwerk bei.
({0})
Dem Handwerk verunmöglichen Sie aber, auf die aktuelle Auftragslage flexibel zu reagieren. - Herr Präsident,
Sie wollten mich unterbrechen?
Ich will das nicht. Aber die Frau Kollegin Krellmann
hat eine Zwischenfrage, die Sie, wenn ich es richtig verfolgt habe, auch herbeigesehnt haben.
({0})
Nein. So weit gehen meine Sehnsüchte noch nicht.
({0})
Dann korrigiere ich mich. - Bitte schön, eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Krellmann.
Herr Wadephul, ist Ihnen bekannt, dass ausgerechnet
kleine Betriebe, zum Beispiel Handwerksbetriebe, am
seltensten befristete Arbeitsverträge abschließen?
({0})
Diese Betriebe machen von dieser Möglichkeit am wenigsten Gebrauch. Das, was Sie gesagt haben, stimmt
nicht. Ist Ihnen das bekannt?
({1})
Frau Kollegin Krellmann, vor Ihnen steht jemand, der
seit 15 Jahren mitten in Schleswig-Holstein in der arbeitsrechtlichen Praxis als selbstständiger Anwalt tätig
ist, wenn auch in letzter Zeit aufgrund der parlamentarischen Tätigkeit etwas eingeschränkt. Die Masse der
Mandanten, die zu mir kommen - das gilt sowohl für die
Arbeitnehmer- als auch für die Arbeitgeberseite -,
kommt aus dem mittelständischen Bereich. Das sind in
der Tat Handwerksbetriebe und mittelständische Betriebe; wir haben in Schleswig-Holstein nämlich fast
keine Großbetriebe.
({0})
- Ich will Ihnen das ganz nüchtern sagen. - Denen darf
man keinen bösen Willen unterstellen.
Sie dürfen aber nicht jedem Arbeitgeber und Betriebsinhaber - da sind Sie in Ihrer Gedankenwelt etwas
verfangen, um es vornehm zu formulieren -,
({1})
der einen größeren Auftrag bekommt, absieht, dass er in
den nächsten ein, zwei Jahren etwas mehr zu tun haben
wird, sich fragt: „Wie kann ich mich für die Zeit danach
absichern? Ich möchte ja nicht den Betrieb insgesamt
und andere Arbeitsplätze in Gefahr bringen“, und sich
entscheidet, zur Absicherung des Betriebes insgesamt
zur Befristung zu greifen, unterstellen, dass er Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausnutzen möchte und
etwas Böses im Schilde führt. Das ist schlichtweg die
Voraussetzung dafür, dass unser Mittelstand funktioniert.
Wir müssen einem Arbeitgeber im Falle eines größeren
Auftragsschubes die Möglichkeit zum Atmen und in der
Zeit danach die Möglichkeit zur Schrumpfung geben.
({2})
Sonst wird man nicht dauerhaft Arbeitsplätze in
Deutschland schaffen. Das ist schlicht und ergreifend die
Realität, mit der Sie sich insgesamt auseinandersetzen
sollten.
({3})
Das führt mich insgesamt dazu - ({4})
Es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Ernst. Gestatten Sie sie?
Ja. Unter Geschlechtergesichtspunkten
({0})
muss ich bei der Linksfraktion eine Gleichbehandlung
ermöglichen.
({1})
Das ist ja ein ganz neuer Aspekt. - Ich habe den Eindruck, Sie haben gerade unterstellt, dass ein Arbeitgeber,
der Arbeit zu vergeben hat, niemanden einstellt, der
diese Arbeit erledigen soll, wenn es nicht die Möglichkeit der Befristung gibt. Würde das nach dieser Logik
nicht bedeuten, dass die Arbeit dann einfach nicht gemacht wird, dass also der Arbeitgeber, obwohl er einen
Auftrag hat, die Arbeit nicht erledigen lässt, weil er niemanden unbefristet einstellen will?
({0})
Das ist doch vollkommen an den Haaren herbeigezogen!
Können Sie sich vorstellen, dass inzwischen gerade in
größeren Betrieben Arbeitgeber mit Betriebsräten über
eine bestimmte Quote bei Befristungen verhandeln wollen - bei Siemens zum Beispiel ist sie mit 5 oder 10 Prozent relativ hoch -, weil sie das Risiko der Beschäftigung ganz bewusst auf die einzelnen Mitarbeiter
verlagern und es nicht mehr selbst als Arbeitgeber tragen
wollen? Können Sie sich vorstellen, dass das ein Motiv
der Arbeitgeber sein könnte und dass es sinnvoll wäre,
dem als Gesetzgeber einen Riegel vorzuschieben?
({1})
Herr Ernst, ich will den Versuch machen, Ihnen noch
einmal das Beispiel - da haben Sie eingehakt - zu erklären, das für viele gilt. Ich habe insbesondere auf kleine
und mittelständische Unternehmen abgehoben. Diese
bewerben sich auf eine Ausschreibung hin um einen bestimmten Auftrag, den sie bekommen können. Diese Bewerbungen müssen in einer Wettbewerbssituation naturgemäß knapp kalkuliert sein. Die Unternehmen sagen
sich: Bewerbe ich mich um diesen Auftrag, gehe ich in
diese Auseinandersetzung hinein, dann brauche ich,
wenn ich den Zuschlag erhalte, mehr Beschäftigte. Ich
kann nicht sicher sagen, dass ich dem Beschäftigten hinterher Lohn und Brot geben kann, dass das also eine dauerhafte Anstellung sein wird. - Sie fragen sich, mich
oder auch andere, die sie beraten: Wie kann ich so eine
Situation handhaben? Ich möchte den Auftrag annehmen, wodurch der Wirtschaft insgesamt geholfen wird,
weil eine Wertschöpfung stattfindet, gleichzeitig soll
aber gewährleistet sein, dass ich mich hinterher von den
Arbeitnehmern trennen kann - leider. Das macht keinem
einzigen Arbeitgeber Freude, sondern sie haben lieber
mehr Beschäftigte, weil sie dann mehr Aufträge und
Umsätze haben und größer werden. Nur wenige wollen
kleiner werden. Aber sie brauchen auch die Möglichkeit,
sich hinterher von diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wieder zu trennen.
({0})
- Herr Ernst, dass es den deutschen Kündigungsschutz
gibt, ist richtig und vollkommen in Ordnung, aber das ist
nicht ganz einfach. Die Erfahrung eines Arbeitgebers in
so einer Situation ist nämlich regelmäßig die, dass eine
betriebsbedingte Kündigung nicht ganz einfach, sondern
schwierig ist
({1})
und dass Abfindungszahlungen geleistet werden müssen.
({2})
- Ja, das alles finden Sie gut. Nur, all das, was Sie ständig ausgeben wollen, muss von irgendjemandem - und
das wollen Sie nicht wahrhaben - erwirtschaftet werden.
Das verkennen Sie die ganze Zeit. Das muss der Mittelstand erst einmal verdienen, bevor es ausgegeben werden kann.
({3})
Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Zerrbild, davon
auszugehen, dass die befristete Beschäftigung sozusagen
der Regelfall auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist. Das
ist sie nicht. In einigen Unternehmen bestimmter Branchen - das ist von unserer Seite auch eingeräumt
worden - gibt es offensichtlich die Unsitte, dass das regelhaft gemacht wird. Darum muss man sich kümmern.
Ihre Vorschläge dazu sind bisher aber unzureichend.
({4})
Daher glaube ich, dass wir in der Tat eine weitere angeregte Fachdiskussion im Ausschuss brauchen. Sie
können sich sicher sein, dass die Koalition fachgerechte
Vorschläge dazu machen wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Stefan Rebmann.
Bitte schön, Kollege Stefan Rebmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum gewonnenen Hammelsprung vorhin. Ein wenig Bewegung
tut uns allen gut.
({0})
Meinen herzlichen Glückwunsch auch zum Ergebnis der
namentlichen Abstimmung heute Morgen.
({1})
Das ist gut für Europa. Eigentlich ist es auch für die Regierungsbank noch einmal gut gegangen,
({2})
weil die Falken in Ihren Reihen nicht die Oberhand gewonnen haben und Sie weiterwurschteln dürfen.
({3})
Gut für Deutschland und für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer ist Ihr Weiterregieren aber leider
nicht.
({4})
Das sehen wir an dem jetzigen Tagesordnungspunkt.
({5})
Sie behaupten zum Beispiel, die in der Anhörung zu unserem Antrag anwesenden Experten hätten sich - ich zitiere wörtlich - „unisono“ ablehnend geäußert. Das
stimmt so aber nicht, und das wissen Sie ganz genau. Sie
ignorieren Herrn Dr. Holst von der Uni Jena, der gesagt
hat, die jetzige Praxis führe dazu, dass Unternehmen ihre
Risiken auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
abwälzen
({6})
und dass vor allem junge, gering qualifizierte Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund mit befristeten Arbeitsverträgen abgespeist werden. Daneben warnt er auch vor
der Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft durch genau
diese Praxis. Sie ignorieren bzw. verstehen die Experten
des IAB, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des
Hugo-Sinzheimer-Instituts nicht, die sich klar positioniert haben, für die die Zunahme der Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse gesellschaftlich problematisch ist und
die eindeutig für eine Begrenzung in diesem Bereich eintreten.
({7})
Ich frage Sie: Warum ignorieren Sie eigentlich diese
Expertinnen und Experten so konsequent? Sagen sie irgendetwas, was nicht in Ihr Weltbild passt? Können Sie
ihnen nicht folgen? Oder reden sie Ihnen nicht nach dem
Mund? Was sind denn eigentlich Ihre Argumente für
oder gegen unseren Antrag? Sie sagen im Grunde: Befristungen flexibilisieren den Arbeitsmarkt. Sie reden
von der großen Brücke hin zu Dauerbeschäftigungen.
Sie sagen: Befristungen verhindern Arbeitslosigkeit und
geben den Arbeitgebern Spielräume. Deshalb darf sich
nichts ändern.
Sie tun gerade so, als wollten wir die Arbeitgeber
dazu zwingen, nur noch unbefristet einzustellen. Das
stimmt so nicht. Wir wollen, dass ein Arbeitgeber einen
überprüfbaren Grund angibt, warum er einen Arbeitnehmer befristet einstellen will.
({8})
Das Teilzeit- und Befristungsgesetz - Kollegin Pothmer
hat das vorhin schon gesagt - sieht dafür acht verschiedene Gründe vor. Ich finde, es ist nicht zu viel verlangt,
dass man sich erklären muss, wenn man Arbeitnehmer
befristet beschäftigen will.
({9})
Aber vielleicht wollen Sie das gar nicht.
Laut einer Umfrage des WSI aus 2006 geben zwei
Drittel der befragten Unternehmen an, die Möglichkeit
der Befristung ohne Sachgrund zu nutzen, um auf Auftragsschwankungen reagieren zu können. Eine Studie
des IAB aus 2010 kommt genau zu dem gleichen Ergebnis.
Die Arbeitskraft, das Wissen und die Fähigkeit der
befristet Beschäftigten werden gerne angenommen und
gewinnbringend genutzt, am liebsten sogar als billige
Arbeitskraft. Wenn die Menschen wegen ihrer befristeten Arbeitsverträge dazu noch gefügig sind und auf
Rechte verzichten, zum Beispiel auf die Bezahlung von
Überstunden, dann ist das für manche umso besser. Faktisch heißt dies: Das viel zitierte Unternehmerrisiko wird
komplett auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
verlagert und wird zum Arbeitnehmerrisiko. Eine solche
Praxis darf der Gesetzgeber meines Erachtens nicht zulassen.
({10})
Wenn ein Arbeitgeber auf Konjunkturschwankungen
reagieren will, dann sagen wir: nicht über den Weg der
sachgrundlosen Befristung. Dann soll er eben Kurzarbeit
beantragen oder den Weg einer ordentlichen Kündigung
gehen - mit allen Konsequenzen. Dann kann sich der
Arbeitnehmer entsprechend wehren. Wir wollen keinen
Freifahrtschein für kurzfristige Einsparungen auf Kosten
der Arbeitnehmer, und wir wollen schon gar keine Hireand-fire-Kultur.
({11})
Jetzt werden Sie sagen - das haben Sie schon getan -:
Es ist doch besser, jemanden ohne Begründung befristet
einzustellen als überhaupt nicht. Damit sind Sie bei
Norbert Blüm bzw. in den 80er-Jahren stehen geblieben.
Sie haben sich nicht weiterentwickelt. Ich sage Ihnen:
Sie haben ein Problem. Bei Gelegenheit müssten Sie einmal nachweisen, dass befristete Beschäftigungen überhaupt Arbeitslosigkeit verhindern. Das können Sie nicht.
Sie verweisen auf steigende Beschäftigungszahlen aus
Zeiten der Hochkonjunktur. Mit dieser Methode kann
man natürlich alles erklären. Deshalb ist es auch kein
Wunder, dass diejenigen, die sich damit wissenschaftlich
beschäftigt haben, zu einem anderen Schluss als Sie
kommen.
Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung und das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik haben 2006 eindeutig festgestellt: Es
gab keine positiven Beschäftigungseffekte durch befristete Arbeitsverträge. 96 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass diese Regelung bei ihnen zu keinerlei Veränderungen geführt hat. Das wurde durch ihre
Einstellungspraxis belegt.
({12})
Es gibt also keine belegbaren positiven Auswirkungen.
({13})
Ich sage Ihnen eines: Im Gegensatz zu Ihren Kreißsaal-Hörsaal-und-Plenarsaal-Politikern weiß ich, wovon
ich rede.
({14})
Ich war einmal arbeitslos, und ich habe in drei Schichten
gearbeitet. Ich war auch einmal befristet beschäftigt. Ich
habe nur deshalb einen unbefristeten Arbeitsplatz bekommen, weil wir einen guten Betriebsrat hatten, der gegen diese Dauerbefristungen angegangen ist. So sieht es
aus.
({15})
Befristet beschäftigt zu sein, heißt: oft deutlich
schlechter bezahlt als Unbefristete, meist ausgeschlossen
von Weiterbildungsmaßnahmen, kaum Planungssicherheit, nicht kreditwürdig. Ich sage Ihnen: Als junger
Mensch unter diesen Rahmenbedingungen Zukunftspläne zu schmieden, zu heiraten, Kinder in die Welt zu
setzen, ein Auto zu kaufen, sich vielleicht um Eigentum
zu kümmern, ist schlichtweg nicht möglich.
Die Menschen in Unsicherheit lassen, prekär beschäftigen und schlecht bezahlen, gleichzeitig aber erwarten,
dass sich diese Menschen in Staat und Gesellschaft voll
einbringen, das funktioniert nicht. Ich sage Ihnen: Sie
können nicht die eine Hälfte des Huhns kochen und von
der anderen Hälfte das Eierlegen erwarten. Das funktioniert nicht.
({16})
Wir wissen sehr wohl, dass gute Arbeitsmarktpolitik
auch Gesellschaftspolitik ist. Mehr Flexibilität für die
Arbeitgeber gibt es nur mit mehr Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, der
Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern
kann.
({17})
Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten
mehrfach bewiesen, dass Sie dazu in der Lage sind und
auch für gute Argumente zugänglich sind. Geben Sie Ihren Gedanken die Freiheit, die Richtung zu ändern!
Herzlichen Dank.
({18})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nun für die Fraktion
der FDP unser Kollege Sebastian Blumenthal. Bitte
schön, Kollege Blumenthal.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Rebmann, Sie haben uns gerade in einer
Art angesprochen, auf die ich eine Replik nicht schuldig
bleiben möchte. Bei Ihnen hörte es sich so an, als ver15268
laufe der Karriereweg der Politiker der Koalition folgendermaßen: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal.
({0})
Da kann ich Ihnen Folgendes empfehlen: Schauen Sie
sich im Abgeordnetenhandbuch einmal die Berufswege
von uns Kollegen an. Sie werden feststellen: Der Anteil
derjenigen, die mit Berufserfahrung in den Bundestag
eingezogen sind, ist bei uns prozentual höher als in Ihrer
eigenen Fraktion. Bitte seien Sie mit solchen Vorwürfen
vorsichtig. Sie können davon ausgehen: Auch ich habe
schon ein Arbeitsamt von innen gesehen. Ich habe eine
Berufsausbildung gemacht, studiert und acht Jahre in der
Wirtschaft gearbeitet. Es ist nicht so, dass sich hier nur
Leute ans Pult stellen, die nicht wissen, worüber sie reden, auch wenn Sie uns diesen Vorwurf immer machen.
({1})
Zurück zum Thema. Wir haben heute eine ganze
Reihe von Zahlen und viel Zahlenmaterial zu Gehör bekommen. Dabei ging es meistens um das IAB und dessen Zahlen, wonach jede zweite Neueinstellung befristet
erfolgt. Um das Zahlenmaterial in der Ganzheit zu bewerten, kann ich empfehlen, eine Langzeitbetrachtung
vorzunehmen. Zum Beispiel lag nach einer Erhebung
der IG Metall der Anteil der Neueinstellungen mit Befristung im Jahre 1986 bei knapp 50 Prozent; im Jahre
2000 waren es nach Angaben der IG Metall zwei Drittel
der Neueinstellungen, während wir aktuell wieder eine
Quote von 50 Prozent erreichen. Dies ist also deutlich
niedriger als im Jahr 2000.
({2})
Jetzt hieraus kurzfristig eine schlechte Tendenz abzuleiten, kann mit Sicherheit nicht zielführend sein.
({3})
Ebenso wie das IAB hat sich zum Beispiel auch die
gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer
Reihe von Studien mit dem Thema befristete Beschäftigungsverhältnisse befasst. Diese Stiftung gehört nicht zu
denen, die uns etwas ins Programm schreiben, sondern
ist in den Reihen von Rot-Rot-Grün bekannter. In einer
Studie kommt man zu folgenden Erkenntnissen: Es
wurde festgestellt, dass die Ausweitung der befristeten
Beschäftigung, vor allem in den neuen Bundesländern,
durch den hohen Anteil öffentlich geförderter Beschäftigung geprägt ist. Damit kommen die Experten der Böckler-Stiftung zu der Schlussfolgerung - ich zitiere -:
Zusammenfassend lässt sich keine dramatische
Ausbreitung der befristeten Arbeitsverträge zur
Substitution von unbefristeten Verträgen erkennen,
wenn man den Einfluss arbeitsmarktpolitischer
Maßnahmen berücksichtigt.
({4})
Das ist der O-Ton Ihrer eigenen Experten.
Die Ausweitung der befristeten Beschäftigung geht
also zu einem großen Anteil auf das Lieblingsinstrument
der Linken zurück, und zwar auf die öffentlich geförderte Beschäftigung. An dieser Stelle schließt sich dann
der Kreis. Die Linke scheint hier die Auffassung zu vertreten, dass eine befristete Beschäftigung immer noch
besser ist als Arbeitslosigkeit; das haben die eigenen Experten hier vorgestellt. Früher und eben galt das in der
Debatte noch als neoliberal. Jetzt ist das linke Arbeitsmarktpolitik. So schnell ändern sich die Zeiten.
Daneben gibt es noch weitere Gründe, warum wir die
hier vorliegenden Anträge ablehnen. In zahlreichen Beispielen können wir erleben, dass die Tarifparteien sehr
umsichtig und verantwortungsbewusst mit dem Instrument der sachgrundlosen Befristung umgehen. Während
der Finanz- und anschließenden Wirtschaftskrise zum
Beispiel haben viele Gewerkschaften zusammen mit Arbeitgebern solche Regelungen getroffen. Neben dem Instrument der Kurzarbeit war auch das Instrument der befristeten Beschäftigung eine Möglichkeit, die Menschen
in Arbeit zu halten und Arbeitsplätze zu sichern. Das
sollten Sie nicht außer Acht lassen.
({5})
Ein weiteres Beispiel aus meinem Bundesland
Schleswig-Holstein will ich exemplarisch erwähnen.
Der Kollege Wadephul wird zustimmen: Schleswig-Holstein ist für vieles exemplarisch.
({6})
In diesem konkreten Fall hat Verdi Nord im Februar
2011 bei den Tarifverhandlungen mit einem Logistikdienstleister im Lübecker Hafen vereinbart, sachgrundlose Befristungen per Tarifvertrag auf zwölf Monate zu
begrenzen.
Bitte vertrauen Sie ein bisschen mehr auf die Tarifautonomie und das kluge Handeln der Tarifpartner. Das
sage ich bewusst in Richtung Rot-Rot-Grün. Sie unterstellen uns auf Koalitionsseite immer, wir wollten diese
aushöhlen. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich gerade
ausgeführt habe. Insofern werden wir auch die vorliegenden Anträge ablehnen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Blumenthal. - Jetzt
spricht für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Frau Gitta Connemann. Bitte schön, Frau Kollegin
Connemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
tatsächlich ein glücklicher Mensch.
({0})
Daran können weder einige der Reden am heutigen Tage
noch die Kaspereien während der Debatte etwas ändern,
die Ihnen vermeintlich wichtig war, aber nicht wichtig
genug, um sie nicht durch einen Hammelsprung unterbrechen zu lassen.
Ich bin ein glücklicher Mensch. Das beweist übrigens
auch der Glücksatlas der Deutschen Post. Darin wird
festgestellt, dass die Menschen aus dem Norden Niedersachsens in Sachen Glück auf dem zweiten Platz liegen.
Wir sind wesentlich zufriedener als der Bundesdurchschnitt. Unsere Glücksbringer sind Gesundheit, Partnerschaft und Freunde, aber übrigens nicht - das ist eine
ganz interessante Feststellung - die Höhe des Gehalts.
Die Untersuchung zeigt aber auch, was unglücklich
macht, nämlich Arbeitslosigkeit. Die Lebenszufriedenheit von Arbeitslosen liegt weit unter der von Erwerbstätigen; denn Arbeit hat für die Menschen einen unglaublich hohen Stellenwert.
({1})
Arbeit ist - diese Erkenntnis hat sich auf der einen
Seite des Plenums noch nicht durchgesetzt ({2})
mehr als eine Erwerbsquelle. Sie gibt Sinn, Würde und
Anerkennung. Das wissen diejenigen, die außerhalb des
Arbeitsmarktes stehen, aus bitterer Erfahrung. Deshalb
müssten wir als Politiker und Gesetzgeber eigentlich alles dafür tun, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die Anträge der Opposition hätten aber den gegenteiligen Effekt, nämlich den Anstieg der Arbeitslosigkeit; denn Sie
wollen die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.
({3})
Um nicht missverstanden zu werden: Sicherlich
wünscht sich jeder von uns ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.
({4})
Das gilt übrigens auch für die Mitarbeiter von Abgeordneten, Herr Rebmann. Sämtliche Mitarbeiter von Abgeordneten haben auf eine Legislaturperiode befristete Arbeitsverträge. Sie heiraten Gott sei Dank trotzdem,
kaufen Autos und beziehen Wohnungen.
({5})
Das ist auch gut so.
Jeder wünscht sich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, obzwar auch dieses durch Kündigungen beendet
werden kann; aber es gibt das Gefühl größerer Sicherheit. Arbeitgeber sind allerdings zögerlich, sich von
vornherein unbefristet zu binden. Gerade die letzte Finanzkrise hat gezeigt, wie schnell es notwendig werden
kann, auf Schwankungen zu reagieren. Dafür brauchen
die Betriebe flexible Instrumente wie die Befristung.
({6})
Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es übrigens in einem solchen Fall, zwischen dem berechtigten Wunsch
nach Sicherheit auf der einen Seite und dem Bedürfnis
nach Flexibilität auf der anderen Seite abzuwägen. Der
Gesetzgeber hat beiden Interessen Rechnung getragen;
das war übrigens der rot-grüne Gesetzgeber. Wir erkennen an, meine Damen und Herren von der SPD und den
Grünen, dass Sie die Regelung in der jetzigen Form geschaffen haben. Ihr erklärtes Ziel war damals, Beschäftigung zu fördern und Arbeitslosigkeit abzubauen. Dass
Sie dieses Ziel erreicht haben, konstatieren wir Ihnen
heute auch.
({7})
Gerade die Erleichterungen bei der Befristung waren
und sind ein Beschäftigungsmotor am deutschen Arbeitsmarkt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, leider
wollen Sie heute nichts mehr davon wissen. Weil die
Zahl der befristeten Arbeitsverträge angeblich drastisch
steigt, möchten Sie diese künftig nur noch erlauben,
wenn es einen speziellen Grund für eine Befristung gibt.
Das Dumme daran ist, dass diese Begründung nicht
stimmt. Der Anteil der befristet Beschäftigten hat in den
letzten Jahren allenfalls geringfügig zugenommen; der
Kollege Blumenthal hat die Zahlen eben eindrucksvoll
dargestellt.
Es wäre schön, wenn Sie die Zahlen zur Kenntnis
nehmen und Ihr Heil nicht in grundlosen Behauptungen
suchen würden. Dann würden Sie nämlich erkennen,
dass das sogenannte Normalarbeitsverhältnis keineswegs einer aussterbenden Gattung angehört und dass es
keinen Beleg dafür gibt, dass die befristete Beschäftigung das normale Arbeitsverhältnis abgelöst hat.
({8})
Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl der
unbefristeten Vollzeitjobs seit mehr als zehn Jahren bei
rund 20 Millionen eingependelt. In demselben Zeitraum
ist aber die Zahl der Erwerbstätigen um 2,7 Millionen
angestiegen. Das heißt, es wurde nicht von normalen zu
atypischen Jobs umgeschichtet, sondern es wurden zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, auch dank befristeter
Stellen.
Befristete Stellen sind kein allgemeines Phänomen.
Sie sind die Ausnahme, nicht die Regel. Neun von zehn
Arbeitnehmern in Deutschland sind ohne Wenn und
Aber beschäftigt. Wenn befristet wird, dann insbesondere in zwei Gruppen. Das eine sind die Berufseinsteiger. Vor allem junge Leute, die noch keine Berufserfahrung haben, bekommen häufig einen befristeten Vertrag.
Hier steht natürlich die Bewährung im Mittelpunkt, genauso wie das Erwerben von Vertrauen. Aber diese
Chance wird von den meisten genutzt. Nach einer aktuellen Erhebung des IW Köln werden 52 Prozent aller
befristeten Arbeitsverträge in unbefristete umgewandelt, also jedes zweite Arbeitsverhältnis. Gerade jüngeren Arbeitnehmern hilft das enorm. Das belegt der europäische Vergleich. Deutschland hat die drittniedrigste
Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Das bitte
ich zur Kenntnis zu nehmen.
({9})
Angesichts der heute veröffentlichten Arbeitsmarktdaten
bitte ich Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu nehmen:
Wir haben einen unglaublichen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt erzielt und die 2,8-Millionen-Grenze geknackt.
Aktuell sind 2,76 Millionen Menschen ohne Arbeit. Das
sind sicherlich 2,76 Millionen Menschen zu viel. Aber
seit Amtsantritt dieser Regierung unter Bundeskanzlerin
Merkel, als die Zahl der Arbeitslosen bei rund 5 Millionen lag, haben rund 2,3 Millionen Menschen Arbeit und
damit eine Perspektive gefunden.
({10})
Der Zorn der Opposition richtet sich im Wesentlichen
gegen die sogenannte sachgrundlose Befristung. Dabei
war das Ergebnis der Anhörung, die wir zu dieser Frage
im letzten Jahr durchgeführt haben: Gerade Beschäftigte
mit Verträgen, die ohne Sachgrund befristet sind, werden
nach Abschluss häufiger übernommen als Mitarbeiter,
die wegen eines Sachgrundes auf Zeit eingestellt werden. Das hat übrigens, lieber Herr Kollege Rebmann,
Christian Hohendanner vom Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung bestätigt. Aber die wenigsten von
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,
waren bei dieser Anhörung, einer Anhörung, die übrigens auf Ihren Antrag hin stattfand, genauso wie viele
andere Anhörungen. Wir hatten Ihrem Wunsch entsprochen; denn jede Anhörung dient der Erkenntnis. Aber
was bringt diese Erkenntnismöglichkeit, wenn man sie
nicht nutzt?
({11})
Von der SPD fanden genau drei Kollegen in den Anhörungssaal,
({12})
von den Linken zwei, von den Grünen sogar nur eine
Kollegin. Ich frage Sie sehr deutlich: Wozu beantragen
Sie Anhörungen, wenn Sie dann nicht hingehen?
({13})
Dann wäre es jedenfalls schön, wenn Sie das Protokoll
lesen würden. Der Kollege Rebmann hat es getan. Das
goutiere ich, obwohl er Herrn Hohendanner nicht richtig
zitiert hat. Aber alle anderen haben das Protokoll offensichtlich nicht gelesen. Die Anhörung spielte jedenfalls
bei den Reden der Opposition überhaupt keine Rolle.
Hätte sie eine Rolle gespielt, dann hätten Sie konsequenterweise Ihre Anträge zurückziehen müssen.
({14})
Denn fast alle Experten sprachen sich in der Anhörung
für die Beibehaltung der sachgrundlosen Befristung aus.
Sie wiesen auf die Chancen, die sich aus unbefristeten
Verträgen ergeben, und die hohe Übernahmerate hin.
Fast alle Experten warnten vor Einschränkungen; denn
diese würden am Ende Stellen kosten. Die Alternative
zum befristeten Arbeitsvertrag sei nämlich nicht der unbefristete, sondern Mehrarbeit des Stammpersonals, also
Überstunden, oder Zeitarbeit.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Pothmer zulassen?
Aber immer gerne.
Bitte.
Frau Connemann, ist Ihnen bekannt, dass im Antrag
der CDA für Ihren Bundesparteitag die Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung gefordert wird? Halten Sie
die Kolleginnen und Kollegen, die das fordern, für Deppen oder für unkundige Thebaner? Wie stehen Sie eigentlich zu diesen Kolleginnen und Kollegen?
Nein, das ist mir nicht bekannt; denn die CDA fordert
in ihrem Antrag gerade nicht die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Sie fordert die Einschränkung.
Das zeigt Ihr Dilemma.
({0})
- Frau Pothmer, ich bin noch nicht fertig.
({1})
- Nein, nein, diese Chance müssen Sie mir schon geben.
Das zeigt mir aber leider: Das, was Sie nicht hören wollen, wollen Sie nicht hören.
({2})
Ich würde Ihnen empfehlen: Wenn Sie Anträge lesen
oder daraus zitieren, dann lesen Sie sie genau durch.
({3})
- Im Fall der CDA haben Sie es nicht getan; das gilt
auch für das Anhörungsprotokoll. Auch bei der Anhörung waren Sie nicht dabei.
({4})
- Laut Protokoll war die Kollegin Müller-Gemmeke für
die Grünen dabei. - Sehen Sie sich das Protokoll an. Es
ist ein Dilemma, dass Sie über Dinge reden, bei deren
Diskussion Sie nicht waren und über die Sie sich hinterher noch nicht einmal informieren. Das finde ich bedauerlich.
Auch die Vertreterin des DGB hat bestätigt - der Kollege Lange hat darauf hingewiesen -, dass Unternehmen
vermutlich in andere flexible Beschäftigungsmöglichkeiten ausweichen würden, wenn die sachgrundlose Befristung abgeschafft werden würde. Das bleibt Fakt. Die
Mehrzahl der Experten hat die Aussage in der Koalitionsvereinbarung unterstützt, das Ersteinstellungsgebot
abzuschaffen. Hierzu gibt es eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, die wir auswerten müssen.
Frau Connemann!
Es gibt sicherlich auch Handlungsbedarf bei § 14
Abs. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Wir müssen über
das Kriterium des Alters sprechen, aber nicht in Ihrem
Sinne, meine Damen und Herren von der Opposition.
Die Anhörung hat ergeben: Die befristete Beschäftigung
wird von Ihnen vollkommen zu Unrecht verteufelt. Deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/4180. Unter Buchstabe a empfiehlt die-
ser Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1769 mit dem Titel „Lang-
fristige Perspektive statt sachgrundlose Befristung“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU und
FDP. Dagegen haben SPD und Linke gestimmt, Bünd-
nis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/1968 mit dem Titel „Befristung von Arbeits-
verhältnissen eindämmen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die
Linke hat dagegen gestimmt, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/2922 mit dem Titel „Kein Sachgrund, keine Befris-
tung - Befristete Arbeitsverträge begrenzen“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Dagegen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Linke, die SPD hat sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis e sowie Zu-
satzpunkt 2 a und b auf:
34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-
schlag für eine Verordnung über die elektroni-
sche Fassung des Amtsblatts der Europäischen
Union
- Drucksache 17/7144 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. November 2010 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Fürstentum Andorra über den Informationsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/7145 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Oktober 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Antigua und
Barbuda über den Informationsaustausch in
Steuersachen
- Drucksache 17/7146 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tankred
Schipanski, Albert Rupprecht ({2}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Martin Neumann ({3}), Dr. Peter
Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit
Ressortforschungsaufgaben stärken
- Drucksache 17/7183 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen
- Drucksache 17/7191 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 2a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Naturlandschaft Senne schützen - Militärische
Nutzung des Truppenübungsplatzes nach Abzug der Briten beenden
- Drucksache 17/4555 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({8})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria KleinSchmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den
Weg bringen
- Drucksache 17/7190 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({9})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Hierbei geht es um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis n auf. Hier
geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 35 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
21. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum
Luxemburg über die Erneuerung und die Erhaltung der Grenzbrücke über die Mosel zwischen Wellen und Grevenmacher
- Drucksache 17/6615 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({10})
- Drucksache 17/7092 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Lutze
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7092, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6615 anzunehmen. Wer
stimmt dem Gesetzentwurf zu? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes
- Drucksache 17/6642 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({11})
- Drucksache 17/7192 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Rief
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7192, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6642 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf so zustimmen möchten, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmt, der möge sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der dritten Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Seesicherheits-Untersuchungs-Gesetzes
- Drucksache 17/6334 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({12})
- Drucksache 17/7193 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7193, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6334 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf so
zustimmen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({13})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvL 4/10
- Drucksache 17/7035 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren der konkreten Normenkontrolle eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu
bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Das ist einstimmig so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 35 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({14}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung
- Drucksachen 17/6641, 17/7066 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7066, der Verordnung auf
Drucksache 17/6641 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen
und die SPD; Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren
dagegen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, zu den Tagesordnungspunkten 35 f
bis n.
Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 309 zu Petitionen
- Drucksache 17/7036 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 310 zu Petitionen
- Drucksache 17/7037 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der SPD. Dagegen hat die Linke gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 35 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 311 zu Petitionen
- Drucksache 17/7038 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 312 zu Petitionen
- Drucksache 17/7039 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, alle anderen dafür.
Tagesordnungspunkt 35 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 313 zu Petitionen
- Drucksache 17/7040 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Gegenstimmen kamen von der Fraktion Die Linke, alle anderen Fraktionen haben dafür gestimmt.
Tagesordnungspunkt 35 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 314 zu Petitionen
- Drucksache 17/7041 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht angenommen.
Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, alle übrigen dafür.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 35 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 315 zu Petitionen
- Drucksache 17/7042 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dagegen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grünen und die
SPD, alle übrigen waren dafür.
Tagesordnungspunkt 35 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 316 zu Petitionen
- Drucksache 17/7043 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - SPD und Linke haben dagegen gestimmt, alle
anderen waren dafür. Somit ist die Sammelübersicht angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 317 zu Petitionen
- Drucksache 17/7044 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen durch
Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Steuerabkommen mit der Schweiz und damit
zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit
Das Wort hat Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
({24})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Finanzminister! Das Steuerabkommen mit
der Schweiz ist ein sehr fragwürdiger und auch ein sehr
bedenklicher Vorgang, und zwar aus mehreren Gründen.
Der erste Grund ist - da können Sie, Herr Schäuble,
und auch andere noch so viel reden -: Steuerkriminelle,
die über Jahre und Jahrzehnte bis heute mithilfe Schweizer Banken deutsche Steuern hinterzogen haben, bleiben
straffrei und anonym und werden so von Ihnen gezielt
privilegiert. Das ist der Tatbestand.
({0})
Gerade diejenigen, die im großen Ausmaß Steuern hinterziehen, profitieren von der vereinbarten pauschalierten Einmalzahlung. Die großen Steuerhinterzieher kommen mit einem Billigtarif davon.
({1})
Wir wissen ja - man konnte das auch in den Schweizer Medien verfolgen -: Schon zum Zeitpunkt der Paraphierung haben offenkundig viele die Champagnerkorken knallen lassen. Gewinner sind nämlich die
Schweizer Banken und die Steuerhinterzieher, aber nicht
die ehrlichen Steuerzahler in Deutschland und auch nicht
der deutsche Staat. Das ist das Ergebnis Ihres Abkommens, Herr Schäuble.
({2})
Mit Steuergerechtigkeit hat das nichts zu tun. Kriminelle
Energie, die sich nach wie vor auslebt, darf nicht belohnt, sondern muss bestraft werden. Aller Voraussicht
nach - die Gespräche und Verhandlungen mit den USA
sind ja noch nicht abgeschlossen; wir wissen, dass es
auch Diskussionen darüber in der Schweiz gibt - werden
deutsche Steuerkriminelle günstiger gestellt als amerikanische. Das gilt auch für einige andere Gruppen, weil die
Amerikaner nicht nur über das Problem der Steuerflüchtlinge, sondern auch über andere Dinge verhandeln.
Darüber hinaus - das ist der zweite Grund - stabilisieren Sie, Herr Schäuble, das fragwürdige Geschäftsmodell und Geschäftsgebaren der Schweizer Finanzwelt,
was mit Sicherheit nicht die Aufgabe der deutschen Regierung und des Bundesfinanzministers ist. Ganz im Gegenteil: Hier wurde eine große Chance verspielt, dieses
Gebaren zu zivilisieren. Die Schweiz bleibt - leider - ein
Zufluchtsort der internationalen Steuerhinterziehung, abgeschottet gegenüber Steuer- und Ermittlungsbehörden.
Wenn Sie jetzt behaupten, das Abkommen sei anders
gar nicht möglich gewesen, dann sage ich Ihnen: Sie haben in diesem Punkt von vornherein keinen Ehrgeiz entwickelt.
({3})
Wie man annehmen kann, geschah dies aus vielerlei Motiven. Ein Motiv war, Herr Schäuble, dass Sie auf jeden
Fall zum Abschluss kommen wollten, um zu zeigen, wie
man es machen kann. Sie wollten sich so auch von Ihrem
Vorgänger ein wenig abgrenzen.
({4})
Wer argumentiert, anders sei es nicht gegangen, der
spielt im Endeffekt das Spiel der Steuerhinterzieher und
ihrer Helfer. Natürlich wäre es möglich gewesen, auf die
Schweiz mehr Druck auszuüben. Natürlich hat die
Schweiz Interessen, was ihre Banken, die in Deutschland
freier als bisher Geschäfte machen wollen, angeht. Das
ist ein gewichtiger Trumpf, der nicht ausgespielt wurde.
Dieses Abkommen, Herr Schäuble, ist kein Ruhmesblatt,
({5})
und Ihre Verhandlungskünste waren es offenkundig auch
nicht.
Im Übrigen unterläuft das Abkommen die EU-Politik
zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung, den angestrebten automatischen Informationsaustausch, den wir und insbesondere die nationalen
Finanzbehörden brauchen, um grenzüberschreitende
Steuerhinterziehung wirksam eindämmen zu können,
wovon letztlich alle Staaten profitieren.
({6})
Als Krönung des Ganzen sagen Sie auch noch - dass Sie
dafür sind, Herr Michelbach, daran habe ich gar keinen
Zweifel -, Sie wollten in Zukunft auf den Ankauf von
Steuersünder-CDs verzichten. Was treibt Sie eigentlich
zu diesem Zugeständnis?
Das alles können wir beim besten Willen nicht mittragen. Deswegen werden wir uns entsprechend verhalten
und deutlich machen, dass Sie ein Abkommen ausgehandelt haben, das man sowohl vonseiten des Bundestages
als auch vonseiten des Bundesrates ablehnen sollte.
({7})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen,
Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Poß, ich will der Versuchung widerstehen, jetzt in der Tonart zu antworten, in der Sie geredet haben. Wir sprechen über einen Nachbarn, die
Schweizer Eidgenossenschaft. Das ist ein zivilisiertes
Land. Dort gelten gesetzliche Regeln zum Bankgeheimnis.
({0})
- Lassen Sie mich doch ein paar Sätze sagen, Herrschaften noch mal! Schon nach dem ersten Satz unterbrechen
Sie mich. Eine so schamlos demagogische Rede zu halten - gegen jede Vernunft - und dann den Redner nach
dem ersten Satz zu unterbrechen, das ist doch ein Skandal.
({1})
Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Mit diesem Abkommen schaffen wir einen Meilenstein in der Zusammenarbeit mit der Schweiz. Das war ein schwieriges
Thema über viele Jahrzehnte, weil das Bankgeheimnis in
der Schweiz einen ganz hohen Stellenwert hat. Für die
Zukunft werden mit dem Inkrafttreten dieses Abkommens Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn sie bei
Schweizer Bankinstituten angelegt sind, genauso lückenlos der Besteuerung unterworfen, wie wenn sie bei
deutschen Instituten angelegt wären. Das ist der entscheidende Punkt. Das ist ein Meilenstein in der Zusammenarbeit mit der Schweiz.
({2})
Wir werden sogar einen Informationsaustausch haben,
der über den OECD-Standard hinausgeht.
Ich will jetzt die Verhandlungen zwischen der
Schweiz und den USA gar nicht weiter belasten. Die
Schweizer Kollegin hat bei der Unterzeichnung des Abkommens vor einer Woche hier in Berlin gesagt, dass die
Schweiz den USA keinesfalls weiter gehende Rechte gewähren könne. Deswegen nehmen Sie hier doch keine
mit der Wirklichkeit derartig in Widerspruch stehende
Verzerrung und Verleumdung vor.
({3})
Wir haben für die Zukunft die absolut richtige Lösung
gefunden. Wir haben in einer früheren Legislaturperiode
dafür gesorgt, dass die Einkünfte aus Kapitalvermögen
einer Abgeltungsteuer unterliegen - damit ist die Besteuerung definitiv - und dass die Finanzbehörden nur bei
bestimmten Anhaltspunkten Nachfragen stellen dürfen;
das gilt in Zukunft auch für Kapitalanlagen in der
Schweiz. Zukünftig gilt die identische steuerliche Erfassung, egal ob ein Kapitalvermögen deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz oder in Deutschland angelegt
ist. Das ist ein wirklicher Durchbruch, ein großer Fortschritt.
({4})
Sie sollten die Schweiz nicht aus der Gemeinschaft zivilisierter Länder ausschließen. So können wir in Europa
nicht auftreten.
Jetzt komme ich auf die in der Vergangenheit geltende
Regelung zu sprechen, und zwar ganz freundlich; denn
ich werbe um Ihre Zustimmung. Der Kollege WalterBorjans hat mir liebenswürdigerweise gesagt, dass er
hier sprechen wird. Er hat in der FAZ von heute ein Interview gegeben. Herr Kollege Walter-Borjans, was die
Vergangenheit angeht, muss man zunächst einmal davon
ausgehen: Das Bankgeheimnis ist in der Schweiz rechtlich geschützt. Auch wir hätten von unserem Rechtsstaatsverständnis her große Probleme, wenn wir Gesetze,
die Bürger schützen, rückwirkend aufheben würden. Wir
müssen davon ausgehen, dass die Schweiz ihre Gesetze
nicht rückwirkend außer Kraft setzen wird; schließlich
ist sie ein Rechtsstaat. Wir stimmen in der Frage des
Bankgeheimnisses nicht überein; aber wir müssen die
Haltung der Schweiz respektieren. Deswegen hat eine
frühere Regierung im Jahr 2003 ein Amnestiegesetz erlassen mit Sätzen, die niedriger waren als - ({5})
- Ich bitte Sie! Wir haben hier gar kein Amnestiegesetz.
Wir haben doch jetzt eine Anonymisierung der Einkünfte aus Kapitalvermögen, weil wir die definitive Abgeltungsteuer haben, die Sie eingeführt haben. Werfen
Sie doch nicht die Dinge durcheinander! Es ist doch
wirklich nicht angemessen, derart verleumderische Behauptungen gegenüber unserem Nachbarn aufzustellen.
Für die Vergangenheit werden die Schweizer Banken
ihren Kunden drei Optionen anbieten. Die erste Option
ist, ihre Einkünfte einer regulären Besteuerung durch die
zuständigen deutschen Steuerbehörden zuzuführen und
dies gegenüber der Schweizer Bank zu bescheinigen.
Die zweite Option besteht darin, dass sie einen Pauschalsatz anwenden, der innerhalb der Verjährungsfristen je
nachdem, wie lange die Bestände bestehen, zwischen 19
und 34 Prozent schwankt. Dieser ist höher als die Sätze,
die bei der Amnestiegesetzgebung im Jahr 2003 angeboten worden sind. Damals waren es im ersten Jahr 25 Prozent und im zweiten Jahr 35 Prozent. Zudem war damals
ein pauschaler Abschlag vom Kapital von 40 Prozent
vorgesehen, während wir keinen Abschlag vorsehen. Zudem bezieht sich dieser Prozentsatz nicht auf die Einkünfte, sondern auf das Kapitalvermögen insgesamt.
Deswegen gibt es viele Steuerberater, die sagen - die
dritte Option -: Im Einzelfall wird es für Steuerpflichtige
besser sein, eine tatsächliche Besteuerung durchzuführen, anstatt von der pauschalierenden Regelung Gebrauch zu machen. Es mag Fälle geben, bei denen das
anders ist. Das ist aber bei jeder pauschalierenden Regelung so.
Wenn man aber respektiert, dass in der Schweiz das
Bankgeheimnis gilt, ist das doch die einzig denkbare Regelung, wie wir überhaupt deutsche Steueransprüche gegenüber Steuerpflichtigen durchsetzen können, die aus
welchen Gründen auch immer ihr Vermögen in die
Schweiz gebracht haben.
In meiner Amtszeit als Bundesfinanzminister sind übrigens mehr Datensammlungen angekauft worden als in
jeder früheren Legislaturperiode. Sie werden aber doch
wohl nicht im Ernst sagen wollen, dass wir auf Dauer - ({6})
- Das ist doch gar kein Problem. Jedenfalls habe ich gegen viel Kritik diese Entscheidungen zusammen mit den
obersten Finanzbehörden der Länder getroffen.
Unser Rechtsstaat kann sich aber nicht auf Dauer darauf beschränken, zu sagen: Wahrscheinlich werden wir
die Steueransprüche nie durchsetzen können; es sei
denn, wir finden Menschen, die gegen Gesetze verstoßen
und im Zweifel viel Geld dafür kassieren, uns Informationen zu geben.
Im Übrigen verfügt die Schweiz natürlich über Mittel,
um gegen den Bruch ihrer Gesetze durch den Diebstahl
von Datensammlungen vorzugehen. Das verstößt übrigens auch in Deutschland gegen entsprechende Datenschutzgesetze. Wir sollten also einmal klar aussprechen,
wovon wir reden. Wir können doch nicht die Durchsetzung unserer Steueransprüche bis in die Ewigkeit ausschließlich darauf stützen. Deswegen ist dieses Argument wiederum falsch.
({7})
Herr Kollege Walter-Borjans, Sie haben offenbar in
Ihrem Interview etwas verwechselt. Wir hebeln die Zinsbesteuerungsrichtlinie der EU nicht aus, ganz im Gegenteil. Bei der seit 2003 geltenden Zinsbesteuerungsrichtlinie, die übrigens nur Zinsen und keine anderen
Einkünfte aus Kapitalvermögen erfasst, haben wir erstens für Österreich und Luxemburg eine Ausnahme gemacht, weil diese Länder das im Hinblick auf eine andere Regelung mit der Schweiz nicht akzeptiert haben.
Deshalb wird dabei nichts unterlaufen. Zweitens gehört
die Schweiz, soweit ich weiß, nicht zur Europäischen
Union, sondern sie ist der Europäischen Union assoziiert. Sie gehört der Europäischen Union aber nicht an.
Drittens ist es so, dass die Finanzämter der Länder - ich
werfe ihnen das gar nicht vor, aber man könnte das einmal öffentlich diskutieren - mit der Fülle der Informationen - das konnte man immer in den Zeitungen lesen -,
die sie im Rahmen des automatischen Informationsaustauschs nach der Zinssteuerrichtlinie bekommen, derzeit
überhaupt nicht umgehen können, weil sie sie gar nicht
verwerten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Abkommen vorurteilsfrei prüfen und wenn Sie respektieren, dass die Schweiz eigene Gesetze hat, dass die
Schweiz ein so hoch entwickelter Rechtsstaat ist wie
Deutschland, dann werden Sie feststellen, dass wir auf
der Basis der Gleichberechtigung auch bei unterschiedlichen Auffassungen miteinander umgehen sollten. Sie
werden bei bestem Willen nicht zu dem Ergebnis kommen, dass eine bessere Regelung für die Vergangenheit
erreichbar war.
Für die Zukunft haben wir eine völlige Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen geschaffen, und zwar unabhängig davon, ob sie ihr Vermögen in der Schweiz oder
in Deutschland angelegt haben. Deswegen können wir
ein schwieriges Kapitel aus der Vergangenheit auf eine
gute Art und Weise schließen.
Deswegen mein Appell an alle Verantwortlichen in
Bundestag und Bundesrat: Lassen Sie uns das Abkommen unvoreingenommen prüfen! Hören Sie endlich auf
mit einer Polemik, die allenfalls unsere Beziehungen zur
Schweiz und damit weit darüber hinaus unser Ansehen
in Europa beschädigen kann!
({8})
Barbara Höll hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn zunächst feststellen, dass wir als Abgeordnete wieder einmal vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Erst am Tag der UnterDr. Barbara Höll
zeichnung wurde uns der Vertrag als Unterlage
zugestellt. Es war nicht möglich, Fragen zu stellen, Kritik zu äußern oder eine Diskussion darüber zu führen.
({0})
Ich kann nur feststellen: Genau das scheuen Sie wie der
Teufel das Weihwasser. Aus Ihrer Position ist das vielleicht verständlich; aber aus unserer Sicht und nach meinem Verständnis von Steuergerechtigkeit ist das einfach
ein Skandal. Das belegen die Inhalte des Abkommens.
({1})
Steinmeiers Kavallerie hat sich mit Ihrer Hilfe in einen roten Teppich für Steuersünder verwandelt.
({2})
Sie scheuen die Auseinandersetzung zu diesem Thema,
weil sich offenkundig das, was im Koalitionsvertrag
steht, Kampf gegen Steuerhinterziehung, in Luft aufgelöst hat.
Mit dem Vertrag wollen Sie zwei Dinge regeln: erstens die pauschale Nachversteuerung von bisher unversteuertem Altvermögen in der Schweiz - Schätzungen
gehen von bis zu 300 Milliarden Euro aus - und zweitens die künftige Besteuerung von Kapitalerträgen deutscher Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz.
Mit der pauschalen Nachversteuerung, die zwischen
19 und 34 Prozent liegen soll, profitieren Steuerflüchtlinge gleich doppelt. Zum einen ist diese pauschale Besteuerung für die meisten Betroffenen deutlich niedriger
als ihr persönlicher Einkommensteuersatz, zu dem sie
ihr Geld eigentlich hätten versteuern müssen. Zum anderen - das ist wirklich skandalös - beinhaltet der Vertrag,
dass diese Menschen - es handelt sich immerhin um
Steuerflüchtlinge und Steuerbetrüger - straffrei bleiben
sollen und anonym bleiben können.
Da frage ich Sie: Was ist das für ein Rechtsverständnis? Es geht um hinterzogene Gelder, um Steuermindereinnahmen in Milliardenhöhe, die der Allgemeinheit
entzogen werden. Wenn jemand beispielsweise in der
Kaufhalle eine Gurke klaut oder in der Straßenbahn einen Fahrschein nicht löst, dann wird das strafrechtlich
verfolgt. Wenn es aber darum geht, dass bis zu 300 Milliarden Euro unversteuert bleiben, dann soll das mit einer Amnestie belohnt werden. Das ist mit uns nicht zu
machen!
({3})
Für zukünftige Fälle ist vorgesehen, auf kassierte Zinsen und Dividenden eine Quellensteuer von 26,375 Prozent - inklusive Soli - zu erheben. Ob das allerdings so
funktionieren wird, bleibt eine zweite Frage, da für die
Durchführung dieses Plans nur die Schweizer Banken
verantwortlich sind.
Die Ablehnung in der Bevölkerung ist groß. Bereits
55 000 Menschen haben den Appell des Kampagnenbündnisses „Kein Freibrief für Steuerbetrüger“ unterzeichnet. Ihr Abkommen stößt auf breiten Widerstand.
Das Netzwerk Steuergerechtigkeit - Tax Justice Network - sagt dazu - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau
Präsidentin -:
Das Einzige, was an diesem Abkommen wirklich
funktionieren wird, sind die Amnestie und die Einstellung der laufenden Strafverfahren.
({4})
Daher verstehe ich nicht, warum Sie noch so stolz
sind. Das Abkommen wird und kann überhaupt nicht
umfassend greifen, denn es sind Umgehungsmöglichkeiten darin enthalten. Eine Zahlungsverpflichtung kann
nicht durchgesetzt werden, wenn das Geld nicht direkt
bei einer Schweizer Bank liegt, sondern ausgelagert auf
den Konten der ausländischen Niederlassung einer
Schweizer Bank. Sie haben keine Zugriffsmöglichkeiten
auf Liechtensteiner Ermessenstiftungen und auf Trusts;
denn das sind keine natürlichen Personen. Das Ganze
können wir jetzt nicht detailliert erläutern. Sie haben in
diesen Bereichen jedenfalls keine Möglichkeit, die Zahlungsverpflichtung durchzusetzen.
Interessanterweise ist nicht alles, was irgendwo bei
Schweizer Banken liegt, zu versteuerndes Kapital. Sie
haben ausdrücklich gesagt: Zu den Vermögenswerten im
Sinne des Abkommens zählen nicht die Inhalte von
Schrankfächern. Die Nachfrage nach Schrankfächern in
der Schweiz ist in den letzten Wochen massiv angestiegen. Da fragt man sich ja wohl, warum.
Insgesamt bedeutet das Abkommen keine konsequente Bekämpfung von Steuerbetrug. Zudem schaffen
Sie einen Konflikt mit der EU. Herr Bundesminister
Schäuble, was Sie vorhin auf Herrn Poß erwidert haben,
stimmt nicht. Es geht darum, den automatischen Informationsaustausch durchzusetzen. Dieses bilaterale Abkommen behindert das. Wir haben bereits am Mittwoch
im Ausschuss mit der Diskussion darüber begonnen.
Verschließen Sie doch nicht die Augen vor den Realitäten!
Man muss sich auch einmal fragen, warum Sie die
Anzahl der Ersuche nach Auskünften einfach so begrenzen. In den ersten zwei Jahren soll die Gesamtanzahl der zugelassenen Anfragen maximal 999 betragen.
Nur zum Vergleich: Es gab 26 000 Selbstanzeigen; wir
haben rund 600 Finanzämter. Jedes Finanzamt darf also
in den ersten zwei Jahren durchschnittlich rund 1,5 Anfragen stellen. Das ist doch kein konsequenter Kampf
gegen Steuerbetrug.
Ich muss auch sagen: Wenn Sie ein solch schwaches
Verhandlungsergebnis zulassen, was sollen dann Staaten
wie Griechenland machen, die weiß Gott eine wesentlich
schlechtere Verhandlungsposition gegenüber Schweizer
Banken haben und jetzt damit zu kämpfen haben, dass
die griechischen Millionäre und Milliardäre massiv in
die Steueroase Schweiz flüchten, weil es dort genug
Schlupflöcher gibt!
({5})
Für diese Steuerflucht sind Sie letztendlich mitverantwortlich.
Es geht darum, Steuergerechtigkeit herzustellen.
({6})
Das machen Sie mit diesem Abkommen nicht. Nein, Sie
behindern es, auch in den internationalen Auseinandersetzungen.
Danke.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst zu Ihnen, Frau Kollegin Höll: Dieses Abkommen enthält keine Amnestie. Insofern ging Ihre Rede
völlig an der Sache vorbei und war kein Beitrag, der in
diese Aktuelle Stunde gepasst hätte.
({0})
Zur SPD. Lieber Herr Kollege Poß, ich habe mich gefragt, warum ausgerechnet Sie, die Sozialdemokraten,
diese Aktuelle Stunde beantragt haben; aber als ich bemerkt habe, dass Sie sie zur Märchenstunde machen
wollen, wurde mir einiges klar. Sie haben jedenfalls über
nichts geredet, das in diesem Abkommen vereinbart ist,
und zeichnen hier ein Bild, das nicht mit der Realität in
Einklang zu bringen ist.
({1})
Warum haben die Sozialdemokraten das beantragt? Man
muss sich diese Frage stellen, weil Sie, als Sie die Verantwortung für das Finanzressort hatten, nichts außer öffentlichen Pöbeleien Ihres Finanzministers zustande gebracht haben. Ein Verhandlungsergebnis haben Sie
jedenfalls nicht zustande gebracht.
({2})
Am Ende seiner Amtszeit stand Peer Steinbrück in
der Frage der Besteuerung der Vermögen in der Schweiz
völlig erfolglos und ergebnislos da. Ausgerechnet er
stellt sich jetzt in der Öffentlichkeit hin und sagt, man
hätte die Pferde satteln müssen. Das passt zu dem, was
Frau Kollegin Kressl vorhin dazwischengerufen hat:
Man hätte eben mehr Druck machen müssen. Wenn Sie
sagen, man hätte mehr Druck machen müssen - Sie stellen es öffentlich immer so dar -, dann muss man sich
doch die Frage stellen: Warum haben Sie denn mit dem
Druck, den Sie ausgeübt haben, und mit Ihren Pöbeleien
gegenüber der Schweiz in all diesen Fragen null Komma
nichts erreicht? Diese Frage sollten Sie sich einmal stellen.
({3})
Ich will zu Peer Steinbrück, der da hinten jetzt zuhört,
sagen: Ich finde es bitter, dass es in Deutschland immer
noch Politiker gibt, die meinen, mit außenpolitischer Aggression spielen zu müssen.
({4})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halten dann manche auch noch für besonders geistreich. Sie, die Sozialdemokraten, sagen uns auch noch allen Ernstes, wir hätten uns ähnlich wie Peer Steinbrück verhalten sollen, der
Deutschland im Ausland, gegenüber unseren Schweizer
Freunden, der Peinlichkeit preisgegeben hat.
({5})
Wenn der gleiche Peer Steinbrück dann auch noch im
Spiegel die Geschichte des Westens von Heinrich August
Winkler über die Zeit von 1914 bis 1945 kommentiert,
dann kommt man auf den Gedanken, dass sich dieser
Mann vielleicht auch im Zusammenhang mit seinen Äußerungen gegenüber der Schweiz an die deutsche Geschichte erinnern sollte. Wie kann eigentlich jemand angesichts der deutschen Geschichte unbekümmert mit
einem Nachbarland so umgehen und herumschwadronieren, von der Kavallerie sprechen und auch noch sagen,
man hätte die Pferde satteln müssen? Meine Damen und
Herren, das ist eine Form der verbalen Kanonenbootpolitik, die sich eigentlich jedem Mitglied dieses Hohen
Hauses verbieten sollte.
({6})
Jetzt zum Abkommen. Ich bin dem Bundesfinanzminister für dieses Verhandlungsergebnis sehr dankbar.
({7})
Jeder, der die Verhandlungen verfolgt hat, weiß, dass
sich Wolfgang Schäuble mit großem Engagement und
großem persönlichem Interesse daran, diese seit Jahren
unerledigte Frage endgültig zu beantworten, in die Verhandlungen begeben hat. Am Anfang schien manches
unmöglich. Wir sind mit dem Finanzausschuss in die
Schweiz gereist und haben Gespräche geführt. Wir hatten den Eindruck, dass es kaum möglich sein wird, einen
Durchbruch in dem Sinne zu erreichen, dass die Kapitelerträge in der Schweiz exakt so besteuert werden wie in
Deutschland. Das war bei Gesprächen, die wir dort geführt haben, nicht einmal in Sichtweite. Dass es am Ende
gelungen ist, all die Vorhaben durchzusetzen, ein Besteuerungsabkommen hinzubekommen, das für die Zukunft in der Schweiz wie in Deutschland eins zu eins die
gleiche Besteuerung sicherstellt, und zwar ausnahmslos,
das reden Sie mit Ihren Märchen klein. Das ist nichts als
peinlich.
({8})
Lassen Sie uns über die Bilanz reden, die die Sozialdemokraten vorzuweisen haben, und über die Bilanz, die
die christlich-liberale Bundesregierung vorzuweisen hat.
SPD-Bilanz: nichts erreicht, jährlich Steuern in Milliardenhöhe verjährt, Straftaten verjährt. In den Verhandlungen mit der Schweiz haben Sie für den Bundeshaushalt
keinen Cent herausgeholt, null Komma nichts. Nun glauben Sie auch noch, Sie könnten in dieser Aktuellen
Stunde selbstbewusst Ihr Versagen verteidigen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie haben in dieser Frage
nichts, aber auch gar nichts erreicht.
({9})
Vergleichen wir Ihre Bilanz mit dem Abkommen, das
der Bundesfinanzminister ausgehandelt hat: volle Kapitalertragsteuer wie in Deutschland, kein Cent bleibt unversteuert, volle Versteuerung der Altfälle, kein Altfall
bleibt unversteuert, Milliarden können in den Bundeshaushalt fließen. Ich finde, es ist ein wichtiger Beitrag
zur Steuergerechtigkeit, dass nicht nur die Ehrlichen in
Deutschland ihre Steuern bezahlen, sondern dass jetzt
auch die Altfälle abgearbeitet werden und künftig sichergestellt ist, dass niemand mehr in der Schweiz Kapitalerträge unversteuert behalten kann.
({10})
Das wollen Sie kleinreden. Ich finde, Sie machen sich
mit dieser Aktuellen Stunde selbst klein.
({11})
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.
({0})
Die SPD steht da wie eine Heulsusentruppe.
({1})
Die Wahrheit ist: In den Jahren Ihrer Verantwortung für
das Finanzressort haben Sie überhaupt nichts erreicht.
Die einzige Frage, die man Ihnen noch stellen kann:
Liebe SPD, geht es noch?
({2})
Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir
heute über das Steuerabkommen mit der Schweiz und
über damit zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit sprechen, dann sollten wir zwei Begriffe in
den Mittelpunkt stellen, nämlich Transparenz und fairen
Wettbewerb. Transparenz und fairer Wettbewerb beherrschen unsere Debatte über die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa. Warum? Weil Transparenz zu Ehrlichkeit führt und weil fairer Wettbewerb notwendig ist,
weil sich die Wirtschaft nur im fairen Wettbewerb wirklich entwickeln kann. Wer heute diese Verhandlungen
führt, muss nicht nur diese Ziele im Blick haben, sondern er muss diese Ziele auch erreichen. Das vermisse
ich beim Doppelbesteuerungsabkommen mit der
Schweiz.
({0})
In Europa ist mehr als zehn Jahre über die Zinsbesteuerungsrichtlinie verhandelt worden. Das Ergebnis ist:
35 Prozent Quellensteuer auf Zinserträge
({1})
- ich rede von der Zinsrichtlinie - und ein automatischer
Informationsaustausch.
({2})
Sie müssen die Signalwirkung der Unterschiede bedenken. Die Unterschiede sind die, dass wir in Deutschland
35 Prozent Quellensteuer haben, in der Schweiz sind es
25 Prozent plus Soli.
({3})
Außerdem soll in den ersten zwei Jahren die Zahl der
Auskunftsfälle auf 999 begrenzt werden. Bei dieser Gegenüberstellung wird doch klar, dass wir weder Transparenz noch fairen Wettbewerb haben.
({4})
Sie haben die Latte gerissen und nichts erreicht.
Zum Thema Ablass auf Schwarzgeld. Einmalig soll
auf Schwarzgeld ein Steuersatz in Höhe von 19 bis
34 Prozent erhoben werden. Eine Garantiesumme in
Höhe von 2 Milliarden Euro soll uns locken. Aber der
wahre Preis ist doch die totale Intransparenz. Die deutschen Steuerbehörden geben ihre Verantwortung an der
Schweizer Kasse ab. Es gibt keine Strafverfolgung.
Meine Damen und Herren von der Koalition, glauben
Sie wirklich, dass Sie mit solch einem Ergebnis vor die
steuerehrlichen Bürgerinnen und Bürger treten können,
die mit ihren Steuern zur Finanzierung unseres Staatshaushalts beitragen?
({5})
In verschiedenen Reden wurde von der Kavallerie gesprochen. Ich stimme Ihnen zu; diese militärischen Ausdrücke würde auch ich nicht verwenden. Ich bin aber ein
Freund einer klaren Zielsetzung und einer harten Verhandlungsführung, und das vermisse ich in diesem Fall.
({6})
Herr Bundesminister, Sie fordern Respekt vor der
Rechtsordnung der Schweiz. Den habe ich. Respekt
heißt aber nicht Unterwerfung. Angesichts der Tatsache,
dass das Bankgeheimnis in der Schweiz so gehandhabt
wird, wie es der Fall ist, sage ich: Nein, wir brauchen
Transparenz. Das gilt gerade in der heutigen Zeit, in der
Transparenz und Steuerehrlichkeit unsere Probleme
sind. Wer hätte denn gedacht, dass die Schweiz einmal
Tausende Kundendaten von US-Bürgern weitergibt?
({7})
Wer hat denn das erreicht? Die USA haben das erreicht,
weil sie ein klares Verhandlungsziel hatten und sich entsprechend eingesetzt haben.
({8})
Das haben Sie nicht getan. Das können wir trotz einer
Garantiesumme von 2 Milliarden Euro nicht einfach so
unter den Tisch kehren.
In Süddeutschland, wo ich zu Hause bin, höre ich von
den Banken ein Argument besonders häufig. Was sagen
die mir? Die Menschen in Süddeutschland, aber nicht
nur dort, erwarten, dass die Schweizer Banken in Süddeutschland eine Filiale eröffnen. Das haben die Schweizer Banken schon angekündigt. Herr Wissing, es stimmt
nicht, dass die Besteuerung exakt dieselbe ist. Der Unterschied ist die Kirchensteuer. Das mag zwar wenig
sein, trotzdem werden die Menschen, die keine großen,
sondern kleine Erträge erwirtschaften, Lieschen Müller
zum Beispiel, ihr Geld in die Schweiz bringen, und zwar
mit dem psychologischen Argument, dass das Geld in
der Schweiz sicher sei, und dem realen Argument, dass
es mit Sicherheit vor weiteren Nachforschungen sicher
ist; denn das haben wir vereinbart.
({9})
Das befürchten die lokalen Banken.
({10})
Das wird eine weitere Kapitalflucht aus Deutschland in
die Schweiz bewirken. Das ist nicht hinnehmbar.
({11})
- Nein, das ist kein Unsinn. Das ist genau das, was passiert, Herr Volk.
({12})
- Nein, das habe ich nicht falsch verstanden. Das ist genau das, was mir entgegengebracht wird.
({13})
- Nein, ich habe das sehr intensiv gelesen.
({14})
Sie sehen nur die kurzfristige Haushaltswirkung. Das ist
Ihr Problem. Damit akzeptieren Sie ein Ergebnis, das
keineswegs passabel ist. Dieses Ergebnis ist miserabel.
Deshalb lehnen wir es ab.
({15})
Das ist im Interesse von Deutschland und im Interesse
von Europa. Ich hoffe, dass die Länder im Bundesrat
entsprechend agieren.
Vielen Dank.
({16})
Der Kollege Olav Gutting hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst meinen Glückwunsch, Respekt und Dank
an das Verhandlungsteam um Wolfgang Schäuble! Nach
Monaten zäher Verhandlungen hat diese Regierung etwas geschafft, was ein SPD-geführtes Finanzministerium in zehn Jahren nicht zustande gebracht hat.
({0})
Nicht derjenige, der die Backen aufgeblasen hat und rabaukenhaft die Kavallerie ausrücken lassen wollte, ist
zum Ziel gekommen. Nein, für deutsche Steuerflüchtlinge wird es jetzt in der Schweiz teuer, weil Wolfgang
Schäuble besonnen und mit dem notwendigen Respekt
vor einem benachbarten Rechtsstaat, aber hart in der Sache dieses vorliegende Abkommen ausgehandelt hat.
({1})
Dieses Abkommen sieht neben einer Abgeltungsteuer auf künftige Erträge auch eine PauschalbesteueOlav Gutting
rung für bislang nicht versteuerte Kapitalanlagen vor.
Mit diesem Abkommen erhält der deutsche Fiskus erstmals einen Zugriff auf Vermögen und erzielte Erträge
von Deutschen in der Schweiz. Wir haben nach jahrzehntelangem Hickhack in dieser Frage und nach leider
manchen verbalen Entgleisungen ein Ergebnis erzielt,
das bedeutet - das steht bereits jetzt fest -, dass 2013
mindestens 2 Milliarden Schweizer Franken zusätzlich
an Bund, Länder und Kommunen fließen werden.
({2})
Sie haben vorhin die Anzahl der Anfragen moniert. Mit
diesem Abkommen ist es erstmals gelungen, das
Schweizer Bankgeheimnis zumindest einen Spaltbreit zu
öffnen und das für Steuerhinterzieher bestehende Risiko
der Entdeckung zu vervielfachen.
Umso erstaunlicher ist es, dass nun gerade Sie in der
SPD - eigentlich die ganze Opposition - dieses Ergebnis
zwanghaft schlechtreden wollen.
({3})
Erst zehn Jahre nichts zustande bringen und jetzt besserwisserisch daherschwätzen, wer soll Ihnen eigentlich
diese Empörung heute noch abnehmen?
({4})
Ich will hier noch einmal darauf hinweisen, dass Sie
2003, als Sie noch in der Regierung waren, im Zusammenhang mit Ihrem Steueramnestiegesetz einen Strafzinssatz beschlossen haben. Dieser Strafzinssatz lag bei
25 Prozent, aber - wir haben es vorhin schon richtigerweise gehört - bei der Bemessungsgrundlage haben Sie
40 Prozent abgezogen. Im Ergebnis waren es daher
15 Prozent Strafzinssatz. Ich will zitieren, wie Sie damals in Ihrer Gesetzesbegründung den Abwägungsprozess beschrieben haben: entweder völliger Verzicht auf
die Besteuerung über viele Jahre nicht versteuerten umfangreichen Kapitals oder aber Steuermehreinnahmen
über die Besteuerung mit einem Steuersatz von 25 Prozent.
({5})
Real waren es sogar nur 15 Prozent. Wir haben jetzt bis
zu 34 Prozent; das ist mehr als doppelt so viel. Aus allem, was wir wissen, ist dies das Maximale, das in diesen Verhandlungen zu erzielen war.
Zudem haben wir jetzt erstmals die Möglichkeit,
Kontoverbindungen einzelner Steuerpflichtiger in der
Schweiz abzufragen. Mit diesem Abkommen ist die
Steuerflucht in die Schweiz faktisch beendet. Sie in der
SPD können sich - dafür habe ich sogar Verständnis durchaus ärgern, dass Ihr größter Finanzminister aller
Zeiten das alles nicht zustande bekommen hat.
({6})
Aber wenn Sie dieses Abkommen mit der Schweiz hier
im Bundestag und auch im Bundesrat tatsächlich blockieren wollen, dann sind Sie in der Opposition dafür
verantwortlich, dass dem Bund, den Ländern und den
Kommunen Milliarden Steuereinnahmen durch die Lappen gehen
({7})
und dass die Steuerflucht in die Schweiz nicht beendet
wird. Deshalb überlegen Sie es sich gut, ob Sie wirklich
auf Blockade setzen wollen. Ich glaube, zum Wohle unseres Landes,
({8})
zum Wohle der ehrlichen Steuerzahler ist es angezeigt,
ehrlich zu sein und zu sagen: Wir können diesem Abkommen zustimmen.
({9})
Für den Bundesrat hat der Landesminister Norbert
Walter-Borjans jetzt das Wort.
({0})
Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister ({1}):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Absicht mag gut gewesen sein; dies bestreite ich nicht. Wir
brauchen ein Abkommen zwischen guten Nachbarn, das
sicherstellt, dass sich keiner dieser Nachbarn zur Fluchtburg für die Zechpreller beim anderen macht. Aber das
Verfahren, lieber Herr Schäuble, sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, wie dieses Abkommen zustande gekommen ist, und die Ergebnisse, die wir nach Monaten
der Geheimniskrämerei seit einer Woche auf dem Tisch
haben, sind kein Ruhmesblatt.
({2})
Ich war ein bisschen überrascht, als ich eben von
Herrn Wissing hörte, wie er beschrieb, dass sich jeder,
der die Verhandlungen geführt und begleitet hat, gewundert hat. Nach dem, was Sie anschließend gesagt haben,
war mir jedenfalls klar, dass auch Sie sie nicht begleitet
haben; denn es ist uns genauso ergangen. Wir haben
schlicht und ergreifend keinen Einblick haben können.
Das finde ich deshalb so wichtig, weil Länder und Gemeinden nicht nur zur Hälfte die Leidtragenden der
Steuerflucht sind. Denken wir bitte auch einmal daran,
wie viele Guthaben seit vielen Jahren auf diesen Konten
liegen, bei denen auch Erbschaftsteuer angefallen wäre.
Das betrifft definitiv die Länder und die Gemeinden.
({3})
Minister Dr. Norbert Walter-Borjans ({4})
Der Argwohn, den die Abschottung der Verhandlungen bei uns geweckt hat, ist durch das Ergebnis mehr als
bestätigt worden.
({5})
Dazu muss man sich nicht erst - aber das ist vielleicht
auch ganz hilfreich - die erhellenden Ratschläge, die im
Moment auf den Internetseiten der Schweizerischen
Bankiervereinigung gegeben werden, vor Augen führen.
Für die Anleger klingen sie ganz beruhigend. Dort heißt
es, die Anleger müssten sich keine Sorgen machen, sie
könnten ihr Geld ja noch in Sicherheit bringen,
({6})
die steuerliche Belastung werde nicht zu hoch etc.
({7})
Man muss also zu dem Ergebnis kommen: Hier ist nicht
nur der Bund über den Tisch gezogen worden, sondern
auch die Länder und Gemeinden und vor allem die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({8})
- Zu dem Spatz in der Hand komme ich noch.
Es geht nicht um einen Konflikt - das möchte ich an
dieser Stelle sehr deutlich machen - zwischen Deutschen
und Schweizern;
({9})
diese Beschreibung wird gerne bemüht, um dem Ganzen
eine gewisse Dramatik zu verleihen.
({10})
Es geht um deutsche Steuerbetrüger und Schweizer Helfershelfer auf der einen Seite, und es geht um ehrliche
Menschen in der Schweiz und in Deutschland auf der anderen Seite, die für Infrastruktur, Bildung und Sicherheit
Steuern zahlen. Durch ein solches Abkommen müssen
sich diese Menschen verhohnepiepelt fühlen.
({11})
Die Ehrlichen in diesem ganzen Spiel werden ja doppelt getroffen: Sie müssen zum einen die eigene Zeche
zahlen, und sie müssen zum anderen mit für die Kredite
aufkommen, die wir aufnehmen müssen, weil wir nicht
genug Steuern einnehmen, um auf Kredite verzichten zu
können. Dadurch entgeht uns übrigens auch ein Beitrag
zur Haushaltskonsolidierung.
({12})
- Wir erzielen nicht die Steuereinnahmen, die wir erzielen müssten. Ich komme noch darauf zu sprechen, was
das in Heller und Cent ausmacht.
({13})
- Augenblick!
({14})
Wir stellen momentan fest, dass zunehmend mehr
Menschen, und zwar Angehörige aller Einkommensklassen, Bereitschaft erkennen lassen, eine entsprechende
Steuerlast zu tragen,
({15})
weil sie wissen, dass Leistungen, auch Leistungen des
Staates, ihren Preis haben. Für diese Menschen ist das
Abkommen ein Schlag ins Gesicht.
Das Wichtigste zum Steuerabkommen ist schnell gesagt: Die Kontrolle von morgen obliegt den Tätern und
Mittätern von gestern;
({16})
das ist der erste Punkt. Jedenfalls - das soll kein Misstrauen in die Schweiz zum Ausdruck bringen - ist mein
Vertrauen in einige Schweizer Banken und einige Verantwortliche bei der Schweizer Bankenaufsicht,
({17})
die jetzt die Kontrolle übernehmen und sie sicherstellen
- ich formuliere es einmal so - begrenzt. Hier wird ein
Stück weit der Bock zum Gärtner gemacht.
({18})
Sie haben eben gesagt, dass alles nachgeprüft werden
kann. Die Zahl möglicher Nachprüfungen ist auf 999 innerhalb von zwei Jahren begrenzt, nachdem eine paritätisch besetzte deutsch-schweizerische Kommission die
Zulässigkeit der Nachprüfungen überprüft hat.
({19})
Ich sage Ihnen: Allein durch den von uns getätigten Ankauf von CDs kam es zu über 6 000 Selbstanzeigen.
({20})
Ich frage mich, wie durch höchstens 999 Nachprüfungen
in zwei Jahren, die man erst noch durchboxen muss, gewährleistet werden soll, dass man einem Verdacht, ob alles seine Richtigkeit hat, nachgehen kann.
({21})
Hinzu kommt: Wer beim Hinterziehen geholfen hat,
bleibt künftig genauso straffrei wie der, der hinterzogen
hat. Die Schweizer Bankangestellten aber, die beim Aufdecken der Steuerhinterziehung geholfen haben, werden
weiter verfolgt.
({22})
Minister Dr. Norbert Walter-Borjans ({23})
Gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden verstößt aus meiner Sicht, dass man, was die Wiedergutmachung in krassesten Fällen betrifft, weit hinter dem zurückbleibt, was
ein ehrlicher Steuerzahler hätte zahlen müssen.
({24})
Sie haben eben darauf hingewiesen: Es gibt mehrere
Optionen, sich zu verhalten. Wenn ich mit einer Selbstanzeige besser wegkomme, dann zeige ich mich selbst
an. Wenn ich mich aber der Hinterziehung der Erbschaftsteuer in erheblichem Umfang schuldig gemacht habe,
indem ich beispielsweise Zinsen nicht versteuert habe,
ist die Situation eine andere. Das heißt, je mehr man
nicht angemeldet hat bzw. je weniger man versteuert hat,
desto besser kommt man anschließend mit der pauschalen Bestrafung davon.
({25})
Es ist so: Je „schwärzer“ das angelegte Geld, desto lohnender ist der Betrug.
Der nächste Punkt: Zwischen dem Wirksamwerden
des Abkommens und dem Zugriff gibt es die Gelegenheit zur Kapitalflucht. Der Grund dafür ist die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Gefahr des Entdecktwerdens, etwa
infolge eines Ankaufs von CDs, soll eingeschränkt oder
unterbunden werden.
({26})
Darüber hinaus finde ich die Behauptung, die anonyme
Mitteilung der Schweizer Banken komme dem von der
EU geforderten automatischen Informationsaustausch
nahe, ziemlich grotesk. Das ist nicht der Fall. Noch einmal dazu, dass jeder Cent versteuert wird: Ja, wenn die
anonyme Meldung tatsächlich umfassend erfolgt, dann
werden die Zinsen demnächst so versteuert wie bei uns.
Wenn es sich aber um ein Guthaben handelt, für das vorher keine Erbschaft- oder andere Steuer gezahlt wurde
und das in die Schweiz gebracht worden ist, dann wird
davon überhaupt nichts mehr bekannt.
({27})
Nur die Zinsen darauf müssen so versteuert werden wie
bei uns.
({28})
Deswegen sagen wir Nein zu dem bisher praktizierten
Verfahren und zu dem Ergebnis.
Wir - zumindest für die sozialdemokratisch regierten
Länder im Bundesrat gilt das sicher - sagen aber eindeutig Ja dazu, dass die Durchsetzung von Recht und Gesetz
durch ein Abkommen auf eine geordnete Grundlage gestellt werden muss. Das ist richtig. Ich finde es auch gut,
dass die Schweiz zumindest anfängt, sich in diesem
Punkt zu bewegen. Es wurde ja darüber gesprochen, wer
hier Druck auf wen ausübt. Aus all den rechtfertigenden
Äußerungen geht allerdings deutlich hervor, dass es hier
auch einen erheblichen Druck der Schweiz auf die deutschen Verhandlungspartner gegeben hat, indem deutlich
gemacht wurde, bei welchem Punkt das Ende der Fahnenstange erreicht ist und man den Raum verlässt.
Wir sagen auch Ja dazu, dass man ein praktikables
Verfahren finden muss. Das bedeutet auch, dass man an
irgendeiner Stelle einen Schlussstrich ziehen muss. Allerdings darf er nicht so gezogen werden, dass sich der
Betrug gelohnt hat. Es sollte immer noch gelten, dass
man, wenn man etwas hinterzogen hat, am Ende ein
Stück mehr bezahlen muss als derjenige, der sich von
vornherein gesetzeskonform verhalten hat.
({29})
Die Kontrolle darf nicht vereitelt werden - auch nicht
durch eine Zahl oder eine Kommission. Die USA haben
da in der Tat, zumindest bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, einen anderen Standard angelegt. Dass die
Schweiz sagt, darauf werde sie nicht eingehen, das
würde ich dem anderen Verhandlungspartner gegenüber
auch sagen. Wollen wir aber einmal sehen, wie es ausgeht.
Wir sind schließlich hiermit auch dabei, Präzedenzfälle für Österreich, Luxemburg und Liechtenstein zu
schaffen.
({30})
Somit ist mit einem solchen Abkommen auch die Verantwortung verbunden, nicht die Preise für etwas zu verderben, was anschließend erreicht werden muss.
({31})
Ein echtes Interesse der Schweizer Banken an der
Verhinderung eines Transfers unversteuerter Gelder in
Drittstaaten kann man im Zweifel nur dann erzeugen,
wenn die Vorableistungen, die die Banken erbringen
müssen, deutlich höher ausfallen. Ich höre - ich weiß
nicht, ob es zutreffend ist -, dass in den Verhandlungen
auch einmal von 10 Milliarden Euro und nicht nur von
2 Milliarden Euro die Rede war. Es wird dann sicherlich
auch einmal die Situation geben, dass man sagen kann,
der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem
Dach. Dass wir das nicht unpragmatisch sehen, ist doch
völlig klar.
Das, was jetzt da ist, ist aber kein Spatz, sondern man
hat eine Feder in der Hand. Aus diesem Grunde haben
wir die dringende Bitte, Gespräche miteinander zu führen, anschließend aber natürlich auch von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, mit der Schweiz nachzuverhandeln, weil wir glauben, dass ein Nachverhandeln
nötig ist.
Herr Minister.
Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister ({0}):
Nachverhandeln ist auch möglich. Herr Kollege
Schäuble, ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass Sie
der eidgenössischen Regierung signalisieren, dass dieses
Abkommen ohne eine deutliche Nachbesserung in
Deutschland keine Mehrheit hat und dass ein Weiter-so,
das die Schweiz dann vielleicht als Alternative androhen
würde, mit uns nicht zu machen ist.
Herzlichen Dank.
({1})
Die Kollegin Dr. Birgit Reinemund hat das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Borjans, als Vorsitzende des Finanzausschusses
darf ich Ihnen bestätigen, dass der Finanzausschuss die
Verhandlungen kontinuierlich begleitet hat
({0})
und dass er mit einer Delegation in der Schweiz vor Ort
war. Wenn es so sein sollte, dass sich der Bundesrat nicht
eingebracht hat, finde ich das sehr peinlich. Es war
schon überraschend, das hier so deutlich zu hören.
({1})
In dieser Aktuellen Stunde deutet sich ganz leicht an,
dass die SPD-geführten Bundesländer das Abkommen
mit der Schweiz im Bundesrat tatsächlich blockieren
wollen. Ich bin schon gespannt, wie Sie das den Menschen erklären wollen. Überzeugend war das bis jetzt
nicht; denn ich habe noch immer nicht verstanden, ob
kein Abkommen besser oder schlechter als dieses Abkommen ist, über das wir heute sprechen.
({2})
2003 hat Ihr Finanzminister Hans Eichel, meine Damen und Herren von der SPD, verzweifelt versucht, mit
einer wie ein Ablasshandel ausgestalteten Steueramnestie Geld deutscher Steuerflüchtlinge zurückzuholen. Er
hatte vollmundig von 5 Milliarden Euro gesprochen. Am
Schluss sind schlappe 1,2 Milliarden Euro herausgekommen. Noch weniger Erfolg hatte die plumpe Drohung
seines Nachfolgers Steinbrück mit der Kavallerie. Außer
Irritationen beim Nachbarn ist dabei Nullkommanichts
herausgekommen. Es sollte immer - das galt auch für
die Vergangenheit - weitgehend Rechtsfrieden erreicht
werden. Genau das ist auch unser Ziel mit dem aktuellen
Abkommen.
Dieser Bundesregierung und diesem Finanzminister
ist gelungen, was die SPD-Finanzminister während der
letzten zehn Jahre nicht zustande gebracht haben.
({3})
- Ihren Frust, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, kann ich gut verstehen. Ist das der Grund, dass Sie
heute auf Blockade umsteigen wollen? Zum Beispiel
sagte der nordrhein-westfälische Finanzminister Borjans
in der Presse voller Empörung, dass schwerreiche Straftäter viel zu billig davonkommen.
({4})
- Na ja, ist denn zu billig deutlich mehr als null? Oder ist
es das, was Sie bisher erreicht haben? Ohne das Abkommen bleibt alles kostenfrei.
Richtig ist: Steuersünder können künftig nachversteuern
({5})
oder sich über eine Selbstanzeige steuerehrlich machen.
Geld aus Straftaten - das geht über das Steuerrecht hinaus - wie zum Beispiel Drogengeld, Geld aus Geldwäsche usw. ist vom Schutz der Anonymität explizit ausgenommen. Kollegin Kressl und Herr Poß, beide SPD,
fordern, das Abkommen zurückzuziehen. Ja, wunderbar,
dann passiert in den nächsten Jahren in dieser Angelegenheit überhaupt nichts mehr.
({6})
Dann bleiben wir beim Status quo; denn dies ist eine digitale Entscheidung: Ja oder Nein, Zustimmung oder
Ablehnung. Nachverhandeln geht einfach nicht. Mit internationalen Verträgen kann auch der Vermittlungsausschuss nicht befasst werden.
({7})
Das wissen Sie ganz genau. Trotzdem gaukeln Sie den
Menschen vor, dass es hier noch Verhandlungsmasse
gebe, um den Preis hochzutreiben oder die Wahrung des
Bankgeheimnisses, das in der Schweiz sehr wichtig ist,
auszuhebeln. Ich nenne das: Die Leute hinters Licht führen.
({8})
Das jetzt unterschriebene Abkommen ist das Ergebnis
langer bilateraler Verhandlungen, ein Kompromiss zwischen den Interessen zweier souveräner Staaten. Mehr
geht an diesem Punkt nicht. Auch die Schweiz ist nicht
nur glücklich damit.
({9})
Ohne dieses Abkommen wird über Jahre hinweg gar
nichts mehr passieren. Das heißt, dass die bestehenden
Steuerforderungen kontinuierlich verjähren würden. Wie
passt das mit dem von Ihnen viel beschworenen Gerechtigkeitsempfinden zusammen?
Mit diesem Abkommen haben wir enorm viel erreicht. Steuerflucht in die Schweiz wird deutlich erschwert. Durch einen Informationsaustausch wird es
nicht mehr nötig sein, zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug illegal beschaffte Daten auf
CDs zu kaufen. Diese rechtliche Grauzone entfällt. Für
Inhaber von anonymen Konten in der Schweiz gibt es
nur noch drei Möglichkeiten: anonym nachversteuern,
Selbstanzeige machen oder das Konto schließen. Wenn
nach Unterzeichnung des Abkommens Geld aus der
Schweiz abgezogen wird, meldet die Schweiz, wohin.
({10})
- Sie sind gleich dran, Frau Kressl.
({11})
Deutschland erhält Steuernachzahlungen auf Altvermögen. Künftige Kapitalerträge werden unmittelbar mit
einer Abgeltungsteuer in Höhe von 26,3 Prozent belegt.
Das entspricht dem in Deutschland geltenden Abgeltungsteuersatz inklusive Solidaritätszuschlag. Das ist
also eine Eins-zu-eins-Besteuerung. Wir rechnen einmalig mit einem Betrag in Höhe von circa 10 Milliarden
Euro und in der Folge mit rund 1,6 Milliarden Euro jährlich. Davon profitieren Bund, Länder und Kommunen
gleichermaßen. Wie wollen Sie den klammen Kommunen erklären, dass Sie über Jahre hinweg großzügig darauf verzichten wollen?
Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wird mit diesem Abkommen ein weiterer Riegel vorgeschoben. Herr
Steinbrück hat heute Morgen in diesem Haus gesagt: Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug ist
ein Beitrag zur Stabilität des Haushalts und ein Beitrag
zur Stabilität Europas. Mehr braucht man dazu eigentlich nicht zu sagen.
({12})
Jetzt hat der Kollege Martin Gerster für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin, ehrlich gesagt, noch immer fassungslos
über die Redebeiträge vonseiten der FDP-Fraktion. Frau
Dr. Reinemund, dass wir im Finanzausschuss die Chance
gehabt haben sollen, die Verhandlungen mit der Schweiz
kontinuierlich und intensiv zu begleiten,
({0})
dazu muss ich sagen: Das ist überhaupt nicht wahr! Wir
hatten doch überhaupt keine Chance, diese Verhandlungen zu begleiten. Sie haben das im stillen Kämmerlein
mit sich selbst ausgemacht.
({1})
Ich kann noch sagen, Frau Dr. Reinemund: Bei Ihnen
drücke ich ein Auge zu;
({2})
denn Sie sind schließlich neu im Bundestag, das ist Ihre
erste Wahlperiode. Aber, Herr Wissing, das hier ist Ihre
dritte Wahlperiode. Darüber, dass Sie sich mit Ihrer Erfahrung hier hinstellen und erklären, dass unter den
SPD-Finanzministern in diesem Punkt überhaupt nichts
passiert ist,
({3})
bin ich fassungslos. Wo waren Sie denn all die Jahre hier
im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages?
