Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie zur voraussichtlich letzten Plenarsitzung des
Deutschen Bundestages in diesem Jahr.
({0})
- Bei dem Beifall ist mir jetzt nicht völlig klar, ob sich
das auf die freundliche Begrüßung oder auf die Ansage
bezieht, dass mit weiteren Plenarsitzungen in diesem
Jahr nicht zu rechnen ist. Aber das können die Redner
für die Fraktionen anschließend der Reihe nach klarstellen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
Sie darauf hinweisen, dass der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart hat, während der Haushaltswoche ab dem 18. Januar nächsten Jahres, wie üblich bei
Haushaltswochen, keine Regierungsbefragung, keine
Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Ich nehme an, dass es dazu Einvernehmen gibt. Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe dann unseren Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung
des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der
Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier
Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage
der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 ({2}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1895 ({3}) vom
18. November 2009
- Drucksachen 17/180, 17/275 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Marieluise Beck ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/277 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven Kindler
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch
dies ist offenkundig einvernehmlich. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Djir-Sarai von der FDP.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die EU-Operation Althea in
Bosnien und Herzegowina ist bisher ein großer Erfolg.
Das ist - auch das muss man an dieser Stelle sagen - ein
Verdienst unserer Soldatinnen und Soldaten, die dort im
Einsatz sind.
({0})
Redetext
Heute kann die Sicherheitslage in Bosnien und Herzegowina sogar als stabil eingestuft werden. Die innenpolitische Lage ist jedoch fragil. Vor wenigen Wochen hat
der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Mitgliedstaaten erneut autorisiert, mit einer multinationalen Stabilisierungstruppe und NATO-Präsenz weiter vor Ort zu
sein und das Engagement in Bosnien und Herzegowina
fortzusetzen. Das wird einen guten Grund haben.
Die aktuelle Lage im Parlament dort ist verworren.
Die Parteien blockieren immer wieder das Zustandekommen einer effektiven Demokratie. Wir hören sogar
Drohungen von der Zerspaltung des Landes. Politische
Kompromisse zu finden, ist so nur eingeschränkt möglich. Die EU muss sich demnach weiterhin um die Vermittlung zwischen den Entitäten bemühen. Sie muss ein
Signal für zukünftige Unterstützung setzen.
({1})
Keine Frage: Eine Beendigung der Kampfhandlungen
hätte ohne das Dayton-Abkommen womöglich niemals
stattgefunden. Jedoch ist dieser Vertrag auch zugleich
die Grundlage der ethnisch geprägten Verfassung, die
nach wie vor zu massiven Uneinigkeiten zwischen den
Parteien vor Ort führt.
({2})
Diese Verfassung erschwert den Fortschritt in der Region.
Heute, über ein Jahrzehnt nach Kriegsende, wird immer deutlicher, dass unbedingt eine Verfassungsreform
vorangetrieben werden muss, die die Kriterien für ein
modernes, EU-fähiges Staatswesen erfüllt.
({3})
Insbesondere funktionale, menschenrechtliche und fiskalische Gesichtspunkte sollten dabei im Vordergrund
stehen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der politische und soziale Prozess in Bosnien und Herzegowina
stagniert. Die militärische und rechtsstaatliche Absicherung durch die EU muss also erhalten bleiben.
({4})
Der demokratische Prozess wird durch die Fortsetzung der Operation Althea nicht behindert, ganz im Gegenteil: Althea ist eine Erinnerung für die Regierung in
Bosnien und Herzegowina, dass bestimmte Rahmenbedingungen noch nicht erfüllt sind. Althea sollte als Ansporn zur Verbesserung der politischen und sozialen Situation dienen. Die Operation Althea ist aber auch ein
Symbol, dass die EU und auch die Bundesrepublik
Deutschland noch immer hinter den Menschen dieser
Region stehen.
Wir sehen, dass das militärische Kontingent fortwährend verringert wird. Die weitere Senkung des Militäranteils ist eine richtige und sinnvolle Entwicklung.
({5})
Die Bundesregierung unterstützt den Ausbau der Polizeimission. Sie setzt zudem verstärkt auf ziviles Engagement und auf die Entwicklungszusammenarbeit. Aber,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen vor allem von
den Linken, heute ist leider noch nicht der richtige Zeitpunkt, um vollständig auf das militärische Potenzial verzichten zu können.
({6})
Mit den innenpolitischen Zerwürfnissen als Grund
werden wir der unveränderten Fortsetzung des Engagements in Bosnien und Herzegowina zustimmen. Zum
heutigen Zeitpunkt kann das EUFOR Althea-Mandat
nicht inhaltlich verändert werden. Dafür sind die politischen Spannungen einfach zu groß.
({7})
Es stellt sich nun die Frage, wie in Sachen Hoher
Repräsentant weiter verfahren wird. Das Amt des Hohen Repräsentanten wird vorerst erhalten bleiben, da die
für seine Abschaffung nötigen Ziele und Bedingungen
bisher nur unzureichend erfüllt sind. An dieser Stelle
möchte ich jedoch mein Bedauern darüber ausdrücken,
dass diese Institution bis heute nicht aufgelöst werden
konnte. Der Hohe Repräsentant hat noch immer exekutive Sondervollmachten, die mehr auf dem Papier existieren, als dass sie in der praktischen Umsetzung möglich sind. Die Abschaffung des Hohen Repräsentanten
wurde bereits 2008 beschlossen. Dieses Vorhaben ist
eindeutig der richtige Weg.
Die FDP hatte diese Maßnahme schon seit mehreren
Jahren gefordert. Denn als Voraussetzung für die Festigung demokratischer Strukturen muss Bosnien und Herzegowina die Eigenverantwortlichkeit zurückerlangen.
({8})
Es wäre sehr schön, wenn die EU in Zukunft den Problemen in der Balkanregion insgesamt mehr Priorität geben
würde.
Mit den Maßnahmen der Operation Althea sowie der
Polizei- und Verwaltungsmission in Bosnien und Herzegowina soll ein Rückschritt verhindert werden. Aus unserer Sicht muss dieses Land Fortschritte letztlich jedoch
selbst machen.
Niemand hat die schrecklichen Bilder aus Bosnien
und Herzegowina vergessen, die uns nach dem BosnienKrieg Anfang der 90er-Jahre erreicht haben. Wir haben
in einem geschundenen Land Verantwortung übernommen - politisch, militärisch und zivil. Dazu müssen wir
nun auch stehen. Zieht Deutschland jetzt seine Hilfe aus
der Region ab, treten wir diese Verantwortung mit Füßen.
Als Bundesrepublik Deutschland, als Deutsche haben
wir ein großes Interesse daran, dass Bosnien und Herzegowina weiter stabilisiert werden. Wir haben ein großes
Interesse daran, dass dieser Staat selbst für die Freiheit
und Sicherheit seiner Bürger sorgen kann. Wir haben ein
großes Interesse daran, dass dort ein friedlicher und demokratischer Rechtsstaat entsteht. Und wir haben ein
großes Interesse daran, dass eine Integration in die friedenssichernde Europäische Union erfolgen kann.
Wir dürfen nicht nur mit dem Wort, sondern müssen
auch mit der Tat dafür sorgen, dass sich die ganze Region positiv entwickelt. Dazu müssen wir unseren Beitrag leisten. Wir müssen zu unserer Verantwortung stehen. Der Gesamteinsatz soll unter der Absenkung der
Obergrenze von 2 400 auf 900 Soldatinnen und Soldaten
erfolgen. Er muss aber inhaltlich unverändert erfolgen.
Ich wiederhole es, weil es so wichtig ist: Er muss inhaltlich unverändert erfolgen. Daher bitte ich Sie, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.
({9})
Lieber Kollege Djir-Sarai, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und
wünsche Ihnen für die weitere parlamentarische Arbeit
alles Gute.
({0})
Rolf Mützenich ist nun der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Montag vor 14 Jahren, am
14. Dezember 1995, wurde in Paris das Dayton-Abkommen unterzeichnet. Damit endete einer der blutigsten
und schrecklichsten Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit endeten die jugoslawischen Erbfolgekriege
aber leider nicht. Immerhin war dies aber ein wichtiges
Datum für eine hoffentlich friedliche und zivile Entwicklung in den einzelnen neuen Staaten des ehemaligen
Jugoslawiens. Ich hoffe, dass die nachfolgenden Generationen die Lehren aus diesem Konflikt ziehen. Das gilt
für die Menschen dort. Aber ich glaube, das gilt auch für
uns hier in Europa.
Herr Kollege, ich möchte Sie ganz herzlich zu Ihrer
ersten Rede beglückwünschen und Ihnen dafür danken.
({0})
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit im Auswärtigen
Ausschuss. Ich teile viele Ihrer Schlussfolgerungen. Nur,
ich weiß nicht, ob wir wirklich sagen können: Was dort
passiert ist, war eine einmalige Erfolgsgeschichte. Ich
persönlich gebe auf der einen Seite zu, dass ich mir manches schneller erwartet hätte, dass ich gedacht habe, wir
hätten in diesem Zusammenhang schnellere und größere
Erfolge. Leider ist das nicht so. Ich glaube, dass die politisch Verantwortlichen in dieser Region noch eine
Menge tun müssen und dass wir weiterhin eine schwierige Lage haben.
Auf der anderen Seite können wir aber feststellen: Es
gibt auch Fortschritte. Flüchtlinge sind zurückgekehrt.
60 000 Soldaten waren dort zu Beginn stationiert; heute
sind es noch 2 000 Soldaten. Wir brauchen sie noch immer, um die insgesamt schwierige Situation zu überwinden. Die internationale Präsenz ist auch deswegen erforderlich, weil sie das wichtige Zeichen setzt, dass wir ein
großes Interesse an Fortschritten haben.
Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Fortentwicklung ist
- das haben Sie gesagt - die europäische Integration.
Deswegen war ich sehr enttäuscht, als die CDU/CSU in
ihrem Wahlprogramm geschrieben hat: Diese Perspektive geben wir nicht mehr allen Staaten in dieser Region.
- Ich glaube, dieser Anreiz muss gegeben werden, um
überhaupt zu den Fortschritten zu kommen, die wir uns
wünschen, auch um unsere dortige internationale Präsenz überflüssig zu machen. Deswegen würde ich mich
wirklich freuen, wenn auch in Ihren Reihen ein gewisser
Lernerfolg eintritt: Die EU-Integration bleibt ein wichtiges politisches Element für den Balkan und den Frieden
in dieser Region;
({1})
das brauchen wir. Ich bitte den Außenminister - ich
glaube, wir sind hier derselben Auffassung -, seine Kolleginnen und Kollegen und die Bundeskanzlerin zu ermutigen, diese Perspektive in Verantwortung aufrechtzuerhalten.
Auf der anderen Seite erwarten wir von den politischen Eliten bzw. von Herrn Dodik - ich habe das eben
angedeutet -, dass er sich an das hält, was er offensichtlich vorgestern gesagt hat: Es soll keine Separation geben; der Staatsverbund soll erhalten bleiben. Das ist aber
auch eine Aufforderung an die Verantwortlichen in Serbien, keine Hinweise darauf zu geben, dass die Republika Srpska irgendwann in Serbien integriert werden
könnte. Im Gegenteil: Es muss bei den bisherigen Verhältnissen bleiben. Wir müssen auch von der serbischen
Führung ein Bekenntnis hierzu verlangen; daran muss
nach meinem Dafürhalten in den Gesprächen, die die
Regierungen führen, immer wieder erinnert werden.
({2})
Wir haben gehört, dass der Hohe Repräsentant weiterhin über einen Teil seiner Befugnisse verfügt. Zum
Beispiel liegt die juristische Aufarbeitung von Kriegs1084
verbrechen auch in den nächsten drei Jahren in seiner
Hand; das ist wichtig und richtig. Er hat aber einen anderen Teil seiner Befugnisse abgegeben, nämlich die Aufarbeitung von Korruptionsfällen.
({3})
- Ja, das musste er; aber das ist nicht der Punkt. Die
Frage wird doch sein: Was machen jetzt die Verantwortlichen aus dieser Situation? Dazu sage ich vonseiten des
Deutschen Bundestages: Wir brauchen weiterhin eine
Aufarbeitung der Korruptionsfälle, der Misswirtschaft,
Kriminalität usw., und zwar unabhängig davon, wer in
diesem Gebiet welche Rolle spielt. Niemand darf denken, er wäre von der Verfolgung durch die Strafverfolgungsbehörden ausgenommen. Das ist ein wichtiges Signal an die dortigen politischen Akteure: Wir wollen,
dass die juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen,
aber auch von Korruptionsfällen und Kriminalität fortgesetzt wird, egal wer die Verantwortung dafür trägt.
({4})
Zum Schluss möchte ich einen weiteren Aspekt ansprechen. Wir reden oft über Abrüstung und Rüstungskontrolle, auch gleich hier im Deutschen Bundestag.