Es waren SPD-Finanzminister, die sich dieses Themas angenommen haben: Hans Eichel hat das Thema
Zinsrichtlinie engagiert vorangebracht.
({4})
Es war der Finanzminister Peer Steinbrück, der auf die
OECD-Standards hingewiesen hat und zusammen mit
den Franzosen das Londoner Kommuniqué durchgedrückt hat.
({5})
Auch hat er erreicht, dass die Schweiz auf die Schwarze
Liste kam. Das war doch der Ausgangspunkt des Ganzen.
({6})
Was Sie hier letztendlich bringen, ist gar nichts. Man
muss Ihnen zugutehalten: Ihre Position beim Thema
Steuerhinterziehung ist konsequent. Die Frage ist nur:
Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Das ist ja der
Punkt.
({7})
Herr Wissing, kein einziges Mal haben Sie das Wort
„Steuerhinterziehung“ überhaupt in den Mund genommen. Um dieses Thema geht es hier aber.
({8})
Schauen wir einmal, was Sie gemacht haben und wofür Sie die Verantwortung tragen. Welche Landesregierung hat sich denn geweigert, eine CD mit Daten von
Steuerhinterziehern zu kaufen? Das war die schwarzgelbe Landesregierung von Baden-Württemberg. Abgewählt worden sind Sie dafür.
({9})
Wer hat denn dafür gesorgt, dass die strafbefreiende
Selbstanzeige weiterhin gilt? Das waren Sie! Wir wollten sie abschaffen. Aber Sie waren dagegen.
Ich muss sagen: Dieses Steuerabkommen mit der
Schweiz ist wirklich der Gipfel. Die Schweiz ist zwar
ein Alpenland, das ist klar. Aber das, was jetzt auf dem
Tisch liegt, ist wirklich der Gipfel. Man muss ganz klar
sagen, dass sich die Schweizer darüber freuen. Ein Blick
in die Schweizer Medien bestätigt diese Vermutung. Die
Neue Zürcher Zeitung schrieb schon am 16. August dieses Jahres - ich darf zitieren -:
Das ist wohl das grösste Plus: Der Schweizer Seite
ist es gelungen, die Interessen der Kunden in unerwartet hohem Mass zu schützen.
Darüber freuen sich die Schweizer. Aber die Frage ist
doch: Was sind denn die Interessen der Kunden? Wer
sind denn diese Kunden überhaupt? Das sind Steuerhinterzieher. Das sind Steuerbetrüger. Das sind Steuerkriminelle.
({10})
Deswegen muss man sich fragen: Was ist denn das für
ein Lob, welches die Neue Zürcher Zeitung der Schweizer Regierung ausstellt? Das ist ein Armutszeugnis für
Ihr Verhandlungsergebnis in Bezug auf dieses Abkommen.
({11})
Letztendlich muss man sagen: In Zukunft wird sich
ein Steuerbetrüger entscheiden können: Eine Möglichkeit ist die strafbefreiende Selbstanzeige. Wir wollten sie
abschaffen - ich habe es erwähnt -; Sie waren dagegen.
Jetzt gibt es eine neue Variante: Es besteht die Möglichkeit, die Abgeltungsregelung zu wählen und weiterhin
anonym zu bleiben. Es ist aus meiner Sicht ein Skandal,
dass wir diesen kriminellen Menschen, die uns Gelder
vorenthalten, die uns gehören und die für Investitionen
in Bildung und Verkehr wichtig wären, zusichern, gegen
Zahlung anonym zu bleiben.
({12})
Das ist schwarz-gelbe Steuerpolitik. Das ist Ablasshandel pur, was hier gemacht wird.
({13})
Im Übrigen muss ich sagen: Was mich an dieser ganzen Debatte stört, ist, dass man von einer „Steuersünde“
spricht.
({14})
Hier wird doch keine Sünde begangen, sondern hier handelt es sich um ein ganz gezieltes Kalkül, am deutschen
Finanzamt und damit auch an uns allen vorbei Geld in
die Schweiz zu transferieren. Das ist ein Betrug an unserer Gesellschaft insgesamt.
Der von Ihnen vorgelegte Entwurf für ein Steuerabkommen mit der Schweiz ist und bleibt ein Schlag ins
Gesicht aller ehrlichen Steuerzahler.
({15})
In der FAZ vom 27. September war zu lesen, zu welchem
Ergebnis Experten gekommen sind, die die Folgen Ihres
Abkommens noch einmal genau durchgerechnet haben.
Das Ergebnis war: Je dreister und konsequenter die Steuerhinterziehung in Richtung Schweiz, desto mehr profitieren die Betrüger von Ihrem Abkommen.
({16})
Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab. Wir werden im Bundestag und zusammen mit den SPD-geführten Bundesländern dafür sorgen, dass es nicht in der vorgesehenen Form durchkommt.
Herzlichen Dank.
({17})
Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren der
SPD, ein konstruktiver Beitrag waren Ihre Debattenbeiträge in dieser Aktuellen Stunde sicherlich nicht.
({0})
Sie haben gefragt, auf welcher Seite wir stehen, Herr
Gerster. Wir stehen auf der Seite der Steuergerechtigkeit.
Das war das Ziel des Bundesfinanzministers in den Verhandlungen.
({1})
Verhandlungen heißt: Es gibt zwei Seiten, zum einen die
Schweiz und zum anderen die Bundesrepublik Deutschland, und man muss eine Einigung finden, um das zu
richten, was in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen
ist. Das ist weder Ihrem noch unserem Finanzminister
bisher gelungen.
({2})
Man sollte in dieser Debatte zur Kenntnis nehmen,
dass wir einen Vorschlag vorgelegt haben, zu dem die
Schweiz ihr Einverständnis gibt, und zu dem der Bundestag und hoffentlich auch die Bundesländer ihr Einverständnis geben, damit man endlich für Steuergerechtigkeit sorgen kann.
({3})
Ich glaube, es ist das Ziel all derjenigen in diesem Haus,
dass wir die grundsätzlichen Besteuerungsmerkmale einhalten. Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist
das Ziel, das, glaube ich, uns alle in diesem Hohen
Hause verbindet.
Der Streit mit der Schweiz hat, wie gesagt, jahrzehntelang angehalten. Wir haben jetzt ein Ergebnis erzielt,
das so nicht absehbar war. Aber jetzt tönen Sie, meine
Damen und Herren der SPD bzw. Ihr ehemaliger Bundesfinanzminister, laut in den Medien: Lieber kein neues
Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz als diesen Entwurf.
({4})
- Das war ein Zitat, Herr Poß. Dann hat das Ihr ehemaliger Bundesfinanzminister in der Zeit falsch dargestellt. Das kann nicht sein. Das Abkommen ist ein guter Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit. Was Gegenwart und
Zukunft angeht, ist die Besteuerung in unserem Land
gleichgestellt. Für die Vergangenheit haben wir aus meiner Sicht einen tragfähigen Kompromiss gefunden.
Ich habe in der letzten Woche im Handelsblatt ein
schönes Zitat von Torsten Riecke zur Bewertung des
vereinbarten Abkommens gelesen: „Ein Kassenwart, der
da nicht zugreift, wäre ein Dummkopf.“ Ich gebe ihm
recht. Man muss Verhandlungsergebnisse akzeptieren.
Herr Borjans, ich verstehe nicht, dass sich die Länder
dieses Ergebnis nicht zu eigen machen. Ich glaube, es ist
ein guter Weg in die Zukunft, dass wir diese möglichen
Steuereinnahmen auch realisieren.
({5})
- Es geht nicht um „Rauskaufen“. Wir diskutieren um einen Punkt, nämlich Steuergerechtigkeit.
Die große Frage ist ja: Was würde passieren, wenn
dieses Steuerabkommen nicht zustande kommt? Können
Sie uns garantieren, dass wir ein besseres Abkommen
bekommen als das bisherige, Frau Kressl? Dann könnte
man sicherlich noch einmal in die Verhandlungen einsteigen. Ich glaube aber, dass kein besserer Kompromiss
als der, den wir jetzt gefunden haben, möglich ist. Darum bitte ich Sie und auch die Bundesländer, diesem
Kompromiss zuzustimmen, mit dem man nach Jahren
und Jahrzehnten ungelöster steuerlicher Streitigkeiten
endlich einen Kompromiss zur Sicherstellung einer effektiven Besteuerung für die Zukunft gefunden hat.
Ich glaube, der Bundesfinanzminister hat die Einzelheiten des Abkommens ausführlich dargelegt. Deswegen
möchte ich nicht mehr darauf eingehen.
({6})
- Meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD,
Sie machen das nicht wirklich. Man sollte die Tatsachen
immer klar und korrekt darstellen. Wenn man die ganzen
Debatten auf Ihrer Seite verfolgt, dann zeigt sich ein gewisses Verdrehen der Tatsachen und Wirklichkeiten. Ich
bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Linken
haben das Abkommen nicht ganz verstanden.
({7})
Die Brücke zur Ehrlichkeit ist auch ein Beitrag zu der
tragfähigen Lösung für die Besteuerung, die wir für die
Zukunft gefunden haben, und zu mehr Steuergerechtigkeit. Das ist ja Ihr Ziel, meine sehr geehrten Damen und
Herren der SPD. Deswegen haben Sie die heutige Aktuelle Stunde ja beantragt. Unser Ziel als christlich-liberale
Koalition ist, dass jeder seinen Beitrag leistet, unser
Staatswesen zu finanzieren. Deswegen bitte ich Sie und
auch die von Ihnen geführten Bundesländer, dieses Abkommen mit zu unterstützen und diesen Weg gemeinsam
mit uns zu gehen. Damit ist ein tragfähiger Kompromiss
gefunden worden, der in eine gute Zukunft führt.
Herzlichen Dank.
({8})
Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Gerade war von Verdrehung der Tatsachen die Rede. Frau Reinemund hat
gesagt, der Finanzausschuss habe diesen Prozess kontinuierlich begleitet. Wenn das wahr ist, dann handelt es
sich auch um ein gutes Abkommen. Unter dieser Bedingung müsste man das tatsächlich so beurteilen. In Wahrheit haben die Beamten gut verhandelt. Aber die, die es
politisch zu verantworten haben, haben eine riesige
Chance vertan; denn mithilfe des Parlaments wäre die
Verhandlungsmacht um Potenzen stärker gewesen. Man
hätte durch eine parlamentarische Begleitung viel mehr
erreichen können. Aber auf eine solche Begleitung hat
man aus lauter Geheimniskrämerei verzichtet. Das war
ein ganz schwerwiegender Fehler.
({0})
Ich will ein Wort zur Vergangenheit sagen. Es wurde
oft auf die letzten zehn Jahre verwiesen. Vor drei, vier
Jahren hatten wir eine Krise. Es musste gehandelt werden. Was passierte? Konjunkturprogramm I und Konjunkturprogramm II wurden aufgelegt, es gab eine großzügige Regelung zur Kurzarbeit. Und in den letzten zwei
Jahren hatten wir einen ganz guten Aufschwung zu verzeichnen. Das Wachstum war recht ordentlich. Die Arbeitslosigkeit sank. Was passiert nun? Ganz langsam beginnt die Politik der schwarz-gelben Regierung in den
letzten zwei Jahren zu wirken. Die Wachstumserwartungen trüben sich ein.
({1})
Die Dynamik der Wirtschaft lässt nach.
Genau hier besteht der Konnex zur Vergangenheit:
Ein anderes Verhandlungsergebnis wäre auf einer anderen Grundlage möglich gewesen. Ich erinnere Sie nur an
das Engagement von Frankreich, den USA, der OECD
und Deutschlands zur Zeit der Großen Koalition. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück hat, aufbauend
auf der Zinsrichtlinie sowie einer schwarzen und einer
grauen Liste, überhaupt erst die Basis für Überlegungen
gelegt, die Sie jetzt für sich reklamieren.
({2})
Aber mit dieser Basis sind Sie so schlecht umgegangen,
dass einem angst und bange werden muss. Es war nämlich die FDP, die die betreffenden Länder permanent
durch Leisetreterei hofiert hat und allergrößtes Verständnis für das Bankgeheimnis
({3})
und alles andere, das Steuerhinterziehern das Leben international erleichtert, aufgebracht hat.
({4})
Wir erkennen, dass sich die Führungsschwäche in den
Verhandlungen auf europäischer Ebene - das zeichnet
sich an ganz vielen Fronten ab - in dem nun vorliegenden Abkommen widerspiegelt. Das zwischenstaatliche
Abkommen zu bisher unversteuerten Kapitalerträgen
zeitigt nicht das Ergebnis, das Sie hier vortragen. Frau
Reinemund hat gesagt, die Schweiz zeige doch an, was
passiert. Ich frage Sie: Zeigt die Schweiz uns an, wer
welchen Betrag anlegt?
({5})
- Sie sagen „die Schuhgröße“. Daran sehe ich genau,
dass Sie überhaupt nicht kapieren, warum wir nicht erfahren, was dort passiert. - Das Problem ist, dass anonym bleibt, wer was zu welcher Zeit in welcher Höhe
nachzuversteuern hat. Das wäre genauso, als wenn ein
Arbeitnehmer morgens zum Finanzamt geht und sagt:
Ich versichere Ihnen, dass ich diesen Monat nur 97 Euro
zu versteuern habe. Jetzt glauben Sie es mir doch endlich! - Nein, wir machen den Bock zum Gärtner. Das ist
ein riesengroßes Problem.
({6})
In der Schweiz gibt es Geschäftsmodelle, die ausweislich der entsprechenden Prospekte auf Vertrauen,
Vertraulichkeit, Seriosität und Schutz der Privatsphäre
beruhen. Genau das bleibt erhalten. Der Kollege, der
vorhin aus der NZZ zitiert hat, hat es auf den Punkt gebracht: Die Schweizer jubilieren, weil Vertraulichkeit
gegenüber allen weiterhin erhalten werden kann. Niemand fühlt sich erwischt. Steuerhinterziehung bleibt
weiterhin möglich und ist nur eine Ordnungswidrigkeit.
Hier gibt es einen großen Unterschied in der Rechtsauffassung zwischen der Schweiz und Deutschland. Es soll
durch eine anonyme Abgeltungsteuer auf Erträge aus
Vermögen jede weitere Zahlungspflicht abgegolten werden.
({7})
Damit wird Steuerhinterziehung verschleiert und als Delikt endgültig beendet. Das ist das eigentliche Problem.
({8})
Das politische Desaster besteht aber in etwas ganz anderem. Die Österreicher sagen jetzt zu Recht: Das ist ein
wunderbarer Präzedenzfall; so etwas wollen wir auch
haben. Die Luxemburger sagen: Toll, so ein schönes Abkommen wie das mit der Schweiz schließen wir auch ab. Sie merken, was nun passiert: Wir haben eine moralische
Abwärtsspirale in Europa, und Sie haben den ersten
Schritt zur Errichtung dieser Spirale getan. Wenn wir
diesen Vertrag nicht stoppen, wird das zu einem ganz
großen Problem führen; denn die öffentlichen Aufgaben
müssen steuerfinanziert sein.
({9})
Die fairen Steuerzahler - deshalb ist die Aktuelle
Stunde so wichtig - bekommen das Signal, dass es sich
auch künftig lohnt, fair und korrekt Steuern zu bezahlen.
Wir zumindest reden der Steuerhinterziehung nicht das
Wort, auch nicht in internationalen Verträgen.
({10})
Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Zunächst möchte ich ein Wort an die
Adresse des Finanzministers von Nordrhein-Westfalen
richten, der uns gründlich belehrt hat.
({0})
Herr Minister, wer Milliarden von Steuereinnahmen als
„Feder“ bezeichnet, der braucht sich nicht zu wundern,
wenn er einen nicht verfassungskonformen Landeshaushalt hat.
({1})
Das Abkommen mit der Schweiz ist sehr gut, und es
ist im Interesse der Bürger.
({2})
Warum? Es sichert Einnahmen für den Staat, und das auf
Jahre hin und kontinuierlich. Es schafft mehr Steuergerechtigkeit. Warum sollen die Bürger, die ihr Geld in der
Schweiz anlegen, keine Steuern zahlen? Das ist ein Problem seit Jahrzehnten. Bei diesem Problem schafft das
Abkommen nun Abhilfe.
({3})
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Opposition dieses Gesetz blockieren will. Ich darf Sie bitten, sehr kritisch zu hinterfragen, ob man überhaupt verantworten
kann, dass diese Einnahmen dem Staat entgehen.
Ich verspreche mir aber noch einiges andere von diesem Abkommen. Ich verspreche mir auch etwas mehr
Analyse, warum die Bürger Steuern hinterziehen und
warum sie ihr Geld nicht in Deutschland anlegen, sondern es ins Ausland schaffen.
({4})
Ich denke, unser Ziel muss es sein, gute Rahmenbedingungen für unsere Bürger zu schaffen, damit sie ihr
Geld im Inland anlegen.
({5})
Das gilt sowohl für Deutschland als auch für alle anderen europäischen Staaten. Ursache der Staatsschuldenkrise ist auch der hohe Kapitalexport.
({6})
Gerade für Deutschland ist es ein Problem, dass die Anleger nicht in Deutschland investieren, sondern ihr Geld
aus Renditegründen im Ausland anlegen. Ich denke, es
sollte Ziel der Politik sein, dafür zu werben, dass die
Bürger ihren eigenen jeweiligen Nationalstaat unterstützen, zu Einnahmen ihres eigenen Staates beitragen, der
ihnen die demokratischen Freiheitsrechte sichert und ihnen eine attraktive Infrastruktur bietet.
({7})
- Nein, ich möchte sie nicht rechtfertigen, sondern
({8})
ich möchte von einem plumpen Schwarz-Weiß-Denken,
wie es die Opposition pflegt, wegkommen.
Die Einnahmen sind im Hinblick auf die schwierigen
öffentlichen Finanzen in Deutschland von ganz besonderer Bedeutung. Oberstes Ziel muss sein, die öffentlichen
Haushalte weiter zu konsolidieren. Die SPD hatte zum
Beispiel überhaupt keine Probleme damit, ständig neue
Vorschläge vorzulegen, die den Bürger mehr belasten,
obwohl sie genau weiß, dass mit einer Einnahmeerhöhung allein keine Konsolidierung der öffentlichen Finanzen möglich ist.
({9})
Es ist aber wichtig, die bestehenden Gesetze umzusetzen. Dazu gehören mehr Steuergerechtigkeit und eine
adäquate Besteuerung der Kapitaleinkünfte.
({10})
Ich denke, ein Grund dafür, dass Sie diese Aktuelle
Stunde heute ziemlich aufgeregt beantragt haben,
({11})
lag auch darin, dass Sie von dem guten Ergebnis, das Finanzminister Schäuble erzielt hat, ein bisschen überrascht waren.
({12})
Ich meine, das Ergebnis ist vor dem Hintergrund der
schwierigen Finanzprobleme, die momentan in Europa
zu lösen sind, umso anerkennenswerter. Wir haben heute
Vormittag den Rettungsschirm EFSF beschlossen. Ich
finde es gut, dass die Bundesregierung sich nicht allein
auf Euro-Themen konzentriert, sondern auch andere
wichtige Finanzthemen in Deutschland angeht.
Vielen Dank.
({13})
Nicolette Kressl hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es besteht Anlass, zuerst noch etwas zu der
„kontinuierlichen Begleitung“ im Finanzausschuss zu
sagen, Frau Reinemund.
({0})
Erster Punkt: Wir haben unter TOP 0 kontinuierlich
beantragt, Informationen zu diesem Thema zu bekommen. Aber es gab immer nur den gleichen Satz: Wir haben Geheimhaltung vereinbart. Wir können Ihnen dazu
nichts sagen, nicht einmal zum Zeitplan.
({1})
So sieht eine kontinuierliche parlamentarische Begleitung eigentlich nicht aus. Das kann man im Übrigen
nachlesen.
Zweiter Punkt: Der Herr Minister hat gerade gesagt,
wir sollten einmal unvoreingenommen prüfen. Lassen
wir doch einmal die Kanzlei Flick Gocke Schaumburg
zu Wort kommen, die das unvoreingenommen geprüft
hat, weil sie es im Grunde genommen nicht so schlecht
findet. Ich zitiere:
Einen echten steuerlichen Vorteil wird dagegen derjenige erzielen, der in den letzten zehn Jahren nicht
nur versteuerte Einnahmen in Form von Kapitaleinkünften erzielt hat, sondern darüber hinaus in erheblichem Maße sein Konto mit weiteren Schwarzeinkünften wie nicht deklarierten Erbschaften oder
Schenkungen, verschwiegenen Einkünften aus Gewerbebetrieb, Provisionen und Tantiemen gespeist
hat. Er liegt dann maximal bei einer Belastung von
unter 34 Prozent, während er bei einer Normalbesteuerung weit über 50 Prozent liegen würde. Wenn
man so will,
- so die Kanzlei liegt hier eine Übervorteilung von Fällen schwerer
Steuerhinterziehung vor, die nicht sachgerecht ist.
Dies wirft gravierende verfassungsrechtliche Bedenken auf und wird die politische Durchsetzbarkeit erschweren.
Wohl wahr, sagen wir!
({2})
Ich möchte noch einmal etwas zu der „kontinuierlichen Begleitung“ sagen: Die herablassende Art, die
schon vor einem Jahr vom Bundesfinanzminister in Interviews nachlesbar war nach dem Motto „Die Länder
werden schon zustimmen. Sie werden überhaupt keine
Probleme damit haben. Deswegen mache ich mir wegen
der Durchsetzbarkeit keine Sorgen“, trägt wahrhaftig
nicht zu einem fairen Umgang miteinander bei.
({3})
Bei einer Entscheidung wie dieser, die weitreichende
Konsequenzen hat, hätte ich erwartet, dass man konstruktiv miteinander redet, statt in Interviews verlauten
zu lassen, dass die Bundesregierung die Länder schon irgendwie kriegen werde. Das entspricht nicht dem, wie
man hier miteinander umgehen sollte.
({4})
Nächster Punkt: Herr Minister Schäuble, Sie haben in
Ihrer heutigen Rede kein einziges Wort zu den Vorwürfen und Analysen in den letzten Tagen gesagt, was die
Frage angeht, inwieweit dieses Abkommen umgangen
werden kann. Ich möchte Ihnen einmal den Text ein
Stück weit zitieren:
Schweizerische Zahlstellen werden künstliche
Strukturen, bei denen sie wissen,
- nicht vermuten dass einziger oder hauptsächlicher Zweck
- nicht ein nebengeordneter Zweck, sondern der einzige
oder hauptsächliche Zweck die Umgehung der Besteuerung … ist, weder selber
verwalten noch deren Verwendung unterstützen.
Ich brauche das nur durchzulesen und könnte fünf
Umgehungsmöglichkeiten daraus ableiten. Das Bündnis
gegen Steuerhinterziehung hat Ihnen deutlich gemacht,
welche Umgehungsmöglichkeiten darin stecken.
Wenn Sie schon von uns einfordern, dass wir uns sachlich damit auseinandersetzen - was wir hiermit tun -,
dann hätte ich erwartet, dass irgendeiner der Redner der
Regierungsfraktionen bzw. die Regierung heute ein Wort
zu diesen fachlich schwerwiegenden Bedenken sagt.
Nichts haben Sie gesagt.
({5})
Sie setzen sich nicht mit der fachlichen Seite auseinander. Das Einzige, was Sie in Ihrer Verzweiflung tun, ist,
ein bisschen auf uns herumzuklopfen.
({6})
Das ist absolut lächerlich.
Mit Blick auf Europa halte ich folgenden Punkt für
problematisch: Es ist nachzulesen, dass sich inzwischen
Österreich und Luxemburg den Verhandlungen über eine
Vertiefung der europäischen Zinsrichtlinie verweigern.
Im Bericht des Bundesfinanzministeriums an den Finanzausschuss wird dieses Verhalten begründet: Diese
beiden Länder wollen so behandelt werden wie die
Schweiz, also Abgeltung und kein Informationsaustausch. Da sie aber ein entsprechendes Gefälle erwarten,
verhandeln sie nicht über eine Erweiterung beim automatischen Informationsaustausch.
Zu den national begründeten Einwänden kommt
hinzu, dass Sie auf europäischer Ebene in diesem Bereich zum Bremser werden. Deutschland war unter Finanzminister Hans Eichel immer ein Initiator für Weiterentwicklungen auf diesem Feld. Er hat lange um die
Zinsrichtlinie gekämpft.
({7})
Schließlich war er erfolgreich. Jetzt gehen wir aber mit
diesem Abkommen einen großen Schritt zurück. Das
sind Punkte, die Sie nicht klären können.
Aufgrund unserer fachlichen Bedenken können wir
dem Abkommen nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
Ende der Debatte macht es wahrscheinlich Sinn, noch
einmal zu sagen, um was es überhaupt geht.
({0})
Seit Jahrzehnten ist es so, dass Menschen aus Deutschland legal oder illegal erworbenes Geld in die Schweiz
bringen und dieses Geld dort teilweise - auf diese Feststellung lege ich Wert; vorhin wurden viele ehrliche Bürger von Rednern der SPD diskreditiert - nicht der Steuer
unterwerfen. Wir haben es, egal ob wir einen schwarzen
oder einen roten Finanzminister hatten, nicht geschafft,
dagegen etwas zu unternehmen.
Was wäre das Beste gewesen? Das Beste wäre gewesen, wenn die Schweizer uns einfach alle Daten offengelegt hätten. Dann hätten wir ein ordentliches Besteuerungsverfahren einleiten können - nun denn. Die
Schweizer haben gesagt, dass sie das nicht machen.
Jetzt könnte man darauf in der Weise reagieren, dass
man sich beleidigt zurückzieht und gar nichts macht.
Man kann aber auch verhandeln. Genau das hat die Bundesregierung gemacht. Sie hat verhandelt, und sie hat ein
Ergebnis erzielt. Über dieses Ergebnis kann man streiten.
({1})
Um dieses Ergebnis zu bewerten und darüber zu streiten,
sind wir im Übrigen hier.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch darauf
hinweisen, dass das Vereinigte Königreich ein ähnliches
Ergebnis erzielt hat. So schlecht, wie Sie behauptet haben, kann die Verhandlungsführung also nicht gewesen
sein. Denn die Briten sind nicht unbedingt für ihre Großzügigkeit im Umgang mit Steuersündern bekannt.
Am Ende dieser Debatte möchte ich noch drei Gedanken zu diesem Prozess ausführen.
Erstens. Herr Poß, ich schätze Sie sonst eigentlich
sehr. Aber was Sie heute gesagt haben - das gilt auch für
andere Beiträge der Opposition -, war nicht sonderlich
nett; denn in Ihrer Rede haben Sie den politischen Gegner diskreditiert. Es ist in Ordnung, dass man in einer
Debatte das Ergebnis kritisiert. Aber es ist absolut nicht
in Ordnung, zu behaupten, dem Verhandlungsprozess
hätten unlautere Motive zugrunde gelegen.
({2})
Wenn wir anfangen, so zu handeln, wie Sie, Herr Poß,
und wie Herr Gerster und Frau Kressl es gemacht haben,
dann fällt das auf uns alle zurück. Im Interesse der politischen Kultur in diesem Hause sollte man, auch wenn
man das Ergebnis nicht teilt, anerkennen, dass das Verhandlungsteam vom Bundesfinanzministerium nach bestem Wissen und Gewissen versucht hat, ein gutes Ergebnis für die Bundesrepublik Deutschland zu erzielen. Das
lasse ich mir nicht kaputtmachen.
({3})
Zweitens. Wie gehen wir mit anderen Ländern um?
Die Schweiz hat nicht unbedingt dazu beigetragen, die
Steuerehrlichkeit in Deutschland zu erhöhen. Das muss
man negativ bewerten; das ist überhaupt keine Frage.
Aber man muss auch Folgendes bewerten: a) dass die
Schweiz ein souveränes Land ist, b) dass die Schweiz in
allen Fragen, die Deutschland betroffen haben, an unse-
rer Seite gestanden hat und - um den historischen Bogen
zu spannen - c) dass uns die Schweiz in Zeiten, in denen
wir es eigentlich nicht verdient hatten, als Erste wieder
die Hand gereicht hat. Dementsprechend halte ich es für
unerträglich, wie man mit diesem Land umgeht und wie
man es diskreditiert.
({4})
In der Politik in Deutschland hat eine bestimmte Einstellung Einzug gehalten: Wir, die wir momentan in einer Position der Stärke sind, meinen, dass wir es uns
leisten können, anderen Ländern gute Ratschläge zu erteilen. Ich bin da sehr vorsichtig.
({5})
Es wird momentan sehr genau beobachtet, wie Deutschland mit seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Situation umgeht und wie Deutschland international auftritt.
({6})
Die Debatte hier hat nicht dazu beigetragen, das Vertrauen anderer Länder in die deutsche Politik zu stärken.
({7})
Dritter Punkt: die Frage nach der Gerechtigkeit. Wegen dieser Frage meinten Sie heute eine Aktuelle Stunde
verlangen zu müssen, was mich, ehrlich gesagt, verwundert hat, und zwar deswegen, weil wir natürlich ein ganz
normales Gesetzgebungsverfahren zu diesem Doppelbesteuerungsabkommen wie zu allen anderen Doppelbesteuerungsabkommen auch durchführen. Aber es schien
im Sinne der Sozialdemokraten zu sein, eine gewisse
Skandalisierung herbeizuführen.
({8})
Ich habe am Anfang meiner Rede ausgeführt, warum das
nicht gut ist.
Zur Frage der Gerechtigkeit: Ja, das Ganze ist eine
Frage der Gerechtigkeit, ob diejenigen Menschen, die
gegen Gesetze verstoßen haben, bestraft werden. Es ist
aber auch eine Frage der Gerechtigkeit, ob wir die Steuergelder einnehmen, die uns zustehen. Es ist im Übrigen
eine Frage der Gerechtigkeit, ob es staatliches Handeln
ist, Rechtsdurchsetzung mithilfe krimineller Elemente,
Stichwort „Steuer-CD“, zur Regel zu machen.
({9})
In der Abwägung der verschiedenen Gerechtigkeiten
hat die Bundesregierung eine Entscheidung getroffen
und einen Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag lautete
ganz einfach: Uns ist es an dieser Stelle lieber, dass wir
das Geld bekommen. Darüber kann man streiten. Aber
wir sollten uns bitte nicht gegenseitig vorwerfen, wer
von uns der Gerechtere unter der Sonne ist. Ich glaube
nämlich nachhaltig, dass wir nach bestem Wissen und
Gewissen gehandelt haben und dass wir ein gutes Ergebnis erzielt haben. Häme ist hier fehl am Platz. Angebracht ist im Grunde genommen Anerkennung für das,
was wir geleistet haben. Ich freue mich auf eine sachliche Beratung dieses Gesetzesvorhabens im Finanzausschuss.
Danke.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/6290 - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/5895 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen,
Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts
- Drucksache 17/5896 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({0}), Ingrid Hönlinger,
Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/4694 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 17/7069 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Dr. Stefan Ruppert
Wolfgang Wieland
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7070 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Carsten Schneider ({3})
Florian Toncar
Roland Claus
Priska Hinz ({4})
Es ist verabredet, hierzu eineinviertel Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Das ist dann so beschlossen.
Wir stimmen am Ende der Debatte namentlich ab.
Als Erstem gebe ich das Wort dem Kollegen
Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In zweiter und dritter Lesung beraten und beschließen wir heute die Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Das ist eine von einer
ganzen Reihe von Debatten, in denen wir uns intensiv
mit verschiedenen Lösungsansätzen auseinandergesetzt
haben. Ich glaube, dabei ist für alle, die die Debatten
verfolgt haben, deutlich geworden: Die Aufgabe, die uns
das Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nämlich die
Beseitigung des negativen Stimmgewichts, ist kompliziert und anspruchsvoll gewesen.
Durch den Gesetzentwurf der Koalition wird diese
Aufgabe, das negative Stimmgewicht in realistischen, lebensnahen Wahlszenarien zu beseitigen, gelöst. Exakt
das ist die Aufgabe gewesen, die uns das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung gestellt hat. Wir
stellen damit sicher, dass es künftig nicht mehr vorkommen kann, dass eine Stimme, die man einer Partei gibt,
sie im Ergebnis ein Mandat kostet. Es sollte in der Politik ohnehin die Regel sein, dass man erst einmal auf das
Problem schaut und dann die Lösung möglichst problemadäquat ansetzt. Daher frage ich: Wie entsteht negatives Stimmgewicht? Es entsteht durch die Verbindung - das ist die erste Hauptursache - von Landeslisten
über ein Wahlsystem bei gleichzeitiger - das ist die
zweite Hauptursache - Existenz von Überhangmandaten. Eine dieser beiden Ursachen - keineswegs beide muss nach der Aufgabenstellung des Verfassungsgerichts beseitigt werden.
Unserer Auffassung nach sollten wir möglichst behutsam eingreifen. Wir sollten unser bewährtes Wahlsystem
nicht sozusagen komplett wegkippen, sondern möglichst
minimalinvasiv vorgehen.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat - das haben viele
offenbar übersehen - ganz konkrete Vorschläge gemacht, wie man dieses Problem lösen kann. Einer dieser
konkreten Vorschläge war beispielsweise, ein Grabenwahlrecht einzuführen. Danach gäbe es keine Anrechnungen mehr zwischen den Direktmandaten, den Erststimmen, und den Zweitstimmen, den Listenmandaten.
Dadurch würde man das Phänomen der Überhangmandate komplett beseitigen, wie es wohl einige in diesem
Hause unbedingt wollen. Dann gäbe es auch keine negativen Stimmgewichte mehr.
Natürlich ist klar, dass gerade die Union bei ihrem
guten Abschneiden in Wahlkreisen wegen ihrer bürgernahen Politik
({1})
davon massiv profitieren würde. - Man muss sich nur
einmal eine Landkarte anschauen, aus der hervorgeht,
wer in welchen Wahlkreisen gewonnen hat. Das muss ja
irgendeinen Grund haben. - Trotzdem haben wir als
Union gerade das diesem Haus nicht vorgeschlagen,
weil wir diese Regelung nicht für fair im Sinne aller Parteien halten,
({2})
weil wir eine Reform wollen, mit der alle Parteien - kleine
und große Parteien, Parteien, die wenige Direktwahlkreise gewinnen, und solche, die viele Direktwahlkreise
gewinnen - gut leben können und weil wir eine Regelung schaffen wollen, mit der wir uns nicht dem Verdacht aussetzen, manipulativ wirken zu wollen.
Wir haben deswegen einen anderen, ebenfalls ausdrücklichen Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts
aufgegriffen, nämlich den Vorschlag des Zweiten Senats,
aus der Listenverbindung eine Listentrennung zu machen. Das ist ein minimalinvasiver, kleiner Eingriff ins
Wahlrecht, der im Kern darin besteht, einen einzigen
Satz aus dem Bundeswahlgesetz zu streichen.
Es ist in Ordnung, dass die Opposition in dieser Debatte immer wieder das Thema der Überhangmandate
anspricht. Es ist aber nicht in Ordnung, ein politisch verfolgtes Ziel, nämlich die Bekämpfung der Überhangmandate, zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht hochzustilisieren. Das entspricht nicht der Entscheidung des
Verfassungsgerichts.
({3})
Das ist ein Missbrauch dieser Entscheidung. Man geht
an dieser Stelle nicht fair mit dem Bundesverfassungsgericht um. Zumindest am Tag nach dem 60. Geburtstag
des Bundesverfassungsgerichts sollten Sie mehr Respekt
vor diesem Gericht haben.
({4})
Uns haben Sie diesen Respekt wegen einer Fristüberschreitung abgesprochen. Wir haben diese Kritik angenommen. Sie sollten von uns die Kritik annehmen, dass
Sie ein politisches Ziel verfolgen und es mit einer angeblich verfassungsgerichtlichen Aussage verbrämen. Das
ist nicht in Ordnung, meine Damen und Herren.
({5})
Das Verfassungsgericht hat zugleich gesagt, dass mit
dem Lösungsansatz einer Listentrennung ein Folgeproblem verbunden ist. Das Gericht hat das Folgeproblem
ausdrücklich benannt, nämlich die unberücksichtigt bleibenden Reststimmen. Das können Sie nachlesen auf
Seite 315 im 121. Band der amtlichen Entscheidungssammlung. Vielleicht schauen Sie sich das zumindest
nach der Debatte endlich einmal an.
({6})
Das Gericht hat auf dieses Problem hingewiesen. Wir
haben das Problem der Reststimmen gelöst, indem wir
gesagt haben: Die unberücksichtigt bleibenden Reststimmen in den einzelnen Bundesländern werden bundesweit
eingesammelt und können zu Zusatzmandaten addiert
werden.
Ich gebe zu, dass unser sehr einfaches Modell der
Trennung dadurch an dieser Stelle ein Stück weit komplizierter wird, wenn auch nicht so kompliziert wie bei
Ihren Vorschlägen. Dadurch wird die Regelung aber auf
jeden Fall fairer und gerechter.
({7})
Es kann natürlich sein, dass eine Partei in 16 Bundesländern knapp vor dem nächsten Mandat stehen bleibt.
Das wären dann wirklich proportionale Verschiebungen.
Wir haben dabei insbesondere die Sicht des Wählers in
kleinen Bundesländern eingenommen. Wenn dieser beispielsweise eine kleine Partei wählen will, könnte er sich
dem Vorwurf ausgesetzt sehen: Deine Stimme ist doch
ohnehin verschenkt. Faktisch gibt es eine Sperrwirkung
von 10 bis 15 Prozent wegen der geringen Zahl der Mandate.
({8})
Aus diesem Grunde solltest du deine Stimme nicht verschenken und eine andere Partei wählen.
Um auch dem Wähler in einem kleinen Bundesland
alle Optionen offenzuhalten, war die Reststimmenverwertung notwendig und sinnvoll. Sie mögen deswegen
polemisieren. Wir wissen jedoch, dass wir hierdurch
exakt einen Hinweis des Verfassungsgerichts aufgreifen.
({9})
Durch die Reststimmenverwertung stellen wir sicher,
dass es zu keinem neuen negativen Stimmgewicht
kommt, indem wir ausschließen, dass Zusatzmandate bei
einer Partei mit Überhangmandaten zusammentreffen
können. Gibt es Zusatzmandate für eine Partei, die Über15294
hangmandate hat, so werden diese Überhangmandate
mit Reststimmen unterlegt. Das heißt, im Ergebnis
kommt es bei unserem Vorschlag zu einer maßvollen Reduktion von Überhangmandaten.
Machen wir die Probe aufs Exempel: Nehmen wir
einmal unser Wahlrecht und wenden es auf die letzte
Bundestagswahl an. Dann lösen sich die Vorwürfe der
Unfairness sofort in nichts auf.
({10})
Unser Wahlrecht angenommen, hätte die Koalition im
Ergebnis in der Tat zwei Sitze mehr gehabt, die Opposition allerdings hätte vier Sitze mehr gehabt. Da soll noch
einer sagen, wir hätten ein Wahlrecht gemacht, das der
Koalition nutzt und der Opposition schadet! Das ist eine
abenteuerliche Behauptung.
({11})
Wir haben - und das unterscheidet uns von den drei
Oppositionsfraktionen - seit drei Jahren intensiv über
Lösungsansätze und Alternativen nachgedacht.
({12})
Wir sind nicht mit Tunnelblick auf eine einzige Lösung
zugesteuert, sondern haben uns verschiedene Optionen
angesehen.
({13})
Wir haben uns auch sehr intensiv die Vorschläge der
Opposition angeschaut. Ich komme zunächst kurz zu den
Grünen und den Linken. Sie schlagen ein Kompensationsmodell vor. Danach würden Überhangmandate in
einem Bundesland durch Listenmandatsabzug in anderen Bundesländern ausgeglichen.
({14})
Das führt zu erheblichen verfassungsrechtlichen und
verfassungspolitischen Kollateralschäden. Es führt zu einer erheblichen föderalen Ungleichheit, und es führt zu
einer doppelten Benachteiligung von Bundesländern.
Das gilt auch für mein eigenes Bundesland, NordrheinWestfalen, das in der Geschichte der Republik nie Überhangmandate gehabt hat - weil es dort relativ ausgewogen verschiedene Hochburgen und verschiedene Schwerpunkte in der politischen Zusammensetzung gibt -, das
hier aber doppelt bestraft würde, weil es zusätzlich als
Steinbruch für andere Bundesländer herhalten würde.
Ich rede hier nicht nur als Vertreter der Union, sondern
auch als Abgeordneter meines Bundeslandes NordrheinWestfalen; und aus dieser Sicht kann ich das nicht hinnehmen, was hier vorgeschlagen wird.
({15})
Diese Kannibalisierung von Landeslisten - und darum handelt es sich - würde zu einer wirklichen Einschränkung der Erfolgswertgleichheit zwischen den einzelnen Landeslisten führen. Das kann man anhand der
letzten Bundestagswahl ganz praktisch nachrechnen.
Nehmen wir das Wahlrecht, so wie Linke und Grüne es
hier vorschlagen,
({16})
und wenden es im Kern auf die Wahl 2009 an: Das hätte
geheißen, dass 327 000 CDU-Wähler in Brandenburg
von einem einzigen Abgeordneten in diesem Hause vertreten worden wären. Es hätte geheißen, dass 81 000
CDU-Wähler von keinem einzigen CDU-Abgeordneten
aus Bremen im Deutschen Bundestag repräsentiert würden.
({17})
Es hätte aber auch geheißen - man höre und staune -:
77 000 Grünen-Wähler in Brandenburg hätten ausgereicht, um ein Mandat zu bekommen. Dass Sie von den
Grünen das gut finden, kann ich mir gut vorstellen. Das
Wahlrecht ist aber kein Selbstbedienungsladen, auch
nicht für die grüne Partei.
({18})
Die Latte der Absurdität kann gar nicht hoch genug
liegen. Die Grünen legen noch einen drauf. Sie sagen:
Wenn diese Listenmandate zum Abzug nicht ausreichen
- das wäre auch bei der letzten Bundestagswahl der Fall
gewesen -, dann müssen auch gewählte Wahlkreisbewerber, die mit Mehrheit in einem Wahlkreis gewählt
worden sind, auf ihr Mandat verzichten und können ihr
Mandat nicht antreten. Ich kann nur sagen: Das ist abenteuerlich!
({19})
Das heißt: Es bleiben ganze Wahlkreise ohne Vertretung in diesem Hause. Das hat es in der Geschichte der
Republik noch nicht gegeben. Andererseits könnte es
dazu führen, dass der Sieger zwar nicht in den Bundestag einzieht, aber einer der Verlierer aufgrund eines Listenplatzes in den Bundestag kommt. Der Verlierer ist im
Bundestag, der Sieger bleibt draußen. Das ist eine Perversion von Demokratie, was Sie hier vorschlagen!
({20})
Bemerkenswert ist auch, dass die SPD - obwohl sie
selbst einen ganz anderen Vorschlag hat - dem zur Diskussion stehenden Vorschlag im Innenausschuss auch
noch zustimmt und somit zwei vollkommen gegenteilige
Voten in ein und derselben Ausschusssitzung abgibt. Ich
bin gespannt, ob das heute wiederum der Fall sein wird.
Der Vorschlag des Kompensationsmodells - das ist
richtig - mag vielleicht im Hinblick auf die Operation
„Beseitigung negatives Stimmgewicht“ geglückt sein;
aber der Patient Demokratie verstirbt dabei;
({21})
denn die Akzeptanz von Wahlen ist angesichts der geschilderten Forderungen nicht mehr gegeben. Das wäre
in der Tat der vielbemühte Sargnagel für unsere Demokratie.
Zu den Linken speziell brauche ich nicht mehr viel zu
sagen.
({22})
Angesichts sinkender Umfragewerte und schlechter
Landtagswahlergebnisse haben Sie nach fast 60 Jahren
schließlich doch noch einen Ratschlag Bertolt Brechts
beherzigt: Sie wollen sich - weil Sie mit dem bestehenden Wahlvolk offenbar nicht mehr zurechtkommen - ein
neues Wahlvolk schaffen.
({23})
Sie wollen ein umfassendes Ausländerwahlrecht, obwohl das gegen Art. 20 und Art. 38 des Grundgesetzes
verstößt. Sie wollen das Wahlalter senken. Die meiste
Tinte in Ihrem Entwurf haben Sie darauf verwandt, sicherzustellen, dass möglichst alle Schwerverbrecher
künftig Wahlrecht haben.
({24})
Jede Partei sucht ihre Zielgruppe selber. Sie haben Ihre
Zielgruppe klar benannt; das nehmen wir zur Kenntnis.
Die SPD hat auch noch einige kurze Bemerkungen
verdient. Ich habe bereits ihr widersprüchliches Abstimmungsverhalten dargestellt: Einerseits hat man einen eigenen Vorschlag, andererseits stimmt man dem komplett
gegenteiligen Vorschlag zu. Der Gesetzentwurf der SPD
ist übrigens der einzige, der keinen Hinweis aus Karlsruhe aufnimmt, der keine der dort aufgezeigten Optionen
in Anspruch nimmt, sondern sich ein ganz eigenes Modell zurechtzimmert, dabei aber nicht wirklich vertieft
nachdenkt. Ihre gesamte Gesetzesbegründung für dieses
ganz neue Modell umfasst exakt anderthalb Seiten und
erschöpft sich im Wesentlichen darin, auf das Gutachten
eines Wissenschaftlers zu verweisen. Eigene Gedanken
wären nicht schlecht gewesen; selber denken ist bei dem
Thema allemal gut.
Sie greifen in der Tat keines der Modelle auf, die in
der Entscheidung aus Karlsruhe genannt wurden. Ihr
Modell löst nämlich das Problem des negativen Stimmgewichtes nicht; es kommt zu keiner merklichen Reduktion des negativen Stimmgewichts. Nach Ihrem Modell
bleibt es dabei: Eine Stimme weniger für eine Partei
kann ein Mandat mehr für diese Partei bedeuten. Genau
das wollte Karlsruhe unterbinden. Die Aufgabe, die uns
und auch Ihnen gestellt wurde, ist nicht, das negative
Stimmgewicht auszugleichen, sondern es abzuschaffen,
es zu beseitigen; diese Aufgabe gehen Sie gar nicht an.
Zusätzlich würde Ihr Vorschlag zu einem Aufblähen des
Bundestages führen. Wir würden nach Ihrem Vorschlag
im zweiten Schritt die Zahl der Wahlkreise reduzieren;
weniger Bürgernähe wäre die Folge.
Meine Damen und Herren, letzter Gedanke: Ich hätte
in der Tat gern eine konsensorientierte Lösung gehabt.
Die Opposition hat sich den Konsensangeboten verweigert.
({25})
Wir haben Angebote gemacht, beispielsweise hinsichtlich einer maßvollen Reduktion der Zahl der Überhangmandate. Die entsprechenden Gespräche wurden nicht
ergebnisorientiert geführt. Ich habe gerade bei den Kollegen von der SPD den Eindruck, dass das massive Eintreten gegen Überhangmandate etwas Resignatives hat.
Herr Kollege.
Sie haben davon profitiert: Es gab einen Kanzler
Schröder, der 2001 nach einer Vertrauensfrage nur deshalb weiterregieren konnte, weil es Überhangmandate
gab.
Herr Kollege.
Offenbar haben Sie sich daran nicht mehr erinnert.
({0})
Ich komme gerne zum Schluss.
Sie sind schon am Schluss gewesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legen
Ihnen einen verfassungskonformen Gesetzentwurf vor,
der das negative Stimmgewicht beseitigt. Ich bitte um
Zustimmung, damit wir ein klares und verfassungskonformes Wahlrecht für Deutschland erhalten.
Vielen Dank.
({0})
Thomas Oppermann hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit drei Jahren wissen wir, dass unser Wahlrecht verfassungswidrig ist. Mehr als drei Monate nach
Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht großzügig
bemessenen Frist legen Sie uns jetzt einen Gesetzentwurf vor, über den wir heute abstimmen sollen. Sie haben sich viel Zeit genommen. Sie haben es sogar so weit
getrieben, dass sich der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes öffentlich zu Wort gemeldet und kundgetan hat: Wenn es die Koalition in Berlin nicht schaffe,
ein verfassungskonformes Wahlrecht zu verabschieden,
dann werde das Bundesverfassungsgericht dies notfalls
selber machen. - Das ist die Antwort auf eine beispiellose Respektlosigkeit gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, die Sie sich haben zuschulden kommen
lassen.
({0})
Wenn Sie jetzt wenigstens einen Entwurf vorgelegt
hätten, der die Probleme löst, dann hätten wir sagen können: „Okay, das war eine Respektlosigkeit“; wir hätten
uns auf eine Rüge und auf den Hinweis beschränken
können, dass Sie mit der Frist sehr leichtfertig umgegangen sind.
({1})
Sie haben aber nichts gelöst. Sie haben einen Entwurf
vorgelegt, der nicht nur zu spät kommt, sondern auch
handwerklich schlecht ist, das negative Stimmgewicht
nicht beseitigt und die gleichheitswidrigen Überhangmandate nicht neutralisiert.
({2})
Das ist ein Entwurf, der kein einziges Problem löst und
mit dem wir uns ganz sicher in Karlsruhe wiedersehen.
({3})
Sie füllen den rechtsfreien Raum, den Sie durch ein monatelang nicht anwendbares Wahlrecht haben entstehen
lassen, jetzt mit neuen verfassungswidrigen Regeln aus.
Das werden wir im Einzelnen aufzeigen.
({4})
Zum negativen Stimmgewicht. Das negative Stimmgewicht ist hinreichend beschrieben worden. Es muss
abgeschafft werden, damit die Wähler bei Abgabe einer
Stimme für ihre Partei damit rechnen können, dass die
Stimmabgabe ihrer Partei nützt und nicht schadet.
({5})
Jetzt, Herr Krings, will ich Ihnen an zwei Beispielen aufzeigen, wie sich das Wahlrecht, das Sie uns heute zur
Abstimmung vorlegen, bei der letzten Bundestagswahl
ausgewirkt hätte.
Wir nehmen einmal das Beispiel Hamburg. Sie wollen jetzt die Zahl der Mandate anhand der landesweiten
Wahlbeteiligung berechnen. Wenn bei der letzten Bundestagswahl 10 000 zusätzliche Wählerinnen und Wähler in Hamburg die CDU gewählt hätten, dann hätte
Hamburg insgesamt ein Mandat mehr bekommen. Dieses Mandat wäre in Nordrhein-Westfalen verloren gegangen, weil die Wahlbeteiligung in Hamburg entsprechend höher gewesen wäre. In Nordrhein-Westfalen
hätte die CDU das Mandat verloren, und in Hamburg
hätte es die SPD zulasten der CDU gewonnen.
({6})
Die 10 000 zusätzlichen Wählerinnen und Wähler der
CDU sorgen also dafür, dass die SPD ein Mandat gewinnt und die CDU ein Mandat verliert.
({7})
Sie führen das negative Stimmgewicht in einem Umfang
ein, wie wir das bisher nicht kannten.
Ein zweites Beispiel. Die Piratenpartei in Berlin bekam bei der letzten Bundestagswahl 58 000 Stimmen.
Diese 58 000 Stimmen hätten nach Ihrem Wahlrecht
dazu beigetragen, dass Berlin ein Mandat mehr bekommen hätte. Dieses Mandat wäre natürlich nicht den Piraten zugutegekommen - sie sind an der 5-Prozent-Klausel
gescheitert; man muss sagen: damals noch -, sondern
den Grünen.
({8})
Was würden Sie den Wählerinnen und Wählern der Piratenpartei sagen, wenn Sie ihnen erklären müssten, dass
ihre Stimmabgabe für diese Partei ein Mandat für die
Grünen zur Folge hätte? Das kann kein Mensch erklären,
Herr Krings.
({9})
In Ihrem Entwurf übersehen Sie den entscheidenden
Punkt, auf den es beim Wahlrecht ankommt: Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich bei ihrer Stimmenabgabe
darauf verlassen können, dass sie der Partei nützt, der sie
ihre Stimme geben. Genau das ist in Ihrem Entwurf nicht
der Fall.
({10})
Wahlrecht ist nicht irgendein Recht. Wahlrecht ist Demokratierecht. In unserer Verfassung geht die Staatsgewalt vom Volke aus. Das Wahlrecht ist das Verfahren
und das Recht der Bürgerinnen und Bürger, mit dem sie
ihre Staatsgewalt auf das repräsentative Parlament übertragen. Deshalb muss dieses Verfahren fehlerfrei sein,
und es darf nicht manipulierbar sein. Deshalb sagen wir:
Ihr Wahlrecht ist nicht geeignet, zuverlässig die Mehrheiten im Parlament so abzubilden, dass es der Entscheidung der Wähler entspricht.
Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Überhangmandate. Es wird immer wieder behauptet, das Bundesverfassungsgericht habe die Überhangmandate verfassungsrechtlich nicht infrage gestellt.
({11})
Das ist nicht richtig. Bei der Vier-zu-vier-Entscheidung
waren vier Richter der Meinung, dass Überhangmandate
verfassungswidrig sind. Die anderen vier Richter waren
anderer Meinung. Wir sind der Meinung, dass die Frage
der Überhangmandate jetzt ein für allemal geklärt werden muss.
({12})
Überhangmandate sind nach meiner Auffassung verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar.
({13})
Das weiß auch die CDU; jedenfalls hat sie das einmal
gewusst.
({14})
In einem Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht
hat Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender - damals war er,
glaube ich, Parlamentarischer Geschäftsführer - Volker
Kauder ausgeführt: Überhangmandate sind rechtlich bedenklich und aus demokratischer Sicht nicht wünschenswert.
({15})
Lieber Herr Kauder - er ist gerade nicht da -, was damals richtig war, ist heute nicht falsch. Im Gegenteil: Es
ist noch richtiger geworden; denn wir müssen damit
rechnen, dass es noch sehr viel mehr Überhangmandate
geben wird. In einem Parteiensystem mit fünf bis sieben
Parteien müssen wir mit noch mehr Überhangmandaten
rechnen. Bei der letzten Bundestagswahl hatten wir
24 Überhangmandate; das ist ein Rekord. Das sind schon
4 Prozent der gesetzlichen Mitglieder des Deutschen
Bundestages. Das führt dazu, dass die verfassungsrechtlichen Probleme unseres Wahlrechtes noch größer werden. Also: Das, was Herr Kauder 2005 gesagt hat, ist
heute aktueller denn je.
Damals waren Sie gegen Überhangmandate, heute
sind Sie dafür. Warum dieser Meinungswandel? Das
liegt auf der Hand: Die Umfrageergebnisse sind katastrophal. Sie wollen sich mithilfe von Überhangmandaten an die Macht klammern. Angesichts der schrumpfenden Umfrageergebnisse hoffen Sie auf Überhangmandate als letzten Strohhalm, mit dem Sie sich über Wasser
halten. Das ist doch der einzige Punkt.
({16})
Sie missbrauchen das Wahlrecht als Machtrecht. Es
ist klar, welches Motiv die CDU hat. Unklar ist mir nach
wie vor, warum die FDP da mitmacht.
({17})
Die FDP hat noch nie ein Überhangmandat bekommen;
denn kleine Parteien haben keine Chance auf Überhangmandate. Also haben Sie sich über die sogenannte Reststimmenverwertung einkaufen lassen. Ich muss sagen:
Wer sich mit so etwas abspeisen lässt, hat im Grunde genommen schon kapituliert.
({18})
Die Reststimmenverwertung ist die schrägste Innovation, von der ich jemals im Rahmen eines Gesetzgebungsprozesses gehört habe.
({19})
Der Kollege Volker Beck hat beim letzten Mal aus dem
Gesetzentwurf vorgelesen. Ich will das nicht wiederholen,
({20})
aber doch Folgendes sagen: Wer den Text liest, muss
sich die Frage stellen, ob derjenige, der das verfasst hat,
noch ganz bei Verstand ist. Dadurch würde Bürokratie
vom Feinsten entstehen. Ziel dabei war, durch die Reform des Wahlrechts auch der FDP einen kleinen Vorteil
zu verschaffen. Sie haben an dem Wahlrecht so lange herumgefummelt, bis ein Interessenausgleich zwischen
den beiden Koalitionsfraktionen zustande gekommen ist.
Das ist für die Verfassung leider zu wenig.
Ich will noch einmal ganz kurz darlegen, warum wir
Überhangmandate für verfassungswidrig halten, wenn
ich das darf, Frau Präsidentin. Ich nehme zusätzliche Redezeit in Anspruch.
Das kommt darauf an, wie lange das dauert.
Ich habe mich mit meiner Kollegin verständigt.
Alles klar. Das klären Sie in Ihrer Fraktion.
Überhangmandate sind verfassungswidrig, weil sie
den Wählern ein doppeltes Stimmgewicht geben, die
durch Stimmensplitting dafür sorgen, dass nicht nur der
direkt gewählte, sondern auch ein weiterer Kandidat in
den Bundestag kommt. Das ist mit dem großen Versprechen der Demokratie aber nicht vereinbar. Dieses große
Versprechen der Demokratie ist: gleiches Wahlrecht für
alle und gleiches Stimmgewicht. Damit ist ein doppeltes
Stimmgewicht nicht vereinbar.
({0})
Der zweite Punkt ist: Überhangmandate führen zu einer regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Die
CDU hat in Baden-Württemberg bei der letzten Bundestagswahl zehn Überhangmandate gewonnen.
({1})
Allein durch die Überhangmandate hat Baden-Württemberg ein zusätzliches politisches Gewicht im Deutschen
Bundestag erhalten, das dem ganzen politischen Gewicht der Hansestadt Hamburg entspricht, die über
13 Mandate verfügt.
({2})
Drittens. Überhangmandate verletzen die Chancengleichheit der politischen Parteien. Die SPD braucht für
ein Mandat 68 500 Stimmen, die CSU 62 000 Stimmen
und die CDU 61 000 Stimmen. Ein Wahlrecht, das so
unterschiedliche Voraussetzungen für die Gewinnung eines Mandates vorsieht, ist kein faires Wahlrecht.
Viertens und letztens. Überhangmandate können die
Mehrheit im Deutschen Bundestag umdrehen. Maßgebend für die Zusammensetzung des Parlaments sind die
Zweitstimmen; das hat auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont. Bei einer großen Zahl von Überhangmandaten kann es jetzt dazu kommen, dass die Parteien, die eine Mehrheit der Stimmen erhalten haben,
nicht die Mehrheit der Mandate haben. Das wäre unerträglich. Das würde uns in eine Verfassungs- und Staatskrise führen. Deshalb sage ich: Sie ignorieren das Bundesverfassungsgericht. Sie benutzen das Wahlrecht zum
eigenen Machterhalt.
({3})
Die Stimme eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin muss gleich viel wert sein. Damit das durchgesetzt
wird, werden wir vor dem Bundesverfassungsgericht
klagen. Wir hoffen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht ein gleiches Wahlrecht durchsetzt.
Vielen Dank.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vielleicht geht es auch ein wenig sachlicher und
ein wenig stärker orientiert an den Aufgaben, die uns das
Bundesverfassungsgericht gegeben hat.
({0})
Lassen Sie mich eine allgemeine Vorbemerkung machen: Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland
hat sich bewährt. Es hat in diesem Land für politische
Stabilität gesorgt. Es hat die Extreme durch Verfahren
zur Mitte hin integriert. Es hat dafür gesorgt, dass personale Elemente genauso eine Rolle spielen wie der Ausgleich, der in Koalitionen notwendig ist. Diese politische
Stabilität, die über 60 Jahre gewährt hat, ist ein hohes
Gut. Auch bei einer Wahlrechtsreform sollte sie bewahrt
werden. Auch das war und ist das Ziel unseres Gesetzentwurfs.
({1})
Das darf man nicht so leichtfertig über Bord werfen.
Insofern will ich mich am Bundesverfassungsgericht
orientieren. Es war schon bemerkenswert, dass Kollege
Oppermann zu seinem eigenen Gesetzesvorschlag kein
einziges Wort gesagt hat.
({2})
Das hat auch einen Grund. Sowohl die Mathematiker,
die Sie beauftragt haben, als auch der Wissenschaftliche
Dienst des Bundestages als auch das Bundesinnenministerium kommen zu dem Ergebnis, dass heute leider nur
die Grünen, die Linken, CDU/CSU und FDP überhaupt
einen Vorschlag gemacht haben, der politisch satisfaktionsfähig und verfassungsrechtlich in Bezug auf das negative Stimmgewicht in Ordnung ist.
({3})
Wer, bevor er selbst eine politische Idee, einen Gesetzesentwurf in den Raum stellt, schon sagt, dass er nach
Karlsruhe gehen wird, hat meiner Meinung nach von seinem eigenen politischen Selbstverständnis viel an das
Bundesverfassungsgericht delegiert.
({4})
Leider ist damit eine Fraktion aus der politischen Debatte vollkommen ausgeschieden.
Jetzt kommen wir zu Linken und Grünen. Sie haben
in der Tat jeweils einen Vorschlag gemacht, der dieses
Problem vollständig löst. Sie haben das negative Stimmgewicht beseitigt,
({5})
Sie sorgen aber in der Folge Ihrer Lösung dafür, dass der
Erfolgswert der Stimmen massiv ungleich wird. Kollege
Krings hat das schon ausgeführt; ich möchte das nicht
wiederholen. Sie brauchen in Zukunft in Brandenburg
sechsmal so viele Stimmen für ein Mandat wie in BadenWürttemberg. Sie verwüsten ganze Landesverbände.
({6})
Das ist ein Kollateralschaden Ihres Modells, der nicht zu
rechtfertigen ist.
({7})
Dass Sie nicht rot werden, wenn Sie in einer Zeit, in der
wir sowieso die Schwierigkeit haben, Politik zu vermitteln, direkt gewählten Abgeordneten einfach ihr Mandat
aberkennen wollen, das wundert mich.
({8})
Jetzt komme ich zu unserem Gesetzentwurf, damit ich
nicht in die Falle des Kollegen Oppermann tappe und
nur über die Kollegen rede, anstatt die eigenen Vorschläge zu würdigen.
({9})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Kern drei
Möglichkeiten gelassen, das Problem zu lösen. Es hat
gesagt - ich zitiere Randnummer 142 des Urteils -, dass
eine Neuregelung sowohl beim Entstehen der Überhangmandate
- das war Ihre Vorstellung; allerdings haben Sie es nicht
verfassungskonform gemacht oder bei der Verrechnung von Direktmandaten …
- das sind die Modelle der Linken und der Grünen oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzt.
Genau diesen Weg sind wir gegangen. Wir haben - ich
will nicht sagen sklavisch - in Eins-zu-eins-Subsumtion
aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen der
vorgeschlagenen Wege gewählt. Das Problem besteht
bei verbundenen Listen, also trennen wir sie. So sind wir
vorgegangen und lösen damit das Problem des negativen
Stimmgewichts.
({10})
Unsere Nähe zum Verfassungsgericht geht sogar noch
einen Schritt weiter. Denn das, was Herr Oppermann den
größten Murks in der Geschichte der Gesetzgebung genannt hat,
({11})
ist ein Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts. Ich
finde, Sie sind da etwas argwöhnisch gegenüber unserem höchsten Gericht.
({12})
Ich zitiere:
Ein Verzicht auf Listenverbindungen nach § 7
BWG würde … dazu führen, dass Parteien, die in
mehreren Ländern antreten,
- also alle bis auf die CSU die in den Ländern anfallenden Reststimmen nicht
nutzen könnten.
Hier wird folgendes Problem aufgeworfen: Bei 16 getrennten Wahlgebieten ergeben sich 16-mal Reststimmen für alle Parteien, groß oder klein, und durch Rundungen entsteht ein Verlust von abgegebenen Stimmen,
sodass es möglich ist, dass eine Partei, die deutlich über
10 Prozent der Stimmen in einem Bundesland bekommen hat, trotzdem gesagt bekommen kann: Die Wahl
dieser Partei, Linke, Grüne, FDP - wir werden hoffentlich bei über 10 Prozent liegen -,
({13})
war zwecklos, weil sie zwar über 5 Prozent, sogar über
10 Prozent der Stimmen erhalten hat, diese aber schlicht
verfallen. Also: Auch auf der zweiten Stufe sind wir den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts strikt gefolgt.
Wir haben gesagt: Wir müssen auch noch das hier aufgeworfene Problem des Reststimmenverlusts lösen.
({14})
Das, was Sie als größten Murks bezeichnen, war eine
Vorgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts.
Dieser Vorgabe haben wir entsprochen.
({15})
Am Ende bleibt festzuhalten, dass viele im Raum stehende Modelle abgewogen worden sind. Ein Modell ist
offensichtlich ausgeschieden. Schließlich blieben drei
Modelle - eines von den Linken, den Grünen und der
Koalition - übrig. Wir sehen die Vorteile Ihrer Modelle.
Aber wir beurteilen die Nachteile als wesentlich gravierender als den Erfolg, der mit Ihren Modellen erzielt
wird.
Insofern: Wir haben eine sorgfältige Abwägung aller
Pro- und Kontraargumente vorgenommen. Mit Blick auf
das Bundesverfassungsgericht sage ich: Ich freue mich,
wenn Sie klagen. Wir können uns dort nämlich mit unserer politischen Entscheidung, die auf unserer Abwägung
von Pro und Kontra basiert, sehr gut sehen lassen. Am
Ende wird das Wahlgesetz schließlich in diesem Raum
beschlossen und nicht in Karlsruhe.
({16})
Dafür sollten wir nach unserem Selbstverständnis auch
sorgen.
Sollten Sie weitere Fragen haben,
({17})
wenden Sie sich an das Geburtstagskind des heutigen
Tages, an Herrn van Essen, dem ich von dieser Stelle aus
herzlich gratuliere. Er wird Sie in weiteren vier Minuten
Redezeit Ihrer Restzweifel berauben.
({18})
Dann können Sie alle zustimmen. Ich freue mich darauf.
Vielen Dank.
({19})
Die Kollegin Wawzyniak hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir versuchen heute, einen verfassungswidrigen
Zustand zu beenden. Ich prophezeie Ihnen: Wenn der
Gesetzentwurf der Koalition angenommen wird, wird
dieser Versuch misslingen.
({0})
Alle Parteien haben versucht, das Problem des negativen
Stimmgewichts zu lösen, und haben dazu Vorschläge unterbreitet. Es gibt aber nur eine Partei, die eine grundlegende Reform vorgeschlagen hat. Das ist die Linke.
({1})
Wir haben hier den Vorwurf der Überfrachtung gehört. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn wir schon über
das Wahlrecht reden,
({2})
dann sollten wir auch weitere Aspekte, die beim Wahlrecht zur Reformierung anstehen, aufgreifen.
({3})
In der Anhörung im Innenausschuss ist uns gesagt
worden, unser Vorschlag sei ein Systemänderungsentwurf. Ja, wir sind stolz darauf. Wenn mehr Demokratie
Systemveränderung ist, dann schlagen wir Systemveränderung vor.
({4})
Eines ärgert mich allerdings sehr. Alle Parteien haben
zur Kenntnis genommen, dass es folgendes Problem
gibt: Eine Partei, die für den Bundestag kandidieren will,
vom Bundeswahlausschuss aber nicht zugelassen wird,
hat keine Klagemöglichkeit. Wir haben vorgeschlagen,
in § 28 des Bundeswahlgesetzes - wir nennen ihn den
Sonneborn-Paragrafen - eine entsprechende Regelung
zu treffen. Martin Sonneborn ist Vorsitzender der Partei
Die Partei. Diese Partei ist zur letzten Bundestagswahl
nicht zugelassen worden und hatte keine Chance, die Zulassung einzuklagen.
({5})
Ich finde, das ist ein Skandal. Dieses Problem müssen
wir lösen.
({6})
Sie alle haben gesagt, dass dies ein Problem ist, das es zu
lösen gilt. Warum greifen Sie dann nicht unseren SonnebornParagrafen auf? Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht.
Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen - im Innenausschuss haben wir ja eine Anhörung durchgeführt -:
Ein Problem im Zusammenhang mit dem Wahlrecht
greift keine Partei und keine Fraktion auf - das finde ich
persönlich außerordentlich bedauerlich -, nämlich das
sogenannte Zweistimmenwahlrecht. Das Zweistimmenwahlrecht führt zu Überhangmandaten, zu doppelten Erfolgswerten und doppelten Stimmgewichten. Ich würde
mir wünschen, dass wir über das Zweistimmenwahlrecht
noch einmal in Ruhe reden.
Was beschließen wir heute? Die Koalition möchte die
Verbindung der Landeslisten der Parteien auflösen.
({7})
Die Sitzkontingente der einzelnen Bundesländer richten
sich dann nach der Anzahl der Wähler, die Verteilung
der Sitze innerhalb des Bundeslandes richtet sich nach
den Zweitstimmen, und die errungenen Direktmandate
werden mit Listenmandaten allein auf der Landesebene
verrechnet.
In unserer Anhörung hat Herr Professor Strohmeier
zu Recht darauf hingewiesen, dass wir 16 abgetrennte
Wahlgebiete bzw. 16 Mehrpersonenwahlkreise schaffen.
Was ist die Folge? Eine separate Sitzzuteilung für die
einzelnen Bundesländer, keine Verrechnung mit Mandaten aus anderen Bundesländern und damit Aufhebung
des unitaristischen Charakters der Wahl. Das ist der zentrale Vorwurf.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Anhörung eingehen. Herr Professor Meyer hat das Problem
aufgeworfen, dass die Ungültig-Wähler, also diejenigen,
die nur die Erststimme abgeben, und diejenigen, deren
Partei unter 5 Prozent bleibt - auf www.wahlrecht.de
heißt es im Übrigen, diese Gruppe mache einen Anteil
von 23 Prozent aus -, bei der Berechnung der Mandate,
die einem Land zufallen, berücksichtigt werden. Diese
Mandate fallen aber Parteien zu, die diese Wähler nie im
Leben wählen wollten. Ich finde, ehrlich gesagt, dass das
ein Skandal ist.
({9})
Ich komme jetzt zu einem weiteren Vorwurf aus der
Anhörung. Frau Professor Sacksofsky hat gesagt, dem
Gesetzentwurf fehle es an Folgerichtigkeit. Sie hat recht.
Sie teilen in 16 Wahlgebiete ein und stellen dann auf einmal fest: Es gibt ein Problem. - Bei der Berechnung der
Fünfprozenthürde, die wir übrigens abschaffen wollen,
({10})
und bei der Reststimmenverwertung betrachten Sie nämlich auf einmal wieder ein Bundeswahlgebiet. Das ist
doch in sich unlogisch und versteht keiner.
Im Übrigen schaffen Sie mit diesem Gesetzentwurf
- Herr Ruppert hat schon darauf hingewiesen - ungleiche Wahlkreise, weil die Wahlkreise unterschiedlich
groß sind, und die faktische Sperrklausel von 5 Prozent
wird deutlich erhöht. Ich mache Ihnen das an einem Beispiel klar: Nach dem Vorschlag der Koalition benötigt
man nach dem letzten Bundestagswahlergebnis in Bremen für einen Sitz 14 Prozent. Ähnlich trifft dies auch
auf das Saarland zu. Bislang hat man, warum auch immer, FDP gewählt, auch wenn es in Bremen nicht für die
FDP gereicht hat,
({11})
aber die Zweitstimmen waren ja für die Bundesebene
wichtig.
Die Frage, ob man die FDP wählen soll, stellt sich eh,
aber warum soll man jetzt in Bremen die FDP wählen?
Man muss nämlich feststellen, dass das Stimmergebnis
der FDP in Bremen verdoppelt werden müsste, um ein
zweites Mandat zu erhalten. Das trifft analog auch auf
Parteien wie die Grünen und die Linke zu. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn es nur Abgeordnete von CDU
und SPD aus Bremen und dem Saarland gibt, hilft das
weder Bremen noch dem Saarland noch der Demokratie.
({12})
Die FDP hat gesagt: Wir haben eine Lösung dafür. Wenn ich die Sitzung des Innenausschusses richtig in
Erinnerung und es richtig verstanden habe, dann ist die
Änderung auf einen Vorschlag des Kollegen Ruppert
zurückzuführen. Es ist ein Vorschlag zum Reststimmenausgleich. Der ist aber auch in sich unlogisch. Ich mache
Ihnen das wieder an einem Beispiel deutlich: Angenommen, in Berlin benötigt man für einen Sitz 20 000 Stimmen. Die Linke erreicht 89 000 Stimmen. Das ergibt vier
Mandate, und sie hat darüber hinaus 9 000 Stimmen über
den Durst. Diese positive Abweichung gibt es auch noch
in anderen Bundesländern. Die Zahlen werden addiert.
Man kommt zum Beispiel auf 45 000 Stimmen. Dies
wird dann durch die Zahl dividiert, die man auf Bundesebene braucht, um einen Sitz zu bekommen - sagen wir
mal: 21 000 Stimmen. Das ergibt eine Quote von 2,14,
also zwei Sitze mehr.
Falls ich das falsch verstanden habe, dann kann Herr
van Essen mich ja aufklären. Ich habe Ihren Entwurf so
verstanden, dass diese zwei Sitze gerade nicht auf die
Länder aufgeteilt werden, die den höchsten Differenzwert haben, sondern zunächst auf die Länder, in denen es
Überhangmandate gibt. Das ist aus meiner Sicht absurd.
({13})
Am Ende muss man in Richtung Koalition feststellen:
Sie beseitigen das negative Stimmgewicht nicht vollständig.
Herr Krings, Sie haben im Innenausschuss eine Berechnung des Bundesministeriums des Innern vorgelegt.
Ich muss Ihnen sagen: Das war ein bisschen unseriös,
weil eine Stellungnahme zu unserem Gesetzentwurf,
zum Gesetzentwurf der Linken, fehlte. Wir haben das
nachgeholt, indem wir angerufen und die Antwort bekommen haben: Was soll man da berechnen, bei Ihnen
gibt es doch gar kein negatives Stimmgewicht. - Das
hätten Sie schon hinzufügen können. Was erwarte ich
aber auch von jemandem, der den Begriff „Folgeänderung“ in Bezug auf Gesetze wohl noch nie gehört hat!
Im Übrigen verweise ich an dieser Stelle auch noch
einmal auf die Seite wahlrecht.de. Dort wurde das unter
Berücksichtigung von Nichtwählerinnen und Nichtwählern und von Personen, die ungültig gewählt haben,
nachgerechnet, und man kommt bei Ihrem Gesetzentwurf auf ein negatives Stimmgewicht von 8,3.
({14})
Was bleibt am Ende? Der Koalitionsentwurf hat wegen der Reststimmenverwertung, wegen der Festlegung
der Sitzkontingente der Länder nach der Wahlbeteiligung und wegen des Heraufsetzens der faktischen Sperre
für die Erreichung eines Mandates in einzelnen Ländern
erhebliche verfassungsrechtliche Probleme. Ich kann nur
sagen: Karlsruhe bekommt Arbeit.
Im Ergebnis ist festzustellen: Im Hinblick auf ein
transparentes Wahlgesetz ist Ihr Gesetzentwurf ein
Schuss in den Ofen. Mathematikerinnen und Mathematiker wissen vielleicht noch, was mit ihrer Stimme passiert, die Wählerinnen und Wähler nicht mehr. Damit tun
Sie der Demokratie keinen Gefallen.
({15})
Ich will zum Schluss noch kurz auf den Gesetzentwurf der Linken eingehen.
({16})
Man muss zunächst zur Kenntnis nehmen, dass alle
Sachverständigen den Vorschlag der Linken für diskussionswürdig hielten.
({17})
Nun kann ich verstehen, dass die Koalition mit unseren
weiter gehenden Vorschlägen Probleme hat. Davon rede
ich jetzt gar nicht. Aber dass Grüne und SPD den Gesetzentwurf der Linken wegen Überfrachtung ablehnen,
ist mir unverständlich.
({18})
- Herr Wieland, da können Sie sagen, was Sie wollen.
Ich halte einfach fest: Sie haben ein Problem mit der
Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, und Sie haben ein
Problem mit der Übertragung des Wahlrechts auf Menschen, die hier länger leben. Das ist für mich unverständlich.
({19})
Ich sage Ihnen: Es gibt keinen Grund, dem Gesetzentwurf der Linken nicht zuzustimmen, es sei denn, man hat
ideologische Probleme mit der Demokratie.
({20})
In der Anhörung haben die Experten die Beteiligten
gebeten, aus vier Gesetzentwürfen einen zu machen. Ich
finde es ausgesprochen schade, dass dieser Aufforderung
der Sachverständigen nicht nachgekommen wurde. Mir
bleibt am Ende festzustellen: Hier zeigt sich die Arroganz der Macht der Koalition. Und das führt unweigerlich nach Karlsruhe.
({21})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Wahlrecht soll den Willen der Wähler grundsätzlich eins
zu eins in Mehrheitsverhältnissen im Parlament abbilden und nichts anderes. Es darf ihn nicht durch Tricks verfälschen und in sein Gegenteil verkehren. Diesem Anspruch wird der Koalitionsgesetzentwurf ausdrücklich
nicht gerecht.
({0})
Sie waren zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zu Gesprächen über die Fraktionsgrenzen hinweg bereit, um zu einer verfassungsgemäßen Beantwortung der vom Bundesverfassungsgericht gestellten Fragen zu kommen.
Das hat einen Grund. Sie wollen sich mit diesem Gesetz
die Chance eröffnen, sich ohne Mehrheit beim Volk eine
Mehrheit im Parlament zu ergaunern. Um nichts anderes
geht es bei Ihrem Gesetzesvorschlag.
({1})
Das ist ein Anschlag auf die parlamentarische Demokratie.
({2})
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Dagegen
wird unsere Partei eine Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben. Gemeinsam mit den Abgeordneten der SPD werden wir eine Normenkontrollklage in
Karlsruhe einreichen.
({3})
Dann wird sich zeigen, dass Sie die vier Aufgaben, die
uns das Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nicht erfüllt haben. Ihr Gesetzentwurf kommt zu spät. Er ist verfassungswidrig. Und er ist ein politisches Bubenstück.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben,
dass bis zum 13. Juni 2011 ein Gesetzentwurf im Bundesgesetzblatt stehen soll. Das haben Sie nicht geschafft.
Sie sind vor der Sommerpause mit etwas völlig Ungeeignetem angedackelt gekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, das negative Stimmgewicht
zu beseitigen, soweit hierdurch ermöglicht wird, „dass
ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen
zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen
kann.“
Wenn man so rechnet wie Sie, dass sich im Wahlverhalten überhaupt nur eines ändern kann - dass man statt
der Partei A die Partei B wählt -, dann sieht Ihr Gesetzentwurf in Bezug auf das negative Stimmgewicht zwar
nicht perfekt, aber nicht so schlecht aus. Es bleibt etwas
übrig. Wenn man es aber - anders als nach den manipulativen Berechnungen des Bundesinnenministeriums für möglich hält,
({5})
dass ein Wähler die Partei A oder stattdessen gar nicht
oder ungültig wählt,
Volker Beck ({6})
({7})
dann sieht Ihr Gesetzentwurf in Bezug auf das negative
Stimmgewicht schlechter aus als der der Sozialdemokraten, die im Verlauf ein Problem mit dem negativen
Stimmgewicht haben. Das gilt allerdings nur bei der Verteilung der Sitze zwischen den Landeslisten, aber nicht
beim Endergebnis. Dieser Gesetzentwurf erfüllt wie der
unsrige die Forderung, dass nachher nur der Wählerwille
im Parlament repräsentiert wird.
({8})
Unser Gesetzentwurf aber hat den Vorteil, dass es null
Komma null negatives Stimmgewicht gibt. Diesen Vorteil hat Ihr Entwurf auf jeden Fall nicht. Sie können das
bei wahlrecht.de nachlesen: Wir haben mit allen Methoden und Möglichkeiten gerechnet - und nicht nur mit
dem, was ins Bild passt, wie es im Rahmen der Auftragsarbeit des Bundesinnenministeriums der Fall ist.
({9})
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber
für die Umsetzung Zeit gegeben, weil es gewollt hat,
dass „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbare
Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im
Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und
verständliche Grundlage gestellt wird“. An dieser Aufgabe sind Sie gründlich gescheitert. Ich will den Text
nicht vorlesen, weil mir die Zeit fehlt, obwohl es dabei
immer ein großes Hallo gibt.
Gut zusammengefasst hat das Professor Meyer in seiner Stellungnahme für die Anhörung des Innenausschusses:
Der Entwurf wird dem Auftrag, ein dem Wähler
verständliches Wahlrecht zu formulieren, nicht nur
nicht gerecht, sondern er hat geradezu den Ehrgeiz,
dieses vom Verfassungsgericht gesetzte Ziel … zu
vermeiden.
Wie wahr! Wie wahr!
({10})
Ich komme zum Schluss. Hinsichtlich der Überhangmandatsproblematik behaupten Sie immer, das sei kein
Auftrag des Gerichts.
({11})
Am 25. Februar 2009 hatte das Gericht erklärt, dass es
davon ausgeht, „dass sich die vom Beschwerdeführer
aufgeworfene Frage der Verfassungswidrigkeit von
Überhangmandaten nach einer Neuregelung nicht mehr
in der gleichen Weise stellen wird“.
({12})
Wir haben den Auftrag, daran etwas zu ändern.
Schauen Sie sich einmal die Vorgeschichte zu der letzten
Entscheidung zu Überhangmandaten an, die nur mit vier
zu vier Stimmen getroffen wurde und deshalb keine Entscheidung in der Sache war.
({13})
In den ersten zwölf Wahlperioden dieser Republik zusammen gab es nicht so viele Überhangmandate wie in
dieser Wahlperiode. Das zeigt, dass eine qualitative Veränderung stattgefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit immer gesagt: Solange die
Überhangmandate keine Rolle spielen und nur eine
Randerscheinung sind, mag das angehen.
({14})
Kollege Beck, Sie zerstören mit dem Nichteinhalten
Ihrer Ankündigung, dass Sie zum Schluss kommen,
meine Hoffnung, dass Sie mich hier ernst nehmen. Bitte
nehmen Sie jetzt nicht dem Kollegen Wieland die Zeit
weg.
Ich dachte, weil ich im Dissens zur Koalition bin, gilt
für mich die Lammert-Regelung, die wir heute Morgen
eingeführt haben.
({0})
Im Moment sitzt hier Vizepräsidentin Pau und entscheidet. Also, bitte nehmen Sie dem Kollegen Wieland
keine Redezeit weg.
({0})
Die Überhangmandatsregelung muss deshalb weg,
weil die Gefahr besteht, dass sie das Wahlergebnis ins
Gegenteil verkehrt. Das ist ein Anschlag auf die Demokratie. Den haben Sie vor. Wir werden ihn durch den
Gang nach Karlsruhe vereiteln.
({0})
Für die Unionsfraktionen spricht nun der Kollege
Altmaier.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Oppermann und der Kollege Beck
haben uns hier eine Hitparade der Scheinheiligkeiten
vorgeführt.
({0})
Das ist unter einem parteipolitischen Standpunkt verständlich. Nach draußen ergibt das aber kein gutes Bild.
Der erste Punkt der Scheinheiligkeit ist, dass Sie auf
dem ach so eindrucksvollen Argument der Zeitüberschreitung herumreiten.
({1})
Ja, es ist wahr und es stimmt, dass wir die Frist, die uns
das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, um einige
Monate überschritten haben.
({2})
Das ist bedauerlich. Ich sage: Es wäre besser und eleganter gewesen, wir hätten dieses Gesetz drei Monate früher
verabschiedet.
Aber warum haben wir denn diese Frist überschritten?
({3})
Wir haben sie auch deshalb überschritten, weil wir uns
monatelang, vor und nach der Sommerpause, bemüht haben, eine parteiübergreifende Regelung zustande zu
bringen, die mit Ihnen nicht zu machen war,
({4})
weil Sie nur einen einzigen Punkt im Auge hatten, der
aber mit dem negativen Stimmgewicht nichts zu tun
hatte.
({5})
- Lieber Kollege Beck, hören Sie doch einfach einmal
zu.
Der zweite Punkt der Scheinheiligkeit betrifft das Argument, hier würde ein Gesetz von der Mehrheit verabschiedet und das Wahlrecht, um das es gehe, sei doch
einer überparteilichen Konsensbildung besonders zugänglich. Aus diesem Grund haben wir uns um die überparteiliche Mehrheit bemüht. Aber es ist Ihnen leider
Gottes entfallen, dass es im Jahre 2002 und im Jahre
2004 in der Amtszeit der rot-grünen Koalition schon einmal Änderungen am Wahlrecht gegeben hat. Auch damals sind diese Änderungen nicht im Konsens beschlossen worden, sondern allein von der rot-grünen Mehrheit.
Sie haben das damals im Bundestag mit dem Hinweis
darauf beschlossen, dass das Wahlrecht ein einfaches
Gesetz ist und mit einfachen Mehrheiten geändert werden kann. Was damals richtig war, kann heute nicht
falsch sein.
({6})
Ich will Ihnen sagen, warum wir glauben, dass wir
das Gesetz auch mit der Mehrheit der Koalition verabschieden können und warum das geboten und gerechtfertigt ist: zum einen, weil wir in der Tat nicht mehr Zeit
verlieren dürfen, und zum anderen, weil wir uns auf eine
Lösung geeinigt haben, die das geltende Wahlrecht so
wenig wie möglich tangiert.
Kollege Ruppert hat bereits darauf hingewiesen, dass
wir in den letzten 60 Jahren gute Erfahrungen mit dem
geltenden Wahlrecht gemacht haben, das im Übrigen
deshalb so komplex ist, weil wir ein föderales Land sind.
Wenn wir kein föderales Land wären und nicht versuchen würden, das Wahlrecht den Menschen durch Landeslisten statt Bundeslisten und mit Rücksichtnahme auf
die Gegebenheiten in den einzelnen Bundesländern näherzubringen, dann hätten wir es zugegebenermaßen
auch mit dem negativen Stimmgewicht viel leichter. Wir
hätten zum Beispiel eine Bundesliste machen können.
Solange wir aber das System mit den Wahlkreisen und
Listen beibehalten, würde das dazu führen, dass ganze
Landstriche in Deutschland nicht mehr mit Mandaten im
Deutschen Bundestag vertreten wären.
An dieser Stelle sagen wir: Wir haben mit dem Wahlrecht versucht, die bisherige gute Tradition von 60 Jahren fortzuschreiben, nicht mehr und nicht weniger.
({7})
Deshalb ist es gerechtfertigt, dass wir dieses Gesetz mit
der Koalitionsmehrheit verabschieden.
Der dritte Punkt der Scheinheiligkeit betrifft die
Frage, was geändert werden muss und geändert werden
soll. Wir haben gesagt: Wir müssen das negative Stimmgewicht beseitigen oder zumindest so weit reduzieren,
dass die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens erheblich
gemindert wird. Das ist angesichts der Komplexität des
Wahlrechts nicht einfach.
Die Kollegen der Grünen haben einen Vorschlag vorgelegt, der diesem Ziel zugegebenermaßen sehr nahe
kommt, aber um den Preis einer regionalen Verzerrung
in Deutschland, weil dann die Gebiete der Diaspora, in
der eine Partei weniger Stimmen hat, mit dem Verlust
von Mandaten dafür bezahlen, dass in anderen Gegenden, wo Überhangmandate möglich sind, solche errungen werden. Wir halten das mit dem Grundsatz unseres
Wahlrechts einer gleichmäßigen Repräsentation für nicht
vereinbar. Deshalb ist eine solche Lösung mit uns nicht
zu machen.
({8})
Der Vorschlag der SPD hat sich gar nicht an der Frage
des Abbaus der negativen Stimmgewichte orientiert.
({9})
Sie hatten, Herr Kollege Oppermann, von der ersten Minute an nur das Thema Überhangmandate im Blick und
wollten leichte Beute machen. Sie haben deutlich gemacht: Sie sind für viele Lösungen zu haben, aber immer
nur dann, wenn die Überhangmandate abgeschafft werden.
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie haben
den Kollegen Paula zitiert. Warum haben Sie nicht den
Kollegen Struck und andere Kollegen aus Ihrer Fraktion
zitiert? Es gab nämlich eine Zeit, und zwar in den Jahren
1998 und 2002, in der Sie selber Überhangmandate hatten. Sie haben damals davon profitiert. Der Kollege
Kauder hatte bestimmte Zweifel,
({10})
und die Redner Ihrer Fraktion haben mit sehr beredten
Argumenten nachgewiesen, dass nichts gegen Überhangmandate einzuwenden sei und dass man sie geradezu erfinden müsste, wenn es sie noch nicht gäbe.
({11})
Der Kollege Krings hat einen schönen Spruch gesagt:
„Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ Sie können zwar diese Position vertreten, aber bitte
seien Sie nicht so scheinheilig und tun Sie nicht so, als
wären Sie selber schon immer gegen die Überhangmandate gewesen.
({12})
Es gibt einen weiteren Punkt, Herr Kollege
Oppermann. Sie haben gesagt: Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung, in der es die Überhangmandate nicht als verfassungswidrig erklärt hat, mit vier
zu vier Stimmen getroffen.
({13})
Dazu sage ich: Vorsicht! Das Bundesverfassungsgericht
trifft häufiger Entscheidungen mit vier zu vier Stimmen.
Das liegt in der Natur der Sache. Ich habe noch nie erlebt, dass Sie eine Entscheidung, die mit vier zu vier getroffen worden ist, als nicht legitimiert angesehen hätten,
({14})
wenn sie zu Ihren Gunsten ausgegangen ist. Deshalb
bitte ich, mit diesem Argument vorsichtig zu sein.
({15})
Letzter Punkt, Frau Präsidentin. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, wir haben die Verantwortung, das
Wahlrecht jetzt zügig und mit einer klaren und einfachen
Lösung zu ändern und das Gesetz zu verabschieden. Der
Kollege Beck hat angekündigt, dass die Fraktion der
Grünen die Rechtmäßigkeit des Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen wird. Ich kann Ihnen
dazu nur sagen: Ich freue mich auf die Debatte und die
Auseinandersetzung über die strittigen Fragen. Wir sind
überzeugt, dass wir von allen Lösungen, die zur Verfügung standen, diejenige gewählt haben, die unserem bewährten Wahlrecht am ehesten entspricht, dass wir die
Gefahr des Auftretens des negativen Stimmgewichts
deutlich reduziert haben
({16})
und dass dieses Ergebnis jeder juristischen Prüfung
standhalten wird. Wir werden uns dann in Karlsruhe
wiedersehen.