Wir haben im Zusammenhang mit dem Abkommen von
Dayton gesehen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle
wichtige Elemente der Konfliktnachbereitung sind. Minenräumung ist ein wichtiges Feld; sie muss in diesem
Gebiet weiter erfolgen. Hier muss die internationale
Gemeinschaft noch mehr Anstrengungen leisten. Die
Rüstungskontrolle spielte auch beim Abkommen von
Dayton eine wichtige Rolle: Sie sollte eine Überrüstung
des auseinanderfallenden Jugoslawiens verhindern und
dafür sorgen, dass es nicht wieder in große Konflikte hineinschlittert.
Das Kapitel der Rüstungskontrolle muss neu aufgeschlagen werden. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt. Damit bietet der Deutsche Bundestag der Regierung, aber auch der Region eine Perspektive. Ich bitte
um Zustimmung zu diesem Antrag.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und alles Gute für das neue Jahr.
Danke.
({5})
Bevor es so weit ist, setzen wir die Debatte fort,
({0})
als Nächstes mit dem Redner Peter Beyer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bosnien-Herzegowina
kämpft bis heute mit den Folgen der Kriegshandlungen
auf seinem Gebiet. Die innere Zerrissenheit ist geblieben; ethnische Spannungen bestehen fort. Betrachtet
man die Entwicklungen nach dem letzten Krieg, fühlt
man sich unwillkürlich an das Wort erinnert, dass der
Balkan mehr Geschichte habe, als er selbst verarbeiten
könne.
Die militärische Operation Althea begann im Dezember 2004. Seitdem ist sie Garant dafür, dass die Sicherheitslage im Land stabil geblieben ist, trotz schwieriger
politischer Umstände. Viele der dort stationierten Soldaten werden Weihnachten nicht zu Hause im Kreise ihrer
Familie verbringen können. Umso mehr gebührt ihnen
der Dank von uns allen.
({0})
Der Erfolg von Althea ist auch für die Nachbarländer
von entscheidender Bedeutung. Der Staat Bosnien-Herzegowina spielt aufgrund seiner zentralen Lage auf dem
Balkan eine Schlüsselrolle in der gesamten Region. Es
ist deshalb ein sehr gutes Zeichen, dass wegen der
grundsätzlich stabilen Sicherheitslage die Obergrenze
von bisher 2 400 Soldatinnen und Soldaten auf 900 einzusetzende Soldatinnen und Soldaten gesenkt werden
kann. Tatsächlich eingesetzt sind von deutscher Seite
wesentlich weniger: Circa 130 Soldatinnen und Soldaten
sind derzeit dort stationiert.
Das alles zeigt: Die gemeinsamen Anstrengungen der
beteiligten Länder haben die Sicherheit weiter verbessert. Wichtig ist, dass die Ziele der Mission trotz der
deutlich reduzierten Truppenstärke nicht aus den Augen
verloren werden und sie gesichert bleiben, Stichwort:
Reservekräfte, die Over-the-Horizon-Forces.
Der Friedensprozess ist noch nicht abgeschlossen.
Die dringend nötige Verfassungsreform stockt, weil die
ethnischen Konflikte weiter schwelen. Bosniaken, Serben und Kroaten leben in vielen Fällen nebeneinander
statt miteinander. Die innere Zerrissenheit der Gesellschaft nach dem Krieg ist lange noch nicht überwunden.
Das Land muss dahin kommen, dass sich die Menschen vor Ort als Bürger von Bosnien-Herzegowina begreifen und nicht nur als Bosniaken, Serben oder Kroaten. Damit das uns und den Menschen vor Ort gelingt,
braucht der Staat eine Perspektive. Die Annäherung an
die Europäische Union und die NATO kann eine solche
Perspektive sein. Wir freuen uns deshalb sehr darüber,
dass Bosnien-Herzegowina den Beitritt zur Europäischen Union anstrebt.
Dass mangels der Erfüllung der Bedingungen die
Visabeschränkungen für Bosnien-Herzegowina bisher
nicht aufgehoben werden konnten, ist zu bedauern, insbesondere weil die bosnischen Serben aufgrund ihrer
Verbindung zu Serbien andere Möglichkeiten haben als
die Bosniaken, was die Situation nicht leichter macht.
Dennoch müssen wir auf der Einhaltung der Kriterien
bestehen, Herr Kollege Mützenich. Der Fahrplan zur
Annäherung der Westbalkanländer an die EU legt einzelne Stufen fest, die nicht übersprungen werden dürfen.
Dieser schrittweise Prozess ist auch im Interesse von
Bosnien-Herzegowina und der richtige Weg für dieses
Land.
Wir werden mit Althea weiter zur Stabilisierung beitragen und das Land zudem zivil und finanziell fördern.
Wir unterstützen ferner den Aufbau einer funktionierenden Polizeistruktur. Aber wir brauchen auch die staatliche Eigenleistung. Demokratie muss sich langfristig
selbst tragen. Althea darf keine Dauereinrichtung werden. Ich denke, das ist weitgehender Konsens in diesem
Hause.
Bosnien-Herzegowina kann als inhomogenes Gebilde
nur als föderaler Staat funktionieren. Gerade in föderalen Systemen führt aber der demokratische Weg oft nur
über Konflikt und Kompromiss zum Konsens. Das ist
langwierig. Demagogen bieten dagegen scheinbar
schnelle und absolute Lösungen an. Das macht gerade
junge Staaten so anfällig für deren Versprechungen.
Das Land braucht letztlich Menschen, die den Mut
haben, sich nicht hinter dem anfangs erwähnten Zuviel
an Geschichte zu verstecken. Das gilt gerade im Hinblick auf die Wahlen im nächsten Jahr. Ethnische Fragen
dürfen nicht länger wichtiger sein als der gemeinsame
Wille zur gemeinsamen Zukunft. Es braucht Menschen,
die bereit sind, Vergangenes hinter sich zu lassen, alte
Grenzen zu überwinden und neue Wege zu beschreiten.
Den einen Big Bang wird es nicht geben, sondern viele
kleine Schritte. So hat es kürzlich erst der derzeitige
Hohe Repräsentant Valentin Inzko formuliert.
Dass Bosnien-Herzegowina diese Belastungsprobe
am Ende besteht, daran müssen wir ein ureigenes Interesse haben. Seit Aufnahme der bilateralen Beziehungen
verbindet uns mit dem Land eine aufrichtige Freundschaft. Bosnien-Herzegowina verdient endlich Demokratie statt Manipulation und nationaler Ideologie. Die
nötigen Anstrengungen, die Kriterien zum Beitritt zur
EU zu erreichen, werden die demokratischen Strukturen am Ende kräftigen, nicht schwächen. Mit dem Erfolg jeder demokratisch gefundenen Entscheidung wird
das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit steigen.
Damit die demokratischen Strukturen weiter wachsen
können, ist die Verlängerung des Althea-Mandats erforderlich. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Schreiben des damaligen UNGeneralsekretärs Pérez de Cuéllar an Außenminister Genscher vom 14. Dezember 1991 warnte er - ich zitiere -,
„dass verfrühte selektive Anerkennungen eine Erweiterung des Konflikts in jenen empfindlichen Regionen
nach sich ziehen würden“. Weiter heißt es: „Solch eine
Entwicklung könnte schwerwiegende Folgen für die
ganze Balkanregion haben …“
Wir wissen, welche unrühmliche Rolle die deutsche
Außenpolitik dann auf dem Balkan gespielt hat und leider weiter spielt. Das setzt sich im Antrag der Bundesregierung fort. Im SPD-Antrag heißt es dagegen - ich zitiere -:
Für die Vereinigten Staaten und die EU gilt es, die
Verantwortlichen in der Republika Srpska vor den
verheerenden Folgen einer Sezession zu warnen.
„Bravo!“ möchte man Ihnen zurufen! Plötzlich entdecken Sie das Völkerrecht wieder. Aber der Schein
trügt.
({0})
Die rot-grüne und die jetzige Bundesregierung unterscheiden sich in diesem Punkt leider gar nicht. Das Völkerrecht entdecken Sie immer nur dann, wenn es Ihnen
genehm ist. Haben Sie denn irgendetwas getan, um
Jugoslawien vor dem Zerfall zu bewahren?
({1})
Haben Sie nicht einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen
Jugoslawien geführt? Und waren Sie es nicht, die die
einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovos anerkannt und damit eine neue Lunte an das Pulverfass
Balkan gelegt haben? Jetzt jammern Sie, wenn andere
durch die Türen gehen, die Sie geöffnet haben.
({2})
Eine völkerrechtskonforme Politik auch dieser Bundesregierung würde etwas für den Zusammenhalt Bosnien-Herzegowinas bewegen;
({3})
deutsche Soldaten auf dem Balkan haben es in der Vergangenheit nicht und werden es auch in Zukunft nicht.
Aus der Debatte wird auch klar, dass Sie an einer ehrlichen Bilanz des Althea-Militäreinsatzes nicht wirklich
interessiert sind. Sie bauen sich hier systematisch eine
Scheinwelt auf, die dazu dient, den Militäreinsatz zu legitimieren.
({4})
In der jüngsten Studie der Stiftung Wissenschaft und
Politik zur Bilanz der bisherigen EU-Militär- und Polizeieinsätze heißt es, dass sich die Stimmen mehren, die
sagen, dass die Situation in Bosnien nach Dayton selten
so verfahren und angespannt war wie im Jahr 2009. Ich
frage Sie: Ist das das positive Ergebnis dieser Militärmission, das einen weiteren Verbleib in Bosnien rechtfertigt? Die Autoren der Studie haben doch recht, wenn
sie konstatieren, dass dieser Konflikt weder durch politischen noch durch wirtschaftlichen oder militärischen
Druck gelöst werden kann. Der EU-Militäreinsatz hat
- selbst wenn man Ihrer Logik folgen würde - nichts,
aber auch gar nichts Positives bewirkt. Im Gegenteil: Er
hat mit verhindert, dass es zu einem wirklich nachhaltigen zivilen und sozialen Aufbau in Bosnien-Herzegowina kommt.
({5})
Man muss doch den Tatsachen ins Auge sehen. Dazu
gehört, dass alle deutschen Bundesregierungen nach
Dayton dabei halfen, dass auch in Bosnien-Herzegowina
eine neoliberale Wirtschaftsordnung durchgesetzt
wurde.
({6})
- Schauen Sie sich doch einmal den Anhang des DaytonAbkommens an. Die Privatisierung und damit die Verschleuderung öffentlichen Eigentums standen ganz oben
auf der Agenda.
({7})
Aber die erwarteten westlichen Investoren hielten sich
aufgrund der Sicherheitslage zurück. So konnten sich an
der Privatisierung vor allen Dingen diejenigen bereichern, die nach dem Krieg vor Ort genügend Kapital zur
Verfügung hatten, nämlich ethnonationalistische Gewaltunternehmer, deren wirtschaftlich-politisch-kriminelle
Netzwerke heute für die verarmte Bevölkerung das einzige soziale Netz darstellen.
Auch wenn Sie das nicht hören wollen: So schafft
man keinen Frieden, indem man soziale Strukturen zerstört und die Leute damit in die Arme der Nationalisten
treibt.
({8})
Und auch in puncto Rechtsstaatlichkeit haben Sie
schlichtweg versagt. Der Hohe Repräsentant setzt per
Dekret Recht, und somit haben wir es mit einem EUProtektorat zu tun, das alle Züge einer Kolonialverwaltung trägt.
({9})
- Es ist klar, dass Ihnen das nicht gefällt.
Die lokale Polizei wurde und wird von NATO und EU
aufgebaut, ausgebildet und beaufsichtigt, und nach unabhängigen Angaben ist die Bevölkerung in BosnienHerzegowina noch nie so schlecht auf diese Polizei zu
sprechen gewesen wie im letzten Jahr. Auch das gehört
zu Ihrer Bilanz.
Lassen Sie mich mit einem Appell schließen, auch
wenn ich weiß, dass das bei Ihnen wahrscheinlich gar
nichts nutzen wird: Ziehen Sie die Bundeswehr ab, deren
Mission gescheitert ist! Kehren Sie zurück zur Politik!
Lassen Sie Ihre imperialen Spielchen!
({10})
Achten Sie endlich wieder das Völkerrecht! Machen Sie
Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit zur Maxime
deutscher Außenpolitik, damit deutsche Außenpolitik
Friedenspolitik werden kann!
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marieluise Beck,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manche von Ihnen wissen, dass ich seit 1992 mit dieser
Region sehr verbunden bin. Solch ein Beitrag macht
mich einfach fassungslos.
({0})
Frau Kollegin, es ist eine Tatsache: Die kroatische
Stadt Vukovar wurde von der serbischen Armee überfallen, bevor Kroatien anerkannt worden war. Lesen Sie
doch bitte ein bisschen in den Geschichtsbüchern.
({1})
Noch etwas: Srebrenica war keine Scheinwelt. Vielleicht
sollte Ihre Fraktion einmal den Mut haben - das möchte
ich Ihnen wirklich nahelegen - und nach Srebrenica fahren.