Vielen herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat zu seinem 60-jährigen Jubiläum zu Recht viel Lob erhalten. Es hat politische Entscheidungen bestätigt und auch den Gesetzgeber
zu Korrekturen verpflichtet, aber selten mit einer Frist
von drei Jahren. Die Regierungskoalition hatte drei Jahre
Zeit, das Wahlrecht verfassungskonform zu machen.
Doch Sie legen erst zwei Tage vor Ablauf der Frist einen
Gesetzentwurf vor. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Voßkuhle, hat am Montag gesagt:
Dass diese Frist von der Politik nicht genutzt worden ist,
enttäuscht uns. - Recht hat er. Die Oppositionsfraktionen
kann er damit nicht gemeint haben; denn alle drei Fraktionen haben Gesetzentwürfe vorgelegt, die innerhalb
der Frist hätten verabschiedet werden können.
({0})
Sie haben abgewartet, welche Lösungen die Oppositionsfraktionen vorschlagen, um dann zu entscheiden,
dass Sie das so nicht wollen. Sie wollen ein Überhangmandatssicherungsgesetz.
({1})
Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten Ihnen mehrfach Gespräche angeboten. Sie waren zu keinen konstruktiven Gesprächen bereit. Aber damit nicht genug:
Sie brüskieren nicht nur das Bundesverfassungsgericht,
sondern auch die Sachverständigen in der Anhörung.
Fünf Minuten vor Beginn der Anhörung legen Sie Berechnungen des BMI bzw. des BSI vor, die keiner während der Anhörung ernsthaft prüfen und bewerten kann.
Herr Pukelsheim erklärte dazu: „Ich finde es auch sehr
spontan, nach drei Jahren Vorbereitungszeit das jetzt hier
als Tischvorlage zu bringen.“ Inzwischen liegt uns eine
Stellungnahme von Professor Pukelsheim zu dieser
Tischvorlage vor. Darin heißt es:
Zudem lehrt das Beispiel, dass der Koalitionsentwurf negative Stimmgewichte nun auch bei NichtÜberhangsparteien ermöglicht, was die Problematik
um eine neue Dimension erweitert. … Diese Fälle
negativer Stimmgewichte werden nicht dadurch
zum Verschwinden gebracht, dass das BMI sie angesichts der im Amt präferierten Definition zu den
Akten legt.
So viel zu Ihrer Behauptung, Sie würden das negative
Stimmgewicht abschaffen.
Sie versuchen aber nicht nur, die Sachverständigen zu
überrumpeln. Nein, Sie legen spontan in der abschließenden Ausschussberatung einen Änderungsantrag zu
Ihrem eigenen Gesetzentwurf vor.
({2})
Sie wollen nun die Überhangmandate mit diesen rätselhaften Reststimmenmandaten hinterlegen. Damit widerlegen Sie Ihre eigene Aussage, dass Überhangmandate
kein Problem darstellen. Vielleicht haben Sie inzwischen
doch Zweifel daran. Tatsächlich sind Überhangmandate
ein Problem. Sie verzerren den Wählerwillen. Sie werden nicht nachbesetzt und können bei engen Mehrheitsverhältnissen zu wechselnden Mehrheiten innerhalb einer Legislaturperiode führen.
Für besonders problematisch und unsystematisch halten wir neben dem Festhalten an den Überhangmandaten
die Reststimmenverwertung. Die Reststimmenproblematik entsteht wegen Ihres Vorschlags, die Länderlisten zu
trennen. Die Sachverständige Frau Sacksofsky erklärte
in der Anhörung dazu:
Man erfindet fiktive Quoten, die gar keine Rolle für
die Zuteilung gespielt haben, und will die dann verwenden. Das ist nach meinem Verständnis grob unsachlich und damit an der Willkürgrenze.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, das Wahlrecht ist die Legitimation jedes einzelnen Abgeordneten hier im Haus. Die Bürgerinnen und
Bürger bestimmen mithilfe des Wahlrechts ihre Volksvertretung. Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein
nachvollziehbares, ein transparentes Wahlrecht. Sie wollen, dass ihre Stimme der Partei zugutekommt, die sie
unterstützen wollen. Sie wollen, dass die Mehrheit der
Stimmen auch die Mehrheit der Mandate bedeutet, und
nicht, dass eine Regierung gebildet wird, die ihre Mehrheit auf Überhangmandate stützt, aber nicht auf eine
Mehrheit an Zweitstimmen.
({4})
Die Trennung der Landeslisten, die Verteilung der
Sitze nach Wahlbeteiligung fördert geradezu das taktische Wählen und das Stimmensplitting. Das heißt, Erststimme für Partei A und Zweitstimme für Partei B führt
zu einem doppelten Erfolgswert und widerspricht damit
dem Gleichheitsgrundsatz.
Derzeit sind fast 4 Prozent der Abgeordneten in diesem Haus aufgrund eines Überhangmandats im Parlament. Wenn Ihr Gesetzentwurf Gesetzeskraft erlangt,
werden bald mehr als 5 Prozent der Abgeordneten ein
Überhangmandat haben.
({5})
Das ist Fraktionsstärke, und das kann wirklich keiner
wollen.
({6})
Damit wird der Wählerwille verzerrt. Ich bin mir sicher,
dass das Bundesverfassungsgericht dieser Praxis einen
Riegel vorschieben wird.
Wir wären bereit, auf die Überhangmandate zu verzichten. Es stimmt, dass Überhangmandate einmal Ihnen
und einmal uns zugutekommen. Wir sind deshalb für
diesen Ausgleich. Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie
von der FDP sich so gegen unseren Vorschlag stellen.
({7})
Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Sie jemals Überhangmandate bekommen. Sie werden von der Änderung,
die Sie heute beschließen, nicht profitieren, Ihr Koalitionspartner aber schon. Auch diese merkwürdig konstruierte Reststimmenverwertung wird Ihnen nicht zum
Vorteil gereichen. Ausgleichsmandate sind im Übrigen
keine Erfindung der SPD. Es gibt sie in fast allen Landeswahlgesetzen.
({8})
Die Grünen haben einen anderen Lösungsweg vorgeschlagen, der nicht dem SPD-Vorschlag entspricht, der
aber immer noch besser ist als der Koalitionsentwurf.
({9})
Deshalb werden wir dem Vorschlag zustimmen. Der
Entwurf der Linken ist ein Sammelsurium von Vorschlägen.
({10})
Ihr Versuch, mithilfe getrennter Abstimmungen die
Spreu vom Weizen zu trennen, ist gut gemeint, findet
aber nicht unsere Zustimmung.
Sie werden heute mit Ihrer Mehrheit Ihren Entwurf
durchsetzen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden
beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dagegen
Klage einreichen.
({11})
Ich möchte es nicht versäumen, dem Kollegen van
Essen von dieser Stelle zum Geburtstag zu gratulieren.
({0})
Sie haben das Wort für die FDP-Fraktion.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Ich muss gestehen,
dass eine Rede im Bundestag nicht auf der Wunschliste
für meinen Geburtstag stand. Aber es ergibt sich nun
einmal so.
({0})
Ich rede deshalb ganz gern, weil ich finde, dass das
Wahlrecht eines der wichtigsten Themen in einem Parlament ist.
({1})
Das ist eine sehr sensible Materie, und deshalb sind alle,
die sich damit beschäftigen, aufgerufen, damit sensibel
umzugehen. Das gilt für uns als Gesetzgeber, aber - ich
erlaube mir die Bemerkung - diese Sensibilität erwarte
ich auch vom Bundesverfassungsgericht.
Das Problem, das zu lösen uns aufgetragen wurde,
nämlich das negative Stimmgewicht, ist ein Thema, das
die Öffentlichkeit intensiv beschäftigt hat, und zwar aufgrund eines Vorgangs in Dresden, das aber ansonsten ein
Nebenproblem ist. Wir haben bei der Diskussion feststellen müssen, dass wir an vielen Schrauben drehen
konnten. Wir haben aber gemerkt: An welcher Schraube
auch immer wir gedreht haben, es hatte auf die Chancen
der Parteien - je nach ihrer Größe - erhebliche Auswirkungen. Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum es
so lange gedauert hat; denn alles, was man sich überlegt
hat, musste nachgerechnet werden. Man musste schauen,
welche Auswirkungen die Veränderungen haben.
Herr Kollege Oppermann, Sie haben Krokodilstränen
vergossen und gesagt, das hätte seit vier Jahren geregelt
werden können.
({2})
- Fast vier Jahre. - Dabei zeigen doch einige Finger auf
Sie selbst. Sie waren doch die Hälfte der Zeit selber in
der Regierung.
({3})
Sie hätten in der Zeit Vorschläge machen können. Niemand hätte Sie daran gehindert. Sie hätten versuchen
können, das Problem zu lösen. Daher nehme ich Ihren
Vorwurf nicht ernst. Ich bitte aber um Verständnis, weil
das der Grund dafür ist, warum es diese leichte Verspätung gibt, die auch wir selbstverständlich nicht gut finden.
Ich finde den Ansatz, den wir gewählt haben, nämlich, wie man in der Medizin sagt, minimalinvasiv einzugreifen, richtig; denn es hat sich gezeigt, dass es nach
dem bisherigen Wahlrecht faire Chancen für große Parteien, aber auch für kleinere Parteien gibt. Aufgrund des
Wahlrechts gibt es sogar für neue Parteien die Chance, in
die Parlamente zu kommen, wie wir es gerade in Berlin
erlebt haben. Das sorgt für eine lebendige Demokratie in
unserem Land.
({4})
Wir haben die Verpflichtung, für ein Wahlrecht zu sorgen, das genau diese Lebendigkeit auch in Zukunft sicherstellt.
Frau Kollegin, Sie haben in Bezug auf Hamburg für
Die Linke ein Beispiel gebildet und gesagt, dass Sie
nicht verstanden hätten, dass das für Sie von Vorteil
wäre. Es wäre für Sie von Vorteil. Sie würden ein solches Zusatzmandat für Reststimmen bekommen. Ihr
Vortrag hat mir gezeigt, dass Sie das neue Wahlrecht
ganz offensichtlich nicht verstanden haben. Deshalb
sehe ich Ihrer Ankündigung, dass Sie deswegen nach
Karlsruhe gehen werden, mit großer Gelassenheit entgegen.
Kollege van Essen, gestatten Sie eine Frage?
Nein, danke. Frau Kollegin, ich habe eine so kurze
Redezeit, dass ich das gerne im Zusammenhang vortragen würde.
Ein Gesichtspunkt ist leider nicht angesprochen worden, der auch mir persönlich wichtig ist. Ich habe gesagt,
Wahlrecht müsse auch Chancengleichheit sicherstellen.
Dazu gehört, einen entsprechenden Rechtsschutz gegen
die Nichtzulassung zur Wahl zu haben.
({0})
Ich bedauere ganz außerordentlich, dass das bisher keine
Rolle gespielt hat. Auch das verbessern wir.
Das Thema Zweitstimmen bzw. Überhangmandate
hat eine Rolle gespielt. Ich will nicht verhehlen: Wir haben bisher keine Überhangmandate gehabt. Die SPD hat
dieses Thema erst entdeckt, als sie keine mehr bekam.
({1})
Sie wären sehr viel glaubwürdiger, wenn Sie sich schon
früher mit diesem Thema befasst hätten.
({2})
Für uns ist die Lage klar und eindeutig. Das Verfassungsgericht hat eine Aussage getroffen, die wir unterstreichen: Überhangmandate sind nicht erwünscht. Deshalb gehört zu dem Vorschlag, dass, wenn es Reststimmenmandate gibt, diese mit Überhangmandaten verrechnet werden. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, um
Überhangmandate zu reduzieren.
Es gibt jedoch die klare Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass Überhangmandate in einem bestimmten Umfang respektiert werden können. Wir respektieren die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und sehen damit der Entscheidung in Karlsruhe
sehr gelassen entgegen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin, zunächst vielen Dank, dass Sie sich
so beherzt für meine vier Minuten eingesetzt haben.
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Altmaier, Sie
haben uns gleich fünfmal Scheinheiligkeit vorgeworfen.
({0})
Deshalb erinnere ich daran, dass Seine Heiligkeit vor einer Woche fast genau zu dieser Stunde hier eine rechtstheoretische Vorlesung gehalten hat.
({1})
Er hat dabei gesagt - dies nur zur Erinnerung -, dass in
bestimmten Grundfragen des Rechtes das Mehrheitsprinzip nicht ausreiche.
({2})
Gleichzeitig hat er ausgeführt - das halte ich Ihnen zugute, Herr Kollege Krings -, dass das wahrhaft Rechte
nicht immer einfach zutage trete. Ich füge hinzu: Das
wahrhaft Unrechte erkennt man oft sehr schnell. Das ist
nämlich der Entwurf, den Sie jetzt endlich vorgelegt haben.
({3})
Sie haben nicht auf das Römische Recht, sondern auf römische Machtsicherungstechniken - divide et impera! in moderner Fassung zurückgegriffen:
({4})
Wir zerteilen das Wahlgebiet in 16 Stücke und sacken
überall die Überhangmandate ein. Dann gibt es auf Intervention des Fraktionsvorstands der FDP - der Kollege
Ruppert ist ja schuldlos; er ist gar nicht darauf gekommen - noch die Stimmen von Rudis Resterampe oder,
wenn man es genauer sagen will, von Guidos Resterampe.
({5})
Lieber Herr van Essen, da Sie heute Geburtstag haben: Was würden Sie denn sagen, wenn die CDU mit einer Geburtstagstorte kommt und sagt „Wir teilen die
Torte in 16 Stücke. Dann stimmen wir bei jedem Stück
ab, wer es essen darf. Das sind aber immer wir, und Sie
bekommen nur die Restkrümel“?
({6})
Happy Birthday, lieber Herr van Essen! Ich hätte Ihnen
heute etwas anderes gewünscht.
Der Kollege Altmaier war ehrlich. Er hat gesagt: Die
Reststimmenproblematik haben wir zurückgedrängt
bzw. etwas reduziert. - Meine Güte! Was hat denn das
Bundesverfassungsgericht zu dem negativen Stimmgewicht gesagt? Es hat gesagt: Es
führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den
Wahlberechtigten widersinnig erscheinen.
Aber Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir sind nur
noch ein bisschen schwanger, wir sind nur noch ein bisschen willkürlich und ein bisschen widersinnig. - Sie
denken, dass das überzeugt. Es überzeugt aber nicht.
({7})
Als nächster Redner spricht der Kollege Uhl. Ich weiß
schon, was er sagen wird.
({8})
- Ja, Sie sind absolut berechenbar. Das ist positiv.
({9})
- Ja. - In der letzten Legislaturperiode haben wir einen
Entwurf vorgelegt, von dem es hieß, dass wir damit das
Problem der CSU nicht gelöst hätten. Daraufhin habe ich
gesagt: Was die CDU in 60 Jahren nicht geschafft hat,
haben wir in sechs Monaten nicht geschafft.
({10})
Nun sind wir weiter. Jetzt haben wir das Problem der
CSU gelöst. Nun sagen Sie aber: Wie unschön, wie unfein.
Wir haben immer zugegeben, dass unser Entwurf an
dieser Stelle nicht filigran ist.
({11})
Er ist der CSU angepasst, also krachledern, radikal, aber
das Problem ohne Wenn und Aber lösend.
({12})
Trotzdem sagen Sie - gestern bei Stoibers Geburtstag
noch in der Lederhose, heute im Plenarsaal als Mimose -:
Wie kann man so böse sein? - Das reimt sich zwar,
macht es aber nicht besser und ändert nichts an Ihrer beleidigten Haltung.
({13})
Unser Vorschlag ist verfassungsfest. Weil die Bräuche
so sind, hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof
schon einmal genauso entschieden. Deswegen, lieber
Herr Kollege Uhl: Akzeptieren Sie es!
Abschließend will ich sagen. Wir haben heute Morgen viel über unser Königsrecht als Parlamentarier geredet. Hier geht es um das Königsrecht der Bürgerinnen
und Bürger, nämlich um das Wahlrecht. Da können wir
nicht akzeptieren, dass sich drei Parteien nach ihrem
Gusto den Kuchen zurechtschneiden. Deshalb sage ich:
Nicht bei Philippi, aber in Karlsruhe sehen wir uns wieder. Wir freuen uns darauf.
({14})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat das Wort für die
Unionsfraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Auch wir freuen uns darauf, uns in Karlsruhe wiederzusehen. Lassen Sie mich
trotz Ihrer polternden Polemik, Herr Wieland, wie Herr
van Essen etwas sensibler mit dem Thema umgehen.
({0})
Wir hätten es natürlich gerne gesehen, dass nicht nur
unser Gesetz in Karlsruhe, sondern auch Ihr Gesetzentwurf, Herr Wieland,
({1})
und auch der Gesetzentwurf der SPD oder gar der Linken geprüft würden. Leider ist das nicht möglich.
Der Gesetzentwurf der SPD ist typisch SPD. Sie sagen: Da wir, was die Überhangmandate angeht, in jüngster Zeit vom Wähler schlecht bedient wurden, muss etwas geschehen. Aber Überhangmandate abzuschaffen,
wie es die Grünen vorschlagen, wollen Sie nicht. Aber
Ihnen würde es gefallen, wenn die Überhangmandate
ausgeglichen würden, indem Sie die gleiche Anzahl wie
die Union erhalten.
Sagen Sie doch einmal, worauf es Ihnen wirklich ankommt, Herr Oppermann. Ihre Partei hat in 50 Jahren bis
2005 alles in allem 38 Überhangmandate kassiert.
({2})
Sie haben sie dankend entgegengenommen und sich nie
beim Wähler beschwert. Mit diesen 38 Überhangmandaten konnten Sie gut regieren. Die Union dagegen hat im
gleichen Zeitraum nur 34 Überhangmandate bekommen.
Auch wir haben uns darüber nicht beschwert und haben
das Votum des Wählers hingenommen.
Seit der letzten Wahl, als Sie gemerkt haben, dass Sie
durch die Abspaltung Ihrer linken Freunde von Ihrer
Partei strukturell kaum mehr Chancen haben, Überhangmandate zu bekommen, ist für Sie das Instrument der
Überhangmandate Teufelszeug. Für Sie muss es nicht,
wie die Grünen es fordern, abgeschafft, sondern ausgeglichen werden. Ausgleich bedeutet aber, dass im Plenarsaal 100 weitere Sitze aufgestellt werden müssen.
({3})
Wer von Ihnen will denn so etwas? Der Wähler und
Steuerzahler will so etwas nicht.
({4})
Ich will auf den Vorschlag der Grünen nicht zu sprechen kommen. Ihm ist die Verfassungswidrigkeit auf die
Stirn geschrieben, Herr Wieland. Unter uns Juristen: Das
nennt man Evidenztheorie. Es ist schade, dass die Verfassungsrichter dazu nicht urteilen können.
Über den Gesetzentwurf der Linken ist schon gesprochen worden. Er ist in vielen Teilen so abwegig, dass es
sich nicht lohnt, darauf vertieft einzugehen.
Wir haben uns wirklich Gedanken gemacht: Was ist
der Auftrag des Verfassungsgerichtes? Dieser Auftrag
lautet, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Die
Kausalität, die dahin führt, liegt nicht im Überhangmandat; sie liegt vor allem in der Listenverbindung. Deswegen haben wir die Listenverbindung gekappt, und damit
ist das Problem strukturell gelöst. Das ist der Punkt.
({5})
Mit der in unserem Gesetzentwurf verankerten Lösung - das Innenministerium hat es entsprechend errechnet; diese Berechnungen werden wir in Karlsruhe vorlegen - liegt die Chance, dass es wieder zu einem
negativen Stimmgewicht kommt, bei 0,02 Fällen von
1 000 Fällen.
({6})
Das heißt, wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Damit können wir uns in Karlsruhe sehen lassen.
Zum Überhangmandat ist genug gesagt worden. Das
Verfassungsgericht hat niemals gesagt, dass ein Überhangmandat verfassungswidrig ist. Zur Verfassungswidrigkeit könnte es nur bei Überhangmandaten in einer bestimmten Größenordnung kommen.
({7})
Ich als frei gewählter Abgeordneter aus München bin
von der Bevölkerung viermal gewählt worden. Darauf
bin ich, mit Verlaub, stolz. Sehr viele von Ihnen sind in
ihrem Wahlkreis direkt gewählt worden und sind darauf
ebenfalls stolz - mit Recht.
({8})
Wenn wir nun nach 50 Jahren erfolgreicher Wahlen ein
Bekenntnis zu dem personalisierten Verhältniswahlrecht
- Verhältniswahl einerseits, personalisierte Wahl andererseits; eine Stimme für die Person, eine Stimme für die
Partei - ablegen wollen, dann sollten wir Respekt vor
dem Wahlergebnis - sie haben ihre Erststimme für eine
Person abgegeben - der Wähler haben. Zu sagen: „Wer
die Mehrheit hat, kommt ins Parlament nicht hinein“,
Herr Wieland, bedeutet, dass man den Wählerwillen mit
Füßen tritt. Nicht mit uns!
({9})
Jetzt komme ich noch auf einen für mich ganz wichtigen Punkt zu sprechen: Redlichkeit, Ehrlichkeit im Umgang mit dem Wahlrecht. Es wäre mit uns nie möglich
gewesen, ein Wahlrecht zu schaffen, durch das wir rechnerisch, also was das Wahlergebnis bzw. die Verteilung
der Mandate angeht, einen Vorteil haben. So etwas ist in
hohem Maße undemokratisch und hätte in Karlsruhe niemals Bestand. Deswegen haben wir ausgerechnet: Wenn
man den Gesetzentwurf, den wir jetzt nach zweiter und
dritter Lesung verabschieden, auf die letzte Wahl anwendet, dann - jetzt passen Sie auf, Herr Oppermann - hätte
die SPD ein Mandat mehr bekommen.
({10})
Der Anteil der Grünen an der Torte an Wählerstimmen
- Sie haben ihn nicht verdient, nicht nur, weil Sie, anders
als Herr van Essen, keinen Geburtstag haben, sondern
weil Sie Grüner sind - wäre danach um zwei Tortenstücke größer. Nach unserem Gesetzentwurf hätten die Grünen zwei Sitze mehr in diesem Bundestag. Dennoch erwecken sie an diesem Rednerpult den Eindruck, als
wollten wir uns bedienen.
({11})
Nach unserem Gesetzentwurf hätten wir, Herr Wieland,
Herr Oppermann, keinen einzigen Sitz mehr, aber auch
keinen weniger. Für uns wäre es dasselbe Ergebnis. So
viel zu der Behauptung, dass wir uns hier bereichern.
({12})
Herr Beck, Sie sind ja ein Mensch, mit dem man reden kann. Sie haben an diesem Rednerpult vor wenigen
Minuten gesagt, mit der Verabschiedung unseres Entwurfs eines Gesetzes zur Reformierung des Wahlrechts
hätten wir einen Anschlag auf die Demokratie vor; hätte
dieses Wahlrecht schon bei der letzten Bundestagswahl
gegolten, hätte sich die Union eine größere Mehrheit ergaunert. In Wahrheit hätte sie keinen Sitz mehr, und Sie
behaupten an diesem Rednerpult etwas anderes.
({13})
Obwohl die Grünen danach zwei Sitze mehr bekommen
hätten, sind sie sich nicht zu schade, an diesem Rednerpult solche Unwahrheiten, solch eine Polemik zu äußern.
({14})
Es ist unanständig, so mit dem Gesetzentwurf umzugehen.
Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns in Karlsruhe
wieder, und das ist gut so.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/6290 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Ich kann nur
vermuten, dass die Koalition dem zustimmen wollte.
Wenn das nicht auf Bedenken trifft, dann erkläre ich
jetzt, dass der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen ist. Andernfalls müssten Sie alle Platz nehmen,
und dann wiederholen wir den Vorgang.
({0})
- Keine Bedenken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-
entwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
Plätze an den Urnen einzunehmen. - Sind die Plätze be-
setzt? - Das ist offenkundig der Fall. Dann eröffne ich
die Abstimmung.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimm-
karte eingeworfen? - Das ist der Fall, dann schließe ich
die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, wieder Platz
zu nehmen, weil noch weitere Abstimmungen anstehen.
Hierfür benötige ich einen gewissen Überblick.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/5895 abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Zustimmung der SPD und der Grünen.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundge-
setzes und zur Reformierung des Wahlrechts. Hier wird
eine persönliche Erklärung der Fraktion Bündnis 90/Die
1) Ergebnis Seite 15320 A
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Grünen nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages zu Protokoll genommen.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5896 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke hat getrennte Abstimmung verlangt.
Ich rufe zunächst auf Art. 2 Nr. 1, Art. 2 Nrn. 3 bis 7,
Art. 2 Nr. 13, Art. 2 Nrn. 16 bis 18 sowie Art. 10. Wir
kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Artikel sind abgelehnt
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der
Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe sodann auf Art. 2 Nr. 2 sowie Art. 2 Nr. 8. Ich
bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese beiden
Artikel sind mit gleichem Stimmverhältnis abgelehnt.
Ich rufe auf Art. 2 Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3. Ich
bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Art. 2
Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3 sind abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grünen.
Schließlich rufe ich auf Art. 1, Art. 2 Nr. 9, Art. 2
Nrn. 14 und 15 sowie Art. 4 bis 9. Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Was ist mit den Grünen? Gegenstimmen. - Diese Artikel sind mit den Stimmen
aller Fraktionen abgelehnt bei Zustimmung der Fraktion
Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung insgesamt abgelehnt.
Nach unserer Geschäftsordnung entfällt die weitere
Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Bundeswahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt
unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4694 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und der Grünen.
Damit entfällt auch hier die weitere Beratung.
Interfraktionell ist vereinbart, jetzt den Tagesordnungspunkt 9 - dabei geht es um den Einsatz der Bundeswehr in Südsudan - zu beraten; der Tagesordnungspunkt 6 wird nach Tagesordnungspunkt 9 aufgerufen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so vereinbart.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten
Nationen geführten Friedensmission in Südsudan ({2}) auf Grundlage der Resolution
1996 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 8. Juli 2011
- Drucksachen 17/6987, 17/7213 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Marina Schuster
Kerstin Müller ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7216 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktion
das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über die Mission UNMISS, die als Fortführung
der alten Mission UNMIS gilt, aber nach der Unabhängigkeitserklärung des Südsudan am 9. Juli dieses Jahres,
am Ende eines langen Separationsprozesses, einen anderen Charakter hat. Das drückt sich unter anderem darin
aus, dass wir die Militärbeobachtungsmission, an der wir
uns im Rahmen des letzten Mandats noch beteiligt haben
und die vor allem dem Grenzregime galt, nicht fortführen. Deshalb wird die Obergrenze auf 50 Soldaten reduziert.
Es ist dringend notwendig, dass die Mission im neu
entstandenen Staat Südsudan, so wie es die Weltgemeinschaft vorsieht, einen zivilen Charakter hat. Wer einmal
dort gewesen ist, weiß, wie groß die Handlungserfordernisse bei den Themen des Infrastrukturausbaus, des Aufbaus von Regierungs- und Verwaltungsstrukturen und
der Einführung von so etwas wie Rule of Law sind, alles
von einer überaus rudimentären Basis ausgehend.
Es ist offensichtlich, dass es dabei Probleme geben
wird - seien wir nicht naiv! -; denn auch wenn der Umbau der SPLA zu einer Parteiorganisation erfolgt ist, so
ist sie im Moment doch die allein regierende Partei, mit
all den Risiken, die einem solchen System innewohnen.
Deshalb ist klar, dass wir bei der weiteren Umsetzung
der Mission ein besonderes Augenmerk auf die Dinge
richten müssen, deren Beachtung wir in der westlichen
Wertegemeinschaft erwarten, nämlich auf den Minderheitenschutz und die Garantie der Menschenrechte.
Es ist nicht so leicht, aus den vielen Kämpfern, die
während der Zeit des Bürgerkrieges im Süden gekämpft
haben, Bauern zu machen. Das heißt, die Demilitarisierung, die Entwaffnung weiter Teile der Kämpfer wird ein
erhebliches Maß an Anstrengungen - auch, aber nicht
nur finanzieller Art - erfordern. Der internationalen Gemeinschaft ist also dringend zu raten, hier mit erheblichen Mitteln einzusteigen.
Einige Teile des Comprehensive Peace Agreement,
das die Grundlage für die Unabhängigkeit des Südens
bildete, sind natürlich noch nicht umgesetzt. Da geht es
um die Aufteilung der Ressourcen, vor allem des Öls,
die endgültige Grenzziehung und viele andere Themen.
Auch diese Punkte werden auf der Tagesordnung bleiben; auch hier tut die internationale Gemeinschaft gut
daran, das Augenmerk weiterhin darauf zu richten.
Im Übrigen sollte klar sein, dass wir beide Seiten des
Konflikts in Sudan wahrnehmen müssen, wenngleich der
verbleibende Teil des Sudan ein religiös sehr einseitig geprägtes Land sein wird, das mit Recht als Teil der Entwicklung im arabischen Raum gesehen werden muss.
Natürlich steht die Beantwortung einiger Fragen auf
dem Plan, vor allem, was den Norden des Sudan betrifft.
Es stellt sich zum Beispiel die Frage: Wie wollen wir uns
dem Thema Entwicklungszusammenarbeit nähern? Ich
will deutlich sagen: Die Vorstellungen, die wir haben,
gehen so weit, wie man informell - also unterhalb der
Regierungsebene, unterhalb einer offiziellen Ebene - gehen kann, aber eben auch nicht weiter; denn nach wie
vor hat der Sudan einen Präsidenten, der international
gesucht wird. Nach wie vor ist aufgrund der Haltung der
regierenden National Congress Party, was das Thema
Teilhabe an Wohlstand und an politischer Macht - gerade der Peripherie, ich nenne die Stichworte Darfur,
Kurdufan, Blue Nile - betrifft, noch nicht absehbar, ob
irgendeine Art von Bewegung in Richtung Ausgleich erfolgt. Wie gesagt: Alles, was man unterhalb dieser
Ebene tun kann, muss getan werden. Das sind wir den
Menschen, auch im Norden des Sudan, schuldig.
Die Schwelle des regierungsamtlich Offiziellen sollte
nicht überschritten werden. Im Gegenteil: Wir müssen
prüfen, ob in den nächsten Jahren bei den Themen
Schuldenerlass und wirtschaftliche Entwicklung nicht
doch Verhandlungsmöglichkeiten gegeben sind, um
auch im Norden des Sudan auf eine ausgleichende Lösung hinzuwirken. Im Übrigen gilt auch hier - um noch
einmal auf den Süden einzugehen -: Die wirtschaftliche
Entwicklung des Landes muss im Vordergrund stehen.
Es geht vor allem um die Stärkung der landwirtschaftlichen Ressourcen, die das Land hat. Ich bin davon überzeugt, dass das neue UN-Mandat an dieser Stelle einen
wesentlichen Beitrag leisten kann.
Die Kritik, dass die militärische Komponente vor allem von afrikanischen Staaten gestellt wird, kann ich
nicht teilen. Die internationale Gemeinschaft hat sich
eine Regel der Afrikanischen Union zu eigen gemacht
hat, die besagt: „African Solutions for African People“.
Dadurch kommt - jedenfalls aus afrikanischer Sicht zum Ausdruck, dass die militärische Komponente
schwerpunktmäßig durch afrikanische Truppen abgedeckt wird und dass wir uns auf das Thema Aufbau
ziviler Strukturen im administrativen und im wirtschaftlichen Bereich konzentrieren. Für die militärische Komponente, an der sich Deutschland beteiligt - die Entsendung von 50 Soldaten -, werben wir um Zustimmung.
Wir werben insgesamt um die Zustimmung zu dieser
Mission.
Danke schön.
({0})
Für die SPD hat jetzt das Wort der Kollege Christoph
Strässer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es bemerkenswert, dass das Thema Sudan innerhalb von drei Monaten viermal auf der Tagesordnung
des Deutschen Bundestages steht. Das Land hat es verdient, dass wir uns mit ihm beschäftigen, aber ich
glaube, es wäre uns allen lieber, wenn die Situation eine
andere wäre. Aber die Situation ist, wie sie ist.
Die Tatsache, dass wir heute über das neue UNMISSMandat abstimmen werden - ich füge hinzu: die SPDFraktion wird zustimmen -, ist ein Beleg dafür, dass wir
die Entwicklung in diesem Land und in dieser Region
ernst nehmen. Wir wollen nicht, dass sich der Sudan und
sein ohnehin fragiles Umfeld in einer Weise entwickeln,
dass die Menschen von der Entwicklung genauso wenig
profitieren wie die Menschen in den Regionen am Horn
von Afrika, in Somalia, Äthiopien und Eritrea.
Ich sage das deshalb - vielleicht ist Ihnen das nicht
bekannt -, weil das World Food Programme heute eine
sogenannte Warnung herausgegeben hat. Es hat davor
gewarnt, dass in mindestens zehn Regionen des Südsudan im Jahr 2012 eine Hungersnot ausbrechen könnte,
und das in einem Land, das fruchtbar ist, das seine Bevölkerung selbst ernähren könnte und in dem viele Voraussetzungen, von denen andere afrikanische Länder
nur träumen können, gegeben sind.
Was bedeutet das für unsere heutige Diskussion? Wir
stimmen hier im Deutschen Bundestag über den Einsatz
der Bundeswehr ab. Dieser Einsatz der Bundeswehr ist
- das sollten wir wahrnehmen; diese Chance sollten wir
ergreifen - Teil des Engagements nicht nur Europas,
sondern auch der gesamten internationalen Staatengemeinschaft zur Sicherung der Staatlichkeit, der Menschenrechte und der Zukunft der Menschen in Sudan insgesamt. Deshalb finde ich, dass man diesem Mandat
heute zustimmen muss, um die Sache voranzubringen.
Ich tue das mit Überzeugung und nicht mit Bauchschmerzen wie an anderen Stellen.
({0})
Lassen Sie mich aus einem Papier der FriedrichEbert-Stiftung vom Juli 2011 zitieren. Lassen Sie mich
Folgendes zur Erläuterung sagen: Ich beziehe mich in
diesem Zusammenhang gerne auf die Friedrich-EbertStiftung, weil sie seit vielen Jahren in beiden Teilen des
Sudan aktiv ist. Die Kollegin Anja Dargatz, die dieses
Papier verfasst hat, arbeitet seit 2008 mit einem Büro
und vielen Ortskräften in Khartoum und einem Büro in
Juba zusammen. Sie versuchen, die Menschen, die verfeindet sind, die gegeneinander gekämpft haben, zusammenzuführen. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger und
richtiger Ansatz, den es außerhalb dieser Institution nur
ganz selten gibt.
In diesem Papier wird Folgendes ausgeführt - ich zitiere jetzt -:
Die Internationale Gemeinschaft wird auch in absehbarer Zeit nicht aus dem Südsudan wegzudenken sein, sei es als privatwirtschaftlicher Investitionsgeber, als humanitärer Helfer und bei der
Entwicklungszusammenarbeit, als Weltbankkreditgeber oder als UNMIS-Truppensteller. Vergleicht
man die humanitäre Situation im Südsudan mit anderen Ländern in der Region, die trotz Entwicklungsvorsprungs ebenfalls noch beträchtliche Unterstützung erfahren, so ist die Unterstützung mehr
als gerechtfertigt.
Ich glaube, besser kann man die Situation und das,
was zu tun ist, nicht auf den Punkt bringen.
Deshalb möchte ich auf die Frage eingehen, was
UNMISS angesichts der desolaten ökonomischen und
sozialen Situation in Südsudan tun kann. Ich habe mir
die Reden angeschaut, die im Rahmen der ersten Lesung
hier gehalten worden sind, insbesondere von denjenigen,
die gegen eine Fortsetzung des Mandats plädiert haben.
Ich möchte zwei Dinge herausgreifen.
Der für mich wichtigste Aspekt sind die Sicherheitsstrukturen. Es geht um die Möglichkeiten der Entwaffnung. Dazu ist gesagt worden, dass eines der wesentlichen Probleme ist, dass Gruppen, Milizen, auch Milizen,
die der SPLA nahestehen und mit ihr zusammenarbeiten,
bewaffnet sind, dass diese Waffen nicht abgegeben worden sind. Es ist gesagt worden, dass dies die größte Gefahr für die Zivilbevölkerung ist. Ich füge hinzu: Die
Kollegin von den Grünen hat das Problem der Kleinwaffen angesprochen. Ich möchte eine Zahl nennen, um die
Dimension dessen, worüber wir reden, deutlich zu machen. Nach Schätzungen einer international anerkannten
Organisation, die sich mit Rüstungsexport bzw. Kleinwaffenexport befasst, gibt es in Sudan 720 000 Kleinwaffen in zivilen Händen. Das bedeutet im Klartext, umgerechnet auf die Bevölkerung: Von 100 Menschen in
Sudan haben 8 eine Kleinwaffe. Zum Verhältnis: Die
Zahl der offiziellen Polizeiwaffen liegt bei 200 000. Man
muss sich vor Augen halten, was das bedeutet.
Deshalb stellt sich für mich die Frage: Wenn man es
mit diesem Programm der Entmilitarisierung, der Demobilisierung, der Entwaffnung und der Reintegration ernst
meint, was ich für richtig halte, dann muss man dafür
auch Instrumente bereithalten. Wenn wir beklagen, dass
dort bewaffnete Milizen aktiv sind, dann frage ich mich:
Welche Institution, welcher Akteur sammelt diese Waffen ein und führt sie ihrem letzten Zweck zu, nämlich sie
auf den Müllhaufen zu werfen? Ich sage: Das macht
keine lokale Polizei. Das macht keine lokale Nichtregierungsorganisation. Dafür braucht man eine entsprechende Ausbildung. Dafür braucht man geschulte Leute.
Daher ist das UNMISS-Mandat in der jetzigen Phase für
mich wirklich unverzichtbar.
({1})
Wenn man sich diese Frage wirklich ernsthaft stellt,
dann muss man sich auch einmal überlegen, wie die internationale Staatengemeinschaft aufgestellt ist. Das
CPA, das umfassende Friedensabkommen, ist erwähnt
worden. Es ist nicht in allen Punkten umgesetzt worden,
in ganz wesentlichen nicht. Der Ehrlichkeit und der
Wahrheit halber muss man aber auch feststellen - viele
von uns haben den Entstehungsprozess bis zum Jahr
2005 begleitet; wir waren mit dem Menschenrechtsausschuss in Arusha, als es nicht geklappt hat -: Dieses umfassende Friedensabkommen, das CPA, wäre nicht zustande gekommen und auch die darauffolgende Entwicklung - die nicht gut verläuft - wäre überhaupt nicht
in Gang gekommen, wenn das UNMIS-Mandat damals
nicht im CPA verankert worden wäre. UNMIS ist nicht
deshalb verankert worden, weil die Vereinten Nationen
das wollten, sondern weil beide Parteien, der Norden wie
der Süden, gesagt haben: Jawohl, wir wollen eine solche
Komponente, wir brauchen die internationale Staatengemeinschaft in diesem Umfang. Deshalb war das, glaube
ich, damals eine richtige Entscheidung. Jetzt müssen wir
uns angesichts der neuen Aufgaben für UNMISS im Süden überlegen, was zu tun ist.
Ich sage noch einmal: Die erste wichtige Aufgabe ist
die Entwaffnung, dieses DDRR-Programm. DDRR
heißt: Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration.
Das hat also nichts mit deutschen historischen Reminiszenzen zu tun. Dafür brauchen wir die UNMISS-Soldaten.
Wir brauchen sie zweitens, aber auch - da möchte ich
ein Beispiel nennen, das mir selber passiert ist - für die
Sicherung von Transportkapazitäten. Die Mitarbeiter des
World Food Programme sagen: Die Transportmöglichkeiten in den Südsudan sind deshalb so schwierig und
kompliziert, weil beispielsweise private Organisationen,
die in diesem Bereich aktiv sind, ihre Autos nicht mehr
zur Verfügung stellen, weil sie abgefangen werden, weil
sie Milizen anheimfallen. Daher sind sie nicht mehr in
der Lage, die Lebensmittel in das Land zu transportieren.
Dafür braucht man Schutz. Ich frage auch an dieser
Stelle: Wer gewährleistet diesen Schutz? Das ist für
mich der wesentliche Grund, zu sagen: Wenn es an dieser Stelle vorangehen soll, dann brauchen wir noch für
eine sehr lange Zeit die Absicherung durch eine Institution wie UNMISS.
Ich sage deshalb zum Schluss: Wir können bis zu
50 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und
Polizisten entsenden. Tatsächlich sind 12 vor Ort. Weil
sich diese 12 vielleicht ein wenig einsam vorkommen,
haben sie es, finde ich, wirklich verdient, dass wir die
Arbeit, die sie dort unter schwierigsten Umständen leisten - sie sind keine Kampftruppe -, respektieren und
dass wir ihnen wie auch allen anderen zivilen Helferinnen und Helfern, die beim Aufbau des Sudan aktiv sind,
alles Gute wünschen. Dafür werbe ich, und deshalb
werbe ich auch für die Unterstützung dieses Mandats.
Danke schön.
({2})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Philipp Mißfelder.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank für Ihren
Beitrag, Herr Strässer. Ich glaube, er knüpft gut an das
an, was wir am 25. März 2010 hier verabschiedet haben.
Mit unserem interfraktionellen Antrag haben wir ausgedrückt, dass uns nicht gleichgültig ist, was sich in Sudan
tut, und dass wir diesem Thema hier im Deutschen Bundestag eine große Bedeutung zumessen.
Die Arbeit der Bundeswehr für UNMISS ist wichtig,
damit die Menschen in Sudan ein Minimum an Stabilität
erhalten. Unser Beitrag, den wir mit zwölf Soldaten leisten, ist zwar klein, aber wichtig. Die große Geschlossenheit, mit der wir diesen Einsatz auf den Weg bringen, ist
ein wichtiges Zeichen.
Der Sudan steht - ich möchte zum politischen Teil
kommen - vor großen Herausforderungen. Selbst in der
Friedenspolitik in Afrika ist es eine der größten Herausforderungen überhaupt. Gerade der neue Staat Südsudan
steht vor immensen Gefahren. Deshalb müssen wir versuchen, ihn außenpolitisch wie auch innenpolitisch zu
stabilisieren und zu unterstützen.
Erstens: zu den außenpolitischen Herausforderungen.
Das Comprehensive Peace Agreement zwischen Nordund Südsudan ist noch nicht vollständig umgesetzt. Mit
dem Nordsudan besteht Uneinigkeit über Teile des
Grenzverlaufs sowie über die Zugehörigkeit der Region
Abyei. Die wichtige Frage der Aufteilung der Erlöse vor
allem aus der Erdölförderung zwischen dem Nordsudan
und dem Südsudan ist nach wie vor unbeantwortet und
bietet daher sehr viel Konfliktstoff.
Es gibt drei große Konfliktherde. In den vergangenen
Wochen kam es innerhalb des Sudan, in Abyei wie auch
in den Bundesstaaten Süd-Kurdufan, also in den NubaBergen, über die wir hier schon einmal diskutiert haben,
und Blauer Nil zu bewaffneten Auseinandersetzungen
erheblichen Umfangs zwischen den Sudan Armed
Forces, der SAF, und lokalen Milizen, über deren Ausrichtung uns Herr Strässer das eine oder andere mitgeteilt hat.
In Abyei konnte die Friedenstruppe die Lage beruhigen. Die überwiegend äthiopischen Soldaten zeigen dort,
was innerafrikanische Verantwortung und Solidarität bedeuten. Das ist ein wichtiger Beitrag.
Wir sind mit nur 12 Soldaten im Einsatz; wir können
diese Zahl im Fall des Falles auf 50 anheben. Insgesamt
ist es so, dass vor allem afrikanische Verbündete in der
Region tätig sind. Das bleibt ein wichtiger Beitrag zur
Friedenssicherung insgesamt und damit zur Stabilisierung des Kontinents.
In den ressourcenreichen Konfliktregionen, in SüdKurdufan und Blauer Nil, geht der Konflikt, der im Juni
ausgebrochen ist, weiter. Wir sehen, dass in den umstrittenen Gebieten mit Gewalt Fakten geschaffen werden
oder zumindest versucht wird, Fakten zu schaffen. Seit
Juli sind nach Expertenangaben 200 000 Menschen aus
Süd-Kurdufan vertrieben worden.
Diese Faktoren werden zwar von der Weltöffentlichkeit wenig beachtet, aber es wird deutlich: Wir stehen
vor einem ganz großen Konflikt, in dem wir unserer Verantwortung gerecht werden müssen.
In der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft liegt es deshalb, den Druck zu erhöhen, auch den
politischen Druck. Wir dürfen in unseren Anstrengungen, den Prozess zu begleiten, nicht nachlassen. Wir
können nicht zulassen, dass irgendwann im Hinblick auf
den Sudan von einem vergessenen Konflikt und dann,
wenn wir uns wieder daran erinnern, von einem erneuten
Völkermord oder „failed state“ die Rede sein wird, sondern wir müssen jetzt, da wir etwas tun können, handeln.
Deutschland steht als Mitglied des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen in einer besonderen Verantwortung.
Dieser Verantwortung wird unser Außenminister durch
sein Engagement und durch die wichtige Reise, die er
unternommen hat, gerecht.
({0})
Zweitens: zu den innenpolitischen Herausforderungen. Die Bildung eines Staates aus 60 verschiedenen
Ethnien ist relativ schwierig, wie sich jeder vorstellen
kann. Die Entwaffnung und Reintegration ehemaliger
oder immer noch aktiver Guerillakämpfer ist eine große
Herausforderung. Auch der Versuch, für sie eine Erwerbsbasis zu schaffen - als Handwerker, Angestellte
oder Arbeiter -, ist sicherlich eine Herausforderung, der
wir noch mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.
Der Aufbau der Infrastruktur für Bildung und Wirtschaft ist wahrscheinlich wesentlich ausschlaggebender
als der militärische Beitrag, den wir leisten können. Deshalb gilt unsere Aufmerksamkeit vor allem der politischen Verhandlungslösung und den Möglichkeiten der
Entwicklungszusammenarbeit. Als Rahmen dafür brauchen wir Stabilität und Sicherheit, einerseits politisch,
andererseits militärisch. Ich finde es richtig und gut, dass
dieser Einsatz, anders als andere Einsätze, in diesem
Haus über eine ganz breite Basis verfügt.
({1})
Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen allen bedanken. Es ist an dieser Stelle auch bemerkenswert, dass
sogar Herr Ströbele seinem Herzen einen Ruck gegeben
hat und diesem Einsatz zustimmen wird. Ihnen danke ich
ganz besonders.
Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Vor diesem
Hintergrund, dass selbst Sie zustimmen können, finde
ich es beschämend, dass die Linksfraktion diesem Einsatz nicht zustimmt. Noch beschämender finde ich, dass
wir im Plenum des Deutschen Bundestages regelmäßig
mit irgendwelchen Verschwörungstheorien konfrontiert
worden sind. Ihnen, Kollegen von der Linksfraktion, ist
das Schicksal der Menschen in Südsudan offensichtlich
vollkommen egal.
({2})
Ich bitte Sie im Namen meiner Fraktion um Zustimmung
zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Jan van Aken.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ausnahme der letzten Sätze von Herrn Mißfelder kann ich
vieles von dem, was Sie bis jetzt gesagt haben, voll und
ganz unterstützen.
({0})
- Ja.
Der junge Staat Südsudan braucht unsere Unterstützung, um die unglaublichen Probleme, vor denen er jetzt
steht, zu lösen. Es fehlt an fast allem: Es fehlt an wirtschaftlicher Entwicklung, an Schulen, an Krankenhäusern, an Straßen und vor allem natürlich an einem funktionierenden demokratischen Staatsapparat. Das Einzige,
das im Moment im Überfluss vorhanden ist, sind Waffen
und Gewalt. Das Problem ist nur: Wir stimmen heute gar
nicht darüber ab, wie diese Probleme gelöst werden können. Einzig und allein zur Abstimmung steht heute die
Frage, ob deutsche Soldaten in den Südsudan geschickt
werden sollen. Dies lehne ich allerdings ab.
({1})
Herr Mißfelder, in der heutigen Abstimmung geht es
auch nicht um all die Konflikte, die Sie geschildert haben, ob in Abyei, Süd-Kurdufan oder Blue Nile. Sie sollten sich noch einmal genau anschauen, was heute das
Thema ist.
({2})
Die entscheidende Frage ist doch: Was braucht der
Südsudan im Moment wirklich? Wie kann er von deutscher Seite unterstützt werden? Wir haben im Juli eine
lange Liste von Vorschlägen gemacht; Sie können sie
nachlesen. Ich will nur drei dieser Vorschläge vortragen.
Erstens. Die zivile Konfliktbearbeitung muss ausgebaut werden. Wir waren im November letzten Jahres vor
Ort. Wir haben dort viele hervorragende Projekte im Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung besucht. Das funktioniert.
({3})
Die zivilen Konfliktbearbeiter können den Ausbruch von
Gewalt wirklich verhindern, indem sie die Konflikte
schon vorher lösen.
({4})
Solche Projekte haben Sie, Herr Westerwelle, eingestellt,
anstatt sie auszubauen und zu unterstützen. Sie können
doch in Südsudan die Fachkräfte, die es dort jetzt gibt,
unterstützen, und Sie können neue Fachkräfte ausbilden.
Anstatt nur 5 zivile Konfliktbearbeiter aus Deutschland
dorthin zu schicken, wie im letzten Jahr, können Sie
50 oder 500 zivile Konfliktbearbeiter dorthin schicken und keine Soldaten.
({5})
Zweitens. Natürlich ist die Entmilitarisierung des
Südsudan eine der wichtigsten Aufgaben. 300 000 Männer und Frauen des Sicherheitsapparats sind dort unter
Waffen, und auch fast alle Menschen in der Zivilbevölkerung verfügen über eine Waffe. Auch hier können wir
einen Beitrag zu einer Lösung leisten, indem wir zum
Beispiel den Dialog und die Versöhnung in der Gesellschaft unterstützen, und wir können mehr dafür tun, dass
die ehemaligen Soldaten und Kämpfer eine echte zivile
Alternative bekommen. Das ist Demilitarisierung und
Reintegration.
({6})
Dafür brauchen wir drittens im ganzen Land eine
wirtschaftliche Entwicklung. Das Land ist unglaublich
fruchtbar; Herr Strässer hat das gesagt. Trotzdem kann
es bis heute seine Bevölkerung nicht selbst ernähren.
Diese Entwicklung, der Aufbau der Landwirtschaft in
der Fläche und der Aufbau von anderen Verdienstmöglichkeiten in der Fläche, ist das Gebot der Stunde.
({7})
Wir haben noch sehr viele weitere Vorschläge. Das alles können Sie in unserem Antrag nachlesen. Für jede
gute Idee zur zivilen Unterstützung des Südsudans können Sie immer mit unserer Zustimmung rechnen, für einen Militäreinsatz in Südsudan aber nicht.
({8})
Ich möchte Ihnen auch sagen, warum nicht: Die UNOTruppen in Südsudan - das ist Ihr Mandat - sollen die
Zivilbevölkerung schützen, und das an der Seite der
südsudanesischen Armee. Genau da liegt das Problem.
Sie alle, die Sie sich damit befasst haben, wissen ganz
genau, dass die südsudanesische Armee ein großer Teil
des Problems und eben nicht ein Teil der Lösung ist. Die
Soldaten der südsudanesischen Armee verletzen die Gesetze willkürlich, sie rauben, sie plündern, sie morden,
und sie haben in den letzten Wochen sehr viele zivile
Tote zu verantworten. An die Seite einer solchen Armee
wollen Sie deutsche Soldaten schicken? Das kann doch
nicht wirklich Ihr Ernst sein!
({9})
Das ist doch so, als ob Sie einem deutschen Polizisten jemanden an die Seite stellen und sagen: Pass auf, der ist
gewalttätig, der raubt und der mordet, aber jetzt geh mal
mit ihm auf Streife und sorge für Sicherheit in der Stadt. Das ist doch völlig absurd.
({10})
Aber nicht nur die südsudanesische Armee ist ein Teil
des Problems. Sie wissen genauso - das haben Sie eben
auch gesagt -, dass auch die südsudanesische Regierung
ein Teil des Problems ist. Sie wird immer undemokratischer und korrupter.
({11})
An die Seite einer solchen Regierung wollen Sie deutsche Soldaten schicken?
({12})
Ich bin der Meinung, hier machen Sie einen ganz großen
Fehler.
({13})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Ströbele hat sich gemeldet.
Ja, aber die Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Gut. - Im Übrigen bin ich der Meinung, dass
Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte, nirgendwohin, und ich finde, wir sollten bei dieser Gelegenheit einmal überlegen, wie wir all die vielen Millionen Waffen in Sudan und überall sonst auf der Welt
wieder einsammeln können. Das wäre doch einmal ein
echter Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung - und
das nicht nur in Südsudan.
({0})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Omid
Nouripour.
({0})
- Ich habe den nächsten Redner aufgerufen. Bitte.
({1})
- Der Herr Ströbele hatte sich gemeldet, als die Redezeit
schon abgelaufen war.
({2})
Jetzt hat der Kollege Nouripour das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein
bisschen bedauerlich, weil ich glaube, es wäre bereichernd gewesen, zu hören, was der Kollege Ströbele an
dieser Stelle gesagt hätte. Vielleicht finden wir ja im
Laufe der Debatte noch die eine oder andere Möglichkeit
dazu.
Herr van Aken, ich frage mich, was ich Ihnen eigentlich getan habe, dass ich hier nach Ihrer Rede zu Wort
komme und darauf reagieren muss. Sie sagen, wir müssen schauen, was der Südsudan braucht. Dann fragen Sie
die Betroffenen doch einmal, verdammt noch mal! Sie
selber fordern diese Mission. Der Südsudan genauso wie
der Norden, beide zusammen haben doch dazu aufgefordert und darum gebeten, dass es diese Mission gibt. Sie
stellen sich hier hin, als würden Sie besser wissen, was
die Sudanesen brauchen. Hören Sie doch hin, was sie
selbst wollen, verdammt noch mal!
({0})
Meine Damen und Herren, es geht um eine Mission
der Vereinten Nationen. Diese UNO-Mission leitet die
ehemalige Vizedirektorin von UNICEF. Jetzt stellen Sie
sich hier hin und sagen, dass dabei mehr Waffen ins
Land kommen. Es tut mir leid: Das ist schlicht infam.
Sie verkennen, dass es hier um Demobilisierung, Entwaffnung und Ausbildung geht, damit im Süden Sudans
tatsächlich die Sicherheitskräfte sind, die auch den Ansprüchen der Menschen dort genügen. Es tut mir sehr
leid, ich werde hier den festen Eindruck nicht los: Erst
kommt bei Ihnen die Position, und dann werden irgendwie die Argumente nachgeschoben.
({1})
Ich möchte aber noch etwas zur Bundesregierung sagen. Vor drei Monaten haben wir als Deutscher Bundestag in einem sehr schnellen Verfahren diesem Mandat
zugestimmt. Wir haben als Deutscher Bundestag gezeigt, dass wir Verantwortung übernehmen und für die
Verlässlichkeit der deutschen Außenpolitik stehen. Der
Deutsche Bundestag kann das. Deshalb möchte ich die
Vertreter der Bundesregierung bitten, dass sie aufhören,
permanent mit dem Argument der Schnelligkeit, zum
Beispiel bei der Vertiefung der Sicherheitszusammenarbeit in der Europäischen Union, am Parlamentsvorbehalt
des Bundestags zu rütteln. Unser Parlamentsvorbehalt
besteht im Kern darin, dass wir eine Parlamentsarmee
haben. Jeder Versuch dieser Bundesregierung, daran zu
rütteln, wird auf unseren festen und harten Widerstand
stoßen.
({2})
Wir werden aber auch, beispielsweise bei dieser Mission, mehr Durchblick brauchen. Von der Region Kurdufan haben wir jetzt mehrfach gehört. Die Bundesregierung hat auf die grausamen Ereignisse und das
Bombardement, das es auch vonseiten der Luftwaffe des
Nordens gab, mit nur einem Satz reagiert: Sie hat die
SPLM aufgefordert, das Wahlergebnis in dieser Region
anzuerkennen. Herr Westerwelle, das ist zu wenig, wenn
man weiß, welche Unregelmäßigkeiten es gegeben hat.
Es ist zu wenig, wenn man weiß, welche Gewalt es dort
auch seitens des Staates gegeben hat. Da reicht es nicht,
einfach nur zu sagen, dass die Wahl akzeptiert werden
muss. Es muss auch ein Gewaltverzicht her. Dafür muss
man ebenfalls plädieren.
({3})
Verantwortung bedeutet aber auch, dass man, wenn
man ein Mandat über 75 Soldatinnen und Soldaten beschließt und nur 12 hinschickt, auch einmal darüber
nachdenkt, wie man dieses Mandat tatsächlich erfüllen
kann. Das gilt gerade im Hinblick auf die Größe der
Aufgabe und weil wir wissen, wie schwer sie für die
12 Soldatinnen und Soldaten, die derzeit vor Ort sind, zu
bewältigen ist. Sie tun dies nicht, sondern Sie reduzieren
auf 50 Soldatinnen und Soldaten. Herr Kollege Spatz,
Sie haben gesagt, das liege in erster Linie daran, dass die
Militärbeobachter an der Grenze eingesetzt werden. Es
geht aber nicht nur um das Grenzregime. Die Militärbeobachter brauchen wir im ganzen Land genau aus dem
Grunde, den der Kollege Strässer genannt hat. In diesem
Land gibt es unglaublich viele Handwaffen. Es gibt so
viele Milizen, dass man dort Militärbeobachter nicht nur
an den Grenzen braucht. Dazu muss ich feststellen, dass
sich die Bundesregierung im Gegensatz zum Deutschen
Bundestag ein Stück weit aus der Verantwortung stiehlt.
Die Mission bleibt wichtig. Auch wenn es zu wenig
ist, ist es dennoch richtig, dort einzugreifen. Deshalb
werden wir diesem Mandat natürlich zustimmen.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ströbele.
Ich bedanke mich, Herr Präsident, dass ich doch noch
zu Wort kommen kann. - Kollege van Aken, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Sie haben zutreffend darauf
hingewiesen, dass in Südsudan schreckliche Zustände
herrschen, weil viel zu viele Waffen unterwegs sind,
weil die südsudanesische Armee wenig diszipliniert ist
und weil sie sich von Plünderungen, Angriffen gegen die
Bevölkerung usw. ernährt.
Nun gibt es dort - mit UNO-Mandat - eine internationale Truppe, die im Wesentlichen aus Angehörigen afrikanischer Staaten besteht. Die haben nicht die Aufgabe,
die südsudanesische Armee beim Plündern, beim Rauben und bei irgendwelchen anderen schrecklichen Taten
zu unterstützen, sondern sie haben die Aufgabe, zunächst zu beobachten, festzustellen und einzugreifen. Es
handelt sich dabei unter anderem um äthiopische Soldaten. Man kann ein großes Fragezeichen dahintersetzen,
ob die dafür besonders gut geeignet sind; aber es sind
afrikanische Soldaten. Sie sollen Plünderungen verhindern.
Wie können Sie dann dagegen sein, dass sich Deutsche beteiligen - nicht in besonderem Umfang, sondern
mit zwölf Personen -, die beim Meldeaufkommen und
bei Ähnlichem unterstützend tätig sind und dabei helfen,
solche schlimmen Taten, die auch Sie beklagen, abzuwenden? Wer sollte denn Ihrer Meinung nach die Bevölkerung vor den Überfällen der südsudanesischen Armee,
also der Armee aus dem eigenen Land, schützen, wenn
nicht eine von der UNO mandatierte, anerkannte, internationale Truppe der afrikanischen Länder, unterstützt
durch deutsche und andere europäische Soldaten?
({0})
Zur Erwiderung. Bitte.
Das Problem ist, dass es so leider genau nicht ist. Ich war im Mai in New York und habe in der UNO mit
den Sudan-Expertinnen und -Experten geredet. Ihnen
war zu diesem Zeitpunkt noch unklar, wie das Mandat
aussieht, weil sie vor genau diesem Problem standen. Sie
haben gesagt: Wir wissen, dass die südsudanesische Regierung ein Problem ist. Wir wissen, dass die südsudanesische Armee ein viel größeres Problem ist. Aber wir bekommen ohne eine Einladung der südsudanesischen
Regierung kein Mandat. Ich habe gesagt: Wenn ihr auf
Einladung der Regierung im Land seid, dann könnt ihr
nicht gegen die südsudanesische Armee agieren, weil ihr
an deren Seite kämpfen müsst. Die Antwort war: Genau
das ist unser Problem.
Deswegen wurde monatelang um eine Lösung gerungen. Herr Ströbele, schauen Sie sich das UN-Mandat und
das deutsche Mandat einmal an. Darin ist festgelegt, dass
die Soldaten an der Seite der südsudanesischen Armee
kämpfen und eben nicht gegen sie. Sie können also keine
Zivilisten vor der südsudanesischen Armee schützen.
Das gibt dieses Mandat nicht her.
Darin liegt das große Problem. Sie können doch nicht
mit Menschenrechtsverletzern auf Patrouille gehen und
hinterher sagen: Wir konnten nichts tun, weil diejenigen,
an deren Seite wir gestanden haben, selbst gemordet haben. Deswegen ist dieses ganze Konstrukt von vorne bis
hinten falsch. Das funktioniert so nicht.
({0})
Schauen Sie sich das noch einmal an und geben Sie
Ihrem Herzen einen zweiten Ruck. Ich glaube, an diesem
Punkt können Sie wirklich guten Gewissens dagegen
stimmen, Herr Ströbele.
({1})
Jetzt ist dieser Austausch beendet. - Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der
Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Ströbele, Ihr Versuch, die Linken mit Sachargumenten von der Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes zu
überzeugen, ist aller Ehren wert. Aber das Problem ist:
Sie sind den Sachargumenten gar nicht zugänglich, weil
sie nicht dafür stimmen wollen. Sie sind grundsätzlich
gegen Einsätze der Bundeswehr.
({0})
Daher suchen sie immer wieder neue Argumente, die sie
vorschieben, um diesem Einsatz, über den in diesem
Haus ein wirklich breiter Konsens besteht, nicht zustimmen zu müssen.
Meine lieben Kollegen von den Linken, sehr geehrter
Herr van Aken, es wäre aus meiner Sicht ehrlicher, zu
sagen: Sie stimmen aus ideologischen oder aus welchen
Gründen auch immer grundsätzlich nicht zu, anstatt immer neue Argumente zu suchen und diese vorzuschieben.
({1})
Als wir das letzte Mal über UNMISS abgestimmt haben, am 8. Juli dieses Jahres, blickte die ganze Welt auf
den Südsudan. Wir verfolgten gespannt die Unabhängigkeitserklärung und die Feierlichkeiten, die Gott sei Dank
friedlich abgelaufen sind. Heute, knapp drei Monate später, ist die Feier vorbei, und es stehen wieder die Probleme dieses geschundenen Landes im Vordergrund.
Die Welt hat große, vielleicht zu große Erwartungen
an die Regierung in Südsudan. Sie soll die vielen offenen Konflikte mit dem Norden lösen. Sie soll Verwaltungsstrukturen aufbauen. Sie soll das Land mit Infrastruktur erschließen. Sie soll das Land erschließen. Sie
soll die soziale und wirtschaftliche Situation der Menschen dort verbessern.
Voraussetzung dafür ist aber, dass es ihr erst einmal
gelingt, die Situation in ihrem eigenen Land, in Südsudan selbst, zu stabilisieren und zu befrieden. Das macht
sie, indem sie versucht, möglichst viele der ethnischen
Gruppen und Stammesgruppierungen einzubinden. Aber
genau das, die Bedienung der Interessen der unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen und dieser Klientel,
verhindert auf der anderen Seite den Aufbau effizienter
staatlicher Strukturen.
Das ist ein nur schwer aufzulösendes Dilemma.
Deutschland engagiert sich seit Jahren im Rahmen der
Europäischen Union und im Rahmen der Vereinten Nationen für den Frieden und den Staatsaufbau in der Region.
Über einen Teil dieses Engagements, die Entsendung
von deutschen Soldaten im Rahmen von UNMISS, stimmen wir heute ab. Es geht um maximal 50 Soldaten, von
denen sich zwölf im Einsatz befinden. Es gibt zweifelsfrei größere Einsätze der Bundeswehr. Aber dass wir im
Parlament jeden Einsatz gleichwertig behandeln, ist
auch das Signal an die Soldaten und an die Öffentlichkeit, dass wir jeden Einsatz des Militärs gleich ernst nehmen. Die zwölf Soldaten, die sich im Einsatz befinden,
leisten ihren Dienst unter sehr fordernden Bedingungen
und auf Basis einer Infrastruktur, die deutlich weniger
ausgebaut ist als in vielen anderen Einsatzgebieten.
Trotzdem sind sie hochmotiviert und erbringen höchste
Leistungen. Dafür möchten wir ihnen von dieser Stelle
aus ganz herzlich danken.
({2})
Die deutschen Soldaten sind aber nur ein Teil des
deutschen Engagements dort. Ebenfalls im Rahmen von
UNMISS sind derzeit sechs Mitarbeiter des Technischen
Hilfswerks und sieben Polizisten in Südsudan. Auch ihnen danken wir für ihren Einsatz. Hinzu kommen Mittel
der Entwicklungshilfe aus dem BMZ und dem Europäischen Entwicklungsfonds sowie vielfältige Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und kirchlichen
Trägern.
Das internationale Engagement zeigt durchaus Erfolge. Ich denke vor allem an das weitgehend friedliche
Referendum im Januar und an die Staatengründung im
Juli. Die Bundesregierung hat dies auch in ihrem Bericht
über das alte UNMIS-Mandat aufgezeigt.
Die Erfolge sind aber relativ. Seit Januar sind im Norden und im Süden des Sudan an den verschiedenen Konfliktherden über 2 000 Menschen getötet worden. Die
Probleme des Landes können nicht von außen gelöst
werden. Die Geberländer müssen ihre Hilfen so einsetzen, dass sie nicht zu mehr Klientelwirtschaft führen,
sondern die Regierung dabei unterstützen, konkrete Projekte zu verwirklichen, die der breiten Bevölkerung eine
Perspektive auf ein besseres Leben in Frieden geben.
Wir dürfen dabei die Erwartungen nicht zu hoch ansetzen. Der Staatsaufbau in Südsudan wird, wenn er erfolgreich verläuft, Jahre und Jahrzehnte dauern. Aber auch
wenn die Erfolge in Südsudan aus unserer Sicht relativ
klein sind: Aus Sicht der Menschen dort sind auch kleine
Erfolge relativ große Fortschritte. Die kleinen Erfolge
aus unserer Sicht bedeuten große Erfolge und Verbesserungen ihrer Lebenssituation.
Wir sollten deswegen unsere Unterstützung fortsetzen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Kerstin Müller das Wort.
({0})
Ich weiß, dass Sie jetzt unbedingt abstimmen wollen.
Es tut mir leid; aber ich glaube, es ist auch im Interesse
der Koalition, nämlich all derer, die zustimmen wollen,
richtigzustellen, was Herr van Aken hier fälschlicherweise behauptet hat.
Er hat behauptet, dass UNMISS nicht autorisiert
wäre, die Zivilisten vor Übergriffen der südsudanesischen Armee zu schützen. Das ist falsch. Herr van Aken,
wir haben uns schon in der letzten Debatte darüber auseinandergesetzt. Ich zitiere zunächst einmal aus dem
Mandat. Darin steht eindeutig:
Nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ist UNMISS autorisiert, zum Eigenschutz, zur
Gewährleistung der Sicherheit … sowie … zum
Schutze von Zivilisten, im Rahmen der eigenen Fähigkeiten die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Ich verweise diesbezüglich noch einmal auf meine Kurzintervention in der letzten Debatte. Im Beschluss des
UN-Sicherheitsrates gibt es zwei Paragrafen, in denen
sehr deutlich dargestellt wird, dass UNMISS autorisiert
wird, auch bei Übergriffen der südsudanesischen Armee
Zivilisten zu schützen. Ob UNMISS hinsichtlich ihrer
Kapazität dazu in der Lage ist, ist eine andere Frage.
Aber sie ist ganz klar dazu befugt. Das ist für uns ein
wichtiger Punkt, um der Fortsetzung des Mandats zuzustimmen.
Ich fordere Sie auf, nicht zum wiederholten Male falsche Behauptungen zu äußern, die die Glaubwürdigkeit
des Mandats untergraben.
({0})
Zur Erwiderung Herr van Aken.
Frau Müller, es tut mir leid, aber auch dadurch, dass
Sie es jetzt zum zweiten Mal sagen, wird das, was Sie
behaupten, nicht richtig. Ich stelle fest, dass Sie von den
Grünen als Einzige sogar eine Aufstockung des Mandats
- noch mehr Soldaten für den Südsudan - gefordert haben.
Ich stelle fest: Sie haben recht. In § 13 des Mandats
wird ausdrücklich gesagt - genau das ist für mich ein
Signal, wie gefährlich die Situation ist -, dass es Probleme bei der SPLA, der südsudanesischen Armee,
gibt. Aber in § 13 werden die UNMISS-Soldaten nicht
autorisiert - da liegen Sie falsch -, gegen die SPLA
vorzugehen.
({0})
Dort wird nur gesagt, dass sie ein Auge darauf haben
müssen, ob die südsudanesische Regierung oder Armee
Menschenrechtsverletzungen begehen. Aber die Soldaten haben keine entsprechende operative Aufgabe. Ich
war mehrere Tage in New York und habe das dort durchdiskutiert. Wir haben dort gemeinsam festgestellt, dass
das nicht sein kann. Lesen Sie es genauer! Lassen Sie
sich von den Leuten bei der UNO beraten! Dann wissen
Sie, dass Sie hier falsche Behauptungen aufstellen und
dass Sie als Grüne aus falschen Gründen immer mehr
Soldaten in den Sudan schicken wollen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung kommen, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na15320
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes bekannt, Drucksachen 17/6290 und 17/7069:
abgegebene Stimmen 535. Mit Ja haben gestimmt 294,
mit Nein haben gestimmt 241. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 535;
davon
ja: 294
nein: 241
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Bettina Kudla
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Dr. Ole Schröder
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({23})
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({24})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({25})
Michael Link ({26})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({27})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({28})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({29})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
olms
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Johannes Vogel
({30})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Hartfrid Wolff ({31})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({32})
Gerd Bollmann
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({33})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Michael Hartmann
({34})
Hubertus Heil ({35})
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({36})
Frank Hofmann ({37})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({38})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({39})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({40})
Michael Roth ({41})
Marlene Rupprecht
({42})
Axel Schäfer ({43})
Bernd Scheelen
({44})
Werner Schieder ({45})
Ulla Schmidt ({46})
Silvia Schmidt ({47})
Swen Schulz ({48})
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Katja Kipping
Harald Koch
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({49})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({50})
Volker Beck ({51})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
olms
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Katja Keul
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({52})
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({53})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({54})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Till Seiler
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den
Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsu-
dan, UNMISS. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/7213, den Antrag
der Bundesregierung auf Drucksache 17/6987 anzuneh-
men. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung
namentlich ab.
Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die Stimm-
karten einzuwerfen.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-
ten eingeworfen? - Das ist der Fall. Ich beende die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die Stimmen auszuzählen.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({55})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Programme zur Bekämpfung von politischem Extremismus weiterentwickeln und
stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix,
Daniela Kolbe ({56}), Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Demokratieoffensive gegen Menschenfeind-
lichkeit - Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen
Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen
1) Ergebnis Seite 15325 D
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstärken - Bundesprogramme gegen
Rechtsextremismus ausbauen und verstetigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Arbeit für Demokratie und Menschenrechte
braucht Vertrauen - Keine Verdachtskultur
in die Projekte gegen Rechtsextremismus
tragen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Lazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Daueraufgabe Demokratiestärkung - Die
Auseinandersetzung mit rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen gesamtgesellschaftlich angehen und
die Förderprogramme des Bundes danach
ausrichten
- Drucksachen 17/4432, 17/3867, 17/3045, 17/4664,
17/2482, 17/5435 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhard Pols
Florian Bernschneider
Diana Golze
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann
Kues das Wort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({57})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren nicht
zum ersten Mal über die Extremismusprogramme. Ich
will eingangs festhalten, dass jegliche Art von Extremismus, ganz gleich, ob von links oder von rechts oder islamistisch motiviert,
({0})
im eklatanten Widerspruch zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.
({1})
Deswegen hat es sich diese Bundesregierung zur Aufgabe gemacht, von Anfang an sämtliche demokratiefeindlichen Strömungen gleichermaßen entschieden und
nachhaltig zu bekämpfen. Sie tut das mit Erfolg.
Die Projekte, die in den Bundesprogrammen im Bereich Extremismusprävention zur Stärkung von Toleranz
und Demokratie verankert sind, leisten Hervorragendes.
Sie kennen die Präventionsprogramme gegen Rechtsextremismus „Vielfalt tut gut“ und „kompetent. Für Demokratie“ sowie das 2011 gestartete Folgeprogramm
„Toleranz fördern - Kompetenz stärken“. Unsere Bemühungen im Bereich der Prävention von Linksextremismus und von islamistischem Extremismus im Bundesprogramm „Initiative Demokratie stärken“ sind
erfolgreich. Ich freue mich darüber. Ich glaube, dass das
ein sehr positives Signal ist. Wir schulden Dank und Anerkennung all denjenigen, die sich in diesen Initiativen
gegen Rechts- und Linksextremismus engagieren. Diese
Menschen haben unsere Unterstützung verdient.
({2})
Wir werden die bisherigen Ansätze im Bereich
Rechtsextremismus fortsetzen. Wir sind ein gutes Stück
vorangekommen und gehen weiter voran; denn niemand
bezweifelt, dass Rechtsextremismus existiert und er ein
ernsthaftes Problem ist.
Es gibt aber auch - das muss man ebenfalls feststellen Linksextremismus in Deutschland. Die Notwendigkeit,
sich damit zu beschäftigen, wird von dem einen oder anderen immer wieder in Abrede gestellt. Das halten wir
für falsch und einseitig, zumal linksextremistische Straftaten in Deutschland nachweislich zugenommen haben.
({3})
Die linksextremistisch motivierten Gewalttaten sind von
701 Fällen im Jahr 2008 auf 944 im Jahr 2010 gestiegen.
Das sind über 34 Prozent. Dass wir dieser Entwicklung
aktiv gegensteuern wollen, ist absolut sinnvoll. Dazu
sollten auch Sie sich bekennen.
({4})
Das Bundesprogramm gegen Linksextremismus und
islamistischen Extremismus setzt wie die Programme
gegen Rechtsextremismus im pädagogischen, im integrativen und im bildungsorientierten Bereich an. Die
teilweise lautstark geäußerte Kritik an diesem Programm
kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, und zwar erstens, weil die Bekämpfung des Rechtsextremismus mit
gleicher Konsequenz fortgesetzt wird und die Haushaltsmittel aufgestockt wurden, und zweitens, weil es in dem
Programm gegen Linksextremismus nicht darum geht,
gegen legitime linke Gesellschaftskritik vorzugehen.
Wir wollen - das ist der Kern -, dass Kinder und Jugendliche für eine pluralistische, demokratische Gesellschaft
begeistert und für die Gefahren des Extremismus sensibilisiert werden.
({5})
Wir halten Extremismus, egal ob von links oder von
rechts, für gefährlich und machen hier keine Unterschiede. Ich sage aber auch, dass bedauerlicherweise
nicht alle diese Auffassung teilen. Der Kampf gegen die
Programme gegen Linksextremismus zeigt teilweise tragische Ausmaße. So sah sich zum Beispiel ein Institut in
Hamburg vehementer Kritik ausgesetzt, nur weil es ein
von uns gefördertes Forschungsvorhaben zum Thema
„Autonome Jugendliche“ durchgeführt hat. Das Institut
wurde zeitweilig von etwa 70 Studierenden der Hochschule besetzt, und es kam auch zu Sachbeschädigungen.
Auch andere Träger sind massiv angegangen worden,
nur weil sie Modellprojekte zur Prävention von Linksextremismus durchgeführt haben. Ich sage ausdrücklich:
Es gibt Kräfte, die auf einem Auge blind sind. Aber das
möchten wir nicht akzeptieren.
({6})
Wir wollen beide Programmhälften fortführen und uns
mit beiden Seiten auseinandersetzen. Deswegen glaube
ich, dass der Antrag, der von den Koalitionsfraktionen
eingebracht worden ist, unsere Unterstützung verdient.
Zu den Anträgen der SPD, der Grünen und auch der
Linken sage ich: Sie sehen Extremismusprävention nur
im engen Korsett der Prävention gegen Rechtsextremismus.
({7})
Sie treffen in Ihren Anträgen keinerlei inhaltliche Aussage zur Demokratieförderung. Ihnen geht es ausschließlich um die finanzielle Förderung, ohne Struktur und Vision.
Weil es Ihnen an Inhalten fehlt, machen Sie Stimmung gegen die Demokratieerklärung.
({8})
Ich weiß nicht, wo das eigentliche Problem liegt. Es geht
doch lediglich darum, dass jeder, der Geld vom Staat be15324
kommt, unterschreiben muss, dass er es für Zwecke der
Demokratieförderung einsetzt.
({9})
Es geht nicht um einen Generalverdacht gegenüber den
Trägern. Es ist bemerkenswert, dass der Großteil der
Träger überhaupt keine Probleme mit dieser Demokratieerklärung hat.
({10})
Ich glaube, dass wir gute Gründe haben, genau hinzuschauen, wer von diesen Maßnahmen profitiert. Ich habe
schon beim letzten Mal auf einige sehr praktische Beispiele hingewiesen. Es kann nicht sein, dass Extreme
von den Programmen gegen Extreme profitieren. Das ist
mit unserem Verständnis nicht vereinbar.
Herr Kollege Kues, ich muss Ihren Redefluss unterbrechen; denn der Kollege Kindler würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Das hat er doch schon beim letzten Mal gemacht. Ist
er überhaupt hier?
({0})
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Kindler.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt,
dass der Wissenschaftliche Dienst dieses Hohen Hauses
ein Gutachten zur sogenannten Demokratieklausel - wir
sagen: Extremismusklausel - verfasst hat und in diesem
Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die Demokratieklausel verfassungsrechtlich höchst bedenklich bzw.
sogar verfassungswidrig ist, weil sie einen Bekenntniszwang der Träger verlangt, was in keinem Verhältnis zu
dem steht, was an staatlichen Geldern gegeben wird?
Teilen Sie weiterhin meine Einschätzung, dass eine Zivilgesellschaft Vertrauen sowie Unterstützung und nicht
Misstrauen braucht und dass dies das große Problem ist,
weswegen so viele Träger und zivilgesellschaftliche Initiativen dagegen vorgehen und protestieren?
Das Letzte, was Sie gesagt haben, dass viele zivilgesellschaftliche Träger und Initiativen dagegen vorgehen,
stimmt schlichtweg nicht.
({0})
Sogar zahlreiche Kommunen haben unterschrieben, obwohl sie überhaupt nicht dazu verpflichtet sind. Erinnern
Sie sich einmal an die Diskussion im Bundesrat. Dort
gab es eine Initiative vom Land Berlin gegen die Demokratieerklärung. - Ich sage gleich noch etwas zu der Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes. - Am letzten
Freitag ist dem Antrag des Landes Berlin auf Änderung
der Demokratieerklärung vom Bundesrat mit seiner momentanen Mehrheit eine klare Absage erteilt worden,
weil man offenkundig die rechtliche Basis dafür nicht als
tragfähig angesehen hat.
Zu der Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages gibt es ganz klare Gutachten von Wissenschaftlern und Fachleuten. Wir haben auch Stellungnahmen der Verfassungsressorts, in denen steht, dass das
eine ausgesprochen dünne Expertise gewesen ist. Wir
verlassen uns auf die Stellungnahme der Verfassungsressorts. Wieso werden Klagen zurückgezogen, wenn es angeblich rechtswidrig ist? Weil man auf dieser Basis nicht
erfolgreich sein wird. Sie können es vor Gericht gerne
noch einmal versuchen.
Langer Rede kurzer Sinn: Wir werden daran festhalten, den Extremismus von beiden Seiten zu bekämpfen.
Ich wäre sehr dankbar, wenn diejenigen, die uns immer
vorwerfen, wir seien auf dem einen Auge blind, bei Aktivitäten gegen Linksextremismus und Islamismus an der
Seite der Regierung stünden.
({1})
Entscheidend ist, dass Demokraten in dieser Sache zusammenhalten. Deswegen sollten Sie da mitmachen.
({2})
Für die SPD hat jetzt der Kollege Sönke Rix das
Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Ich möchte zunächst auf den Koalitionsantrag
eingehen. Wenn man ihn liest, dann stößt man auf die
Schlagwörter, die sehr häufig darin zu finden sind: weiterentwickeln, prüfen. Sie wollen eine verbesserte Koordination und Zusammenarbeit der Ministerien. Es ist
richtig und gut, Programme für Demokratie und Toleranz weiterzuentwickeln. Aber was wollen Sie konkret
für die Initiativen vor Ort tun, die an diesen Programmen
beteiligt sind? Die Antwort auf diese Frage fehlt in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union
und FDP. Das Ziel muss sein, eine Gesamtstrategie zu
entwickeln. Auch das haben Sie richtig formuliert. Doch
mit welchen Mitteln und mit welchen konkreten SchritSönke Rix
ten Sie dieses Ziel erreichen wollen, steht nicht in Ihrem
Antrag.
({0})
Wenn Sie mit den Initiativen vor Ort sprechen - Sie
tun das sicherlich genauso häufig wie wir -, dann werden Sie auf die Probleme stoßen, die man mit diesen
Programmen hat. Mir geht es um die konkrete Ausführung der Programme. Daher will ich jetzt keine Debatte
über den Extremismus von links und rechts führen, sondern einen genauen Blick auf diese Programme werfen.
Wenn man die Strategien für Demokratie und Vielfalt
ernst nimmt, dann braucht man Mittel, die langfristig
und nicht nur kurzfristig zur Verfügung stehen.
({1})
Diese Mittel brauchen wir für die Schaffung von Strukturen. Geld ist auch bitter nötig für Opferberatung, für
Beraterteams und für die zahlreichen Initiativen vor Ort.
Die Strategien für Demokratie und Vielfalt brauchen
nicht nur jede Menge finanzielle Mittel, sondern auch
Flexibilität, was die Abrufung dieser Mittel angeht. Ich
nenne ein kleines Beispiel. Sie alle kennen den Verein
„Gesicht Zeigen!“. Gerhard Schröder ist der Schirmherr
und Uwe-Karsten Heye ist der Vorsitzende. Auch Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen sind Mitglied in diesem Verein. Dieser Verein hat elf Projekte
kofinanziert, die aktiv vor Ort im Rahmen unserer Programme tätig waren. Bei dieser Kofinanzierung ergibt
sich allerdings das Problem, dass sie nicht dauerhaft geleistet werden kann. Weil unsere Programme nicht flexibel gestaltet sind, mussten diese elf Projekte wieder eingestellt werden. Deshalb muss die Struktur der
Programme flexibler werden. Ich hätte mir gewünscht,
wenn Sie diese Programme einmal daraufhin evaluiert
hätten und zu mehr Flexibilität gekommen wären. Das
ist aber leider nicht passiert.
({2})
Ein weiteres Thema - ich habe es schon angesprochen - ist die Kofinanzierung insgesamt. Wir haben uns
in der Großen Koalition bereit erklärt - ich habe selber
dazugelernt; Kollegin Griese hat zusammen mit mir die
entsprechenden Verhandlungen geführt -, einer Kofinanzierung in Höhe von 50 Prozent zuzustimmen. Sie haben
uns vorhin aufgefordert, etwas zum Programm gegen islamistischen Extremismus zu sagen. In diesem Bereich
ist beispielsweise nur eine Kofinanzierung von 15 Prozent nötig, während es bei den Programmen gegen
Rechtsextremismus 50 Prozent sind.
({3})
Das ist - in der Tat - absolut seltsam. Für die Projekte ist
es schwer, eine Kofinanzierung von 50 Prozent sicherzustellen. Da brauchen wir eine Änderung.
({4})
Ich will ein ganz konkretes Beispiel nennen: Die
Amadeu-Antonio-Stiftung führt ein sehr sinnvolles Projekt durch: no-nazi.net. Wir alle wissen: Junge Menschen und leider auch die Rattenfänger der Rechtsextremisten sind viel im Netz unterwegs. Dieses Projekt
kostet 150 000 Euro. 75 000 Euro kommen vom Bund.
Weitere Mittel für dieses Projekt stammen aus privaten
Spenden, aus Spenden von Firmen. Aber es fehlen immer noch 20 000 Euro für die Kofinanzierung. Hier stellt
sich wieder die Frage: Warum sind 50 Prozent Kofinanzierung festgeschrieben? Warum gibt es hier nicht mehr
Flexibilität? Solche Projekte sind wichtig. Ich glaube,
dass keiner in diesem Hohen Hause etwas gegen diese
Projekte hat.
({5})
Ich habe mit Absicht nicht davon gesprochen, wie
schlimm es ist, im Bereich des Extremismus links und
rechts voneinander zu trennen. Ich bitte darum, dass wir
uns die Projekte anschauen und die aktive Zivilgesellschaft vor Ort dazu einladen, gemeinsam mit uns diese
Programme zu durchforsten, um herauszufinden: Wo
sind sie zu bürokratisch? Wo sind sie zu starr? Wir müssen die Demokratiearbeiter vor Ort - so nenne ich sie
einmal - unterstützen und dürfen ihnen nicht noch mehr
Bürokratie aufbürden. Wir müssen versuchen, zu gewährleisten, dass ihre Arbeit dauerhaft finanziert wird.
Daran sollten wir alle in diesem Hause gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag zur Fortsetzung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan
bekannt: abgegebene Stimmen 521. Mit Ja haben gestimmt 462, mit Nein haben gestimmt 58, eine Enthaltung. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 521;
davon
ja: 462
nein: 58
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({2})
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
olms
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Bettina Kudla
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Christian Schmidt ({13})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({14})
Dr. Ole Schröder
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({17})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({18})
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({21})
Gerd Bollmann
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({22})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Michael Hartmann
({23})
Hubertus Heil ({24})
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({25})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({26})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({27})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({28})
Michael Roth ({29})
Marlene Rupprecht
({30})
Axel Schäfer ({31})
Bernd Scheelen
({32})
Werner Schieder ({33})
Ulla Schmidt ({34})
Silvia Schmidt ({35})
Swen Schulz ({36})
Frank Schwabe
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
olms
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({37})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({38})
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({39})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({40})
Michael Link ({41})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({42})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({43})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({44})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Johannes Vogel
({45})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Hartfrid Wolff ({46})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({47})
Volker Beck ({48})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Katja Keul
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({49})
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({50})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({51})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Till Seiler
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Katja Kipping
Harald Koch
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({52})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
olms
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({53})
Jetzt hat der Kollege Florian Bernschneider für die
FDP das Wort.
({54})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Rix, vielen Dank für die sachliche
Rede. Ich hätte mir gewünscht, der SPD-Antrag und die
bisherigen Debatten hätten ebenso sachlich ausgesehen.
({0})
Das konnte ich aber leider nicht feststellen.
Lassen Sie mich in dieser Diskussion eingangs eines
sagen: An unserem Antrag kann man feststellen, dass
diese christlich-liberale Koalition die Gefahren, die vom
Rechtsextremismus auf unsere Demokratie und unsere
Gesellschaft ausgehen, ernst nimmt. Deswegen bitte ich
Sie - ich habe die Pressemitteilungen der Kollegen gelesen -: Hören Sie mit Ihrem ständigen Kürzungsmärchen
auf! Es wird nicht richtiger, wenn man Falsches wiederholt.
({1})
Es ist mir, ehrlich gesagt, wurscht, ob Sie es verstehen, dass man an Verwaltungskosten sparen kann, ohne
dass Projekte darunter leiden. Fakt ist: Diese schwarzgelbe Koalition investiert mehr in die Arbeit gegen
Rechtsextremismus und für Demokratie und Vielfalt als
jede andere Koalition zuvor. Wir geben mehr als doppelt
so viel für diesen Bereich aus wie Rot-Grün und auch
mehr als Schwarz-Rot. Aber klar ist auch: Wenn es um
die Verteilung der Präventionsmittel geht, dann darf man
sie in einer wehrhaften Demokratie nicht allein an der
Zahl der Straftaten ausrichten. Denn wenn es zu einer
Straftat kommt, dann ist es für Prävention zu spät. Wir
müssen uns ein sensibles Frühwarnsystem zulegen, um
rechtzeitig auf die Gefahren für unsere Demokratie präventiv zu reagieren.
Im Sinne eines solchen Frühwarnsystems möchte ich
Ihnen einmal den Text eines Liedes vortragen, das Sie
sich auf YouTube anhören können. Im Song „Hass“ von
Holger Burner heißt es - ich zitiere direkt aus einem Bericht des Brandenburger Verfassungsschutzes -:
Wir haben Hass auf die Polizei / Hass auf den Staat /
Hass auf eure Fressen, Hass / Auf die Waffen, die
ihr tragt/Hass auf die Art, wie ihr Massen verarscht /
Du würdest niemals glauben / Wie viel Hass ich
noch hab … Wir ham euch etwas mitgebracht /
Hass, Hass, Hass.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich weiß
nicht, wie Sie sich fühlen, wenn Sie so etwas hören.
Mein persönliches Frühwarnsystem für unsere Demokratie schlägt da Alarm. Ich weiß als jugendpolitischer
Sprecher meiner Fraktion sehr wohl, dass man Raptexte
nicht immer auf die Goldwaage legen sollte. Aber eines
muss man von demokratischen Kräften schon erwarten
können, nämlich dass sie sich von solchen Texten deutlich distanzieren.