({2})
Fahren Sie einmal dorthin! Schauen Sie sich das an! Der
Genozid in Srebrenica ist sogar gefilmt worden. Sie können sich die Dokumente anschauen. Man kann sogar General Mladic auf dem Gelände der ehemaligen Batteriefabrik in Potocari sehen, wo die Selektion der Männer
und Jungen beginnt, die dann in die Wälder geführt worden sind, um dort ermordet zu werden.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Marieluise Beck ({3})
({4})
Althea dient der Stabilisierung; es ist jetzt eigentlich
ein Präventionseinsatz. Es geht um Prävention von Gewalt, was für UN-Missionen gut und richtig ist. Wir sollten jetzt weniger über Militär und mehr über Politik
sprechen.
({5})
Der Kollege Mützenich hat schon gesagt, dass sich
hier auch an uns die Frage richtet: Welche Perspektive
geben wir dieser Region? Um diese Region nicht zu einem schwarzen Flecken innerhalb Europas werden zu
lassen, braucht die Region die Perspektive einer EUMitgliedschaft.
({6})
Wir alle wissen, dass dieser Passus in der Koalitionsvereinbarung ausgespart worden ist. Das offenbart, dass es
diesbezüglich in der Regierung eine Differenz gibt und
die CDU dieser Region diese Perspektive nicht aufzeigen will. Wenn der Fortschritt in dieser Region nicht mit
dem Tempo kommt, das wir alle uns wünschen, hat das
sehr viel damit zu tun, dass diese Perspektive nicht
glaubwürdig und klar von uns und der Europäischen
Union formuliert wird.
({7})
Die Dinge stehen nicht so gut, wie wir in diesem Hohen Haus das gerne sagen; darüber haben wir hier schon
diskutiert, Herr Außenminister. Es wird häufig geschrieben, dass die zentrifugalen Kräfte in Bosnien eher zunehmen und bosnische Politiker sich mit nationalistischen Parolen und der Obstruktion von Reformen, die
für die Schaffung eines Gesamtstaates erforderlich sind,
profilieren können. Aber auch da haben wir eine Verantwortung. Wir haben mit dem Dayton-Abkommen eine
Verfassung schreiben und unterschreiben lassen, in der
die Zugehörigkeit zu einer Ethnie - man müsste eigentlich sagen: Religionsgruppe - Voraussetzung für den Zugang zu Ämtern ist. Der jetzige bosnische Außenminister kann nicht für das Staatspräsidium dieses Landes
kandidieren, weil er sich keiner der Gruppen, die benannt worden sind, zuordnen kann. Junge Menschen, die
aus einer kroatisch-bosnischen Ehe hervorgegangen
sind, müssen sich einer sogenannten Ethnie zuordnen,
bevor sie für das Amt des Repräsentanten dieses Staates
kandidieren können. Das kann in Europa nicht sein.
({8})
Wenn wir über unsere Werte sprechen, muss uns klar
sein, dass wir eine Bringschuld haben; denn so können
wir dieses Land gar nicht in Europa aufnehmen. Unsere
Aufgabe ist die Überwindung von Dayton. Das ist eine
sehr große Aufgabe.
Man muss auch den Mut haben, sehr deutlich zu benennen, wo der Hauptstörenfried sitzt. Wir alle wissen
es. Ministerpräsident Dodik kann schadlos das Entitätenveto nutzen. Er setzt dieses Veto ein, wenn es darum
geht, diesen Staat zu bauen und endlich zentrale Institutionen einzurichten, um ihn überhaupt arbeitsfähig zu
machen. Dann knickt auch noch der OHR ein bzw. muss
einknicken, weil er keine Rückendeckung von den europäischen Staaten bekommt und immer mehr zur Lame
Duck gemacht wird; das setzt sich durch die ganze Reihe
der Hohen Repräsentanten fort. Auch das ist eine Verantwortung, die auf uns zeigt und nicht nur nach Bosnien
selbst.
({9})
Die Menschen haben ein tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Das ist auch in Bosnien so. Ich sage noch
einmal: Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein kleines
Land wie Serbien, das ja keinen großen Dschungel hat,
nicht in der Lage ist, General Mladic auszuliefern. Wenn
wir in dieser Region Frieden und Gerechtigkeit herbeiführen wollen - dabei geht es nicht um Strafe oder Rache, sondern nur um die Benennung der Wahrheit -,
muss mit großer Klarheit und Ernsthaftigkeit verlangt
werden, dass General Mladic endlich in Den Haag landet.
({10})
Es darf nicht darauf gesetzt werden, dass uns eines Tages
die biologische Lösung von dieser Forderung, die
schwer durchzusetzen ist und Konflikte mit Serbien bedeutet, befreit.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Brand,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst kann ich im Konsens mit der übergroßen Mehrheit hier im Hause nochmals festhalten,
dass die EU-Mission Althea in Bosnien-Herzegowina
eine notwendige Mission ist, deren Verlängerung wir als
CDU/CSU aus voller Überzeugung zustimmen.
({0})
Als jemand, der dieses in der Tat geschundene Land
seit 1995 - ganz offensichtlich im Vergleich zu Ihnen 1088
immer wieder besucht hat, will ich eine klare Bemerkung in Richtung der Kritiker der Mission machen.
({1})
Dafür, dass dieses Land einem Aggressionskrieg und einem Völkermord ausgesetzt war, sind die vergangenen
14 Jahre seit dem Friedensabkommen von Dayton eine
sehr kurze Zeit. Wir alle hier sollten uns bei mancher
Ungeduld und manchem Kopfschütteln über einzelne
Akteure vor Ort immer fragen: Wo wären wir, die Deutschen, 14 Jahre nach einem solchen Genozid, wenn wir
zwar militärische Absicherung des Friedens, dabei aber
keinen Marshallplan und keine zentrale Lage in Europa
hätten?
Es ist wahr - das weiß ich aus vielen Gesprächen vor
Ort -: Das Ausmaß der Korruption ist eine Geißel, die
Bosnien-Herzegowina bei seiner Entwicklung hindert.
Wahr ist auch: Nationalismus ist eine rhetorische Karte,
die innerhalb Bosniens noch immer allzu oft sticht. Die
Bosnier, insbesondere die Bosniaken, haben nicht Rache
geübt an den Tätern - und es gab mehr als Srebrenica;
dieser Ort ist nur das Fanal für andere Hunderte von
Massakern, deren Tote noch immer nicht identifiziert
sind. Wer der Lebenswirklichkeit und der Seelenlage der
Bevölkerung nachspürt, der muss feststellen: Hunderttausende Überlebende dieses Genozids sind wirtschaftlich geschlagen und erfahren zu wenig Gerechtigkeit;
das hat Kollegin Beck gerade eindrücklich formuliert.
Diese Menschen sind nicht nur von vielen in der eigenen
Führung enttäuscht. Sie hatten viel Hoffnung in Europa,
aber sind meist mit der internationalen Gemeinschaft
und auch mit manchem Lehrmeisterton schon lange
nicht mehr einverstanden. Wer täglich erleben muss,
dass Täter des Genozids - hier geht es nicht nur um den
meistgesuchten aller Kriegsverbrecher, Herrn Mladic bei Polizei und Verwaltung heute wieder oben sitzen,
und das sogar in Srebrenica, der zweifelt an der Situation
und verliert auch Energie für den Wiederaufbau. Wer
sieht, dass die EU aktuell die auslaufenden Mandate internationaler Richter und Staatsanwälte nicht verlängern
hilft, der wertet dies als fatales Signal beim Kampf gegen Korruption und bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt bleibt
richtig: Wir müssen auf eine Zeit hinsteuern, die den
OHR überflüssig macht. Allerdings heißt das auch: Wir
müssen uns darauf gut vorbereiten. Wer manch eine
Analyse über „die da unten“ und wir die internationale
Gemeinschaft, liest oder davon hört, der darf sich über
unsere Fehler, die gemacht worden sind, überhaupt nicht
wundern. Zu viele faule waren unter den Kompromissen,
und zu wenig wurde die Würde der Opfer dieses Genozids mitten in Europa beachtet, als es um konkrete Vorschläge ging. Ich spreche es offen an: Es ist an der Zeit,
nicht nur andere zu tadeln, sondern auch die eigenen
Fehler, die Fehler der internationalen Gemeinschaft, in
den letzten zehn Jahren offen und ehrlich zu analysieren.
Nach all den Kriegen der 90er-Jahre hat der Balkan - das
gilt nicht nur für Bosnien - eine neue Ordnung gefunden, die zwingende Voraussetzung für dauerhafte Stabilität ist und das Risiko eines neuen Balkan-Krieges ein
für alle Mal beenden soll. Deswegen sage ich: Die aktuellen Drohgebärden aus der Republika Srpska im Hinblick auf eine Abspaltung und die teils unverhohlene
Sympathie für solch gefährliche Rhetorik widersprechen
allen, wirklich allen europäischen Grundsätzen und bedeuten nicht weniger als eine akute Gefährdung der regionalen Stabilität.
({3})
Die Mission Althea schützt dieses Land auch vor denen, die innerhalb wie außerhalb den Appetit auf Teile
Bosniens erkennbar nicht verloren haben. Deshalb muss
festgehalten werden - Herr Mützenich, hier stimme ich
Ihnen ausdrücklich zu und bin für Ihre Äußerung dankbar -: Das inzwischen demokratische, neue Serbien
muss denen klar widersprechen, die wie Dodik und andere nur 15 Jahre nach dem Ende der Milosevic-Kriege
schon wieder offen fabulieren, von Banja Luka bis
Srebrenica Teile aus Bosnien herausschneiden zu wollen. Eines ist klar: Wer von Banja Luka in Bosnien bis
Mitrovica in der Republik Kosovo zündelt, der spielt mit
dem Feuer neuer Konflikte auf dem Balkan. Das dürfen
wir nicht zulassen.
({4})
Wer glaubt, dass die radikalen Kräfte in Serbien, im
Kosovo, in Mazedonien und anderswo nicht genau beobachten, wie die EU mit diesen Themen umgeht, der
begeht einen gefährlichen Irrtum. Dieser Destabilisierung und Radikalisierung in Südosteuropa müssen wir
mit Nachdruck entgegentreten. Eine zweite Runde von
Balkan-Konflikten darf Europa nicht zulassen. Auch
dies dokumentiert unser Engagement im Rahmen von
Althea, KFOR, EULEX und anderen Missionen in Südosteuropa. Mit Entschlossenheit und Umsicht müssen
wir im Interesse Bosniens endlich den Weg in die PostDayton-Ära beschreiten.
Ich stelle fest, dass mit Ausnahme einer Fraktion alle
Fraktionen dieses Hauses formuliert haben, dass wir einen Prozess brauchen, der Dayton überwindet, der neue
Akzente setzt. Dayton war wichtig, um den Krieg zu beenden. Er reicht aber nicht aus für die heutigen Realitäten und als Grundlage, um das Land zurückzugeben. Das
müssen wir allerdings erreichen. Es muss uns gelingen,
den Bosniern ihr Land in guter Weise und gut geordnet
zurückzugeben. In Bosnien und auch auf unserer Seite
ist noch einiges zu tun. Der neue deutsche Außenminister bedeutet auch hier eine Chance auf Verbesserung.
Wir wünschen uns eine aktivere Rolle Deutschlands in
Südosteuropa. Die CDU/CSU bietet jede gewünschte
Hilfe in der Sache an.
Erlauben Sie mir, in dieser letzten Sitzung vor der
Weihnachtspause an uns alle zu appellieren: Die Opfer
des schlimmsten Genozids in Europa nach dem Zweiten
Weltkrieg haben es mehr als nur verdient, dass wir uns
hier besondere Mühe geben. Wir wollen und werden alles unternehmen, um den Menschen in Bosnien den Weg
in eine Zukunft in Würde und Wohlstand mitten in der
Gemeinschaft EU-Europas mit zu ebnen.
Herzlichen Dank.
({5})
Fritz Rudolf Körper ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen einen kurzen
Rückblick auf die griechische Mythologie werfen. Althea, die Namensgeberin dieser EU-Mission, ist die griechische Göttin der Heilkunst. Wer sich mit der Problematik von Bosnien-Herzegowina beschäftigt, wird
wissen, dass Heilen und die Fähigkeit, zu versöhnen,
dringend notwendig sind.
({0})
Dem Mythos nach wurde Althea von den Göttern erklärt, dass ihr Sohn sterben würde, sobald ein Stück Holz
auf ihrem Feuer verbrannt ist. Althea nahm daraufhin
das Holz vom Feuer, löschte es und legte es in einen
Kasten, um das Leben ihres Sohnes zu bewahren. - Nach
dem Löschen des Feuers in Bosnien-Herzegowina unterstützt die EU-Mission Althea jetzt das Heilen des Landes
und seiner Bevölkerung. Anders als im Mythos soll das
Holz nie wieder aus dem Kasten genommen werden,
sondern für immer sicher verwahrt bleiben.
({1})
Ich habe diesen Rückgriff gewählt, um deutlich zu
machen - das hat vorhin beispielsweise bei dem Beitrag
von Frau Beck eine Rolle gespielt -, mit welch einer
Problematik wir es in Bosnien-Herzegowina zu tun hatten und haben. Bei allen Unzulänglichkeiten der heutigen Situation können wir doch eines feststellen: Diese
Mission, dieser Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft hat dem ethnisch motivierten Morden und
Töten ein Ende machen können.