({2})
Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion distanzieren sich aber nicht von diesem Text. Ganz im Gegenteil: Sie stellen den Verfasser dieses Textes sogar als
Kandidaten zur Bürgerschaftswahl in Hamburg auf. Ich
erspare es Ihnen und uns an dieser Stelle, die hochpeinlichen Erklärungsversuche der Genossen aus Hamburg
wiederzugeben. Sie disqualifizieren sich damit in solchen Diskussionen automatisch. Deswegen kann man
Sie an dieser Stelle nicht ernst nehmen.
({3})
Dass Sie dabei hier im Plenum immer wieder Unterstützung von Rot-Grün bekommen, ist schockierend. Erklären Sie doch einmal den Leuten auf der Straße - eine
einfache Frage -, warum wir so viel Engagement zeigen
sollen, rechtsextreme Schulhof-CDs zu verhindern, aber
vor genau solchen Texten, die im Internet kursieren, die
Augen verschließen. Das versteht niemand.
({4})
Deswegen ist es richtig, dass wir mit unserem Antrag
zum Beispiel die Prävention im Internet vorantreiben
wollen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie haben sich mit Ihrem Antrag verrannt, verrannt
in eine Ideologie, bei der es nur um Mittel gegen Rechtsextremismus geht. Damit verschließen Sie aber die Augen leider nicht nur vor dem Linksextremismus, sondern
auch vor anderen Gefahren. Sie kommen damit automatisch in eine absurde Situation; denn während Ihre eigenen Kollegen im Hessischen Landtag hartnäckig ein
Präventionskonzept gegen islamistischen Extremismus
einfordern, während Grüne in Frankfurt zu Recht gegen
Hassprediger wie Pierre Vogel demonstrieren, fordern Sie
in Ihrem Antrag - ich zitiere Ihre Forderung 7 -, „diese
Förderprogramme spezifisch auf den Kampf gegen
Rechtsextremismus auszurichten und keine Verteilung
der verfügbaren Mittel auf andere Extremismusformen
vorzunehmen“.
({5})
Meine Damen und Herren, das ist einfach absurd. Das
versteht niemand. Der Wahlkampf - das will ich an dieser Stelle einmal sagen, auch weil dieser vielleicht die
Debatten in letzter Zeit aufgeheizt hat - ist vorbei. Deswegen ist es jetzt an der Zeit, dass Sie sich einem breiten
Präventionskonzept öffnen, bei dem wir einen deutlichen
Fokus auf die Arbeit gegen Rechtsextremismus legen,
aber eben die Augen nicht vor anderen Gefahren verschließen.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Petra
Pau das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenige Zahlen vorweg: Im statistischen Schnitt werden
bundesweit stündlich zweieinhalb Straftaten registriert,
die rechtsextremistisch motiviert sind. Tag für Tag werden nach derselben Statistik zweieinhalb rechtsextreme
Gewalttaten erfasst. Wir wissen, diese Zahlen stapeln
tief. Nach langjährigen Erfahrungen liegen die realen
Zahlen rechtsextremer Ausfälle um circa 50 Prozent höher. Entsprechend groß ist die Zahl der Opfer.
Unabhängige Beobachter weisen aus und auch nach,
dass im vereinten Deutschland seit 1990 137 Menschen
durch rechtsextreme Gewalt zu Tode kamen. Das heißt,
Rechtsextremismus ist hierzulande wieder eine Gefahr
für Leib und Leben. Das ist ein anhaltender Befund.
Folglich war es naheliegend, zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen, die dem vorbeugen und sich zur
Wehr setzen. Das geschieht seit über zehn Jahren, allerdings oftmals halbherzig und zunehmend widerwillig.
Seitdem die Union und die FDP die Bundesregierung
bilden, erleben wir eine regelrechte Diffamierung von zivilgesellschaftlichem Engagement gegen grassierenden
Rechtsextremismus. Herr Staatssekretär, mit der sogenannten Extremismusklausel sollen natürlich diese Initiativen für Demokratie und Toleranz Verfassungstreue
schwören. Sie haben gerade gefragt: Was ist dabei? Man
könnte ja sagen: Was ist dabei? Sie werden aber zudem
verpflichtet, ihre gesellschaftlichen Partner zu observieren. Ich finde, das ist eine Unkultur des Misstrauens, und
das lehnen wir ab.
({0})
Auch andere Entwicklungen in diesem Bereich legen
den Schluss nahe, der zivilgesellschaftliche Kampf gegen Rechtsextremismus soll verstaatlicht, entpolitisiert
und ausgetrocknet werden. Das sich abzeichnende Programm des leider zuständigen Bundesfamilienministeriums zeigt das. An die Stelle engagierter Bürgerinnen
und Bürger tritt dann der Inlandsgeheimdienst - wir haben Anfragen zu diesem Thema gestellt -, wenn der Verfassungsschutz jetzt in den Schulen diese Arbeit übernimmt. Anstelle politischer Aufklärung werden im
Freistaat Sachsen beispielsweise Schwimmevents veranstaltet, bei denen auch die NPD gegen Extremismus mitspielen darf.
Anstatt sie moralisch und finanziell zu unterstützen,
sollen die Fördermittel des Bundes für zivilgesellschaftliche Initiativen nun gekürzt werden. Die Bundesregierung stellt sich damit meiner Meinung nach tatsächlich
selbst ein Armutszeugnis aus, übrigens ein für die Gesellschaft gefährliches.
({1})
Zum Schluss ein vierter Gedanke. Rechtsextremismus
ist mehr als die NPD. Er ist ein gesellschaftliches Phänomen und kann folglich auch nur durch die Gesellschaft
gebannt werden. Ein weitsichtiger Staat unterstützt das;
die aktuelle Bundesregierung tut das Gegenteil. Als Beleg möchte ich Ihnen die aktuellen Wahlergebnisse der
NPD ins Gedächtnis rufen: Sie konnte bei mehreren
Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse verbuchen, und
zwar bei jungen Menschen, bei Arbeitslosen, bei prekär
Beschäftigten, bei Männern und in ländlichen Milieus.
Da offenbaren sich rechtsextreme Einstellungen, die im
Übrigen durch ein Verbot der NPD nicht verschwinden
werden.
Es wäre also gesellschaftliche und politische Weisheit
gefragt. Deshalb bedauert die Linke, dass die CDU/CSU
und die FDP derzeit dazu weder willens noch fähig sind.
Ich danke Ihnen.
({2})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Monika Lazar das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
wenigen Wochen zog in Mecklenburg-Vorpommern die
NPD zum zweiten Mal infolge in einen Landtag ein.
Gleiches gelang der NPD 2009 in Sachsen, wo sie auch
in allen Kreistagen vertreten ist. Bundesweit gibt es auf
kommunaler Ebene zahlreiche Mandate für Rechtsextreme.
Als demokratische Politikerinnen und Politiker sollten wir uns alle fragen: Wie kommt es, dass eine rassistische und menschenfeindliche Partei wie die NPD in unserem Land so viel Zuspruch erhält? Was vermissen die
Menschen, und wo müssen wir bessere demokratische
Angebote machen? An welcher Stelle gibt die demokratische Politik ein schlechtes Vorbild ab? Wo lassen wir
Lücken, die die Menschenfeinde für sich nutzen?
Bei diesen Überlegungen helfen uns die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Rassismus engagieren. Sie
tragen zu einer Kultur der Toleranz und Menschenrechtsorientierung bei, die wir ausbauen müssen. Das
Familienministerium allerdings glaubt, Demokratie ließe
sich per Verwaltungsakt regeln. Zu diesem Zweck wurde
die sogenannte Extremismusklausel eingeführt.
In den letzten Monaten haben wir bereits zahlreiche
Debatten geführt: in den Ausschüssen, im Plenum und
auch anderswo. Nicht nur betroffene Initiativen, sondern
auch zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Gewerkschaften, Kirchen, der Zentralrat der Muslime, der Zentralrat der Juden und viele andere Stellen
beteiligten sich daran. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat
sogar eine Chronik erstellt und darin die unterschiedlichen Proteste dokumentiert. Kritik äußerten auch einige
Bundesländer. Das Land Berlin brachte einen Antrag in
den Bundesrat ein. Der federführende Ausschuss für
Frauen und Jugend votierte für Zustimmung. Es kam allerdings keine Beschlussfassung zustande, weil der Ausschuss für Innere Angelegenheiten nicht zustimmte.
Zwei juristische Gutachten kamen zu dem Ergebnis,
dass die Extremismusklausel nicht verfassungskonform
ist. Alle Oppositionsfraktionen dieses Hauses stellten
sich mit parlamentarischen Anträgen gegen diese Klausel. Ich finde es demokratiepolitisch wirklich fragwürdig, dass die Bundesregierung all diese Appelle und Reaktionen schlicht ignoriert, sich auf ihre Machtposition
zurückzieht und das Problem aussitzt.
({0})
Es gebe ja kein Problem, die überwiegende Anzahl der
Initiativen würde ja unterzeichnen, was Herr Kues vorhin wieder bestätigt hat. Natürlich tun das die meisten,
da sonst ihre Projekte gestoppt würden oder sogar ihre
Existenz auf dem Spiel stünde. Es gibt allerdings Träger,
die wegen der Klausel gar keine Anträge mehr stellen
und somit in der Statistik natürlich nicht auftauchen.
Dazu gehören in meiner Heimatstadt Leipzig die beiden
soziokulturellen Zentren „VILLA“ und „Conne Island“.
Das Netzwerk für Demokratie und Courage etwa beklagt
einen Verlust von circa 10 Prozent der Ehrenamtlichen,
die als Teamerinnen und Teamer in Schulen Projekttage
angeboten haben. Dieser Rückzug geschieht nicht etwa
deswegen, weil sie nicht hinter den demokratischen Werten dieser Gesellschaft stehen, sondern weil sie sich,
durch diese Klausel verunsichert, enttäuscht zurückgezogen haben. Wer sich gegen Rechtsextremismus engagiert, stärkt unsere Demokratie; wir brauchen mehr und
nicht weniger davon.
({1})
Vor einer Woche führte selbst der Papst in seiner Rede
im Bundestag aus, dass die offizielle Staatsmeinung, die
sich gegen bestimmte Gruppen richtet, falsch sein kann.
Als Beispiel nannte er die Widerstandskämpfer, die gegen das Naziregime handelten „und so dem Recht und
der Menschheit als Ganzem einen Dienst erwiesen“ haben. Mit einem Zitat von Origines propagierte der Papst
eine Haltung, die in Bezug auf zivilgesellschaftliche
Bündnisse noch immer Aktualität besitzt: Es sei mitunter
sehr vernünftig, „auch entgegen der … bestehenden
Ordnung Vereinigungen“ zu bilden. Nun frage ich die
Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Steht der Papst
damit noch auf dem Boden des Grundgesetzes, oder
müsste er als Partner der Zivilgesellschaft ausfallen?
Die Anträge der Oppositionsfraktionen fordern eine
Umsteuerung bei der Bundesförderung von Projekten
gegen Rechtsextremismus. Die Bundesregierung muss
endlich anerkennen, dass eine starke Zivilgesellschaft
eine verlässliche Förderung braucht. Die Kürzung von
2 Millionen Euro sind Fakt. Wir haben nichts dagegen,
wenn in der Verwaltung etwas eingespart wird; aber
dann kann man die 2 Millionen Euro an die Projekte geben,
({2})
zum Beispiel an die Opferberatung, die immer noch sehr
stark unterfinanziert ist.
Es geht aber auch um eine klare inhaltliche Ausrichtung; ich habe das mehrfach wiederholt. Der „Extremismus-Einheitsbrei“ taugt nicht für eine zielgerichtete Förderpraxis. Wir fordern daher ein Programm, das sich
gegen Rechtsextremismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Antisemitismus, aber auch Sexismus und Homophobie richtet.
({3})
Dabei gehört auch die sogenannte Mitte der Gesellschaft
in den Fokus.
Auch wenn Sie unsere Anträge heute wieder ablehnen
werden: Wir werden an dieser Thematik dranbleiben.
Vielleicht setzt bei Ihnen endlich einmal ein Erkenntnisgewinn ein.
Vielen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU hat jetzt die Kollegin Dorothee
Bär das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Lazar, ich stelle fest, dass sich der Besuch von Papst
Benedikt schon deshalb gelohnt hat, weil sich die Grünen jetzt in ihren Reden dauernd auf den Papst beziehen.
Es ist sehr gut, dass auch in die anderen Fraktionen etwas Weisheit übergeschwappt ist.
({0})
Ich möchte gleich mit einem der Vorwürfe anfangen,
mit denen Sie uns gerade konfrontiert haben. Ihr Vorwurf betraf die Kürzung um 2 Millionen Euro. Ich bin
dankbar, dass Sie einsehen, dass sich die Kürzung allein
auf Verwaltungskosten bezieht. Wir alle haben doch die
Schuldenbremse gewollt, zumindest der Teil des Hauses,
der sagt, dass wir nicht auf Kosten zukünftiger Generationen leben wollen. Da müssen wir, auch wenn es bitter
ist, in jedem Bereich Einsparungen erbringen. Das geht
hier nicht zulasten der Projekte; es handelt sich nur um
Einsparungen bei den Verwaltungskosten. Jeder von uns
sollte froh sein, wenn wir die Entbürokratisierung auch
an dieser Stelle vorantreiben.
({1})
- Heute geht es aber um die Bekämpfung von Extremismus jeglicher Art.
Eigentlich muss man annehmen, dass Toleranz gegenüber Andersdenkenden, ein respektvolles und gewaltfreies Miteinander in der Demokratie selbstverständlich
sind. Wenn wir uns aber die aktuellen Zahlen und den
bundesweiten Verfassungsschutzbericht anschauen, müssen wir erkennen, dass das leider Gottes nicht überall so
ist. Das fängt schon mit Kleinigkeiten an: mit der Bagatellisierung rassistischer Sprüche, diffusen Ressentiments gegenüber Fremden, Neid und Missgunst gegenüber anderen. Das geht weiter mit Gewalt, nicht nur
gegen Sachen, sondern insbesondere auch gegen Menschen. Deswegen brauchen wir - das ist völlig richtig bei der Bekämpfung dieser Phänomene ein ganz entschiedenes Auftreten. Aber das macht die christlich-liberale Koalition: Wir haben im Koalitionsvertrag bekräftigt, dass wir Kinder und Jugendliche und alle anderen
Akteure vor Ort mit einem umfassenden Programm bei
ihrem Engagement, das in unserem Land sehr vielfältig
ist, für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und gegen jegliche Form des Extremismus unterstützen.
Es unterscheidet uns leider von den anderen, dass nur
wir sagen: Wir wollen jede Form des Extremismus bekämpfen.
({2})
Die ganzen Reden von der linken Seite des Hauses sind
mir einfach ein bisschen zu einseitig. Wir haben unsere
Programme darauf ausgerichtet; denn es ist wichtig, zu
sagen, dass man nicht zwischen gutem und schlechtem
Extremismus unterscheiden kann. Es ist nicht so, dass
Rechtsextremismus ganz furchtbar und Linksextremismus ein Kavaliersdelikt ist.
({3})
Das ist er nicht. Linksextremismus muss ebenso bekämpft werden. Kinder und Jugendliche müssen frühzeitig erfahren, dass demokratische Grundwerte unverzichtbar sind.
({4})
Wir wollen mit unserem Programm vorbeugen. Wir
wollen, dass sich extremistische Einstellungen bei jungen Menschen gar nicht erst auswirken können.
({5})
Deswegen wollen wir, dass Jugendliche, Eltern, Erzieher
und Erzieherinnen dafür sensibilisiert werden. Wir wollen, dass die Gefahren frühzeitig erkannt werden. Deswegen ist neben dem Schutz und der Prävention bei Kindern ein gesamtgesellschaftliches Engagement unersetzlich.
({6})
Wir wollen die demokratische Grundordnung, die von
beiden Seiten, von links und von rechts, bekämpft wird,
ändern. Das sind die typischen Beißreflexe von Ihnen.
({7})
Die Neuausrichtung ist, anders als von der Opposition
behauptet, keine Relativierung des Rechtsextremismus
und auch keine undifferenzierte Gleichsetzung von
Links- und von Rechtsextremismus.
({8})
Heute war in der Zeitung zu lesen, was die TU Dresden plant. Der Studentenrat bietet Seminare an, in denen
man lernt, wie man Polizisten bei Demonstrationen gezielt angreifen kann, und das alles unter dem Deckmantel: Wir wollen damit die Nazis bekämpfen.
({9})
Es wird toleriert und für in Ordnung befunden, wenn
sich Studenten zusammenschließen.
({10})
Man muss überlegen: Wie geht man damit um, wenn in
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung Studenten beigebracht bekommen, so mit Polizisten umzugehen?
Man muss Zivilcourage aufbringen, und zwar nicht
nur bei Tendenzen zu rechtsextremistischen Straftaten.
Allein für Juli 2011 stellt das Bundeskriminalamt bundesweit fast doppelt so viele Gewalttaten von linksextremistischer wie von rechtsextremistischer Seite fest. Die
Zahl der durch Linksextremisten verletzten Opfer ist sogar um das Dreifache höher. Deswegen wollen wir diese
andere Form des Extremismus bekämpfen.
Ich verstehe nicht - ich muss auf die Aussagen des
Staatssekretärs zurückkommen, der meines Erachtens in
hervorragender Weise versucht hat, es denjenigen zu erklären, die es immer noch nicht begreifen wollen -, wa15332
rum Sie nicht wollen, dass sich Kooperationspartner, deren Maßnahmen finanziell unterstützt werden, zum
Grundgesetz unserer Bundesrepublik bekennen müssen.
Ich verstehe die Problematik nicht.
({11})
- Es ist eine ganz perfide Art und Weise, zu behaupten,
da wird jemand ausgespitzelt, wir brauchen mehr Vertrauen.
({12})
Dass jemand Fördergelder der Bundesrepublik Deutschland bekommt - das sind Ihre Steuergelder -, obwohl er
nicht auf unserer demokratischen Grundordnung steht,
ist mit uns nicht zu machen. Deswegen: Unterstützen Sie
es!
({13})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Menschen auf den Tribünen! Auch der
Bund der Vertriebenen bekommt Steuergelder von Ihnen, muss allerdings eine solche Erklärung nicht unterzeichnen.
Ich will mich in meinem Redebeitrag auf etwas anderes konzentrieren, und zwar auf den Beitrag, den die
politische Bildung für den Erhalt und die Stärkung unserer Demokratie leisten kann. Das ist ein Konsensthema;
denn alle Fraktionen im Deutschen Bundestag finden
politische Bildung wichtig, auch die FDP.
Der Kreisvorsitzende der Frankfurter FPD, Dirk Pfeil
heißt der Mann, hat eine etwas krude Ansicht zum
Thema politische Bildung. Er hat nach der Berlinwahl
Folgendes zu Protokoll gegeben:
Es ist schlimm, dass die Mehrheit der Bevölkerung
keine politische Bildung genossen hat. Die Masse
ist meinungslos, sprachlos.
Es fährt fort mit:
Ich verzweifle am mangelnden Willen der Wähler,
sich ein bisschen schlauer zu machen.
Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass die beklagenswerten Ergebnisse der FDP auf einen Mangel an politischer
Bildung zurückzuführen sind,
({0})
eher im Gegenteil.
Frau Kollegin Kolbe, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?
Unbedingt.
Frau Kollegin, herzlichen Dank. - Sie haben ein Zeitungsinterview erwähnt. Sind Sie bereit, sich über das
historisch politische Wissen in diesem Haus auszutauschen? Denn Ihre Fraktion hat sich heute erlaubt, eine
mit Steuergeldern finanzierte Anzeigenkampagne zu
schalten,
({0})
in der das Walter-Ulbricht-Zitat - das schändliche Mauerzitat: „Niemand hat die Absicht …“ - mit der Kanzlerin Frau Merkel in Zusammenhang gebracht wird. Sind
Sie mit mir der Auffassung, dass das eine schändliche
Anzeige der SPD-Fraktion ist,
({1})
die auf Kosten der Steuerzahler erstellt wurde und in der
ein Zusammenhang zwischen dem Ulbricht-Zitat,
Mauer, Toten und Stacheldraht und der Bundeskanzlerin,
die eine ostdeutsche Biografie hat, hergestellt wird?
({2})
- Die Bemerkungen der Kollegen von der SPD-Fraktion
zeigen, dass das Thema Aufarbeitung hier im Deutschen
Bundestag noch eine ganz große Rolle spielen muss.
({3})
Herr Kollege, man kann sich über das Layout und den
Inhalt durchaus streiten. Ich glaube aber, dass die SPDFraktion damit einen Beitrag zur politischen Bildung der
Bevölkerung geleistet hat.
({0})
Durch diese Anzeige wurde in Erinnerung gerufen, wie
die Menschen in diesem Land gerade regiert werden.
({1})
Ich finde, mit den Stichworten, die dort genannt werden,
wird die Regierungswirklichkeit gut beschrieben.
Frau Kolbe, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage
der Frau Bär?
Ja.
Bitte schön, Frau Bär.
Habe ich Sie jetzt richtig verstanden? Haben Sie gesagt, dass die SPD einen Beitrag zur politischen Bildung
leistet, indem sie die Bundeskanzlerin in einen Kontext
mit Stacheldraht und Erschießungen setzt?
({0})
- Weil Sie keine Ahnung von der Geschichte haben. Lesen Sie sich das doch einmal durch! Geschichtsvergessen!
({1})
Entschuldigung, Herr Lange, Frau Kolbe hat das
Recht, zu antworten, nicht Sie.
Sicherlich wollte die SPD-Bundestagsfraktion die
Bundeskanzlerin nicht in den Zusammenhang stellen,
den Sie hier gerade angedeutet haben. Wir wollten noch
einmal darauf hinweisen, mit welcher „Gradlinigkeit“
- ich sage das in Anführungsstrichen - wir derzeit von
Schwarz-Gelb regiert werden. Ich glaube, das ist ganz
gut und eindrücklich gelungen.
({0})
Ich fahre fort. Auch wenn Dirk Pfeil nicht jedermanns
Ton trifft - meinen jedenfalls nicht -, freue ich mich darüber, dass eigentlich das ganze Haus den Wert der politischen Bildung anerkennt; denn die politische Bildung
ist in der Tat - jetzt kommen wir zu einem ernsteren
Thema - so etwas wie ein Schutzfilm für die durchaus
dünne Lackschicht unserer Demokratie. Wie dünn diese
ist, können wir nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern
sehen, wo die NPD ein zweites Mal in den Landtag eingezogen ist. Das können wir nicht nur bei rechtsextremistischen Straftaten sehen - in Leipzig ist im Herbst
des vergangenen Jahres ein junger irakischer Mann einem rassistisch motivierten Mord zum Opfer gefallen -,
sondern auch an einem ganz anderen Punkt, der mir persönlich ebenso wie vielen anderen große Sorgen bereitet:
Es geht darum, wie weit Elemente eines extrem rechten
Denkens schon in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sind. Ich führe ein paar Zahlen aus den „Mitte“-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung an, die ich sehr empfehlen kann.
({1})
- Das ist sicher ein neutrales Institut, und die Umfragen
genügen sicherlich jederzeit wissenschaftlichen Ansprüchen. - Laut diesen Studien stimmt jeder elfte Befragte
antisemitistischen Äußerungen zu, jeder fünfte Befragte
national-chauvinistischen Äußerungen und sogar jeder
vierte Befragte ausländerfeindlichen Aussagen. Laut
diesen Studien sind wir damit konfrontiert, dass mehr als
10 Prozent der Bevölkerung in den neuen Ländern ein
geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Das ist eine
Sache, mit der wir uns auseinandersetzen sollten.
Ehrlich gesagt, im Grunde sind wir uns einig, was zu
tun ist: Wir brauchen mehr politische Bildung. Wir müssen die Schülerinnen und Schüler ansprechen, die Lehrerinnen und Lehrer, und wir müssen an die Vereine herantreten. Diese rhetorische Einigkeit finde ich sehr gut.
Lassen Sie uns aber einmal schauen, wie es mit dem
Handeln aussieht. Was braucht man für gute, nachhaltige
politische Bildung, die einen wirklichen Beitrag zur
Stärkung unserer Demokratie leistet? Ich komme beruflich aus dem Bereich der politischen Bildung. Ich weiß,
dass es mindestens drei Dinge braucht. Man braucht eine
langfristige Finanzierung, Vertrauen, und man braucht
Qualitätssicherung und einen strukturellen Überbau.
Wenn ich mir vor diesem Hintergrund Ihre Bilanz anschaue, muss ich sagen: Das sieht eher mau aus.
Zum Punkt Langfristigkeit: Sie weigern sich, das Problem der kurzfristigen Finanzierung in Ihren Programmen anzugehen. Es herrscht eine Krankheit beim Kampf
für mehr Demokratie, die ich als Projektionitis beschreiben würde. Die Träger müssen sich von Antrag zu Antrag hangeln und haben eigentlich nie wirklich Zeit und
langfristige Sicherheit, um sich mit ihrem Thema zu befassen. Es gäbe kreative und grundgesetzkonforme Lösungen, aber diese lehnen Sie ab.
Punkt Vertrauen. Wer Lust auf Demokratie wecken
soll, zum Beispiel in Schulen bei Lehrern, muss das Gefühl haben, dass die Arbeit gewollt ist, dass sie anerkannt wird und dass der Geldgeber Vertrauen in die jeweilige Institution hat. Was machen Sie? Sie machen
eine Extremismusklausel speziell für Demokratieinitiativen und setzen sie damit - das spüren diese Initiativen einem allgemeinen Verdacht aus. Sie richten hier massiv
Schaden an; Frau Lazar hat einige konkrete Beispiele genannt.
Stichwort „Qualitätssicherung und organisatorischer
Überbau“. Es gibt in Deutschland eine Institution, die einen Blick von außen, einen Überblick ganz wunderbar
hinbekommt und wirklich Qualitätssicherung betreibt.
Das ist die Bundeszentrale für politische Bildung. Das
wissen Sie selber. Das machen Sie auch in Ihrem Handeln deutlich; denn Sie haben das große Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ der Bundeszentrale übergeben.
({2})
Daniela Kolbe ({3})
Gleichzeitig finden unglaubliche Kürzungen der Mittel
für die Bundeszentrale statt: dieses Jahr mehr als 1 Million Euro und nächstes Jahr 3,5 Millionen Euro. Das ist
der Stand von vor der Wiedervereinigung.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kolbe.
Diese Kürzungen sind peinlich, und damit schädigen
Sie die Demokratiearbeit in Deutschland nachhaltig.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss zunächst zu der vorangegangenen Diskussion sagen, dass es mich persönlich sehr gefreut hat, wie
viele Kollegen der Sozialdemokratie, aber auch von
Grünen und Linken heute Ihre Anzeige in der Welt als
geschmacklos empfunden haben und in persönlichen
Gesprächen dokumentiert haben, dass das nicht der Stil
ist, wie wir uns hier auseinandersetzen.
({0})
- Sie gehören anscheinend zu den Befürwortern, aber
ich kann Ihnen versichern: Viele Ihrer Kollegen fanden
das geschmacklos und in dieser Form nicht akzeptabel.
({1})
- Sie können mir gerne Fragen stellen.
({2})
Ich komme zum zweiten Punkt, den ich Ihnen sagen
möchte. Wir haben in diesen Debatten nach wie vor eine
Unschärfe beim Extremismusbegriff. Natürlich ist es absurd, zu glauben, dass politischer Extremismus in seinen
unterschiedlichen Erscheinungsformen gleich behandelt
werden kann. Genauso - da würde ich Ihnen recht geben geht es darum, spezifische Extremismusbegriffe für
Linksextremismus, für religiös motivierten Extremismus, aber auch für Rechtsextremismus zu entwickeln.
Natürlich geht es auch darum, spezifische Programme
für diese jeweils unterschiedlichen Phänomene - sie sind
alle vorhanden - zu entwickeln.
({3})
Wir sollten nicht in den Vergleich zwischen links und
rechts verfallen. Es gibt Linksextremismus, es gibt religiös motivierten Extremismus, es gibt Rechtsextremismus. Es kann nicht darum gehen, das eine gegen das andere aufzurechnen. Vielmehr sollten wir genau hinschauen, welches Phänomen wie beseitigt bzw. wie ihm
begegnet werden kann.
({4})
Deswegen sollten Sie mit Ihrer Aufrechnerei aufhören
und sich an ernsthaft und wissenschaftlich geführten Debatten
({5})
über den spezifischen Extremismusbegriff beteiligen.
({6})
- Wir vermischen die Dinge nicht miteinander.
({7})
Wir trennen sehr wohl zwischen den unterschiedlichen
Formen.
Schließlich - es ist mir besonders wichtig, dies zu sagen -: Alle Programme sind gut und schön. Wenn wir es
aber nicht schaffen, in dieser Legislaturperiode und in
den Jahren, die kommen, der Mitte unserer Gesellschaft
in einer Zeit, in der viele Menschen Angst haben, in der
viele Menschen Zukunftsängste und Ungewissheiten
verspüren, eine Perspektive zu geben, die weit über die
spezifischen Angebote, die solche Präventionsprogramme bieten, hinausgeht, und einen umfassenden Ansatz zu entwickeln, dann werden wir in Zukunft leider
ein Erstarken der politischen Ränder erleben.
Ein letzter Satz. Natürlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man sich zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung und zum Grundgesetz bekennt. Ich
glaube, wer das in Zweifel zieht, sollte noch einmal genau darüber nachdenken, was er sagt.
({8})
Richtig ist - das gestehe ich Ihnen zu -, die Frage zu
stellen: Wie weit erstreckt sich die Garantieerklärung,
die man dort abgeben soll, auf Ehrenamtliche und Mitarbeiter? Auch ich finde, hier sollte man darauf achten,
dass man nicht unpraktikable, in der Sache nicht gerechtfertigte und zu weitgehende Regelungen trifft.
({9})
- Ja. Das ist etwas, worüber man durchaus auch einmal
reden kann.
({10})
Dass man aber prinzipiell dazu in der Lage sein sollte, zu
sagen: „Wir stehen auf dem Boden der freiheitlichDr. Stefan Ruppert
demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“, ist
eine Selbstverständlichkeit,
({11})
die es kaum wert ist, hier so ausführlich debattiert zu
werden.
Vielen Dank.
({12})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Eckhard Pols von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ja, passen Sie auf! Es geht gleich los. Es steigt heute
Abend noch.
({1})
Ich bin der letzte Redner. Da steigt das Niveau immer.
({2})
„Linken-Propaganda schon im Kindergarten“,
„Rechtsextreme NPD zieht erneut in den Schweriner
Landtag ein“ und „Polizei verhindert einen islamistischen Anschlag in Berlin“, das alles sind Schlagzeilen,
die uns vor Augen führen, dass der Extremismus in unserer toleranten, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft kein Randphänomen ist. Das sind Schlagzeilen, die belegen, dass Extremismus eine ernst zu
nehmende Bedrohung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist.
Als christlich-liberale Koalition lehnen wir jeden
politischen Extremismus ab, egal ob von links, von
rechts oder religiös motiviert; denn jede Form von Extremismus stellt eine Gefahr für unsere Demokratie dar.
Unsere Aufgabe ist es, junge Menschen vor extremistischem Gedankengut zu schützen und gegen totalitäre
Ideologien aus allen Richtungen immun zu machen. Der
beste Impfstoff dafür ist, dass Kinder und Jugendliche
frühzeitig für Demokratie begeistert werden, und das mit
Erfolg.
Unsere Bundesfamilienministerin hat mit der Ausweitung der Extremismusprogramme auf die Bereiche
Linksextremismus und Islamismus den richtigen Weg
eingeschlagen. Liebe Opposition, Herr Rix, Sie müssen
endlich erkennen, dass es in Deutschland mehr als nur
Rechtsextremismus gibt. Wir verfolgen hier einen ganzheitlichen Ansatz zur Prävention und Behandlung.
Für das laufende Jahr, für 2011, haben wir den Haushaltsansatz zur Bekämpfung des Extremismus und zur
Stärkung der Demokratie um 5 Millionen Euro auf insgesamt 29 Millionen Euro erhöht.
({3})
Sie werden mir zustimmen, dass dies der höchste Ansatz
ist, den wir seit zehn Jahren in diesem Bereich hatten.
Die Opposition hat zu Jahresbeginn kritisiert, wir
würden durch die Bündelung der Programme die freien
Initiativen vor Ort beschneiden, weil wir den Kommunen das Antragsrecht eingeräumt haben. Sie haben die
Bedingung, dass die Initiativen eine Erklärung zur Verfassungstreue abgeben müssen, massiv kritisiert. Was
haben Sie hier nicht alles prophezeit, wie die Arbeit der
Initiativen vor Ort durch die Neustrukturierung der Programme zunichtegemacht wird! Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache:
({4})
84 Kommunen, die schon aus dem vorherigen Programm „Vielfalt tut gut“ Fördermittel erhalten haben,
werden mit dem neuen Bundesprogramm „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ weiter gefördert; die übrigen
sechs haben keine Anträge eingereicht.
Zusätzlich zu den bisherigen 90 Lokalen Aktionsplänen sollen 90 weitere gefördert werden. Auch hier gibt
es eine positive Resonanz: Von den ausgewählten 90 Lokalen Aktionsplänen im Bundesprogramm „Toleranz
fördern - Kompetenz stärken“ haben im Mai 2011 alle
bis auf drei Lokale Aktionspläne ihre Arbeit aufgenommen. Von den ausgewählten 52 Modellprojekten haben
bislang 30 Modellprojekte einen Zuwendungsbescheid
erhalten. Hier scheint die Angst vor der Abgabe einer
Demokratieerklärung also nicht so groß zu sein wie bei
einigen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause.
Im Übrigen ist es verantwortungslos von der Opposition, mit dem obligatorischen Bekenntnis zur Verfassungstreue eine derartige Panik bei den Trägern zu schüren.
({5})
Verantwortungsvolle Politik, meine Damen und Herren
von der Opposition, sieht anders aus.
({6})
Völlig deplatziert ist auch die Diskussion im Zuge der
Beratungen des Haushalts für 2012. Die Oppositionsfraktionen interpretieren die Kürzung des Haushaltsansatzes um 2 Millionen Euro auf 27 Millionen Euro und
die Umbenennung des Titels in „Maßnahmen zur Extremismusprävention“ im Haushaltsentwurf als Richtungswechsel unserer Familienministerin. Sie suggerieren der
Öffentlichkeit nicht nur eine Kürzung bei den Programmen, sondern auch eine mangelnde Wertschätzung durch
die christlich-liberale Koalition.
Ich sage Ihnen: Die Einsparungen führen nicht zu finanziellen Einschnitten, weder bei den Lokalen Aktionsplänen noch bei den Beratungsnetzwerken noch bei den
Modellprojekten.
({7})
Künftig wird das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben als Regiestelle mit der administrativ-technischen Abwicklung des Programms „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ beauftragt. Das
heißt, wir sparen bei der Verwaltung der Programme
durch Bürokratieabbau und effektive Öffentlichkeitsarbeit, jedoch nicht - das betone ich besonders - bei der
Umsetzung vor Ort. Dies ist ganz bestimmt im Sinne der
Steuerzahler, die hier auch zahlreich auf der Tribüne sitzen.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/5435.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seine Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4432
mit dem Titel „Programme zur Bekämpfung von politischem Extremismus weiterentwickeln und stärken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3867 mit dem Titel
„Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus
nachhaltig unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3045 mit dem Titel „Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstärken - Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus ausbauen und verstetigen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4664 mit dem Titel „Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht
Vertrauen - Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen
Rechtsextremismus tragen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2482 mit dem Titel „Daueraufgabe Demokratiestärkung - Die Auseinandersetzung mit rassistischen,
antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen gesamtgesellschaftlich angehen und die Förderprogramme
des Bundes danach ausrichten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verbesserung der sozialen
Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben
- Drucksache 17/6167 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Nachdem die erforderlichen Umgruppierungen im
Saale nun vorgenommen worden sind, eröffne ich hiermit die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Memet
Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Viele von Ihnen werden die Situation kennen: Sie sind ein Vater oder eine Mutter, und Ihr
Kind ist krank. Sie wissen nicht, was es hat, aber es
scheint ihm sehr schlecht zu gehen. Ein furchtbares Gefühl! Der erste und richtige Impuls ist natürlich, das
Kind sofort in die nächste Arztpraxis oder ins Krankenhaus zu bringen.
Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland sehen von Arzt- und Krankenhausbesuchen ab, bis es nicht
mehr anders geht. Verschleppung von Krankheiten und
schwerwiegende Schäden können die Folge sein. Und
die Bundesregierung macht bis heute keinerlei Anstalten, an diesen empörenden Zuständen etwas zu ändern.
Menschen ohne Aufenthaltsstatus müssen in Deutschland in ständiger Angst leben. Bei jedem Kontakt mit öffentlichen Stellen gehen sie ein hohes Risiko ein, als sogenannte Illegale identifiziert zu werden. Diese
Menschen sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben
in unser Land gekommen. Werden sie entdeckt, schiebt
man sie ab. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass ihnen
auch noch der Zugang zu grundlegenden Menschenrechten erschwert oder unmöglich gemacht wird.
({0})
Besonders Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus können nichts für ihre Situation und sind besonders schutzbedürftig. Ihnen dürfen grundlegende Menschenrechte nicht verwehrt werden.
({1})
Die Aufhebung der Übermittlungspflichten für die Träger von Schulen und Tageseinrichtungen war ein Schritt
in die richtige Richtung, liebe Kollegin Vogelsang. Da
für den Kindergartenbesuch aber Leistungen nach dem
Kinder- und Jugendhilfegesetz erforderlich sind, muss
die Bundesregierung statuslosen Kindern endlich auch
Zugang zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
verschaffen. Sonst bleibt dies Augenwischerei.
({2})
Auch die Umsetzung der EU-Sanktionsrichtlinie liegt
haarscharf daneben. Würden diese Menschen vor Gericht gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen klagen
oder ausstehenden Lohn einfordern, wenn Abschiebung
die sichere Folge ist?
({3})
Auch Arbeitsgerichte sind in Deutschland immer noch
verpflichtet, ihre Daten an die Ausländerbehörde zu
übermitteln, Herr Kollege.
({4})
Die Umsetzung der Richtlinie ist hier zur Farce geraten.
Es ist doch geradezu töricht, nicht zu erkennen, dass die
Streichung der Übermittlungspflicht auch eine sehr
wirksame, nämlich eine wirtschaftliche Waffe gegen
Schwarzarbeit wäre.
Eines Rechtsstaats unwürdig und schlichtweg ein
Skandal ist auch die Tatsache, dass humanitär motivierte
Hilfe für diese Menschen hierzulande immer noch
strafbar ist. Vor genau einer Woche stand Papst
Benedikt XVI. hier an dieser Stelle. Auch in Erinnerung
an dieses wichtige Ereignis möchte ich die Bundesregierung ermahnen, sich das Gebot der christlichen Nächstenliebe ins Bewusstsein zu rufen.
({5})
Es kann nicht sein, dass sich Menschen in Deutschland
strafbar machen, wenn sie dieses Gebot ernst nehmen
und ihren Nächsten aus humanitären Gründen im Rahmen ihres Berufs oder aus privatem Engagement heraus
mit Rat und Tat zur Seite stehen, auch wenn ihre Nächsten keinen Aufenthaltsstatus haben.
({6})
An allen diesen Punkten setzt unser Gesetzentwurf
an. Er ist geeignet, Menschen ohne Aufenthaltsstatus in
Deutschland die Angst vor der Wahrnehmung ihrer
Grundrechte zu nehmen, indem er die Übermittlungspflichten für die öffentlichen Stellen, die der Gefahrenabwehr oder der Strafpflege dienen, so belässt, im Übrigen aber abschafft. Der Entwurf steht nicht im
Widerspruch zu der Pflicht des Staates, illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Durch
ihn wird auch der Rechtsstaat nicht gefährdet. Ganz im
Gegenteil: Er verschafft Menschen ohne Aufenthaltsstatus Zugang zu ihren Grund- und Menschenrechten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Mensch ist illegal, und kein Mensch darf sich in Deutschland nach
dem Gesetz in einer Lage befinden, in der er Angst davor haben muss, zum Arzt zu gehen, seine Kinder in die
Schule zu schicken oder vor Gericht gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu klagen. Stimmen Sie bitte
für unseren Gesetzentwurf, und tun Sie etwas Gutes.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Michael Frieser hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Kilic, Sie wissen es eigentlich besser. Ich befürchte fast, dass das Redemanuskript
vor der entscheidenden Beschlussfassung fertig war oder
Sie diesen Antrag irgendwo in der Schublade gefunden
haben. Anscheinend ist die Beschlussfassung zu diesem
Thema und die Umsetzung der Beschlüsse wirklich an
Ihnen vorbeigegangen.
({0})
Ich will es noch einmal deutlich machen: Wir haben
wirklich das in unserer Macht Stehende getan, all das
aufzunehmen und umzusetzen, was wir rechtsstaatlich
gerade noch für verantwortbar halten. Um es noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Es geht im Normalfall um
sich hier illegal aufhaltende Menschen. Sie erwecken
den Eindruck, dass genau das nicht das eigentliche
Thema wäre. Ich meine, dass sich der Rechtsstaat, auf
den diese Menschen so erpicht sind, in diesen Fragen
und an dieser Stelle mit einem Instrumentarium versorgen muss, mit dem er in die Lage versetzt wird, darauf
ordnungsgemäß zu reagieren.
({1})
Heute geht es um die Frage der Umsetzung; und die
Grünen versuchen, mit etwas angereicherter Ideologie
noch einmal nachzufassen. Wir kommen leider Gottes zu
dem Ergebnis, dass sich hinter Ihren Forderungen eine
Open-Door-Politik versteckt, die lediglich die Botschaft
vermittelt: Kommt alle her, egal aus welchen Gründen.
Wir werden dann schon sehen, wie es weitergeht.
({2})
Rechtsstaatlich gesehen liegt genau in dieser Form der
Gleichmacherei eigentlich eine Ungerechtigkeit denen
gegenüber, die mit Recht hier sind und mit Recht einen
Aufenthaltsstatus genießen. Darauf sollte man zumindest Rücksicht nehmen.
Lassen Sie mich angesichts der Änderungen an der
Vorlage der Regierungskoalition, die wir in der Sommerpause bereits durchgebracht haben, auf die von Ihnen angesprochenen Einzelpunkte, soweit ich das tun kann,
eingehen. Ihre Forderungen sind nämlich entweder wirklich überflüssig, weil die jetzige Gesetzeslage bereits
eine Regelung enthält, oder rechtsstaatlich tatsächlich
nicht durchzusetzen.
Erstens. Was soll bitte an der länderübergreifenden
Verteilung von Menschen, die sich hier illegal aufhalten,
unzumutbar sein, und zwar abgesehen von der Tatsache,
dass in § 15 a Abs. 5 Aufenthaltsgesetz für die Verwaltung bereits die Möglichkeit einer Ausnahme bei der
Verteilung vorgesehen ist? Über diese Möglichkeit hinauszugehen, halten wir wirklich für überzogen.
Zweitens. Sie glauben weiterhin, einen Zeugenschutz
einführen zu müssen. Bezüglich Ihrer Forderung, aussagebereiten Zeugen eine Aufenthaltserlaubnis zu geben,
weise ich darauf hin, dass wir in Übereinstimmung mit
der Opferschutzrichtlinie schon entsprechende Regelungen eingeführt haben. Ich glaube, dass die von Ihnen
vorgeschlagene Regelung entbehrlich ist, weil wir ihrer
an dieser Stelle wirklich nicht bedürfen.
Drittens geht es um die Bedenkzeit, also darum, dass
man im Rahmen des Rechtsschutzes auch die Opferbedenkzeit verlängern sollte. Ich kann nur versuchen, hier
gegliedert vorzugehen. Ich glaube, dass wir mit einer nahezu gleichlautenden Regelung in unserem Richtlinienumsetzungsgesetz bereits die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben. Das müssten Sie in Ihrer Vorlage zumindest einmal aktualisieren.
Viertens geht es um die Frage des Vergütungsanspruchs. Hierzu findet sich in dem neuen § 25 Abs. 4 b
Aufenthaltsgesetz bereits eine fast inhaltsgleiche Formulierung. Ich weiß nicht, warum dieses Thema, das wir in
zig Debatten, sowohl im Ausschuss als auch hier im
Bundestag, bereits behandelt haben, noch einmal im Antrag thematisiert werden musste. Auch da sollte Ihre
Vorlage aktualisiert werden.
Fünftens. Hier kommen wir zu einem SPD-Lieblingsthema, dem der Prozessstandschaft, das ins Arbeitsgerichtsgesetz eingeführt werden soll. In der Art und
Weise kennt das unser Rechtssystem nicht. Dass man in
der Prozessstandschaft für andere deren Rechte durchsetzt, ist uns grundsätzlich fremd. Letztendlich gibt es
keinen nachvollziehbaren Grund, warum wir das an dieser Stelle einräumen sollten oder einräumen müssten.
({3})
Sechstens. Es geht um die Frage der Beihilfe. Herr
Kollege, wenn Sie der Auffassung sind, dass die Frage,
wer aus humanitären Gründen Illegalen Beihilfe gibt, ein
abgrenzungsfähiger Tatbestand wäre, dann muss ich Ihnen sagen: Das lässt sich in keiner Weise abgrenzen, weder rechtlich noch staatsrechtlich noch in irgendeiner anderen Weise, und schon gar nicht bei der Frage der
Ermittlung.
({4})
So etwas einzuführen, halte ich für schwierig.
Wir kommen im Grunde am Ende zu der Bewertung,
dass es um ein Paradoxon geht. Es handelt sich um Menschen, die in dieses Land kommen, weil sie sich von diesem Rechtsstaat Hilfe erbitten.
({5})
Aber wenn die Frage des Status berührt ist, über den wir
zur Normierung und Entscheidung berufen sind, sollen
wir diesen Rechtsstaat wieder aushebeln. Diesen Widerspruch können wir auf keinen Fall zulassen.
({6})
Ich nehme an, dass wir noch etwas über Änderungen
des Status von Kindern hören werden. Es geht natürlich
um den Status von Kindern. Das zu Herzen gehende Beispiel sei Ihnen unbenommen, Herr Kollege Kilic.
({7})
Aber man muss trotzdem sagen dürfen, dass wir den
Kindergarten- und Schulbesuch von Kindern gerade deshalb geregelt haben, damit es keine Angst mehr vor
Übermittlungsbotschaften und den normalerweise zu
übermittelnden Daten geben muss.
({8})
Deshalb geht auch dieser Appell meiner Ansicht nach
ins Leere.
Der Staat hat ein Interesse daran, die Frage zu klären,
wie er mit Vergütungsansprüchen umgehen soll. Wir
können nicht ungehindert eine Zahl von Migranten zulassen. Denn der Anreiz der Beschäftigung ist immer
noch der wichtigste Anreiz; die meisten kommen aus
wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland.
Lassen Sie mich das Beispiel Spanien anführen. Die
Spanier dachten, sie könnten mit einer Reihe von Amnestien Illegalen den Aufenthalt gewähren und ihnen einen rechtlich unbegrenzten Status zubilligen. Das hatte
für Spanien zur Folge, dass 700 000 Menschen legalisiert wurden und weitere ins Land kamen. Es wurden
also vor allem Erwartungen nach oben geschraubt, und
das brachte es mit sich, dass auch diese Menschen letztendlich ihren Status anerkannt haben wollten.
Damit komme ich zum Ende. Es ist meines Erachtens
menschenunwürdig, Menschen eine Perspektive vorzugaukeln, die sie nicht haben. Unsere Intention muss sein,
den Menschen schneller zu vermitteln, wer in diesem
Land bleiben kann, und diesen Menschen unsere Zuwendung zukommen zu lassen. Aber derjenige, der ohne
Aufenthaltsstatus illegal in diesem Land lebt, muss
schneller die Botschaft bekommen: Hier kannst du nicht
bleiben. - Das ist aus unserer Sicht menschenwürdiges
Verhalten.
({9})
Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn nicht Frau Staatsministerin Böhmer selbst mir
Herrn Frieser als neuen integrationspolitischen Sprecher
der CDU/CSU-Fraktion vorgestellt hätte, dann würde
ich ernsthaft daran zweifeln, dass er diese Funktion bekleidet. Vielleicht hat sich das auch geändert; ich weiß es
nicht.
({0})
Der Gesetzentwurf, um den es heute geht und der
vom Kollegen Kilic begründet worden ist, ist schon deswegen sehr gut, weil er in weiten Teilen wortwörtlich
das aufgenommen bzw. abgeschrieben hat, was wir in
unserem Gesetzentwurf vom November 2009 niedergelegt haben.
({1})
Das beklage ich aber nicht, indem ich sage: „Das ist ein
unzulässiges Plagiat“, sondern ich betrachte das als
Kompliment.
({2})
Ich gebe jetzt ein Kompliment zurück. Denn der Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen ist insofern aktueller, weil er auch die Frage der Umsetzung der Sanktionsrichtlinie umfassend mit aufgenommen hat. Ich
denke, es wäre richtig, wenn wir im Laufe der weiteren
Beratungen daraus einen gemeinsamen Gesetzentwurf
formulieren würden. Dann kann man bei der Gelegenheit noch das eine oder andere herausnehmen, was aus
meiner Sicht nicht ganz so glücklich ist.
Die Verteilung von Illegalen ist - damit haben Sie
nicht ganz unrecht, Herr Kollege Frieser - in dem Gesetzentwurf fehl am Platze. Denn Illegale existieren nicht für
die Behörden. Sie können nicht verteilt werden. Weil sie
den Ausländerbehörden nicht bekannt sind - das ist
schließlich das Wesen des illegalen Aufenthalts -, kann
man ihnen schlecht vorschreiben, wohin sie ziehen sollen. Das schließt sich in sich ein bisschen aus.
({3})
Um was geht es? Wir - das sage ich unter Einschluss
meiner Person - arbeiten im Forum „Leben in der Illegalität“ seit mindestens 13 Jahren an dieser Frage. Die
CDU/CSU, die diesem kirchlich initiierten
({4})
und geleiteten Arbeitskreis nahestehen sollte, hat zum
Teil auch konstruktiv mitgearbeitet. Wir waren im Jahr
2005 in den Koalitionsvereinbarungen schon einmal so
weit, dass wir eine Änderung der Übermittlungspflichten
als dringend notwendig ansahen. Dass es so etwas gibt,
ist ohnehin ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen
Gesetzgebung. Alle anderen Länder haben begriffen,
dass es bei der Frage, wie wir mit Menschen umgehen,
um eine menschenrechtliche Verpflichtung geht, die
nicht bei der Nationalität und dem Aufenthaltstitel haltmacht.
Wenn man mit staatlicher Hilfe durch die Übermittlungspflichten einen Grund dafür schafft, dass Menschen
keine ärztliche Versorgung in Anspruch nehmen, weil
sie Angst haben müssen, wenn sie Leistungen beim Sozialamt bzw. je nach Verwaltungsorganisation auch beim
Ausländeramt beantragen - nur die Notfallrettung ist
ausgenommen worden; das haben wir in den Verwaltungsvorschriften erreicht -, dann ist das, glaube ich,
nicht human.
Wenn man außerdem dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche, die - Herr Kollege Kilic hat damit doch recht
- noch viel weniger etwas dafür können, was ihre Eltern
im Hinblick auf das Ausländerrecht hier in Deutschland
gemacht oder nicht gemacht haben, nicht in den Kindergarten oder zur Schule gehen, weil sie Angst davor haben müssen, dass der illegale Status ihrer Eltern bzw. der
ganzen Familie aufgedeckt wird,
({5})
dann stellt das in der Tat ein großes Problem dar. Das
kann nicht im Sinne der Integration sein.
({6})
Obwohl Sie sich der Lösung dieses Problems ein wenig
genähert haben - das will ich gar nicht verhehlen -, ist es
mit der Entwicklung des Bewusstseins für dieses Problem bei den Kollegen von FDP und CDU/CSU nicht so
weit her. Sie müssten ansonsten nämlich konsequent
weitergehen und sagen: Jeder, der in Deutschland ohne
Aufenthaltsstatus lebt - das hat mit dem Pull-Effekt gar
nichts zu tun; es geht um Menschen, die schon da sind,
die also entweder nach Ablauf ihres Visums nicht ausgereist sind oder nach Ablehnung ihres Asylantrags ohne
Aufenthaltserlaubnis hier geblieben sind -, muss ohne
Angst vor Entdeckung zumindest ärztliche Versorgung
beanspruchen können, seine Kinder in die Schule schicken können und seinen Arbeitslohn einklagen können.
Wollen Sie allen Ernstes diejenigen Arbeitgeber, die
den illegalen Status ausnutzen und Menschen ausbeuten,
begünstigen, indem Sie dafür sorgen, dass die betreffenden Menschen noch nicht einmal die Arbeitsgerichte anrufen können? Das kann ich mir offen gestanden nicht
vorstellen. Das ist jedenfalls mit einer humanen Gesinnung - entschuldigen Sie bitte meine Bewertung - nicht
vereinbar.
({7})
- Das ist zutiefst unchristlich, wie ich finde. Da ich aber
keiner Kirche angehöre, bin ich mit Vorwürfen an die
andere Seite ein bisschen zurückhaltender.
Noch in einem anderen Punkt ist der Gesetzentwurf
richtig und stimmt mit unseren Vorstellungen überein.
Wir haben zu Zeiten der Großen Koalition, die gelegentlich ihr Gutes hatte und Gutes gemacht hat, den Fall der
qualifizierten Strafbarkeit der Beihilfe zum illegalen
Aufenthalt ausdrücklich aufgehoben, weil wir das für
nicht richtig hielten. Wir haben aber schlicht übersehen,
dass der einfache Fall der Beihilfe nach den allgemeinen
Vorschriften des Strafrechtes noch immer strafbar ist.
Das muss im Gesetz deswegen ausdrücklich klargestellt
werden.
Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, Perspektiven vorzugaukeln. Es geht darum, den betroffenen
Menschen ein Mindestmaß an sozialen Rechten einzuräumen und dafür zu sorgen, dass der Staat keine unbotmäßigen Hürden aufbaut bzw., wie dargestellt, dazu Beihilfe leistet. Ich hoffe, dass Sie sich endlich überwinden
können, nicht nur punktuell etwas zu ändern, sondern,
wie auch sonst in Europa üblich, Übermittlungspflichten
nur für diejenigen Stellen einzuführen, die für die Strafverfolgung oder die Einhaltung der öffentlichen Sicherheit zuständig sind. Geistliche und Sozialarbeiter sollten
von diesen Pflichten aber auf jeden Fall ausgenommen
werden. Das Gesetz gehört diesbezüglich umfassend bereinigt. Dazu fordere ich Sie erneut auf.
Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Kirchen und solchen Leuten wie Pater Alt und Schwester Bührle, die
sich hier erheblich eingesetzt haben. Es wäre schön,
wenn Sie Ihrem Herzen endlich einen Stoß geben könnten und sich christlich verhalten würden.
Danke schön.
({8})
Der Kollege Hartfrid Wolff hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf ist etwas bizarr. Wir haben hier im Hause
erst am 7. Juli dieses Jahres einen Gesetzentwurf dazu
verabschiedet. Die Richtlinienumsetzung ist eigentlich
bereits erfolgt. Warum die Grünen nicht schon damals
den jetzigen Gesetzentwurf vorgelegt haben, ist mir etwas rätselhaft.
({0})
Hartfrid Wolff ({1})
Bereits im April dieses Jahres haben wir über Vorschläge
zur Umsetzung der Rückführungs- und der Sanktionsrichtlinie diskutiert, Kollege Veit. Die Grünen haben
schlicht den Termin verschlafen und wollen sich jetzt
mit einem verspäteten Aufguss alter Ideen als wach im
Bereich sozialer Rechte für Illegale präsentieren.
({2})
Das ist wenig überzeugend.
Wir haben bei den abschließenden Beratungen des
Richtlinienumsetzungsgesetzes zu Recht festgestellt: Es
ist ein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen
ändern, um den Schul- und Kindergartenbesuch von
Kindern zu gewährleisten. Bildung ist die Basis für die
gesellschaftliche Integration und den persönlichen Erfolg. Rot-Grün war dagegen.
({3})
Die Koalitionsfraktionen haben sich auch entschieden,
die Stabilisierungszeit für Menschenhandelsopfer auf
drei Monate auszudehnen. Wir folgen damit dem dringenden Petitum von Opferverbänden, aber auch der Polizei. Rot-Grün war dagegen. Wir haben dafür gesorgt,
dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch hin von
Nichtregierungsorganisationen besucht werden dürfen.
Grün war dagegen.
({4})
Ausgerechnet diejenigen, die sich immer als Hüter
des Flüchtlingsrechts gerieren, haben diesen wichtigen,
wegweisenden Verbesserungen nicht zugestimmt.
({5})
Interessant daran ist, dass die SPD bei der Verabschiedung der Richtlinien noch mitgewirkt hat. Das hatte sie
aber offensichtlich bis dahin vergessen. Da kann ich nur
sagen: Man sieht, dass nur aus taktischen Erwägungen
gehandelt wird. Wenn es darum geht, wirkliche Verbesserungen für die Betroffenen zu schaffen, dann duckt
sich Rot-Grün weg.
({6})
Rot-grüne Politik heißt, lieber gegen die Koalition zu
stimmen, als Verbesserungen zu schaffen. Das ist wirklich nicht an der Sache orientiert. Der sehr verspätet vorliegende Gesetzentwurf der Grünen ist Aktionismus und
täuscht Handeln nur vor. Die Koalition handelt und hat
gehandelt.
({7})
Wir haben in der Koalition die für die Thematik wichtigen Weichenstellungen längst vorgenommen.
({8})
Diese Koalition kann stolz darauf sein, dass sie substanzielle Verbesserungen gerade im humanitären Ausländerrecht erreicht hat. Ich nenne als Stichworte nur „Opferschutz“ und „Rückkehrrecht“.
Deutschland verändert sich. Die Bundesregierung gestaltet diese Veränderungen, und zwar ohne ideologischen Ballast
({9})
und vorurteilsfrei.
({10})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin
Sevim Dağdelen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wie mein Kollege Kilic bereits gesagt hat: Die
Humanität einer Gesellschaft zeigt sich besonders an ihrem Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft.
Dazu gehören viele Migrantinnen und Migranten und
auch Flüchtlinge. Erst letzte Woche hat das Statistische
Bundesamt Ergebnisse des Mikrozensus 2010 vorgelegt,
die die dauerhafte soziale Ausgrenzung von Menschen
mit Migrationshintergrund in Deutschland belegen. Zu
den Schwächsten dieser Gesellschaft gehören vor allen
Dingen die Menschen, die ohne einen offiziellen Aufenthaltsstatus hier leben. Sie werden absurderweise oft
- auch in den Debatten im Deutschen Bundestag - als Illegale bezeichnet. Ich muss für meine Fraktion hier klarstellen: Es gibt keine Menschen, die illegal sind. Es gibt
nur Menschen, die illegalisiert und damit kriminalisiert
werden. Für uns gilt immer noch: Kein Mensch ist illegal.
({0})
Die Fraktion Die Linke begrüßt und teilt das Anliegen
des Gesetzentwurfs der Grünen, auch wenn er erhebliche
Mängel aufweist, lieber Kollege Kilic.
({1})
Diese Mängel waren auch schon im Gesetzentwurf des
Jahres 2006 vorhanden.
({2})
Sevim Daðdelen
Ich finde, dass Menschen nicht nur nicht illegal sind,
sondern auch kein ordnungspolitisches Freiwild. In der
Begründung Ihres Gesetzentwurfs ist die Rede von - das
wird von der FDP, die sich Liberale nennen, und auch
von den Konservativen immer wieder betont - „der
Pflicht des Staates, illegale Einwanderung und illegalen
Aufenthalt zu bekämpfen“.
({3})
Ich frage mich: Wo soll denn diese Pflicht eigentlich
normiert sein? Eine solche Pflicht findet sich zum Beispiel im Grundgesetz in keiner Weise. Allerdings enthält
das Grundgesetz die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen und
sich zu den unveräußerlichen Menschenrechten als
Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft zu bekennen
({4})
- das sollten Sie einmal nachlesen - sowie die sozialen
Menschenrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip durchsetzbar zu machen.
Für die Linke ist es daher längst überfällig, dass auch
Menschen ohne Aufenthaltsstatus die ihnen zustehenden
sozialen Menschenrechte in Deutschland in Anspruch
nehmen können.
({5})
Illegalisierte müssen das Recht auf Schulbildung, das
Recht auf Privatleben, das Recht auf medizinische Versorgung, das Recht auf eine gerechte Entlohnung für ihre
Arbeit sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit
haben. Sie dürfen keine Angst vor einer Abschiebung
haben, wenn sie das eigentlich Normalste der Welt tun,
nämlich ihre Menschenrechte in Deutschland wahrnehmen. Insofern teilen wir die Kritik der Grünen in ihrem
Gesetzentwurf am Umgang mit den Illegalisierten.
Richtig und dringend erforderlich ist, die Beihilfe
zum humanitären Aufenthalt zu entkriminalisieren.
Menschen strafrechtlich zu verfolgen, weil sie sich mit
der Verletzung der Menschenwürde und der Menschenrechte nicht abfinden, ist einfach skandalös. Auch teilt
die Linke die Forderung nach einer Abschaffung der europaweit einmaligen Denunziationspflicht; das fordern
wir schon seit langem.
({6})
Die Forderung, dass die Grünen den Opfern von Menschenhandel einen Aufenthalt nur dann gewähren wollen
- und auch nur vorübergehend -, wenn deren Zeugenaussage für ein Strafverfahren benötigt wird, ist nicht zustimmungsfähig.
({7})
- Das steht in Ihrem Gesetzentwurf, und das haben Sie
auch 2006 schon gefordert. - Das ist kein Opferschutz,
sondern eher eine Instrumentalisierung der Opfer; denn
man macht das Schicksal der Menschen einfach von einer Beweislage abhängig.
({8})
Das ist für uns nicht akzeptabel, lieber Kollege.
Deshalb sage ich: Sie sollten lieber die Anträge der
Linken für eine humanitäre Flüchtlingspolitik unterstützen. Damit hätten wir auch die Mängel beseitigt, die Ihr
Gesetzentwurf enthält.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Peter Tauber von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Worum geht es? Wir sprechen über Menschen,
die sich illegal in Deutschland aufhalten. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat es etwas euphemistisch formuliert und das Gesetz folgendermaßen genannt: „Gesetz zur Verbesserung der sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben“.
({0})
Bevor wir über gefühlte Wahrheiten und die Betrachtung der Wirklichkeit sprechen, möchte ich eines klarstellen: Natürlich ist der Satz „Kein Mensch ist illegal“
absolut richtig; denn wir haben die Grundrechte im
Grundgesetz, wir haben das Asylrecht, wir sind ein Sozial- und ein Rechtsstaat. Trotzdem ist auch der Satz,
dass sich ein Mensch illegal in einem Land aufhalten
kann, richtig.
Mich erfüllt etwas mit Sorge, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf unser Land auf eine Art und Weise beschreiben, die aus meiner Sicht weit an der Wirklichkeit vorbeigeht.
({1})
Sie schreiben unter anderem - dies klingt wie ein Horrorszenario -:
In Deutschland besteht ein menschenrechtliches
Problem im staatlichen Umgang mit Menschen, die
in unserem Land ohne ein Aufenthaltsrecht leben.
Das haben Sie schon 2006 formuliert. Ganz ehrlich:
Durch Wiederholungen wird es nicht besser.
({2})
Man darf Sie in diesem Zusammenhang fragen, warum Sie das, wenn das alles so ist, in sieben Regierungsjahren nicht geändert haben; denn Sie hatten mehrfach
Gelegenheit dazu.
({3})
Aber geschehen ist an dieser Stelle nichts.
Ich kann für unsere Fraktion sehr deutlich sagen: Wir
sind der Auffassung, dass es die Aufgabe der Gesellschaft und des Rechtsstaats ist, den ungesteuerten Zuzug
und den Aufenthalt von Ausländern, die keinen Aufenthaltstitel und keine Duldung besitzen und weder im Ausländerzentralregister noch sonst wie behördlich registriert sind, nicht zu akzeptieren.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in
Nürnberg hat sich in seinem Arbeitspapier „Illegalität
von Migranten in Deutschland“ mit den zentralen Problemen und Herausforderungen befasst, denen sich Migranten ausgesetzt sehen. Auf einen Punkt möchte ich
ein bisschen näher eingehen, weil er in der Debatte eine
Rolle gespielt hat und weil Sie auch hier ein verzerrtes
Bild der Wirklichkeit zeichnen. Es geht um diejenigen,
die für ihre Situation selbst wahrlich nichts können,
nämlich um die Kinder und Jugendlichen, die sich illegal
in diesem Land aufhalten.
Ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir über die Verbesserung der Lebenssituation dieser Kinder reden, ist natürlich der Zugang zu Bildung. Deswegen haben wir
dafür gesorgt, dass Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen von den bisher uneingeschränkt bestehenden aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten
gegenüber den Ausländerbehörden ausgenommen worden sind. Das heißt, die Kinder können zur Schule gehen
und die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nehmen.
({4})
Das entspricht der UN-Kinderrechtskonvention. Das haben wir klar geregelt. Aber Sie verneinen es, was nicht in
Ordnung ist.
({5})
In der Tat ist es richtig: Die Kinder können nichts für
den Aufenthaltsrechtsverstoß ihrer Eltern. Auch da müssen Sie sich fragen lassen, warum Sie keine entsprechende Änderung in Ihrer Regierungszeit durchgeführt
haben.
({6})
Es bedurfte erst der schwarz-gelben Koalition und der
von ihr getragenen Bundesregierung, um diesen Sachverhalt geradezurücken.
Herr Kollege Tauber, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Veit zu?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
({0})
Sie wollen es nicht; gut.
Nein, ich habe keine Angst. Ich will mich trotzdem an
den Kollegen wenden, weil er vorhin mit tiefer Inbrunst
an christliche Werte appelliert hat. Ich muss schon sagen: Was Sie da machen, ist ganz schön scheinheilig.
Die CDU/CSU braucht von Menschen, die Kirchen nur
in ihrer Funktion als Kulturdenkmäler besuchen, die
aber ansonsten, wenn es um Christenverfolgung geht,
nicht hörbar sind, keine Exegese der christlichen Lehre.
Das sage ich Ihnen ganz deutlich an dieser Stelle.
({0})
- Von denjenigen, die das Christentum noch nicht einmal aus dem Lehrbuch kennen, geschweige denn es leben, brauchen wir keine Exegese der christlichen Lehre.
Sie können gerne an Humanität und andere Dinge appellieren; darüber können wir trefflich streiten.
({1})
Aber diesen billigen Reflex lassen wir Ihnen nicht
durchgehen. Da haben Sie noch eine Menge zu lernen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
({2})
Kommen wir zum Problem zurück. Worum geht es im
Kern des von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurfes? Der
Vorschlag der Grünen ist letztendlich ein weiterer Versuch, im Sozial- und Arbeitsrecht einen unerlaubten
Aufenthalt materiell abzusichern und damit zu verfestigen.
({3})
An dieser Stelle besteht ein großes Problem. Wenn Sie
die Forschung bemühen - wir reden da nicht über eine
kleinere Gruppe, sondern über bis zu 1 Million Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten -, dann
können Sie erkennen, dass es für diese illegale Zuwanderung verschiedene Gründe gibt. Vor allem gibt es
- das kann man menschlich vielleicht nachvollziehen eine ökonomische Motivation, also den Wunsch, am
Wohlstand teilzuhaben, und den Wunsch, frei zu leben.
({4})
Ob illegale Migration tatsächlich stattfindet, hängt
laut Forschung von zwei Faktoren ab. Der erste Faktor
ist der Zugang zu einem Land, und der zweite Faktor
- er ist noch wichtiger - ist die sogenannte Anschlussmöglichkeit. Darunter versteht man das Bestreben, in
dem Land, in das man illegal eingewandert ist, sozialstaatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen und zu
partizipieren, obwohl man keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel hat.
({5})
Da sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt. Die
Sozialleistungen, die Sie gerne gewähren möchten, müssen erarbeitet werden.
({6})
- Von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern.
({7})
Es gibt 41 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl war unter Rot-Grün
deutlich geringer. Damals gab es noch 5 Millionen Arbeitslose; deshalb hatten sie es sehr viel schwerer. Diese
Leistungen müssen, wie gesagt, erarbeitet werden. Sie
wollen Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, an den Segnungen des Sozialstaates teilhaben lassen.
({8})
Dann muss man auch sagen, dass dazu eben Pflichten
gehören. Eine Pflicht ist, sich ordnungsgemäß zu melden
und sich zu beteiligen.
({9})
Wer die Segnungen des Sozialstaates in Anspruch nimmt,
({10})
der muss sich auch den Anforderungen des Rechtsstaates
stellen. So einfach ist das.
Herr Tauber, kommen Sie bitte zum Schluss.
So wie Sie sich das vorstellen, geht es leider nicht.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Rüdiger Veit.
Herr Kollege Tauber, obwohl ich kein Lehrer bin, haben Sie meinen pädagogischen Ehrgeiz geweckt. Ich
wollte Ihnen nämlich sagen, dass - Föderalismusreform
hin oder her - in Deutschland Gesetze bekanntermaßen
eben nicht nur im Bundestag verabschiedet werden. Gerade Gesetze aus dem Rechtsgebiet, über das wir hier
sprechen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.
Wenn man dort eine Mehrheit erreichen will, ist das bekanntlich nicht immer einfach. Es war zum Beispiel für
die rot-grüne Bundesregierung besonders schwierig,
weil sie zu der Zeit keine rot-grüne Mehrheit im Bundesrat hatte. Umgekehrt ist dies bei Ihnen im Augenblick
der Fall, was für Sie ein Problem darstellt.
({0})
Ich will noch einmal sagen: Wir waren 2005 schon
weiter, auch mit Ihren Parteifreunden von der CDU und
der CSU; das müssen Sie wissen. Es gab aber Probleme
- das muss man objektiverweise noch einmal sagen,
auch zur Entlastung Ihrer Parteifreunde - bei den zuständigen Länderinnenministern der B-Länder, mit der Konsequenz, dass es keinen Sinn gemacht hätte, noch mehr
auf dem Weg des Gesetzgebungsverfahrens zu versuchen; denn das wäre im Bundesrat gescheitert.
Im Übrigen: Obwohl ich in Religionsfragen nicht allzu
sachverständig bin, bin ich über Ihr christliches Weltbild
schon ein bisschen erschüttert, weil Sie hinsichtlich der
Wahrnehmung elementarer Grundrechte - Bildung für
Kinder, Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere und
Behandlung von Krankheiten - durch Menschen, die
ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, der Meinung sind, dass ihnen die entsprechenden Sozialleistungen nicht zustehen.
({1})
Zur Erwiderung Kollege Tauber.
Herr Kollege, Sie müssen schon ein bisschen zuhören. Ich hatte leider nicht sechs Minuten Zeit, um über
das christliche Menschenbild in der CDU/CSU zu sprechen.
({0})
Es wäre vielleicht ganz hilfreich für Sie, wenn Sie sich
damit ein bisschen intensiver beschäftigten.
({1})
Zu den von Ihnen gemachten Anmerkungen möchte
ich ausführen:
Die Regierungen der Bundesländer vertreten natürlich ihre Länderinteressen und nicht parteipolitische Interessen.
({2})
Es ist der christlich-liberalen Regierung offensichtlich
gelungen, die Vorbehaltsregelung zurückzunehmen.
Vielleicht lag das daran, dass die Argumente, die wir damals gegenüber den Landesregierungen vorgetragen haben, ein bisschen besser waren als die, die Sie damals,
zur rot-grünen Regierungszeit in Berlin, hatten.
({3})
Vielleicht steigen wir in die Debatte darüber, was
christliche Werte sind, an dieser Stelle ein. Ein ganz entscheidender christlicher Wert ist der Wert der Demut.
Demut bedeutet, zu erkennen, dass man durchaus einmal
Fehler machen und falsch liegen kann. Ich nehme für
mich in Anspruch, dass ich Dinge falsch mache, dass ich
Dinge manchmal nicht weiß.
({4})
Deswegen nehme ich den einen oder anderen erklärenden Hinweis durchaus dankbar an.
Aber den Eindruck, das ebenfalls zu tun, vermitteln
Sie - das ist das Entscheidende - hier eben permanent
nicht. Sie haben immer recht,
({5})
Sie wissen immer alles besser, und Sie hätten es auch eigentlich richtig gemacht, wenn Sie gekonnt hätten. Das
ist, glaube ich, nicht glaubwürdig. Ich empfehle Ihnen
eine Lektion in Demut. Wenn Sie diese Lektion hatten,
dann treffen wir uns wieder, und dann diskutieren wir
den nächsten christlichen Wert.
Danke.
({6})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Serkan Tören von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist interessant, zu sehen, wie die Grünen in der Opposition ihr
Tarnmäntelchen wieder ablegen.
({0})
Jetzt rufen sie schillernd und lautstark nach Reformen in
der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Vielleicht hätten Sie
einmal während Ihrer Regierungszeit aus der Deckung
kommen sollen.
({1})
Sie hatten ganze sieben Jahre lang Zeit, all die Maßnahmen, die in Ihrem Gesetzentwurf enthalten sind, umzusetzen. Das haben Sie nicht getan. Korrigieren Sie mich,
wenn ich falsch liege: Das Problem der irregulären Migration existiert nicht erst, seit die christlich-liberale Koalition regiert.
Das Gleiche gilt für andere Fragen: Kettenduldungen,
Asylbewerberleistungsgesetz, Residenzpflicht. Auf all
diesen Problemfeldern haben Sie, als Sie Verantwortung
hatten, nichts getan.
({2})
Sie haben an dieser Stelle eine ganz miese Bilanz Ihrer
Regierungszeit vorzuweisen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen. Deshalb verschonen Sie uns bitte mit
Ihrer Selbstgerechtigkeit. Sie steht Ihnen genauso wenig
wie das Tarnmäntelchen von damals.
({3})
Ich will bei einem so wichtigen Thema nicht weiter
nach hinten schauen, sondern nach vorn. Der Kollege
Wolff hatte bereits angesprochen, was die christlich-liberale Koalition hier schon erreicht hat. Ich möchte noch
einen Schritt weiter gehen. Für uns Liberale ist klar:
Deutschland darf sich seiner humanitären Verantwortung
nicht entziehen. Diese Verantwortung gilt für die Sicherstellung der körperlichen Unversehrtheit aller in
Deutschland lebenden Menschen.
({4})
Im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung müssen
wir weiter nach verantwortungsvollen und pragmatischen Lösungen für den Umgang mit Menschen ohne
Papiere suchen.
Nachdem wir den angstfreien Schulbesuch ermöglicht haben, steht nun die Gesundheitsversorgung im
Vordergrund. Die bewusste Auslagerung des Problems
in den ehrenamtlichen Sektor kann keine dauerhafte Lösung sein. Das gilt auch für die zunehmende Einbindung
von Gesundheitsämtern. Diese Einbindung fordern die
Grünen ja in ihrem Gesetzentwurf. So sinnvoll diese
flankierenden Maßnahmen auch sein mögen: Letztendlich sind das Doppelstrukturen, die zusätzliche Kosten
für Kommunen bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein,
insbesondere mit Blick auf einen vernünftigen Ausgleich
der Interessen und der Akzeptanz der Bevölkerung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie ins Gesetz
schauen, werden Sie sehen: Im Grunde genommen sind
die Voraussetzungen für eine erweiterte Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere bereits normiert.
Wir reden hier nicht nur über die Notfallversorgung,
sondern auch über Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen. Das halte ich auch für richtig und wichtig, insbesondere mit Blick auf Schwangere und Kinder.
Wenn wir es aber schon im Gesetz stehen haben, müssen wir auch eines effektiv sicherstellen, nämlich die
Möglichkeit für die Betroffenen, die entsprechenden Angebote auch wahrzunehmen, und zwar ohne Angst vor
Aufdeckung. Diese Intention ist 2009 mit der Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz im Bereich der
Notfallversorgung bereits umgesetzt worden. Jetzt gilt
es, hieran anzuknüpfen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6167 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Zu den Tagesordnungspunkten, die jetzt folgen, sollen
alle Reden zu Protokoll genommen werden. Ich werde
darauf verzichten, die Namen der potenziellen Redner zu
verlesen.
({0})
Trotzdem müssen wir die Formalitäten abwickeln. Ich
bitte, so viel Geduld zu haben und mich dabei zu beglei-
ten; denn ich brauche jeweils Ihr Votum.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:1)
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen
- Drucksache 17/6260 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
- Drucksache 17/7218 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg ({2})
Swen Schulz ({3})
Heiner Kamp
Agnes Alpers
Krista Sager
1) Anlage 7
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus
Weinberg ({5}), Albert Rupprecht ({6}), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick
Meinhardt, Dr. Martin Neumann ({7}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Ausländische Bildungsleistungen anerkennen - Fachkräftepotentiale ausschöpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz
({8}), Katja Mast, Olaf Scholz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Durch Vorrang für Anerkennung Integration stärken - Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Nicole Gohlke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine zügige und umfassende Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Priska Hinz ({9}), Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Brain Waste stoppen - Anerkennung ausländischer akademischer und beruflicher
Qualifikationen umfassend optimieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Alpers, Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung ausländischer Bildungs- und
Berufsabschlüsse wirksam regeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Anerkennung ausländischer Abschlüsse tatsächlich voranbringen
- Drucksachen 17/3048, 17/108, 17/117, 17/123,
17/6271, 17/6919, 17/7218 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg ({10})
Swen Schulz ({11})
Heiner Kamp
Agnes Alpers
Krista Sager
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesse-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
rung der Feststellung und Anerkennung im Ausland er-
worbener Berufsqualifikationen.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/7218, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6260 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthal-
tung von SPD und den Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/7218.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3048 mit dem
Titel „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen -
Fachkräftepotentiale ausschöpfen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Linken und der Grünen und bei Enthaltung der
SPD.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/108 mit dem Titel „Durch
Vorrang für Anerkennung Integration stärken - Aner-
kennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der Linken bei Gegenstimmen der SPD und der
Grünen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/117 mit dem Titel
„Für eine zügige und umfassende Anerkennung von im
Ausland erworbenen Qualifikationen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD
und Grünen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 5 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/123 mit
dem Titel „Brain Waste stoppen - Anerkennung auslän-
discher akademischer und beruflicher Qualifikationen
umfassend optimieren“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen
bei Enthaltung von SPD und Linken.
Unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/6271 mit dem Titel „Aner-
kennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse
wirksam regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen gegen die Stimmen
der Linken mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 7 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/6919 mit dem Titel „Anerkennung ausländischer Ab-
schlüsse tatsächlich voranbringen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:1)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Anette Kramme, Martin Dörmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Weitere Datenschutzskandale vermeiden - Gesetzentwurf zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten vorlegen
- Drucksache 17/7176 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7176 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-
punkt 4 auf:2)
11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({13}) zu der Un-
terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbe-
richt 2010 des Statistischen Bundesamtes
und
Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012
zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung
- Drucksachen 17/3788, 17/6029 -
1) Anlage 8
2) Anlage 9
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Michael Kauch
Dorothea Steiner
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global
umsetzen
- Drucksache 17/7182 -
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem Bericht des Parlamentari-
schen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indika-
torenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und zu
den Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur na-
tionalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/6029, in Kenntnis der Unterrich-
tung auf Drucksache 17/3788 eine Entschließung anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Zusatzpunkt 4: Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7182 mit dem Titel „VN-
Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Antrag ist angenommen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:1)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
EU-Weißbuch Verkehr - Neuausrichtung der
integrierten Verkehrspolitik in Deutschland
und in der Europäischen Union nutzen
- Drucksache 17/7177 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7177 an die in der Tagesordnung aufge-
1) Anlage 10
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:2)
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
- Drucksache 17/3802 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15})
- Drucksache 17/7217 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Dr. Edgar Franke
Christian Ahrendt
Ingrid Hönlinger
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7217, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/3802 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
der Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7217 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ent-
haltung der Linken und der Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:3)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander
Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien gründen EURATOM auflösen
- Drucksache 17/6151 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
2) Anlage 11
3) Anlage 12
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6151 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? - Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 15 a bis c:1)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen
- Drucksachen 17/7141, 17/7171 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({17})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Dietmar Bartsch, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wer bestellt, bezahlt - Konnexität zugunsten
der Kommunen im Grundgesetz verankern
- Drucksache 17/6491 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeindefinanzkommission gescheitert - Jetzt
finanzschwache Kommunen - ohne Sozialabbau - nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien
- Drucksache 17/7189 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({19})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7141, 17/7171, 17/6491 und
17/7189 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16:2)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({20}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck
({21}), Marieluise Beck ({22}), weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
1) Anlage 13
2) Anlage 14
Seenotrettung im Mittelmeer konsequent
durchsetzen und verbessern
- Drucksachen 17/6467, 17/7174 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Wolfgang Gunkel
Annette Groth
Tom Koenigs
({23})
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7174, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und
der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 17:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({24}) zu der Unterrichtung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Beherrschung
der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen ({25}) ({26})
KOM({27}) 781 endg.; Ratsdok. 18257/10
- Drucksachen 17/4598 Nr. A.20, 17/5891 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Dr. Lutz Knopek
Dorothea Steiner
Am 21. Dezember 2010 hat die EU-Kommission den
Vorschlag für die Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, durch
die die bestehende Seveso-II-Richtlinie ersetzt werden
soll. Ziel der alten wie der neuen Richtlinie ist es,
schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhüten
und Unfallfolgen für die menschliche Gesundheit und
die Umwelt zu begrenzen. Die verheerenden Chemieunfälle in der Vergangenheit - ich erinnere an die Unfälle
von Seveso, Bhopal, Schweizerhalle - Sandoz -, Enschede, Toulouse und Buncefield, bei denen viele Menschen ihr Leben verloren, die Umwelt geschädigt wurde
und Kosten in Milliardenhöhe verursacht wurden - haben gezeigt, dass ein besonderes Augenmerk auf die Sicherheit solcher Anlagen gerichtet werden muss, in denen mit giftigen und hochgiftigen Stoffen umgegangen
wird. Die sogenannten Seveso-Richtlinien sind die Antwort der EU auf diese Gefahren.
Von der bestehenden Richtlinie 96/82/EG zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, der sogenannten Seveso-II-Richtlinie,
werden in der Europäischen Union rund 10 000 Betriebe erfasst, davon circa 2 000 in Deutschland. Die
Wahrscheinlichkeit von schweren Industrieunfällen und
deren Folgen konnte maßgeblich verringert werden.
Anlass für den Änderungsbedarf bei der bestehenden
Seveso-II-Richtlinie ist die Anpassung des Anwendungsbereichs an die veränderten EU-Regelungen zur Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen und Gemischen
- CLP-Verordnung. Dieses neue europäische Einstufungs- und Kennzeichnungssystem ist nicht deckungsgleich mit dem bisherigen System.
Zurzeit werden die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Änderungen im Rat diskutiert. Mit
dem Entschließungsantrag der Koalition unterstützen
wir die Bundesregierung in ihren Verhandlungen auf
EU-Ebene mit dem Ziel, eine alternative Anpassungsvariante für den Anwendungsbereich einzubringen. Diese
soll die Abweichungen vom bisherigen Anwendungsbereich so gering wie möglich halten.
Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, mögliche
Ausweitungen der Richtlinie auf eine größere Anzahl
von Betrieben zu verhindern. Es geht vielmehr darum,
der auch an einigen Stellen vorgesehenen Absenkung
des Schutzniveaus entgegenzutreten. Ausnahmeregelungen zum Anwendungsbereich würden dadurch entbehrlich und damit die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten,
einzelne Betriebe von bestimmten Pflichten zu befreien.
Es soll weiterhin ein einheitliches Schutzniveau in der
EU gelten, und es soll nicht zu nationalen Alleingängen
und damit zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen den
Mitgliedstaaten kommen. Wir wollen gleiche Bedingungen für alle Unternehmen in der EU.
Weiterhin fordern wir die Bundesregierung auf, sich
dafür einzusetzen, dass der Vollzug für Betreiber und
Behörden im Vergleich zu den bisherigen Verfahrensweisen nicht verkompliziert wird.
Ein weiterer Punkt unseres Entschließungsantrags
betrifft die sogenannten delegierten Rechtsakte. Es handelt sich dabei um die Befugnis der Kommission, ohne
Beteiligung der europäischen Legislative den im Anhang I festgelegten Anwendungsbereich der Richtlinie
zu ändern, damit also materielle Regelungen der Richtlinie zu ändern. Wie der Bundesrat so hält auch die Koalition nichts davon, dass die EU-Kommission den den
Anwendungsbereich bestimmenden Anhang I mittels delegierter Rechtsakte ändern kann. Eine solche Stärkung
der Rechte der Exekutive steht nicht im Einklang mit
dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Die Mitgliedstaaten müssen aber ausreichend beteiligt werden.
Des Weiteren haben wir in unserem Entschließungsantrag Punkte aufgenommen wie die Inspizierungsfristen, die Informationspflichten und den Informationsaustausch.
Die vorgesehene Neuformulierung des Artikels über
Inspektionen würde zu einer deutlichen Mehrbelastung
der Betriebe und der Behörden führen. Da sich das bestehende System in Deutschland bewährt hat, soll sich
die Bundesregierung für eine Beibehaltung der Flexibilität hinsichtlich der festgelegten Inspektionsfristen einsetzen und so eine Mehrbelastung von Behörden und Betrieben vermeiden.
Die Einbeziehung bestimmter sicherheitsrelevanter
Informationen in die Unterrichtung der Öffentlichkeit
sehen wir kritisch. Es gibt bereits ausreichende Informationspflichten aufgrund der bestehenden Rechtslage.
Die Veröffentlichung darüber hinausgehender sensibler
Informationen ist aus Sicherheitsgesichtspunkten abzulehnen.
Die im Richtlinienvorschlag getroffenen Regelungen
zur Information und Beteiligung der Öffentlichkeit werden bereits durch die Richtlinie über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen gefordert und in
Deutschland umgesetzt. Doppelregelungen brauchen
wir nicht.
Die von der Fraktion der SPD im Umweltausschuss
in ihrem Entschließungsantrag vorgelegten Punkte sind
für die Verhandlungen auf EU-Ebene nicht von zentraler
Bedeutung. Die Änderung des Titels des Art. 12 in
„Raumordnung und Flächennutzung“ ist unnötig. Da
der englische Ausdruck der Richtlinie, nämlich „Land
Use Planning“, unverändert ist, ist die deutsche Fassung der Überschrift ausreichend.
Bei Punkt 2 des SPD-Entschließungsantrags geht es
nur scheinbar um eine redaktionelle Änderung, indem
eine Klammer mit Inhalt verschoben wird. Damit ist
aber auch inhaltlich eine Änderung verbunden, weil sich
die Formulierung nunmehr auf die Hauptverkehrswege
beschränken soll. Diese Regelung ist mit Blick auf das
deutsche Recht überflüssig. In § 50 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ist geregelt, dass sämtliche schutzwürdigen Nutzungen der Gebiete bei raumbedeutsamen
Planungen und Maßnahmen so aufeinander abgestimmt
sein müssen, dass diese Eingriffe so weit wie möglich
vermieden werden. Im deutschen Recht existiert daher
eine Regelung, die über das hinausgeht, was die SPD
fordert.
Im Interesse eines anspruchsvollen Umweltschutzes,
aber auch im Interesse eines für alle Beteiligten unkomplizierten Vollzugs bitte ich Sie um Zustimmung zum
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen.
Die Richtlinie zur Beherrschung der Gefahren bei
schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, auch „Seveso-Richtlinie“ genannt, gibt es aus einem guten
Grund. Seveso ist uns eine ständige Mahnung. Im italienischen Seveso kam es zu einem folgenschweren Dioxinunfall, zu einem der folgenschwersten Chemieunfälle
überhaupt, eine dramatische Katastrophe für die dort lebenden Menschen. Um schwere Unfälle mit gefährlichen
Stoffen zu verhüten und die Unfallfolgen für Mensch und
Umwelt zu begrenzen, wurde 1982 die erste SevesoRichtlinie erlassen mit dem Ziel, in der ganzen EU ein
hohes Schutzniveau zu gewährleisten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit der Seveso-II-Richtlinie von 1996 wurde die
Richtlinie überarbeitet und wurden wichtige Änderungen und neue Konzepte eingeführt. Der Umweltschutz
bekam stärkeres Gewicht, und der Anwendungsbereich
wurde auf Stoffe ausgedehnt, die als gefährlich für die
Umwelt und insbesondere das Wasser gelten. Aufgenommen wurden neue Anforderungen in Bezug auf Sicherheitsmanagementsysteme, Notfallpläne und Raumplanung. Verschärft wurden die Bestimmungen für
Inspektionen, und die Unterrichtung der Öffentlichkeit
wurde aufgenommen.
Wir begrüßen den Richtlinienvorschlag für die Seveso-III-Richtlinie. Es ist notwendig, die Seveso-IIRichtlinie an das geänderte Chemikalienrecht anzupassen. Das Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt muss
für uns dabei mindestens gleich bleiben oder sich, besser noch, steigern. Ziel der Überarbeitung ist die Anpassung an das neue Einstufungs- und Kennzeichnungssystem der EU für gefährliche Stoffe in der sogenannten
CLP-Verordnung. Wegen der Unterschiede im bisherigen und neuen Einstufungssystem ist eine Änderung des
bestehenden Anwendungsbereichs erforderlich. Mit der
Überarbeitung sollen strengere Inspektionsnormen eingeführt und der Umfang an Informationen, die der Öffentlichkeit bei einem Unfall zur Verfügung stehen, vergrößert werden. So weit, so gut.
Die Unterrichtung zum Richtlinienvorschlag lässt bei
uns aber große Unzufriedenheit zurück:
Es beginnt leider bereits bei der handwerklichen Umsetzung, denn schon die Übersetzung ist stellenweise
mangelhaft und führt damit zu inhaltlichen Fehlern. So
heißt es in der englischen Version „Land Use Planning“, was in der deutschen Übersetzung dann nicht allein „Flächennutzung“ heißen darf, sondern zumindest
„Raumordnung und Flächennutzung“ heißen muss.
Dies ist inhaltlich ein wesentlich anderer Wirkungsbereich bzw. Planungsbereich mit anderen Zuständigkeiten.
Falsch wäre es aus unserer Sicht auch, das Sicherheitsabstandsgebot zwischen Betrieben und zum Beispiel Wohn- oder auch Erholungsgebieten allein ins planerische Ermessen zu stellen. Ein angemessener
Abstand muss verbindlich gewahrt werden. Eine Aufweichung, wie sie in Art. 12 Abs. 2 formuliert ist, nämlich
dass der Abstand nur „so weit möglich“ angemessen
sein muss, ist für uns allenfalls in Bezug auf Hauptverkehrswege denkbar.
Leider ist aus der vorliegenden Unterrichtung auch
nicht ersichtlich, welche Betriebe zukünftig erfasst würden. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, uns
diesbezüglich konkrete Informationen zugänglich zu machen. Denn nur wenn klar ist, welche Betriebe zukünftig
unter die überarbeitete Richtlinie fallen bzw. welche gegebenenfalls aus ihr herausfallen würden, kann ein
sachgerechtes Votum erfolgen.
Ausgesprochen positiv bewerten wir allerdings das
Ziel, die Öffentlichkeit besser zu informieren. Es ist mir
unverständlich, meine Kolleginnen und Kollegen von
CDU, CSU und FDP, warum Sie eine Ausweitung der
bestehenden Informationspflichten ablehnen.
Ebenso zu begrüßen ist es natürlich auch, wenn eine
engere Koordination der beteiligten Behörden erreicht
werden kann. Aber für einen effektiven Schutz der Bürgerinnen und Bürger ist es dann auch nötig, dass alle
beteiligten Behörden ebenfalls das Ziel haben, die Öffentlichkeit gut und umfassend zu informieren. Was als
Grundsatz auf dem Papier vorhanden ist, wird - das
zeigt die Erfahrung - von den ausführenden Behörden
nicht immer geschätzt und in die Praxis umgesetzt.
Es sind also nach dieser Unterrichtung noch viele
Fragen offen. Darüber aber, dass die Überarbeitung der
Seveso-II-Richtlinie inzwischen überfällig ist und auch
zeitnah erfolgen muss, herrscht hier im Haus sicher Einigkeit.
Die Namen Bhopal, Seveso, Schweizerhalle, Enschede, Toulouse und Buncefield haben eines gemeinsam: Sie stehen für industrielle Unfälle, die viele Menschen das Leben gekostet haben und die die Umwelt
geschädigt sowie Kosten in Milliardenhöhe verursacht
haben. Als Reaktion auf den schweren Unfall in Seveso
wurde daher 1982 die erste Richtlinie über die Gefahren
schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten,
umgangssprachlich auch „Seveso-Richtlinie“ genannt,
erlassen. Rund 10 000 Betriebe in Europa, davon etwa
2 000 in Deutschland, werden derzeit von der 1996
überarbeiteten Richtlinie erfasst. Dadurch wurden die
Wahrscheinlichkeit schwerer Industrieunfälle und vor
allem deren mögliche Folgen maßgeblich verringert. Innerhalb Europas besteht daher große Einigkeit, dass die
Seveso-II-Richtlinie ihren Zweck gut erfüllt.
Dem Bundestag liegt nunmehr der Entwurf zur zweiten Revision dieser Richtlinie vor. Sie ist notwendig geworden, weil die EU-Regelungen zur Einstufung und
Kennzeichnung von gefährlichen Stoffen aufgrund von
Anpassungen an das weltweite GHS-System nicht mehr
mit den Regelungen in der Seveso-Richtlinie korrespondieren. Wegen der Unterschiede im bisherigen und im
neuen Einstufungssystem ist eine Eins-zu-eins-Anpassung des Anwendungsbereichs jedoch nicht möglich.
Daher wird eine Anpassung zwangsläufig zur Folge haben, dass einige Stoffe aus dem Anwendungsbereich der
Richtlinie herausfallen, während andere neu hinzukommen.
Da sich die Regelungen bewährt haben, liegt das Interesse der FDP-Fraktion darin, eine Anpassung vorzunehmen, die die Abweichungen vom bestehenden System
möglichst minimiert. Der vorliegende Entwurf wird diesem Anspruch leider nicht gerecht. Nach Schätzungen
der chemischen Industrie entstehen dadurch jedoch
Mehrkosten von circa 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr,
ohne das Schutzniveau zu verbessern. Wir haben daher
gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen Entschließungsantrag verabschiedet, der die Bundesregierung auffordert, sich für einen alternativen Anpassungsvorschlag einzusetzen. Die Technical Working Group
auf europäischer Ebene, die den Richtlinienvorschlag
Zu Protokoll gegebene Reden
vorbereitet hat, hat in ihrem Bericht aufgezeigt, dass es
möglich ist, eine Anpassung vorzunehmen, die das bestehende Schutzniveau weitestgehend unverändert lässt.
Es geht uns also nicht darum, einseitig Verschärfungen
zu verhindern, sondern auch der in einigen Teilen vorgesehenen Absenkung des Schutzniveaus entgegenzutreten.
Der zweite wesentliche Punkt, den wir in unserem
Entschließungsantrag aufgegriffen haben, ist der Zugang der Öffentlichkeit zu sicherheitsrelevanten Informationen. Wir sind der Auffassung, dass die bestehenden Informationspflichten ausreichend sind. Der
Bundesrat hat zudem zu bedenken gegeben, dass eine
Ausweitung des öffentliche Zugangs zu sicherheitsrelevanten Informationen die Gefahr berge, dass diese für
gezielte Anschläge auf Chemieanlagen genutzt werden
könnten. Da sich die bestehenden Regelungen über viele
Jahre bewährt haben, sehen wir keine Notwendigkeit,
dieses Risiko einzugehen. Wir haben daher die Anregungen des Bundesrates aufgegriffen und sprechen uns gegen eine solche Ausweitung der Informationspflichten
aus.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die bestehende
Seveso-II-Richtlinie ihren Zweck außerordentlich gut erfüllt hat und dass die jetzt erforderlich gewordene Anpassung sich daher auf das wirklich zwingend Notwendige beschränken sollte. Die schwarz-gelbe Koalition ist
sich in diesem Punkt mit der Bundesregierung vollkommen einig, und wir sind zuversichtlich, dass die derzeit
andauernden Verhandlungen auf europäischer Ebene zu
einem guten Ergebnis kommen werden.
Die Seveso-II-Richtlinie hat sich bewährt. Wie der
Name Seveso es ausdrückt, soll die Richtlinie vor schweren Unfällen mit Chemikalien schützen. Niemand weiß,
wie viele Tote und Verletzte durch Unfälle mit gefährlichen Stoffen konkret mit dieser Richtlinie vermieden
werden konnten. Jedoch steht fest, dass Zusammenhänge von Schulungen und Sorgfalt im Umgang mit gefährlichen Stoffen mit der Anzahl der Unfälle bestehen.
Der beste Unfallschutz ist Vorsicht und vor allem eine
Kenntnis der Gefahren.
Deshalb wäre eine weltweite Vereinheitlichung der
Gefahrenkennzeichnung von Stoffen eigentlich zu begrüßen. Doch die jetzigen Piktogramme nach der CLPRichtlinie über die Kennzeichnungen gefährlicher Stoffe
erschließen sich oft nur den Eingeweihten. Diese Richtline opfert eine klar erkenn- und bewertbare Kennzeichnung gefährlicher Chemikalien einer teils verharmlosenden Vereinheitlichung.
So werden beispielsweise Gefahren für die Gesundheit durch das Brustbild einer Person mit angedeuteter
Lunge dargestellt und mit den Worten „Gefahr“ und
„Achtung“ ergänzt. Ob die Substanz im Verdacht steht,
Krebs zu erzeugen, wie Zigaretten, oder sehr giftig ist,
wie Quecksilber, lässt sich nicht unterscheiden. Das Erkennen der Warnung vor der Ätzwirkung von Flüssigkeiten erfordert vom unbedarften Betrachter viel Fantasie,
und ob eine Flüssigkeit leichtentzündlich oder nur
brennbar ist, erfährt der Betrachter ebenfalls nicht. So
ist fehlerhaftes oder leichtsinniges Verhalten vorprogrammiert.
Positiv für die Linke sind die in der EU-Vorlage ausgeweiteten Informationsrechte für EU-Bürger. Das
Recht der Umweltverbände und unabhängigen Fachleute, die im Rahmen der Richtlinie erhobenen Daten
und an die EU übermittelten Informationen einzusehen,
bringt mehr Transparenz und erhöht die Sicherheit für
uns alle. Aber gerade diese Transparenz wollen CDU
und FDP mit ihrer Art der Umsetzung der EU-Richtlinie
aushebeln, genauso wie die Koalition optimalen Verbraucherschutz durch höhere nationale Schutzniveaus
mit der Begründung „das benachteiligt unseren Standort“ verhindert. Die Koalition will den Schutz der Verbraucher und Beschäftigten über Anpassung nach unten
auf ein möglichst niedriges, kostenneutrales Level senken. Die Gewinne aus dieser Absenkung werden die
Chemiekonzerne einfahren. Das Leid bleibt bei den unnötig Verletzten und die Kosten für die Behandlung unnötiger Opfer trägt die Gesellschaft. Leider spielen
Union und FDP auch in diesem Bereich das Spiel: Gewinne privat, Verluste dem Staat.
Die Linke teilt die Befürchtung von Fachleuten, dass
die Liste der überwachungspflichtigen Stoffe zu kurz ist
und dass die dort festgelegten Mengenschwellen zur
Überwachung zu großzügig angesetzt sind. Dass sogar
gesundheitsgefährdende Stoffe aus der Überwachung
herausfallen, passt ins Bild der die Menschen ignorierenden, aber die Industrie streichelnden Koalitionspolitik.
Wir haben Seveso und die anderen Orte schwerer
Chemieunfälle nicht vergessen, die Toten, die Kranken
und die Menschen, die Hab und Gut verloren. All dies
geschah durch die Gier nach mehr Profiten und die
Ignoranz oder Aufhebung von strengen Regeln für die
Industrie unter dem Deckmantel von Standortsicherung,
Wettbewerbsfähigkeit und Entbürokratisierung.
Im Interesse der Menschen muss die Linke diesen
Vorschlag ablehnen.
Derzeit wird die sogenannte Seveso-II-Richtlinie aus
dem Jahr 1996 überarbeitet. Ziel der Richtlinie ist es,
schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhindern
und Unfallfolgen für Mensch und Umwelt zu begrenzen.
Industrieanlagen, die der Seveso-Richtlinie unterliegen,
also mit gefährlichen Stoffen in erheblichen Mengen
umgehen, müssen zusätzliche Sicherheitsauflagen einhalten. Außerdem bestehen verschärfte Informationspflichten, vor allem bei Unfällen mit gefährlichen Chemikalien.
Ziel der Überarbeitung der EU-Richtlinie ist es, die
Informationsflüsse über die gefährlichen Chemikalien
zu verbessern. Außerdem war dringend eine Anpassung
der Liste der gefährlichen Stoffe an das UN-System zur
Einstufung gefährlicher Stoffe notwendig, um zu weltweit einheitlichen Listen zu kommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag
zur neuen Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, der viele gute
Ansatzpunkte enthält. So werden zum Beispiel Verbesserungen bei der Bürgerinformation und Bürgerbeteiligung beim Umgang mit gefährlichen Stoffen im neuen
Richtlinienentwurf vorgenommen. Die Ausweitung der
Informations- und Berichtspflichten ist zu begrüßen, um
die Menschen im Umfeld solcher Anlagen, die gefährliche Stoffe verwenden, besser zu informieren - vor allem,
wenn Unfälle auftreten.
Sorge bereitet uns, dass im jetzigen Entwurf die Entscheidung, welche Stoffe in welchen Mengen auf die Listen gefährlicher Stoffe gesetzt werden, zukünftig ohne
Gesetzgebungsverfahren abgeändert werden könnte.
Wenn dieses dazu führt, dass beliebig Stoffe von der
Liste gestrichen werden, wäre dies sehr bedenklich. Eine
Ausweitung der Liste gefährlicher Stoffe wäre für uns jedoch denkbar, zum Beispiel hinsichtlich kanzerogener
Stoffe, die gentoxisch wirken, oder großer Mengen Kohlendioxid, wie es zukünftig in CCS-Anlagen vorkommen
könnte.
Der Antrag der Regierungsfraktionen zielt darauf ab,
die Verbesserungen hinsichtlich der Informationspflichten beim Umgang mit gefährlichen Stoffen gegenüber
der Öffentlichkeit zu verhindern. Die öffentlichen Informationen sollen den Anwohnerinnen und Anwohnern
dazu dienen, Art und Ausmaß von Störfällen zu erkennen. Wir sprechen hier schließlich von schlimmen und
schlimmsten Unfällen, die im Umgang mit gefährlichen
Chemikalien immer wieder passieren, und zwar weltweit.
Mit ihrem Antrag fordern die Koalitionsfraktionen
von der Bundesregierung, die Interessen der Industrie
höher zu werten als die berechtigten Informationsinteressen der betroffenen und besorgten Menschen vor Ort.
Dies ist ganz klare Klientelpolitik.
Im Umweltausschuss zeigte sich, dass insbesondere
den Abgeordneten der FDP die Interessen der Chemieindustrie wichtiger sind als die berechtigten Sorgen der
Menschen im Umfeld von Anlagen, die gefährliche
Stoffe produzieren oder verarbeiten. Die Redebeiträge
übernahmen wortwörtlich die Forderungen der Chemieindustrie, wie wir sie auch der Presse entnehmen können.
Die Grünen unterstützen die von der Kommission
vorgeschlagenen Verbesserungen bei der Bürgerinformation und Bürgerbeteiligung beim Umgang mit gefährlichen Stoffen im neuen Richtlinienentwurf ausdrücklich. Wir sehen eher die Notwendigkeit, die Liste der
gefährlichen Stoffe zu erweitern und über ihren Einsatz
größtmögliche Transparenz herzustellen. Wir wollen,
dass Deutschland und die Europäische Union auf diesem Weg weitergehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5891, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund
und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 17/7142 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im
Bund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften halten wir unser Versprechen aus der Koalitionsvereinbarung und steigern die Wettbewerbsfähigkeit des Bundes gegenüber anderen Dienstherren und
der Wirtschaft. Bundesverwaltung und Bundeswehr benötigen für die Erfüllung ihrer vielfältigen und anspruchsvollen Aufgaben gut ausgebildetes und zum Teil
hochspezialisiertes Personal. Wir haben im Wettbewerb
mit der Privatwirtschaft damit sicher noch nicht ganz
Augenhöhe erreicht. Aber auf dieser langen Leiter sind
wir bereits durch flexiblere Arbeitszeiten für ältere Beschäftigte im Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz im vergangenen Jahr einige Sprossen
vorangekommen. Und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingen uns wieder wesentliche Fortschritte, um
die Attraktivität einiger Berufsbilder im öffentlichen
Dienst zu steigern. Die Kernregelungen sind unter anderem der Personalgewinnungszuschlag, die Gewährung
einer Ausgleichszahlung bei Versetzung in den Bundesdienst, die Verbesserung der Vergütung von IT-Fachkräften oder des ärztlichen Bereitschaftsdienstes der
Bundeswehr sowie die Anerkennung von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten.
Bis 2025 wird die Zahl der erwerbsfähigen Mitbürgerinnen und Mitbürger um etwa 6,7 Millionen abnehmen.
Diese Entwicklung werden auch die Ministerien und Behörden zu spüren bekommen. Schon heute ist ein Großteil der Beschäftigten dort Mitte 50 oder älter. Deshalb
agiert die Regierungskoalition und setzt den kontinuierlichen Prozess einer verbesserten Fachkräftegewinnung
konsequent fort.
Wie sehr der Schuh von allen Seiten drückt, zeigt sich
alleine an den vielfältigen Initiativen der Wirtschaft,
zum Beispiel der Aktion „MINT- Zukunft schaffen“ von
BDI und BDA oder dem Netzwerkprojekt „Fachkräftegewinnung“ der einzelnen Industrie- und Handelskammern. Im Mai 2011 waren auf dem freien Markt mehr als
150 000 Stellen für Hochqualifizierte in den Bereichen
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, kurz „MINT“, unbesetzt. 43 Prozent der Unterneh15354
Armin Schuster ({0})
men erwarten Probleme bei der künftigen Fachkräftesuche. BDI-Präsident Professor Dr.-Ing. Hans-Peter
Keitel sagte schon im Dezember letzten Jahres, dass
durch bloßes Aufmachen der deutschen Grenzen die
Fachleute im MINT-Sektor keineswegs Schlange stünden. Auch Staatssekretär Gerd Hoofe vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales teilt die Sorge, da sich
nicht die Frage stellt, ob wir die Fachkräfte wollen, sondern ob die Fachkräfte zu uns kommen wollen. Kurz gesagt: Die Arbeitgeber bewerben sich künftig bei den
Fachkräften und nicht mehr umgekehrt. Genau hier setzt
unser Gesetzentwurf zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung an.
Lassen Sie mich auf die eingangs schon erwähnten
nächsten Sprossen näher eingehen:
Mit dem Instrument des Personalgewinnungszuschlags soll es Bundesbehörden künftig ermöglicht werden, mit finanziellen Anreizen auf Personalengpässe
systematisch zu reagieren. Gezielt sollen dazu Fachkräfte, zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte bei der Bundeswehr oder IT-Fachkräfte bei der Polizei, gewonnen werden. Ob und wie dieser Zuschlag seinen Einsatz findet,
liegt im Ermessen der Personalstellen. Er ersetzt und erweitert die bisherigen Sonderzuschläge und kann bis zu
20 Prozent des Grundgehaltes betragen; für A 13 sind
das zum Beispiel 690 Euro pro Monat. Der Personalgewinnungszuschlag kann für höchstens 48 Monate entweder als Monatsbetrag oder als Einmalzahlung gewährt werden. Eine einmalige Verlängerung wird
möglich sein. Den Bundesbehörden wird hier eine flexible und bedarfsgerechte Ausgestaltung des Zuschlags
ermöglicht. Die Besoldungsausgaben eines Ressorts für
diesen Zweck sollen von 0,1 Prozent auf 0,3 Prozent erhöht werden. Dies entspricht insgesamt 22 Millionen
Euro.
Ebenso werden wir Besoldungsverluste beim Wechsel
in den Bundesdienst ausgleichen. Landes- und Kommunalbeamte erleiden bei ihrem Wechsel oft Einkommenseinbußen, zum Beispiel ein Rechtspfleger aus BadenWürttemberg, der zum Bundesamt für Justiz nach Bonn
wechselt.
Die Einstiegsbedingungen für IT-Fachkräfte im gehobenen Dienst verbessern wir. Künftig können IT-Fachkräfte auch im Eingangsamt A 10 eingestellt werden.
Daneben werden wir die Vergütung der Sanitätsoffiziere in den Bundeswehrkrankenhäusern verbessern und
der im zivilen Gesundheitssystem angleichen. Beispielsweise werden die ärztlichen Bereitschaftsdienste deutlicher berücksichtigt.
Auch die Polizeizulage in der Bundesfinanzverwaltung wird durch dieses Gesetz neu geordnet. Die Abgrenzungsschwierigkeiten beim Zoll im Bereich der vollzugspolizeilichen Aufgaben werden beseitigt, und das
Bundesministerium für Finanzen entscheidet über die
zulagenberechtigten Bereiche künftig selbst.
Zugleich werden wir eine Verpflichtungsprämie für
die polizeiliche Auslandsverwendung einführen. Mit dieser Prämie sollen Vergütungsunterschiede bei 6-Monats-Diensten im Rahmen von bilateralen Projekten und
EU-Projekten beseitigt werden. Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen, dass bei Besuchen verantwortlicher
Politiker zum Beispiel bei den in Afghanistan eingesetzten Polizisten diese ungerechtfertigte Situation nochmals eindringlich verdeutlicht wurde und wir hierauf
jetzt konsequent reagieren und das Problem beseitigen.
Ebenso werden wir den alten §147 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes in das neue Dienstrecht überleiten:
Damit können nun auch Beamtinnen und Beamte, die
vor dem 12. Februar 2009 in ein Beamtenverhältnis auf
Probe berufen wurden, bereits nach drei Dienstjahren
auf Lebenszeit verbeamtet werden.
Und schließlich verbessern wir die Regelungen zu
Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten. Das am schnellsten zu mobilisierende Arbeitskraftpotenzial in unserer
Gesellschaft liegt bei den Frauen, insbesondere bei
Frauen mit Kindern. Der vorliegende Gesetzentwurf
wird diesem Umstand in besonderem Maße Rechnung
tragen: Zukünftig werden Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten bis zu drei Jahren wie berufliche Erfahrungszeiten voll anerkannt. Die Bundesverwaltung ist bei der
Thematik der Gleichstellung der Frauen und familienfreundlicher Arbeitgeber sicher schon heute wettbewerbsfähig. Mit diesem Angebot wollen wir unsere Stärken stärken.
Die Steigerung der Attraktivität des Bundes als herausragender Arbeitgeber wird mit diesem Gesetzesschritt wieder ein gutes Stück vorangebracht. Das Ende
der Leiter ist aber noch lange nicht erreicht. Nach Ausbildung und Studium ist eine Entscheidung für einen
staatlichen Arbeitgeber, im Gegensatz zur Wirtschaft,
meist eine Lebensentscheidung. In einem arbeitnehmerfreundlichen Markt mit steigendem Mangel an Fachkräften in allen Branchen und Sektoren wird das Argument der Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Dienst
aber zunehmend schwächer. Hier muss der Bund sich
nicht nur mit internationalen Konzernen und ausländischen Universitäten sowie Forschungseinrichtungen,
sondern auch mit Ländern und Kommunen messen lassen. Insofern gilt es für uns, weiter am Ball zu bleiben
und den Menschen interessante Modelle zum Einstieg in
die öffentliche Verwaltung zu bieten. Unser Berufsbilder
sind bereits anspruchsvoll und attraktiv; an verbesserten gesetzlichen Rahmenbedingungen werden wir
gleichwohl konsequent weiterarbeiten. Ich gehe nicht zu
weit, wenn ich Ihnen schon heute ankündige, dass wir
bereits die nächsten Sprossen unserer Leiter konstruieren.
Für heute freuen wir uns zunächst einmal über diesen
Gesetzentwurf der Regierung und stimmen deshalb mit
Überzeugung zu.
Es geschieht nicht allzu oft, dass die Vorschläge dieser Regierung und dieses Innenministeriums nicht mit
scharfer Kritik zu belegen sind. Das gilt leider ganz besonders, wenn es um den Umgang mit den Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten geht. Doch heute ist dies
ausnahmsweise einmal anders. Denn offensichtlich wird
mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur FachkräfZu Protokoll gegebene Reden
Michael Hartmann ({0})
tegewinnung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften ein überfälliger Schritt vollzogen. Wir
wollen uns daher nicht verweigern, wenn einmal mehr
als nur Lippenbekenntnisse zum Berufsbeamtentum von
der Koalition zu vernehmen sind.
Die Regelungen verweisen auf ein drängendes Problem: In Zeiten des demografischen Umbruchs beginnt
die Jagd nach Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt. Oftmals kann der öffentliche Dienst dabei nicht mithalten.
Denn die Bezahlstrukturen hier lassen es für junge Menschen oftmals nicht attraktiv erscheinen, Bundesbeamter
oder Bundesbeamtin zu werden. Sie denken dabei zu
kurz, lassen sich vom schnellen Geld verführen, ohne an
die nach wie vor vorhandene Sicherheit im öffentlichen
Dienst und die auch ansonsten langfristig bestehenden
Vorteile einer Tätigkeit dort zu denken. Allerdings ist es
zum Beispiel dem jungen Absolventen eines Informatikstudiengangs nicht zu verdenken, dass er sich sofort
nach seinem Examen für die private Wirtschaft entscheidet, wenn ihm dort von Anfang an Traumgehälter winken. Die Nachteile werden für ihn vielleicht erst später
erkennbar.
Wie dem auch sei: Unser Land benötigt mehr denn je
gut ausgebildete Menschen, die ihre Zukunft im öffentlichen Dienst sehen, beispielsweise um unsere Polizei auf
der Höhe der Zeit zu halten, wichtige Entwicklungen in
der Datensicherheit voranzutreiben oder bei der Bundeswehr dauerhaft zu dienen. Deshalb ist es auch aus
unserer Sicht gut und richtig, nunmehr einen ersten
Schritt zu gehen, um Anreize zu schaffen, beispielsweise
durch Zuschläge bei der Personalgewinnung oder ein
verbessertes Eingangsamt für IT-Fachkräfte. Denn so
wird das enge Korsett der Bezahlstrukturen des öffentlichen Dienstes wenigstens ein bisschen geweitet.
Allerdings nutzt dies alles nichts, wenn wir unseren
Berufsbeamtinnen und -beamten nicht mehr echte Wertschätzung entgegenbringen. Allzu oft neigen auch viele
Mitglieder dieses Hohen Hauses leider dazu, lieber
Stammtischparolen zu bedienen. Es deutet sich ja nunmehr an, dass die Koalition auf unseren Druck hin den
Vertrauensbruch beim Weihnachtsgeld endlich rückgängig macht. Ein halbherziger Akt, mit dem die damalige
Schandtat nicht getilgt wird. Sie haben darin Ihr wahres
beamten- und leistungsfeindliches Gesicht gezeigt. Nur
der Protest, nicht die Einsicht lässt sie jetzt umschwenken. Dieses Hü und Hott ist für sich genommen schon
unerträglich und wird Ihnen nicht bekommen!
Wer A sagt, der muss auch B sagen. Denn jede Attraktivitätssteigerung bleibt auf halber Strecke stehen, wenn
die Mitnahmefähigkeit der Versorgungsbezüge nicht in
zeitgemäßer Weise erfolgt. Am 12. November 2008 hatten Sie schon gemeinsam mit uns die Bundesregierung
aufgefordert, eine gesetzliche Regelung der Mitnahmefähigkeit noch in der 16. Wahlperiode zu ermöglichen.
Danach hat Sie der Mut wieder verlassen - oder hatten
Sie es nicht ernst gemeint? Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, sich wieder eines Besseren zu besinnen.
Es ist keineswegs so, dass es nicht genügend junge
Menschen gäbe, die dem deutschen Staat als Beamtinnen und Beamte dienen wollen. Sie erkennen sehr genau, wie großartig ein solcher Dienst sein kann. Doch
Borniertheit und Ignoranz schlagen ihnen entgegen und
verschrecken sie. Es ist an uns, die Türen für jene Interessierten und Engagierten weit aufzumachen. Seien sie
dabei!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf legt die Koalition ein nachhaltiges Lösungskonzept für das Problem
der Rekrutierung gut ausgebildeten Fachpersonals im
öffentlichen Dienst vor. Wie Arbeitgeber aus der Wirtschaft und anderen Bereichen müssen Bundesverwaltung und Bundeswehr konkurrenzfähig bleiben, um qualifizierte Nachwuchskräfte für sich gewinnen zu können.
Der Gesetzentwurf setzt sich zum Ziel, mit Instrumenten
wie dem vorgesehenen Personalgewinnungszuschlag die
Wettbewerbsfähigkeit des Bundes in dieser Hinsicht zu
verbessern. Damit setzen wir einen weiteren Punkt aus
dem Koalitionsvertrag um, den die FDP federführend
mitgestaltet hat.
Der Entwurf konzentriert sich im Wesentlichen auf
zwei Schwerpunkte. Zum einen werden bei den Ergänzungen im Bundesbesoldungsgesetz Elemente, die sich
auf alle Bereiche beziehen, mit solchen kombiniert, die
einzelne Berufsgruppen besserstellen. Zum anderen
werden Änderungen vorgenommen, die in der Beamtenversorgung aufgrund der Rechtsprechung und aus Praxiserwägungen schon lange notwendig sind.
Zu den wichtigsten, für alle Berufsgruppen relevanten Punkten gehört der bereits oben genannte Personalgewinnungszuschlag ({0}). Der Zuschlag gibt
den Bundesbehörden ein konkretes Mittel in die Hand,
auf Personalengpässe flexibel reagieren zu können.
Falls für eine Stelle innerhalb eines angemessenen Zeitraums kein geeigneter Bewerber gefunden werden kann,
ermöglicht der Zuschlag der jeweiligen Bundesbehörde,
das Anfangsgehalt einer Nachwuchskraft um maximal
20 Prozent pro Monat zu erhöhen. Befristet wird diese
Subventionierung auf vier Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um denselben Zeitraum
auf höchstens acht Jahre. Der Zuschlag kann entweder
als Einmalzahlung oder als monatlicher Betrag geleistet
werden. Das Instrument kann in geringerem Umfang
auch als Anreiz für schon vorhandene Fachkräfte genutzt werden, zwischen oder innerhalb von Bundesbehörden die Stelle zu wechseln. Da jedes Ressort maximal
0,3 Prozent seiner Personalausgaben für den Zuschlag
ausgeben darf, wird dafür gesorgt, dass der Aufwand
den Nutzen nicht übersteigt.
Darüber hinaus existiert schon lange das Problem,
dass der Wechsel von Landesbehörden in die Bundesverwaltung sich finanziell negativ für Beschäftige auswirken kann. Deshalb ist die Bereitschaft zu einer Versetzung aus den Ländern in die Bundesverwaltung oft nicht
sehr groß. Um an dieser Stelle einen Anreiz zu schaffen,
wird eine Zulage eingeführt, die das Absinken des Besoldungsniveaus ausgleicht, das bei einer Versetzung eventuell anfallen kann ({1}). Diese Zulage sichert
das Gehaltsniveau zum Zeitpunkt des Übertritts zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Bund und wird bei Gehaltserhöhungen dann schrittweise abgebaut.
Außerdem werden Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten nach dem Gesetzentwurf in Zukunft als Erfahrungszeiten angerechnet ({2}). Jungen Eltern
soll dadurch der Eintritt in den Bundesdienst erleichtert
werden. Diese Maßnahme ist Ausdruck einer familienfreundlichen Politik, der wir als FDP uns besonders verpflichtet fühlen.
In Bezug auf Änderungen, die auf die Besserstellung
einzelner Berufsgruppen zielen, sind besonders die Sanitätsoffiziere und IT-Fachleute herauszugreifen. So
wird die Vergütung von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst der im zivilen Gesundheitssystem angenähert ({3}), und das Besoldungsniveau von ITFachkräften im gehobenen Dienst wird von A 9 auf A 10
angehoben ({4}).
Sonstige Änderungen, deren Notwendigkeit sich sowohl aus der Rechtsprechung als auch aus der Praxis
ergeben, sollen nach dem Gesetzesentwurf unter anderem zu polizeilichen Auslandsverwendungen in besonderen Einzelfällen sowie im Bundesbeamtengesetz vorgenommen werden.
So wird mit der Einführung einer Prämie für Soldaten, die sich für sechs Monate verpflichten, versucht,
wieder mehr Soldaten zu einer Langzeitverpflichtung zu
bewegen, die für wichtige Einsätze dringend nötig ist
({5}).
Eine Änderung im Bundesbeamtengesetz wird ermöglichen, ein Beamtenverhältnis auf Probe schon vor Vollendung des 27. Lebensjahres in ein Beamtenverhältnis
auf Lebenszeit umzuwandeln ({6}). Dies
wird der Fall sein, soweit seit der Berufung mindestens
drei Jahre vergangen sind. Bisher galt für Beamte, die
vor dem 12. Februar 2009 als Beamte auf Probe berufen
wurden, ein Mindestalter von 27 Jahren für die Umwandlung in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit.
Das Fachkräftegewinnungsgesetz setzt bei vielen
Brennpunkten in der Beamtenbesoldung an. Es bietet
dringend nötige Anreize, um den öffentlichen Dienst attraktiver zu gestalten. Es wird jedoch auch deutlich,
dass der Gesetzentwurf hauptsächlich punktuelle Lösungen bei der Fachkräftegewinnung und im Dienstrecht
bietet, indem er eine Vielzahl an Themengebieten aufgreift. Es lässt sich beispielsweise die Frage stellen, warum neben IT-Fachkräften und Sanitätsoffizieren nicht
auch wichtige Berufsgruppen wie die dringend benötigten Ingenieure bessergestellt werden.
Mit diesen Maßnahmen allein wird es nicht gelingen,
die Verknappung von Fachpersonal in den Griff zu bekommen. Ein Lösungsansatz, der weiterhin Aufmerksamkeit verdient, ist das Aufbrechen des öffentlichen
Dienstes als vom übrigen Arbeitsmarkt abgetrennter Bereich. Eine größere Flexibilität zu erreichen, ist hier
mehr als wünschenswert. Solange für Bundesbeamte die
Mitnahme von Versorgungsanwartschaften nicht möglich ist, wird es eine größere Flexibilität an dieser Stelle
nicht geben. Hier gilt es anzusetzen und unter Umständen den öffentlichen Dienst auch deshalb als Arbeitgeber interessanter zu machen.
Die Politik dieser Bundesregierung, aber auch ihrer
Vorgänger hat zu massiven Problemen beim Fachkräftebesatz in der Bundesverwaltung geführt. Personalabbau, Überalterung und unzureichende Ausbildungszahlen bzw. Neueinstellungen kennzeichnen die Situation.
Daraus resultiert eine immer geringere Personaldecke.
Die einzelnen Beschäftigten sind deshalb einem immer
höheren Aufgabenzuwachs ausgesetzt. Übergroße Aufgabenverdichtung führt über kurz oder lang zu Frustration, innerer Kündigung und - wie jeder den Statistiken
entnehmen kann - zu erhöhter Zahl von Krankschreibungen. Womit wird dieser Missklang musikalisch begleitet? Mit längeren Arbeitszeiten und Einkommenskürzungen für die Beamtinnen und Beamten! So gilt die
Weihnachtsgeldkürzung von 2005 - entgegen allen Absprachen mit den Gewerkschaften - bis 2015! Ich sage
an die Adresse der Bundesregierung: Die Attraktivität
des Arbeitgebers Bundesverwaltung hat stark gelitten.
Aber auch Ihnen ist nicht entgangen, dass qualifiziertes
Personal selbst in abgespeckten Verwaltungen vonnöten
ist. Und auch Ihnen ist klar, dass sich der Bund angesichts der gesunkenen Arbeitslosigkeit mit Länderverwaltungen und der Wirtschaft in einer verschärften Konkurrenz um qualifizierte Fachkräfte befindet.
In Ihrem Gesetzentwurf sind verschiedene Maßnahmen vorgesehen, um die Attraktivität des Dienstes in der
Bundesverwaltung zu steigern. Diese Maßnahmen sind
sinnvoll, gehen aber nicht weit genug.
Ihrem Vorhaben, Ausgleichszahlungen für Beamtinnen und Beamte zu ermöglichen, die in die Bundesverwaltung wechseln, stimmen wir zu. Bei der von der Linken geforderten Wiedereinführung eines einheitlichen
Besoldungsrechts wären solche Zahlungen allerdings
hinfällig.
Die Einführung eines Personalgewinnungszuschlages stellt einen besonderen Anreiz für den Dienst in der
Bundesverwaltung dar. Der Personalgewinnungszuschlag ist allerdings nicht ruhegehaltfähig. Warum?
Mit der Anerkennung von Kinderbetreuungs- und
Pflegezeiten soll der Dienst in der Bundesverwaltung
insbesondere für Eltern attraktiver gemacht werden.
Das ist ein wichtiges Zeichen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Auch die Erleichterung der Anerkennung außerhalb
hauptberuflicher Zeiten erworbener Zusatzqualifikationen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Fraglich ist
aber, wieso Sie diese Regelung nicht generalisieren,
sondern auf Einzelfälle beschränken. Warum Sie willkürlich nur drei Jahre an Zusatzqualifikationen anerkennen wollen, Regelstudienzeiten und durchschnittliche Promotionszeiten aber nicht, ist ebenso unklar.
In der Praxis der Gesetzesanwendung muss ein
großes Augenmerk auf die Transparenz bei der Gewährung der Zuschläge gelegt werden. Die Erfahrungen bei
den Leistungszuschlägen zeigen, dass unklare und inZu Protokoll gegebene Reden
transparente Verfahren zu Günstlingswirtschaft führen
können. Nur mit einer starken Einbindung der Mitarbeiterschaft und der Personalvertretungen werden Transparenz und Akzeptanz hergestellt werden können.
Wir stimmen Ihrem Gesetzentwurf zu, wohl wissend,
dass die Schritte in die richtige Richtung nicht die notwendigen Verbesserungen bei der Gehaltsstruktur ersetzen, beispielweise die Rücknahme der Weihnachtsgeldkürzung. Weder die aktuellen Personalprobleme noch
die viel gravierenderen demografischen Probleme in der
Bundesverwaltung werden Sie mit solchen Detailmaßnahmen in den Griff bekommen. Der dbb beamtenbund
und tarifunion weist darauf hin, dass in den nächsten
zehn Jahren der öffentliche Dienst aufgrund des demografischen Wandels fast 20 Prozent der Beschäftigten
verliert. Ohne grundsätzliche Änderungen in der Einstellungspolitik wird das nicht lösbar sein. Die Linke
fordert deshalb eine umfassende Ausbildungs- und Einstellungsoffensive.
Meine Fraktion und ich nehmen grundsätzlich positiv zur Kenntnis, dass sich die Bundesregierung Gedanken über die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit des
öffentlichen Dienstes des Bundes macht. Die mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf eingebrachten Maßnahmen - insbesondere die verbesserte Berücksichtigung
von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten, ein flexibleres
Personalgewinnungsinstrument oder auch die Förderung der Durchlässigkeit zwischen Landes- und Bundesdienst durch Vermeidung von Besoldungsdiskrepanzen sind alle begrüßenswert. Bei Licht besehen aber muss es
der Einstieg in eine weitaus umfassendere Reform des
Dienstrechts mit dem Ziel sein, die Attraktivität des öffentlichen Dienstes insgesamt zu steigern.
Studien belegen, dass bei Weitem nicht nur monetäre
Faktoren die Attraktivität und die Entscheidung für einen Arbeitsplatz ausmachen. Insofern ist der Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu dem
heute vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich zuzustimmen, wenn er das Fehlen nichtmonetärer Anreize
bemängelt.
Nach unserer Vorstellung geht es um weit mehr. Es
geht um Fragen des Betriebsklimas im öffentlichen
Dienst, das Zulassen flacherer Hierarchien, breiterer
Entscheidungskompetenzen auch im gehobenen Dienst,
teamorientierte Ansätze und Mitspracherechte, um nur
einige Ansatzpunkte zu nennen, mit denen der öffentliche Dienst im Wettbewerb um kluge Köpfe punkten
muss. Diese sind maßgebliche Motivationsfaktoren und
sollten bei dem Bemühen um einen attraktiveren öffentlichen Dienst eine weitaus bedeutendere Rolle spielen,
als dies heute der Fall ist. Dies muss zwingend auch vor
dem Hintergrund gesehen werden, dass der Bund einem
immer schmaler zulaufenden finanziellen Korridor entgegensieht und in zunehmenden Maße dem schon längst
globalen Fachkräftemarkt der Konkurrenz aus der Wirtschaft ausgesetzt ist.
Positiv zu werten sind die Bemühungen um eine verbesserte Personalgewinnung durch den Bund. Der Bund
muss auch langfristig konkurrenzfähig bleiben, der Einsatz für öffentliche Belange auf Bundesebene muss attraktiv bleiben bzw. attraktiver werden. Dies gilt für den
Bund besonders, da man als Beamtin oder Beamter im
Bundesdienst in bestimmten Verwendungsbereichen eine
erhöhte persönliche bzw. familiäre Flexibilität aufweisen muss. Inwiefern die neue Vorschrift des § 43 BBesG
hier ein Erfolg sein wird, bleibt abzuwarten und ist den
Ergebnissen einer hoffentlich aussagekräftigen Evaluierung durch das Bundesinnenministerium vorbehalten.
Wie man es bei der Evaluierung von Gesetzen jedenfalls
nicht machen sollte, hat das Ministerium - wenn auch in
anderem Zusammenhang - bei den sogenannten AntiTerror-Gesetzen ja eindrücklich und wiederholt gezeigt.
Der Schwerpunkt bei der Schaffung von Anreizen für
die Gewinnung von IT-Personal ist richtig, wird aber
vermutlich angesichts der immensen Herausforderung
durch die umfassende Digitalisierung auch bei den Polizeien und Sicherheitsbehörden und den Herausforderungen, die in diesem Bereich vor uns liegen, schon in allernächster Zukunft durch weitere Maßnahmen verstärkt
werden müssen. Der jüngste Vorfall um den Hack von
Rechnern der Bundespolizei sowie des Zolls gibt insoweit Anlass zur Sorge; denn nach allem, was wir heute
hierüber wissen, hat auch eine mangelnde Kompetenz
der Verantwortlichen zu den massiven Sicherheitslücken
beigetragen.
Flexibilität ist das Stichwort für den Bereich der Auslandsverwendung von Polizistinnen und Polizisten. Die
Neuregelung des § 57 BBesG ist grundsätzlich willkommen, es muss in diesem Bereich allerdings noch einiges
mehr passieren, damit die Attraktivität einer - auch
mehrfachen - Auslandsverwendung steigt. Im Kern
muss es darum gehen, Polizeibeamtinnen und -beamte
grundsätzlich zu motivieren, ihren beruflichen und persönlichen Erfahrungsschatz durch eine Auslandsverwendung zu erweitern. Es reicht nicht aus, lediglich Unterschiede zwischen der Vergütung für Einsätze in
bilateralen und solchen im Rahmen von EU- oder VNMissionen zu beseitigen. Der internationale Einsatz für
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit darf
für die Vita/Karriere von Polizistinnen und Polizisten
insgesamt keinen Nachteil bedeuten.
Die nachbessernde Regelung des § 19 b BBesG ist im
Lichte einer verbesserten Durchlässigkeit vom Landesin den Bundesdienst zu begrüßen. Sie wäre allerdings
vermeidbar gewesen, wenn man sich nicht vor einigen
Jahren in einer anderen Regierungskoalition auf die
Übertragung der Besoldungshoheit für Landes- und
Kommunalbeamtinnen und -beamte auf die Länder und
damit auf die Schaffung eines besoldungsrechtlichen
Flickenteppichs verständigt hätte.
Meine Fraktion erkennt die Bemühungen der Bundesregierung an, die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit des
öffentlichen Dienstes des Bundes zu verbessern. Das ist
ein richtiger Schritt. Zweifellos gehen einzelne Maßnahmen des uns heute vorliegenden Gesetzentwurfs in die
richtige Richtung und werden von mir und meiner FrakZu Protokoll gegebene Reden
tion daher ausdrücklich begrüßt. Dennoch reichen die
von Ihnen angestoßene Reformschritte bei Weitem nicht
aus.
Meine Fraktion und ich werden uns im Zuge der anstehenden Verhandlungen in den Fachausschüssen für
eine Reform des Dienstrechts einsetzen, die sowohl im
Sinne der Bediensteten als auch im Sinne der Steigerung
der Attraktivität der Beschäftigung im öffentlichen
Dienst insgesamt ist. Der vorliegende Gesetzentwurf
bietet hierfür eine erste Diskussionsgrundlage.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7142 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken,
Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte und Friedensprozess in Sri
Lanka fördern
- Drucksachen 17/2417, 17/4699 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Serkan Tören
Volker Beck ({1})
Die Situation in Sri Lanka beschäftigt uns im Deutschen Bundestag bereits zum wiederholten Mal und dies
aus gutem Grund:
War es zunächst der anhaltende Bürgerkrieg, der seit
1983 zwischen den tamilischen Liberation Tigers of Tamil Eelam ({0}) und der singhalesischen Regierung
tobte und der im Jahr 2009 mit einem Sieg der Regierung endete, so ging es danach vor allem um die Lage
der tamilischen Bevölkerung und ganz besonders um die
Binnenvertriebenen, die anfangs in einer Zahl von mehreren hunderttausend Menschen in Lagern interniert
waren und deren humanitäre Situation prekär war und
für die dort verbliebenen Menschen wohl auch immer
noch ist. Diese Unterbringung in Lagern ist eine völkerrechtswidrige Maßnahme, weshalb seit 2010 zunehmend
der Druck der internationalen Gesellschaft auf die Freilassung der Menschen gestiegen ist.
Ich selbst beschäftige mich intensiv mit der Situation
vor Ort und bin mehrfach selbst in Sri Lanka gewesen,
zuletzt im März dieses Jahres. Mein Eindruck ist dabei
insgesamt zweischneidig:
Einerseits ist nicht zu leugnen, dass es auch weiterhin
massive Menschenrechtsverletzungen gibt, andererseits
ist schon seit längerer Zeit eine positive Entwicklung
festzustellen, einen Willen der Regierung, die unerträglichsten Verletzungen der Menschenrechte in Sri Lanka
abzustellen. Letztes augenfälliges Indiz dafür ist die Aufhebung der Notstandsgesetze durch die Regierung Ende
August dieses Jahres, nachdem diese für fast 30 Jahre in
Kraft waren. Dadurch wurde der Polizei zumindest das
Recht entzogen, umfassende Maßnahmen gegen die Tamilen in Form von Wohnungsdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen zu vollziehen. Allerdings besteht
bei fast allen Beobachtern Einigkeit, dass die Anstrengungen noch erhöht werden müssen und eine wirkliche
politische Integration der tamilischen Bevölkerungsminderheit nicht die allerhöchste Priorität genießt.
Positive Entwicklungen sind - neben dem Ende der
Notstandsgesetze - in verschiedenen Bereichen sichtbar.
Besondere Anerkennung verdienen Infrastrukturprojekte im Norden des Landes sowie die bereits weit vorangeschrittene Auflösung der Flüchtlingslager. Von den
Binnenvertriebenen sind von den ursprünglich 300 000
Lagerinsassen nur noch maximal 20 000 übrig, in den
Sonderlagern, in denen die mutmaßlichen LTTE-Kämpfer gefangen waren, sind inzwischen 6 500 Menschen
freigelassen worden, die restlichen 5 500 Personen sollen bis auf 800 Gefangene ebenfalls alle befreit werden.
Den Übrigen soll der Prozess vor Gericht gemacht werden.
Die Auflösung der Lager kann jedoch nur ein erster
Schritt zur Verbesserung der Gesamtsituation sein.
Langfristig muss die politische Integration der tamilischen Bevölkerung weiter vorangetrieben werden. Hier
muss insbesondere die Regierung grundlegende Änderungen verinnerlichen und vor allem auch durchsetzen.
Dabei geht es in erster Linie darum, den Friedensprozess mit der tamilischen Bevölkerungsminderheit voranzubringen. Denn die Beendigung des Bürgerkriegs
durch die sri-lankischen Regierungstruppen hatte leider
bisher noch nicht die Versöhnung mit den tamilischen
Rebellen zur Folge. Vielmehr besteht die Gefahr einer
langfristigen Benachteiligung der Tamilen insgesamt.
Deshalb muss es nun zur obersten Priorität des Regierungshandelns werden, die beiden Lager wieder miteinander in Einklang zu bringen. Nur so wird es für Sri
Lanka möglich sein, endgültig mit der langen Zeit des
Bürgerkriegs abzuschließen und einen neuen demokratischen und friedlichen Staat zu errichten.
Von großer Hilfe bei der Versöhnung zwischen Tamilen und Singhalesen ist die Kirche, welche im Norden
und Süden des Landes vertreten ist. Allerdings muss
auch die Regierung aktiv an der Integration der Minderheit arbeiten. Ein erster Schritt wäre die stärkere Anerkennung der tamilischen Sprache und die Verfassung
der gemeinsamen Hymne der Tamilen und Singhalesen
in eben dieser Sprache zur Förderung der Gleichberechtigung der ethnischen Gruppen. Wir fordern im Rahmen
dieser Anregungen auch das Zugeständnis von ausführlichen Minderheitenrechten für die bisher diskriminierten Tamilen.
Die sri-lankische Regierung muss sich neben der Integration der tamilischen Bevölkerung auch noch stärker für den tatsächlichen Erhalt grundsätzlicher Menschenrechte einsetzen, um international wieder mehr
Anerkennung zu finden. Zurzeit werden in Sri Lanka
Menschenrechte noch immer massiv missachtet. Es wird
ein organisiertes „Verschwindenlassen“ von Menschen
betrieben und die Todesstrafe bleibt weiterhin legal.
Ausgesprochen problematisch ist auch die Lage der
Witwen der ehemaligen LTTE-Kämpfer im Norden und
Osten des Landes. Diese leiden nicht nur unter grundlegenden Problemen wie dem Mangel an einer Unterkunft,
sondern auch unter gesellschaftlicher Ausgrenzung. Darüber hinaus ist es ihnen aufgrund ihrer katastrophalen
Situation unmöglich, ihr Leben in die eigenen Hände zu
nehmen. In ihrer Verzweiflung sehen viele nur einen
Ausweg in der Prostitution; die Selbstmordrate unter ihnen ist offenbar ebenfalls besorgniserregend hoch. Um
die Lage dieser Witwen nachhaltig zu verbessern ist daher offensichtlich auch die Unterstützung durch psychologische Hilfe gefragt. Dies wird von der Regierung allerdings bislang nicht akzeptiert. Bisher hat die
Regierung auch keinerlei Vorkehrungen bezüglich der
finanziellen Unterstützung der Witwen getroffen. Lediglich Nichtregierungsorganisationen und Kirchen helfen.
Ein weiteres Thema ist die unzureichende Gesundheitssituation in den tamilischen Gebieten. Das ist sie
nicht nur, weil die Versorgung vor Ort insgesamt noch
verbesserungswürdig wäre, sondern vor allem auch,
weil die zuständigen Ärzte oft nicht die Sprache der Bevölkerung sprechen können. Sie werden von der Regierung in die tamilischen Gebiete geschickt, ohne vorher
deren Sprache zu erlernen.
Neben diesen Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte gibt es aber auch noch erhebliche Defizite bei
Freiheits- und Bürgerrechten:
Menschenrechtsverteidiger und Journalisten, welche
die Situation kritisch beobachten und bewerten, werden
zunehmend bedroht und unter Druck gesetzt. Die Verbrechen der Kriegsparteien bleiben straflos und die Regierung lehnt unabhängige Untersuchungen dieser Verbrechen durch UN-Experten ab. Wir wissen, dass zum
Beispiel die Bedingungen in den „Sonderlagern“, in denen die mutmaßlichen LTTE-Kämpfer inhaftiert sind,
katastrophal und unmenschlich sind und dringend humanitäre Hilfe vonnöten wäre. Es ist uns aber schlichtweg unmöglich, diese Hilfe zu leisten, da die sri-lankische Regierung internationalen Hilfsorganisationen wie
zum Beispiel dem Roten Kreuz den Zutritt noch immer
verweigert.
Vonseiten der UN und Deutschlands werden diese
Menschenrechtsverletzungen scharf verurteilt. Ich fordere deshalb ausdrücklich, dass Menschenrechtsbeobachter und Journalisten endlich Zugang zu den tamilischen Gebieten und den Lagern bekommen, damit die
internationale Gemeinschaft sich ein genaues Bild der
Lage machen und den Betroffenen in einem zweiten
Schritt dann auch endlich humanitäre Hilfe zukommen
lassen kann. Wir appellieren daher an die sri-lankische
Regierung, in Zukunft eng mit den Vereinten Nationen
zusammenzuarbeiten sowie die Genfer Konvention einzuhalten.
Bis zur konkreten Umsetzung dieser Forderungen
wird Deutschland die Aufstockung seiner Entwicklungshilfe für Sri Lanka weiterhin nicht vornehmen und Sri
Lanka den Status als vollständiges Partnerland nicht zuerkennen. Neben dieser direkten Sanktion von deutscher
Seite hat auch die Europäische Union die Handelsvorteile für Sri Lanka suspendiert, um die Einhaltung der
Menschenrechte einzufordern. Ich unterstütze diese
Maßnahmen, bilden sie doch einen Hebel, um Verbesserungen herbeizuführen. Vielleicht haben sie sogar Einfluss auf die jetzt erfolgte Aufhebung der Notstandsgesetze gehabt.
Trotzdem ist es wichtig, die Arbeit mit Sri Lanka auf
anderer Ebene fortzusetzen. In diesem Zusammenhang
möchte ich ausdrücklich die intensive Arbeit der deutschen Botschaft in Colombo loben und auf das Engagement der Helmut-Kohl-Stiftung für ein deutsches Krankenhaus verweisen, das wahrscheinlich von der KfW
gefördert wird.
Uns ist bewusst, dass neben diesen unmittelbaren
Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Situation auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage
von großer Wichtigkeit ist. Nicht zu unterschätzen ist dabei der Einfluss Chinas und Indiens, zweier Länder, die
unter anderem bei der Finanzierung von Behausungen
eine große Rolle spielen. China unterstützt darüber hinaus auch die Infrastruktur des Landes.
Äußerst relevant ist dabei neben der schnellstmöglichen Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten auch die Bereitstellung von Wohnraum. Die Errichtung von dauerhaften Behausungen ist insbesondere angesichts der
anstehenden Monsunzeit von elementarer Bedeutung.
Bislang sind dies neben der schlechten Versorgungslage
der rückgesiedelten Bevölkerung die größten Probleme.
Darüber hinaus bekommen Familien, die keinen Landbesitz nachweisen können, bislang von der Regierung
nur wenig Unterstützung. Die Frage des Landbesitzes
muss daher umgehend geklärt werden, damit die verbliebenen Menschen aus den Lagern entlassen und sich
nach der langen Zeit des Bürgerkriegs endlich wieder
eine Existenz aufbauen können. Eine mögliche Maßnahme wäre auch hier die Einführung von Mikrokrediten, da der Regierung und der Bevölkerung das Geld
fehlt, die Situation der Menschen nachhaltig zu verbessern.
Eine Schlüsselrolle könnte bei der wirtschaftlichen
Entwicklung auch der Tourismus einnehmen. Sri Lanka
ist eine bekannte Tourismusdestination, die unter anderem auch bei deutschen Urlaubern sehr beliebt ist. Der
Tourismus bietet die Möglichkeit, mit relativ geringen
Voraussetzungen und überschaubaren Investitionen
nachhaltig Arbeitsplätze zu schaffen und im Umfeld des
Tourismus Wertschöpfungsketten aufzubauen. Bisher
wächst der Tourismus jedoch vor allem im Osten und so
gut wie gar nicht im von vorwiegend von Tamilen bewohnten Norden, obwohl es auch hier gute Voraussetzungen für eine touristische Entwicklung gibt. Die
Chancen werden auch von Vertretern der Tamilen selbst
Zu Protokoll gegebene Reden
durchaus gesehen und die Hoffnung in den Tourismus ist
auch hier nicht gering. Ein solcher Prozess der touristischen Erschließung muss vor allem auch die sri-lankische Verwaltung unterstützt werden. Das vorhandene
Personal muss unter anderem durch Sprachtrainings
besser geschult werden und zur besseren Bewältigung
der Aufgaben enger mit der Regierung zusammenarbeiten. Aber auch deutsche Reiseunternehmen und Experten könnten Sri Lanka gerade auf dem Gebiet der Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus unterstützen.
Dem Antrag der Linken, der die Grundlage der heutigen Debatte bildet, der aber bereits vor mehr als einem
Jahr eingebracht wurde, können wir als CDU/CSUFraktion nicht zustimmen, da er aus unserer Sicht veraltet ist. Die Bundesregierung hat bereits zu den Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka Stellung genommen und fordert ebenfalls die Untersuchung der
menschenrechtlichen und demokratischen Verfehlungen
der Regierung durch eine unabhängige Kommission. Allerdings muss vor allem an einem Konzept über die zukünftige Zusammenarbeit mit der Regierung gearbeitet
werden, die im Interesse der Menschen vor Ort ist. Dabei ist der richtige Umgang mit der tamilischen Minderheit besonders wichtig.
Diese Fragen müssen geklärt werden, damit Sri
Lanka nicht weiter in die Arme totalitärer Staaten wie
Iran oder Myanmar getrieben wird. Letztendlich gilt es,
die Situation in Sri Lanka nachhaltig zu verbessern und
die Regierung im Prozess der Demokratisierung und Integration der tamilischen Minderheit zu unterstützen,
damit in Zukunft die Menschenrechte besser durchsetzbar und die humanitäre Lage mit internationalen Bestimmungen vereinbar ist. Unser mittelfristiges Ziel ist
es deshalb auch, nachdem die Regierung sich aktiv dafür eingesetzt hat, die derzeitigen Menschenrechtsverletzungen vor Ort zu beenden, die deutsche Entwicklungshilfe wieder zu intensivieren und Sri Lanka die
Möglichkeit zu geben, als vollwertiges Partnerland erneut anerkannt zu werden.
Wie Sie sehen, ist die Situation in Sri Lanka nicht
ganz einfach, sondern es gibt zwei Seiten der Medaille:
Einerseits muss anerkannt werden, dass durch die Beendigung des lange währenden Bürgerkriegs und die fast
abgeschlossene Auflösung der Flüchtlings- und Gefangenenlager deutliche Fortschritte zu verzeichnen sind,
andererseits hat das Land in der Tat noch viele Aufgaben zu bewältigen. So müssen vor allem die Menschenrechte und die Integration der tamilischen Bevölkerung
einen höheren Rang auf der Prioritätenliste der sri-lankischen Regierung erhalten. Die Aufhebung der Notstandsgesetze begrüßen wir in diesem Zusammenhang
ausdrücklich. Jetzt gilt es, diese Aufhebung zum Anlass
zu nehmen, an einer tatsächlichen Versöhnung sowie der
Integration der tamilischen Minderheit zu arbeiten. Ein
weiterer Schritt ist dann die wirtschaftliche Entwicklung
und Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem in den tamilischen Gebieten.
Diesen Prozess wird Deutschland an der Seite der
UNO weiterhin sowohl unterstützend als auch kritisch
begleiten.
Es ist gut, dass Jagath Dias, der seit 2009 als stellvertretender Botschafter der sri-lankischen Vertretung für
Deutschland, die Schweiz und den Vatikan in Berlin notifiziert war, nun Mitte September abgezogen wurde. Der
Verdienst der deutschen Bundesregierung ist dies allerdings nicht: Bereits 2009 bei der Notifizierung des Diplomaten wurde von dem European Center for Constitutional and Human Rights e. V., ECCHR, ein Dossier
veröffentlicht, in dem Jagath Dias beschuldigt wurde,
als Generalmajor der sri-lankischen Armee in der
Schlussoffensive gegen die Liberation Tigers of Tamil
Eelam, LTTE/Tamil Tigers, an einem Angriff beteiligt
gewesen zu sein, bei welchem nach Berichten der Vereinten Nationen 40 000 Zivilisten umgekommen sind.
Über die Gründe des Abzugs durch die sri-lankische Regierung ist allerdings noch nichts bekannt. Da sich nach
Medienberichten weder die sri-lankische Botschaft in
Berlin noch das Generalkonsulat in Genf dazu äußern
wollen, bleibt abzuwarten, was der genaue Anlass ist.
Ich hoffe, dass eine ordentliche Strafermittlung der
Grund war.
Bisher hat mich die sri-lankische Regierung unter
Staatspräsident Mahinda Rajapaksa - das muss ich ehrlich sagen - unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten selten positiv überrascht: Nach 25 Jahren Bürgerkrieg, der seit 2009 beendet zu sein scheint, stellen wir
immer wieder einen großen Mangel an Menschenrechtsbewusstsein und demokratischer Entwicklung fest.
So sind die von Amnesty behandelten Fälle des verschwundenen Pattani Razeek, dem Leiter der sri-lankischen Nichtregierungsorganisation Community Trust
Fund, CTF, oder des regimekritischen Journalisten und
Karikaturisten Prageeth Eknaligoda zu nennen. Das
sind nur die prominenten Gesichter der Opfer, die es in
Sri Lanka zu beklagen gilt. Bewaffnete Gruppen, die mit
der Regierung verbündet sind, sind weiterhin aktiv und
begehen Menschenrechtsverletzungen, zu denen das
Verschwindenlassen, Töten, Entführen und Foltern von
Kritikern gehören. Die Sicherheitsorgane sind ebenso
für willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter
und extralegale Hinrichtungen verantwortlich. Menschenrechtsverteidiger und Journalisten werden verfolgt
und bedroht, ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit
und die aller anderen Bürger sind durch die immer noch
geltenden Notstands- und Antiterrorgesetze stark eingeschränkt.
Die Tamilen werden auch weiterhin ausgegrenzt: Von
den ursprünglich 300 000 binnenvertriebenen Tamilen
befinden sich immer noch circa 20 000 in sogenannten
Flüchtlingslagern. Das Verlassen des Lagers durch die
Betroffenen oder Besuche von internationalen Hilfsorganisationen sind aber noch immer schwierig und nur
unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums möglich.
Die Einrichtungen und die Versorgungsmöglichkeiten
sind nach Berichten dieser Organisationen, zum Beispiel des internationalen Roten Kreuzes, noch verbesserungsfähig, und die Regierung beeilt sich nicht gerade,
die ungeklärten Grundbesitzfragen zu klären oder die
Betroffenen in andere Regionen und vernünftige Unterkünfte umzusiedeln.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
Zudem sind von den ehemals 9 000 festgehaltenen
mutmaßlichen LTTE-Kämpfern immer noch 1 300 in den
sogenannten Rehabilitationslagern auf Verdacht interniert, ohne dass sie einem ordentlichen Strafverfahren
zugeführt werden. Da internationale Organisationen
hier keinen Zutritt haben, können wir die schlimmen Zustände nur erahnen.
Große Sorgen bereitet mir daher das bisherige Scheitern jeglicher Bemühungen der Vereinten Nationen, der
Europäischen Union und der deutschen Bundesregierung, welche die sri-lankische Regierung zu einer unabhängigen und systematischen Aufarbeitung der Verbrechen während des Bürgerkrieges bewegen wollen. Dabei
wäre dies so dringend geboten, denn die Abwesenheit eines Bürgerkrieges macht noch keinen Frieden.
Die Tamil Tigers haben jahrzehntelang Zivilisten angegriffen, Kinder und Jugendliche zwangsweise für den
bewaffneten Kampf rekrutiert, Politiker ermordet und in
der Endphase des Konfliktes Zivilisten als menschliche
Schutzschilde benutzt. Aber auch die sri-lankische Regierungsarmee und verbündete bewaffnete Gruppen haben extralegale Hinrichtungen durchgeführt, gefoltert
und Menschen verschwinden lassen; am Ende des Konflikts haben sie Wohngebiete von Zivilisten beschossen
und deren allgemeine Versorgung in Kampfgebieten fast
vollständig zum Erliegen gebracht. Allein in den letzten
Monaten der Kämpfe sind Zehntausende Zivilisten von
beiden Seiten mit Kalkül benutzt und ermordet worden.
Bis heute ist dafür niemand zur Verantwortung gezogen
worden - Aufklärung und die Haftbarmachung der Verantwortlichen ist daher dringend geboten.
Die aktuelle Angstorganisation durch die Staatsorgane mithilfe extralegaler Gewalt und Repression, kombiniert mit dem fehlenden Willen zur Aufarbeitung der
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf beiden Seiten, führt bisher zwar noch nicht
zu einem erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges, doch
mehr als einen faulen Frieden haben wir in Sri Lanka
bisher nicht. Ohne ehrliche Aufarbeitung besteht kaum
eine Chance darauf, dass es ein nachhaltiger Frieden
wird. Das wissen wir aus eigener Erfahrung.
Der vorliegende Antrag der Linken thematisiert dies
auch und geht prinzipiell in die richtige Richtung, allerdings geht er teilweise von falschen Zahlen aus und ist
veraltet. Ich unterstreiche deshalb die dem Bundestag
vorliegende Entschließung des Europäischen Parlamentes, P7_TA-PROV({1})0242. Diese bezieht sich auf
den Bericht der von VN-Generalsekretär Ban Ki-moon
eingesetzten Expertengruppe zur Klärung der Frage der
Verantwortlichkeiten für die Kriegsverbrechen. Mit den
darin gemachten Empfehlungen können in Übereinstimmung mit der im Mai 2009 abgegebenen Erklärung des
sri-lankischen Präsidenten Rajapaksa und VN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Daher mein dringender Apell an die Bundesregierung: Nehmen Sie ihre Verantwortung in Europa wahr
und sprechen Sie über die Notwendigkeit der Aufarbeitung und Demokratisierung mit der sri-lankischen Regierung! Vielleicht tut die sri-lankische Regierung mit
dem anfangs zitierten Fall des stellvertretenden Botschafters einen ersten wichtigen Schritt. Also, bitte nutzen Sie auch den Wechsel in der Botschaft - hoffentlich
hin zu jemandem, der nicht in diesen blutigen Konflikt
involviert war - zur Chance auf einen neuen konstruktiven Austausch!
Wie aus der Beschlussempfehlung ersichtlich, lehnen
wir als FDP-Bundestagsfraktion den Antrag „Menschenrechte und Friedensprozess in Sri Lanka fördern“
der Fraktion Die Linke ab.
In der Tat ist die menschenrechtliche Situation in Sri
Lanka nach wie vor höchst unbefriedigend. Wir haben
während der Kriegshandlungen das inhumane Vorgehen
der Regierung und der Armee Sri Lankas sowie die systematischen Menschenrechtsverletzungen scharf verurteilt. Weiterhin sind Tausende Tamilen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern eingesperrt.
Internationale Beobachter haben keinen Zugang.
Richtigerweise setzt sich die Bundesregierung weiterhin mit der Europäischen Union als Ganzes für eine
Verbesserung der Situation ein. Dies betrifft eine Unterstützung der Situation in den Lagern sowie einen umfassenden Versöhnungsprozess in Sri Lanka insgesamt.
Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss es von
der Regierung in Sri Lanka eine Verbesserung der menschenrechtlichen Situation im Land auf verschiedenen
Ebenen geben. So fordern wir von der Regierung in Sri
Lanka die Stärkung der Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit.
Internationale und nationale Menschenrechtsorganisationen in Sri Lanka sehen sich nach wie vor staatlichem Druck ausgesetzt. Der bisher existierende Ausnahmezustand gibt den Sicherheitskräften weit gehende
Rechte.
Zwar gibt es Bemühungen der Regierung in Sri
Lanka, Infrastrukturprojekte im Bürgerkriegsgebiet im
Norden des Landes zu errichten. Auch wird die Entlassung des großen Teils der Binnenvertriebenen aus menschenrechtswidrigen Lagern vorangebracht. Sorge bereiten uns allerdings die schlechte Versorgungslage und
mangelnde Erwerbsmöglichkeiten der rückgesiedelten
Bevölkerung. Die vielfach ungeklärte Frage des Landeigentums wird aus unserer Sicht dadurch verschärft,
dass die Armee noch Gebiete als Hochsicherheitszonen
besetzt hält. Eine überzeugende politische Integration
der tamilischen Bevölkerungsminderheit muss oberste
Priorität der Regierung in Sri Lanka sein.
Als FDP unterstützen wir die Arbeit der von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon ernannten dreiköpfigen internationalen Expertengruppe, um die Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen, die während des bewaffneten
Konflikts in Sri Lanka begangen worden sind, zu untersuchen. Wir fordern die Regierung von Sri Lanka auf,
dabei eng mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten. Auch unterstützen wir die Forderung der Bundesregierung, die Frage der mangelnden Untersuchung
von Menschenrechtsverletzungen durch die sri-lankiZu Protokoll gegebene Reden
sche Regierung gemeinsam mit den Partnern der Europäischen Union auf der Tagesordnung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zu halten.
Als FDP-Bundestagsfraktion halten wir in der Analyse den Antrag der Linken in vielen Punkten für richtig.
Jedoch sind die vorgeschlagenen Konsequenzen des
Forderungsteils für die FDP zum Teil nicht tragbar. Darüber hinaus werden die im Antrag geforderte Verbesserung der Menschenrechte und der Friedensprozess in
Sri Lanka durch das Handeln der Bundesregierung bereits gefördert.
So postuliert die Linke in Forderung 9 die Einrichtung eines dauerhaften und transparenten Monitorings
für in Sri Lanka tätige deutsche Unternehmen und ihre
Zulieferbetriebe. Dies soll gelten für die Einhaltung der
dort geltenden Arbeitsgesetzgebung, die Achtung der
Arbeitnehmerrechte sowie die geltenden ILO-Konventionen. Auch sollen Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards entsprechend dem Pakt über die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte, UN-Sozialpakt, durchgesetzt werden. All dies soll gemäß den Linken dann in
einen entsprechenden Bericht an den Deutschen Bundestag gesandt werden.
Die FDP hält dies für überflüssig, da das geforderte
Monitoring bereits durch die jeweiligen Organisationen
erfolgt. So wird zum Beispiel die Einhaltung der ILONormen durch die ILO überwacht. Die progressive Verwirklichung und Umsetzung der WSK-Rechte des UNSozialpaktes werden durch den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, CESCR, kontrolliert. Es ist nicht ersichtlich, warum hier auf nationaler Ebene dauerhaft Doppelstrukturen aufgebaut werden
sollen.
In Forderung 11 wird ein genereller Abschiebestopp
für Flüchtlinge aus Sri Lanka gefordert. Eine solche
Forderung hat die FDP zwar im Jahr 2007 noch mitgetragen, zwischenzeitlich hat sich die Lage jedoch geändert. Der Bürgerkrieg ist, wie der Antrag korrekt ausführt, offiziell beendet worden. Daher ist ein genereller
Abschiebestopp nicht mehr angebracht. Vielmehr ist
eine Einzelfallprüfung vonnöten, um jeweils zu überprüfen, ob Menschenrechtsverletzungen tatsächlich vorliegen oder zu befürchten sind.
Ferner engagiert sich das FDP-geführte BMZ in Sri
Lanka im Rahmen einer angepassten Strategie zur Entwicklungszusammenarbeit. Die Vorhaben im Land werden konfliktsensibel gestaltet und auf ausgewiesene
Armutsregionen konzentriert. Die Menschenrechtsdimension in Post-Konfliktregionen wird damit gestärkt.
So ist einer der Themenschwerpunkte der laufenden
deutschen Kooperation die Stärkung von Friedensinitiativen auf verschiedenen Interventionsebenen. Auch fördert das BMZ eine Friedenserziehung, den Wiederaufbau sowie Good Governance und die nachhaltige
Wirtschaftsentwicklung in Armutsregionen.
Die Förderung der Menschenrechte und des Friedensprozesses wird durch das Regierungshandeln der
Bundesregierung folglich bereits vorangetrieben. Aus
den oben genannten Gründen wird daher der Antrag der
Linken von der FDP-Bundestagfraktion abgelehnt.
Ich möchte mit etwas Erfreulichem beginnen: Jagath
Dias, Ex-Generalmajor der sri-lankischen Streitkräfte,
dem Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, wurde als
Vizebotschafter für Deutschland, die Schweiz und den
Vatikan abberufen. Der Pressemitteilung des ECCHR
vom 22. September 2011 zufolge hat die schweizerische
Bundesanwaltschaft angekündigt, im Fall seiner Wiedereinreise ein förmliches Ermittlungsverfahren einzuleiten. In Deutschland soll laut ECCHR ein Vorermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet worden sein.
Dies sind gute Nachrichten für alle, die sich dafür
eingesetzt haben, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher bei uns keinen Unterschlupf findet. Ich möchte daher an dieser Stelle im Namen der Linksfraktion dem
ECCHR ausdrücklich Dank sagen, dass er mit seinem
umfassenden Dossier einen maßgeblichen Beitrag für
diesen Erfolg geleistet hat!
Für die Bundesregierung bedeutet die Entwicklung
im Fall Dias allerdings eine schallende Ohrfeige. Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion wie auch aus
anderen Fraktionen hatten seinerzeit die Bundesregierung gebeten, ihm bis zur Entkräftung der Vorwürfe
keine Akkreditierung und damit diplomatische Immunität zu gewähren. Es gab zudem genügend kritische
Nachfragen und eindeutige Hinweise aus der tamilischen Diaspora und von Menschenrechtsorganisationen, dass die von Dias befehligte 57. Division in
schwerste Menschenrechtsverletzungen verwickelt gewesen war. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen
wurden während der Schlussoffensive der sri-lankischen
Armee gegen die Rebellen der „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ auch circa 40 000 Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Dennoch hat die Bundesregierung all dies
ignoriert und damit zumindest indirekt Beihilfe dazu geleistet, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher sich internationaler Strafverfolgung entziehen konnte. Das ist
ein politischer Skandal ersten Ranges!
Als Konsequenz muss zukünftig bereits im Visaverfahren für diplomatisches Botschaftspersonal etwaigen
Vorwürfen internationaler Kriegsverbrechen nachgegangen werden. Sofern der Entsendestaat oder internationale Strafverfolgungsbehörden noch keine Ermittlungen aufgenommen haben, muss die Bundesanwaltschaft
gegebenenfalls auch eigene Vorermittlungen durchführen. Nur so lässt sich ein Wiederholungsfall verhindern.
In Sri Lanka selbst herrscht weiterhin ein allgemeines
Klima der Straflosigkeit für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen vor. Die politische Führung
unter Präsident Rajapaksa hat zwar im Bürgerkrieg
militärisch gesiegt, ein echter Friedens- und Versöhnungsprozess zwischen Singhalesen und Tamilen hat
aber bislang nicht stattgefunden. Hierfür müssen die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrundlagen für die tamilische Bevölkerung in den früheren
Kampfgebieten wiederhergestellt und die Ursachen des
Konflikts beseitigt werden. Dies betrifft den WiederaufZu Protokoll gegebene Reden
bau von zerstörten Häusern und Schulen, die Versorgung mit Trinkwasser und Energie, die humanitäre
Minenräumung und die Wiedernutzbarmachung der
landwirtschaftlichen Anbauflächen für die Reisproduktion. Insbesondere verwitwete und alleinerziehende
Frauen, die während des Krieges Männer und Söhne
verloren haben, müssen vor Ausgrenzung und Armut geschützt werden. Die Linke fordert die Bundesregierung
auf, sich in diesem Bereich mit zusätzlichen Entwicklungshilfen, personeller und finanzieller Projektunterstützung und technischem Know-how stärker zu engagieren. Darüber hinaus sollte sie die Regierung Sri
Lankas auch bei der politischen und gesellschaftlichen
Konfliktlösung unterstützen.
Ohne eine öffentliche Aufarbeitung des Kriegsgeschehens und die Bestrafung von begangenen Kriegsverbrechen ist ein Friedensprozess kaum denkbar. Dies
gilt für Kriegsverbrechen aller Seiten: der Regierung,
der Paramilitärs und der Rebellen. Aus diesem Grund
hält Die Linke an ihrer Aufforderung an die Bundesregierung fest, dass der Druck auf Sri Lanka erhöht werden muss, damit unabhängige internationale Untersuchungen stattfinden und die Regierung in Colombo dies
nicht ihr genehmen „Experten“ überlässt.
Ich will an dieser Stelle in aller Klarheit sagen: Die
Linke kritisiert die jahrzehntelange staatliche Unterdrückungspolitik gegen die tamilischen Bevölkerung in Sri
Lanka. Gleichzeitig war, ist und bleibt Die Linke die
Partei des Völkerrechts und der friedlichen Konfliktlösung. Wie dies schon am Beispiel des Kosovo zu erkennen war, wenden wir uns entschieden gegen einseitige
Sezessionen. Diese sind Teil des Problems und nicht der
Lösung. Für die Beilegung von Nationalitätenkonflikten
bietet das Völkerrecht vielfältige und geeignete Möglichkeiten zum Schutz von Minderheiten, wie beispielsweise kulturelle und politische Autonomierechte.
Aus unserer Sicht ist im Fall Sri Lankas daher auch
eine Amnestie für einfache Mitglieder und Sympathisanten der Rebellen geboten, um den innergesellschaftlichen Aussöhnungsprozess zu unterstützen. Die früheren
Kriegsteilnehmer und Kindersoldaten brauchen zivile
berufliche Perspektiven und nachholende Berufsqualifizierungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in die srilankische Gesellschaft. Die tamilische Bevölkerung benötigt insgesamt einen gleichberechtigten Zugang zu sozialen Grunddiensten, vor allem bei Bildung und Gesundheit, bei Berufs- und Karrierechancen auch in der
staatlichen Verwaltung, und einen wirksamen Schutz vor
Diskriminierung insbesondere beim Gebrauch der eigenen Sprache.
Die tamilische Diaspora in Deutschland gehört mit
zu den am besten integrierten Migrantengruppen überhaupt. Zahlreiche Tamilinnen und Tamilen sind beruflich sehr erfolgreich und verfügen über ein hohes
Bildungsbewusstsein. Gleichzeitig bestehen verständlicherweise noch häufig enge familiäre Bindungen an das
Herkunftsland. Ich möchte nicht, dass hier lebende Tamilinnen und Tamilen sich aus Enttäuschung und Verzweiflung über die Zustände in Sri Lanka politisch radikalisieren. Die Bundesregierung kann hierzu einen
Beitrag leisten, indem sie auf diplomatischer Ebene den
berechtigten Anliegen der tamilischen Bevölkerung Gehör verschafft und eine friedliche Konfliktlösung unterstützt. In diesem Sinne sollten Sie unserem Antrag zustimmen.
Die rund 37 Jahre währenden bewaffneten Auseinandersetzungen in Sri Lanka zwischen den Liberation
Tigers of Tamil Eelam, LTTE, und der Regierung sind im
Frühjahr 2009 zu einem Ende gekommen. Durch die
Kämpfe starben etwa 100 000 Menschen, darunter laut
Amnesty International mindestens 10 000 Zivilisten, die
während der letzten Monate des Bürgerkriegs, zumeist
durch Artilleriebeschuss der Armee, getötet wurden.
Auch Krankenhäuser, UN-Einrichtungen und RotKreuz-Schiffe wurden gezielt beschossen. Normalität
herrscht in Sri Lanka nun auch zweieinhalb Jahre nach
dem Krieg noch nicht. Die Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit ist stark eingeschränkt. Journalistinnen und Journalisten und NGO-Aktivistinnen und -Aktivisten verschwinden spurlos. Der Ausnahmezustand
wird monatlich durch das sri-lankische Parlament verlängert. 3 000 Menschen sind weiterhin aufgrund von
Anti-Terror-Gesetzen ohne Anklage inhaftiert.
Die Untersuchung von Kriegsverbrechen der sri-lankischen Armee durch eine Regierungskommission ist auf
allen Ebenen lückenhaft. Der bereits erschienene Zwischenbericht der Lessons Learnt and Reconciliation
Commission, LLRC, zeigt, dass die Täter weder identifiziert noch zur Verantwortung gezogen werden. Fünf der
acht LLRC-Mitglieder waren ehemalige Regierungsmitglieder, die die Regierung vor Vorwürfen wie Kriegsverbrechen verteidigten. Eine unabhängige Aufarbeitung
der dramatischen Ereignisse im Norden des Landes lässt
die Regierung von Präsident Mahinda Rajapaksa aber
nicht zu.
Die Vereinten Nationen setzen sich weiter für eine internationale Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während der Schlussoffensive Sri Lankas gegen
die Tamil Tigers ein. Generalsekretär Ban Ki-moon
überwies vor wenigen Tagen einen im April dieses Jahres veröffentlichten Expertenbericht dem Menschenrechtsrat sowie dem Hochkommissariat für Menschenrechte. Der Bericht macht Colombo für den Tod
Tausender Zivilisten verantwortlich. Demnach griffen
Regierungstruppen vorsätzlich Zivilisten an und verhinderten den Transport von Lebensmitteln und Medikamenten. Den tamilischen Rebellen wirft der Bericht vor,
Zivilisten als Schutzschilde missbraucht und Kinder als
Soldaten rekrutiert zu haben.
Die Aufgabe der Bundesregierung und ihrer Außenpolitik ist es an dieser Stelle, ihren politischen und diplomatischen Einfluss zu nutzen. Denn um diesen Bericht
nun tatsächlich in offizielle Debatten der Vereinten Nationen einzuführen, wird einige Überzeugungsarbeit
notwendig sein. Auch in der 18. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates hatte die Bundesregierung leider nur
vornehme Zurückhaltung geübt, als es notwendig gewesen wäre, die Hochkommissarin Navi Pillay in ihrer KriZu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
tik an der sri-lankischen Regierung zu stützen. Für ihre
kritischen Äußerungen zu der Untersuchung der Kriegsverbrechen und der Menschenrechtslage hatte sie von
sri-lankischer Seite hart einstecken müssen. Und leider
hatte es die Bundesregierung versäumt, ihr in diesem
Moment den Rücken zu stärken.
Die gegenwärtige Regierung Sri Lankas scheint nicht
zu realisieren, dass ein militärischer Sieg allein nicht
zum dauerhaften Frieden führen wird. Eine politische
Lösung setzt einen Prozess unter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen voraus. Dies setzt ebenfalls voraus,
eine Entwicklungsstrategie mit dem Ziel zu erarbeiten,
die großen materiellen Differenzen zwischen dem Süden
des Landes und dem Norden bzw. Osten des Landes zu
überwinden. Ohne eine nachhaltige Verbesserung der
Lebensbedingungen, den angemessenen Zugang zu Bildung und Gesundheit sowie verbesserten Leistungen im
Wasser- und Energiebereich wird keine dauerhaft friedliche Entwicklung zu erreichen sein. Für die Bundesregierung sowie die Europäische Union ergibt sich daraus
die Pflicht, die diplomatischen Beziehungen an Leitlinien zu knüpfen, die verbindliche und überprüfbare
Menschenrechtskriterien aufweisen.
Die Kernforderung des vorliegenden Antrags der
Linksfraktion, den internationalen Druck auf die Regierung Sri Lankas mit dem Ziel zu verstärken, dass die
Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die
von der Regierung, der Armee, den paramilitärischen
Gruppen und Rebellen begangen wurden, von einer unabhängigen Kommission untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, ist daher absolut richtig und unterstützenswert. Wir teilen die
inhaltliche Analyse des Antrages, die weitgehend mit
unserer eigenen früheren Einschätzung übereinstimmt,
die wir in unserem Antrag, dem Antrag der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Menschenrechte
in Sri Lanka stärken“ auf Drucksachennummer 17/124,
zum Ausdruck gebracht haben. Wir werden dem Antrag
der Linken deshalb zustimmen.
Jagath Dias, Generalmajor der sri-lankischen Streitkräfte während der schrecklichen Schlussoffensive, war
anschließend bis September 2011 sri-lankischer Vizebotschafter für Deutschland, die Schweiz und den Vatikan.
Im Januar 2011 hatte das European Center for Constitutional and Human Rights, ECCHR, dem Auswärtigen
Amt ein umfassendes Dossier vorgelegt, in dem der seit
langem bekannte Vorwurf, Jagath Dias habe eine Vielzahl von Kriegsverbrechen zu verantworten, minutiös
dargelegt wurde. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hatte kurz darauf in einer Kleinen Anfrage auf
Drucksachennummer 17/6005 nach der Haltung der
Bundesregierung zu diesen Vorwürfen gefragt. Heraus
kam in der Antwort auf Frage 9 zumindest, dass der
Bundesregierung die Vorwürfe aus dem ECCHR-Dossier bereits zum Zeitpunkt der Akkreditierung Jagath
Dias’ bekannt waren. Wie es dann zu einer Akkreditierung kommen konnte, ist mir schleierhaft. Die Bundesregierung hätte diesen Mann nie als Diplomaten in
Deutschland akkreditieren dürfen, ihm aber zumindest
rasch nach Bekanntwerden solcher Vorwürfe das Diplomatenvisum entziehen müssen. Dass sie dies nicht getan
hat, war ein politisch und menschenrechtlich miserables
Signal an die sri-lankische Regierung.
Mittlerweile hat die schweizerische Bundesanwaltschaft angekündigt, bei Wiedereinreise von Jagath Dias
ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen
der Begehung von Kriegsverbrechen zu eröffnen. In
Deutschland wurde bereits ein Vorermittlungsverfahren
zu möglichen Völkerstraftaten während der Endphase
des sri-lankischen Bürgerkrieges eröffnet.
Bis zu seiner Abberufung als Vizebotschafter genoss
Jagath Dias diplomatische Immunität vor einer Strafverfolgung, die er durch Ausstellung eines Diplomatenvisums in Deutschland erhalten hatte. Ich fordere daher
von der Bundesregierung, Vorwürfen von internationalen Verbrechen zukünftig bereits im Verfahren der Visaerteilung für diplomatisches Botschaftspersonal ernsthaft nachzugehen und dabei notfalls auch eigene
Ermittlungen anzustellen. Der Fall Dias, in dem durch
die Ausstellung eines diplomatischen Visums eine Strafverfolgung verhindert wurde, darf sich nicht wiederholen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4699, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2417
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der
Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes
- Drucksache 17/5515 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/7178 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({1})
Daniela Kolbe ({2})
Ulla Jelpke
Mit dem Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes wird heute eine
Änderung des Bundesvertriebenenrechts vollzogen, die
in ihrer rein quantitativen Wirkung begrenzt ist. Für die
Betroffenen ist sie jedoch von außerordentlicher und
wichtiger Bedeutung. Schließlich geht es für die Betroffenen um die Möglichkeit, einen neuen Lebensmittelpunkt zu wählen.
Stephan Mayer ({0})
Die Fälle, in denen schwer kranke Eltern darauf hoffen, dass die damals im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Kinder zur Pflege nach Deutschland kommen, sind
uns allen bekannt. Uns haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Petitionen erreicht, die die besonderen
Situationen der Betroffenen eindrucksvoll schildern. Die
Petitionen belegen die Dringlichkeit und den Bedarf für
die beabsichtigte rechtliche Anpassung. Es freut mich,
dass diese Einschätzung auch weitestgehend von den
anderen Fraktionen dieses Hauses geteilt wird.
Mit der Einführung einer neuen Härtefallregelung
gibt die christlich-liberale Koalition Ehepartnern und
Abkömmlingen von Spätaussiedlern die Möglichkeit,
nachträglich bei Vorliegen eines Härtefalls in den Aufnahmebescheid eines anerkannten Spätaussiedlers aufgenommen zu werden.
Die Gründe, warum man damals zunächst im Aussiedlungsgebiet geblieben ist, sind sehr verschieden.
Dass nun die nachträgliche Einbeziehung rechtlich ermöglicht wird, ist ein äußerst wichtiger Schritt.
Auf die im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vorgetragenen Änderungsvorschläge möchte ich nachfolgend
noch einmal detailliert eingehen:
Die im Änderungsantrag des Bundesrates geforderte
Befristung des Aufnahmebescheids auf drei Jahre stellt
keine Verbesserung des vorliegenden Gesetzentwurfs
dar. Eine untergesetzliche Regelung bezüglich der Befristung des Aufnahmebescheids kann deutlich angemessener, flexibler und praxistauglicher die spezifische Situation abbilden.
Eine starre Frist im Gesetz ist dafür ungeeignet. Die
Gültigkeit des Bescheids muss grundsätzlich an das Bestehen der Härte gebunden sein. Dies sollte entsprechend im Falle einer andauernden Nichtinanspruchnahme des Aufnahmebescheids geprüft werden. In
Abhängigkeit dieser Prüfung bleibt dann die Gültigkeit
des Aufnahmebescheids bestehen oder sie erlischt.
Ebenfalls vonseiten des Bundesrates wurde der Vorschlag unterbreitet, die neue Regelung auf „besondere
Härten“ zu beschränken. Dies würde jedoch zu einer erheblichen Einschränkung des Personenkreises führen,
und damit für viele Betroffene keine Verbesserung ihrer
Lebenssituation darstellen. Sinn und Zweck der Änderung des Bundesvertriebenengesetzes ist gerade eine
breite Lösung, die möglichst viele der unterschiedlichen
Lebensschicksale erfasst. Die vorgeschlagene Einschränkung ist daher abzulehnen.
Auch der Vorschlag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, auch die eingetragenen Lebenspartnerschaften in den Kreis der Begünstigten mit aufzunehmen, ist im Ergebnis nicht zielführend. Schließlich ist die
in Deutschland vorhandene Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft in den Aussiedlungsgebieten,
insbesondere in Russland und Kasachstan, nicht vorhanden. Die vorgeschlagene Änderung würde somit
vollständig ins Leere laufen.
Ebenso verfehlt ist die Forderung, auf die Voraussetzung der Grundkenntnisse deutscher Sprache für die anerkannten Härtefälle zu verzichten. Bereits die Tatsache,
dass diese Voraussetzung zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung in das Gesetz mit aufgenommen wurde,
lässt mich an der Ernsthaftigkeit dieses Vorschlags zweifeln. Es sollte doch politischer Konsens sein, dass
Grundkenntnisse der deutschen Sprache von enormer
integrationspolitischer Bedeutung sind. Dieser Änderungsvorschlag ist somit schlicht integrationsschädlich
und daher abzulehnen.
Insgesamt muss eine Lösung für die bekannt gewordenen Probleme im Bundesvertriebenengesetz auf der
Basis der bisherigen Grundlagen erfolgen. Es müssen
weiterhin die bestehenden Strukturen des geltenden
Rechts beibehalten und fortgeführt werden. Die neue
Härtefallregelung ist ein kleiner, aber kunstvoller Eingriff und kein Systemwechsel im Vertriebenenrecht, so
wie es beispielsweise Bündnis 90/Die Grünen in ihrem
Änderungsantrag vorgeschlagen haben.
Die Bundesregierung hat einen sehr guten und unterstützenswerten Gesetzentwurf vorgelegt, der für aufgetretene Schwierigkeiten im geltenden Recht gute und
vertretbare Lösungen anbietet. Die geltende Rechtslage
wird durch ihn in angemessener und folgerichtiger Art
und Weise fortgeschrieben.