({2})
- Frau Beck, das ist eine andere Frage. Es war leider zu
spät; aber wir haben dieses Ergebnis zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht, und das war gut so.
Durch die militärische Komponente dieser Mission,
durch die militärische Präsenz ist es gelungen, Gewaltausbrüche der ehemaligen Konfliktparteien zu verhindern und die nationalen und die internationalen Akteure
in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die
Europäische Union hat diese Stabilisierungsaufgabe vor
fünf Jahren von der NATO übernommen. Die Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina ist zumindest etwas
stabiler als vorher.
In diesem Zusammenhang will ich auch die europäische Polizeimission ansprechen, bei der sich die EU
umorientiert mit der Konzentration auf die Bekämpfung
der organisierten Kriminalität und der Korruption sowie
die Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizei und
Staatsanwaltschaften. Das ist ganz wichtig; denn wenn
ein solches Land die Korruption nicht wirksam bekämpfen kann, hat es keine Chance.
({3})
Ich will zugeben: Es hat mich schon ein bisschen irritiert, dass, als Frau Beck die Forderung gestellt hat, dass
Herr Mladic ausgeliefert wird und in Den Haag landet,
dies nicht den Applaus des gesamten Hauses bekommen
hat.
({4})
Versöhnung ist ganz wichtig. Wie kann man die ethnische Spaltung überwinden und Versöhnung herstellen?
Wir sehen im Moment, dass die ethnische Problematik
an jeder Stelle ungeheuer hinderlich ist, beispielsweise
bei der Frage, wie der Staat vernünftig aufgebaut und organisiert werden kann. Bestimmte Funktionen und Stellen müssen dreifach besetzt werden - mit all der Problematik, die dies mit sich bringt. Deswegen ist es wichtig,
dass wir zur Versöhnung der Ethnien in BosnienHerzegowina beitragen.
Ich will mit einem Beispiel schließen, das ein bisschen Hoffnung gibt. In der letzten Woche kam es zur
Wiedereröffnung der direkten Bahnverbindung zwischen
Belgrad und Sarajevo, nachdem diese Verbindung
18 Jahre gekappt war. Vielleicht ist das ein Symbol, ein
Hoffnungsschimmer dafür, dass es zu dem notwendigen
Ausgleich, dem notwendigen Versöhnungsprozess der
betroffenen Ethnien auf dem Balkan in naher Zukunft
kommt; denn nur dann wird es gelingen, dass der Balkan
eine Zukunft hat. Das ist für die europäische Perspektive
von großer Bedeutung.
Herzlichen Dank.
({5})
Florian Hahn ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Als ich im Frühjahr 2002 in Sarajevo war,
waren dort 1 600 deutsche Soldatinnen und Soldaten sta1090
tioniert, 1 600 Soldaten in einer Stadt, in deren Zentrum
neben den deutlich sichtbaren Zerstörungen des Krieges
der Marktplatz mit jungen Menschen gefüllt war, die in
der Frühlingssonne den ersten Kaffee des Jahres im
Freien genossen haben - eine schöne mediterrane Atmosphäre. Doch unsere Delegation musste damals von
Sicherheitskräften begleitet werden; denn die Sicherheitslage war extrem angespannt. Das war auch zu spüren, als wir nach dem Vorfall in Rajlovac unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten besucht haben und sie
einen Tag lang begleiten durften.
Heute, knapp acht Jahre danach, kann die militärische
Sicherheitslage als grundsätzlich stabil eingestuft werden. Personenschutz ist größtenteils nicht mehr notwendig. Wir konnten unsere deutschen Sicherheitskräfte inzwischen auf 130 Soldatinnen und Soldaten reduzieren.
Das bringt nur leider einige europäische Staaten zu der
Annahme, dass wir unsere Truppen gänzlich abziehen
könnten. Doch wie meine Vorredner schon erwähnt haben, ist die innenpolitische Lage weiterhin fragil. Bosnien und Herzegowina ist nach wie vor unser Sorgenkind Nummer eins auf dem Balkan, ein Sorgenkind
inmitten Europas.
Die zivilgesellschaftlichen Probleme, die uns schon
damals vor Augen geführt wurden, haben leider noch
heute zum großen Teil Bestand. Die Lage kann sich
schnell wieder ändern, wenn wir unsere Unterstützung
verweigern. Wir alle kennen die Drohungen, die beispielsweise ein Herr Dodik ausgesprochen hat, wenn
seine Bedingungen nicht erfüllt werden. Oft genug haben wir heute in diesem Hohen Hause über die nationalistischen Kräfte in Bosnien und Herzegowina diskutiert.
Unser Ziel ist, dass das europäische Land Bosnien
und Herzegowina zu einem friedlichen, demokratischen
Rechtsstaat in Europa wird. Ein Abzug unserer militärischen Kräfte würde den Menschen vor Ort signalisieren, dass wir, dass Europa kein Interesse mehr an ihnen
hat, insbesondere vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten des Butmir-Prozesses. Ein Abzug würde die jahrelange Aufbauarbeit der Nachkriegsgesellschaft zunichte machen. Die reine Anwesenheit des Militärs ist
für den zivilgesellschaftlichen Aufbau von immenser
Wichtigkeit. Nehmen wir hier nur als Beispiel die
Flüchtlingsrückkehrer, für die das subjektive Gefühl der
militärischen Anwesenheit essenziell ist. Wir müssen
Bosnien und Herzegowina unterstützen. Aber ich sage
auch: Diese Unterstützung darf nicht nur geschenkt sein.
Deshalb war es richtig, Bosnien und Herzegowina die
Aufnahme in den Membership Action Plan der NATO zu
verweigern. Auch die Bosnier müssen ihren Teil dazu
beitragen und dürfen bei Beitrittgesuchen keine Rabatte
bekommen.
Ich kann mir übrigens gut vorstellen, dass unsere militärischen und zivilen Aufbauhelfer in Bosnien und Herzegowina das Gefühl haben, von uns, von der deutschen
Öffentlichkeit durch die Afghanistan-Diskussion vergessen zu werden, gerade auch durch den unverantwortlichen Klamauk, den die Opposition hier im Haus in den
letzten Tagen veranstaltet hat.
({0})
Deshalb hier mein klares Statement: Wir wissen um die
Leistungen, die unsere Landsleute dort erbringen. Ich
möchte ihnen ganz herzlich dafür danken und wünsche
ihnen für die zukünftigen Aufgaben Gottes Segen.
({1})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche uns allen ein gesegnetes Weihnachtsfest.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der
Drucksache 17/275 zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Althea. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/180
anzunehmen. Dazu ist eine namentliche Abstimmung be-
antragt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die
Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses im Saal anwesend, das
seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Dann
schließe ich hiermit die Abstimmung. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Wir geben das Ergebnis der Abstim-
mung nach üblichem Verfahren während der nächsten
Debattenrunde bekannt.1)
Wenn Sie bitte wieder, wo immer Sie mögen, aber je-
denfalls Platz nehmen, können wir mit den weiteren Ab-
stimmungen fortfahren.
Nachdem sich nun allmählich eine fast weihnachtli-
che Stille über den Plenarsaal legt, können wir die Ab-
stimmungen fortsetzen mit der erneuten freundlichen
Einladung, sie im Sitzen zu absolvieren, weil es höhere
gesetzliche Anforderungen jedenfalls für den Abstim-
mungsvorgang nicht gibt.
Wir kommen zunächst zum Entschließungsantrag der
SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/282. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Entschlie-
ßungsantrag abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/283. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch dieser Antrag hat keine Mehrheit
gefunden.
1) Seite 1092 D
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver
Krischer, Hans-Josef Fell, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des BundesImmissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die
Nachrichten, die wir von der Konferenz in Kopenhagen
bekommen, stimmen, dann bestehen Chancen, dass wir
doch noch zu einer Vereinbarung kommen und das
2-Grad-Ziel festschreiben. Ich glaube, ich spreche im
Namen aller in diesem Hause, wenn ich denjenigen, die
dort gerade verhandeln und guten Willens sind, den bestmöglichen Erfolg wünsche.
({0})
Es gibt aber schon ein anderes Ergebnis aus Kopenhagen, das leider nicht erfreulich ist, nämlich dass unter der
Klimakanzlerin a. D., Frau Dr. Angela Merkel,
({1}))
Deutschland die Führungsrolle im internationalen Klimaschutz abgegeben hat.
({2})
Deutschland, bisher international Vorreiter im Klimaschutz, ist vom Motor zum Bremser geworden, und die
Welt hat gemerkt, dass man in Deutschland zwar vielleicht ambitionierte Ziele hat, aber bei der Umsetzung
Anspruch und Wirklichkeit deutlich auseinanderklaffen.
({3})
Nirgendwo wird das deutlicher als im Energiesektor,
der für über 40 Prozent der Emissionen, die aus Kraftwerken - ganz überwiegend aus Kohlekraftwerken stammen, verantwortlich ist. Dieser Anteil der Emissionen nimmt in den letzten Jahren sowohl absolut als auch
relativ immer weiter zu. Das ist erschreckend, wenn wir
unsere Klimaschutzziele erreichen wollen.
({4})
Wir müssen diese hohen Emissionen senken. Doch
die Realpolitik sieht ganz anders aus. Wir müssen nur
nach Nordrhein-Westfalen schauen. Parallel zur Konferenz in Kopenhagen schafft die dortige Landesregierung den Klimaschutz in der Landesplanung ab, als
wollte sie beweisen, dass Deutschland die Vorreiterrolle
abgeben will.
({5})
Wer die handelnden Personen in Nordrhein-Westfalen
kennt, den überrascht das nicht. Dort spricht man inzwischen, wenn es um Klimaschutz geht, von George W.
Rüttgers,
({6})
einem großen Protagonisten, der das Landesgesetz eigens ändert - die berühmte Lex Eon -, um ein vom Gericht gestopptes Kohlekraftwerk zu genehmigen.
Schlimmer als das, was in Nordrhein-Westfalen passiert, ist das, was der Bundesumweltminister zu diesem
Thema sagt. Hier im Bundestag gibt er den Umweltphilosophen und redet von der ökologischen Erneuerung
der Industriegesellschaft. In den Feuilletons lesen wir
ähnliche Äußerungen. In der Realität aber begrüßt er
- von der Konferenz in Kopenhagen aus - das, was in
Nordrhein-Westfalen passiert. Daher befürchte ich
Schlimmes für unser Land, was den Klimaschutz in den
nächsten Jahren angeht.
({7})
Dass es auch ohne neue Kohlekraftwerke geht, haben
schon die Meseberger Beschlüsse der Großen Koalition
gezeigt. Danach sollen der Anteil der erneuerbaren Energien bis 2020 bei 30 Prozent, der Anteil der KraftWärme-Kopplung bei 25 Prozent und der Anteil der
Stromeinsparung bei 11 Prozent liegen. Das macht insgesamt 66 Prozent. Das heißt, wir müssen nur noch ein
Drittel der Energie aus dem vorhandenen Kraftwerkspark beziehen. Dazu brauchen wir kein einziges neues
Kohlekraftwerk. Trotzdem sind in Deutschland nach wie
vor 25 Kohlekraftwerksprojekte in Planung. Wir brauchen aber kein einziges, wenn wir unsere Klimaschutzziele erreichen wollen.
({8})
Das Problem ist, dass die Genehmigungsbehörden
zwar die Gestaltung des Kühlturms bestimmen können,
dass aber CO2-Emissionen und Klimaschutz in den Genehmigungsverfahren überhaupt keine Rolle spielen.
Das muss sich ändern, wenn wir bei unseren Klimaschutzzielen vorankommen wollen.
({9})
Diesen Missstand wollen wir ändern. Deshalb haben wir
Ihnen unseren Gesetzentwurf zur Beratung vorgelegt.
Wir wollen, dass neue Kraftwerke einen Mindestwirkungsgrad von 58 Prozent aufweisen müssen. Dieser
wird nur von modernen GuD-Kraftwerken erreicht, die
nur ein Drittel dessen emittieren, was ein neues Braunkohlekraftwerk emittiert. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt unseres Gesetzentwurfs ist: Wir
wollen anstelle von reinen Kondensationskraftwerken,
die nur Strom erzeugen, die hoch effiziente und dezen1092
trale Kraft-Wärme-Kopplung voranbringen, die Wirkungsgrade von über 90 Prozent haben kann und entsprechend geringe CO2-Emissionen aufweist. Es ist doch
Irrsinn, wenn zum Beispiel rund um das Ruhrgebiet, einen der größten Ballungsräume Europas, ein Kranz von
Kohlekraftwerken gebaut wird, die 60 Prozent der Energie nutzlos an die Umgebung abgeben, während in den
Städten Millionen schlecht isolierter Wohnungen mit aus
Russland teuer importiertem Erdgas beheizt werden. Das
ist doch Unsinn.
({10})
Wir müssen Stromerzeugung und Wärmeproduktion zusammenbringen. Das wäre eine wirkliche Effizienzrevolution in der Energiewirtschaft. Aber dazu finde ich im
Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP kein Wort,
keine Zeile, keine Silbe.