Die christlich-liberale Koalition nimmt sich hiermit
einem der drängendsten Anliegen der Spätaussiedler an,
das meiner festen Überzeugung nach die breite Unterstützung aller politischen Parteien in Deutschland verdient und verlangt. Ich kann daher die Kolleginnen und
Kollegen der Oppositionsfraktionen nur dringend auffordern, diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden
Form ebenfalls zuzustimmen. Sie würden damit unter
Beweis stellen, dass auch Sie an einer schnellen Verbesserung der bewegenden menschliche Schicksale interessiert und sich der gemeinsamen Verantwortung für die
Vertriebenen und deren Lebenssituation bewusst sind.
Heute erfolgt die Abschlussberatung über den Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Wir beschließen eine sinnvolle
Regelung für Spätaussiedler. Bisher fehlte im Bundesvertriebenenrecht eine konkrete Regelung, die es beispielsweise dem Ehegatten oder Abkömmling eines
Spätaussiedlers ermöglicht, auch nachträglich ins Bundesgebiet auszusiedeln, wenn ein Härtefall vorliegt.
Heute schaffen wir endlich diese Härtefallregelung,
um eben in Zukunft unvertretbare Familientrennungen
bei Spätaussiedlern zu vermeiden. Wir schaffen ab heute
die Möglichkeit, auch wenn die Anzahl Betroffener vergleichsweise gering ist. Wir schaffen die Möglichkeit,
einzelne Härtefälle bei der Aufnahme von Spätaussiedlern zu lösen, die zum Teil dramatische Familientrennungen zur Folge hatten.
Die Regierung spricht davon, dass dies nur ein paar
wenige Fälle betreffe. Nun, in Deutschland leben mittlerweile rund 2,4 Millionen Spätaussiedler. Und ja, vielleicht betrifft diese Änderung nur eine Handvoll. Vielleicht. Diese Gesetzesänderung, denke ich, wird jedoch
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
für den Einzelnen, den es betrifft, wie beispielsweise den
einen oder anderen Deutschen in der ehemaligen
Sowjetunion, eine sehr persönliche und sehr wesentliche
Bedeutung haben. Für den einzelnen Betroffenen ist
diese Änderung mehr als nur überfällig und kann hoffentlich jahrelange Trennungen und Leid heilen.
Meine Kollegen aus dem Petitionsausschuss haben
mir in etlichen intensiven Gesprächen berichtet, wie
viele Petitionen allein hierzu beim Deutschen Bundestag
anhängig sind, welche Schicksale einzelner Familien
dahinterstehen. Daher verbinde ich mit dem heute zu
verabschiedenden Gesetzentwurf auch die Hoffnung,
dass einige von diesen Schicksalen positiv abgeschlossen werden können.
Daher begrüßen wir auch als SPD die Bemühung der
Bundesregierung, für die Betroffenen Abhilfe zu schaffen.
Dennoch, zwei kritische Anmerkungen muss ich machen; denn dies ist wieder so typisch für diese Bundesregierung. Zum Beispiel der Punkt Lebenspartnerschaften. Was ich nicht verstehe, meine Damen und Herren
von CDU/CSU und FDP, ist die Tatsache, dass Sie wieder nur halbe Sachen machen. Warum werden Lebenspartner, so wie es ein Antrag der Grünen vorsieht, und
zwar zu Recht vorsieht, nicht mit einbezogen? Warum
müssen Sie immer an der heutigen Lebensrealität und an
der der Menschen vorbeiregieren?
Wir haben seit dem 1. August 2001 ein Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland, das mehrfach von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gestützt
wurde, gerade auch in der jüngsten Vergangenheit, in
denen vielfach die Lebenspartnerschaft mit der Ehe
gleichgesetzt wird. Darum frage ich mich: Warum lehnen Sie eine derartige Regelungen ab? Das ist realitätsfremd. Ich kann Sie nur auffordern, hier aufzuwachen
und noch einmal nachzubessern.
Ein anderer Punkt, der mir aufgestoßen ist, ist die
Frage nach den Spracherfordernissen im Härtefall.
Auch hier kann ich Sie nur auffordern, noch einmal
nachzudenken; denn auch hier verkennen Sie die Realität der Betroffenen. Ich kann die Grünen nur unterstützen. Gerade ältere Menschen oder Menschen aus bildungsfernen Schichten ist der Spracherwerb im Ausland
oftmals nicht möglich oder kostet sie Unsummen, was
nicht heißt, sie sollen nicht Deutsch lernen. Im Gegenteil. Aber sie sollen es vernünftig können und qualifiziert. Hierfür ist aber ein Deutschkurs in Deutschland
sinnvoller und effektiver als einer im Ausland.
Einen letzten Punkt, den ich noch für weiterhin diskussionswürdig erachte, ist der Punkt Integration; denn
man kann nicht auf der einen Seite fordern, die Menschen müssen und haben sich zu integrieren, wenn man
nicht auf der anderen Seite dafür Sorge trägt, dass die
Menschen das auch können. Allein wenn ich an das
heute verabschiedete Gesetz zur Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse denke, fehlt mir der Glaube.
Das gut gemeinte Gesetz allein zeigt: Von Ihnen sind nur
Babysteps, Babyschritte, zu erwarten. Mit diesem Gesetz
schaffen Sie es weder Hunderttausenden von Betroffenen zu helfen und den Fachkräftemangel in Deutschland
wirksam zu beseitigen noch ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Ein mutiges und gutes Gesetz wäre aber
dringend nötig. Bereits heute können wegen des bestehenden Anerkennungschaos bis zu 500 000 Menschen
mit im Ausland erworbenen Qualifikationen nicht in ihren Berufen arbeiten.
Das Gleiche gilt für die Diskussion um die Kosten von
Integrationskursen. Auch hier fehlt Ihnen jegliches Konzept. Ihr Konzept lautet: Geld sparen bei denen, die sich
nicht wehren. Dass aber auch die Lehrkräfte darunter
leiden, weil sie zu Dumpinglöhnen arbeiten müssen,
scheint für Sie nur ein leidiger Kollateralschaden zu
sein. Ich kann Sie nur vehement auffordern und an Sie
appellieren, hier endlich nachzubessern. Bessern Sie
hier bei den Honoraren nach, damit auch die Lehrkräfte
entsprechend entlohnt werden.
Auch die unter diese Novellierung fallenden Spätaussiedler nehmen Integrationskurse in Anspruch. Das bedeutet, im Punkt Haushaltsmittel für Integrationskurse
muss schleunigst nachgebessert werden, sehr geehrte
Bundesregierung. Ich kann nur schlicht sagen: Ich bin
überrascht, dass Sie hier keine weiteren Kosten erwarten.
Ich kann mich nur wiederholen: Sie rechnen mit einer
Mindestzahl von 5 000 Härtefallanträgen. Das wirkt
sich auch auf Integrationskurse aus; die sind schon jetzt
unterfinanziert. Darum fordere ich Sie auf: Nehmen Sie
mehr Geld für Integrationskurse und Sprachkurse in die
Hand. Es lohnt sich für die Zukunft unseres Landes. Alles andere wäre blauäugig und fatal. Die Menschen, die
lernen wollen, die sich integrieren wollen, müssen bei
uns auch die Möglichkeit dazu erhalten. Machen Sie
endlich Integrationspolitik mit Weitsicht und an der
Realität orientiert.
In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute den
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des
Bundesvertriebenengesetzes. Ziel ist die Einfügung einer Härtefallregelung in das Bundesvertriebenengesetz.
Mit dieser Regelung ermöglichen wir die nachträgliche
Aufnahme von im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Eheleuten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern in den
Aufnahmebescheid. Diese neue Regelung hat ausdrücklich einen Ausnahmecharakter.
Erfreulicherweise besteht grundsätzlich Einigkeit
über die Notwendigkeit einer solchen Regelung unter allen Fraktionen im Hohen Hause.
Mit der nun zu verabschiedenden Regelung soll auf
die schwierige Lage mancher Spätaussiedlerfamilien
eingegangen und Abhilfe geschaffen werden. Es geht um
Familien, die nach einer bewussten Entscheidung, getrennte Wege zu gehen, nun doch wieder zusammen leben möchten. Eine generelle Möglichkeit, eine einmal
getroffene Entscheidung bezüglich der familiären Situation zu ändern, ist allerdings ausgeschlossen. Es geht
einzig und allein um eine Lösung für Härtefälle in Spätaussiedlerfamilien.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Rahmen der Beratungen haben Bündnis 90/Die
Grünen zwei Änderungsanträge eingebracht. Im ersten
Änderungsantrag geht es um die Streichung von notwendigen Grundkenntnissen der deutschen Sprache vor der
Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Im
gleichen Antrag wird die Berücksichtigung von Familienangehörigen von Spätaussiedlern gefordert, die nicht
mehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind. Die geforderte Streichung der Grundkenntnisse der deutschen
Sprache wird die Integration von Spätaussiedlern sehr
erschweren und ist somit abzulehnen. Genauso ist die
von Bündnis 90/Die Grünen geforderte Ausweitung der
Härtefallregelung auf Familienangehörige abzulehnen,
die nicht mehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind.
Eine solche Ausweitung ist aus meiner Sicht mit dem
Charakter einer Härtefallregelung bzw. Ausnahmeregelung nicht vereinbar.
Was den zweiten Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
im Hinblick auf Lebenspartnerschaften angeht, möchte
ich Folgendes erwidern. Leider ist von Ihrer Seite kein
einziger Fall vorgetragen worden, bei dem sich diesbezüglich ein Problem ergeben hat. Dies wäre hilfreich gewesen, um zu sehen, inwieweit hier tatsächlich ein
Handlungsbedarf besteht. Meiner Ansicht nach ist dieser zweite Änderungsantrag ein reiner Symbolantrag. Er
bringt uns und die Spätaussiedler keinen einzigen
Schritt weiter. Er ist daher ebenso wie der erste Änderungsantrag abzulehnen.
Lassen Sie uns die wahren Probleme der Spätaussiedler anpacken, und stimmen Sie für den Antrag der Bundesregierung.
Die Absicht der Bundesregierung, Härtefallregelungen für die Familien von Spätaussiedlern einzuführen,
ist im Grundsatz richtig - die Regierung selbst will sie
allerdings nur halbherzig umsetzen.
Wer als Spätaussiedler in die Bundesrepublik übersiedelte, der musste bislang seine engsten Verwandten in
den sogenannten Aussiedlungsgebieten, also in Russland, vor die Wahl stellen: Entweder ihr kommt mit mir,
und zwar jetzt sofort, oder die Familie bleibt für immer
getrennt. - Denn es war nicht möglich, Familienangehörige, die selbst nicht als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes galten, nachträglich in den Aufnahmebescheid
für die Spätaussiedler aufzunehmen. Das hat, wie man
vorausahnen konnte, eine Reihe von Härtefällen produziert: Kinder, die nun ihre pflegebedürftigen Eltern oder
Schwiegereltern unterstützen wollen, oder Eltern, die
selbst auf Pflege ihrer Nachkommen angewiesen sind,
genauso wie Geschwister usw., die nun doch zu ihren
Verwandten in die Bundesrepublik ziehen wollen, denen
eine Familienzusammenführung aber nicht mehr möglich ist. Das produziert im Einzelfall - die Bundesregierung erwartet rund 5 000 Härtefallanträge - humanitäre
Probleme.
Dem Lösungsansatz der Bundesregierung werden wir
aber nicht unsere Stimme geben. Ich will kurz erläutern,
warum sich die Linke bei der Abstimmung enthalten
wird:
Uns lagen während der Beratung im Innenausschuss
einige diesbezügliche Petitionen vor. Die Probleme der
meisten Petenten können durch die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen gelöst werden. Aber insgesamt ist die
Regelung nicht weitgehend genug. Schon in der Gesetzesbegründung ist davon die Rede, dass wohl nur die
Hälfte aller Härtefälle so gelöst werden kann. Denn
selbst bei der Härtefallregelung hält die Bundesregierung daran fest, dass die potenziellen Nachzügler
Deutschkenntnisse nachweisen müssen. Das steht dem
Gedanken einer Härtefallregelung diametral entgegen:
Ein Härtefall ist ja von der Definition her ein Fall, in
dem die betroffenen Menschen in einer humanitären
oder wirtschaftlichen Notlage sind. Da kann man nicht
einfach Dienst nach Vorschrift machen und an sämtlichen Ausschlusstatbeständen des Bundesvertriebenengesetzes festhalten. Richtig wäre es, diesen Menschen
nach ihrer Ankunft umfassende Angebote zum Spracherwerb zu machen, falsch ist es aber, Deutschkenntnisse
zur Vorbedingung ihrer Einreise zu machen.
Ganz grundsätzlich gelten unsere Bedenken gegen
die fortbestehende aufenthaltsrechtliche Privilegierung
der sogenannten Spätaussiedler weiter. Wir können keinen triftigen Grund dafür erkennen, dass Menschen, deren Vorfahren zum Teil vor Jahrhunderten aus Deutschland nach Russland ausgewandert sind, bessergestellt
sein sollen als die Nachfolger nichtdeutscher Migranten, die in der zweiten oder dritten Generation in
Deutschland leben. Die Linke setzt auf soziale Aspekte,
nicht auf völkische. Wir halten daher an unserer schon
in früheren Debatten erhobenen Forderung fest, endlich
die spezialgesetzlichen Regelungen für die Nachkommen der Deutschen in den Ländern Osteuropas aufzugeben und sie in den Geltungsbereich des normalen Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrechts zu überführen.
Es ist mir unverständlich, warum sich die Koalitionsfraktionen dauerhaft verweigern, homosexuellen Paaren
jene Rechte einzuräumen, die sie sonst auf dem Umweg
über Karlsruhe erhalten. Heute geht es bei der Änderung des Bundesvertriebenengesetzes nur um die Änderung von Art. 1, in den die eingetragene Lebenspartnerschaft aufgenommen werden soll.
Mit dem am 1. August 2001 in Kraft getretenen Lebenspartnerschaftsgesetz schufen wir für gleichgeschlechtliche Paare das neue familienrechtliche Institut
der Eingetragenen Lebenspartnerschaft. Allerdings
wurden eingetragene Lebenspartnerinnen beziehungsweise Lebenspartner in das Bundesvertriebenengesetz
bislang nicht einbezogen.
Diese Benachteiligung der eingetragenen Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen wurde bisweilen damit
gerechtfertigt, dass es dem Gesetzgeber wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1
GG nicht verwehrt sei, diese gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen.
In seinem Beschluss vom 7. September 2009 hat das
Bundesverfassungsgericht hingegen grundlegend entschieden, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG eine Benachteiligung
der eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der
Ehe nicht rechtfertigen könne. Demnach stellt die Rechtfertigung der Privilegierung der Ehe auf die auch rechtlich verbindliche Verantwortung für den Partner ab.
Das Bundesverfassungsgericht stellt damit aber klar,
dass sich in diesem Punkt Ehen nicht von eingetragenen
Lebenspartnerschaften unterscheiden: Beide sind auf
Dauer angelegt und begründen eine gegenseitige Einstandspflicht.
Auch in seinem Beschluss vom 21. Juli 2010 zum Erbschaftsteuerrecht bestätigte das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung über die Verfassungswidrigkeit
der Ungleichbehandlung von Lebenspartnern gegenüber Ehegatten. Es betonte, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft sowie die Ehe auf Dauer angelegt sei
und eine gegenseitige Unterhalts- und Einstandspflicht
begründe.
Eine Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften im Bundesvertriebenengesetz entspricht daher nicht mehr den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Mit dem
vorliegenden Änderungsantrag wird diese ungerechte
und grundrechtswidrige Behandlung beseitigt.
Falls es doch nicht das Ziel der Koalition sein sollte,
hier den Rekord der meisten kassierten Gesetze in Karlsruhe aufzustellen, stimmen Sie dem Änderungsantrag zu.
Weder Sie noch irgendein Mensch sonst wird davon einen Nachteil haben. Es würde aber eine Minderheit in
unserem Land der Mehrheit gleichstellen.
Laut der Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist auch das Ziel der Neuregelung, Härtefälle zu vermeiden, die durch dauerhafte Familientrennungen entstehen, und dadurch die Integration von
Spätaussiedlern in Deutschland weiter zu fördern. Diesem begrüßenswerten Ziel wird die Neuregelung jedoch
nicht uneingeschränkt gerecht.
Außerdem wollen wir unnötige Härten vermeiden.
Unser Änderungsantrag sieht nicht nur die Streichung
des Spracherfordernisses im Härtefall nach dem neuen
Abs. 3 vor, sondern auch bei der Einbeziehung in den
Aufnahmebescheid nach Abs. 1. Damit steht die Änderung im Einklang mit dem Gesetzentwurf zum Ehegattennachzug - Drucksache 17/1626 -, mit dem die Streichung des Spracherfordernisses beim Ehegattennachzug
nach dem Aufenthaltsgesetz verfolgt wird. Insbesondere
älteren Menschen und Personen aus bildungsfernen
Schichten ist der Spracherwerb im Ausland oft nicht
möglich. Es steht außer Frage, dass es für das Zusammenleben in Deutschland wichtig ist, dass die Familienangehörigen Deutsch sprechen. Dafür ist aber ein
Deutschkurs im Ausland weder notwendig noch geeignet. Den nachgezogenen Familienangehörigen steht in
Deutschland ein umfangreiches Angebot an Integrationskursen zur Verfügung. Der Spracherwerb in
Deutschland ist viel leichter, schneller, günstiger und
weniger belastend für die Betroffenen als im Ausland.
Mit dem Änderungsantrag wird der Gesetzentwurf
dahin gehend geändert, dass auch Ehegatten und Abkömmlinge, die nicht im Aussiedlungsgebiet verblieben
sind, zur Bezugsperson in Deutschland nachziehen können; denn in einem Härtefall soll es nicht erheblich sein,
an welchem Ort das Familienmitglied sich befindet. Damit werden auch diejenigen Familienmitglieder von der
nachträglichen Einbeziehung erfasst, die ohne einen
Einbeziehungsbescheid das Herkunftsland verlassen haben oder hier weder vertriebenenrechtlich Aufnahme
gefunden noch ausländerrechtlich einen gesicherten
Aufenthalt erlangt haben.
Die Änderung wird ebenfalls vom Land Hessen im
Antrag zum Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes gefordert. Deshalb bitte ich Sie um die Zustimmung zu unseren beiden
Änderungsanträgen.
Seit 20 Jahren ist es Spätaussiedlern im sogenannten
vertriebenenrechtlichen Aufnahmeverfahren möglich,
unter Wahrung ihrer Familienbindungen gemeinsam mit
ihren nächsten Angehörigen nach Deutschland auszusiedeln. Entschlossen sich allerdings Ehegatten und Abkömmlinge von Spätaussiedlern, bei deren Aussiedlung
im Aussiedlungsgebiet zu verbleiben, so kam es in der
Praxis auch zu tragischen Fällen der Trennung von Familien von Spätaussiedlern. Hierher gehört zum Beispiel
der Fall, dass sich Kinder des Spätaussiedlers zunächst
entschieden haben, im Herkunftsgebiet zu bleiben, um
dort noch einen Angehörigen zu betreuen, dann aber
- selbst nach schweren Schicksalsschlägen - nicht mehr
nachträglich aussiedeln konnten. Weitere Ursachen für
derartige tragische Familientrennungen habe ich im
Rahmen der ersten Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs bereits dargestellt. Auch der Petitionsausschuss des Bundestages hat sich mit dieser Problematik
schon mehrfach beschäftigt.
Eine befriedigende Lösung solcher Fälle ermöglicht
das geltende Vertriebenenrecht nicht, selbst in Härtefällen erlaubt das Bundesvertriebenengesetz keine nachträgliche Einbeziehung. So ist Abkömmlingen von Spätaussiedlern nicht einmal dann der Nachzug zu ihren
Eltern in Deutschland möglich, wenn diese pflegebedürftig werden oder aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters gravierend unter der Trennung von ihren engsten
Familienangehörigen leiden. In solchen und ähnlichen
Härtefällen will die Bundesregierung nun durch den
vorliegenden Gesetzentwurf den betroffenen Familien
helfen. Im Härtefall soll Ehegatten und Abkömmlingen
von in Deutschland lebenden Spätaussiedlern der Nachzug ermöglicht werden, auch falls sie damals die Aufnahmevoraussetzungen noch nicht erfüllten, diese aber
jetzt erfüllen, zum Beispiel weil sie zwischenzeitlich
Grundkenntnisse der deutschen Sprache erworben haben.
Die geschilderten Beispiele zeigen: Die Ihnen vorliegende Härtefallregelung ist geboten, wenn wir den historisch-moralischen Verpflichtungen des deutschen
Staates gegenüber den Spätaussiedlerfamilien angemessen Rechnung tragen wollen. Umso mehr freue ich mich
Zu Protokoll gegebene Reden
darüber, dass die meisten von Ihnen dies ebenso sehen
und deshalb die Härtefallregelung letzte Woche im Innenausschuss unterstützt haben. Diese Unterstützung
verdient sie auch weiterhin. Im Einzelnen habe ich dies
ja bereits anlässlich der ersten Befassung mit dem Gesetzentwurf erläutert. Daher beschränke ich mich heute
auf eine knappe Darstellung der wesentlichen Argumente für die neue vertriebenenrechtliche Härtefallregelung.
Erstens. Mit der Härtefallregelung bekundet
Deutschland seine dauerhafte historische Verantwortung gegenüber den Menschen, die als Deutsche in Osteuropa und Südosteuropa sowie in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten
Weltkrieges am längsten gelitten haben. Dies entspricht
auch unserer Verfassung, deren Art. 116 Abs. 1 die Solidarität mit Vertriebenen, Flüchtlingen und deren Ehegatten und Abkömmlingen verbürgt.
Zweitens. Die nachträgliche Einbeziehung von bislang zurückgebliebenen Ehegatten oder Abkömmlingen
ermöglicht nicht etwa den Verzicht auf die „üblichen“
Voraussetzungen einer Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz. Nach dem Gesetzentwurf kann eine
nachträgliche Einbeziehung vielmehr nur dann erfolgen, wenn alle anderen Voraussetzungen, die im Falle
einer Einbeziehung vor Aussiedlung vorliegen müssen,
erfüllt sind. Damit sind auch weiterhin deutsche Sprachkenntnisse notwendig.
Den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Änderungsanträgen kann ich nicht folgen:
So besteht bereits kein Bedarf für die beantragte
Schaffung einer gesonderten Norm zur Gleichstellung
von eingetragenen Lebenspartnern mit Ehegatten. Denn
auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gibt es
keine eingetragenen Lebenspartnerschaften als eigenständige Rechtsform. Es gibt also für diese Norm keinerlei Bezugsgröße.
Der beantragte Wegfall der Beschränkung der neuen
Härtefallregelung auf die im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Ehegatten und Abkömmlinge wäre vertriebenenrechtlich zweck- und systemwidrig. Sinn und Zweck
der Neuregelung ist es, im Einklang mit der Systematik
des Vertriebenenrechts den vormals im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Ehegatten und Abkömmlingen eine
„zweite Chance“ zur nachholenden Aussiedlung zu eröffnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass als „Aussiedlergebiet“ alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion gelten, sodass etwa ein Umzug von Kasachstan nach
Russland bei Härtefällen der nachträglichen Einbeziehung keine grundsätzlichen Hindernisse schafft.
Wenn mit dem Änderungsantrag auch diejenigen im
Nachhinein noch eine vertriebenenrechtliche Aufnahme
finden sollen, die bereits - womöglich auf ausländerrechtlicher Basis - in Deutschland leben, entspräche
das nicht dem Sinn der Regelung. Die zu lösenden Fälle
tragischer Familientrennungen - Härtefälle - sind nicht
vorstellbar, wenn sämtliche Familienangehörigen bereits in Deutschland leben.
Ich begrüße sehr, dass auch die Länder die Schaffung
einer neuen Härtefallregelung grundsätzlich gutheißen.
Mit der Absicht der Länder, missbräuchliche Handhabungen und zeitlich unkalkulierbare Zuzüge von Familienangehörigen zu unterbinden, stimmt die Bundesregierung überein. Aus den von mir bei der ersten Beratung
genannten Gründen wollen wir dem Anliegen der Länder allerdings durch untergesetzliche Regelungen Rechnung tragen, nicht durch eine gesetzliche Befristung der
nachträglichen Einbeziehung. So ermöglichen wir zukünftig eine flexible Handhabung, in deren Rahmen wir
auch zeitnah Erkenntnisse aus der Praxis berücksichtigen können.
Lassen Sie mich schließlich darauf hinweisen, dass
die hier vorgestellte Härtefallregelung keine unüberschaubare Welle neuer Spätaussiedlung zur Folge haben
wird. Sie ist weder Teil einer Zuwanderungspolitik noch
sollte sie als ein Teil davon verstanden werden. Die vorliegende Härtefallregelung ist vielmehr Ausfluss des bis
in unsere Tage fortreichenden Bemühens aller bisherigen Bundesregierungen, sich der Verantwortung
Deutschlands im Blick auf die Folgen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges für die am stärksten betroffenen deutschen Minderheiten zu stellen.
Vor diesem Hintergrund verdient die Härtefallregelung unsere Unterstützung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7178, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5515 anzunehmen. Hierzu liegen
zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
17/7214? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
17/7215? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis
abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen
angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Krista Sager, Volker
Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Förderung von Open Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zu den Resultaten öffentlich geförderter Forschung
- Drucksache 17/7031 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Frei ist nicht umsonst, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie behaupten in Ihrem Antrag,
Open Access fördern zu wollen, aber in Wahrheit geht es
Ihnen darum, Urheber und deren Verleger um ihre
Rechte zu bringen. Sie diskreditieren damit die Idee des
Open Access.
Open Access ist grundsätzlich eine gute Idee, die es
zu fördern gilt. Schon heute stehen den Wissenschaftlern
mit dem grünen und dem goldenen Weg zwei OpenAccess-Publikationswege zur Verfügung. Wissenschaftler wollen aber immer im Verlag mit dem höchsten Renommee veröffentlichen, weswegen viele von Open
Access keinen Gebrauch machen.
Deswegen wollen Sie die Verlage und die Wissenschaftler jetzt dazu zwingen. Das halte ich für einen gefährlichen Weg, der weder nachhaltig noch zu Ende gedacht ist.
Mir ist bewusst, dass es einige Wissenschaftsbereiche
gibt - vor allem den Bereich Science, Technics und Medicine, STM -, in denen wissenschaftliche Literatur
überteuert angeboten wird. Manche Verlage nutzen
diese Monopolbildung aus und verlangen daher immer
höhere Preise und erreichen dadurch Margen von bis zu
70 Prozent. So müssen teilweise öffentliche Hochschulen
oder auch öffentliche Bibliotheken öffentlich geförderte
Forschungsarbeit wiederum mit öffentlichen Geldern
einkaufen. Der Staat bezahlt folglich einmal für die Veröffentlichung und anschließend noch einmal für die weitere Nutzung.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Zugang zu
Wissen ist auch bei dem beschriebenen Problem nach
wie vor frei - allerdings kann die Lizenz zur Nutzung gewisser Werke durchaus teuer sein. Ich kann aber auch
verstehen, dass nach einer Lösung für dieses Problem
gesucht wird, und bin offen für neue Ideen.
Ihren Vorschlag, den Urhebern im Urhebervertragsrecht ein verbindliches Zweitverwertungsrecht einzuräumen, halte ich jedoch für den falschen Weg. Die Verlage wären damit vor große Kalkulationsprobleme
gestellt, wie die von ihnen verlegten Werke amortisiert
werden können. Sie würden daher die Preise entweder
noch weiter erhöhen oder sogar viele Werke einfach
nicht mehr verlegen. Dies führt letztendlich zu weniger
Veröffentlichungen und weniger Qualität.
Weder die Verlage, die nicht jedes Werk verlegen wollen, noch die Urheber, die ja gerade in einschlägigen
Journalen veröffentlichen wollen, werden sich zwingen
lassen. Dies zeigt das große Missverständnis bei Open
Access.
In dieser Diskussion gerät das eigentliche Prinzip des
kontinentalen Urheberrechts oft aus dem Blick: die Einheit der Persönlichkeits- und Verwertungsrechte. Die
Open-Access-Bewegung diskutiert immer nur aus dem
ökonomischen Blickwinkel und betont die Interessen der
Nutzer und der Allgemeinheit.
Letztendlich wollen Sie mit Ihrem Antrag nur eine
Kostenverlagerung vom Nutzer auf den Kreativen erreichen. Es geht also nicht um freien Zugang, sondern um
kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen - ähnlich wie auch bei der Einführung der Schranke
zugunsten von Wissenschaft und Forschung. Dabei
bleibt der Urheber auf der Strecke. Ich bin jedoch davon
überzeugt, dass stets der Kreative und sein Schaffen im
Vordergrund stehen muss, denn ohne ihn gibt es keine
Inhalte, die von der Allgemeinheit genutzt werden können.
Damit also weiterhin qualitativ wertvolle Inhalte für
jeden zugänglich und auch bezahlbar veröffentlicht werden, müssen die richtigen Anreize gesetzt werden:
Erstens. Bessere finanzielle Ausstattung der Bibliotheken. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass es
eine Explosion an Veröffentlichungen gab - digital wie
auch analog. Die öffentlichen Etats für den Erwerb wissenschaftlicher Veröffentlichungen sind jedoch nicht in
gleichem Maße gewachsen - sie sind sogar zurückgegangen. Je mehr Menschen von ihren Veröffentlichungen leben wollen, desto mehr Geld muss auch ins System
fließen, sonst kann das nicht funktionieren.
Zweitens. Auflagen für geförderte Veröffentlichungen. Wenn die öffentliche Hand für staatlich geförderte
Veröffentlichungen nicht zweimal bezahlen will, so kann
sie bei der Förderung Auflagen erteilen. Im Vereinigten
Königreich ist es durchaus üblich, dass Wissenschaftler
im universitätseigenen Verlag veröffentlichen müssen.
Auch in Deutschland wären solche Auflagen in den Promotionsordnungen oder als Voraussetzungen für eine
Förderung möglich.
Beide Vorschläge können problemlos umgesetzt werden und fördern Open Access nachhaltig.
Hier sind aber die Bildungspolitiker gefordert - nicht
die Rechtspolitiker! Warum also gleich nach Verboten
rufen, wenn es andere Wege gibt? Der Staat sollte neue
Geschäftsmodelle wie Open Access mit Anreizen fördern, aber keinesfalls durch verbindliche Zweitverwertungsrechte erzwingen. Verbote oder Regulierungen
sind der falsche Weg. Kreative Wissenschaftler brauchen Unterstützung, aber sie wollen keine Vorgaben.
Daher halte ich es im Grundsatz nach wie vor für den
richtigen Ansatz, den Wissenschaftlern möglichst viele
Zu Protokoll gegebene Reden
Rechte einzuräumen und sie selbst entscheiden zu lassen, wie sie ihre Werke veröffentlichen.
Ich wünschte mir also, Sie wären mit Ihrem Antrag
kreativer und vor allem nachhaltiger gewesen. So ist Ihr
Antrag nichts anderes als ein billiger Abklatsch des
SPD-Antrags zu einem verbindlichen Zweitverwertungsrecht: dreist abgekupfert!
Open Access ist schon heute Realität. In vielen Disziplinen ist das digitale Publizieren zur gängigen Praxis
geworden - moderne, zielorientiere und standortübergreifende Forschung ist dort anderweitig nicht mehr
vorstellbar. Digitale Publikationen sind vielerorts zu einer unabdingbaren Voraussetzung moderner Forschungsarbeit geworden.
Dennoch werden auch noch heute wissenschaftliche
Texte überwiegend in Print-Form veröffentlicht. Die
Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen ist es das Interesse des wissenschaftlichen Autors, seinen Text in einer
möglichst angesehenen Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Das ist verständlich, und die Wahl des Publikationskanals ist nicht allein deshalb zu Recht ein grundrechtlich geschützter Aspekt der Wissenschaftsfreiheit.
Es mag hier in vielen Bereichen noch an einer notwendigen Akzeptanz von Open-Access-Zeitschriften mangeln.
Tatsächlich lässt sich aber auch nicht verbergen, dass
einer größeren Anzahl von Publikationen im Wege von
Open Access auch die gegenwärtigen Verlags- und Veröffentlichungsstrukturen entgegenstehen. Zwar bietet
das Urheberrecht in seiner jetzigen Form alle notwendigen Schranken, die erforderlich sind, um dem Autor eine
Open-Access-Veröffentlichung zu ermöglichen. Rechtstechnisch steht das Urheberrecht also einer digitalen
Publikation nicht entgegen. Problematisch ist jedoch,
dass der Autor regelmäßig seine Rechte nicht wirklich
frei ausüben kann, da er mit dem Veröffentlichungsvertrag in aller Regel sämtliche Verwertungsrechte gegenüber dem Verlag einräumt bzw. einräumen muss.
Zur Förderung von Open Access sehen wir uns folglich mit zwei Aufgaben konfrontiert:
Erstens. Wie schaffen wir neue Anreize, um den wissenschaftlichen Autor für digitale Veröffentlichungen zu
interessieren?
Zweitens. Wie können wir auf die gegenwärtigen
Strukturen einwirken, damit der Autor seinen Willen, im
Wege von Open Access zu veröffentlichen, auch tatsächlich verwirklichen kann?
Die erste Frage ist zunächst eine Frage der Akzeptanz von Open-Access-Zeitschriften und -Repositorien.
Es mag hier mit einiger Berechtigung angeführt werden,
dass diese Akzeptanz nur dann zu steigern sein wird,
wenn die Zahl der Erst- und Zweitveröffentlichungen in
solchen Zeitschriften zunimmt. Als Anreiz wird daher
schon seit längerem diskutiert, die Vergabe von Forschungsmitteln daran zu binden, dass die Ergebnisse im
Wege von Open Access publiziert werden. Dies gilt nicht
zuletzt, als ins Feld geführt wird, dass mit Steuermitteln
finanzierte Forschung auch frei zugänglich sein sollte.
Auf die Frage, wie dem Autor auch tatsächlich die
Möglichkeit zur Open-Access-Veröffentlichung gegeben
werden soll, ist zunächst zwischen der Erst- und Folgeveröffentlichungen zu unterscheiden. Bei einer Erstveröffentlichung im Wege von Open Access sieht sich der
Autor regelmäßig mit keinen Hindernissen konfrontiert.
Problematisch wird es für ihn, wenn er einer Veröffentlichung im Print-Wege eine digitale, frei zugängliche Publikation folgen lassen will. Dies ist ihm aufgrund der
umfassenden Rechteeinräumung gegenüber dem Verlag
zumeist verwehrt. Dennoch werden viele Wissenschaftler verständlicherweise nicht auf die Veröffentlichung in
einem angesehenen Verlag verzichten wollen. Vonseiten
der Wissenschaftsorganisationen wird daher ebenfalls
seit längerem ein unabdingbares, formatgleiches Zweitverwertungsrecht gefordert.
Die Vorteile beider Vorschläge liegen auf der Hand,
bedürfen aber einer ausführlichen Abwägung der verschiedenen Interessenlagen. Während ein Zweitverwertungsrecht eine gesetzgeberische Tätigkeit im Urheberrecht erfordert, ist eine Bindung der Forschungsmittel
außerhalb des Urhebergesetzes zu verwirklichen. Eine
endgültig verpflichtende Bestimmung, nach der Forschungsmittel nur bei folgender Open-Access-Publikation zur Verfügung gestellt werden, kann jedoch Probleme mit der Wissenschaftsfreiheit aufwerfen, wenn
dadurch die Wahlfreiheit des öffentlich geförderten Autors, welchen Publikationskanal er für den richtigen
hält, genommen würde.
Für den Gesetzgeber muss feststehen, dass es bei der
Frage des Zweitverwertungsrechts vor allem darum gehen muss, die rechtliche Position des wissenschaftlichen
Autors zu stärken. Zweifelsohne wird dies durch ein
Zweitverwertungsrecht zunächst erreicht werden, denn
der Autor kann seiner Print-Veröffentlichung nach Ablauf der Embargo-Frist eine Zweitveröffentlichung auf
einem frei zugänglichen Repositorium folgen lassen. Jedoch ist von Autorenseite darauf hingewiesen worden,
dass Rechte, die nicht mehr vollumfänglich Dritten eingeräumt werden können, an Wert verlieren. Auch diese
Position gilt es zu beachten.
So haben wir auf der einen Seite das Interesse des Autors, das sich zwischen einer Wahrung seiner Rechte und
der tatsächlichen Möglichkeit einer freien Rechteausübung bewegt. Daneben steht das Interesse der Wissenschaftsorganisationen, der Förderung von Open Access
nachhaltigen Auftrieb zu geben. Schließlich dürfen aber
auch die Verlage nicht außer Acht gelassen werden, deren Bedeutung für die Förderung und Kommunikation
qualitativer wissenschaftlicher Arbeit gar nicht groß genug eingeschätzt werden kann. Letztendlich müssen wir
die Gemengelage in unserer Wissenschaftslandschaft
berücksichtigen. Während für den Bereich der Naturwissenschaften der freie Zugriff auf digitale Veröffentlichungen unentbehrlich ist, hat Open Access für den Bereich der Geisteswissenschaften naturgemäß eine
weitaus geringere Bedeutung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Einführung eines Zweitverwertungsrechts hätte
zweifelsohne weitreichende Folgen für die Publikationskultur und die Verlagslandschaft in unserem Lande. Die
bislang von vielen Verlagen angebotenen kostenpflichtigen Datenbanken müssten wohl vom gegenwärtigen
Subskriptionsmodell auf sogenannte Publikationsgebühren umstellen. Öffentliche Mittel, durch die derzeit
Abonnements solcher kommerzieller Datenbanken finanziert werden, müssten derart umverteilt werden, dass
sie dem öffentlich geförderten Autor bei der Finanzierung der Publikationsgebühr zur Verfügung stünden.
Die CDU/CSU-Fraktion hat sich daher in den zurückliegenden Monaten im Rahmen des Dritten Korbes
der Urheberrechtsreform umfassend mit den vielfältigen
Fragen eines Zweitverwertungsrechts auseinandergesetzt. Es geht dabei um dessen grundsätzliche Notwendigkeit, die Auswirkungen auf die urheberrechtliche
Stellung des Autors und auf die wirtschaftliche Situation
der Verlage und nicht zuletzt um den Umfang eines solchen Rechts, etwa hinsichtlich der Notwendigkeit der
Formatgleichheit. Nicht zuletzt darf ich an dieser Stelle
auch auf die Tätigkeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ verweisen.
Die zunehmende Bedeutung von Open Access und die
daraus resultierende Notwendigkeit, diese Entwicklung
nachhaltig zu fördern, steht für die CDU/CSU-Fraktion
außer Frage. Die Forderungen nach einem Zweitverwertungsrecht und nach einer Bindung der Forschungsmittel werden dabei intensiv diskutiert. Aus Sicht der
Bildungs- und Forschungspolitik ist es für uns ein wesentliches Ziel, einen modernen wissenschaftlichen Diskurs zu fördern. Den hier diskutierten Antrag kann ich
daher grundsätzlich nur begrüßen. Zweitverwertungsrecht und Bindung der Forschungsmittel halte auch ich
für bedeutende Grundentscheidungen, die uns diesem
Ziel näher bringen können. Ob sie sich nach Abwägung
aller Interessen und urheberrechtlichen Aspekte letztendlich als gangbarer und zielführender Weg erweisen,
kann zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht endgültig festgestellt werden.
Ein wesentliches Merkmal von Forschung ist der
freie und stetige Austausch von Wissen und Erkenntnissen innerhalb der forschenden Gemeinschaft. Gemeinhin erfolgt dies neben der normalen Kommunikation und
der Präsentation auf Kongressen über den Weg der wissenschaftlichen Veröffentlichung. Die allein ist zwar
eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für
Austausch und Erkenntnisgewinn innerhalb der Wissenschaft. Mindestens ebenso wichtig für den Erfolg von
Wissenschaft ist der ({0}) Zugang zu deren Ergebnissen. Insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung
ist eine schnelle und ungehinderte Wissenskommunikation eine unabdingbare Voraussetzung für Innovation
und Fortschritt.
Die besondere Bedeutung eines möglichst freien Zugangs zu wissenschaftlicher Information wurde auch
vonseiten der Europäischen Kommission unterstrichen
und mehrfach aufgegriffen: So äußert sich die Kommission in ihrer Empfehlung zum Umgang mit geistigem Eigentum bei Wissenstransfertätigkeiten und für einen
Praxiskodex für Hochschulen und andere öffentliche
Forschungseinrichtungen vom 10. April 2008 wie folgt:
Die Europäische Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, „die weite Verbreitung von Wissen, das mit öffentlichen Mitteln geschaffen wurde, zu fördern, indem
Schritte für einen offenen Zugang zu Forschungsergebnissen angeregt werden, wobei gegebenenfalls der
Schutz des betreffenden geistigen Eigentums zu ermöglichen ist“.
Leider sieht sich dieser wünschenswerte Austausch in
der Praxis der Wissenschaft konfrontiert mit zahlreichen
Hindernissen: Insbesondere die Beschränkungen durch
das Urheberrecht erschweren eine ungehinderte Wissensdiffusion in die Gesellschaft.
Der unter dem Stichwort „Open Access“ firmierende
Ansatz versucht, mittels eines freien Onlinezugangs zu
wissenschaftlichen Erkenntnissen dieses Problem anzugehen. Dabei gilt es, vonseiten des Gesetzgebers einen
Ausgleich zwischen dem Urheberrecht einerseits und
dem legitimen Interesse von Wissenschaft und Gesellschaft an Teilhabe an wissenschaftlichen Erkenntnissen
andererseits zu schaffen. Wenn aber der Zugang zu Forschungsergebnissen, die das Resultat einer mehrheitlich
durch öffentliche Mittel finanzierten Forschung sind,
aufgrund urheberrechtlicher Beschränkungen von der
Gesellschaft ein weiteres Mal „erkauft“ werden muss,
ist das schlichtweg nicht hinnehmbar.
Dies wird in weiten Teilen der wissenschaftlichen
Community ebenfalls so gesehen. In der sogenannten
Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen vom Oktober 2003 haben die großen Wissenschaftsorganisationen sich klar für Open
Access ausgesprochen.
Die Bundesrepublik Deutschland selbst unterstützt
indirekt über ihren Finanzierungsbeitrag zum European Research Council, ERC, bereits eine Verfahrensweise, die auf einen freien Zugang zu Forschungsergebnissen setzt. Der ERC hat in seinen Richtlinien zum
Open Access insbesondere festgehalten, dass Forschungsergebnisse, die mit ERC-Mitteln erzielt wurden, innerhalb von spätestens sechs Monaten öffentlich
zugänglich gemacht werden müssen.
Umso verwunderlicher ist es, dass die deutsche Bundesregierung auf nationaler Ebene in dieser Frage sehr
zurückhaltend ist und immer noch keine Lösung präsentieren kann.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Open Access“. Allerdings stellen wir auch hier mit Verwunderung fest, dass das Problem zwar aufgegriffen wird, ein
adäquater Lösungsansatz in Form eines konkreten Gesetzentwurfs jedoch nicht vorgelegt wurde. Vonseiten
der SPD-Bundestagsfraktion sind wir in diesem Punkt
schon viel weiter: Mit unserem Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, ({1}) haben wir schon vor einem halben Jahr eine
klare gesetzgeberische Handhabe für ein ZweitverwerZu Protokoll gegebene Reden
tungsrecht für Urheber von wissenschaftlichen Beiträgen vorgelegt, die vorwiegend aus öffentlichen Mitteln
finanziert wurden.
Abgesehen von diesem Umstand und einer Reihe von
Übereinstimmungen ergeben sich für uns als SPD-Fraktion auch noch einige Kritikpunkte inhaltlicher Art:
Zwar stellt der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
eingereichte Antrag zu Recht fest, dass eine erfolgreiche
Strategie im Bereich des Open Access sich nicht ausschließlich auf das Urheberrecht beschränken sollte,
doch schießt das im Antrag vorgestellte Maßnahmenbündel in Teilen über das Ziel hinaus:
Da wäre zunächst die im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen genannte rechtliche Voraussetzung für ein
Zweitverwertungsrecht. Bei grundsätzlicher Zustimmung halten wir diesen Punkt an einer Stelle für fragwürdig. Wir haben in unserem Gesetzentwurf - anders
als im vorliegenden Antrag - festgeschrieben, dass ein
Zweitverwertungsrecht nur für Forschungsergebnisse
gelten solle, die zu mindestens 50 Prozent mit öffentlichen Mitteln gefördert bzw. finanziert wurden. Wenn
mehr als die Hälfte der Kosten von öffentlicher Hand bereits getragen wurden, halten wir das für gerechtfertigt.
Im Grünen-Antrag fehlt eine solche Grenze. Gilt das
schon bei einem Anteil von 10 Prozent?
Auch die undifferenzierte Publikationspflicht im Rahmen von Open Access, wie sie der Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vorsieht, würde insbesondere im
Bereich der anwendungsorientierten Auftragsforschung
aus der Industrie ein Anreizhemmnis für Kofinanzierung
darstellen bzw. in vielen Fällen abschreckende Wirkung
entfalten. Dass eine solche undifferenzierte Lösung weder im Interesse der Forschung noch der Gesellschaft
als Ganzes ist, liegt auf der Hand. Eine Lösung mit Augenmaß muss demnach diesem Umstand Rechnung tragen.
Als noch problematischer sehen wir, dass eine grundsätzliche Verpflichtung zur Publikation im Rahmen von
Open Access in unseren Augen leicht mit dem Hinweis
auf die in Art. 5 Abs. 3 der Verfassung geschützte Freiheit der Wissenschaft abgelehnt werden kann.
So sieht auch das Bundesverfassungsgericht in seinen
einschlägigen Entscheidungen zur Wissenschaftsfreiheit
in Art. 5 Abs. 3 ein Abwehrrecht, welches nicht nur gegen jegliche staatliche Einwirkung auf den Prozess der
Wissensgewinnung selbst schützt, sondern auch explizit
die Vermittlung von wissenschaftlicher Erkenntnis mit
einbezieht. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 umfasst
somit auch die Rechte der Forschung Betreibenden hinsichtlich einer Publikation bzw. einer Unterlassung derselben. Folglich stellt nicht nur die Beschränkung der
Möglichkeiten der wissenschaftlichen Publikation
selbst, sondern auch die gesetzlich geregelte Verpflichtung zur Publikation nach unserer Auffassung eine Verletzung der verfassungsgemäßen Grundrechte der Wissenschaft dar. Man kann im Normalfall keinen Forscher
oder keine Forscherin dazu verpflichten, ein Ergebnis zu
veröffentlichen.
In diesem Kontext gilt es zu bedenken, dass es vonseiten der Wissenschaft gute Gründe geben kann, von einer
Publikation bestimmter Ergebnisse abzusehen. Dies wären zum Beispiel Forschungsergebnisse, welche in den
Augen der Forschenden nicht bestimmte Qualitätsstandards erfüllen und folglich weder einen Beitrag zum allgemeinen Erkenntnisgewinn noch zum eigenen Ansehen
in der Wissenschaft leisten. Einschränkend sei an dieser
Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Ergebnisse
klinischer Studien hier auszunehmen sind, da auch ein
negatives Ergebnis den Erfolg bzw. Misserfolg einer
Therapie oder Medikaments bestätigen kann.
Mindestens ebenso bedeutsam sind mögliche ethische
Bedenken, die Forschende davon abhalten könnten, ihre
Ergebnisse publiziert zu sehen. Dabei gilt es, unter Würdigung des Einzelfalls die etwaigen Vorbehalte der Forschenden zu berücksichtigen. Nicht nur die Publikation
von Forschungsergebnissen, sondern auch - wie im vorliegenden Antrag gefordert - die von Primärdaten bedürfen der inhaltlichen und gegebenenfalls ethischen
Gewissensprüfung durch den Wissenschaftler selbst. Ein
staatlicher Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit in Form
einer Publikationspflicht stellt im konkreten Einzelfall
die individuelle Gewissensentscheidung der jeweiligen
Wissenschaftler in Frage und wäre nach unserem Empfinden eine nicht nur unrechtmäßige, sondern auch
ethisch nicht vertretbare Einschränkung der Wissenschaft.
Zudem ist es vermessen, anzunehmen, dass eine
grundsätzliche Verpflichtung zur Offenlegung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich im Interesse
der Gesellschaft ist. Vielmehr kann eine Offenlegung
jeglicher Resultate und Erkenntnisse von Forschung und
Wissenschaft in einigen ausgewählten Fällen unabsehbare Gefahren für die Gesellschaft mit sich bringen. Vor
diesem Hintergrund gilt in Anlehnung an Dürrenmatts
Theaterstück „Die Physiker“ der Grundsatz: Was einmal publiziert wurde, kann nicht wieder zurückgenommen werden. Nach unserem Ermessen ist eine uneingeschränkte Publikationspflicht im Rahmen von Open
Access mindestens nicht immer im Interesse der Wissenschaft oder der Gesellschaft als Ganzes.
Eine praktikable Lösung zur Auflösung dieses Verfassungskonfliktes könnte wie folgt aussehen: Die grundsätzliche Entscheidung zur Veröffentlichung sollte stets
in der Entscheidung des Forschers oder der Forscherin
liegen. Entscheidet sich dieser oder diese jedoch zur
Veröffentlichung der Ergebnisse, könnte die angesprochene Verpflichtung zu Open Access wirksam werden.
Abgesehen von den im Vorangegangen geäußerten
Bedenken hinsichtlich einer uneingeschränkten OpenAccess-Publikationspflicht, haben wir noch zu den im
Antrag unter Punkt 3 „Benachteiligung von Open AccessPublikationen abbauen“ aufgeführten Punkten einige Anmerkungen zu machen:
Da wäre zunächst die - durchaus wünschenswerte Forderung, dass Open-Access-Publikationen nicht zu
Benachteiligungen bei Berufungs- und Besetzungsverfahren führen dürfen. Die Antwort auf die Frage, wie
Zu Protokoll gegebene Reden
dies sichergestellt werden kann, bleibt der Antrag jedoch schuldig.
Gleiches gilt für die an dieser Stelle genannte Forderung, dass bei Antragsverfahren Veröffentlichungen ungeachtet der Publikationsart entsprechend der Qualität
zu berücksichtigen sind. Hier sei die Frage angemerkt,
wie die geforderte Qualität einer solchen Publikation sichergestellt werden kann. Auch hier sollte der Antrag
eine schlüssige Lösung zur Qualitätssicherung von
Open-Access-Ergebnissen im Rahmen einer Antragstellung geben. Denn nur wenn Open Access ein Mindestmaß an Qualität garantieren kann, wird es sich als erfolgversprechender Ansatz in der Wissenschaft
durchsetzen.
Abgesehen von den genannten Kritikpunkten begrüßen wir den Vorstoß der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Open Access“ und freuen uns auf eine
weitere fruchtbare gemeinsame Diskussion, um Open
Access weiter zu fördern.
Als ich den Antrag der Grünen „Förderung von Open
Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zu
den Resultaten öffentlich geförderter Forschung“ auf
der Tagesordnung gesehen habe, habe ich mich zunächst
darüber gefreut, denn Open Access ist in der Wissensgesellschaft eine neue und immer wichtigere Form für die
Verbreitung von Informationen.
Und: Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt OpenAccess-Modelle in der Wissenschaftslandschaft ausdrücklich als Ergänzung zu herkömmlichen Verlagspublikationen.
Doch bei genauer Lektüre Ihres Antrags bin ich einmal mehr zu dem Ergebnis gekommen, dass „gut gemeint“ und „gut gemacht“ bei den Grünen - wie so oft weit auseinander liegen.
Mehr noch: Mittlerweile bezweifle ich ernsthaft, ob
Sie - liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen - es
mit diesem Antrag wirklich gut mit der Wissensgesellschaft und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland meinen.
So stellen Sie in Ihrem Antrag zahlreiche Forderungen auf, die aus meiner Sicht weit über das Ziel hinausschießen.
Ihre Regelungen greifen in das Recht auf Freiheit von
Wissenschaft und Forschung ein, indem Sie den Wissenschaftlern, deren Forschung aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, vorschreiben wollen, wie sie ihre Ergebnisse veröffentlichen sollen. Ein Wissenschaftler sollte
das selbst entscheiden dürfen!
Darüber hinaus ist Ihr Verhalten an dieser Stelle
schädlich für die Forschung. Bereits jetzt wird eine Vielzahl von Forschungsprojekten von der Wirtschaft mitfinanziert. Diese legt oft gesteigerten Wert darauf, dass
Zweitveröffentlichungsrechte vertraglich zunächst zurückgestellt werden. Ihre Politik der zwangsweisen Veröffentlichung von Forschungsergebnissen bei staatlicher Beteiligung untergräbt diese bewährte Praxis.
Oder glauben Sie, dass Ihre Politik Universitäten bei
der Drittmittelakquise hilft? Ich habe an dieser Stelle
enorme Bedenken. Auch sind Ihre Vorschläge im Bezug
auf das Urheberrecht wenig brauchbar. Das von Ihnen
geforderte unabdingbare Zweitveröffentlichungsrecht
lehne ich ab. Sie greifen damit zu tief in die Vertragsfreiheit von Autoren und Verlagen ein. Diese sollten selbst
entscheiden können, wie sie ihre Zweitveröffentlichungsrechte wahrnehmen wollen.
Ein tragfähiges Open-Access-Modell birgt aus unserer Sicht große Potenziale in sich. Und es zeigt sich auch
schon jetzt, dass immer mehr Verlage und Wissenschaftler bereit sind, ihr Wissen auf der Basis von Open Access
zu verbreiten. Sie selbst beschreiben dies ja in Ihrer Antragsbegründung! Warum nun an genau dieser Stelle reguliert werden soll, ist für mich nicht nachvollziehbar,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie gefährden damit das erfolgreiche Wachstum von Open
Access aus eigener Kraft mit einem untauglichen Versuch staatlicher Kontrolle.
Sicherlich ist das Zweitveröffentlichungsrecht für den
Fundus von Open-Access-Publikationen auch hilfreich.
Aber noch einmal: Eine gesetzliche Verpflichtung dazu
ist der falsche Weg. Jeder Wissenschaftszweig wird sich
beim Bereich Open Access unterschiedlich entwickeln.
Und Wissenschaftler sollten selbst festlegen können, ob
sie mehr an der Verbreitung ihrer Werke oder an einer
vertraglichen Bindung mit einem Verlag interessiert
sind. Das Renommee eines Wissenschaftlers kann man
nicht gesetzlich verordnen. Es ist bedingt durch Qualität
und durch Verbreitung. Diese Balance soll der Wissenschaftler selbst herstellen können! Ich vertraue fest darauf, dass sich die Vorteile von Open Access ohne Ihre
künstlichen Konstruktionen durchsetzen werden.
Und zuletzt: Mit Ihren in der Antragsbegründung genannten Vorstellungen einer Veröffentlichungsgebühr
für die Publikationsorgane schädigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die Wissenschaftler,
deren Institute und die Zeitschriften. Mehr noch: Sie
kehren die Publikation von wissenschaftlichen Texten
ins Absurde, indem Sie den Autoren bzw. deren Einrichtungen für ihre Mühen auch noch Gebühren abverlangen. Die derzeit in Deutschland hohe Publikationsfreudigkeit wissenschaftlicher Autoren werden Sie mit
diesem Vorschlag wohl kaum fördern.
Der Antrag der Grünen ist aus urheberrechtlicher
Sicht und aus Gründen der Freiheit von Wissenschaft
und Forschung keine Hilfe. Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Grünen, wären gut beraten, diesen Antrag
zurückzuziehen, denn der Sache Open Access erweisen
Sie damit einen Bärendienst.
Open Access, also das digitale wissenschaftliche Publizieren ohne finanzielle, rechtliche oder technische
Schranke für die Nutzerschaft, findet berechtigterweise
immer mehr Unterstützung. Gestern veröffentlichte die
Historikerin Wenke Richter im offiziellen Blog der
Frankfurter Buchmesse einen Artikel mit der Überschrift „Liebe Fachverlage, passt auf Eure Autoren
Zu Protokoll gegebene Reden
auf!“. Darin schreibt sie über die wachsende Zahl von
studentischen Open-Access-Zeitschriften in Deutschland, die mithilfe einer guten Mischung aus Engagement, moderner Technik und traditionellem Peer Review
eine erstaunliche Reichweite für qualitativ hochwertige
Forschung bei Studierenden erreichen. Diese Zeitschriften laufen auf gängigen Contentsystemen, vermitteln
meist, durch Open-Source-Software, Metadaten zu den
Publikationen an Bibliothekskataloge und sind so weltweit abrufbar. Hier wächst eine wissenschaftliche Generation heran, die sich offenbar nicht mehr an die hierarchischen Publikationswege alter Zeiten hält und dabei
höchst erfolgreich ist.
Bereits 2009 initiierte der Diplom-Chemiker und Wissenschaftsjournalist Lars Fischer eine Petition an den
Bundestag, die den kostenfreien Zugang für alle zu öffentlich geförderter Forschung forderte. Diese Petition
wurde von annähernd 24 000 Mitunterzeichnern unterstützt, darunter waren unzählige Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler.
Wer, wie beispielsweise der Heidelberger Germanist
Roland Reuß, behauptet, Open Access sei eine Entmündigung der Wissenschaft durch „die Politik“ und die großen Forschungsförderungseinrichtungen wie die DFG,
übersieht also offensichtlich, wie stark Open Access aus
den Reihen der Akademikerinnen und Akademiker selbst
gefordert wird!
Auch ein zweites Argument der deutschen OpenAccess-Gegner zeigt sich als nicht tragfähig. Sie fürchten eine massenweise Flucht heller Köpfe aus Deutschland, wenn hierzulande verstärkt auf Open-AccessPublikationen gesetzt würde. Aber das Land der Eliteuniversitäten, die USA, setzt nicht nur bei der Drittmittelförderung auf Open Access. Die Unis in Harvard und
seit vergangener Woche auch Princeton verpflichten
ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler per Arbeitsvertrag dazu, die eigenen Publikationen auf den
Uni-Servern, ohne Sperrfristen, frei verfügbar zu machen. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften verfährt ähnlich. Auch wenn in diesen Fällen Ausnahmen von dieser Regelung möglich sind, das
Signal ist klar: Die Zukunft wissenschaftlichen Publizierens liegt bei Open-Access-Modellen.
Neben unzähligen Einzelpersonen, Interessengruppen und den Wissenschaftsorganisationen sieht das bekanntermaßen auch der Bundesrat so. Die eben erwähnte Petition ist im Juli dieses Jahres offiziell an das
Justizministerium weitergleitet worden, da sie - Zitat
aus dem Ausschussprotokoll - geeignet scheint, in die
Vorarbeit eines entsprechenden Gesetzentwurfs einbezogen zu werden.
Nachdem SPD und Linke bereits dieses Frühjahr Vorstöße in den Bundestag eingebracht haben, die darauf
abzielen, die rechtlichen Grundlagen des Zweitverwertungsrechts zum Wohle von Open Access zu erneuern,
kann nun die Fraktion von Bündnis 90/Grüne für sich in
Anspruch nehmen, einen umfassenden Antrag zur Förderung von Open Access eingebracht zu haben. Einzig
die Bundesregierung kommt bei diesem Thema offenbar
nicht voran.
Die Linke stimmt dem vorliegenden Antrag grundsätzlich zu, dass ein Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche Beiträge gebraucht wird. Allerdings reicht es
uns - wie in unserem Antrag hierzu vom April zu lesen
ist - nicht aus, dieses Recht auf Beiträge aus Sammelwerken und Periodika zu beschränken. Das Zweitveröffentlichungsrecht muss auch für Monografien gelten.
Weiter fordern wir, dass eine Sperrfrist für die Zweitveröffentlichung maximal sechs Monate betragen darf.
Dies ermöglicht weiter eine exklusive und unfreie Erstveröffentlichung, ohne diese unnötig zu privilegieren.
Obwohl der vorliegende Antrag sich auch dafür ausspricht, den goldenen Weg bei Open Access zu fördern,
also die freie und nichtexklusive Erstveröffentlichung
von Forschungspublikationen, bleiben die vorgeschlagenen Maßnahmen hinter diesem Anspruch zurück.
Publikationen, die im Rahmen öffentlich geförderter
Projekte oder in den Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes entstanden sind, sollen nach dem vorliegenden Antrag „spätestens zwölf Monate nach Erstveröffentlichung“ frei verfügbar sein. Wieder fehlt es hier an
einem Regelungsvorschlag für Monografien. Weiter
bleiben bei den Grünen einige Fragen unzureichend beantwortet: Wieso beschränkt sich der Antrag auf öffentlich geförderte Drittmittelprojekte? Warum sollen selbst
die Ergebnisse der Ressortforschung des Bundes zunächst unfrei publiziert werden? Wieso wird nicht für
jegliche Art öffentlich geförderter Forschung der freie
Zugang zu den Ergebnissen zur Regel?
Die Antwort ist vordergründig einfach: Weil in
Deutschland Wissenschaftsfreiheit so ausgelegt wird,
dass es den Forscherinnen und Forschern überlassen
bleibt, wie sie ihre mit Steuermitteln finanzierten Erkenntnisse verbreiten.
Sicher, eine Umsetzung der vorliegenden Vorschläge
wäre ein Fortschritt gegenüber der aktuellen Lage, aber
wie gesagt: Princeton und Harvard machen vor, dass es
auch andersherum geht - in einem Land, in dem die individuelle Freiheit besonders hoch eingeschätzt wird.
Die Linke teilt den Ansatz der US-amerikanischen
Universitäten: Wissenschaftliche Publikationen sollen
in der Regel sofort frei publiziert werden, die Exklusivität bleibt die Ausnahme.
Dabei ist zu beachten: Im Moment sind es vor allem
Fachverlage, die das entsprechende Know-how haben,
Publikationen sofort frei zur Verfügung zu stellen. Neben
dieser kommerziellen Variante will die Linke die Eigenpublikation durch Forschungseinrichtungen und Forschungsverbünde stärken.
Die Linke stellt sich den Herausforderungen, Open
Access nicht nur auf dem grünen Weg voranzubringen,
und wird demnächst eine eigene Initiative einbringen,
die einen goldenen Weg zu mehr Open Access aufzeigt.
Keine Herrschaft des Volkes ohne gleichberechtigten
Zugang zum Wissen. Wissen ist die Grundlage für inforZu Protokoll gegebene Reden
mierte Entscheidungen freier Bürger, für ein demokratisches Miteinander und für mehr Pluralismus. Geteiltes
Wissen ist ohne Weiteres vielfaches Wissen. Daher fordern wir, gemeinsam mit einem inzwischen breiten Bündnis von Wissenschaftlern und Wissenschaftsorganisationen, die Öffnung der Zugangsmöglichkeiten zu Wissen
und Information, zu Forschungsvorhaben, -daten und
-ergebnissen. Open Access, also der dauerhafte und für
Nutzerinnen und Nutzer kostenfreie Zugang zu öffentlich
geförderter Forschung, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Denn wie sollen wir nachkommenden Generationen erklären, warum der Staat und seine Institutionen die Forschung mit Steuergeldern fördern, die
Publikationskosten tragen und die Zeitschriften am Ende
dennoch für viel Geld zurückkaufen müssen?
Die Situation ist inzwischen ganz besonders prekär
bei Bibliotheken und anderen öffentlichen Institutionen.
Aufgrund der Monopolstellung großer Fachverlage bei
der Verbreitung von Forschungsergebnissen fehlt ein
Korrektiv bei der Preisentwicklung. In der Konsequenz
lässt sich bis heute ein kontinuierlicher Anstieg der Zeitschriftenpreise feststellen. Als Reaktion darauf sehen
sich Bibliotheken und auch Hochschulen gezwungen, ihr
Zeitschriftenangebot einzuschränken, um die Kosten für
die wichtigsten Publikationen zu stemmen. Auf diese
Weise ist Vielfalt in der Wissenschaft oftmals schlicht
nicht mehr leistbar. Der Kostenanstieg bei den Zeitschriften bleibt nicht nachvollziehbar, weil Gutachterinnen und Gutachter größtenteils ehrenamtlich arbeiten,
Autorinnen und Autoren ihre Beiträge in fast druckfähigem Format einreichen und mancherorts sogar Publikationsgebühren von den Autorinnen und Autoren getragen werden müssen.
Die Privatisierung von Wissen ist kontraproduktiv.
Wissen kann sich nicht entfalten, wenn Art und Umfang
der Weiterverbreitung letztlich allein auf kommerziellen
Mechanismen beruhen und der Zugang lediglich
kleinste Wissenschaftszirkel privilegiert. Daher unterstützen wir die Open-Access-Bewegung aus vollem Herzen und freuen uns darüber, dass unsere Initiativen so
großen Widerhall erleben.
Umso erstaunlicher ist es, wie lange die Bundesregierung zögert, die entscheidenden Schritte zu gehen. Seit
langem angekündigt, bleibt sie bis heute der deutschen
Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungswelt die Reform des Urhebergesetzes, den Dritten Korb, der ausdrücklich als sogenannter Wissenschafts- und Bildungskorb angekündigt wurde, schuldig. Dabei sind gerade
urheberrechtliche Privilegien für Bildung und Wissenschaft angebracht, fördert doch der Zugang zu Wissen
und Information den wissenschaftlichen Diskurs, die
Entwicklung von Innovationen sowie die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt. Es wird Zeit, dass auch die Bundesregierung die großen Chancen von Digitalisierung
und Internet erkennt und endlich tätig wird.
Als Oppositionsfraktion gehen wir - einmal mehr mit unserem Antrag mit gutem Beispiel voran und zeigen
Ihnen, wie eine Reform aussehen könnte. Ein wichtiger
Schlüssel - da scheinen sich bezeichnenderweise alle
Parteien einig - ist das unabdingbare Recht zur Zweitveröffentlichung für wissenschaftliche Autorinnen und
Autoren im Format der Erstveröffentlichung. Es darf
nicht sein, dass Autorinnen und Autoren dahin gehend
erpressbar sind, dass sie sich auf sämtliche Bedingungen des Verlagsvertrages einlassen müssen, wenn sie
ihre Beiträge einem Verlag zur Verfügung stellen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf
hohe Sichtbarkeit Wert legen und an einem Diskurs zu
ihren Werken bzw. Forschungsergebnissen interessiert
sind, müssen in die Lage versetzt werden, diese Werke
auch an anderer Stelle zu veröffentlichen. Die Zweitveröffentlichung auf der eigenen Homepage oder in einem
Open-Access-Journal dient dabei nicht zuletzt auch dem
erstveröffentlichenden Verlag, der ebenfalls von der erhöhten Sichtbarkeit der Beiträge profitiert.
Um nicht unnötige Abgrenzungsschwierigkeiten bei
der Frage, wo und in welchem Rahmen eine Zweitveröffentlichung erfolgen soll, hervorzurufen, bietet es sich
an, auch eine Veröffentlichung zu kommerziellen Zwecken zu erfassen. Wir haben uns für die kommerzielle
Zweitveröffentlichungsmöglichkeit entschieden, weil wir
der Überzeugung sind, dass nur auf diese Weise auch
neue Geschäftsmodelle gefördert werden können, die es
vermögen, auf innovative Art und Weise Weiterverarbeitungen entsprechender Inhalte zu ermöglichen. Damit
einhergehen könnten zusätzliche Verbesserungen bei der
Zugänglichmachung des öffentlich geförderten Wissens.
Der dauerhafte und entgeltfreie Zugang zu Forschungsergebnissen wird aber - das hat die SPD offenbar missverstanden - nicht allein durch ein Zweitverwertungsrecht gewährleistet. Open Access braucht
rechtliche Rahmenbedingungen im Urhebergesetz, in
den Vergaberichtlinien, für die Übernahme der Publikationskosten und im Aufbau einer Open-Access-Infrastruktur.
Ein wesentlicher Schritt zur Förderung von Open
Access ist nämlich auch die rechtliche Unterstützung digitaler Erstveröffentlichungen unter Open-Access-Bedingungen. Öffentliche Forschung muss vor Monopolisierungen durch Private geschützt und der dauerhafte
Zugang zu Wissen gesichert werden; die Ergebnisse öffentlicher Forschung müssen wieder- und weiterverwendet werden dürfen. Öffentliche Forschungsgelder sollten
daher dann vergeben werden, wenn die Open-AccessVeröffentlichung garantiert ist. Open Access sollte also
maßgebliche Bedingung für die Vergabe öffentlicher
Gelder sein. So kann sichergestellt sein, dass der Staat
nicht mehrfach, sowohl bei Entstehung wissenschaftlicher Beiträge als auch bei deren Nutzung, zahlt.
Open Access hat das Ziel, für Nutzerinnen und Nutzer
gebührenfrei zu sein. Allerdings entstehen auch bei
Open Access Kosten. Daher schlagen wir vor, dass Publikationsgebühren durch einen Publikationsfonds übernommen werden sollen. Anteile dieses Fonds können
private und öffentliche Institutionen, Drittmittelfinanziers oder auch Forschungseinrichtungen halten.
Für die verbesserte globale Sichtbarkeit deutscher
Forschung ist außerdem erforderlich, dass wir den Aufbau einer Open-Access-Infrastruktur, wozu RepositoDr. Konstantin von Notz
rien, Lehr- und Lernplattformen, Datenbanken, vernetzte
Open-Access-Journals etc. gehören, nachdrücklich unterstützen. Hier braucht es einheitliche Formate und
operable Schnittstellen, um Wissen adäquat zu verbreiten
und den Wissenschaftsdiskurs effektiv zu befördern.
Schließlich erwarten wir von der Bundesregierung
eine Evaluation zu den bislang unternommenen Anstrengungen zur Förderung von Open Access. Die Fragen,
die im Rahmen einer solchen unabhängigen Evaluation
beleuchtet werden sollten, sind unter anderem folgende:
Wie stehen wir international im Vergleich zu Frankreich
und dessen nationaler Open-Access-Initiative? Wie stehen wir im Vergleich zu den USA und ihren parlamentarischen Open-Access-Initiativen? Wird Deutschland mit
einer Open-Access-Gesamtstrategie der vorgeschlagenen Art Vorbild für europäische Bemühungen um einheitliche Open-Access-Standards sein können? Diese
Fragen müssen ehrlich beantwortet werden, da wir uns
auf dem Feld der Digitalisierung und des Internets in einem Gebiet großer Dynamik bewegen und die Chancen
ergreifen sollten, die sich daraus ergeben. Hier hätte die
Bundesregierung einmal die Gelegenheit, sich fortschrittlich zu zeigen. Mit ihrer zögerlichen Art, grundlegende Reformen des Urheberrechts zu ergreifen, lässt
sie bewusst diese Chance verstreichen.
Open Access sollte ein Schritt hin zum Aufbau einer
umfassenden Wissensallmende sein, von der noch unsere
Nachkommen zehren können, weil der Staat sich in der
Forschungsförderung nachhaltig engagiert hat. Wissen
ist heute ein ganz entscheidender Faktor zur Förderung
von Demokratie, Pluralismus und gesellschaftlichem
Wohlstand. Das muss auch die Bundesregierung langsam erkennen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7031 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von
Kammern für internationale Handelssachen
({0})
- Drucksache 17/2163 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Das deutsche Recht und die deutsche Justiz genießen
international hohe Achtung. Abstraktionsgrad und systematische Stringenz des deutschen Rechtssystems sowie
die Effizienz, die Leistungsfähigkeit und die verhältnismäßig niedrigen Gerichtskosten sind weltweit anerkannt. Deutsches Recht dient daher als Vorbild für Reformen in anderen Staaten, insbesondere in Schwellenund Entwicklungsländern. „Made in Germany“ als Gütesiegel steht weltweit nicht nur für beste Qualität aus
Deutschland im Bereich der Automobil- und Maschinenbauindustrie. Auch Recht „Made in Germany“ ist ein
Exportschlager.
Dennoch steht das deutsche Recht in einem harten internationalen Wettbewerb. Gerade bei Verträgen oder
Rechtsstreitigkeiten mit internationalem Bezug wird oftmals nicht die Geltung des deutschen Rechts, nicht
Deutschland als Gerichtsstandort vereinbart. Die
Gründe sind vielfältig. Sie wurzeln zum Teil im materiellen Recht, zum Teil im Verfahrensrecht. Da Recht aber
durchaus auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor ist,
haben sich die Bundesnotarkammer, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, der Deutsche Notarverein sowie der Deutsche Richterbund zu
der Initiative „Law - Made in Germany“ zusammengeschlossen: Ziel ist es, für den Rechtsstandort Deutschland zu werben und ihn attraktiver auszugestalten.
In diesem Zusammenhang ist die heute zur Beratung
anstehende, von den Ländern Hamburg und NordrheinWestfalen eingebrachte Bundesratsinitiative zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für
internationale Handelssachen zu sehen. Worum geht es?
Nach dem Bundesrat leidet der Gerichtsstandort
Deutschland darunter, dass § 184 Gerichtsverfassungsgesetz allein Deutsch als Gerichtssprache zulässt. Dies
soll nach Analyse des Bundesrates ausländische, vor allem englischsprachige Vertragspartner und Prozessparteien davor abschrecken, vor einem deutschen Gericht
zu verhandeln: Ein Prozess mit einer fremden, nur im
Wege der Übersetzung indirekt verständlichen Sprache
sei für ausländische Unternehmen unattraktiv. Im Ergebnis würde das deutsche Recht trotz all seiner Vorzüge
kaum gewählt und bedeutende wirtschaftsrechtliche
Streitigkeiten im englischsprachigen Ausland ausgetragen.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht nun vor, im
Gerichtsverfassungsgesetz die Möglichkeit zu verankern, bei den Landgerichten Kammern für internationale Handelssachen einzurichten, vor denen das Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen - Handelssache
mit internationalem Bezug und übereinstimmender Wille
der Parteien - in englischer Sprache geführt wird. Im
Rahmen des Verfahrens sollen auch das Protokoll und
die Entscheidungen des Gerichts in englischer Sprache
abgefasst werden.
Wie ist dieser Vorstoß nun zu bewerten? Richtig ist
zunächst, dass eine fremde Sprache tatsächlich eine
Barriere sein kann, die bei der Wahl des Gerichtsstandortes - zumindest psychologisch - eine Rolle spielen
kann. Die Möglichkeit der Verfahrensführung in englischer Sprache könnte daher in der Tat zu einer Stärkung
des Rechtsstandorts Deutschland führen. Bei internationalen Rechtsstreitigkeiten sind die zugrunde liegenden
Verträge und die Kommunikationen zwischen den Parteien zudem in aller Regel ebenfalls in Englisch. Wenn
hier eine Kongruenz zwischen der Vertragssprache und
der Sprache des gerichtlichen Verfahrens hergestellt
wird, kann dies zu einer größeren Rechtssicherheit führen. Auch Kosten für Übersetzungen oder Dolmetscher
würden verringert werden. Es gibt also durchaus gute
Argumente für diese Bundesratsinitiative.
Wahr ist aber auch, dass mit der Prozessführung in
englischer Sprache eine gewisse Einschränkung der Gerichtsöffentlichkeit einhergeht. Nun mag es so sein, dass
zwar die Verfahrensbeteiligten, die Rechtsanwälte und
auch die Richter über gute Englischkenntnisse verfügen.
Auch hier müssen wir allerdings genau hinschauen, ob
die erforderlichen Sprachkompetenzen wirklich in ausreichendem Maß vorhanden sind oder ob nicht zusätzliche Ausbildung mit den entsprechenden Kosten notwendig ist. Selbst deutsche Juristen mit sehr gutem
englischen Fachvokabular werden auf Anhieb nur mit
Mühe einen „Kostenfestsetzungsbeschluss“, die „Drittwiderspruchsklage“, die „Haupt- oder Nebenintervention“, die „streitgenössische Nebenintervention“ oder
den Begriff „Schriftsatznachlassfrist“ übersetzen können. Aber selbst wenn dies dahingestellt sei, so können
wir jedenfalls nicht davon ausgehen, dass jeder Prozesszuschauer einem Prozess mit komplizierten juristischen
Fachtermini in Englisch folgen kann. Wenn das aber so
ist, ist dies zwar vielleicht nicht verfassungsrechtlich,
aber doch rechtspolitisch durchaus fragwürdig. Ich verkenne nicht, dass das Bundesverfassungsgericht betont
hat: „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt.“ Dennoch - die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung wurzelt im Demokratieprinzip und ist
daher tragender Grundsatz unseres Prozessrechts - gilt:
Einschränkungen bedürfen besonderer Rechtfertigung.
Zu bedenken ist auch, dass die Rechtssprache integraler Bestandteil unserer in Deutschland gewachsenen
Rechtskultur ist. Beides hat sich zusammen entwickelt,
ist aufeinander bezogen. Rechtssprache und materielles
Recht sind also auf das Engste miteinander verschränkt.
Das bedeutet umgekehrt, dass es zu Unsicherheiten bei
der Anwendung des materiellen oder auch prozessualen
Rechts kommen kann, wenn in einem Prozess in englischer Sprache deutsches, also in deutscher Sprache abgefasstes Recht angewendet wird.
Schließlich muss auch gefragt werden, ob für englischsprachige Kammern für internationale Handelssachen ein wirklicher Bedarf besteht. Am OLG Köln gibt
es seit dem 1. Januar 2010 das Modellprojekt „Englisch
als Gerichtssprache“. Die Überlegungen zu diesem Modellprojekt waren die gleichen, wie sie hier vom Bundesrat angeführt werden. Für das Modellprojekt haben die
Landgerichte Köln, Aachen und Bonn je eine Kammer
sowie das Oberlandesgericht Köln einen Senat eingerichtet, vor denen Zivilprozessparteien unter bestimmten
Voraussetzungen in englischer Sprache verhandeln können. Nach gut eineinhalb Jahren gab es in diesem Modellprojekt sage und schreibe einen einzigen Fall - nämlich am Landgericht Bonn -, in dem die Parteien
tatsächlich in Englisch verhandeln wollten. Das Berufungsverfahren am Oberlandesgericht Köln wurde hingegen wieder in deutscher Sprache durchgeführt. Auch
diesen Umstand muss man bewerten.
Als Fazit möchte ich daher nach allem festhalten:
Grundsätzlich sollten wir uns der fakultativen Einrichtung von Kammern für internationale Handelssachen
nicht a priori verschließen - es gibt eine Reihe von guten
Argumenten, die hierfür sprechen, die dafür sprechen,
dass Deutschland als Rechtsstandort gestärkt und sich
daraus positive volkswirtschaftliche Effekte ergeben
würden. Allerdings gibt es aus meiner Sicht noch einige
Fragezeichen: Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung darf nicht eingeschränkt, Rechtsunsicherheiten
durch das Auseinanderfallen von Prozesssprache und
Sprache des materiellen Rechts müssen vermieden und
der tatsächliche Bedarf muss ermittelt werden.
Diese Fragen werden wir im parlamentarischen Verfahren ergebnisoffen beraten, prüfen und abwägen. Für
ein endgültiges Votum ist es an dieser Stelle daher noch
zu früh.
Das vorgeschlagene Gesetz will erreichen, dass bedeutende wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten künftig an
deutschen Landgerichten ausgetragen werden. Deshalb
sollen dort Kammern für internationale Handelssachen
eingerichtet werden. Dort sollen die Prozesse in englischer Sprache geführt werden. Das bedeutet: Die mündliche Verhandlung wird auf Englisch geführt und auch
Schriftsätze, Protokolle und Gerichtsentscheidungen
sollen in englischer Sprache abgefasst sein. Lediglich
der Tenor von Entscheidungen soll auch in die deutsche
Sprache übersetzt werden.
Ich weiß, dass der Deutsche Anwaltverein ein Unterstützer dieser Idee ist. Der Ausschuss für internationalen Rechtsverkehr erhofft sich einen größeren Anteil an
internationalen Rechtsstreitigkeiten für deutsche
Dienstleister. Ich weiß aber auch, dass die nicht ganz so
großen Anwaltskanzleien nicht begeistert sind. Die
Rechtsanwaltskammer Stuttgart hat mehr für diese Berufsgruppe gesprochen und den Entwurf als verfehlt bezeichnet.
Nun machen wir das Recht ja nicht nur für die Anwälte, auch wenn wir uns freuen, wenn es ihnen gut geht.
Das Recht, auch das Prozessrecht, ist für die Bürger und
für die Unternehmen da.
Und deshalb ist meine erste Frage: Wollen die betroffenen Unternehmen überhaupt ihre internationalen
Handelsstreitigkeiten vor deutschen staatlichen Gerichten austragen? Fakt ist doch, dass „die internationale
Handelsschiedsgerichtsbarkeit die ordentlichen Gerichte im Bereich der grenzüberschreitenden Streitschlichtung weitgehend verdrängt hat“. So heißt es in
dem im Gesetzentwurf zitierten Beitrag von Professor
Gralf-Peter Calliess und Hermann Hoffmann. Ja, das ist
so. Aber warum freuen wir uns nicht darüber?
In allen anderen Bereichen fördern wir die außergerichtliche Streitbeilegung. „Schlichten statt Richten“
heißt das Motto bei kleineren Streitwerten und Nachbarschaftsstreitigkeiten. Dort sind wir teilweise sehr weit
gegangen und schreiben dem einfachen Bürger den
Gang zur Schlichtungsstelle vor, bevor er sich an das
staatliche Gericht wenden darf. Wir haben auch die Mediation entdeckt und freuen uns, wenn die Menschen eiZu Protokoll gegebene Reden
nen guten Interessenausgleich selbst vereinbaren können.
Wenn aber große Unternehmen ihre Streitigkeiten privat schlichten, wollen wir den privaten Schiedsgerichten
offenbar Konkurrenz machen. Wozu? Gibt es einen
Schrei der Wirtschaft nach der staatlichen Gerichtsbarkeit? Gibt es Beschwerden von großen Unternehmen,
weil sie zu privaten Schiedsgerichten gezwungen werden? Mir wäre das nicht bekannt. Ich vermute, dass dafür kein echter Bedarf besteht.
Denn die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit hat einige Vorteile, die die staatlichen Gerichte so
nicht bieten können und auch nicht unbedingt bieten
wollen. Ich will sie nur kurz aufzählen: Die Beteiligten
können sich das anwendbare materielle Recht aussuchen und sich auch auf private Regelwerke verständigen. Die Beteiligten können sich ihre Schiedsrichter
aussuchen. Sie können sich darüber verständigen, ob sie
einen oder mehrere Schiedsrichter brauchen. Sie können
den Ort des Schiedsverfahrens bestimmen. Das Schiedsverfahren geht schnell. Es gibt nur eine Instanz. Die Verfahren sind nicht öffentlich und damit diskret.
Alles das können die staatlichen Gerichte entweder
gar nicht oder nicht vollständig oder nur mit erheblichem Aufwand bieten. Warum sollten wir diesen Aufwand betreiben, obwohl die Dienstleistung gar nicht benötigt wird?
Aber unterstellt, es wäre für unsere Unternehmen
ein Vorteil, wenn sich internationale Vertragspartner in
Zukunft vermehrt auf deutsches Recht oder zumindest
auf den Gerichtsstandort Deutschland verständigen
würden - was wäre der Preis dafür, dass uns das überhaupt gelingen könnte?
Ich sage, das wird teuer. Wer eine echte Konkurrenz
zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit aufbauen will, der
muss dies konsequent, exzellent, langfristig und verlässlich tun. Das ist harte Arbeit.
Zur Konsequenz würde zum Beispiel gehören, dass
der Instanzenzug durchgängig bis zum Bundesgerichtshof in englischer Sprache durchgezogen werden kann.
Der Entwurf möchte für den BGH nur als Kannbestimmung die englische Verhandlungsführung ermöglichen.
Das wäre ein merkwürdiger Bruch im Angebot.
Mit ein paar guten internationalen Handelskammern
an einigen Landgerichten und entsprechenden Senaten
bei den Oberlandesgerichten wäre es ebenfalls nicht getan. Diese Spruchkörper müssten personell so gut ausgestattet sein, dass sie wirklich alle Verfahren schnell
erledigen können. Es müssten genügend Richterinnen
und Richter beschäftigt werden, die sich dieser Aufgabe
widmen, und sie müssten nicht nur sprachlich gewandt
sein, sondern auch ständig fachlich qualifiziert werden.
Es stimmt zwar, dass sich international agierende Vertragspartner heute schon auf irgendein anzuwendendes
nationales Recht verständigen können. Das sagt die europäische Rom-I-Verordnung. Das vereinbarte Recht
muss dann von den Richtern in den europäischen Mitgliedstaaten angewandt werden - eine enorme fachliche
Herausforderung für die nationalen Gerichte. Wie gesagt, das ist heute schon so. Vielleicht ist es vor diesem
Hintergrund aber ganz gut, dass die Fallzahlen vor den
Kammern für Handelssachen seit Jahren sinken, sodass
keine Überforderung stattfindet.
Ich halte es aber für insgesamt sehr kühn, wenn die
Bundesländer diese Verfahren gezielt und in großen
Fallzahlen an unsere Gerichte ziehen wollen. Wäre es
nicht wichtiger, dass wir für den ganz normalen Bürger,
für unseren Mittelstand und unsere Handwerksbetriebe
schnellere Gerichtsverfahren gewährleisten könnten
und hierfür die Richterkapazitäten verstärken würden?
Die Beschwerden über die langen Verfahrensdauern
kennen wir alle.
Fazit: Meine Skepsis ist da. Wir werden aber alle Argumente wägen und sicher auch berücksichtigen, dass
die Länder ja nur eine Experimentierklausel wollen.
Vielleicht sollten wir sie am Experimentieren nicht hindern. Ich freue mich jedenfalls auf weiterführende und
interessante Beratungen.
Wir debattieren heute über einen vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen. Lassen Sie mich
kurz einführen, warum ich es als wichtig erachte, diesen
Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu diskutieren.
In einer globalisierten Handelswelt begegnen wir
dem Wettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene.
Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zu
anderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in der
internationalen Geschäftswelt ist das angelsächsische
Recht auf dem Vormarsch.
Das liegt nicht an der Überlegenheit des Common
Law. Vielmehr herrscht in der juristischen Fachwelt die
Auffassung vor, dass das deutsche Recht im internationalen Vergleich einen sehr hohen Qualitätsstandard für
sich beanspruchen kann. Dieser hohe Qualitätsstandard
setzt sich in der Rechtspflege fort; deutsche Gerichtsverfahren führen in der Regel schnell und mit vergleichsweise niedrigen Kosten zu einem für die Rechtsuchenden
befriedigenden Ergebnis. Somit eignen sich nicht nur
unsere Waren als Exportschlager. Auch unser Rechtssystem könnte einer werden.
Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zum Common Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. Unser
Rechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbewerbsnachteils attraktiver werden.
Der angelsächsische Rechtskreis spielt bislang den
Vorteil der englischen Sprache als internationale Handelssprache voll aus. Unternehmen weichen häufig auf
englischsprachige Gerichtsstände aus oder vereinbaren
Schiedsklauseln unter Verwendung der Verfahrenssprache Englisch, weil Englisch meist allen Beteiligten
geläufig ist. Die Einführung von Kammern für internationale Handelssachen, in denen Englisch als Gerichtssprache zugelassen werden soll, kann dazu beitragen,
die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Rechts internaZu Protokoll gegebene Reden
tional erheblich zu verbessern und die Ausweichbewegungen abzumildern.
Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchen
Ansatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesgerichtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln,
Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungsplänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englisch
verhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf
§ 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägers
und des Beklagten die Verhandlung in englischer Sprache geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher verzichten und der Prozess einen internationalen Bezug
aufweist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft in
Köln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vielen internationalen Unternehmen ist, nur so attraktiv
bleiben kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nur
erreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in englischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dass
auch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigt
werden können. Damit kann die Sprachbarriere des
deutschen Rechts für internationale Unternehmen weiter abgebaut werden.
Um dieses Vorhaben zu prüfen und weiterentwickeln
zu können, wird der Rechtsausschuss zu diesem Gesetzentwurf im November eine öffentliche Anhörung durchführen.
Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritiker
eingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschen
Sprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum,
unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Es
geht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für den
internationalen Handelsverkehr, die das Einverständnis
aller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ich
meine, niemand etwas haben.
Das vorliegende Gesetzesvorhaben soll dem Ansehen
des Gerichtsstandortes Deutschland dienen und bedeutende wirtschaftsrechtliche Verfahren anziehen. Das will
man durch die Einrichtung von Kammern für internationale Handelssachen bei den Landgerichten erreichen,
die ihre Verhandlung in englischer Sprache führen sollen. Die nächsthöhere Instanz darf dann in englischer
oder deutscher Sprache verhandeln und gegebenenfalls
einen Dolmetscher hinzuziehen.
Man argumentiert, dass der Gerichtsstandort
Deutschland unter der ausschließlichen Verwendung
der deutschen Sprache leide - eine Behauptung, die angesichts der schlechten Personallage an deutschen Gerichten an der Realität vorbeigeht. Der Gerichtsstandort
Deutschland leidet nämlich nicht unter der Gerichtssprache, welche aus gutem Grund Deutsch ist, sondern
unter einer quantitativen und finanziellen Unterausstattung der Gerichte und Justizbehörden - ein Umstand,
der aufgrund der gleichzeitig sehr angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt für Juristen und Juristinnen
gleich doppelt schmerzlich ist.
Die Behauptung, zahlreiche Richterinnen und Richter
würden die englische juristische Fachsprache bereits
hervorragend beherrschen, halte ich für fraglich. Jedenfalls trifft es nicht zu, dass mittlerweile eine Vielzahl von
Richtern über Auslandserfahrung im englischsprachigen Ausland und über einen LL.M-Titel verfügen. Das
sind wohl eher die Ausnahmen. Der Gesetzentwurf
selbst räumt die Notwendigkeit ergänzender Fortbildungen der Richterinnen und Richter sowie auch des nichtrichterlichen Personals ein, die im Falle einer Umsetzung auch notwendig sein wird. Ein deutlicher Mehraufwand und eine hohe zusätzliche Belastung für das Personal sind hier vorprogrammiert. Im Gegenzug erwartet
man gesteigerte Gebühreneinnahmen durch die angestrebte Attraktivitätssteigerung. Meine Richterkollegen
in Thüringen haben übrigens vornehmlich Handelssachen mit osteuropäischem Bezug zu verhandeln. Mit der
Einführung der englischen Sprache für alle internationalen Handelssachen müssten sich in solchen Verfahren
alle Beteiligten in einer Fremdsprache verständigen.
Das wäre eine deutliche Verschlechterung gegenüber
dem Status quo, bei dem sich nur eine Partei auf eine
Fremdsprache einstellen muss.
Höchst fraglich ist aber auch, ob das vorliegende Gesetz überhaupt mit dem im Gerichtsverfassungsgesetz
normierten Öffentlichkeitsgrundsatz vereinbar wäre.
Um diesem zu genügen, müssen Gerichtsverfahren für
jedermann verständlich sein und dementsprechend auf
Deutsch vollzogen werden. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird dies mit dem Hinweis auf eine Umfrage
bestritten, in der 67 Prozent der Befragten angaben,
dass sie Englisch „einigermaßen gut“ sprechen und verstehen können. Hier wird zum einen nicht berücksichtigt,
dass die juristische Fachsprache deutliche Besonderheiten aufweist und dementsprechend längst nicht jede des
Englischen mächtige Person einer auf Englisch gehaltenen Gerichtsverhandlung folgen könnte. Zum anderen
wäre es verfassungsrechtlich bedenklich, wenn nur ein
sprachlich entsprechend vorgebildeter Teil der Bevölkerung die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit tatsächlich
ausüben könnte. Es ist ja gerade der Sinn der Kontrollfunktion des Öffentlichkeitsgrundsatzes, die gesamte Bevölkerung zu beteiligen und niemanden auszuschließen.
In einer Demokratie muss die Justiz als dritte Gewalt für
jedermann verständlich bleiben.
In dem Gesetzentwurf wird ferner behauptet, dass
ausländische Vertragspartner und Prozessparteien den
Gerichtsstandort Deutschland trotz international hoher
Anerkennung für die deutsche Justiz meiden würden, um
nicht in einer für sie unverständlichen Sprache verhandeln zu müssen. Tatsache ist jedoch, dass heutzutage
viele Rechtsanwaltskanzleien, insbesondere die ohnehin
international tätigen, längst über mehrsprachiges Personal verfügen. Der Zugang zu deutschen Gerichten für
internationale Mandanten ist mithin über die sie vertretenden Kanzleien bereits möglich. Die einzigen, die
zweifelsfrei einen zählbaren Nutzen durch dieses Gesetz
haben dürften, sind eben diese mit englischsprachigen
Mandaten betrauten Anwaltskanzleien, die einen großen
Teil ihrer lästigen Übersetzungsarbeit auf die Gerichte
abwälzen könnten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Initiatoren dieses Gesetzes gehen davon aus, dass
es durch die angeblich steigende Attraktivität des Gerichtsstandortes Deutschland zu einer Zunahme an Verfahren mit hohen Streitwerten kommen wird. Dabei werden Gebühreneinnahmen erwartet, die die Kosten der
Umstellung auf die englische Sprache bei weitem übersteigen. Das freut die Finanzminister der Länder. Aufgrund ihrer verfassungsmäßigen Verankerung im
Grundgesetz darf die Justiz als dritte Gewalt des Staates
nicht an finanziellen Interessen und Kostendeckung gemessen werden.
Auch die Bundesregierung bemerkt in ihrer Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf, dass sich im
praktischen Vollzug erst noch erweisen müsse, ob für gerichtliche Verfahren dieser Art überhaupt ein tatsächlicher Bedarf bestehe. Diese Experimentierfreudigkeit ist
völlig fehl am Platze. Letztlich bleibt festzuhalten, dass
man die ohnehin äußerst begrenzten Mittel, die der Justiz zur Verfügung stehen, nicht durch solch unnötige und
verfassungsrechtlich bedenkliche Maßnahmen weiter
strapazieren sollte. Viel wichtiger wäre es, endlich die
bestehenden Probleme anzupacken und das den Gerichten zur Verfügung stehende Personal deutlich aufzustocken. Nur so kann eine effektive Arbeit an den Gerichten
weiterhin gewährleistet werden, und nur dann bleibt
auch die in diesem Gesetzentwurf angeführte hohe internationale Anerkennung der deutschen Justiz erhalten.
Mit der Zunahme des globalen Wirtschaftsverkehrs
stellen sich auch im Handelsrecht neue Herausforderungen. Viele internationale Handelsverträge werden heute
in englischer Sprache verfasst. Diese Vertragssprache
ist ein Grund dafür, dass für Verträge häufig das angloamerikanische Recht gewählt und der Gerichtsstand im
angloamerikanischen Raum begründet wird. So bewegen sich deutsche Unternehmen oft nicht mehr im deutschen Recht bzw. in der deutschen Gerichtsbarkeit,
wenn sie ihre Ansprüche durchsetzen wollen. Dies
schwächt den Gerichtsstandort Deutschland und die
Stellung des deutschen Rechts im Weltmarkt.
Der Bundesrat möchte mit seiner Gesetzesinitiative
für bestimmte Rechtsstreitigkeiten die englische Sprache
als Gerichtssprache in Deutschland einführen. Ermöglicht werden soll die Einrichtung von Kammern für internationale Handelssachen, die Handelssachen mit internationalem Bezug in englischer Sprache verhandeln
können. Hierdurch will der Bundesrat die Attraktivität
des Rechtsstandortes Deutschland und des deutschen
materiellen Rechts steigern.
In der Praxis wird es sich vermutlich um eine überschaubare Anzahl von Fällen handeln, die vor den Handelskammern für internationale Handelssachen ausgetragen werden. Diese Fälle können jedoch von hoher
Bedeutsamkeit sein und so die Bedeutung deutschen
Rechts fördern. Deshalb lohnt es sich, dass wir diese
Gesetzesinitiative sorgfältig prüfen.
Im deutschen Recht berücksichtigen wir bereits die
Besonderheiten von Handelssachen. Die Kammern für
Handelssachen sind nicht nur mit Berufsrichtern, sondern mit einem Richter und zwei ehrenamtlichen Richtern aus dem Kaufmannsstand besetzt. Durch die Mischung aus Fach- und Sachkompetenz erreichen wir
eine hohe Qualität in der Entscheidungsfindung.
Es wäre kein Novum, wenn in Deutschland in fremder
Sprache nach deutschem Recht verhandelt würde. Vor
Schiedsgerichten können die Parteien bereits die Sprache, in der das Verfahren geführt werden soll, vereinbaren. So werden vor Schiedsgerichten Verfahren in englischer Sprache geführt, die nach deutschem Recht
entschieden werden. Die Freiheit der Sprachwahl trägt
sicher zu der „Abwanderung“ von den Handelskammern an die Schiedsgerichte bei.
Auch die deutsche Rechtswissenschaft hat sich schon
lange auf einen internationalen Wettbewerb eingestellt.
Es gibt englischsprachige Vorlesungen, Seminare und
Studiengänge. Zahlreiche Studentinnen und Studenten
verbringen einen Teil ihres Studiums im Ausland. Wir
sollten nun auch unser deutsches Rechtssystem und unsere deutsche Rechtsordnung am internationalen Wettbewerb teilhaben lassen und als interessante Alternative
zum angloamerikanischen Recht fördern.
Uns Grünen ist neben der internationalen „Wettbewerbsfähigkeit“ deutscher Gerichte aber auch wichtig,
dass Deutsch als Gerichtssprache seine Bedeutung beibehält. Englisch soll nicht als generelle weitere Gerichtssprache eingeführt werden. Es soll auch keine
Vermischung der Sprachen geben. Die Anwendung englischer Sprache soll auf die Fälle beschränkt werden, die
vor den Kammern für internationale Handelssachen verhandelt werden. In den Verfahren muss es sich um eine
Handelssache mit internationalem Bezug handeln, und
die Parteien müssen zugestimmt haben, das Verfahren in
englischer Sprache durchführen zu wollen. Niemandem
soll aufgedrängt werden, in einer Fremdsprache zu verhandeln. Sollten alle Parteien des Rechtsstreits ausdrücklich erklären, dass sie eine Verhandlung in englischer Sprache bevorzugen, so soll ihnen dieser Weg nicht
versperrt sein. In der Praxis wird sich dann noch erweisen müssen, wie sich in diesen Verfahren der Instanzenzug bis zum Bundesgerichtshof bewährt.
Zusammenfassend begrüßen wir Grüne, dass der vorliegende Gesetzentwurf die Stärkung des deutschen
Rechtssystems im globalen Wettbewerb zum Thema
macht. Das ist auch uns ein wichtiges Anliegen. Der Gesetzentwurf geht daher in die richtige Richtung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/2163 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Findet
das Ihr Einverständnis? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Die finanzielle Deckelung von Reha-Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung
aufheben - Reha am Bedarf ausrichten
- Drucksache 17/6914 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist ein zentrales
Prinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es entspricht dem Grundsatz der Humanität, alles zu tun,
damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Berufstätigkeit verursachte gesundheitliche Beeinträchtigungen wieder überwinden können.
Auch Arbeitgeber, Rentenversicherung und Sozialversicherungsträger, die ganze Gesellschaft, haben an
der Verhinderung des vorzeitigen Ausscheidens aus dem
Erwerbsleben und der dauerhaften Wiedereingliederung
ins Erwerbsleben ein nachvollziehbares Interesse. Studien zeigen, dass die durchschnittlichen Kosten für eine
Rehabilitationsmaßnahme von 3 600 Euro sich bereits
amortisieren, wenn der Beginn einer Erwerbsminderungsrente um vier Monate hinausgeschoben wird. Das
Prognos-Institut hat ermittelt, dass die Gesellschaft für
einen in medizinische Rehabilitation investierten Euro
5 Euro zurückerhält.
Deutschland gehört zusammen mit vier weiteren
OECD-Ländern zu denjenigen, die die höchsten Ausgaben für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aufweisen. Die finanziellen Mittel, die der gesetzlichen Rentenversicherung für Leistungen zur Teilhabe, das sind
insbesondere medizinische Rehabilitation und berufsfördernde Maßnahmen, zur Verfügung stehen, werden
gemäß den gesetzlichen Vorgaben jährlich entsprechend
der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und
-gehälter je Arbeitnehmer aufgestockt. Deshalb ist die
Aussage im Antrag der Linken schlichtweg falsch, dass
ein politisch willkürlicher Ausgabendeckel die Rehaleistungen begrenzt. Da auch die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß den Lohnerhöhungen
zunehmen, war es eine logische gesetzliche Regelung,
die Lohnentwicklung auch als Bezugskriterium für die
Erhöhung der Rehaausgaben zu wählen.
Andererseits stellt sich aber zu Recht die Frage, ob
die bisherige Formel die tatsächliche Entwicklung des
Bedarfs auch für die Zukunft korrekt abbildet. Das hat
insbesondere drei Gründe:
Aufgrund der Altersentwicklung der Bevölkerung
nimmt auch das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölkerung zu. Da mit zunehmendem Alter die Ausgaben für
Gesundheitsleistungen steigen, wirkt sich dieses auch
auf den Rehabilitationsbedarf aus.
Die Anhebung des Renteneintrittsalters und der
durchschnittlichen Lebensarbeitszeit führen mit aufwachsender Tendenz zu zusätzlichem Rehabilitationsbedarf.
Medizinischer Fortschritt mit neuen Behandlungsmöglichkeiten sowie eine veränderte Krankheitsstruktur
mit einem stärkeren Anteil chronischer und psychischer
Erkrankungen schlagen sich auch in der Kostenstruktur
für Rehabilitationsleistungen nieder.
Die bisherige Koppelung an die Lohnentwicklung in
Verbindung mit diesen absehbaren Entwicklungen führt
dazu, dass die bestehende Budgetierung - der sogenannte Rehadeckel - faktisch von Jahr zu Jahr verschärft wird. Die Zahl der von den Versicherten beantragten beruflichen Rehabilitationsleistungen ist in den
vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Sie lag
im Jahr 2000 bei 1 605 724. Im Jahr 2010 gingen
2 082 108 Anträge ein. Das entspricht einer Steigerung
von 29,7 Prozent. In derselben Zeit stieg das zur Verfügung stehende Finanzvolumen aber lediglich um
22,1 Prozent, von 4 553,1 Millionen Euro im Jahr 2000
auf 5 559,3 Millionen Euro im Jahr 2010.
Um mit dem bereitstehenden Geld auszukommen, hat
die Deutsche Rentenversicherung den Grundsatz „Ambulant vor stationär“ gestärkt, die Aufenthaltsdauer in
Rehabilitationsmaßnahmen gekürzt und „Fremdbelegungen“ restriktiver gehandhabt. Zugleich erfolgte eine
strengere Antragsprüfung insbesondere bei rentennahen
und arbeitsmarktfernen Versicherten. Dieses wird unter
anderem auch darin deutlich, dass die Zahl der Bewilligungen von circa 70 Prozent im Jahr 2000 auf circa
64 Prozent der Anträge im Jahr 2010 gesunken ist.
Die Deutsche Rentenversicherung stößt bei ihren Bemühungen, mit den bereitgestellten Mitteln für Rehabilitationsleistungen auszukommen, allmählich an die
Grenze des Machbaren. Eine weitere Öffnung der
Schere zwischen Rehabilitationsbedarf und zur Verfügung stehenden Mitteln halten viele für nicht verkraftbar. Wesentliche Spielräume durch Effizienzsteigerungen, die nicht zulasten der Versicherten gehen, sind
kaum mehr vorhanden. Gerade wenn Arbeiten bis 67 für
alle möglich sein soll, ist im Gegenteil sogar mehr berufliche Rehabilitation zum Erhalt und zur Wiederherstellung der Arbeitskraft nötig. Dass nun die Linken unter Verweis auf diese Entwicklung die Anhebung des
Rehadeckels fordern, ist wohl ein Indiz dafür, dass trotz
aller gegenteiligen Rhetorik die Linken mittlerweile mit
der schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze in
der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre versöhnt sind. Das wäre ja immerhin ein beachtlicher politischer Fortschritt.
Im Koalitionsvertrag von Union und FDP heißt es
treffend: „Qualifizierte medizinische Rehabilitation ist
eine wichtige Voraussetzung zur Integration von Kranken in Beruf und Gesellschaft und nimmt im Gesundheitswesen einen immer höheren Stellenwert ein.“ Bei
der Ausgestaltung der künftigen Ausgabengrenze und
der Anpassungsformel für die Rehabilitation in der Rentenversicherung müssen strukturelle Veränderungen
etwa im Bereich der Demografie und veränderte politische Rahmenbedingungen wie die Anhebung des Renteneintrittsalters und damit die Ausweitung der Lebensarbeitszeit - diese sind politisch gewollt und
notwendig - berücksichtigt werden. Zusätzliche finanzelle Spielräume sind schwerpunktmäßig für Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zu nutzen, die derzeit
Peter Weiß ({0})
rund 12 Prozent der Fallzahlen ausmachen. Die derzeit
günstigen finanziellen Rahmenbedingungen der gesetzlichen Rentenversicherung sollten hierzu genutzt werden.
Doch nicht nur den finanziellen Spielraum der beruflichen Rehabilitation gilt es zu überprüfen. Damit das
System Rehabilitation wirksam und zielgerichtet funktionieren kann, müssen Konzepte und Aktivitäten gebündelt und Leistungsträger und Leistungsempfänger besser vernetzt werden. Die Weiterentwicklung der
beruflichen Rehabilitation ist Kern- und Daueraufgabe
des deutschen Sozialstaates.
Schon 2007 wurde deshalb vom Bundesministerium
für Arbeit und Soziales die Initiative „RehaFutur“ gestartet, die unter dem Leitmotiv „Entwicklungen gemeinsam gestalten!“ Konzepte und Aktivitäten koordinieren soll. 2010 hat das Entwicklungsprojekt
„RehaFutur“ begonnen. Zentrale Themen sind die Förderung und Verbesserung der Beratung zur Rehabilitation, mehr betriebliche Vernetzung und die Intensivierung von Forschungsaktivitäten.
Die Bundesregierung greift deshalb nicht allein an
der finanziellen Seite der beruflichen Rehabilitation an,
sondern auch an der praktischen Umsetzung, um mit effizienten Mitteln ein zukunftsfähiges und innovatives
System Rehabilitation zu gestalten.
Die Erfolge, die eine zielgerichtete und effiziente Rehabilitation und berufliche Integration bereits jetzt
schon haben, zeigen uns, dass dies der richtige Weg ist.
Rehabilitation ermöglicht den Betroffenen einen Weg zurück in Beruf und Arbeitsleben und hilft, die Existenz
von Einzelpersonen und ihren Familien zu sichern. Gerade in Zeiten drohenden Fachkräftemangels sollten wir
alle Möglichkeiten ausschöpfen, um durch Rehabilitation und Reintegration qualifizierte Arbeitskräfte, auch
nach Krankheit oder Unfall, im Beruf zu halten. Letztendlich führt eine konsequente und funktionierende Rehabilitation mittel- und langfristig sogar zur Entlastung
der Rentenkassen, denn Leistungsempfänger werden
wieder zu Leistungsträgern.
Die Linke verlangt im vorliegenden Antrag, die Deckelung der Rehaleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung umgehend aufzuheben und die Leistungen
zur Teilhabe allein am Bedarf der Betroffenen auszurichten und nicht durch einen, wie sie es nennt, „politisch willkürlichen“ Ausgabendeckel zu begrenzen.
Tatsächlich ist absehbar, dass sich in Zukunft die
Schere zwischen Rehabedarf und -leistungen öffnen
wird. Das zur Verfügung stehende Budget der Rentenversicherung beträgt rund 5 Milliarden Euro. In den
vergangenen Jahren wurde dieses nahezu ausgeschöpft.
Für dieses Jahr zeichnet sich eine Überschreitung zulasten des Folgejahres ab.
In Zukunft wird das Geld nicht mehr reichen, um den
Rechtsanspruch nach dem SGB IX auf Leistungen zur
Teilhabe der Versicherten zu erfüllen. Dies machen auch
die kontinuierlich steigenden Antragszahlen und Bewilligungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation sichtbar. Was wir vermeiden wollen, ist die Gewährung von Leistungen zur Rehabilitation nach Kassenlage. Wir müssen daher einen neuen Anpassungsgemechanismus finden, der Bedarf und Leistung besser in
Einklang bringen kann. Eine völlige Aufgabe der Orientierung an den finanziellen Möglichkeiten der Rentenversicherung darf es allerdings nicht geben.
Die Linke knüpft mit ihrem Antrag an eine Debatte
an, die von den Koalitionsfraktionen, Teilen der Opposition und den Sozialpartnern in den vergangenen Wochen
öffentlich geführt wurde. Dabei ging es um das Für und
Wider einer möglichen Senkung bzw. einer Beibehaltung
der Höhe der Beiträge zur Rentenversicherung. Was in
der Debatte zu kurz kam, ist die Tatsache, dass der Beitragssatz nicht beliebig steuerbar ist und weder Wünschen nach finanziellen Entlastungen noch nach Leistungsausweitungen unterliegt. Er gehorcht einem gesetzlich festgelegten Mechanismus der Beitragssatzanpassung nach § 158 SGB VI. Entscheiden wir uns dafür,
Leistungen in der gesetzlichen Rente zu verbessern,
kann sich dies nur in der Folge auch auf den Beitragssatz auswirken.
Seit 1997 wird das Wachstum der medizinischen Reha
streng gedeckelt. Die Größe des Budgets für Leistungen
zur Teilhabe - geregelt in § 220 Abs. 1 SGB VI - richtet
sich nach der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer. Eine Orientierung
am tatsächlichen Bedarf erfolgt bisher nicht. Von Expertenseite - hier möchte ich beispielhaft ein Gutachten der
Prognos AG nennen - wird dringender Handlungsbedarf gesehen.
Die Ausgabendeckelung wird in Zukunft vor allem
wegen der demografischen Entwicklung - die Babyboomer kommen in die „reha-intensiven“ Jahre -, der Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre, aber auch angesichts des verlangsamten Anstiegs der Löhne und
Gehälter zum Problem. Obwohl in Anbetracht einer alternden Gesellschaft und eines schmelzenden Potenzials
an Fachkräften die Erkenntnis wächst, dass alle länger
arbeiten müssen, spiegelt sich dies noch nicht hinreichend in der finanziellen Ausstattung der Rentenversicherung wider. Darüber hinaus müssten streng genommen auch die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen
in die Betrachtung mit einbezogen werden.
Zudem müssen wir berücksichtigen, dass ja nicht nur
die Ausgaben für die Rehabilitation selbst einer Deckelung unterliegen, sondern dass das sehr personalintensive Verfahren der Prüfung und Bewilligung der Anträge
auf Leistungen der Rehabilitation der gesetzlich nach
§ 220 Abs. 3 SGB VI vorgeschriebenen Reduzierung der
Verwaltungs- und Verfahrenskosten unterworfen war.
Mit anderen Worten: Weniger Kolleginnen und Kollegen
bei den Trägern müssen steigende Antragszahlen bewältigen.
Aktuell gehen rund 2 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in die Leistungen zur
Teilhabe. Gemessen an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, die kontinuierlich angestiegen sind, ist ihr Anteil sogar etwas gesunken. Dabei sind
Zu Protokoll gegebene Reden
die unterschiedlichen Rehaträger der Sozialversicherung seit jüngerer Zeit auch für präventive Maßnahmen
verantwortlich.
Führen wir uns vor Augen, in welchem Spannungsfeld wir uns bewegen: Wer als Arbeitnehmer schwer
krank wird und in der Folge gemäß der Definition des
SGB IX von Behinderung bedroht ist, hat die Möglichkeit, Rehaleistungen zu beantragen, um die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu erreichen. Nur wenn
die gesundheitliche Einschränkung nicht in absehbarer
Zeit zu beseitigen ist, kommt eine Rente wegen Erwerbsminderung infrage. Grundsätzlich müssen aber die versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sein, um einen Anspruch auf Leistungen der
gesetzlichen Rentenversicherung überhaupt geltend zu
machen.
Zurzeit werden circa 64 Prozent der Anträge auf Rehaleistungen bewilligt. In den Jahren zuvor lag die Bewilligungsquote konstant bei 67 Prozent. Eine Überprüfung ist daher, wie im Nationalen Aktionsplan der
Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens
der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen vorgesehen, unbedingt geboten.
Zugleich wird rund die Hälfte der Anträge auf Erwerbsminderungsrente abgelehnt, zumeist weil die persönlichen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Dabei
werden Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung
häufiger gewährt als volle Erwerbsminderungsrenten.
Was mit den Menschen geschieht, deren Anträge abgelehnt werden, können wir erahnen. Wer krank ist und aus
diesem Grund seinen Arbeitsplatz verliert, wird irgendwann bei entsprechender Bedürftigkeit auf Leistungen
des SGB II oder des SGB XII angewiesen sein. Dies kann
aber auch für Personen gelten, die eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Damit wird deutlich, dass wir mehrere Probleme stemmen müssen:
- Zum einen muss die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mehr Menschen ermöglicht werden. Dies
darf nicht an einem zu engen Berechnungskorsett
scheitern - zumal der gesamtgesellschaftliche Gewinn den Aufwand deutlich übersteigen wird.
- Zum anderen muss es Verbesserungen in der Höhe
der Erwerbsminderungsrenten geben. Zugleich müssen wir Menschen, die gesundheitlich eingeschränkt
sind, neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Wer wegen Krankheit nach einem langen Arbeitsleben früher in Rente geht, soll keinen mit Abschlägen verbundenen vorzeitigen Rentenbeginn
akzeptieren müssen oder soll nicht vor dem Renteneintritt auf Arbeitslosengeld II verwiesen werden.
- Darüber hinaus ist aber der enge Zugang zur Erwerbsminderungsrente gerade für ältere Arbeitnehmer einer Prüfung zu unterziehen. Dabei ist zu bedenken, dass zum einen diese Renten grundsätzlich
nur befristet geleistet werden und zum anderen auch
eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bei
Inanspruchnahme von Rehaleistungen im Bereich
des Möglichen liegt.
Tendenzen zur Verdichtung der Arbeit, insbesondere
in Berufen mit belastenden Arbeitsbedingungen, bringen
gesundheitliche Risiken mit sich. Längeres gesundes Arbeiten setzt daher einen alters- und alternsgerechten
Umbau der Arbeitswelt voraus. Von zentraler Bedeutung
zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit ist dabei das betriebliche Gesundheits- und Wiedereingliederungsmanagement, mit dem frühzeitig gegen drohende Leistungsminderung, Erkrankung, Behinderung und Erwerbsminderung vorgegangen werden kann.
Leider geschieht gegenwärtig in den Betrieben und
Unternehmen zu wenig. Nur ein Fünftel der Betriebe
führt spezifische Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
durch. Insbesondere kleine, aber auch mittlere Unternehmen müssen aber befähigt werden, ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen und externe Unterstützungsangebote zu nutzen. Sozialversicherungen und
staatliche Aufsichtsämter müssen ihre Verantwortung
stärker wahrnehmen. Dazu ist aber auch dort der Vorrang der Prävention nach § 3 SGB IX stärker zu verankern.
Wollen wir mehr Menschen den Weg zurück ins Arbeitsleben ebnen, setzt dies einen stärkeren, zielgenaueren und flexibleren Einsatz der Instrumente zur beruflichen Rehabilitation durch die Rentenversicherung
voraus. Auch Personen, die eine befristete Erwerbsminderungsrente beziehen, haben einen Anspruch auf Rehabilitation und Unterstützung bei der Wiedereingliederung. Dieser Anspruch muss künftig besser umgesetzt
werden, um den Betroffenen neue Perspektiven zu eröffnen. Die demografische Entwicklung, die zurzeit gesetzlich geregelte Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalter, aber auch die Zunahme von psychischen und anderen chronischen Erkrankungen führen zu einem größeren Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen.
Die Kommission Alterssicherung des SPD-Parteivorstands greift diese Themen auf und schlägt Lösungen
vor, in Bezug auf Rehabilitationsleistungen die Erhöhung des jährlich verfügbaren Budgets für Leistungen
zur Teilhabe. Dazu soll vor allem die demografische
Entwicklung bei der Dynamisierung des Rehabudgets
berücksichtigt werden. Zu diesem Vorschlag und weiteren Vorschlägen der Kommission - deren Arbeitsauftrag
ist hauptsächlich darauf gerichtet, Maßnahmen gegen
Altersarmut und für eine ausreichende Alterssicherung
zu erörtern - wird die SPD-Bundestagsfraktion in
nächster Zeit einen Antrag in den Deutschen Bundestag
einbringen.
Darüber hinaus liegt eine Entschließung des Bundesrats auf Initiative von Mecklenburg-Vorpommern zum
Thema vor. Hier heißt es:
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,
Vorschläge vorzulegen, wie die Regelung des § 220
Sechstes Buch Sozialgesetzbuch ({0}) zur Ermittlung der jährlichen maximalen Ausgaben für
Leistungen zur Teilhabe an Hand objektiver Kriterien und entsprechend dem tastsächlichen Bedarf
an Teilhabeleistungen geändert werden kann.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch die Bundestagsabgeordneten Peter Weiß und
Karl Schiewerling fordern eine Anhebung des bisherigen Rehabudgets. Dafür will sich die Union ausdrücklich im Rentendialog starkmachen. Der Arbeitnehmerflügel der CDU fordert ebenfalls, einen demografischen
Faktor bei der Berechnung des Rehabudgets einzuführen ({1}).
Es gibt also ausreichend Vorschläge und guten Willen. Leider hat die Union es in der Vergangenheit versäumt, sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen. Sowohl als die Regelungen zur Rente mit 67 in
der Großen Koalition beschlossen wurden, als auch bei
der Anwendung der Überprüfungsklausel wurde von der
Union jeder Handlungsbedarf verneint. Daher muss ich
nochmals warnen: Gerade wer die schrittweise Erhöhung des Rentenalters schon im nächsten Jahr will,
muss zumindest sicherstellen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft tatsächlich länger arbeiten können. Alles andere wäre fahrlässig.
Rehabilitation ist ein zentrales Ziel unserer Sozialpolitik. Rehabilitation hilft nicht nur den betroffenen
Menschen, sondern ist neben Vorsorge auch das richtige
Konzept, zukünftige Krankheiten und Behinderungen
- und damit auch Kosten für das Sozialsystem - zu vermeiden.
Dennoch ist auch in diesem Bereich die ständige Abwägung notwendig zwischen den Interessen der Betroffenen, der Leistungsanbieter und der Beitragszahler. Es
wäre falsch, diese Abwägung von der Fraktion der Linken zu erwarten, die auch mit diesem Antrag wieder einmal wohlfeile Forderungen in den Raum stellt, ohne
auch nur ansatzweise die Belastung der Rentenversicherung und ihrer Beitragszahler zu berücksichtigen.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist und bleibt die
Beitragssatzstabilität ein sehr wichtiges Ziel. Im Interesse der Beitragszahler - man kann auch sagen: der arbeitenden Bevölkerung - und im Interesse einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung darf dieser
Aspekt nicht aus dem Blick geraten.
Der demografische Wandel, der gern als Argument
für mehr Ausgaben im sozialen Bereich herangezogen
wird, erfordert, Ausgaben nur dort anzuheben, wo sie
sich tatsächlich als zwingend nötig erweisen. So können
Spielräume erhalten werden, die kommende Generationen noch dringend benötigen. Gerade die demografische Entwicklung ist also ein wichtiges Argument dafür,
Ausgabensteigerungen zu vermeiden. Der Reha-Deckel
ist aus gutem Grund als Instrument eingeführt worden.
Es ist die Frage, ob eine Ausgabensteigerung zum jetzigen Zeitpunkt notwendig ist.
Blicken wir also auf die vorgetragenen Argumente:
Die Linke verweist auf die steigende Anzahl älterer Beschäftigter. Das ist interessant! Die Redner der gleichen
Fraktion malen in diesem Haus ja bei anderen Gelegenheiten ein dramatisches Bild über die angeblich so
schlechte Beschäftigungssituation Älterer. Typischer
Fall von „Wie es gerade passt“. Dann folgt der Verweis
auf die „Rente erst ab 67“. Das ist verwunderlich, da es
die Rente mit 67 erst im Jahre 2029 geben wird und
selbst die ersten Schritte dahin noch keinerlei Auswirkung auf die aktuelle Ausgabensituation haben.
Weitere Argumente bringt die Linke nicht vor; sie
stellt lediglich ein angebliches „Spardiktat“ in den
Raum. Eine etwas seriösere Argumentation wäre angemessen. Und für die Bürger und Beitragszahler wäre es
angenehm, ein einziges Mal auch bei der Linken ein Bewusstsein dafür zu erahnen, dass Staat und Sozialkassen
ihr Geld nicht unbegrenzt ausschütten dürfen.
Wenn der Rehadeckel zu tief angesetzt ist, muss er gegebenenfalls angehoben werden. Wir sind bereit, diese
Möglichkeit jederzeit zu prüfen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Erhöhung in den nächsten Jahren
erforderlich wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das für uns
fraglich.
Im Übrigen kann ich mich durchaus mit dem Vorschlag meines Kollegen Peter Weiß anfreunden, die Formel für die Anpassung des Rehabudgets zu überarbeiten.
Das ist ein kreativer Ansatz, der zielführender ist als die
von den Linken geforderte vollständige Aufhebung des
Deckels.
Außer Frage steht die Bedeutung der Leistungen, um
die es hier geht, für medizinische Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben und Sicherung des Unterhaltes.
Die Ausgaben dafür liegen derzeit bei rund 5 Milliarden
Euro jährlich und werden entsprechend der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer fortgeschrieben. Das ist sachgerecht, auch
deswegen, weil die Rehabilitationsausgaben zu einem
erheblichen Teil Personalkosten sind. In den vergangenen 13 Jahren wurde die Ausgabenobergrenze durch die
Träger der DRV nicht überschritten. Im Jahr 2010 lagen
die Ausgaben bei 98,9 Prozent des Ansatzes.
Ich bestreite nicht, dass das knapp ist. Die Deckelung
hat aber den Zweck, einen überproportionalen Kostenanstieg zu verhindern. Erst wenn die Qualität der RehaLeistungen unter geänderten demografischen Verhältnissen nicht mehr gewährleistet bleibt, müssen wir über
Lösungen nachdenken, allerdings ohne die gesetzlich
festgelegten Beitragssatzziele der GRV - maximal
20 Prozent im Jahr 2020 und 22 Prozent im Jahr 2030 infrage zu stellen. Auch die aktuellen Spielräume zur
Senkung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung
sollten nicht gefährdet werden. Denn die Ausgaben für
Rehabilitation werden unmittelbar wirksam. Der Rehadeckel schafft einen dosierten „Druck im Kessel“, um
kreative Lösungen zu entwickeln.
Der vorliegende Antrag ist oberflächlich und greift zu
kurz. Wir lehnen ihn daher ab.
Wir müssen endlich weg von der irrwitzigen, ja an der
Lebenswirklichkeit der allermeisten Menschen weit vorbeigehenden Vorstellung, dass mit der Rente erst ab 67
die Menschen automatisch länger in guter Arbeit sein
werden. Die meisten schaffen es kaum bis 65. Das würde
sich auch dann nicht ändern, wenn jede und jeder genau
Zu Protokoll gegebene Reden
die Rehaleistungen erhielte, die sie oder er bräuchte, um
wieder fit für das Erwerbsleben zu sein. Reha muss sein!
Aber eine gute Reha ist keine Garantie für einen Job.
Und deshalb will die Linke beides: eine bedarfsgerechte
Reha und den sofortigen Abschied von der Rente erst ab 67!
Immer mehr Menschen beantragen eine Rehamaßnahme. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der
Rehaanträge um knapp 30 Prozent oder 476 000 auf
über 2 Millionen, 2 082 108, gestiegen. Wir haben es
also ganz deutlich mit einem steigenden Bedarf und
damit auch mit steigenden Kosten zu tun. Das hat dazu
geführt, dass das Rehabudget, also das für Rehamaßnahmen zur Verfügung stehende Geld, nahezu vollständig ausgegeben wird. Denn es ist leider nicht so, dass
mit dem steigenden und wohlgemerkt rechtmäßigen Bedarf auch mehr Geld zur Verfügung gestellt würde - mitnichten. Denn die gesetzliche Rentenversicherung darf
nur einen politisch willkürlich festgesetzten Betrag für
Rehaleistungen ausgeben - § 220 SGB VI. Das ist der
sogenannte Rehadeckel: Das verfügbare Rehabudget
orientiert sich nicht am Bedarf, sondern an der Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer.
Das ist doch absurd! Die Menschen werden doch nicht
gesünder, wenn die Löhne sinken! Da ist doch wohl eher
das Gegenteil der Fall! Dieser politisch motivierte Deckel dient allein der Leistungskürzung - und das ist nun
wirklich falsch!
Die Situation spitzt sich nun zunehmend zu: Der finanzielle Rahmen ist nahezu ausgeschöpft. Die Rentenversicherungsträger sind daher kaum noch in der Lage,
in ausreichendem Umfang Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Sicherung des Unterhaltes zu gewähren. Das Ziel, den
vorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitsleben zu verhindern
oder möglichst dauerhaft eine Wiedereingliederung zu
erreichen, kann nicht mehr im erforderlichen Umfang
erreicht werden. Herbert Rische, der Präsident der
Deutschen Rentenversicherung Bund, fordert deshalb
unmissverständlich, dass das System überdacht werden
müsse, „um sicherzustellen, dass die notwendigen Rehabilitationsleistungen auch wirklich erbracht werden
können“. Recht hat er!
Durch diesen Finanzierungsdeckel werden die Leistungen zur Teilhabe also nicht am tatsächlichen Bedarf
der Betroffenen bemessen. Vielmehr unterliegen diese
Maßnahmen einem politisch motivierten Spardiktat.
Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung hat das Problem zur Kenntnis genommen. Im jüngst veröffentlichten
Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kündigt die Bundesregierung
an, sie wolle „die Notwendigkeit einer Anhebung des
Reha-Deckels prüfen“. Doch im selben Atemzug formuliert Schwarz-Gelb unmissverständliche Bedingungen:
Dabei hält die Bundesregierung allerdings an ihrer
rentenpolitischen Grundentscheidung fest, dass
Ausgabensteigerungen im System der Rentenversicherung nicht zulasten der Generationengerechtigkeit gehen oder zu einer Gefährdung der gesetzlichen Obergrenzen für den Beitragssatz führen
dürfen.
Das heißt im Klartext doch nichts anderes, als dass
die Prüfergebnisse schon jetzt vollkommen egal sind.
Das ist die gleiche Logik, die auch heute schon dem Rehadeckel zugrunde liegt. Statt am Bedarf wollen CDU
und Liberale sich an der Beitragssatzstabilität orientieren. Statt den absurden Rehadeckel abzuschaffen, wollen Union und FDP ihn nur anders begründen. Die
Linke will, dass Union und FDP ihre Trickserei endlich
sein lassen - und zwar zum Wohle der Betroffenen!
Die Linke fordert deshalb die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Deckelung der
Rehaleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung
umgehend aufhebt und die Leistungen zur Teilhabe am
Bedarf der Betroffenen ausrichtet. Wir wollen, dass
Schluss ist mit der politischen Willkür in der Reha!
Reha vor Rente - dieser Grundsatz ist sinnvoll. Gute
Rehabilitation ist im Ernstfall die Voraussetzung für die
Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie
ist vor allem wichtig, wenn wir auf die Entwicklungen
schauen, die wir am Arbeitsmarkt in Zukunft zu erwarten haben. Die demografische Entwicklung wird zu einer
steigenden Zahl älterer Beschäftigter führen. Die Verlängerung des Erwerbslebens, die wir durch die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters haben werden, trägt
ebenfalls dazu bei. Der Bedarf an Rehabilitation wird
sich erhöhen. Im Antrag der Linksfraktion wird das ja
genau so formuliert.
Die Haushaltsmittel der gesetzlichen Rentenversicherung werden seit 1997 durch den § 220 im SGB VI, den
sogenannten Rehadeckel, begrenzt. Die jährlichen Ausgaben werden demnach entsprechend der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolohn- und -gehaltssumme je
durchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer festgesetzt. Das Rehabudget orientiert sich also an der Lohnentwicklung, nicht am Bedarf.
Zwei Drittel der Rehabilitationsausgaben der Deutschen Rentenversicherung liegen im Bereich der medizinischen Rehabilitation. Und für diesen Bereich muss
man feststellen, dass die Differenz zwischen der kontinuierlich ansteigenden Zahl der Rehabilitationsanträge
und der Zahl der Bewilligungen seit 2006 immer größer
geworden ist. Es werden im Verhältnis also weniger Anträge bewilligt, auch wenn die Zahl der bewilligten Anträge insgesamt leicht steigt.
Ganz offensichtlich steht die Rentenversicherung vor
dem Problem, die steigenden Ansprüche an ihre Leistungen im Rahmen ihrer Mittel zu bewältigen. Sie ist also
gezwungen, entweder weniger Anträge zu bewilligen
oder ihre Ausgaben für die einzelnen Rehabilitationsleistungen zu senken. Es gibt durchaus politisch sinnvolle Maßnahmen, die auch zu Kostensenkungen führen:
eine Schwerpunktlegung auf ambulante Leistungen oder
indem Leistungen flexibel auf individuelle Fälle abgestimmt werden. Nichtsdestotrotz steigt die Bedeutung
der Rehabilitation insgesamt. Rehabilitation wird wichtiger und muss entsprechend gesichert werden. Eine
Politik der Ausgliederung, wie sie die Bundesregierung
arbeitsmarktpolitisch faktisch betreibt, ist nicht zielfühZu Protokoll gegebene Reden
rend. Es muss den Menschen auch tatsächlich möglich
sein, entsprechend lange zu arbeiten. Die Rahmenbedingungen sind so zu setzen, dass niemand gezwungen ist,
in Frührente zu gehen, weil es keine Alternativen gibt.
Der politische Wille zur Anhebung des Rehadeckels
ist auf fast allen Seiten vorhanden: Nicht nur die Linke
fordert, die Rehabilitationsleistungen dem Bedarf entsprechend zu gewähren und mit dieser Zielvorstellung
auch die Regelung des § 220 SGB VI zu ändern. Auch
die Bundesregierung hat unter anderem in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention angekündigt, die Anhebung des Reha-Deckels zu
prüfen. Dass hier etwas geschehen muss, ist wenig kontrovers.
Eine Anhebung des Rehadeckels ist sinnvoll, sie reicht
aber nicht aus. Es sind Verfahren zur Ermittlung und Klassifizierung des Rehabedarfs zu entwickeln, um die Lücke
zwischen Anträgen und erfolgreichen Bewilligungen sinnvoll zu verringern. Die Bundesregierung muss darüber hinaus auch sicherstellen, dass entsprechend der Anforderungen, die sich aus dem demografischen Wandel und den
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, Rehabilitationsmaßnahmen zur Verfügung stehen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6914 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus
Grübel, Michaela Noll, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt,
Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Neue Perspektiven für Jungen und Männer
- Drucksachen 17/5494, 17/7088 Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Miriam Gruß
Till Seiler
Eine moderne Gleichstellungspolitik muss gezielt die
Unterschiede in den Lebensverläufen von Frauen und
Männern, von Mädchen und Jungen berücksichtigen.
Lange Zeit ist das Ziel der Gleichberechtigung vornehmlich durch frauenpolitische Maßnahmen verfolgt
worden. Aktuelle Entwicklungen haben jedoch gezeigt,
dass sich die Gleichstellungspolitik zusätzlich - dieses
Wort ist wichtig; ich spreche ausdrücklich nicht von
„ausschließlich“! - den Jungen und Männern zuwenden
muss.
In den letzten Jahren sind die Geschlechterrollen in
Bewegung geraten, und viele junge Männer sind auf der
Suche nach Perspektiven jenseits traditioneller Lebensentwürfe und stereotyper Erwartungen. Eine moderne
Gleichstellungspolitik muss diesen Entwicklungen Rechnung tragen - und entsprechend erweitert werden. Ziel
unserer Gleichstellungspolitik ist dabei aber nicht, bestimmte Lebensmodelle vorzuschreiben. Es geht vielmehr darum, neue Optionen zu eröffnen und tatsächliche Wahlfreiheiten zu gewährleisten.
Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang Anstrengungen im Bildungsbereich. Derzeit werden Jungen
häufig als Bildungsverlierer wahrgenommen - und nehmen sich teilweise auch selber so wahr. Die Gründe
hierfür sind vielfältig: Nur halb so viele Jungen wie
Mädchen sind beispielsweise zum Zeitpunkt der regulären Einschulung schulreif. Jungen wiederholen häufiger
eine Klasse als Mädchen und brechen die Schule häufiger ab. Im Lesen erzielen Jungen deutlich geringere
Kompetenzen als Mädchen. Das Risiko eines ungünstigen Bildungsverlaufs scheint insbesondere hoch zu sein
bei Jungen mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Familien.
Eine ausschließliche Fokussierung auf die eben vorgetragenen Tatsachen blendet jedoch aus, dass das Leistungsspektrum innerhalb der Gruppe der Jungen sehr
breit ist: Sowohl unter den schlechtesten als auch unter
den besten Schülern eines Jahrgangs finden sich überdurchschnittlich viele Jungen. Erfolgreiche Jungenpolitik muss daher potenzial- und lösungsorientiert sein.
Kindertageseinrichtungen und Schulen kommt als
Bildungs- und Erziehungseinrichtungen eine entscheidende Aufgabe zu. Hier könnten Jungen von der Anwesenheit männlicher Pädagogen profitieren. Entsprechend müssen diese Tätigkeitsfelder für junge Männer
weiter erschlossen werden. Junge Männer erhalten dadurch auch zusätzliche berufliche Perspektiven.
Auch in der Schule muss den besonderen Bedürfnissen von Jungen verstärkt Rechnung getragen werden.
Gleiches gilt für die Kinder- und Jugendarbeit, die Jugendsozialarbeit und die Migrationsarbeit.
Zusätzlich bedarf es in Gesellschaft und Wirtschaft
einer Anerkennung und Wertschätzung neuer männlicher Lebensentwürfe, die sich jenseits traditioneller
Vorstellungen und stereotyper Erwartungen bewegen.
Damit sind nach meinem Dafürhalten insbesondere
die folgenden Maßnahmen zu ergreifen:
Die Erweiterung des Berufswahlspektrums von Jungen und Männern, insbesondere mit Blick auf pflegerische Berufe, muss weiter vorangetrieben werden. Wichtig sind daneben flexible Arbeitszeitmodelle und
sogenannte Sabbaticals, um auch Vätern zu ermöglichen, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Zielführend
sind in diesem Zusammenhang auch Maßnahmen im
Rahmen des Aktionsprogramms „Perspektive Wiedereinstieg“.
Eines möchte ich abschließend nochmals ausdrücklich betonen: Es ist nicht unsere Intention, die Jungenförderung zulasten der Förderung von Mädchen und
Frauen zu betreiben - entgegen den Unterstellungen der
Oppositionsparteien. Es geht uns vielmehr darum, beiden Geschlechtern Chancen zu geben und sie entsprechend ihrer jeweils spezifischen Bedürfnisse zu fördern.
„Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ - der
Titel unseres Antrags hat viele, als sie ihn zum ersten
Mal gehört haben, sicher überrascht. Denn während
über Förderung von Mädchen und Frauen seit Jahrzehnten - zu Recht - diskutiert wird, wurde die Frage,
was wir für Jungen und Männer tun müssen, lange nicht
gestellt, in meinen Augen viel zu lange nicht. Dies wollen wir nun mit unserem Antrag ändern.
Viele fragen sich jetzt vielleicht: Warum wollen wir
das ändern? Warum sollten wir Jungen und Männer fördern, wenn Frauen noch immer weniger verdienen, in
den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen in
der Minderzahl sind und noch immer die Hauptverantwortung für Kindererziehung und Haushalt tragen? Darauf lässt sich ganz einfach antworten: weil Handlungsbedarf besteht. Dies haben meine Kleine Anfrage aus
dem Jahr 2004 und die Kleine Anfrage der FDP aus dem
Jahr 2008 hinlänglich bewiesen.
Zudem haben Studien belegt, dass die Mädchen die
Jungen in vielen Bereichen abgehängt haben. Zuletzt hat
die 16. Shell-Jugendstudie „Jugend 2010“ gezeigt, dass
Mädchen ihre männlichen Altersgenossen bei der Schulbildung überholt haben. Auch machen sie die besseren
Hochschulabschlüsse. Dieser Vorsprung gilt aber nicht
nur für die Bildung, sondern auch für andere Bereiche.
So sind Jungen zum Beispiel stärker von Verhaltensauffälligkeiten betroffen als Mädchen.
An dieser Stelle ist es mir sehr wichtig, nicht falsch
verstanden zu werden. Deshalb möchte ich es hier noch
einmal ganz ausdrücklich betonen: Ich freue mich darüber, dass die Gleichberechtigung so große Fortschritte gemacht hat. Ich freue mich über jede junge
Frau, die nach einem hervorragenden Schulabschluss
einen ebenso hervorragenden Hochschulabschluss
macht, der ihr alle beruflichen Möglichkeiten eröffnet.
Und ich würde mir wünschen, dass diese jungen, gut
ausgebildeten und selbstbewussten Frauen die gleichen
beruflichen Chancen hätten wie die meisten Männer,
dass sie sich nicht mehr den Kopf an der Gläsernen Decke stoßen oder sich mit weniger Geld zufriedengeben
müssten.
Dass bei den Mädchen und Frauen weiterhin Handlungsbedarf besteht, heißt ja nicht gleichzeitig, dass wir
die Jungen und Männer vergessen dürfen. Unser Ziel ist
es, beiden Geschlechtern gerecht zu werden. Denn beide
haben Förderbedarf, nur eben zu unterschiedlichen Zeiten: Frauen später - beim beruflichen Aufstieg und Wiedereinstieg -, Männer bzw. Jungen eben früher, nämlich
in den Kindertageseinrichtungen, Schulen und beim
Übergang in den Beruf. Ich denke, dies wird kaum jemand bestreiten wollen.
Mir ist es deshalb ein Rätsel, warum unser Antrag
- und das Thema generell - vor allem bei der SPD auf
Ablehnung stößt. Immer wieder wird mehr oder weniger
deutlich unterstellt, dass wir uns mit unserer Jungenpolitik gegen die Mädchen wenden. Diesen Skeptikern
halte ich entgegen, dass sie nicht wahrhaben wollen,
dass sich die Lebenswelten von Jungen und Männern geändert haben und dass sich Jungen- und Mädchenpolitik
ergänzen muss, um sinnvoll zu sein. Wir wollen kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Denn wie sollen junge Menschen Partnerschaften führen und Familien gründen, wenn sie nicht zueinanderfinden und sich
nicht auf Augenhöhe begegnen können? Ich befürchte,
dies könnte schwierig werden, wenn wir Gleichstellungspolitik weiterhin als Gegeneinander und nicht als
Miteinander begreifen.
Meine Überzeugung, dass wir uns auch den Jungen
und Männern zuwenden müssen, resultiert aber nicht
nur aus der Lektüre von Studien. Ich bin in meinem
Wahlkreis häufig von Eltern und Lehrern angesprochen
worden, die mir von ihren Erfahrungen und Beobachtungen berichtet haben. Erst vor einigen Wochen habe
ich mit zwei Lehren gesprochen, die sich zu JungenCoaches haben ausbilden lassen, weil sie in ihrer tagtäglichen Arbeit gemerkt haben: Es besteht Bedarf an
einer besonderen Arbeit mit Jungen, Bedarf, Jungen bei
der Entwicklung eines positiven männlichen Selbstbildes zu begleiten und in ihrem Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich und anderen zu stärken. Ihr Erfolg
gibt den beiden Lehrern recht.
Sprechen Sie doch auch einmal mit Lehrern und Eltern von Söhnen! Ich bin überzeugt, dass auch Sie von
diesen die Antwort bekommen werden: Jungen brauchen
eine gesonderte Aufmerksamkeit und eine besondere Ansprache.
Zudem habe ich Gespräche mit Verbänden und Vereinen geführt, die seit Jahren in der Jungenförderung aktiv sind und immer wieder auf einen akuten Handlungsbedarf hinweisen. Die Vereine sind übrigens ebenfalls
der Meinung: Hier geht es nicht darum, den Mädchen
und Frauen etwas streitig zu machen, sondern es geht
darum, den Blickwinkel auf die Jungen und Männer zu
erweitern.
Jetzt habe ich zusätzlich Rückendeckung aus Europa
bekommen. Auch die EU hat das Thema „Männer und
Gleichstellung“ aufgegriffen und eine entsprechende,
von Workshops begleitete Studie, in Auftrag gegeben.
Auch auf europäischer Ebene wurde erkannt, dass
Chancengleichheit nur erreicht werden kann, wenn wir
die Männer mit an Bord holen.
Natürlich hängen viele der Befunde, die darauf hinweisen, dass die Mädchen die Jungen überholt haben,
nicht nur mit dem „Jungensein“ zusammen. Selbstverständlich spielen die soziale Herkunft und das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines Migrationshintergrunds ebenfalls eine große Rolle. Aber das Risiko
eines ungünstigen Bildungsverlaufs scheint höher, wenn
ein Junge einen Migrationshintergrund hat und aus einer bildungsfernen Familie stammt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich bin deshalb sehr dankbar, dass sich Familienministerin Dr. Kristina Schröder der Förderung von
Jungen verschrieben hat. Das Familienministerium entwickelt im Rahmen seiner Gleichstellungspolitik eine
eigenständige Jungen- und Männerpolitik und setzt
spezielle Projekte für Jungen und Männer um. Exemplarisch sei hier die Einberufung eines Jungenbeirats genannt. Aber auch schon unter Familienministerin
Dr. Ursula von der Leyen wurden in der letzten Legislaturperiode wichtige Projekte auf den Weg gebracht, wie
zum Beispiel das Projekt „Neue Wege für Jungs“.
Auch mit unserem Antrag verfolgen wir das Ziel, einseitige Geschlechterrollen in Beruf und Familie zu überwinden und den Jungen auf die Sprünge zu helfen. Hierfür haben wir 19 Forderungen formuliert, aus der ich
aus aktuellem Anlass eine herausgreifen möchte:
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat vor
einigen Tagen die erste repräsentative Studie zum
Thema Onlinesucht vorgestellt. Diese belegt, dass die
Sucht nach Onlinespielen verstärkt bei Jungen auftritt.
Das ist problematisch, da Untersuchungen gezeigt haben, dass erhöhter Computerspielekonsum zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann und zu einem
gefährlichen Rückzug der Jungen aus der realen in eine
virtuelle Welt. Zudem geht übermäßiger Medienkonsum
oft mit schwächeren Lese- und Sprachkompetenzen einher und wirkt sich negativ auf die schulischen Leistungen aus.
In unserem Antrag fordern wir deshalb die Weiterentwicklung von medienpädagogischen Projekten für Jungen, um deren Medienkompetenz zu stärken. Und auch
die pädagogischen Fachkräfte müssen besser geschult
werden, um kompetent auf die Risiken, die von einem
erhöhten Konsum von Onlinespielen ausgehen können,
reagieren zu können.
Männer wollen den Gleichstellungsprozess mitgestalten und eingebunden werden, damit sich auch ihnen
neue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen. Diese
Chance sollten wir ihnen geben. Denn, wie es Kai
Gehring von den Grünen bei der ersten Lesung dieses
Antrags auf den Punkt gebracht hat:
Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nur mit
Frauen und Männern gemeinsam gestalten. Denn
Männer sind Partner für die Gleichstellungspolitik.
Geschlechterpolitik ist in der Vergangenheit vor allem von Frauen initiiert und getragen worden, und
Frauen haben schon eine Reihe von Verbesserungen für
sich erstritten. Das ist auch gut so. Zunehmend melden
sich heute auch Männer und Väter zu Wort und setzen
sich für ihre Interessen ein. Auch das ist gut so. Frauen
und Männer haben in der Geschlechterpolitik viele gemeinsame Ziele. Männliches geschlechterpolitisches
Engagement muss keineswegs automatisch zu feindlicher Abgrenzung gegenüber Fraueninteressen oder dem
Feminismus führen.
Es ist nicht zielführend, eine Geschlechterpolitik zu
etablieren, die auf den Geschlechterkampf ausgelegt ist,
die Männer und Frauen gegeneinander ausspielt.
Gleichstellungspolitik muss beide Geschlechter im Blick
haben.
Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik war
schon immer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingungen eines jeden Kindes und Jugendlichen unabhängig
vom Geschlecht zu verbessern und auf Chancengleichheit hinzuwirken. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion
wollen Geschlechterstereotype überwinden und nicht
manifestieren.
In dem schwarz-gelben Antrag wird von Jungen als
Bildungsverlierern gesprochen; sie seien bei der regulären Einschulung häufiger nicht schulreif, sie würden
häufiger die Klasse wiederholen und brächen die Schule
häufiger ab als Mädchen. Dabei hält es die Bildungsforschung für falsch, männliche Schüler pauschal als Verlierer zu betrachten. Sehr differenziert setzt sich mit dieser Behauptung die Expertise „Schlaue Mädchen dumme Jungen?“ auseinander, die unter Federführung
des Deutschen Jugendinstituts entstand. Kriterien wie
die soziale Schicht oder eine Zuwanderungsgeschichte
haben danach eine größere Bedeutung als die Geschlechtszugehörigkeit.
Die Schlüssel, um die Bildungsbenachteiligung auszugleichen, sind längeres gemeinsames Lernen, Ganztagsschulen und frühe Förderung. Das hilft benachteiligten Jungen und Mädchen gleichermaßen. Das von
Rot-Grün auf den Weg gebrachte Ganztagsschulprogramm war daher immens wichtig. Auch der Ausbau der
Kitas sowohl quantitativ als auch qualitativ ist dabei ein
wichtiger Weg. Unsere Kitas haben als Bildungseinrichtungen eine besondere Bedeutung.
Es ist bekannt, dass der Kinderbetreuungsausbau
nicht in dem Maße voranschreitet, wie er sollte. Vielen
Kommunen fehlt schlichtweg das Geld. Doch widmet
sich die Bundesregierung diesem Problem? Beruft sie
einen Krippengipfel ein und überlegt, wie sie den Kommunen helfen kann? Nein, davon ist in diesem Antrag
nichts zu finden. Im Gegenteil, die CDU/CSU-Fraktion
hält immer noch an der unsäglichen Idee des Betreuungsgeldes fest.
Was ist das für eine Idee, Geld dafür zu bekommen,
dass eine Leistung nicht in Anspruch genommen wird,
eine Prämie dafür, dass Kinder von guten Angeboten
früher Bildung ferngehalten werden? Für benachteiligte
Jungen und Mädchen bedeutet die Einführung des Betreuungsgeldes schlichtweg das Aus für frühkindliche
Bildung. Eine frühe Sprachförderung würde für sie nicht
mehr stattfinden. Zudem stellt das Betreuungsgeld ein
Hindernis für einen raschen Einstieg beziehungsweise
Wiedereinstieg in das Erwerbsleben dar. Die Union verfestigt damit alte Rollenverteilungen im Familienalltag.
Es ist wesentlich sinnvoller, die für das Betreuungsgeld
vorgesehenen 2 Milliarden Euro in den Aus- und Aufbau
von Krippen- und Kindergartenplätzen zu investieren.
Aber die Bundesregierung geht noch weiter. Sie
streicht und kürzt im Kinder- und Jugendplan des Bundes für 2012 Maßnahmen zur Gleichstellung von Jungen
und Mädchen, zur Integration junger Menschen mit MiZu Protokoll gegebene Reden
grationshintergrund und zur sozialen und beruflichen
Integration junger Menschen sowie zur Inklusion junger
Menschen mit Behinderungen. Diese Politik lässt Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zurück. Und
hier macht die SPD-Bundestagsfraktion nicht mit.
Einzelne Zielrichtungen des Antrags begrüßen wir. So
begrüßen wir zum Beispiel Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, die EU-Zielmarke „20 Prozent Männer
als Erzieher“ zu erreichen. Auch die Handlungsempfehlungen des Gleichstellungsberichts fordern ein ausgewogenes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen pädagogischen Fachkräften, einschließlich einer
Erhöhung des Anteils männlicher Pädagogen in Kindertagesstätten und in der Grundschule, allerdings klar
verbunden mit der Vermittlung von Kompetenzen einer
geschlechtsbewussten Pädagogik. Das Projekt „MEHR
Männer in Kitas“ lässt jedoch den Aspekt der Vermittlung von Kompetenzen einer geschlechtsbewussten Pädagogik außen vor, es greift daher eigentlich zu kurz.
Auch das Ziel, Männer in ihrer Aufgabe als Väter zu
stärken, teilen wir. Nur wollen wir eine echte Förderung
und nicht nur die Förderung von einzelnen kleinen Väterprojekten, wie im Antrag gefordert. Wir schlagen eine
Stärkung der Partnermonate beim Elterngeld vor. Bereits in der Großen Koalition gab es ja die Idee, die
Partnermonate von zwei auf vier auszuweiten.
Diese Forderung findet sich auch in der Koalitionsvereinbarung von CDU, CSU und FDP wieder. Aber hat
die Bundesregierung hier etwas getan? Hat sie Geld in
die Hand genommen und wirklich etwas verändert?
Nein, Fehlanzeige, gestrichen und ad acta gelegt wegen
Geldmangels! Der Einsatz der Bundesministerin dafür
ist gleich null.
Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den Antrag von CDU/CSU und FDP ab.
Wenn man den vorliegenden Antrag der Koalition
liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Deutschland seit Jahrzehnten vom Matriachat geprägt ist. Für
die Bundesregierung mag das derzeit vielleicht stimmen,
aber sicherlich nicht für die breite Gesellschaft.
Es ist ja schön, dass in der Koalition nun die geschlechtsspezifische Arbeit entdeckt wurde. Doch leider
ist dort noch nicht angekommen, dass beide Geschlechter eine Rolle spielen. Der Antrag zeigt, dass die Bundesregierung in puncto Geschlechtergerechtigkeit eher
Rück- statt Fortschritte macht.
Gender Mainstreaming ist seit der UN-Frauenkonferenz in Peking im Jahr 1995 - an der ich teilnehmen
konnte - ein internationales Instrument der Gleichstellung. Als solches wurde es in der EU und ihren Mitgliedsländern eingeführt. Laut offizieller Website des
Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und
Jugend basiert diese Strategie - ich zitiere - „auf der
Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt und Männer und Frauen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen und administrativen Entscheidungen betroffen sein können. Das Leitprinzip
Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet die politischen
Akteure, bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse von Frauen und Männern zu
analysieren und ihre Entscheidungen so zu gestalten,
dass sie zur Förderung einer tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter beitragen.“
Angesichts dieser Aussagen kann ich es nicht verstehen, wie dieser Antrag und das Ansinnen im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP zustande kam, jetzt einseitig Jungen- und Männerarbeit zu fördern. Der Antrag
hat sogar eher den Duktus, die Geschlechter zulasten
der Frauen auseinanderzudividieren.
Doch nun zu einigen Details aus dem Antrag. Wie
ernst ist es der Koalition überhaupt mit ihrem Ansinnen?
Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Rahmen der
zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel neue Impulse
zu setzen. Wie soll das ohne zusätzliche Mittel gehen?
Oder hofft man darauf, dass an anderer Stelle, am besten noch bei den Mitteln zur Frauenförderung, gestrichen wird?
Mehrfach wird im Antrag gefordert, dass Männer vor
allem in die Arbeitsfelder gebracht werden müssen, in
denen sie bisher unterrepräsentiert sind. Ich frage: Warum sind sie gerade in den Bereichen der Erziehung unterrepräsentiert? Vielleicht weil hier die Bezahlung besonders unattraktiv ist!? Daher sollten wir einmal
darüber diskutieren, warum insbesondere bei Berufen
mit einem hohen Frauenanteil nach wie vor die Bezahlung relativ bescheiden ist! Das hat relativ wenig mit
Jungen- und Männerpolitik zu tun.
Es ist zwar nett zu lesen, dass erzieherische und pflegerische Berufe mit Blick auf Weiterqualifizierung und
Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Berufen attraktiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbessert
werden müssen. Doch viel notwendiger brauchen wir
mehr Qualität und bundesweite Standards in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Darüber hinaus
müssen wir darüber reden, wie die Träger von Kitas, die
Kommunen, überhaupt in die Lage versetzt werden,
mehr Personal für die Kinderbetreuung anzustellen. Nur
wenn es überhaupt Erzieherinnen und Erzieher vor Ort
gibt, können sie auch geschlechtsspezifisch arbeiten.
Wer vorherrschende Rollenmuster durchbrechen will
und mehr Geschlechtergerechtigkeit will, muss bereits
bei der frühkindlichen und schulischen Bildung ansetzen. Doch hier liegt dank dieser Bundesregierung einiges im Argen.
Die soziale Herkunft spielt noch immer eine zu große
Rolle für den Bildungserfolg, viel mehr, als es das Geschlecht spielt. Ich finde es daher unerhört, dass im Koalitionsantrag Jungen als Bildungsverlierer benannt
werden und man glaubt, durch Ermunterungen die Situation zu verbessern. Die neueste PISA-Studie zeigt,
dass ein sozial ungünstiges soziales Umfeld in keinem
anderen Land zu so starken Leistungsverlusten bei den
Schülerinnen und Schülern führt wie in Deutschland.
Das ist bildungspolitisch unverantwortlich und zutiefst
ungerecht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Marianne Schieder ({0})
Daher brauchte es ein Zusammenwirken von Bund,
Ländern und Kommunen, die Situation zu verbessern,
statt die Geschlechter auseinanderzudividieren und vermeintlich geschlechtsspezifische Appelle an die Bundesländer zu richten.
Die Liste der sonderbaren Forderungen aus dem Antrag ließe sich leider noch eine ganze Weile fortführen.
Doch ich denke, es ist bereits mehr als deutlich geworden, warum dieser Antrag keine Unterstützung verdient.
Aus meiner Sicht ist dieser Antrag lediglich ein Gefallen der Koalition für ihre Frauenministerin, die entgegen ihrer eigentlichen Aufgabe mit der Forderung
nach mehr Jungen- und Männerarbeit Schlagzeilen machen will. Diesem Ansinnen mit weitreichenden Folgen
für unsere junge Generation dürfen wir nicht entgegenkommen. Vielmehr brauchen wir eine echte Verbesserung der geschlechtsspezifischen Arbeit und einen Ausbau der Bildung für junge Menschen.
Aus diesem Grund lehnt die SPD-Bundestagsfraktion
den Antrag von CDU/CSU und FDP ab.
Die Welt dreht sich weiter. Waren es früher ausschließlich Mädchen und Frauen, die im Mittelpunkt der
Gleichstellungspolitik standen, haben wir jetzt unseren
Fokus erweitert: Eine moderne Gleichstellungspolitik
berücksichtigt auch die spezifischen Bedürfnisse von
Jungen und Männern. Die heutige Gesellschaft fordert
von ihnen heute schließlich teilweise größere Anpassungsprozesse als von Frauen.
Es ist längst überholt, dass wir ein Geschlecht bevorzugen und einseitige Förderung fordern. Nicht zuletzt
deshalb reden wir heute über einen Antrag der FDP und
der Union, der sich mit der Gleichstellung von Jungen
und jungen Männern in unserer modernen Gesellschaft
beschäftigt.
Diese Regierung ist die erste, die bei diesem Thema
umfassend aktiv geworden ist. Im Koalitionsvertrag haben wir uns zum Ziel gesetzt, eine eigenständige Jungenund Männerpolitik zu entwickeln und bereits bestehende
Projekte in dieser Richtung fortzuführen.
„MEHR Männer in Kitas“, der „Boys Day“ und die
Unterstützung diverser Väterprojekte sind gute Beispiele dafür, was wir unter einer Gleichstellungspolitik
verstehen, die sich nicht von falschen Rollenklischees
bremsen lässt, sondern ganz ideologiefrei den jeweils
spezifischen Handlungsbedarf bei beiden Geschlechtern
erkennt.
Es geht in dieser Diskussion letztlich um die Frage,
wie wir werden, was wir sind. Warum gibt es beispielsweise nur wenige Ingenieurinnen oder Maschinenbauerinnen? Oder warum gibt es so wenige männliche Erzieher, Grundschullehrer oder Pfleger?
Ich bin der Überzeugung, dass wir durch eine intensive Förderung und Bildung von klein auf, jenseits von
Rollenklischees, die einzelnen Stärken und Schwächen
der Menschen besser entdecken können. Im Übrigen ist
es auch unter dem Aspekt des drohenden Fachkräftemangels notwendig, möglichst viele Menschen auf möglichst viele Berufsfelder vorzubereiten. Wir können es
uns schlicht nicht mehr leisten, wenn junge Männer auf
der Strecke bleiben.
Bislang galten Jungen häufig als Verlierer in der Bildungspolitik. Laut der PISA-Studie 2009 sind Jungs
beim Lesen deutlich schlechter als Mädchen und müssen
außerdem öfter Klassen wiederholen. Zudem brechen sie
häufiger die Schule ab. Besonders hoch ist das Risiko
bei Jungen mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien. Im Durchschnitt machen aber
auch 21,6 Prozent weniger Männer das Abitur als
Frauen.
Wir möchten keinen negativen Diskurs über ein „Sorgenkind Junge“ führen, sondern Stereotype aufbrechen.
Teil unseres Antrags ist deshalb zum Beispiel die Forderung, sich bei den Bundesländern für geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz von Jungen einzusetzen.
Wir wollen junge Männer auch für sogenannte typisch weibliche Berufe interessieren, beispielsweise als
Pfleger oder Erzieher. Gerade in der frühkindlichen Bildung ist es wichtig, dass Kinder beide Geschlechterrollen erleben können. Eine Studie des Statistischen Bundesamts zeigt, dass der Anteil von Männern als Erzieher
und Tagesväter mit 3,5 Prozent Anteil zwar sehr gering
ist. Allerdings sind im Jahr 2010 schon 15 400 Männer
mit pädagogischer Betreuung befasst gewesen und damit fast 40 Prozent mehr als in 2007.
Auch in den Schulen muss dieser Bildungsansatz weitergehen, so durch die besondere Förderung der Bedürfnisse der Jungen. Nur so kann sich ein Aufbruch von Stereotypen auch in der Gesellschaft fortsetzen,
beispielsweise in der Familie, der Partnerschaft oder
dem Beruf.
Wir als FDP wollen keinen Geschlechterkampf, sondern einen Geschlechtertanz! Das ist auch Leitlinie dieses Antrags, der die Grundlage für einen weiteren Ausbau der Jungen- und Männerpolitik darstellen wird und
für den ich deshalb um breite Zustimmung bitte.
Man muss eingestehen: Sie haben schon besorgniserregendere Anträge vorgelegt! Im Grundsatz befürwortet
Die Linke eine Jungen- und Männerpolitik, denn jedes
Kind und jede bzw. jeder Jugendliche - egal, welchen
Geschlechtes, welcher Herkunft, welcher Weltauffassung und unabhängig von seiner oder ihrer sexuellen
Identität - muss bestmöglich in seiner Entwicklung gefördert und auf seinem Lebensweg unterstützt werden.
Will die Regierung neue Gruppen in eine Förderung einbeziehen, so ist das zunächst einmal zu begrüßen.
Wer Ihren Antrag jedoch im Detail liest, wird einige
Fragezeichen setzen müssen. Wer ihn im Einzelnen studiert, kommt unweigerlich nicht um einige kritische Fragen und Einwände herum. Warum? Jede Politik der Förderung muss emanzipatorisch sein. Sie sollte bestehende
Machtverhältnisse kritisieren und hinterfragen. Bei genau diesem Punkt liegt bei Ihrem Antrag die Krux. Denn
Zu Protokoll gegebene Reden
dies tut Ihr Antrag nach meiner Einschätzung nicht. Ihr
Antrag darf einerseits nicht dazu führen, dass eine Jungenförderung auf Kosten der bestehenden Frauen- und
Mädchenförderung stattfindet. So selbstverständlich
dies sein sollte, so wichtig scheint es mir angesichts einer Reihe öffentlicher Äußerungen der Ministerin in der
Vergangenheit zu sein, nochmals nachdrücklich auf diesen Punkt zu verweisen. Sie darf auch nicht dazu führen,
dass bestimmte Männlichkeits- und Rollenbilder auf
Kosten anderer gefördert werden, dass eben genau jene
Jungen nicht gefördert werden, die einer Unterstützung
bedürften, zum Beispiel weil sie aufgrund ihrer sexuellen Neigung öffentlich diskriminiert werden. Ich habe
hier gewisse Befürchtungen - nicht zu Unrecht, wie ich
denke.
Aber zunächst einmal ist festzuhalten, dass Sie in Ihrem Antrag eine große Zahl von Forderungen aufstellen,
die meine ausdrückliche Unterstützung verdienen. Sie
wollen zum Beispiel mehr Männer für Erzieherberufe
gewinnen. Dies wird helfen, alte Stereotype in der Arbeitswelt zu durchbrechen. Und das ist wirklich gut so.
Sie wollen Männer in ihren Aufgaben als Väter stärken.
Zweifelsohne ist dies ein wichtiger Punkt, der angegangen werden sollte. Sie stellen zudem eine Forderung
nach neuen und weiteren wissenschaftlichen Studien
auf. Es kann nie schaden, zu wissen, was der Patient hat,
bevor man ihn behandelt. Des Weiteren wollen Sie bei
der Elternarbeit verstärkt die Väter einbinden. Es ist
kaum notwendig, zu erwähnen, dass dies überfällig ist.
Und schließlich ist es insgesamt für unsere Gesellschaft
gewinnbringend, wenn eine Politik für junge Menschen
aus vielen unterschiedlichen Perspektiven zusammengeführt und gebündelt wird. In all diesen Punkten bin ich
ganz auf Ihrer Seite.
Jedoch ist das nur die eine Seite der Medaille. Die
andere, weniger schöne Seite zeigt sich, wenn man genauer hinsieht, zwischen den Zeilen liest und sie in den
Kontext Ihrer Wertevorstellung und Weltansicht stellt.
Das erschließt sich, wenn man die vielen Äußerungen
der Bundesfrauenministerin Kristina Schröder heranzieht, die wir alle kennen und die dazu geeignet sind, den
Antrag in den Zusammenhang Ihrer politischen Absichten zu stellen.
Frau Schröder, zunächst eine Anmerkung: Man wird
das Gefühl nicht los, dass Sie verzweifelt nach einem
konservativen und öffentlichkeitswirksamen Markenkern Ihrer Regierungszeit suchen. Sie glauben scheinbar, diesen in der Jungenpolitik gefunden zu haben. Ich
hege den Verdacht, dass Sie, die Sie immerhin die Frauenministerin sind, mit einem neuen Thema von Ihrer
Blockadehaltung in der Frauenpolitik ablenken wollen.
Immer stärker rücken Sie die Belange von Jungen und
Männern in den Fokus, Sie schreiben sie im Koalitionsvertrag fest und wenden sich gleichzeitig von der Mädchenpolitik ab. Jungenpolitik muss aber die Mädchenpolitik sinnvoll ergänzen. Sie darf sie nicht - nicht
einmal im Ansatz - verdrängen. Die strukturell verankerte Benachteiligung vieler Mädchen ist nicht zu leugnen, und ihre Beseitigung muss unsere zentrale Aufgabe
bleiben. Es sollte also darum gehen, eine zusätzliche
Förderung zu schaffen, ein Miteinander von Mädchenund Jungenpolitik auf die Beine zu stellen! Es muss ein
Miteinander und kein Gegeneinander geben! Das kann
ich bei Ihnen aber nicht erkennen.
Zwar deuten Sie die Notwendigkeit eines ergänzenden Miteinanders in dem Feststellungsteil Ihres Antrags
an. Die in dem Antrag aufgestellten Forderungen beziehen sich aber nur auf männliche Kinder, Jugendliche
und Erwachsene. Den Andeutungen folgen keine Taten.
Gleichzeitig entziehen Sie in der Förderpraxis heimlich,
still und leise den Mädchenprojekten im Kinder- und Jugendplan Gelder und weisen sie den Jungenprojekten
zu. Die kritische Frauenforschung hat mit Regelmäßigkeit darauf hingewiesen, dass Frauen und ihre Anliegen
im politischen Prozess nicht voll repräsentiert werden.
Ich bitte Sie, das Klischee der Frau als nicht repräsentiertes Geschlecht, sollte gerade von dem Ministerium,
das sich um Gleichstellung bemühen soll, nicht bedient
werden.
Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungskoalition, muss ich Sie denn tatsächlich daran erinnern,
dass eine Frauen- und Mädchenförderung immer noch
vordringlich ist, dass sie wirklich weiterhin politisch
ganz weit oben auf der Agenda stehen muss? Muss ich
Sie an all die tief verankerten Benachteiligungen von
Frauen in unserer Gesellschaft erinnern, zum Beispiel
im Bildungssystem oder in der Arbeitswelt, dass prestigeträchtige Berufe immer noch vor allem von Männern
dominiert werden, dass sogenannten Frauenjobs nach
wie vor ein geringer gesellschaftlicher Status zugeschrieben wird, dass Frauen weniger verdienen, nur selten in Aufsichtsräten und auf Chefposten anzutreffen
sind, dass Frauen im Durchschnitt trotz gleicher Bildung als unqualifizierter eingestuft werden, weil die
Frauendomänen des Arbeitsmarktes im gesellschaftlichen Wertesystem einen geringeren Status haben?
Solche Statuszuschreibungen erschweren die Aufstiegschancen vieler Frauen. Diese Rollenmuster können dazu führen, dass Frauen ihre eigenen Fähigkeiten
geringer schätzen. Nach wie vor ist es gang und gäbe,
dass die sogenannten „Old Boys Networks“ Frauen
spätestens in der Mitte ihrer Karriereleiter stoppen.
Ähnliches lässt sich beispielsweise über die Situation
von Mädchen in der Ausbildung sagen: Weibliche Auszubildende bekommen eine geringere Ausbildungsvergütung, arbeiten oftmals unter schlechteren Bedingungen, machen regelmäßiger Überstunden, erhalten
seltener Überstundenausgleiche. Ihre Wünsche bezüglich des Urlaubszeitpunkts werden wesentlich seltener
berücksichtigt.
Die Liste an solchen Beispielen könnte ich endlos
verlängern. Sie sind in zahlreichen Studien erforscht
worden und auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Sie prägen den Alltag von Mädchen und Frauen in fast
allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Aber
dennoch gibt es in der BRD bis dato keine umfassende
politische Strategie zur Überwindung dieser Benachteiligungen, sondern nur Flickwerk.
Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich besonders irritiert. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die anZu Protokoll gegebene Reden
geblich zu hohe Zahl von Frauen in Erziehungs- und Bildungsberufen problematisch finden, da dadurch - ich
zitiere - „positive Vorbilder“ für Jungen fehlen würden,
sogenannte „moderne männliche Rollenvorbilder“, wie
es Ihr Ministerium bezeichnet. Frau Schröder, müssen
nach Ihrer Auffassung Vorbilder für Jungs „echte
Kerle“ sein, wie man es in gewissen Kreisen ausdrückt?
Gibt es nicht ganz verschiedene männliche Rollenbilder? Und sind sie nicht alle gleich viel Wert? Können
Frauen nicht für Jungs eine wertvolle Identifikation ermöglichen? Muss nicht gerade auch Jungen und Männern Geschlechterdemokratie, Gleichbehandlung und
die Vielfalt der Lebensweisen vermittelt werden? Sollte
es nicht gerade auch darum gehen, die Männlichkeit in
traditioneller Form aufzubrechen und alle Lebensformen, gerade auch beispielsweise der Homosexualität, in
einem Projekt, das Jungen fördern will, positiv zu berücksichtigen? Ich denke schon! Ihr Vorschlag weist
aber all diese Lücken und Blindflecken auf.
Frau Schröder hat ihre altmodische Sicht auf Geschlechterrollen in einen „SPIEGEL“-Interview vom
8. November 2010 dargelegt. Dort giftete sie: „Jungs,
die bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen, bekommen oft, bis sie zwölf Jahre alt sind, weder in der Kita
noch in der Grundschule einen Mann zu Gesicht“. Offensichtlich ein Skandal für sie. Das Zitat von ihr ist
nicht weniger als ein unerträglicher Angriff auf all die
wundervollen Regenbogenfamilien und die vielen alleinerziehenden Frauen in diesem Land, die sich Tag für Tag
hingebungsvoll und gegen all die widrigen Umstände in
Beruf und Alltag um ihre Kinder kümmern.
Ich halte es des Weiteren nicht für hilfreich, Jungs zu
den sogenannten Sorgenkindern der Bildung zu erklären. Denn es ist eben nicht so, wie uns die schwarz-gelbe
Regierung weismachen will, dass Jungs per se schlechter in der Schule sind und deshalb hilfebedürftig sind ebenso wenig wie angeblich „die“ Mädchen.
Die Verliererinnen und Verlierer des Bildungswesens
in der BRD zu identifizieren, erfordert Differenzierungsvermögen. Auf jeden Fall gilt es, ins Auge zu nehmen,
was Thema unzähliger Studien der letzten Jahre war,
nämlich, dass es vor allem sozial benachteiligte und
arme Kinder und Jugendliche sind, die schlechtere
Chancen auf Bildung und späteren beruflichen Erfolg
haben. Da müssten Sie politisch den Hebel ansetzen!
Diesen Punkt im allerletzten Abschnitt ihres Antrags zu
verstecken, dort auszuführen, hier „gegebenenfalls
nachjustieren“ zu wollen, ist unzureichend und wird
dem Problem keinesfalls gerecht, nicht einmal im Ansatz!
In diesem Land, in der reichen BRD, ist mittlerweile
jeder fünfte Jugendliche von Armut bedroht. Es besteht
also ein großer sozial-, jugend- und familienpolitischer
Handlungsbedarf. Dabei sollten wir festhalten: Nur eine
fröhliche und unbelastete Jugend ist eine wirkliche Jugend! Allen jungen Menschen müssen durch den Gesetzgeber Steine - welcher Art auch immer - aus dem Weg
geräumt werden, damit jeder und jede die Möglichkeit
hat, seine bzw. ihre eigene Identität, ihre Stellung in der
Gesellschaft, ihre ökonomische Eigenständigkeit zu finden, ohne dabei mit Perspektiv- und Chancenlosigkeit
konfrontiert zu werden.
Bitte berücksichtigen Sie unsere Anmerkungen, reden
Sie noch einmal Ihrer Ministerin ins konservative Gewissen, und Sie werden sehen, dass auch die linke Seite
dieses Hauses einen Antrag aus Ihrer Feder mittragen
wird.
Wir Grünen verstehen unter moderner Gleichstellungspolitik eine Politik, die gemeinsam von Männern
und Frauen gemacht wird - und sich an beide Geschlechter richtet. Wenn die Bundesregierung nun ihr
Augenmerk auf die Förderung von Jungen und Männern
richtet, ist das zunächst einmal erfreulich, weil das in
der Vergangenheit tatsächlich zu wenig getan wurde.
Wenn sie dies aber zulasten der Mädchen- und Frauenförderung tut, läuft etwas grundfalsch! Beide Bereiche
müssen im Haushalt 2012 ausreichend finanziert werden.
Anders als von der Familienministerin behauptet,
sind nicht die Frauen schuld, dass sie weniger verdienen
als die Männer, weil sie etwa die falschen Fächer studieren oder kein Verhandlungsgeschick besitzen. Von solchen Behauptungen fühlen Frauen sich zu Recht verhöhnt. Denn sie sind es, die noch immer einen Großteil
der Familienarbeit schultern - und dafür auf dem
Arbeitsmarkt bestraft werden. Der Feminismus ist keinesfalls überholt. Vielmehr müssen endlich Rahmenbedingungen geschaffen werden, die gleiche Entwicklungsmöglichkeiten für beide Geschlechter eröffnen!
Und hier kommen die männlichen Feministen ins Spiel,
zu denen auch ich mich zähle. Wirkliche Gleichstellung
kann nur dann funktionieren, wenn die Geschlechter an
einem Strang ziehen.
Auch Männer möchten mehr Wahlmöglichkeiten und
damit mehr Freiraum für Selbstbestimmung haben.
Auch sie möchten Kinder, Karriere, Engagement und
Freizeit miteinander vereinbaren. Rund 60 Prozent der
Männer mit Kindern unter 18 Jahren wünschen sich eine
Arbeitszeitreduzierung. Hier gibt es noch viel zu tun!
Und hier folgen wir auch einigen grundsätzlichen Ideen
des Antrags der Regierungskoalition.
Es ist richtig, dass schon mit Jungen und Mädchen in
Kindertageseinrichtungen und Schulen Rollenzuschreibungen thematisiert und kritisch hinterfragt werden
müssen. Es müssen Methoden entwickelt werden, mit denen auch Jungen, die in der Tat häufig zu den sogenannten Bildungsverlierern gehören, angemessen gefördert
werden können. Wenn die Familienministerin dann aber
öffentlich vorschlägt, es sollten mehr Diktate mit Fußballgeschichten geschrieben werden, anstatt sich immer
nur mit Schmetterlingen und Ponys zu beschäftigen,
dann ist das ein Rückschritt in vorfeministische Zeiten
und eine Zementierung von Rollenzuschreibungen. Was
wir brauchen, ist eine individuelle, geschlechtersensible
Förderung jedes Einzelnen. Und gerade keine Förderung „des Jungen“ oder „des Mädchens“ an sich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Um Kindern und Jugendlichen eine optimale Auseinandersetzung mit Rollenmodellen zu ermöglichen,
müssen in Kindertageseinrichtungen und Schulen männliche und weibliche Pädagogen gleichermaßen vertreten
sein. Hier können wir Ihrem Antrag folgen. Ohne die
Verankerung von Genderaspekten in der Lehrer- und Erzieherausbildung bringt das aber wenig. Lehrer und Erzieher müssen darauf vorbereitet werden, Kinder und
Jugendliche geschlechtersensibel zu fördern.
Nicht folgen können wir Ihnen, wenn Sie vorschlagen,
zu prüfen, wie erzieherische und pflegerische Berufe attraktiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbessert werden können. Wieso denn ein Prüfauftrag? Die
Rahmenbedingungen, die notwendig sind, um eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, liegen doch seit Jahren auf der Hand. Packen Sie es an:
Engagieren Sie sich für eine gute Bezahlung der erzieherischen und pflegerischen Berufe, damit sie für Männer
wie für Frauen attraktiver werden! Sorgen Sie darüber
hinaus aber auch für eine flächendeckende, qualitativ
hochwertige Ganztagsbetreuung! Setzen Sie Anreize für
eine paritätische Aufteilung der Elternzeit! Machen Sie
sich für eine Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen stark! Eine moderne Gleichstellungspolitik
muss Jungen und Mädchen, muss Frauen und Männer
fördern!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7088, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5494 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und des SGB XII garantieren
- Drucksache 17/7029 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der vorliegende Antrag von der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/7029 liest sich ganz flott, aber schon
auf den ersten Blick zeigt sich, dass die politische Stoßrichtung Ihres Antrages untragbar ist.
Sie fordern allen Ernstes eine Regelung im SGB II
und SGB XII, nach der Einkommen und Vermögen eines
neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermittlung nicht zu berücksichtigen sind. Mit einer solchen Regelung untergraben Sie die Konstruktion von Arbeitslosengeld II und des Sozialgeldes, um so einen weiteren
Schritt bei der Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens zu gehen. Diesen Schritt werden wir
nicht mit Ihnen gehen und lehnen Ihren Antrag daher ab.
Menschen, die in sogenannten Patchworkfamilien mit
Kindern zusammenleben, bilden keine bloße Wohngemeinschaft. Der Entschluss, „zusammenzuziehen“, fällt
nicht vom Himmel und ist in der Regel wohl überlegt.
Dieses „Zusammenziehen“ begründet kein einfaches
„Zusammenwohnen“, sondern ein „Zusammenleben“!
Diese Einstandsgemeinschaft bildet die sogenannte Bedarfsgemeinschaft. Sie führen es selber in Ihrem Antrag
auf, dass das das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 13. November 2008 ({0}) die
bestehende Regelung als verfassungskonform einschätzt
und feststellt, dass der Gesetzgeber typisierend unterstellen darf, dass der neue Partner auch die Verantwortung für die Kinder mit übernehme.
Sie thematisieren anschließend zwei Probleme: erstens die Bereitschaft und Fähigkeit des neuen Partners,
diese Verantwortung zu übernehmen, und zweitens die
Frage, ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlich
stattfindet. Ich frage mich ja schon, in welcher Welt Sie
leben und welches Menschenbild Sie vor Augen haben.
Wenn der neue Partner - und ich vermisse in Ihrem Antrag die Formulierung der „neuen Partnerin“, aber das
nur am Rande - die finanzielle Fähigkeit nicht besitzt, so
stellt sich das Problem nicht, da in diesem Fall alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft leistungsberechtigt
sind.
Was die Frage der Bereitschaft betrifft, so möchte ich
gerne eine Gegenfrage in den Raum stellen: Würden Sie
mit einem Menschen zusammenleben wollen, der mit Ihnen zwar Tisch und Bett teilt, Ihnen aber klar zu verstehen gibt, dass er Ihre Kinder nicht „durchfüttern“ wird?
Mir käme das nicht in den Sinn. Und die Frage, ob eine
finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet, kann
nicht Ihr Ernst sein. Gerade im Sinne einer solidarischen und menschlichen Gesellschaft tun wir gut daran,
Menschen eine solche Unterlassung nicht zu unterstellen.
Die Fälle, in den die neue Partnerin oder der neue
Partner den Kindern die Unterstützung in der Familie
verwehrt, dürfen nicht als Regelfall dargestellt werden,
da dies sicher nicht der Regelfall ist. Wie wollen Sie so
etwas feststellen? Generalverdächtigungen bringen uns
nicht weiter. Und wir als Parlament sollten nicht in die
Familien hineinregieren. Menschen nicht zu bevormunden, schreiben Sie sich doch immer auf die Fahne, wenn
es Ihnen gerade passt.
Kam nicht aus Ihren Reihen die massive Kritik an den
damals diskutierten Bildungsgutscheinen im Zuge der
Debatte um das Bildungs- und Teilhabepaket? Die Gutscheinlösung würde die Arbeitslosengeld-II-Empfänger
bevormunden. Nach dem Sportwettenurteil des Landgerichts Köln wetterte die Kollegin Lötzsch auf dem
Theodor-Heuss-Platz in Bremerhaven: „Wenn Menschen, die Hartz IV beziehen, sich entscheiden, einen
Teil ihres Geldes für Sportwetten auszugeben, so ist das
Zu Protokoll gegebene Reden
ihr gutes Recht. Wer arm ist, darf nicht noch bevormundet werden.“
Viel entschiedener abzulehnen ist die Art und Weise,
mit der Ihr Vorschlag die sogenannten Patchworkfamilien privilegieren würde. Eine Nichtberücksichtigung
des Einkommens und Vermögens des neuen Partners eines Elternteils in einer Bedarfsgemeinschaft würde die
nichteheliche Patchworkfamilie finanziell wesentlich
besser stellen als eine Kernfamilie oder eine eheliche
Stieffamilie im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an § 20
SGB XII erinnern. Er besagt, dass Personen, die in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des
Umfangs der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden
dürfen als Ehegatten. Das bedeutet unter anderem, dass
Einkommen und Vermögen des Partners in gleichem
Umfang zu berücksichtigen sind wie Einkommen und
Vermögen eines Ehegatten.
Vor der Änderung im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz
wurden verheiratete Partner gegenüber unverheirateten
Partnern schlechter gestellt. Mit der Änderung der Großen Koalition wurde daher klargestellt, dass - auch entsprechend der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft in beiden Fallgestaltungen auf den Bedarf eines nicht leiblichen Kindes anzurechnen sind. Damit würde die
Schlechterstellung von Ehen gegenüber nichtehelichen
Partnerschaften aufgelöst.
Das Bundesverfassungsgericht wird über die vorliegende Verfassungsbeschwerde ({1}) in gewohnter Art und Weise entscheiden.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist rückwärtsgewandt und daher abzulehnen.
Mit Ihrem Antrag „Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und des SGB XII garantieren“ fordern Sie ein Gesetz, durch das eine Regelung in das SGB II und SGB XII eingeführt werden soll,
wonach Einkommen und Vermögen der neuen Partner
des Elternteils bei der Bedarfsermittlung des Kindes
nicht zu berücksichtigen sind.