({11})
Wir wollen - das ist der dritte zentrale Punkt unseres
Gesetzentwurfs -, dass mit angemessenen Übergangsfristen alte, völlig ineffiziente Kraftwerke entweder ertüchtigt werden und einen höheren Wirkungsgrad erreichen oder, wenn der Betreiber das nicht will oder nicht
finanzieren möchte, stillgelegt werden. Denn die Entwicklung zeigt: Es werden neue Kohlekraftwerke gebaut, aber alte nicht stillgelegt. So kommen Emissionen
obendrauf. Hier zeigt sich der Emissionshandel bisher
leider als wirkungslos.
Das zeigt sich zum Beispiel im rheinischen Frimmersdorf bei Grevenbroich. Dort, im Rheinland, nicht in
Polen oder Griechenland oder sonst wo, steht das
schmutzigste Kraftwerk Europas, betrieben vom RWEKonzern.
({12})
Es scheint sich offensichtlich für diesen Konzern zu lohnen, dieses schmutzige Kraftwerk trotz des Emissionshandels weiter zu betreiben, obwohl er neue Kraftwerke
baut. Mit solchen Profiten muss Schluss sein. Es kann
nicht sein, dass ein Konzern auf Kosten des Klimas Geld
verdient.
({13})
Zum Schluss möchte ich noch meiner Freude Ausdruck geben, dass die SPD, die ich in Nordrhein-Westfalen immer als vehemente Befürworterin von Kohlekraftwerken erlebt habe, zumindest auf Bundesebene dabei
ist, ihre Position zu ändern. Nicht anders kann ich eine
dpa-Meldung vom 14. Dezember über den Kollegen
Kelber interpretieren, der sich zu Kopenhagen und zur
Lex Eon in Nordrhein-Westfalen geäußert hat. Er sagte
- ich zitiere -:
Es ist das völlig falsche Signal, denn Deutschland
wird mit neuen Kohle-Dreckschleudern international völlig unglaubwürdig.
Herr Kelber - er ist leider nicht hier -: Wo Sie recht haben, haben Sie recht.
({14})
Ich freue mich darauf, wenn Sie und vielleicht auch die
Kollegen der anderen Seite des Hauses sich bei den weiteren Beratungen über diesen Gesetzentwurf Gedanken
machen, damit wir vorankommen und damit wir Milliarden nicht in Kohlekraftwerke investieren, sondern in erneuerbare Energien, in Maßnahmen zur Erhöhung der
Energieeffizienz, in Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung und in Maßnahmen zur Energieeinsparung. Das
braucht das Klima, und das braucht der Wirtschaftsstandort Deutschland.
Danke schön.
({15})
Lieber Kollege Krischer, herzlichen Glückwunsch zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Es war Ihnen deutlich anzumerken, dass Ihnen die
Freude an der parlamentarischen Arbeit von Minute zu
Minute zuwuchs.
({1})
- Ab der siebten besonders auffällig. ({2})
Deswegen habe ich mich nicht getraut, Ihnen auch nur
einen dezenten Hinweis darauf zu geben, was ab sofort
gilt, nämlich die Redezeit, die die Fraktion für Sie angemeldet hat.
({3})
Ich möchte Ihnen nun das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Fortsetzung der Althea-Mission
bekannt geben. Abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben
gestimmt 497, mit Nein 66 Kolleginnen und Kollegen.
Es gab 8 Enthaltungen. Damit ist die Beschlussempfehlung mit breiter Mehrheit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon
ja: 497
nein: 66
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({4})
Manfred Behrens ({5})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wolfgang Börnsen
({6})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({7})
Dirk Fischer ({8})
Axel E. Fischer ({9})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({10})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Andreas Jung ({11})
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({12})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({13})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({14})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({15})
Nadine Müller ({16})
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({17})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({18})
Anita Schäfer ({19})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({20})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({21})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({22})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({23})
Peter Weiß ({24})
Sabine Weiss ({25})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Lothar Binding ({26})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({27})
Edelgard Bulmahn
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({28})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({29})
Hubertus Heil ({30})
Rolf Hempelmann
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({31})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({32})
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({33})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({34})
Franz Müntefering
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({35})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({36})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
({37})
Werner Schieder ({38})
Ulla Schmidt ({39})
Carsten Schneider ({40})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({41})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({42})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({43})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({44})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({45})
Christian Lindner
Michael Link ({46})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({47})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({48})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({49})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({50})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({51})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({52})
Volker Beck ({53})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({54})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven Kindler
Ute Koczy
Thomas Koenigs
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({55})
Markus Kurth
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({56})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({57})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Präsident Dr. Norbert Lammert
Andrej Konstantin Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Hans-Christian Ströbele
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({58})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Paul für
die CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön, Herr Kollege Paul,
Sie haben das Wort.
({59})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! „Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes“, so heißt es im Titel des Gesetzentwurfs
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute beraten. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Genau betrachtet müsste es heißen: „Gesetz über den Ausstieg aus
der Kohlenutzung in Deutschland“; denn genau darum
geht es.
({0})
Die Grünen wollen praktisch den vollständigen Ausstieg
aus der Kohlenutzung in Deutschland - und das innerhalb der nächsten elf Jahre, und zwar sowohl aus der
Steinkohle als auch aus der Braunkohle. Dieser Gesetzentwurf bedeutet das Aus für neue Kohlekraftwerke,
also auch für neue, hocheffiziente; denn die für solche
neuen Kraftwerke im Gesetzentwurf vorgesehenen Mindestwirkungsgrade von 58 Prozent können Kohlekraftwerke zurzeit und auch in den nächsten Jahren technisch
nicht erreichen. Es handelt sich also hierbei um ein Neubauverbot, das gefordert wird.
({1})
Es sind aber gerade die neuen Kraftwerke, die höchste
Effizienz mit geringstem Schadstoffausstoß verbinden.
Es kann doch nicht das Ziel einer Gesetzesänderung in
diesem Hause sein, die Modernisierung des Kraftwerkparks in Deutschland zu verhindern. Lieber Kollege
Krischer, das gilt auch für Nordrhein-Westfalen.
({2})
Dass sie das Neubauverbot wollen, haben die Grünen
schon einmal deutlicher gesagt; diesmal haben sie diese
Absicht jedoch sowohl in der Gesetzesbegründung als
auch in ihrem ersten Wortbeitrag heute ziemlich versteckt. Bereits am 13. Mai dieses Jahres hat der Bundestag mit breiter Mehrheit einen Antrag der Grünen abgelehnt, der die Dinge eindeutig beim Namen nannte. Der
Titel des Antrags von damals lautete: „Neue Kohlekraftwerke verhindern - Genehmigungsrecht verschärfen“.
Meine Damen und Herren, auch wenn man alte „Kamellen“, wie man bei uns im Rheinland sagt, immer wieder
hervorholt, werden sie dadurch nicht zum Dauerlutscher.
Oder anders gesagt: Auch durch Wiederholung wird Unvernünftiges nicht vernünftig.
Wenn wir die weiteren Forderungen des Gesetzentwurfes wörtlich nehmen, hieße das, dass bereits in den
nächsten sechs Jahren die bestehenden Kohlekraftwerke
so umgerüstet werden müssten, dass sie einen Mindestwirkungsgrad von 38 Prozent bei Steinkohle und
36 Prozent bei Braunkohle erreichen. Ab Ende 2020
sollten es dann noch einmal 2 Prozentpunkte mehr sein.
Auch Gaskraftwerke dürften dann nach dem Willen der
Grünen einen Wirkungsgrad von 40 Prozent nicht unterschreiten. Diese Umrüstung ist aber in den allermeisten
Fällen technisch nicht machbar. Ein sehr großer Teil der
deutschen Kohlekraftwerke müsste damit spätestens
Ende 2020 vom Netz gehen.
Darüber, dass dieses Gesetz wahrscheinlich verfassungswidrig ist, will ich heute gar nicht sprechen. Ein
Hinweis sei aber gestattet: Wer bestehenden Anlagen,
die eine unbefristete Betriebsgenehmigung haben, durch
erdrosselnde Vorschriften den Garaus machen will, der
setzt sich über rechtsstaatliche Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz und Rechtssicherheit hinweg.
({3})
Wer für den Neubau von Anlagen so hohe Hürden setzt,
dass keiner diese Hürden überwinden kann, der greift
unzulässig in das durch das Grundgesetz aus gutem
Grund geschützte Recht der freien Berufswahl ein.
({4})
Aber schauen wir noch einmal auf die Folgen, die
dieses Gesetz in der Praxis hätte:
Erstens. Über 100 000 Arbeitsplätze in Deutschland
im Bereich des Braun- und Steinkohlebergbaus und im
Kraftwerksbereich würden vernichtet. Das wäre eine unmittelbare Folge dieses Gesetzes.
Zweitens. Die Sicherheit der Versorgung Deutschlands mit Energie würde massiv gefährdet. Wenn es nach
den Grünen ginge, dann sollten wir ja aus der Kernenergie aussteigen - je schneller desto besser; so verstehe ich
Sie jedenfalls immer. Aus der Kohle sollen wir auch aussteigen. Das zeigt Ihr heutiger Gesetzentwurf. Beides zusammen genommen bedeutet, dass ab dem Jahr 2020
fast die gesamte Grundlast, die heute zu rund 95 Prozent
von Braunkohle und Kernenergie getragen wird, nicht
mehr gesichert wäre. Das ist für eine Industrienation wie
Deutschland verantwortungslos;
({5})
denn um die Stabilität des Netzes zu gewährleisten, sind
in gleichmäßiger Verteilung Grundlastkraftwerke in
Deutschland notwendig. Eine sich ansonsten ergebende
erhebliche Schwankung der Stromfrequenz hätte fatale
Auswirkungen bis hin zu regelmäßigen Zusammenbrüchen der Stromversorgung. Das können wir nicht ernsthaft riskieren.
({6})
Die Alternative wäre der massive Import von Strom.
Import von Strom heißt aber nichts anderes, als dass die
Emissionen exportiert und ins Ausland verlagert werden.
Das kommt also auch nicht infrage, zumal eine zunehmende Abhängigkeit Deutschlands sowohl vom Stromals auch vom Gasimport unsere Versorgung nicht sicherer, sondern immer unsicherer machen würde. Das können wir nicht ernsthaft wollen.
Drittens. Unser ehrgeiziges Klimaschutzziel - 40 Prozent Minderung der CO2-Emissionen in Deutschland gegenüber 1990 bis zum Jahr 2020 - können wir auch mit
der Kohleverstromung erreichen. Das gilt übrigens für
die gesamte Europäische Union, wie jüngst in einer Studie des Umweltbundesamtes vom September dieses Jahres gezeigt wurde, also in einer Studie von einer Institution, die sicher unverdächtig ist, eine glühende
Kohlebefürworterin zu sein.
Viertens. Mit diesem Gesetz wäre auch ein möglicherweise ökologisch vorteilhafter Einsatz von Kohle in
Verbindung mit der CO2-Abscheidung und Speicherung,
also dem sogenannten CCS, unmöglich gemacht. Das
kann ökologisch nicht vernünftig sein.
({7})
Fünftens. Ein deutscher Sonderweg raus aus der
Kohle wäre international gesehen nicht mehr als ein
„Tröpfchen“ auf den heißen Stein. Schließlich ist die
Kohle der Energieträger, der global gesehen am längsten
verfügbar sein wird. Darum ist eine intelligente Nutzung
der Kohle erforderlich.
({8})
Sechstens. Der Strom würde deutlich teurer, wenn es
so kommt, wie Sie wollen, meine Damen und Herren
von Bündnis 90/Die Grünen.
({9})
Wenn das Angebot verknappt wird, weil die Kohlekraftwerke vom Netz gehen, dann ist die Verteuerung eine
notwendige Folge. Sie aber schweigen in Ihrem Gesetzentwurf wohlweislich zu den Auswirkungen auf die
Preise, die private und gewerbliche Kunden künftig zahlen müssen. Dieses Schweigen spricht doch Bände.
Siebtens. Das Gesetz wäre in der Praxis schwer zu
vollziehen. Einen Wirkungsgrad festzustellen, ist technisch deutlich anspruchsvoller, als beispielsweise einen
Emissionswert zu messen. Notwendig sind aufwendige
Messverfahren über längere Zeitreihen. Mehr Aufwand
und höhere Kosten, auch das wäre eine Folge dieses Gesetzes.
({10})
Meine Damen und Herren, um die angestrebten CO2Einsparungen zu erreichen, brauchen wir den ordnungsrechtlichen Ansatz der Grünen nicht. Wir haben bereits
ein ökologisch wie ökonomisch wirkungsvolles Instrument: den Emissionshandel. Mit diesem marktwirtschaftlichen Instrument werden ja die ökologischen externen Kosten zumindest teilweise verursachergerecht
internalisiert. Eine Beschränkung der Emissionen wird
dabei durch das wirksamste ökonomische Instrument gewährleistet, das es gibt, nämlich durch die Wirtschaftlichkeit. Denn je höher die Effizienz und je niedriger der
Emissionsausstoß, desto geringere Kosten entstehen für
die am Emissionshandel teilnehmenden Unternehmen.
({11})
Der Emissionshandel gibt einen sinnvollen Anreiz zum
Einsatz von Spitzentechnologie. Er schafft eine Balance
zwischen Versorgungssicherheit einerseits und Klimaschutz andererseits, da die Emissionsrechte stetig verringert werden.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zu der von den Grünen geforderten Streichung des § 5 Abs. 1 Satz 4 des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Dort werden Anlagen von der Pflicht ausgenommen, Energie effizient zu
verwenden, wenn sie am Emissionshandel teilnehmen.
Über die Frage der Notwendigkeit dieser Vorschrift können wir uns gerne unterhalten. Aber es ist doch mehr als
bemerkenswert, dass diese Vorschrift gerade auf Antrag
der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD
im Jahre 2004 in das Bundes-Immissionsschutzgesetz
hineingebracht wurde. Ausgerechnet diese Grünen verlangen jetzt die Streichung der von ihnen selbst mit verursachten Vorschrift. Sehr bemerkenswert!
({12})
Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Da der
Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen die Versorgungssicherheit gefährdet und weder ökologisch noch
ökonomisch vorteilhaft ist und weil wir mit dem Emissionshandel einen effizienten Lenkungsmechanismus
haben, wird die CDU/CSU-Fraktion dieses Vorhaben ablehnen.
Vielen Dank.
({13})
Auch Ihnen, Herr Kollege Paul, herzliche Gratulation
zur ersten Rede im Deutschen Bundestag und weiterhin
viel Erfolg bei der parlamentarischen Arbeit.
({0})
Ute Vogt ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Krischer, ein Teil der Freude
über die SPD ist sicherlich berechtigt; denn in der Tat
stimmen wir mit der Zielsetzung überein, dass wir die
Effizienz von Kohlekraftwerken steigern müssen. Wir
können durchaus darüber reden, dass der Mindestwirkungsgrad auch bei einer Genehmigung für den Neubau
ein geeignetes Instrument sein kann.
Allerdings bedeutet die Vorgabe von 58 Prozent Wirkungsgrad - das hat auch der Kollege Paul schon dargestellt - faktisch ein Verbot des Neubaus von Kohlekraftwerken. Auch wenn wir darin übereinstimmen, dass wir
langfristig nicht darum herumkommen, fossile Energieträger durch erneuerbare Energien zu ersetzen, so gibt es
doch auch Argumente, warum wir im Moment auf den
Neubau nicht vollständig verzichten sollten.
Wir brauchen dringend einen Ersatz für Altanlagen;
wir brauchen eine Erneuerung des Kohlekraftwerkparks.
Die Kohlekraftwerke der 50er- und 60er-Jahre müssen
vom Netz. An dieser Stelle muss es Ersatzinvestitionen
geben. Diese wären nicht möglich, wenn man mit der
Vorgabe eines elektrischen Mindestwirkungsgrades in
Höhe von 58 Prozent den Neubau von Kohlekraftwerken
komplett verhindern würde. Die alten Dreckschleudern
- diese Kraftwerke hat der Kollege Kelber gemeint müssen vom Netz. Für diese muss Ersatz geschaffen
werden.
({0})
Wir müssen auch ernsthaft darüber diskutieren, ob
wir mit einem Quasiverbot für Neubauten unser gemeinsames Ziel einer Dezentralisierung der Energieversorgung nicht ein wenig aus den Augen verlieren würden.
Denn ein Verzicht auf jeglichen Neubau würde bedeuten, dass wir die Monopolstellung, die heute die großen
Energieversorger haben, festigen. Wir würden damit den
kleineren kommunalen Erzeugern wie beispielsweise
den Stadtwerken überhaupt keine Chance geben, den
Anschluss zu finden.
({1})
Wir sollten diesen Antrag zum Anlass nehmen, die
notwendigen Debatten zu führen. Wir sind dabei, wenn
es darum geht, das Genehmigungsrecht anzupassen. Priorität muss das Ersetzen von alten Kohlekraftwerken
durch diejenigen Kraftwerke haben, die auf eine effiziente Energieerzeugung durch Kraft-Wärme-Kopplung
setzen. Das ist bei einem Kohlekraftwerk der neuen Generation durchaus möglich.
({2})
Wir würden gerne den Weg beschreiten, eine untere
Abschneidegrenze für alte Kraftwerke einzuführen. Dies
halten wir ebenso für sinnvoll wie einen Mindestwirkungsgrad für neue Kraftwerke. Allerdings müssen wir
über die Höhe der Wirkungsgrade und über die Frage,
wie hoch die Untergrenze sein soll, noch trefflich diskutieren. Mit Sicherheit werden wir über einige Punkte
streiten. Die Zielrichtung ist klar. Zur Klärung der Frage,
ob Ihre vorgeschlagenen Maßnahmen die richtigen sind,
um das Ziel zu erreichen, bedarf es noch einer ausführlichen Debatte.
({3})
Michael Kauch erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Wir Liberale wollen langfristig heraus aus den fossilen Kraftwerken und hin zu
einer Versorgung mit erneuerbaren Energien. Aber so,
wie die Grünen das hier vorschlagen, so läuft das eben
nicht.
({0})
Der Gesetzentwurf zeigt deutlich: Die Grünen haben
die Wirkung des Emissionshandels überhaupt nicht verstanden. Sie tun so, als hätten wir überhaupt keine europäische Gesetzgebung. Der Emissionshandel begrenzt
nämlich gerade die Obergrenze der CO2-Emissionen.
Unter diesem Deckel können Sie mit Ordnungsrecht machen, was Sie wollen: Sie werden keine einzige Tonne
CO2 einsparen; denn jede Tonne CO2, die ein abgeschaltetes Kohlekraftwerk nicht emittiert, wird von anderen
Nachfragern bei dann sinkenden Zertifikatepreisen sozusagen aufgekauft.
({1})
Sie haben ökonomisch überhaupt nicht verstanden,
wie das hier umweltpolitisch läuft. Sie machen es aus
dem Bauch heraus und haben ein gutes Gefühl. Sie sagen, die bösen Konzerne müssten die Kohlekraftwerke
abschalten. Aber so werden Sie die Umwelt nicht retten.
Das ist reine Symbolpolitik.
({2})
Nur für die Zeit nach 2020, also für die Zeit, für die
wir noch keine EU-rechtliche Regelung haben, ist es
überhaupt von Bedeutung, was hier vorgeschlagen wird.
Die Frage der Energieeffizienz wird es uns ermöglichen, ab 2020 ein geringeres Cap EU-weit festzulegen.
Herr Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?
Sehr gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Kauch, es ist erfreulich, festzustellen,
dass die FDP offensichtlich eine ganz neue Energiepolitik auf den Weg bringen will. Statt einen Energiemix aus
Atom, Kohle, Erdöl, Erdgas und erneuerbaren Energien
anzustreben, sei das langfristige Ziel der Freien Demokraten, wie Sie gerade betont haben, zu 100 Prozent erneuerbare Energien einzuführen. Das ist erfreulich. Aber
es widerspricht Ihren eigenen Aussagen. Sie haben im
Sinne der sogenannten Carbon-Leakage-Theorie behauptet, dass dann, wenn wir beim Neubau von Kohlekraftwerken nicht vorangingen, an anderer Stelle Emissionen stattfinden würden. Damit übersehen Sie, dass
der Ausbau erneuerbarer Energien auch in anderen Ländern bereits in einer solchen Geschwindigkeit erfolgt,
dass dort schon konventionelle Kraftwerke ersetzt werden. Aufgrund der Geschwindigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien ist diese Theorie nicht mehr haltbar. Wir können das in China oder auch anderswo
erkennen.
Deswegen frage ich Sie, ob die Carbon-LeakageTheorie wirklich haltbar ist. Diese Theorie ist nämlich
nur deswegen in die Welt gesetzt worden, um den Anschein zu erwecken, erneuerbare Energien könnten nicht
schnell genug wachsen. Sie tun es aber. Sie können damit auch in anderen Ländern ohne den Neubau von Kohlekraftwerken und Weiterem eine Vermeidung von
Emissionen in großem Stil bewirken.
Lieber Kollege Fell, wir sind uns einig, dass die erneuerbaren Energien mehr können, als man ihnen in der
Vergangenheit zugetraut hat. Eines ist aber klar: Solange
wir bei den Speichertechnologien nicht so vorankommen, dass wir auch aus Quellen mit einem schwankenden Energieangebot eine durchgängig stetige Versorgung erreichen können, so lange wird es in der
Übergangsphase weiterhin nötig sein, mit Brückentechnologien zu arbeiten. Eine Brückentechnologie kann die
Kernkraft und vor allem auch die Kohletechnologie sein.
Wir unterscheiden uns, glaube ich, in der Einschätzung
dessen, wie schnell man bei den erneuerbaren Energien
die Speicherbarkeit und eine vollständige Netzintegration tatsächlich hinbekommt.
({0})
Meine Damen und Herren, entscheidend für die
Frage, ob Kohlekraftwerke klimaverträglich sind, ist,
wie hoch die Begrenzung durch den Deckel ist, den der
Emissionshandel setzt. Sie können nicht sagen, der
Emissionshandel habe bisher nicht gewirkt; das haben
Sie ja gesagt. Er hat deshalb nicht gewirkt, weil Ihr damaliger Umweltminister, Herr Trittin, in der ersten Handelsphase die Obergrenzen so hoch gesetzt hat, dass er,
wenn ich es richtig im Kopf habe, 4 Millionen Tonnen
CO2 eingespart hat.
({1})
So können Sie natürlich auch keine Einspareffekte erzielen.
({2})
Ab 2013 wird es eine klare Absenkung des Deckels geben. Dies ist eine klare Klimaschutzmaßnahme mit einem Anreiz für eine neue Energieversorgungsstruktur.
Im Übrigen, der vorliegende Gesetzentwurf ist
scheinheilig.
({3})
Angeblich sollen Kohlekraftwerke effizienter gemacht
werden. Aber eigentlich ist das ein Gesetz zur Verhinderung von Kohlekraftwerken und - schlimmer noch - ein
Gesetz zur Förderung von Gaskraftwerken. Genau das
wollen die Grünen, ohne dass sie es hier sagen.
({4})
Die Grenzwerte sind mit einem Wirkungsgrad von
58 Prozent so hoch, dass selbst moderne Kohlekraftwerke dies nicht leisten können. Man findet eine entlarvende Formulierung in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes. Dort steht nämlich:
Moderne Gaskraftwerke können diesen elektrischen Wirkungsgrad erreichen. Soweit daraus folgt,
dass der Neubau von Kohlekraftwerken nicht möglich ist, ist dies zum Schutz der Umwelt … notwendig.
Das heißt doch in Wahrheit, Sie wissen, dass es einen
Restbedarf an Strom gibt. Auch bei einem forcierten
Ausbau erneuerbarer Energien ist in den nächsten Jahrzehnten eine grundlastfähige Versorgung sicherzustellen.
Sie entscheiden sich mit diesem Gesetzentwurf klar gegen die Kohle und für Gas. Das kann man vielleicht aus
der monokausalen Sicht, dass es um Klimaschutz geht,
begründen. Aber im Rahmen der Energiepolitik gilt
auch, das Ziel der Versorgungssicherheit zu sichern. In
Wahrheit ist das, was Sie hier machen und nicht öffentlich sagen, eine Strategie pro Gas, eine Strategie für
mehr Abhängigkeit von Russland und von Turkmenistan
({5})
sowie für mehr Abhängigkeit von durchleitenden Ländern wie der Ukraine. Da freut sich vor allen Dingen einer, nämlich Herr Putin, dessen Lobbyist Sie hier im
Deutschen Bundestag sind.
({6})
Das verwundert aber überhaupt nicht; denn Ihr ehemaliger Außenminister, Herr Joschka Fischer, ist jetzt GasMichael Kauch
lobbyist, Lobbyist für die Nabucco-Pipeline und die
Wirtschaftsinteressen des Kaukasus.
({7})
Mit dieser Strategie machen Sie Deutschland abhängig und erpressbar; Sie gefährden die außenpolitische
Unabhängigkeit unseres Landes.
({8})
Weil Russland das Gas exportiert, anstatt es selbst zu
nutzen, werden dort die dreckigsten Kohlekraftwerke
weiterbetrieben, im Übrigen auch Kernkraftwerke, die
Sie hier abschalten wollen.
({9})
Sie machen hier also eine Milchmädchenrechnung
auf. Es ist ein Nullsummenspiel für den Klimaschutz
und eine Katastrophe für die Versorgungssicherheit unseres Landes.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothée Menzner
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Blindheit der bundesdeutschen Genehmigungsgesetze in Bezug auf Klima- und Ressourcenschutz ist schon enorm. Werden bei einem geplanten
Kohlekraftwerk die Grenzwerte des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eingehalten, so hat der Betreiber in
der Regel Anspruch auf Genehmigung, selbst wenn die
Bürger, die Politik und die Behörden das eigentlich gar
nicht wollen. Bündnis 90/Die Grünen mussten das in
Hamburg-Moorburg leidvoll erfahren. Wenn der außerparlamentarische Widerstand in Berlin-Lichtenberg
nicht ausgereicht hätte, um das Vattenfall-Projekt der Errichtung eines Steinkohlekraftwerks zu kippen, wäre es
uns von der Linken nicht anders ergangen.