Hierbei verkennen Sie jedoch schlichtweg, dass das
Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 13. November
2008 ausdrücklich die bestehenden gesetzlichen Regelungen bestätigt und keine verfassungsrechtlichen Bedenken sieht.
Oder möchten Sie allen Ernstes, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Linken, die Entscheidung des Bundessozialgerichts als oberstes Bundesgericht der Sozialgerichtsgerichtsbarkeit infrage stellen? Das kann doch
nun wirklich nicht Ihr Ernst sein!
Bei den seit Inkrafttretens des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II
in der Fassung des Fortentwicklungsgesetzes bestehenden gesetzlichen Regelungen des SGB II und SGB XII
sind bei Personen, die mit einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und ihren Lebensunterhalt
nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern
können, auch Einkommen und Vermögen der Eltern oder
des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksichtigen.
Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass
Personen, die miteinander in einem Haushalt leben, ja
„aus einem Topf“ wirtschaften und in jeder Lebenslage
füreinander einstehen. Daher ist es auch sachgerecht,
Vermögen und Einkommen dieser Personen - unabhängig von der rechtlichen Konstruktion der Partnerschaft - zu berücksichtigen.
Dies sieht auch das Bundessozialgericht so; denn die
Wahl der Lebensform „eheähnliche Gemeinschaft“ darf
gegenüber der Lebensform „Ehe“ nicht zum Nachteil
der Allgemeinheit gereichen.
Auch Ihr Vorwurf, meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Linken, der Rechtsanspruch des Kindes
auf Gewährung eines Existenzminimums gegen den
Staat sei nicht hinreichend gewahrt, geht ins Leere.
So ist es zwar richtig, dass sich das Kind nach der gesetzlichen Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II das
Einkommen einer Person „entgegenhalten“ lassen
muss, gegen die es aber keinen direkten Anspruch auf
Unterhalt hat.
Allerdings sieht das Bundessozialgericht den Rechtsanspruch des Kindes auf Gewährung des Existenzminimums gegen den Staat, Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1
GG, als hinreichend gewahrt, da das Kind einen Unterhaltsanspruch gegen die Mutter bzw. den Vater aus der
sogenannten Notgemeinschaft nach § 1603 Abs. 2 BGB
hat, der auch ohne Berücksichtigung einer Selbstbehaltsgrenze zu erfüllen ist.
Abschließend bleibt somit festzuhalten, dass die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft im SGB II und
SGB XII, die sowohl für verheiratete als auch nichtverheiratete Paare gilt, absolut sachgerecht ist.
Hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, das Urteil des Bundessozialgerichts aufmerksam
gelesen, dann hätten auch Sie festgestellt, dass Ihr Antrag dahingehend wenig zielführend ist.
Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute beraten, wirft schwierige Rechtsfragen auf, und so leicht
wie die Antragsteller kann man es sich nicht machen.
Es geht um die Verfassungskonformität der Regelungen im SGB II und im SGB XII, die die Einkommens- und
Vermögensanrechnung vorsehen, speziell bei Kindern in
sogenannten Patchworkfamilien.
Wir sprechen hier insbesondere von der Neufassung
des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II durch das zum 1. August
2006 in Kraft getretene Gesetz zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende, das Fortentwicklungsgesetz.
So sieht § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II heute vor, dass bei
unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder eiZu Protokoll gegebene Reden
nem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und
die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen
oder Vermögen sichern können, auch das Einkommen
und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksichtigen sind. Gerade Letzteres stößt bei Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
der Linken, auf verfassungsrechtliche Bedenken.
Richtig ist insoweit, dass das hilfebedürftige Kind in
einer Patchworkfamilie keine einklagbaren Unterhaltsansprüche gegenüber der neuen Partnerin oder dem
neuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichen
Vaters hat. Sie fordern deshalb mit Ihrem Antrag unter
Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen eine
Neuregelung für das SGB II und das SGB XII, nach der
Einkommen und Vermögen der neuen Partnerin oder des
neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermittlung des Kindes nicht zu berücksichtigen sind.
Zum Hintergrund verweisen Sie auf die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der oben genannten Entscheidung, wonach - ich zitiere -: „ein Hilfebedürftiger nicht auf freiwillige Leistungen des Staates
oder Dritter verwiesen werden darf, deren Erbringung
nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen
gewährleistet ist“.
Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass die generelle Unterstellung einer Unterstützung durch den mit
dem Elternteil neu zusammenlebenden Partner einen
verfassungsrechtlich unzulässigen Verweis auf freiwillige Leistungen Dritter darstelle.
Ich möchte im Folgenden darauf mit drei Anmerkungen näher eingehen:
Erstens. Es ist mir und meiner Fraktion durchaus bewusst, dass unter Umständen tatsächlich infolge des angesprochenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts
für den speziellen Bereich der Einkommens- und Vermögensanrechnung bei Kindern in einer sogenannten
Patchworkfamilie eine Änderung der Rechtslage eingetreten sein kann. Die bisherige Bedarfsermittlung unter
Berücksichtigung des Einkommens und des Vermögens
der neuen Partnerin oder des neuen Partners des leiblichen Elternteils könnte sich als nicht verfassungskonform erweisen. Dann wäre der Gesetzgeber verpflichtet,
zu handeln. Die bisherigen Regelungen im SGB II und
im SGB XII hätten keinen Fortbestand, und wir bräuchten eine gesetzliche Neuregelung.
Ausschließen können wir das nicht. Jedoch ist es zurzeit keineswegs sicher, ob die von der Linken monierten
Rechtsnormen einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht tatsächlich nicht standhalten.
Immerhin - und daran möchte ich in diesem Zusammenhang erinnern - standen seinerzeit nicht die hier angesprochenen Einzelnormen im SGB II und SGB XII auf
dem Prüfstand, sondern es ging bei der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Kern um
die generelle Herleitung und Ermittlung der Regelsätze.
Dazu hat das Gericht umfassend ausgeführt. Es ist auch
unstreitig, dass es mit seiner Entscheidung das Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums begründet hat. Aber zu den hier maßgeblichen Regelungen
hat sich das Gericht explizit nicht geäußert - also auch
deren Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt.
Ich weiß, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken, das anders sehen. Ihre Auffassung ist aber
das Ergebnis einer Auslegung des Bundesverfassungsgerichtsurteils, die natürlich in diesem Sinne zulässig,
jedoch nicht zwingend ist. Man kann das durchaus auch
anders werten - insbesondere, weil sich das Gericht
eben nicht mit dem konkreten Sachverhalt der Einkommens- und Vermögensanrechnung bei Kindern in Patchworkfamilien auseinanderzusetzen hatte.
Insofern halte ich das mit Ihrem Antrag verfolgte Anliegen für verfrüht - wobei mir Ihre Intention schon
durchaus klar ist: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist Ihnen ja seit eh und je ein Dorn im Auge. Es
ist ja kein Geheimnis, dass Sie das SGB II am liebsten in
Gänze wieder abschaffen würden. Da das nicht funktioniert, stellen Sie nun einzelne Vorschriften auf den Prüfstand. Das ist legitim. Aber Sie handeln damit im vorliegenden Fall aus meiner Sicht eindeutig vorschnell.
Ich möchte Ihnen dazu meine Zweifel näher erläutern.
Zweitens. Sie sagen, es sei nicht verfassungskonform,
wenn von Gesetzes wegen unterstellt wird, dass jemand,
der mit einer SGB-II-leistungsberechtigten Person mit
Kindern zusammenzieht, eine Bereitschaft zur Finanzierung des nicht leiblichen Kindes hat. Ich frage Sie: Ist
das wirklich so realitätsfern? Ist das Zusammenziehen
nicht auch ein Ausdruck dessen, künftig füreinander und
die Kinder dieser Bedarfsgemeinschaft einstehen zu
wollen - natürlich nicht im unterhaltsrechtlichen Sinne,
aber eben doch durch die faktische gemeinsame Lebensführung innerhalb eines Haushaltes? Ist der neue Partner des leiblichen Elternteils aufgrund von Einkommen
und Vermögen in der Lage, Lebenshaltungskosten in
größerem Umfang zu übernehmen, kommt das im Ergebnis auch dem nicht leiblichen Kind zugute. Das können
wir an dieser Stelle nicht ausblenden.
Drittens. Aber auch vor dem Hintergrund des Urteils
des Bundessozialgerichts, BSG, vom 13. November 2008
habe ich meine Zweifel daran, ob wir es nach dem von
Ihnen zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts
wirklich mit einer neuen Rechtslage zu tun haben. Das
BSG hat doch explizit die von Ihnen angesprochene
Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II zu prüfen gehabt
- und zwar in einem Falle einer sogenannten Patchworkfamilie.
Viertens. Es kam dabei - worauf Sie ja in Ihrem Antrag auch völlig zutreffend hinweisen - zu einer unmissverständlichen Bewertung der Regelung: Sie wurde als
verfassungskonform angesehen!
Das BSG hat dargelegt, dass es 2006 der Neufassung
des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II bedurfte, da in der Vergangenheit mit dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft
noch nicht feststand, zwischen welchen Personen eine
Einkommens- und Vermögensanrechnung stattfindet.
Erst die Neufassung hat Klarheit geschaffen, dass eine
Zu Protokoll gegebene Reden
Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht
lediglich bei dem leiblichen Kind und dem Partner, sondern auch bei dessen Kind, also dem nicht leiblichen,
stattfinden soll. Ebendiese Regelung hat das BSG für
verfassungsgemäß erachtet. Es hat insbesondere - entgegen Ihrer Ansicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken - darin keine Verletzung des Gebots zur Sicherung des Existenzminimums gesehen. Der Gesetzgeber
darf danach im Rahmen eines ihm zuzubilligenden Gestaltungsspielraums - ich zitiere :
bei der Gewährung von Sozialleistungen unabhängig von bestehenden bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflichten die Annahme von Hilfebedürftigkeit
davon abhängig machen, ob sich für den Einzelnen
typisierend aus dem Zusammenleben mit anderen
Personen Vorteile ergeben, die die Gewährung
staatlicher Hilfe nicht oder nur noch in eingeschränktem Umfang gerechtfertigt erscheinen lassen.
Ich finde diese Argumentation des Gerichts schlüssig
und nachvollziehbar. Wenn von einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II auszugehen ist, darf bei Kindern Einkommen und Vermögen des neuen Partners des
leiblichen Elternteils angerechnet werden.
Wir können vor dem Hintergrund dieses Urteils des
Bundessozialgerichts derzeit nicht von einer verfassungswidrigen Gesetzeslage ausgehen. Sollte das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die anhängige
Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Kindes allerdings zu einer anderen Beurteilung als das Bundessozialgericht kommen und § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II für
verfassungswidrig erklären, dann besteht für den Gesetzgeber tatsächlich Handlungsbedarf.
Einstweilen halten wir den nicht für gegeben. Ihr Antrag ist voreilig. Es gilt zunächst den Ausgang des Beschwerdeverfahrens abzuwarten. Dann erst haben wir
endgültig Klarheit, ob die Regelung verfassungskonform
ist oder nicht.
Der Antrag der Linken zur Existenzsicherung von
Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII
zeigt sehr deutlich, wie die Kolleginnen und Kollegen
der Linken arbeiten. Sie stellen Behauptungen auf, die
die Bevölkerung bewusst verunsichern, die bewusst
skandalisieren und die bewusst die Politik in Verruf
bringen sollen. All dies tun sie wider besseres Wissen.
Dieses Muster ihres Verständnisses von parlamentarischer Arbeit wiederholt sich immer wieder bei den unterschiedlichsten Themen, im Sozialbereich allerdings
mit einem besonderen Schwerpunkt.
Ich möchte dies belegen, indem ich erst einmal aus
dem Antrag zitiere. Dort heißt es auf Seite 2:
Damit wird gegen das Grundrecht des Kindes auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoßen.
Diese verfassungswidrige Gesetzeslage ist schnellstmöglich zu korrigieren.
Dem möchte ich folgendes Zitat gegenüberstellen:
Die zur Anwendung kommende Regelung ist verfassungsgemäß. …
Das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums
aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wird durch die
zur Anwendung kommende Regelung nicht verletzt.
Sie erkennen den offensichtlichen Widerspruch zwischen der Aussage aus dem Antrag der Linken und dem
zweiten Zitat. Letzteres Zitat ist aus einem Urteil des
Bundessozialgerichts vom 13. November 2008, in dem
es um die Berücksichtigung des Einkommens des Partners in der Bedarfsgemeinschaft zugunsten der nicht
leiblichen Kinder ab dem 1. August 2008 geht.
Es geht also genau um den Sachverhalt, von dem der
Antrag der Linken handelt. Die Einschätzung des höchsten deutschen Sozialgerichts ist eine vollkommen andere
als die der Linken. Daher halte ich ihre Behauptungen
für unredlich und schädigend. Ich bin froh, dass in
Deutschland Gerichte über die Verfassungsmäßigkeit
von Gesetzen entscheiden und nicht die Politik der Linken.
Die bestehende Regelung, dass das Einkommen von
in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Erwachsenen auch für nicht leibliche Kinder angerechnet
wird, ist am 1. Juni 2006 im Deutschen Bundestag durch
das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende mit den Stimmen von SPD und CDU/
CSU beschlossen worden. Die FDP hatte damals gegen
das Gesetz gestimmt, was aber nicht an dieser Einzelbestimmung lag, sondern an der grundlegend falschen
Ausrichtung des damaligen Gesetzes. Diese spezielle
Einzelfalländerung des damaligen Gesetzes halte ich für
durchaus nachvollziehbar und sinnvoll.
Die Kolleginnen und Kollegen der Linken stellen die
Behauptung auf, dass „die derzeitigen sozialrechtlichen
Regelungen massive Hürden für neue Partnerschaften
und Familiengründungen darstellen.“ Sie müssen aber
auch einmal weiterdenken: Eine Regelung, die erst dann
das Einkommen des neuen Elternteils zur Anrechnung
brächte, wenn die beiden Partner verheiratet wären,
würde massive Hürden für die Schließung einer Ehe
schaffen. Nun mag in Ihrem Weltbild die Ehe keine besondere Bedeutung haben; ich halte sie aber weiterhin
für schützenswert.
Es geht doch vielmehr um die Frage, ab wann Menschen sozialrechtlich füreinander einstehen und welche
Rolle dabei die Kinder spielen. Wer mit einem Partner
und dessen Kindern zusammenzieht, übernimmt Verantwortung für diese. Daher ist es nur folgerichtig, dass
dies auch sozialrechtlich so bewertet wird.
Maßgeblich ist für uns immer das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft. Ganz unabhängig davon, welcher
Teil der Bedarfsgemeinschaft welches Einkommen einbringt, wird dann geprüft, ob die Bedarfsgemeinschaft
leistungsberechtigt im Sinne des SGB II ist.
Die Konsequenz des Antrags der Linken wäre, dass
wir die Bedarfsgemeinschaft wieder auseinandernehZu Protokoll gegebene Reden
men und die jeweiligen Elternteile mit ihrem jeweiligen
Einkommen berücksichtigen müssten. Dies lehnt die
FDP ab.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Hartz-IV-Regelsätzen festgestellt:
„Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren
Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.“ ({0}). Ein hilfebedürftiges Kind in einer Patchworkfamilie hat keine einklagbaren Rechte gegenüber der neuen Partnerin oder dem
neuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichen
Vaters. Insofern stellt die generelle Unterstellung einer
Unterstützung durch den Stiefelternteil einen verfassungsrechtlich unzulässigen Verweis auf „freiwillige
Leistungen“ Dritter dar. Das nicht leibliche Kind ginge
in einem Rechtsstreit leer aus, weil es gar keinen Rechtsanspruch auf Leistungen von dem Stiefelternteil hat.
Auch die denkbare Alternative eines Auszugs steht dem
unter 25 Jahre alten Nachwuchs aufgrund der rechtlichen Einschränkungen nur bedingt offen. Damit wird
gegen das Grundrecht des Kindes auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoßen. Diese verfassungswidrige Gesetzeslage ist schnellstmöglich zu korrigieren.
Hartz IV stigmatisiert, diskriminiert, es verletzt
grundlegende Grundrechte bei der Gewährung der
Existenz- und Teilhabesicherung. Hartz IV legt Menschen Unterhaltsverpflichtungen auf, die jeder zivilrechtlichen Grundlage entbehren. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Wenn Menschen keine unterhaltsrechtlichen Verpflichtungen eingegangen sind, so darf
durch das Sozialrecht nicht das Gegenteil unterstellt und
erzwungen werden. Gegen dieses Prinzip verstößt die
Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft im Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch, SGB II. Durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz von 2006 wird festgeschrieben, dass
Kinder in Patchworkfamilien zur Bedarfsgemeinschaft
gehören. Seitdem gilt sowohl für verheiratete als auch
für nicht verheiratete Paare: Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen findet grundsätzlich und immer
statt. Es bleibt unberücksichtigt, ob und inwieweit eine
finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet.
Etwas anders gelagert ist die Situation im SGB XII.
Hier wird im Unterschied zum SGB II eine Bedarfsdeckung des soziokulturellen Existenzminimums durch die
Partnerin bzw. den Partner des leiblichen Elternteils unter Berücksichtigung von Freibeträgen ebenfalls unterstellt, allerdings widerlegbar. Diese sozialrechtliche Unterstellung ist in der Praxis aber nur schwer
zurückzuweisen. Stellen Sie sich vor, ein Kind soll vor
Gericht aussagen, dass der verdienende Partner seiner
Mutter, zum Beispiel sein Stiefvater, nicht ausreichend
Geld für alle gibt, speziell für das nicht leibliche Kind
selbst.
Fakt ist: Mit den sozialrechtlichen Konstruktionen im
SGB II und im SGB XII kann die Existenzsicherung der
Kinder in Patchworkfamilien nicht garantiert werden,
weder die Existenzsicherung des nicht leiblichen Kindes
einer Mutter oder eines Vaters noch die Existenzsicherung der leiblichen Kinder einer Mutter oder eines Vaters, weil die ausgezahlten Transferleistungen in der Bedarfs- bzw. Einsatzgemeinschaft nun für alle Kinder in
der Patchworkfamilie reichen müssen.
Das Bundessozialgericht, BSG, hat in einer Entscheidung vom 13. November 2008 ({1}) die Regelung zwar als verfassungskonform eingeschätzt, der Gesetzgeber dürfe typisierend unterstellen, dass der neue
Partner auch die Verantwortung für die Kinder mit
übernehme. Die Frage, ob aufseiten des neuen Partners
eine solche Bereitschaft und Fähigkeit besteht, hat das
BSG ebenso wenig als verfassungsrechtlich problematisch angesehen wie die Frage, ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet. Diese Argumentation
ist jedoch nicht überzeugend. Die entscheidende Frage,
nämlich, wie die Existenzsicherung des Kindes garantiert werden kann, wird durch das Bundessozialgericht
nicht befriedigend beantwortet.
Aktuell liegt die Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Kindes beim Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor ({2}). Der Gesetzgeber sollte
sich nicht seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Gewährleistung des Existenzminimums entziehen und auf
das Urteil warten. Es liegt in der Hand des Bundesgesetzgebers, die Sicherungslücken zu schließen und verfassungskonforme Regelungen zu schaffen. Dies sollte
umgehend geschehen.
Auch jenseits der verfassungsrechtlichen Bewertung
ist ein dringender Handlungsbedarf gegeben. Denn die
derzeitigen sozialrechtlichen Regelungen stellen massive Hürden für neue Partnerschaften und Familiengründungen dar. Neuerliche Partnerschaften und Familiengründungen werden für Leistungsberechtigte mit
Kindern faktisch mit Leistungsentzug sanktioniert.
Diese unhaltbare Rechtslage ignoriert den sozialen
Wandel hin zu vermehrten Patchworkfamilien. Auch im
Sinne einer menschlichen und solidarischen Gesellschaft sind die Barrieren und Hürden für die Gründung
neuer Partnerschaften und Familien abzubauen.
Die Fraktion Die Linke beantragt aus genannten
Gründen, das Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums von Kindern in Patchworkfamilien gesetzlich zu garantieren. Diese Garantie gilt unabhängig
von der Frage, ob das neue Paar verheiratet ist. Zu diesem Zweck soll eine Regelung im SGB II und im SGB XII
eingeführt werden, nach der Einkommen und Vermögen
der neuen Partnerin oder des neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermittlung des nicht leiblichen
Kindes nicht zu berücksichtigen sind.
Die Fraktion Die Linke bringt mit dem vorliegenden
Antrag eine Forderung in den Deutschen Bundestag ein,
die wir von Bündnis 90/Die Grünen nur unterstützen
können. Schon in der vergangenen Wahlperiode haben
wir einem inhaltsgleichen Antrag der Fraktion ({0}) zugestimmt. Es ist völlig inakzeptabel,
Zu Protokoll gegebene Reden
dass minderjährige bzw. unter 25-jährige unverheiratete
Kinder von in einer gemeinsamen Wohnung lebenden
Stiefeltern bzw. stiefelternähnlichen Personen finanziell
abhängig werden. Eine solche Regelung stigmatisiert
die betroffenen Kinder. Wir fordern weiterhin, wie schon
in unserem Antrag vom 4. April 2006 „Hartz IV weiterentwickeln - Existenzsichernd, individuell, passgenau“
({1}), dass in eheähnlichen Gemeinschaften Lebensgefährtinnen und Lebensgefährten nicht
gezwungen werden dürfen, ihr Einkommen für den Bedarf der Kinder der Partnerinnen und Partner einzusetzen, wenn es nicht die gemeinsamen sind. Auch wenn ein
Ehepartner Kinder in die Ehe einbringt, darf dies nicht
zu einem sozialrechtlichen Unterhaltsanspruch führen,
der über den zivilrechtlichen Anspruch hinausgeht.
Die mit den Stimmen der schwarz-roten Regierungskoalition beschlossene und zum 1. August 2006 in Kraft
getretene Novellierung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II regelte ausdrücklich, dass auf den Bedarf von mit einem
Elternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden unverheirateten Kindern auch Einkommen und Vermögen des mit
dem Elternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners anzurechnen ist. Eine solche Regelung ist nicht nur
unwirtschaftlich und unmenschlich, weil Partner daran
gehindert werden, zusammen in eine Wohnung zu ziehen. Eine solche Regelung ist auch verfassungsrechtlich
problematisch. Wieder einmal könnte das Bundesverfassungsgericht, BVerfG, eine Regelung für nicht vereinbar
mit dem Grundgesetz erklären. Eine entsprechende Verfassungsbeschwerde ist bereits beim BVerfG anhängig.
Darüber hinaus ist die Regelung aus rechtssystematischen Gründen abzulehnen. Eine Gleichstellung von Lebensgemeinschaften mit Ehen im Sozialrecht steht nicht
im Einklang mit den Regelungen im Zivilrecht. Wenn die
Union in ihrer Begründung zur Ablehnung des Antrags
der Linksfraktion ausführt, „das SGB II gehe davon aus,
dass die Menschen in einer Bedarfsgemeinschaft füreinander einstünden und zwar unabhängig von der genauen Familienkonstellation“ ({2}),
muss sie auch den ehrlichen Schritt gehen und zu einer
wirklichen Gleichbehandlung der Rechte und Pflichten
im Zivilrecht beitragen.
Auch die FDP äußerte in der vergangenen Wahlperiode verfassungsrechtliche Bedenken an, „da Partner eines Elternteils nunmehr für die Stiefkinder wie für
eigene Kinder aufkommen müssten, obwohl sie zivilrechtlich hierzu nicht verpflichtet seien“ ({3}). Die FDP begründete ihre Enthaltung zum
Antrag der Linksfraktion mit dem Umstand, dass bislang
keine präzise Vorstellung von dem zu korrigierenden
Missstand vorliege. Die Bundesregierung müsse erst
einmal Fakten liefern, bevor der Deutsche Bundestag
Entscheidungen treffen könne. Die jetzt beginnende parlamentarische Auseinandersetzung im Arbeits- und Sozialausschuss wird zeigen, ob die FDP in ihren nunmehr
zwei Regierungsjahren entsprechend geliefert hat.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7029 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention
- Drucksache 17/6804 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Neben den großen positiven Errungenschaften bietet
das Internet leider auch Kriminellen mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten immer neue Tatgelegenheiten. Eine Tathandlung ist der Missbrauch von
elektronischen Zahlungsmitteln, um hierdurch „Geld zu
waschen“.
Für das Jahr 2010 liegen aufgrund neuer Erfassungsmöglichkeiten erstmals Zahlen zur Internetkriminalität
in der Polizeilichen Kriminalstatistik vor.
Allein in Bayern sind 22 965 Fälle von Internetkriminalität bekannt geworden. In 507 Fällen wurde das Internet als Tatmittel zur Geldwäsche genutzt.
Die gesetzlichen Grundlagen gegen Geldwäsche und
Terrorismusfinanzierung in Deutschland werden maßgeblich von Standards im internationalen Kontext bestimmt. Neben den Richtlinien des Rates und des Europäischen Parlaments sind dies als Motor der
internationalen Geldwäschebekämpfung die Empfehlungen der Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF. Die FATF ist ein zwischenstaatliches Gremium, das mit eigenem Budget und Personal bei der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, OECD, in Paris angesiedelt ist. Deutschland ist als eines der Gründungsmitglieder der FATF aktiv an der Erarbeitung und Weiterentwicklung der internationalen Standards zur Bekämpfung von Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung beteiligt und hat sich stets
zur nationalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen bekannt. Die 36 Mitgliedstaaten der FATF haben sich verpflichtet, diese Standards in nationales Recht umzusetzen und deren Umsetzung in regelmäßigen Abständen
von der FATF überprüfen zu lassen.
Von der FATF wurden im Deutschlandbericht vom
19. Februar 2010 Defizite im deutschen Rechtssystem
bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung identifiziert, die nach ausführlicher Prüfung
und Diskussion in der Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf beseitigt werden sollen. Über die Fortschritte, die im Prüfungsbericht konstatierten Mängel
abzustellen, muss Deutschland im Februar 2012 an die
FATF berichten. Um weitere reputationsschädliche Reaktionen seitens der FATF zu vermeiden, ist es daher erforderlich, dass Deutschland seine gesetzlichen Regelungen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung,
soweit diese nicht mit dem FATF-Standard vereinbar
sind, bis Januar 2012 anpasst; das Gleiche gilt für die
Implementierungspraxis.
Die wesentlichen Monita der FATF betreffen das
Geldwäschegesetz, GwG, und die dort geregelten präventiv wirkenden Sorgfalts- und Organisationspflichten
mit aufsichtsrechtlicher Ausrichtung. Mit diesen Pflichten sollen die Geldwäscherisiken der verpflichteten Unternehmen minimiert und dadurch die Integrität, Reputation und Stabilität des Wirtschaftsstandorts
Deutschland sichergestellt werden.
Zudem werden die geldwäscherechtlichen Vorschriften im Kreditwesengesetz, KWG, Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, in der Abgabenordnung, AO, sowie
der Prüfungsberichtsverordnung, PrüfungsberichtsVO,
angepasst, wobei es sich überwiegend um redaktionelle
Folgeänderungen handelt.
Die christlich-liberale Koalition ist seit zwei Jahren
darum bemüht, Bürokratie abzubauen. Um sicherzugehen, dass mit diesem Gesetz nicht das Gegenteil passiert, werden wir wegen der genauen Anpassung die
öffentliche Anhörung der Sachverständigen am
19. Oktober 2011 abwarten. Nach der Anhörung werden
wir im Finanzausschuss die letztliche gesetzliche Regelung beraten und beschließen.
Bereits zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode
beraten wir heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, in dem das Thema Geldwäscheprävention eine
Rolle spielt. Deutschland steht auf diesem Feld international in der Kritik - insbesondere seit der verheerenden
Beurteilung durch die bei der OECD angesiedelten Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF,
vom Februar 2010. Bislang hat Schwarz-Gelb die Problematik eher als unliebsamen Appendix behandelt. So
wurden sowohl dem Gesetz zur Umsetzung der Zweiten
E-Geld-Richtlinie als auch dem sogenannten Schwarzgeldbekämpfungsgesetz mehr oder weniger umfangreiche Regelungen beigefügt, die sich einzelne Teile der
FATF-Kritik angenommen haben. Ich meine aber, das
Thema ist zu wichtig, um es in Form von Stückwerk abzuhandeln, und habe dies in den zurückliegenden Gesetzesberatungen immer wieder kritisiert.
Insofern ist es zunächst einmal erfreulich, dass der
vorliegende Gesetzentwurf endlich auch die zentralen
Punkte der FATF-Kritik angehen will, die nicht im aufsichts- und strafrechtlichen Bereich liegen. Immer wieder wurden wir in den Ausschussberatungen von Herrn
Staatssekretär Koschyk auf einen kommenden „großen
Wurf“ vertröstet. Mit Blick auf die zur Beratung anstehende Initiative scheint jedoch die Sorge berechtigt,
dass auch der weiteste Wurf am Ziel vorbeigehen kann.
Grundsätzlich kann an der Notwendigkeit, auf diesem
Gebiet am Ball zu bleiben, kein Zweifel bestehen. Das
zeigen die Zahlen, die das BKA und die dort angesiedelte Zentralstelle für Verdachtsanzeigen, FIU, vor
knapp zwei Wochen veröffentlich haben. Mit rund
11 000 Verdachtsanzeigen wurde 2010 ein absoluter
Höchststand erreicht, seit das Gesetz 1993 in Kraft getreten ist. Das ist ein Anstieg um 22 Prozent innerhalb
eines Jahres.
Dahinter steht einerseits die sicherlich wünschenswerte Entwicklung zu mehr Sensibilität im Umgang mit
der Thematik. Gleichzeitig zeigen die Zahlen auch, dass
in vielen Branchen nach wie vor zu wenig darauf geachtet wird, ob ihre Kunden und Geschäftspartner möglicherweise versuchen, illegal erworbenes Vermögen in
den legalen Geldkreislauf einzubringen und seine Herkunft zu verschleiern.
Deshalb halte ich es für richtig, die im Geldwäschegesetz dargelegten Sorgfaltspflichten in weiteren Wirtschaftszweigen zu verankern, Meldepflichten zu ergänzen und Bußgeldregelungen zu verschärfen, wo gegen
die entsprechenden Pflichten verstoßen wird. Speziell im
Nichtfinanzsektor und im Bereich der freien Berufe
wurde Geldwäschebekämpfung bislang zu wenig ernst
genommen. Auch Immobilienmakler, Steuer- und
Rechtsberater müssen zur Kenntnis nehmen, dass es
keine lässliche Verfehlung ist, in ihrem Arbeitsfeld gegenüber Geldwäsche die Augen zu verschließen. Und
gerade im Bereich der Spielbanken ist es sicherlich sinnvoll, strengere Regeln einzuziehen, um zu verhindern,
dass Verbrecher den Spieltisch als Waschbrett für die
Gelder der organisierten Kriminalität missbrauchen.
Wo der Gesetzentwurf maßvolle Verschärfungen vorsieht und mehr Sensibilität für die Gesamtproblematik
Geldwäsche einfordert, ist man - so meine ich - auf einem zielführenden Weg.
An anderen Punkten schießt der Entwurf jedoch möglicherweise über das Ziel hinaus. Da werden wir sehr
genau prüfen müssen, ob die gemachten Vorschläge
wirklich einen Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung
darstellen oder letztendlich nur dem Bürokratieaufbau
dienen. Wie immer, wenn es um Identifizierungspflichten
und Datenabgleich geht, sind zudem datenschutzrechtliche Aspekte im Auge zu behalten. Erste Stellungnahmen
von Datenschützern lassen vermuten, dass der Gesetzentwurf in seiner derzeitigen Form an einigen Stellen zu
großen Problemen führen könnte. So sollen Vertriebsstellen für bestimmte Prepaid-Produkte zukünftig dazu
verpflichtet werden, bei jedem Kauf - unabhängig von
der Höhe der erworbenen Guthaben - die Identität des
Käufers zu verifizieren. Da es in der Praxis um kleine
und kleinste Beträge gehen dürfte, die nur schwerlich
zur Geldwäsche in großem Stil instrumentalisierbar sein
dürften, ist dies eine eher fragwürdige Maßnahme.
Denn einmal ganz unabhängig davon, dass dies für
bestimmte Geschäftsmodelle im E-Geld-Bereich mit
massiven Nachteilen verbunden wäre: Stehen hier Aufwand und Ertrag tatsächlich noch im richtigen Verhältnis? So wichtig es auch im Bereich des E-Geldes ist,
Geldwäsche zu verhindern, müssen wir doch prüfen, ob
hier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Die Bundesregierung selbst hatte sich noch im Gesetz
zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie dazu bekannt, „Marktzutrittsschranken zu beseitigen und die
Aufnahme und Ausübung der Ausgabe von E-Geld zu erleichtern“. Diesem Ziel dürften die vorgesehenen BeZu Protokoll gegebene Reden
schränkungen im E-Geld-Zahlungsverkehr diametral
entgegenwirken.
Ähnlich schwierig erscheint mir die Idee der Bundesregierung, sämtlichen Unternehmen mit mehr als zehn
Mitarbeitern regulär die Bestellung eines Geldwäschebeauftragten vorzuschreiben. Zwar sollen großzügig
ausgelegte Ausnahmeregelungen dafür sorgen, dass
letzten Endes lediglich rund 1 000 Unternehmen tatsächlich aktiv werden müssen. Aber der Normenkontrollrat hat hier bereits Zweifel angemeldet, ob die faktischen Auswirkungen der Regelung nicht weit über die
Schätzungen des Entwurfs hinausgehen.
Schließlich wird auch zu hinterfragen sein, wie praxistauglich die im Gesetzestext vorgesehenen erweiterten Pflichten im Umgang mit sogenannten politisch exponierten Personen - PEP - und zur Identifizierung von
„Strohmannkonstruktionen“ zugunsten von „wirtschaftlich Berechtigten“ im Hintergrund sind. So wünschenswert es ist, hier kriminelle Strukturen aufzudecken, so
schwierig könnte sich die Anwendung der Vorgaben im
Geschäftsalltag der erweiterten Verpflichtetenkreise gestalten. Auch hier ist zu begrüßen, dass der Normenkontrollrat in seiner Stellungnahme eine rasche Evaluation
der Gesetzespraxis anregt.
Grundsätzlich gilt: Wir müssen in Sachen Geldwäscheprävention klare Kante zeigen, und der vorliegende
Gesetzentwurf geht in vielen Punkten in die richtige
Richtung. Hinter die Anforderungen, die uns die FATF
ins Stammbuch geschrieben hat, dürfen wir nicht zurückfallen. Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass
der Entwurf in einzelnen Punkten ohne Not über die erforderlichen Grenzen hinausgeht.
Insofern meinen wir, dass das geplante Gesetz zur
Optimierung der Geldwäscheprävention noch optimierungsbedürftig ist. Wir werden uns nach der Anhörung
ein genaueres Bild machen, wie die vorhandenen Spielräume für Verbesserungen am besten zu nutzen sind.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schließt die
christlich-liberale Koalition Lücken in der Verfolgung
von Geldwäsche. Als normaler rechtschaffener Bürger
hat man gar keine Vorstellung, auf was für Ideen die
Herrschaften, die Geldwäsche betreiben wollen, alles
kommen. Das fängt schon mit der Definition an, was
Geldwäsche eigentlich ist. Eine Legaldefinition im
Strafgesetzbuch gibt es nicht, aber es sei wohl ein Vorgang, der darauf abziele, Vorhandensein, Herkunft oder
Bestimmung von Vermögenswerten zu verschleiern, die
aus illegalen Geschäften stammen, um sie dann als
rechtmäßige Einkünfte erscheinen zu lassen. Da hat man
als Laie grob eine Vorstellung, dass jemand unter dubiosen Umständen an eine Menge Bargeld gekommen ist,
dieses zur Bank bringt und dort auf ein Konto einzahlt.
Doch so simpel ist es bei Weitem nicht. Da es inzwischen
entsprechende Monitoringsysteme gibt, haben diese Kriminellen wirklich kreative Ideen, wie sie die Herkunft ihrer Gelder verschleiern.
Und das sind unglaubliche Summen, um die es da
geht: Allein in Deutschland werden jährlich circa 30 bis
100 Milliarden Euro an kriminellen Geldern gewaschen.
Weltweit geht es nach Schätzungen des IWF sogar um
jährlich circa 590 bis 1 500 Milliarden Euro.
Um dies international einzudämmen, wurde die Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF,
gegründet. Diese bei der OECD angesiedelte Organisation, deren Gründungsmitglied Deutschland ist, entwickelt Standards, überprüft deren Einhaltung und spricht
dazu Empfehlungen aus, zu deren Einhaltung sich die
36 Mitgliedsländer verpflichtet haben.
Nun hat die FATF Deutschland Missstände bescheinigt, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beseitigt
werden. Es bestehen wohl Defizite in Bezug auf die Beaufsichtigung von Unternehmen wie Immobilienmaklern, Versicherungsvermittlern, Juwelieren, Finanzunternehmern, Spielbanken sowie Personen, die gewerblich mit Gütern handeln. Die Bundesregierung hat mit
dem Gesetzentwurf einen Maßnahmenkatalog vorgelegt,
um diese Defizite zu bekämpfen.
Beim ersten Gedanken bin ich dann beruhigt über
Schlupflöcher, die geschlossen werden. Dann kommen
mir aber Zweifel, ob alle Maßnahmen wirklich praktikabel und zielführend sind. Wir dürfen nicht ein bürokratisches Monster schaffen, das nur Organisationsaufwand
und Kosten produziert und bei weitem nicht im richtigen
Verhältnis von Ertrag und Ergebnis steht.
Auch bekomme ich als Liberaler Bauchschmerzen,
wenn Datenmengen irgendwo angehäuft werden, deren
Sinnhaftigkeit zu bezweifeln ist. Das betrifft zum einen
neue Pflichten bei Bareinzahlungen und zum anderen
auch Prepaid-Kreditkarten, die nicht von Banken ausgegeben werden. Bei Letzterem ist auch fraglich, ob das irgendwie realistisch funktionieren kann, dass zum Beispiel in einer Tankstelle oder in einem Supermarkt
künftig die Daten seitens der Kassenmitarbeiter erhoben
werden, wie es der Gesetzentwurf derzeit vorsieht. Hier
wird man eine Modifizierung vornehmen müssen, wenn
man vermeiden möchte, dass diese Produkte aus dem
Markt gedrängt werden.
Andererseits besteht schon die Pflicht zur Datenerfassung, wenn Banken diese Karten ausgeben. Diese
Differenzierung erscheint dann auch nicht ganz sachgerecht, denn: same business, same rules. Das werden wir
uns sehr genau anschauen. Eine Prämisse ist dabei: Das
anonyme Bezahlen im Internet muss weiterhin möglich
sein.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Geldwäschebeauftragte, den jedes Unternehmen, das mit Gütern handelt, ab einer gewissen Größe künftig haben soll, um den
Empfehlungen der FATF zu folgen. Doch macht das
Sinn? Jedes Unternehmen? Egal, welcher Branche? Hat
der Geldwäschebeauftragte dann arbeitsrechtlich besonderen Schutz? An dieser Stelle müssen wir uns auch
noch umfassend Gedanken machen, wie wir hier eine
Lösung finden.
Gedanken mache ich mir außerdem über den Terminus „hindeuten“. Also, im Falle des Vorliegens von TatZu Protokoll gegebene Reden
sachen, die darauf hindeuten, dass es sich bei Vermögenswerten, die mit einer Transaktion oder Geschäftsbeziehung im Zusammenhang stehen, um den Gegenstand einer Straftat nach § 261 StGB handelt, soll der
Verdacht schon gemeldet werden. Hindeuten, wie kann
man das genauer bestimmen? Gehen wir da nach dem
Bauchgefühl eines Mitarbeiters? Wie schule ich zunächst den Mitarbeiter und erzähle ihm, er solle nach
seinem Bauchgefühl gehen? Schaffen wir da wirklich
Rechtssicherheit oder Unsicherheiten in der Anwendung?
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir uns das, neben
vielen anderen Punkten, sehr genau anschauen müssen.
Das Gesetz wird aber in jedem Fall eine liberale Handschrift bekommen.
Man sollte meinen, dass Geldwäsche so kompliziert
ist, dass sich nur einige wenige, die ihre gesamte kriminelle Energie darauf verschwenden wollen, damit befassen. Leider hat mich die Recherche für diesen Gesetzentwurf eines Besseren belehrt. Ein Handy reicht schon für
anonyme Geldtransfers. Der Geldwäscher lädt sich einen beliebig hohen Betrag auf seine Prepaid-SIM-Karte.
Dann kann er diese Summe per SMS an einen Kontakt in
irgendeinem Land überweisen. Der Empfänger kann
sich dann das Geld von einer Bank, einem Laden oder
einem Händler mit einem Code auszahlen lassen - im
Jemen, in Pakistan oder wo auch immer er ist. Der
Geldfluss selbst hinterlässt keine Spuren.
Nicht erst seit dem 11. September sprechen wir von
den Gefahren der Geldwäsche und Terrorfinanzierung.
Deutschland ist seit ihrer Gründung im Jahr 1989 Mitglied der Financial Action Task Force, kurz FATF, dem
wichtigsten internationalen Gremium zur Bekämpfung
dieser Gefahren. Unter deutscher Präsidentschaft wurden 2003 sogar Standards zur Bekämpfung der Geldwäsche grundlegend überarbeitet.
Der Blick unter den eigenen Teppich aber offenbart
Interessantes: Im vorliegenden Gesetzentwurf heißt es
- ich zitiere -:
Die geänderten Informations- und Aufzeichnungspflichten … bestanden bereits nach dem Geldwäschegesetz vom 25. Oktober 1993 bzw. nach dem
Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz vom
13. August 2008.
Wenn sie schon bestehen, warum brauchen wir dann
das vorliegende Gesetz?
Im Text heißt es weiter: Die einschlägigen gesetzlichen Regelungen sind bisher von den nach Landesrecht
zuständigen Stellen weitgehend nicht umgesetzt worden.
- Jetzt wird es klar. Was macht also das vorliegende Gesetz? Es entzieht die Verantwortung für die Umsetzung
dem Innenministerium und dem Wirtschaftsministerium
und schiebt sie dem Finanzministerium zu. Da fragt man
sich: Wer hat diese Untätigkeit der beiden Ministerien
zu verantworten? Wir wissen, dass es nicht an den fleißigen Beamtinnen und Beamten in den Ministerien liegt,
wenn nichts oder zu wenig passiert ist. Der Fisch stinkt
immer vom Kopf. Offensichtlich fehlte es am politischen
Willen und Anleitung durch die Spitzen.
Es ist schlicht peinlich, das Deutschland als Gründungsmitglied der FATF sich anhören muss, dass es
Rechtsstandards nicht umsetzen kann, ja dass es fast auf
der schwarzen Liste der OECD gelandet wäre. Auf dieser Liste landen nur jene Länder, die als Risiko für das
internationale Finanzsystem eingestuft werden.
Deutschland ist also wegen der Unfähigkeit des Innenministeriums und des Wirtschaftsministeriums international als Beinahe-Risiko für das internationale Finanzsystem bekannt. Geldwäscheexperten gehen davon aus,
dass in Deutschland zwischen 40 und 60 Milliarden
Euro - ich wiederhole: 40 bis 60 Milliarden Euro - kriminelle Gelder gewaschen werden. Selbst vor der EUKommission hat sich Deutschland schon zwei Vertragsverletzungsverfahren eingehandelt. Von wegen deutsches Vorzeigemodell!
Wenn Deutschland sich einen Rechtsstaat nennen
will, dann müssen Gesetze ohne Ausnahme umgesetzt
werden. Dass die Verantwortung für Geldwäscheprävention dem Finanzministerium übergeben wird, unterstützen wir. Aber dass die Untätigkeit des Innenministeriums und des Wirtschaftsministeriums folgenlos bleibt,
ist absolut inakzeptabel. Anstatt ständig einen Teil der
Opposition, die Linke, zu bespitzeln, hätte das Innenministerium sich auf die konsequente Bekämpfung der
Geldwäsche konzentrieren sollen.
Hoffen wir, dass das Finanzministerium das erreicht,
woran Innenministerien und Wirtschaftsministerien gescheitert sind. Wenn im Februar kommenden Jahres die
FATF-Prüfer wieder nach Deutschland kommen, werden
wir die Ergebnisse ja sehen.
Der heute in den Bundestag eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention ist ein gutes Stück Fleißarbeit. Viele Kritikpunkte
der Financial Action Task Force, FATF, die Deutschland
bisher als äußerst günstigen Standort für Geldwäsche
charakterisiert, werden darin angegangen - allerdings
erst zehn Jahre nach Entwicklung der Prüfkriterien. Die
Zahl der Verdachtsmeldungen im Nichtfinanzbereich ist
weiterhin eklatant niedrig. Erhebliche Mängel stellte die
FATF auch bei der Identifizierung der wirtschaftlich Berechtigten und der laxen Handhabung der Sorgfaltspflichten fest.
Die deshalb im Gesetzentwurf vorgenommenen Konkretisierungen sind gut und richtig und werden von uns
unterstützt. Dennoch würde ich darauf wetten, dass das
Thema trotz dieser Novelle bald erneut auf die Tagesordnung kommt. Beim Wetten ändert sich schon der
Blickwinkel auf die Thematik: Wettbüros, Spielkasinos,
Spielautomaten gehören genauso wie Immobilien- und
Goldhandel zu den sensiblen Bereichen der Wirtschaft,
in denen Geldwäsche stattfindet. Während es aus Sicht
der Bundesregierung richtig ist, den Forderungskatalog
der FATF abzuarbeiten, dürfte der Gesetzentwurf aus
Sicht eines Geldwäschers wenig bedrohlich erscheinen.
Zwar werden einige Sicherheitslücken geschlossen, ein
Zu Protokoll gegebene Reden
wirklicher Hebel gegen Geldwäsche wird jedoch nicht
eingesetzt - ein gleichmäßiges Niveau der Geldwäscheprävention über die verschiedenen möglichen Wege und
Formen der Geldwäsche wird nicht erreicht. Das Verständnis von Geldwäscheprävention, wie es aus dem Gesetzentwurf hervorgeht, bleibt deshalb das einer Aufklärungskampagne für die sensiblen Branchen mit einigen
Sanktionsmöglichkeiten, falls die betroffenen Unternehmerinnen und Unternehmer einer Bewusstseinsbildung
für verdächtige Geschäftspraktiken ihrer Kundinnen und
Kunden nicht nachkommen. Ein solches Bewusstsein ist
zwar nötig und wünschenswert, solange es nicht in ein
Denunziantentum ausartet, es löst aber fundamentale
Probleme nicht.
In Deutschland beträgt das Geldwäschevolumen
Schätzungen zufolge jährlich einen höheren zweistelligen Milliardenbetrag. Diese illegal erwirtschafteten
Gelder sind Teil transnational organisierter Kriminalität; dahinter können Drogen-, Waffen- und Menschenhandel stehen. Sie sind ein Sicherheitsrisiko, festigen
kriminelle Strukturen, verweben sich mit dem legalen
Wirtschaftskreislauf und führen dort auch noch zu Wettbewerbsverzerrungen.
Nehmen wir ein Beispiel, das sicher viele schon beobachtet haben: Eine alteingesessene, gut laufende
Kneipe verschwindet auf einmal aus dem Straßenbild,
und an ihre Stelle tritt ein neues Lokal ohne Kunden. Bei
auslaufendem Pachtvertrag wurde der bisherige Betreiber von einem Konkurrenten verdrängt, der kein originäres Interesse an Gastronomie hat, aber ganz andere
Preise zu zahlen imstande ist, weil er durch noch zu waschende Einkünfte rentabler „wirtschaften“ kann als jeder ehrliche Unternehmer. Geldwäsche ist - das wird in
einem solchen Beispiel deutlich - nicht ein Randphänomen in zweifelhaften Milieus, sondern kann zum wirtschaftlichen Problem für jedermann werden.
Geldwäsche ist ein kreatives Geschäft. Es sind mittlerweile Fälle bekannt, bei denen populäre Onlinespiele
als Plattformen für Geldwäsche genutzt wurden. Die
Nutzung des Internets bietet zahlreiche neue Möglichkeiten der „Geldkonvertierung“; die legendären Waschsalons Al Capones sind längst Geschichte.
Es gilt daher, jetzt und in Zukunft viele Abwägungen
zu treffen, um weder eine Überwachungshysterie noch
rechtsfreie Räume entstehen zu lassen. Die Antwort auf
einen möglichen Missbrauch von Zahlungsströmen und
-möglichkeiten darf nicht einfach „mehr Datensammelei“ heißen, was angesichts der Erfahrungen der letzten
Jahre zu befürchten ist. Ein Wust von teils föderalen und
meist branchenspezifischen Aufsichtsinstitutionen, die
zwar den ehrlichen Unternehmen viele Lasten aufbrummen, aber keinem systematischen und koordinierten Ansatz der Geldwäscheprävention folgen, wird bei Geldwäschern wenig Aufruhr verursachen.
So ist eine weitere Erfahrung der letzten Jahre, dass
zahlreiche Defizite beim Vollzug in den Bundesländern
bestehen. Das gilt zum einen für die Steuerfahndung.
Die Ausstattung, vor allem mit Personal, bei der Steuerfahndung ist dürftig, Geldwäsche geht aber oft mit der
eben erwähnten Steuerhinterziehung einher. Das gilt
aber auch ganz konkret bei der Umsetzung der spezifischen Geldwäschenormen. Hier sei an das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland Anfang des Jahres erinnert. Einige Bundesländer
hatten nach drei Jahren nicht einmal die Benennung von
Aufsichtsbehörden umgesetzt - vom Unterschied zwischen einer formal benannten und einer real funktionierenden Aufsicht ganz zu schweigen.
Wenn die Bundesregierung willens ist, Geldwäsche
als Problem ernst zu nehmen, wenn tatsächlich ein höherer Anteil an Geldwäscheaktivitäten enttarnt werden
soll, dann braucht es eine Verständigung, wo und wie
das nötige Personal für Aufsicht, Ermittlung und Vollzug
eingesetzt werden soll. Es braucht eine konsequente
Bund-Länder-Strategie. Bei dieser Gelegenheit muss
gleichzeitig die Architektur der Aufsicht auf den Prüfstand. Ein aktuelles Beispiel ist das kürzlich beschlossene Glücksspielgesetz in Schleswig Holstein. Es betrifft, wie gesagt, einen für Geldwäsche sensiblen
Bereich und verfolgt eine verfehlte Liberalisierungsstrategie. Da Glücksspiel heutzutage verstärkt im Internet
stattfindet, da Schleswig-Holstein dadurch zum deutschen Las Vegas werden und Kunden über die eigenen
Landesgrenzen hinaus anziehen könnte, hat die Fehlentscheidung eines einzelnen Bundeslandes Auswirkungen
für alle Länder.
Mit der Gesetzesnovelle sind die Bundesministerien
für Finanzen, Wirtschaft, Inneres und Justiz für die Prävention zuständig. Das entspricht durchaus der Materie,
macht jedoch deutlich, dass die Koordination auf Bundesebene bereits aufwendig ist. Dies mag auch erklären,
warum eine nachvollziehbare Strategie Deutschlands
bei der Bekämpfung der Geldwäsche bisher ausbleibt.
Das beim BMF geplante Expertengremium zum Thema
ist zwar ein Lichtblick in der Gesetzesbegründung, sofern wir erwarten können, dass die zahlreichen Stimmen
aus Fachkreisen dort ernst genommen werden.
Kürzlich fand eine Geldwäschetagung von Organisationen wie dem Bund Deutscher Kriminalbeamter, der
Deutschen Steuer-Gewerkschaft, dem Bund der Richter
und Staatsanwälte und der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft statt. Der Vergleich der dort diskutierten
Probleme mit dem jetzigen Gesetzentwurf offenbart,
dass die Bundesregierung von einer politischen Agenda
gegen Geldwäsche weit entfernt ist. Nicht zuletzt wird
deutlich, dass angesichts der Summen und der Strukturen, um die es geht, die Sanktionen manchmal zu gering
sind. Im nun anstehenden Gesetzgebungsverfahren werden wir uns deshalb unter anderem dafür starkmachen,
den Bußgeldrahmen für besonders schwere Verstöße zu
erhöhen. Dies entspricht nicht nur den Monita der FATF,
sondern auch den Empfehlungen des Bundesrates.
Für die Integrität des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist es von großer Bedeutung, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung wirksam zu verhindern. Um dieses
Ziel zu erreichen, hat die Bundesregierung den Entwurf
Zu Protokoll gegebene Reden
für ein Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention vorgelegt.
Dabei wollen wir nicht nur die nationalen Maßnahmen wirksamer ausgestalten, sondern zugleich auch die
einschlägigen internationalen Standards sowie die
Dritte EU-Geldwäscherichtlinie vollständig umsetzen.
Dies ist aus zwei Gründen dringend angezeigt:
Zum einen hat die Financial Action Task Force on
Money Laundering, abgekürzt FATF, nach intensiver
Evaluierung in ihrem Prüfbericht vom Februar 2010
Defizite im deutschen Rechtssystem bei der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung festgestellt. Die dort im deutschen Rechtssystem gesehenen
Defizite bestehen insbesondere bei der geldwäscherechtlichen Regulierung sogenannter Nichtfinanzunternehmen, das heißt der Gewerbeunternehmen wie zum
Beispiel Versicherungsvermittler, Immobilienmakler
oder Spielbanken im Zuständigkeitsbereich der Bundesländer. Deutschland ist als Gründungsmitglied der
FATF verpflichtet, die international maßgeblichen
FATF-Empfehlungen zur Prävention von Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung einzuhalten. Die Bundesregierung möchte die konstatierten Mängel innerhalb
der gesetzten Zeitvorgabe beheben. Deutschland muss
im Februar 2012 über seine Fortschritte an die FATF
berichten. Von diesem Ergebnis wird es abhängen, ob
Deutschland mit weiteren Maßnahmen der FATF rechnen muss.
Zum anderen hat die Europäische Kommission Mängel im Zusammenhang mit der nationalen Umsetzung
der europarechtlich verbindlichen Dritten Geldwäscherichtlinie aufgezeigt.
Seien Sie versichert: Die Bundesregierung hat die
von der FATF und der Europäischen Kommission gerügten Mängel bei den geldwäscherechtlichen Vorschriften
genau analysiert und die Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, sorgfältig geprüft und abgewogen. Viel ist bereits
umgesetzt. Soweit die festgestellten Defizite den Bereich
der Kredit-, Finanzdienstleistungs- und Zahlungsinstitute, Versicherungsunternehmen sowie die Kompetenzen
der für den Nichtfinanzsektor zuständigen Aufsichtsbehörden betreffen, wurden diese bereits durch das Gesetz
zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie vom
1. März 2011 und das sogenannte OGAW-IV-Umsetzungsgesetz vom 22. Juni 2011 beseitigt.
Der Entwurf für ein Gesetz zur Optimierung der
Geldwäscheprävention stellt mit einem Paket von Maßnahmen zur Behebung der noch verbliebenen Defizite
einen ganz wesentlichen Baustein dar. Mit den Maßnahmen des Gesetzes wird niemand unter Generalverdacht
gestellt. Es geht nicht zuletzt um die Einhaltung der Verpflichtungen Deutschlands international und auf europäischer Ebene. Wir sollten uns international in die
Reihe der im guten Sinne beispielgebenden Länder einreihen. Dazu gehören wir zurzeit nicht in allen Bereichen. Die Minimierung von Geldwäscherisiken liegt
schließlich mit Blick auf potenzielle Reputationsschäden
- für den Einzelnen wie für den Wirtschaftsstandort
Deutschland insgesamt - auch im Eigeninteresse der
verpflichteten Unternehmen.
Selbstverständlich ist dabei darauf Wert zu legen, unsere mittelständischen Unternehmen in der praktischen
Ausgestaltung der Regelungen nicht ungebührlich bürokratisch zu belasten. Gerade diese Frage wird im Rahmen der jetzt beginnenden parlamentarischen Beratungen zu diskutieren sein.
Ich bitte um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6804 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch hier
sind Sie einverstanden. - Dann wird das so gemacht.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes und des Handelsstatistikgesetzes
- Drucksache 17/6851 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 17/7200 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({1})
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf sind drei
wesentliche Regelungsschwerpunkte verbunden. Das
Beherbergungsstatistikgesetz, das Handelsstatistikgesetz und last but not least die Aufhebung von Vorschriften zum Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises; kurz: ELENA.
Ich meine, die Regelungen zum Beherbergungsstatistikgesetz und zum Handelsstatistikgesetz sind weniger
kontrovers diskutiert in diesem Haus als das ELENAVerfahren. Das Beherbergungsstatistikgesetz wird europarechtlich harmonisiert, und darüber hinaus geht es
um Entbürokratisierung. Betriebe und statistische Ämter
werden entlastet.
Ebenso wird das Handelsstatistikgesetz novelliert.
Die Wirtschaft wird mit dem Gesetz in den Bereichen
Kfz- und Großhandel durch die Einführung sogenannter
Mixmodelle von statistischen Berichtspflichten entlastet.
Im Kfz-Handel wird mit den vorgeschlagenen Mixmodellen der Erhebungsumfang der Primärerhebung von
derzeit 5 700 Unternehmen auf etwa 2 800 gesenkt.
Auch im Großhandel wird der Erhebungsumfang um
etwa die Hälfte gesenkt - von 11 000 auf etwa 5 500.
Bei kleinen und mittleren Unternehmen unterhalb der
Abschneidegrenzen haben die Mixmodelle eine vollständige Entlastung zur Folge, da die erforderlichen Angaben aus Verwaltungsdaten gewonnen werden. Die Abschneidegrenzen liegen im Kfz-Handel bei 10 Millionen
Euro Jahresumsatz oder 100 Beschäftigten und im
Großhandel bei 20 Millionen Euro Jahresumsatz oder
100 Beschäftigten. Wir entlasten damit kleine und mitDr. Matthias Zimmer
telständische Betriebe, bei Sicherung der notwendigen
Qualität der statistischen Erhebung.
Nun komme ich auf ein häufig in unterschiedlichster
Weise diskutiertes Thema. Von Verteufelung bis Heilsbringung hat man ELENA schon alles nachgesagt. Das
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben
sich nach eingehender Überprüfung des ELENA-Verfahrens darauf verständigt, das Verfahren schnellstmöglich
einzustellen. Ich zitiere aus der gemeinsamen Pressemitteilung:
Grund ist die fehlende Verbreitung der qualifizierten elektronischen Signatur. Umfassende Untersuchungen haben jetzt gezeigt, dass sich dieser Sicherheitsstandard, der für das ELENA-Verfahren
datenschutzrechtlich zwingend geboten ist, trotz aller Bemühungen in absehbarer Zeit nicht flächendeckend verbreiten wird. Hiervon hängt aber der
Erfolg des ELENA-Verfahrens ab.
Dies ist zwar nicht die erfreulichste Entwicklung,
zeigt aber ein verantwortungsvolles Umgehen mit dem
Thema seitens der involvierten Ministerien. Die Opposition mag es kaum glauben, aber verantwortungsvolles
Regierungshandeln umfasst auch die Überprüfung vorhandener oder eingeführter Instrumente.
Zum weiteren Verfahren ist Folgendes zu sagen: Die
Bundesregierung wird dafür Sorge tragen, dass die bisher gespeicherten Daten unverzüglich gelöscht und die
Arbeitgeber von den bestehenden elektronischen Meldepflichten entlastet werden. Es ist der Bundesregierung
ein wichtiges Anliegen, Lösungen aufzuzeigen, die die
bisher getätigten Investitionen der Wirtschaft aufgreifen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
wird ein Konzept erarbeiten, mit dem die bereits bestehende Infrastruktur des ELENA-Verfahrens und das
erworbene Know-how für ein einfacheres und unbürokratisches Meldeverfahren in der Sozialversicherung
genutzt werden können.
Dies ist auch zwingend nötig, denn die Einstellung
von ELENA ist nicht die Aufgabe einer sehr guten und
den Unternehmen zugutekommenden Idee, denn die Unternehmen haben erheblich in die Meldetechnik im Rahmen des ELENA-Verfahrens investiert. Die Datenstelle
der Träger der Rentenversicherung und die Informationstechnische Servicestelle der gesetzlichen Krankenversicherung sowie die Bundesagentur für Arbeit haben
beim Aufbau und in der Meldephase des ELENA-Verfahrens hervorragende Arbeit geleistet und ein umfangreiches Know-how erworben. Die Bundesregierung will im
Rahmen eines neuen Projekts - auch unter dem Gesichtspunkt des Bürokratieabbaus - sicherstellen, dass
die getätigten Investitionen nicht vergeblich waren und
das erworbene Wissen nutzbringend eingesetzt werden
kann. Vor allem ist der Einsparungseffekt für die Unternehmen nicht zu vernachlässigen, denn mit dem ELENAVerfahren können die Unternehmen jährlich rund
90 Millionen Euro einsparen.
Als Fazit kann man festhalten: Nach verantwortungsvoller Prüfung eines eingeführten Instrumentes und der
zwischenzeitlichen Einstellung wird ELENA weiterentwickelt und unseren Unternehmen zugutekommen. Dies
wäre ein guter Grund, dass die Opposition konstruktiv
mitarbeitet.
Vor 16 Jahren hat der Deutsche Bundestag die
Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft
und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ eingesetzt. In fast vierjähriger Arbeit
haben wir alle Aspekte des Themas ausgeleuchtet, ohne
I-Phones, I-Pads, Facebook usw. auch nur ansatzweise
zu erahnen. Aber was wir damals zu wissen glaubten,
liest sich auf Seite 187 im Band 9 des 1998 vorgestellten
Schlussberichts wie folgt: „Mit der Einführung der digitalen Signatur, der elektronischen Unterschrift und einer
verbesserten Sicherheitstechnik können in absehbarer
Zukunft zunehmend mehr Anträge und Bescheide über
das Netz abgewickelt werden. Beim Wohnungswechsel
wird dann der mehrfache Gang zur Meldebehörde überflüssig.“
In der Tat haben wir damals einen Blick in die Zukunft gewagt, wobei wir schon die eine oder andere
Stellschraube kannten, zum Beispiel die digitale Signatur.
2001 haben wir das Gesetz für elektronische Signaturen eingeführt. In 2002 wurde die Job-Card-Initiative,
der Vorläufer von ELENA, gestartet. In NRW wurde dieses System sogar in „echt“ getestet; das Ergebnis war
positiv. Anfang 2009 wurde ELENA dann endgültig beschlossen und trat am 1. Januar 2010 in Kraft und Arbeitsministerin von der Leyen verkündete zuversichtlich:
„ELENA entlastet Arbeitnehmer.“
Und jetzt - drei Monate vor erstmaliger Anwendung,
heißt es: Kill ELENA! Damit katapultiert diese Bundesregierung unser Land zurück - nicht ganz in die Steinzeit, aber zumindest ins 20. Jahrhundert! Selbst das
kleine Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern ist
weit fortschrittlicher als wir. In Deutschland erfunden
und entwickelt, verstolpern wir unsere eigenen Innovationen. Und wir sollen attraktiv sein für Computerspezialisten? Wenn die das hier erleben, dann glauben die
sich doch in einem Kostümfilm nach dem Motto: So
schön waren die 80er des letzten Jahrhunderts.
Und warum das alles? Wegen Datenschutz? Nein, der
spielt keine Rolle mehr, weil erkannt wurde, dass er den
Anforderungen des BVerfG entspricht, ja sogar darüber
hinaus geht, was andere wieder als Problem hinstellen.
Jetzt ist es die fehlende Verbreitung der qualifizierten
elektronischen Signatur. Dabei haben wir erst seit zehn
Jahren ein Signaturgesetz, das genau für Anwendungen
wie ELENA geschaffen wurde. 2007 wurde die Grundsatzentscheidung für ELENA im Bundeskabinett getroffen. Aber weder die Minister Glos, von Guttenberg,
Brüderle oder Rösler haben irgendwelche Anstrengungen unternommen, um dieses Authentifizierungsmerkmal unter die Menschen zu bringen. Dabei waren die
Minister doch sonst in Sachen Öffentlichkeitsarbeit nie
zögerlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wie leicht hätte man diese elektronische Signatur an
einer anderen Karte mit anbringen können! Jetzt argumentiert diese Regierung, dass man sie mit dem neuen
Personalausweis verbinden könnte in Form eines elektronischen Identitätsnachweises. Aber bis jeder einen
solchen hätte, schrieben wir nicht nur das Jahr 2020,
sondern die Justizministerin hatte schon im Vorfeld ihre
Bedenken angemeldet, weil nicht der gleich hohe Schutz
wie bei der qualifizierten elektronischen Signatur erreicht würde. Also auch diese Idee für die Katz.
Vom Fleck gekommen ist diese Regierung keinen Millimeter. Aber Kosten hat sie erzeugt bei den Betrieben,
Unternehmen und Verwaltungen - und das in dreistelligem Millionenbereich. Ob da jemand „Schadenersatz“
ruft oder ob eine Art „ELENA II“ kommt, bei der Vorhandenes verwendet wird? Wieder Fehlanzeige. Die
Bundesregierung hat derzeit keine konkreten Pläne für
die künftige Nutzung der für ELENA geschaffenen
Infrastruktur, aber Hauptsache, das Ding ist weggehauen! Ich nenne ein solches Verhalten plan-, ziel- und
kopflos - einer Bundesregierung eigentlich unwürdig.
Der Presse war zu entnehmen, dass man ein „projektorientiertes Meldeverfahren in der Sozialversicherung“
beschlossen hätte, zunächst als „Forschungsprojekt“!
Nicht nur, dass das wieder ein paar Jährchen Zeit kostet:
Was wollen Sie denn noch zusätzlich erforschen! Es gibt
doch Studien, Gutachten, Erfahrungsberichte zuhauf.
Innovation, meine Damen und Herren von der Regierungsseite, sieht anders aus. Dafür muss man das Wort
nicht nur schreiben können, sondern auch handeln. Und
handeln tun Sie, aber wie: Weil es das Wirtschaftsministerium nicht bringt, soll es jetzt das Arbeitsministerium
richten.
Und ganz nebenbei haben Sie mit dem „Aus“ für
ELENA dafür gesorgt, dass die Steuerberater die nächsten Jahre noch auf ihre Kosten kommen mit dem Ausstellen von Papierbescheiden, gell!
Aber eines sollten Sie sich merken: Das Vertrauen,
das Sie durch Ihre Verhaltensweise bei Betrieben, Unternehmen und den Menschen in einem so sensiblen Bereich zerstört haben, das können Sie nicht durch einen
Ressortwechsel wiederherstellen. ELENA funktioniert
- man muss es nur wollen -, aber Sie wollen nicht! Und
wir wollen Ihr Abschaltgesetz nicht!
Ich freue mich, dass ich als tourismuspolitischer
Sprecher meiner Fraktion die Gelegenheit habe, die
Auswirkungen des vorliegenden Gesetzentwurfes auf
den Deutschlandtourismus darstellen zu können.
Wie man der Presse entnehmen konnte, boomt der
Deutschlandtourismus wie nie zuvor. Deutschland ist
das beliebteste Reiseziel der Deutschen. Im Vergleich zu
2009 ist letztes Jahr die Zahl der Übernachtungen inländischer Reisender um 2 Prozent auf erstmals mehr als
320 Millionen gestiegen, und dies trotz der Finanz- und
Wirtschaftskrise. Auch mit 60 Millionen Übernachtungen Reisender aus dem Ausland haben wir einen historischen Höchststand erreicht.
Die Übernachtungen in Städten mit mehr als 100 000
Einwohnern nahmen im Vergleich zum Vorjahr um
9 Prozent zu. Deutschland liegt auf Platz eins bei den
Übernachtungen europaweit. Die Städte Berlin, München, Hamburg und Frankfurt liegen in der Statistik unter den 15 Städten mit den meisten Übernachtungen auf
unserem Kontinent. Knapp 356 Millionen Übernachtungen wurden 2010 in gewerblichen Betrieben über 9 Betten gezählt. Hinzu kommen 87 Millionen Übernachtungen in Privatunterkünften und 24,4 Millionen auf
Campingplätzen. Dies wird belegt durch den Sparkassen-Tourismusbarometer 2010.
Das Statistische Bundesamt befragt momentan bei
der Monatserhebung im Tourismus ausschließlich Betriebe, die 9 und mehr Schlafgelegenheiten anbieten, das
heißt mehr als 8 Gäste gleichzeitig unterbringen können. Campingplätze müssen bisher mindestens 3 Stellplätze zur Verfügung stellen, um mit ihren Angaben Eingang in die Statistik zu finden.
Das soll sich nach dem Willen der Bundesregierung
ändern. Die einheitliche Abschneidegrenze, die die umzusetzende EU-Richtlinie vorgibt, liegt bei 10 und mehr
Betten und 10 und mehr Stellplätzen bei Campingplätzen. Keiner hindert uns daran, die statistische Erfassung
in Deutschland auf dem bisherigen Niveau zu belassen.
Bei dieser Forderung ist sich die SPD-Bundestagsfraktion einig mit Empfehlungen aus der Tourismusbranche.
Ich beziehe mich hier insbesondere auf die dem Tourismusausschuss vorliegenden Stellungnahmen des Deutschen Tourismusverbandes und des Bundesverbandes
der Campingwirtschaft in Deutschland.
Die vorgesehene Erhöhung der Abschneidegrenze
stößt aufgrund der spezifischen kleinst- und kleinbetrieblichen Strukturen, insbesondere im ländlichen
Raum, auf verständliche Proteste aus der Branche. Eine
interne Analyse des Bundesverbandes der Campingwirtschaft in Deutschland lässt darauf schließen, dass nach
der geplanten Erhöhung der Abschneidegrenze im Teilmarkt „Wohnmobilstellplätze“ rund 1,5 bis 2 Millionen
Touristikübernachtungen künftig nicht mehr durch die
amtliche Statistik erfasst würden. Das Übernachtungsangebot auf Wohnmobilstellplätzen ist inzwischen wesentlicher Bestandteil des deutschen Campingangebotes
und sollte daher weiter in die amtliche Statistik einfließen.
Der Deutsche Tourismusverband weist darauf hin,
dass entsprechend den Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland insgesamt nahezu 660 Millionen private und geschäftliche Übernachtungen getätigt
werden. Dies sind 280 Millionen Übernachtungen mehr,
als die bisherige amtliche Beherbergungsstatistik mit
Angaben über mehr als 8 Betten ausweist.
In den letzten Jahren ist im Tourismusausschuss und
von den Verbänden sowie im Übrigen auch von der Bundesregierung das Zahlenwerk über den Tourismus in
Deutschland hinterfragt wurden. Wir waren uns einig,
dass die Zielgenauigkeit der statistischen Angaben erhöht werden muss, um für die Entscheidungen im Bereich der touristischen Infrastruktur eine qualifizierte
Grundlage zu schaffen. Das liegt im Interesse der TouZu Protokoll gegebene Reden
rismusbranche aber auch der Kommunen und der Länder.
Die Aussagekraft der Beherbergungsstatistik wird
dagegen nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
verwässert. Das wird auch nicht durch die angebliche
Reduzierung von Bürokratiekosten im Umfang von
89 000 Euro jährlich ausgeglichen, deren Betrag sich
jedoch durch zusätzliche Befragungen um 40 000 Euro
jährlich reduziert.
Die Bundesregierung argumentiert in ihren Gesetzentwurf mit der Verpflichtung des Statistischen Bundesamtes zur Lieferpflicht von Tourismusdaten an das Statistische Amt der Europäischen Union. Ich hatte bereits
darauf hingewiesen, das einer differenzierten Erhebung
von statistischen Angaben nichts im Wege steht und wir
trotzdem die Berichtspflicht gegenüber der Europäischen Union erfüllen können.
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass Deutschland
mit durchschnittlich 48 Schlafgelegenheiten deutlich
kleinere Beherbergungseinheiten als andere EU-Länder
wie zum Beispiel Frankreich mit 70 Betten pro Betrieb
hat.
Die Beherbergungsbranche benötigt umfassende
Zahlen, um sich auf Strukturveränderungen einstellen zu
können. Und die Politik benötigt ebenfalls aussagefähiges und somit belastbares statistisches Zahlenmaterial.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird diesem
Erfordernis aus Sicht der Tourismuspolitik nicht gerecht.
Wir stimmen gegen den Gesetzentwurf, weil es keiner
Änderung der Beherbergungsstatistik bezüglich der Abschneidegrenze bedarf, sondern wir eine Qualifizierung
der Statistikangaben benötigen.
Mit der Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes
und des Handelsstatistikgesetzes wird das Ziel von Bürokratieabbau für kleine und mittlere Unternehmen verfolgt. Mit der Umsetzung einer neuen Verordnung der
Europäischen Union ist für das Beherbergungsgewerbe
insgesamt eine Entlastung von Bürokratielasten verbunden, da in Zukunft nur noch Betriebe, die mindestens
zehn Gäste gleichzeitig aufnehmen können, zur Ablieferung von statistischen Daten verpflichtet sind. Für
diesen vom Mittelstand geprägten Wirtschaftsbereich
bedeutet dies eine große Erleichterung, die wir sehr begrüßen. Durch die Änderung der statistischen Berichtspflichten zur Handelsstatistik im Kfz- und Großhandel
werden weniger Datenerhebungen erforderlich, da die
Zahl der berichtspflichtigen Unternehmen erheblich gesenkt wird. Das kommt den kleinen und mittleren Unternehmen zugute, die uns besonders am Herzen liegen.
Gerade den Mittelstand von Bürokratielasten zu befreien, ist dieser Koalition ein wichtiges Anliegen, das
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vorangetrieben
wird.
Es gibt aber noch mehr Erfreuliches zu sagen; denn
durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen ist
ein weiterer Aspekt in dieses Gesetzgebungsverfahren
gekommen. Auf Drucksache 15/2315 erklärte die damalige rot-grüne Bundesregierung: „Ziel des Projektes
JobCard ist … der Einstieg in die zentrale Speicherung
von Arbeitnehmerdaten zur Entbürokratisierung der
Verwaltung.“ Am 15. März 2010 erklärte die Partei
Bündnis 90/Die Grünen in einer Pressemitteilung: „Seit
dem 1. Januar 2010 werden in Deutschland Informationen über Arbeitnehmer/innen wie zum Beispiel Einkommensnachweise zentral elektronisch gesammelt. … Wir
lehnen diese massenhafte und unbestimmte Datensammlung ab. Statt Datensparsamkeit gibt es neue Datenberge.“ Vielleicht sollte man den Grünen zu ihrer
- wenngleich späten - Einsicht gratulieren.
Aber man darf nicht vergessen: Erfunden hat das Datenmonster ELENA Rot-Grün. Man darf auch nicht
übersehen: Die Grünen reden gerne über Bürgerrechte;
aber wenn sie regieren, dann sieht es doch ganz anders
aus. In Baden-Württemberg steht in Ihrem Koalitionsvertrag, dass sie die Vorratsdatenspeicherung wieder
einführen wollen. In der Zeit der rot-grünen Bundesregierung hatten Sie keine Not damit, sich für eine „zentrale Speicherung“ aller Arbeitnehmerdaten einzusetzen.
In der erwähnten Pressemitteilung haben die Grünen
aufgefordert, sich der Verfassungsbeschwerde gegen das
ELENA-Verfahren anzuschließen. Die Verfassungsbeschwerde verfolgt - richtigerweise - die Aufhebung des
Gesetzes, das von den Beschwerdeführern für verfassungswidrig gehalten wird. Mit dem heute zu beschließenden Gesetz erübrigt sich die Verfassungsbeschwerde
zum Glück. Wir warten nicht darauf, dass Karlsruhe unsere Arbeit macht. Wir machen sie lieber selbst - und
haben nach gründlicher Prüfung entschieden, ein Gesetz, das wir für falsch halten, aufzuheben. Dass es den
Grünen aber dann doch nicht darum geht, jetzt schnell
und im parlamentarischen Verfahren das zu erreichen,
was sie vorgeblich wollen, hat sich gestern im Wirtschaftsausschuss gezeigt: Da haben Sie nämlich versucht, das Verfahren zu verlangsamen und zu verzögern.
Da müssen Sie sich schon mal entscheiden, was sie wollen. Wenn es Ihnen ernst ist mit Datenschutz, wenn Sie
wirklich meinen, was Sie sagen, dann müssen Sie heute
für die Aufhebung des ELENA-Verfahrens stimmen. Ihr
Stimmverhalten heute ist der Lackmustest für Ihre Politik.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Fraktionen von CDU/CSU und FDP haben sich für das Richtige
entschieden: Sie haben die Einsicht, dass die von den
Grünen erfundene „zentrale Datenspeicherung“ der
falsche Weg ist, umgesetzt und die konsequente Entscheidung getroffen: die Aufhebung des ELENA-Verfahrens. Das ist nicht nur für den Datenschutz eine gute
Nachricht, sondern auch für die kleinen und mittleren
Unternehmen, die von unnötiger Datensammelwut befreit werden. Es ist zugleich eine gute Nachricht für die
Kommunen. Die kommunalen Spitzenverbände hatten
errechnet, dass das verfehlte Verfahren die Kommunen
mit zusätzlichen 236 Millionen Euro allein in den Bereichen Arbeitsagenturen, Elterngeld und Wohngeld belasten würde. Die kommunalen Spitzenverbände stellten
fest, dass das geplante ELENA-Verfahren sogar zu einer
Zu Protokoll gegebene Reden
zusätzlichen Bürokratiebelastung für die Bürgerinnen
und Bürger führen würde, obwohl das Verfahren eigentlich auf das Gegenteil zielen sollte.
Wir schauen gleichzeitig in die Zukunft: Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung beschlossen hat, die
Erfahrungen des ELENA-Verfahrens zu nutzen, um künftig vernünftige Lösungen für E-Government zu finden.
Dabei hat sie eines klipp und klar und unzweifelhaft
deutlich gemacht und ihn ihrem Eckpunktepapier auch
beschlossen: Eine zentrale Datenspeicherung wird es
dabei nicht mehr geben.
Der Stopp für das ELENA-Verfahren ist kein Rückschritt in die Bürokratiesteinzeit, sondern die Chance,
jetzt ein vernünftigeres und unbürokratisches Verfahren
zu entwickeln. Die bereits gewonnenen Erfahrungen in
den Unternehmen bezüglich sicherer elektronischer Datenübermittlung können und müssen hierbei ebenso einbezogen werden wie die neueren Entwicklungen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung insgesamt.
Insbesondere muss berücksichtigt werden, wie elektronische Verfahren für die Bürgerinnen und Bürger einfach,
praktikabel und unbürokratisch ausgestaltet werden
können, ohne dabei Datenschutz und Datensicherheit
aus den Augen zu verlieren. Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Bundesregierung tatkräftig darin unterstützen, Lösungen zu finden, die für Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger wie auch die Kommunen tragfähig
und zukunftsgerichtet neue Medien für Entbürokratisierung nutzbar machen.
Sprichwörtlich heißt es: Das Gegenteil von „gut gemacht“ ist „gut gemeint“. Was dabei nämlich herausgekommen ist, dass Rot-Grün es „gut gemeint“ hat, sieht
man beim ELENA-Verfahren. Wir hingegen machen es
gut. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Das ist der Unterschied für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, deren Daten jetzt nicht mehr anlasslos
zentral gespeichert werden, für die Kommunen, deren
Haushalte nicht mit sinnlosen Millionenbeträgen für
mehr Bürokratie belastet werden, für die kleinen und
mittleren Unternehmen, die nicht mehr ohne Anlass Daten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erheben und
übermitteln müssen. Das ist der Unterschied für die
Menschen in Deutschland.
Das Beherbergungsstatistikgesetz ist eigentlich keine
große Sache. Es regelt die Auskunftspflichten der Unternehmen für die Tourismusstatistik. Eine neue EU-Verordnung verpflichtet alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu weiteren statistischen Angaben, und das
Gesetz wird nunmehr entsprechend geändert.
Für Betriebe der Hotellerie mit mehr als 25 Zimmern
werden zusätzlich Angaben zur Zimmerauslastung erhoben. Die von der EU verlangten Änderungen der Beherbergungsstatistik sind sinnvoll. Größere Unternehmen
müssen gehaltvollere Informationen liefern, während
gleichzeitig kleinere Unternehmen von Berichtspflichten
entlastet werden. So weit so gut.
Wir hätten zustimmen können, wenn Sie nicht einen
bedeutenden Punkt einfach übergangen hätten: Deutschland hat - übrigens wie auch die EU - die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Sie ist in Deutschland
seit dem 26. März 2009 geltendes Recht! Die Förderung
des barrierefreien Tourismus ist - nicht nur für die Linke
und die Behindertenbewegung - eine zentrale Zielstellung in der Tourismuspolitik. Dies wird unter anderem in
den tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung und der Koalitionsvereinbarung deutlich.
Wir wissen, unter anderem dank des Beherbergungsstatistikgesetzes, ziemlich genau, wie viele Gästezimmer
und -betten es in unserem Land gibt. Es fehlen jedoch bis
heute Angaben darüber, wie viele barrierefreie Unterkünfte zur Verfügung stehen. Ich weiß aus eigenem Erleben sehr gut, wie schwer es ist, ein rollstuhlgerechtes
Hotelzimmer zu finden. Wie oft muss ich nach einer Veranstaltung noch einmal in ein Auto steigen, weil die Hotels am Veranstaltungsort kein barrierefreies Zimmer für
mich haben. Das beginnt in Altenberg im Erzgebirge,
geht über Bremen, Nürtingen bis nach Zarrentin und Zittau.
Wenn wir daran etwas - auch mit Blick auf die
Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere auf die Präambel sowie die Art. 9, 20
und 30 - zielgerichtet ändern wollen, brauchen wir genauere Informationen über den Istzustand.
Das können wir mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Änderungsantrag der Linken leicht erreichen. Es
geht um die Einfügung von zwei Worten und schon wissen wir künftig anhand der geforderten Meldung über
die Zahl von barrierefreien Gästebetten und Gästezimmern, wo wir hinsichtlich der Barrierefreiheit in
Beherbergungseinrichtungen stehen. Der damit verbundene Mehraufwand ist - auch mit Blick auf Art. 31 „Statistik und Datensammlung“ der UN-Behindertenrechtskonvention - mehr als gerechtfertigt.
Leider haben die anderen Fraktionen unseren Änderungsantrag in den Fachausschüssen mit den kuriosesten Begründungen abgelehnt, und ich nehme an, dass
dies auch in der folgenden Abstimmung so sein wird.
Dies zeigt wieder einmal, wie ernst die Bekenntnisse zur
Förderung des barrierefreien Tourismus zu nehmen
sind. Es ist - das sage ich auch als selbst Betroffener und
Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in
Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ - für
dieses Hohe Haus einfach nur beschämend.
Nun noch einige Bemerkungen zum Handelsstatistikgesetz: In den Bereichen Kfz- und Großhandel sollen bei
den monatlichen Erhebungen Mixmodelle eingeführt
werden, bei denen die Angaben aus zwei unterschiedlichen Quellen stammen: aus Primärerhebungen und aus
Verwaltungsregistern. Diese Mixmodelle entlasten die
Betriebe, sichern jedoch vermutlich die notwendige
Qualität und Zuverlässigkeit der Daten.
Primärerhebungen mit Daten aus Verwaltungsregistern zu kombinieren, ist sinnvoll. Die Zahl der zu befragenden Unternehmen kann gesenkt werden. Eine Halbierung der Zahl auskunftspflichtiger Unternehmen geht
Zu Protokoll gegebene Reden
allerdings zu weit. Es wäre besser, die Zahl der berichtenden Unternehmen zunächst behutsam zu senken.
Denn welche Datenqualität das neue Mixmodell liefert,
ist noch ungewiss.
Vollkommen lächerlich haben Sie sich aber gemacht,
als sie die Abwicklung ihres gescheiterten ELENA-Projekts zur elektronischen Übermittlung von Einkommensnachweisen einfach an die beiden anderen Entwürfe
drangehängt haben. Sie wollten sich die Peinlichkeit ersparen, das noch einmal im Scheinwerfer der Öffentlichkeit tun zu müssen. Das ist ja verständlich, aber es entspricht dennoch nicht den parlamentarischen Sitten.
Die Linke lehnt aus den genannten Gründen den Gesetzentwurf ab.
Seit der gestrigen Sitzung des Wirtschaftsausschusses
hat das Beherbergungsgesetz erheblich an Brisanz gewonnen. Union und FDP haben dem an sich recht harmlosen Statistikänderungsgesetz die Einstellung des hochumstrittenen ELENA-Verfahrens angehängt. Ein Ende
mit Schrecken ist in aller Regel besser als ein Schrecken
ohne Ende. Allerdings kommt diese Einsicht von
Schwarz-Gelb fast zwei Jahre zu spät. Gestartet ist
ELENA Anfang des Jahres 2010. Schnell war klar, dass
der eigentlich gute Ansatz, die Unternehmen von Millionen von Papierbescheinigungen zu befreien, zu einem
Bürokratiemonster mutiert. Die Kosten des Verfahrens
explodierten, und die Verunsicherung bei Unternehmen
und Bürgern wuchs. Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung im
März 2010 war für jeden, der sehen wollte, glasklar,
dass ELENA auch datenschutztechnisch völlig aus dem
Ruder gelaufen ist.
Wir Grünen haben die Regierung damals aufgefordert, genau das zu tun, was sie jetzt endlich tut, nämlich
die elektronischen Meldepflichten der Arbeitgeber aufzuheben und die bereits erfassten Datensätze zu löschen.
Union und FDP haben das damals leider abgelehnt, sie
brauchten weitere eineinhalb Jahre, um sich das Scheitern ihres elektronischen Meldeverfahrens einzugestehen. Das ist Politikunfähigkeit auf dem Rücken von
2 Millionen vor allem kleinen und mittleren Unternehmen. Diese haben Monat für Monat die gesetzlich geforderten Meldepflichten erfüllen müssen. Mittlerweile stapeln sich 700 Millionen Datensätze bei der zentralen
Sammelstelle - ein Aufwand von mehreren 100 Millionen Euro für die Wirtschaft, der den Unternehmen kein
bisschen Bürokratieabbau gebracht hat. Auch wenn
ELENA noch von der Großen Koalition beschlossen
worden war: Die Verantwortung für die ineffiziente Datenflut über viele Monate liegt bei Union und FDP. Das
Vertrauen der Unternehmen in den Willen und die Fähigkeit der schwarz-gelben Regierung zum Bürokratieabbau ist schwer beschädigt.
Offenbar ist das auch den Koalitionären klar, und
vermutlich wurde das Aus für ELENA deshalb heimlich,
still und leise in der parlamentarischen Sommerpause
verkündet. Peinlich ist auch das jetzige Verfahren:
Union und FDP bringen die ELENA-Beendigung per
Koalitionsantrag am Normenkontrollrat vorbei in den
Bundestag ein. Im Wirtschaftsauschuss wurde dann gestern auch noch der Antrag von uns Grünen, den Normenkontrollrat doch noch hinzuzuziehen, niedergestimmt. Das ist ganz schlechter Politikstil. Wir werden
den Gesetzentwurf aus diesem Grund komplett ablehnen.
Die erweiterten Möglichkeiten zur Überprüfung von
Bürokratiekosten durch den Normenkontrollrat sind damit gleich im ersten Praxistest von der Koalition blockiert worden. Die Koalition hintertreibt ohne Not die
von ihr selbst geschaffenen Möglichkeiten. Um die Debatte über ihr gescheitertes Projekt zu vermeiden, nutzen Union und FDP ein Schlupfloch und schwächen die
Glaubwürdigkeit bezüglich des Bürokratieabbaus weiter. Offenbar ist der Wille nach mehr Transparenz in der
Koalition ein reines Lippenbekenntnis.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Normenkontrollrat trotz der Absage der Koalition seine Möglichkeit nutzt, die bürokratischen Belastungen durch das
ELENA-Aus für die Unternehmen und die Verwaltung
festzustellen und wir Abgeordnete das Ergebnis auch erfahren würden.
Wichtiger noch ist aber der Blick nach vorne. Die Unternehmen haben viele Millionen Euro in Aufbau und
Pflege der ELENA-Strukturen investieren müssen. Das
darf nicht umsonst gewesen sein. Die Bundesregierung
muss nun umgehend zukunftsfähige und unbürokratische
Meldestrukturen aufbauen, die auch den hohen datenschutzrechtlichen Anforderungen gerecht werden. Angekündigt ist jetzt, dass das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales federführend ein einfaches und unbürokratisches Meldeverfahren für die Sozialversicherungen erarbeiten soll, das die getätigten Investitionen in der
Wirtschaft aufgreift und keine Massenspeicherung von
Daten vorsieht. Allerdings steckt dieses Projekt noch in
den Kinderschuhen. Es gibt noch nicht einmal einen
Zeitplan. Ich hoffe sehr, dass der seit Monaten geführte
Zuständigkeitsstreit mit dem Wirtschaftsministerium
hier nicht weitergeht, sondern dass wir den Unternehmen endlich den versprochenen Bürokratieabbau ermöglichen können.
Noch einmal zurück zur Beherbergungsstatistik: Barrierefreie Beherbergungsmöglichkeiten besser zu erfassen, ist ein sehr sinnvoller Vorschlag der Linksfraktion,
der von Bundesregierung und Bundesrat eingehend geprüft werden sollte. Bevor wir eine solche Forderung detailliert ins Gesetz schreiben, sollten wir aber genau
überlegen, wie die Meldungen ausgestaltet sein müssen,
damit sie auch wirklich aussagekräftig sind. Außerdem
brauchen wir eine Abschätzung des Verwaltungsaufwands. Die Länder ächzen ohnehin schon unter dem zusätzlichen Aufwand, ohne von der Bundesregierung unterstützt zu werden. Wir werden uns deshalb bei der
Abstimmung über den Antrag der Linksfraktion enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be15410
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
schlussempfehlung auf Drucksache 17/7200, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6851 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Linken auf Drucksache 17/7221 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Linken und
bei Enthaltung von SPD und Grünen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. September 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.