Es gibt also quasi einen Zwang, solche Dreckschleudern zu genehmigen, wenn planungsrechtliche Auflagen
erfüllt sind. Dieser Zwang besteht, weil für CO2 keine
Grenzwerte gesetzt sind. Das ist der Fall in einem Land,
in dem man, wenn man in einem reinen Wohngebiet einen Kindergarten errichten will, aufwendigste Gutachten
beibringen muss, um nachzuweisen, dass die Emission,
in diesem Fall die Lärmemission, nicht zu hoch ist. Was
aber bei einem solchen Kraftwerk aus dem Schornstein
kommt und wie effizient der Rohstoff eingesetzt wird,
hat überhaupt keine Auswirkung auf die Genehmigungsfähigkeit. Das ist der Fall, weil CO2 bisher nicht als
Schadstoff eingestuft ist, anders als zum Beispiel
Schwefeldioxid, Stickoxide oder Schwermetalle.
Jetzt könnte man einwenden - das Argument kam
eben -, die Kraftwerke unterlägen doch dem Emissionshandel, der einen Grenzwert setze. Das ist aber ein ziemlich zahnloses Argument; ich werde das gleich weiter
ausführen. In Anbetracht der Debatten, die wir im Moment führen, der Konferenz in Kopenhagen und der gesamtgesellschaftlichen Debatten halte ich die Ausnahmen für CO2 für ziemlich unfassbar.
({0})
Es stellt sich schon die Frage, wieso es überhaupt
Ausnahmen für CO2 gibt. Wir alle wissen um die
Schädlichkeit von CO2. Schäden treten aber nicht unbedingt am Ort des Entstehens auf, sondern an irgendeinem Ort, unter Umständen weit entfernt, wo die Folgen der Klimaerwärmung - Dürre, Tod und Zerstörung zu spüren sind. Kann es sein, dass wir uns diese Ausnahme im Bundes-Immissionsschutzgesetz noch leisten,
weil die Folgen nicht bei uns vor der Haustür zu spüren
sind?
Vorletzte Woche hat die nationale Umweltbehörde der
Vereinigten Staaten von Amerika CO2 als gesundheitsschädlich eingestuft. Die Chefin der dortigen Umweltbehörde hält dies für einen Schritt, den Treibhauseffekt
nachhaltig und pragmatisch zu bekämpfen. Ich finde, sie
hat recht. Damit wird in den USA etwas möglich, das bei
uns bisher nicht möglich ist: Die Höhe des CO2-Ausstoßes einer Anlage sowie ihre Effizienz können die
Grundlage der Entscheidung in einem Genehmigungsverfahren, zum Beispiel bei der Genehmigung eines
Kraftwerkes, bilden. Der Gesetzentwurf der Grünen fordert etwas Vergleichbares. Wir unterstützen das.
({1})
Wir haben eben die Einwände von Herrn Dr. Paul und
von Herrn Kauch gehört: Wir hätten doch den Emissionshandel; damit sei doch alles wunderbar geregelt.
Aber wenn das tatsächlich so wäre, dann müsste der Gesetzentwurf gar nicht sein.
Der Emissionshandel funktioniert nicht. Das will ich
an einigen Beispielen deutlich machen. Eben wurde
schon darauf hingewiesen, dass es Emissionsgutschriften gibt, die gegen Projekte in der Dritten Welt aufgerechnet werden. Wir wissen alle, dass ungefähr ein Drittel dieser Aufrechnungen nicht funktioniert und dass
eine Menge gemauschelt wird. Die Einsparung ist also
nicht real.
Weil die Emissionsrechte noch bis 2012 verschenkt
werden, schaffen wir keinen Anreiz für die Energieunternehmen, sparsam zu sein. Die Zertifikate wurden
reichlich ausgegeben, und man hat derzeit noch keinen
Lenkungseffekt. Man kann nur hoffen, dass das eines Tages anders ist.
Wir werden in der laufenden Handelsperiode 2008 bis
2012 ungefähr 400 Millionen Tonnen CO2 übrig haben.
Sie sind in die nächste Handelsperiode übertragbar. Von
daher werden wir auch in näherer Zukunft, in der nächsten Handelsperiode, keinen Lenkungseffekt haben.
Wir alle wissen, dass die Zeit davonläuft. Wir können
nicht so weitermachen wie bisher. Jedes neu genehmigte
Kraftwerk hat eine voraussichtliche Laufzeit von 40 bis
50 Jahren. Die Entscheidung, die wir heute fällen, bedeutet also einen höheren Ausstoß, auch in Zukunft.
Deswegen: Einigen wir uns auf Mindestwirkungsgrade, gerade beim Neubau fossiler Kraftwerke. Nur so
können wir die Klimasünden verringern.
({2})
Eröffnen wir Räume für einen zukunftsfähigen Strommix aus erneuerbaren Energien und auch Gaskraftwerken, die deutlich schneller regelbar sind und besser zu
erneuerbaren Energien passen. Die ganze Diskussion
über die Grundlast ist fehl am Platz.
Wir brauchen eine juristische Handhabe, um den Bau
von extrem klimaschädlichen und ineffizienten Kraftwerken verhindern zu können. Diesen Ansatz verfolgt
der Gesetzentwurf der Grünen. Diesen Ansatz unterstützt Die Linke.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Georg Nüßlein
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! In der
Tat ist es so, dass man im Umweltrecht ambitionierte
Standards setzen muss. Insofern ist es legitim, über die
Frage nachzudenken, welche Wirkungsgrade Kohlekraftwerke in Zukunft haben können und müssen. Dabei
spielt die Erreichbarkeit die entscheidende Rolle. Dazu
haben der Kollege Paul und der Kollege Kauch das Notwendige gesagt: Ihnen geht es in der Tat um den deutschen Komplettausstieg aus der Nutzung der Kohle.
({0})
Wenn man sich das vornimmt, dann darf man aber
keinen Schaufenstergesetzentwurf vorlegen.
({1})
Was Sie zu den Bestandsanlagen schreiben, ist ziemlich
entlarvend; denn Sie scheinen nicht davon auszugehen,
dass Ihr Vorschlag zum Tragen kommt. Es geht zuerst
um die ernsthafte Frage, wie die Übergangsfristen gestaltet werden müssten.
Es ist spannend, dass zwei verschiedene Termine in
Ihrem Gesetzentwurf stehen. Offenbar hat sich der Verfasser des Gesetzentwurfs plötzlich besonnen. In der Begründung sprechen Sie von der ersten Stufe zum 1. Januar 2012, und im Gesetzestext schreiben Sie dann
plötzlich 31. Dezember 2015. Jemandem ist es offenbar
aufgefallen, dass man das so kurzfristig nicht machen
kann.
Es ist dem Verfasser auch aufgefallen, dass es ein verfassungsrechtliches Problem gäbe. Das hat er geschickt
umschifft, und zwar in der Weise, dass er über
Art. 14 GG - Schutz des Eigentums - im Zusammenhang mit Neuanlagen philosophiert, der aber gar nicht
einschlägig ist. Bei Bestandsanlagen aber lässt er ihn
faktisch weg. Sie wissen genau, dass man das so kalt,
wie Sie das machen wollen, wenn es denn so käme, nicht
machen kann. Deshalb sage ich noch einmal: Das ist ein
Schaufenstergesetzentwurf.
({2})
- Reden Sie nicht dazwischen.
Das ist wie immer bei Ihren Ausstiegsforderungen.
Solange Sie in der Opposition sind, fordern Sie den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Aber wenn man
in der Regierung ist, dann ist dies plötzlich unverantwortbar, und die Laufzeiten werden um 20 Jahre und
mehr verlängert. Bei diesem Thema machen Sie es genauso. Sie waren sieben Jahre in der Regierung.
({3})
Wo bitte war da Ihre Forderung nach einem Ausstieg aus
der Kohlekraft? Die gab es nicht. Aber kaum dass Sie in
der Opposition sind, sagen Sie, dass wir die Kohle überhaupt nicht brauchen und 100 Prozent erneuerbare Energien realistisch sind. Meine Damen und Herren, ein bisschen Realitätsbezug braucht man schon!
({4})
- Bestreiten Sie doch bitte nicht das, was Sie selber in
Ihrem Gesetzentwurf formuliert haben.
Immerhin sind Sie, wie man Ihnen schon vorhin anhand des Textes deutlich gemacht hat, bei den Neuanlagen sehr ehrlich. Laut Ihrem Gesetzentwurf gibt es,
wenn das mit dem Wirkungsgrad von 58 Prozent nicht
funktioniert, keine Neuanlagen. Das weist natürlich den
Weg zum Gas. Ich gehe noch einen Schritt weiter als
Herr Kollege Kauch vorhin: Das wird infolge der Entwicklung auf den Gasmärkten nicht nur dazu führen,
dass woanders alte Kohlekraftwerke am Netz bleiben,
sondern dass es eine Gegenbewegung gibt. Die Tatsache,
dass Gas bei uns in Deutschland - in Verbindung mit
dem Emissionshandel auch in Europa - teurer wird, wird
dazu führen, dass Lieferantenländer wie zum Beispiel
Russland Kohlekraftwerke bauen werden.
({5})
Ich frage mich, ob man eine gesicherte Energieversorgung in Deutschland wirklich aufs Spiel setzen muss,
um am Ende nur die Emissionen von A nach B zu verschieben.
Im Übrigen findet sich in dem Gesetzentwurf der
Grünen kein Wort zu CCS. Sie wissen genau, dass man
nicht beides kann, nämlich auf der einen Seite die Wirkungsgrade erhöhen und CO2-Abscheidung und -Speicherung betreiben.
({6})
- Nein, ich lasse an dieser Stelle keine Zwischenfragen
zu. - Sie wissen genau, dass man nicht beides kann: Wirkungsgrade steigern und CCS betreiben. Von einem zukunftsweisenden Gesetzentwurf hätte ich erwartet, dass
zu diesem Thema darin Stellung genommen wird.
Ganz vorne in Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie
wieder etwas über die Theorie, die mich immer ganz besonders ärgert, dass nämlich eine teilweise Aufrechterhaltung der konventionellen Energieversorgung die Entwicklung der erneuerbaren Energien behindert. Das ist
objektiv falsch. Es gibt einen Einspeisevorrang, der im
EEG formuliert ist. Die neue Regierung wird an diesem
Einspeisevorrang nicht rütteln. Deshalb ist Ihre Behauptung, dass das eine das andere behindert, widerlegt.
({7})
Wir stehen dazu, dass wir unseren Beitrag dazu leisten werden, die erneuerbaren Energien nach Kräften auszubauen und zu fördern. Wir als Union wollen einen
dynamischen Energiemix, bei dem der Anteil der erneuerbaren Energien mit Blick auf Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Klimaschutz aufwächst und der Anteil der konventionellen Energieversorgung in gleichem
Maße abnimmt. Das halte ich für ganz entscheidend. Es
geht darum, sicherzustellen, dass wir keine Energielücke
bekommen und dass der Weg in eine dezentrale Energieversorgung, den auch wir wollen, so verläuft, dass die
Wirtschaft in diesem Land keinen Schaden nimmt.
Denn beim Klimaschutz können wir nicht ausschließlich in Deutschland etwas bewegen. Es wird darauf ankommen, dass wir den Schwellenländern und anderen
Ländern zeigen, dass man beides kann: das Klima schonen und wirtschaftlich vorankommen. Mit dem, was Sie
vorschlagen, nämlich schlagartig und schockartig in die
Wirtschaft einzugreifen, werden wir das nicht hinbekommen. Der Weg, den die Union in der Energiepolitik
einschlägt, ist der realistischere und deshalb auch der
bessere.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Steiner.
Ich hätte verschiedene Anmerkungen zu machen zu
fachlichen Unrichtigkeiten, die hier geäußert worden
sind, zum Beispiel vom Kollegen Kauch. Aber ich kann
es mir nicht verkneifen, die Ausführungen des Kollegen
Nüßlein in Bezug auf CCS und CO2-Speicherung zu
korrigieren.
Zur ersten Unrichtigkeit. Wenn Sie über Wirkungsgrade und Klimaschutz reden, sollten Sie immer bedenken, dass CCS den Wirkungsgrad der Kohlekraftwerke
erheblich senkt und deswegen eigentlich sogar ein größeres Problem ist, weil mehr Energie erzeugt werden
muss, um Strom abgeben zu können.
({0})
Zur zweiten Unrichtigkeit. Aus Gesprächen mit Vertretern der Betreiber, der Energieversorger oder der Forschungsinstitute wissen Sie doch alle, dass diese sagen:
Vor 2020 bekommen wir das überhaupt nicht hin. Sie
bauen die neuen Kohlekraftwerke aber jetzt. 2010 bzw.
2012 sollen sie ans Netz gehen, und zwar ohne CCS,
weil das gar nicht umsetzbar ist, von den Problemen der
Speicherung ganz abgesehen.
Deswegen ist es Augenwischerei, wenn man mit CCS
argumentiert. Das ist nur ein Feigenblatt, das helfen soll,
die Errichtung neuer Kohlekraftwerke durchzusetzen.
({1})
Zur Erwiderung Herr Kollege Nüßlein.
Liebe Kollegin, ich sage das ungern, insbesondere in
einer Sitzung kurz vor Weihnachten: Sie haben mir bei
diesem Thema entweder nicht zugehört, oder Sie konnten mir nicht folgen.
({0})
Ich habe gesagt, dass durch CCS die Wirkungsgrade
sinken. Wenn Sie einen Gesetzentwurf zu den elektrischen Wirkungsgraden beim Thema Kohle vorlegen, ist
es natürlich notwendig, dass man auf dieses Thema eingeht. Dann muss man auch formulieren, was man machen würde, wenn CCS relevant würde. Wir alle wissen
nicht, ob diese Technologie aufgrund ökonomischer oder
technischer Fragen überhaupt einmal zum Tragen
kommt. Was die Machbarkeit angeht, bin ich absolut
ehrlich. Aber man muss so etwas natürlich berücksichtigen, und man kann nicht sagen, was Sie machen: Bei
dieser Gelegenheit kann man eine neue Technologie verhindern, nämlich CCS; das ist dann auch gleich vom
Tisch. Das wäre Tabula rasa auf ganzer Linie. Das ist
nicht das, was wir wollen. Wir wollen sehr wohl die
Option haben, Kohle klimaschonend zu nutzen.
Warum wollen wir das? Auch das kann ich Ihnen sagen: Schlicht und einfach, weil Kohle in anderen Ländern weiterhin benutzt wird. Ich sehe uns in der Pflicht,
die Technologien dafür zu liefern. Herr Kollege Fell, in
Indien oder China wird man sich nicht nach den deutschen Grünen richten, überhaupt nicht. Ich sehe uns in
der Pflicht, dass wir die entsprechenden Technologien
schaffen und entwickeln. Das wollen wir tun. Deswegen
ist eine technologiefreundliche, eine technologieoffene
Energiepolitik das, was Sie von der neuen Regierung erwarten können.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Becker für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Krischer, Ihr Auftritt war in der Tat sehr dynamisch. Ich denke, der von Ihnen genannte Grund für
Ihren Gesetzentwurf ist ein richtiger und wichtiger: die
Effizienzsteigerung in der konventionellen Energiewirtschaft. Heute beziehen Sie sich auf den Bereich des
Stroms. Ich will das auf andere Bereiche ausdehnen: auf
den Wärmebereich, auf die Frage, wie wir künftig mit Öl
umgehen, aber auch auf die effizientere Verwertung der
Biomasse; auch darüber müssen wir in Zukunft diskutieren. Ich glaube, dass die Frage der Effizienzpotenziale
die Debatte der nächsten Jahre bestimmen wird. Das ist
eine wichtige Aufgabe. Wir liegen hinter dem zurück,
was wir uns gemeinsam vorgenommen haben.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf konzentrieren Sie sich auf den Bereich der Stromversorgung.
Ich sage: Ja, es ist so, dass die Kohleverstromung - das
gilt insbesondere für Braunkohle - sehr CO2-intensiv ist.
Von daher ist die Frage, wie lange und wie wir Kohleverstromung betreiben, nicht nur von der Ressourcenverfügbarkeit abhängig, sondern auch von der Verantwortung für das Klima. Da sind wir eng beieinander.
Wir haben ja, weil wir da beieinander und weil wir
gemeinsam gegen die Kernenergie sind, unter Rot-Grün
beschlossen, eine energiepolitische Wende, eine ökologische Energiewende mit dem EEG einzuleiten. Das ist
aus dem Parlament, aus diesen Fraktionen gekommen.
Anders als Sie - auch in Zeiten der Großen Koalition befürchtet haben, ist dieses EEG nicht nur geschützt,
sondern sogar weiterentwickelt worden. So stehen wir
heute vor einer Prognose des Bundesverbandes Erneuerbare Energie, der sagt: Wir können 47 Prozent Strom aus
erneuerbaren Energien bis 2020 schaffen. Ich sage an
dieser Stelle: Wir sind froh und stolz darauf, dass wir das
mit unserer Politik möglich gemacht haben.
({0})
Aber so sehr wir uns über diese positiven Aspekte
freuen, bleibt die Frage nach dem Rest. Daran entfacht
sich immer wieder der politische Streit. Wir bleiben dabei: Kernenergie ist nicht unsere Lösung zur Deckung
dieses Rests. Wir halten Kernenergie nach wie vor für
eine Risikotechnologie und schließen sie damit aus.
Wenn man das aber so wie Sie macht, bleiben nur Kohle
und Gas. Die Frage ist zu stellen, wie wir den restlichen
Strombedarf so effizient und so verträglich wie möglich
und entsprechend der Versorgungssicherheit zur Verfügung stellen können.
Dies darf nicht passieren - da bin ich bei Ihnen -, indem alte ineffiziente Anlagen einfach weiterlaufen. Wir
müssen alte Anlagen entweder modernisieren, wenn es
möglich ist, oder gegebenenfalls durch neue effiziente
Anlagen ersetzen. Zu dieser Aussage stehen wir; dazu
haben wir auch in der Vergangenheit Stellung bezogen.
Frau Vogt hat es gesagt: Ja, wir bekennen uns gerade mit
Blick auf Altanlagen zum Ordnungsrecht. Wir halten das
Ordnungsrecht für ein Instrument in Ergänzung zum
Zertifikatehandel.
Wir gehen aber ein Stück weiter. Wir halten es durchaus für möglich, dass man für diese Erneuerung des
Kraftwerkeparks unter gewissen Bedingungen eine finanzielle Förderung zur Verfügung stellt. Sie haben ja
das Thema Kraft-Wärme-Kopplung angesprochen. Wenn
wir hohe Effizienzgrade erreichen wollen, wenn wir einen Vorrang der Kraft-Wärme-Kopplung sicherstellen
wollen und wenn wir insbesondere für dezentrale Strukturen neue Kraftwerkstechnologien zur Verfügung stellen wollen, müssen wir schauen, wie wir das fördern
können. Wir haben über das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz in der Großen Koalition einen ersten Anreiz gesetzt. Wir haben durch die Förderung des Neubaus und
des Leitungszubaus erste Impulse gesetzt, die diesen
Ausbau voranbringen sollen. An dieser Stelle haben Sie,
genau wie Frau Löhrmann in Nordrhein-Westfalen, gesagt, dass Sie den massiven Ausbau der Kraft-WärmeKopplung wollen. Der Gesetzentwurf, den Sie hier vorlegen, verhindert diesen Ausbau.
({1})
Herr Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer?
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben eben richtigerweise gesagt,
das Erneuerbare-Energien-Gesetz habe eine Dynamik
ausgelöst, die von uns allen nicht erwartet worden sei.
Sie haben sogar die Zahl 47 Prozent in 2020 genannt.
Das ist ja weit mehr, als die Große Koalition verabredet
hat. Wenn ich 25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung obendrauf rechne und 11 Prozent Einsparung, dann bin ich
bei einer Größenordnung von 75 Prozent. Dieser Strombedarf kann durch erneuerbare Energien, Kraft-WärmeKopplung und Einsparung gedeckt werden. Bitte erklären Sie mir - wir haben ja auch noch Kraftwerke, die in
jedem Fall weiterlaufen werden, Gaskraftwerke und
Kohlekraftwerke, die niemand stilllegen will und die
2020 noch laufen werden -, warum auch nur ein einziges
neues Kohlekraftwerk notwendig sein sollte.
Herr Krischer, ich habe Ihnen gerade die Zahlen genannt. Wir haben heute einen Bestand - ich nenne KraftWärme-Kopplung, weil ich da auch gleich ansetzen
werde - von knapp 12 bzw. 13 Prozent. Wir werden nach
heutigem Stand nicht mehr bekommen, durch Ihren Gesetzentwurf erst recht nicht. Darauf werde ich jetzt eingehen. Hätten Sie einen Moment gewartet, wäre die
Frage möglicherweise schon beantwortet gewesen.
Sie haben diesen Gesetzentwurf mit dem Verweis auf
Effizienz eingebracht. Ich will Ihnen ein klassisches Beispiel vorrechnen. Nach diesem Gesetzentwurf ist es
möglich, ein schlichtes Gaskraftwerk zu errichten, das
einen Wirkungsgrad von 58 Prozent hat. Dieses Kraftwerk produziert Strom, keine Wärme; die Wärme geht in
die Umwelt und bleibt ungenutzt. Demgegenüber hat
eine Anlage mit Kraft-Wärme-Kopplung - ich nehme
das Beispiel Kohle - je nach Größe 63, 64, vielleicht sogar einen Wirkungsgrad von 65 Prozent.
Das heißt, diese Anlage hat eine höhere Effizienz. Die
Wärme gelangt nicht in die Umwelt, sondern dient zum
Beheizen von Wohnungen oder fließt in industrielle Prozesse. Sie wird also sinnvoll genutzt, und der Effizienzgrad ist höher. Eine solche Anlage schließen Sie aber
aus.
({0})
Was hat das mit Effizienzsteigerung zu tun?
({1})
Es ist einfach so, dass Sie einen Grundsatzbeschluss fassen wollen. Ihren Anspruch, die Effizienz im Blick zu
haben, verlieren Sie in Ihrem Gesetzentwurf aber leider
aus den Augen.
({2})
Ich möchte auf eine weitere Fragestellung zu sprechen kommen. Ich glaube, dass das, was Sie in Ihrem
Antrag zum Thema Emissionshandel schreiben, problematisch ist. Zurzeit finden die Klimaverhandlungen in
Kopenhagen statt. Ich dachte immer, uns eint das Ziel,
dass wir einen globalen Emissionshandel wollen. Bisher
zumindest war das so. In Ihrem Gesetzentwurf schreiben
Sie allerdings, dass der Emissionshandel als Lenkungsinstrument versagt hat. Ich frage mich ernsthaft: Ist es
gut, diese Botschaft nach Kopenhagen zu senden?
({3})
- Im Gesetzentwurf der Grünen. - Ich muss Ihnen sagen:
Ich halte diese Aussage für gefährlich und verkürzt.
Ich will zwei Aspekte voneinander trennen:
Erstens. Herr Kauch hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass mit Blick auf die Neubauten im Kraftwerksbereich
sehr wohl eine Lenkungswirkung des Emissionshandels
zu erkennen ist. Es ist nicht richtig, wenn Kraftwerksbetreiber heute sagen: Wir haben die Planung eingestellt,
weil es uns an politischer Unterstützung fehlt. - Es ist in
der Tat so, dass manche Anlagen wirtschaftlich nicht
mehr darstellbar sind. Das ist ein Effekt des Emissionshandels. Somit beginnt er zu wirken.
Das Zweite - hier haben Sie recht - ist, dass eine solche Wirkung mit Blick auf Altanlagen nicht festzustellen
ist. Darum habe ich eingangs gesagt: Der Emissionshandel ist um ordnungsrechtliche Maßnahmen zu ergänzen.
Als letzten Punkt habe ich eine Bitte, was den Emissionshandel grundsätzlich angeht. Das, was Sie wollen,
verstehe ich. Vieles von dem, was Sie wollen, kann ich
auch nachvollziehen. Wir sollten aber, bitte schön, ehrlich sein, wenn wir den Menschen den Emissionshandel
erklären; Herr Kauch hat darauf bereits hingewiesen. Es
wird immer wieder so getan, als ginge der Bau neuer
Kraftwerke automatisch mit neuen, mit zusätzlichen
Emissionen einher.
({4})
So ist es nicht. Es gibt die PEPP, und es gibt ein Budget.
Sie hingegen erwecken ständig einen anderen Eindruck,
weil dies Ihrer politischen Ausrichtung entgegenkommt.
({5})
- Sie brauchen gar nicht darum herumzureden.
Ich erkläre Ihnen ganz einfach, worum es geht: Stellen Sie sich vor, in den Tank eines Autos passen 50 Liter.
Es ist egal, wie viele Familienmitglieder mit diesem
Auto fahren, ob eine Person oder 30 Personen. Wenn die
50 Liter verbraucht sind, ist die Reise zu Ende.
({6})
So funktioniert der Emissionshandel. Das ist ganz einfach zu erklären.
({7})
Hören Sie auf, den Menschen zu sagen, dass sich der
CO2-Ausstoß durch den Bau zusätzlicher Kraftwerke
insgesamt erhöht. Das ist falsch. Wenn Sie dies bestreiten, haben Sie wirklich nicht verstanden, wie der Emissionshandel funktioniert.
({8})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Judith
Skudelny für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Das Erste, was mich an diesem Gesetzentwurf ärgert, ist, dass Sie das komplexe Thema der ökologischen Energiepolitik mit einfachen Schwarz-WeißMitteln wie der Steigerung der Effizienzgrade von Kohlekraftwerken behandeln.
({0})
Manche Kollegen in diesem Hause haben noch nicht
verstanden,
({1})
dass es in Ihrem Gesetzentwurf nicht um die Steigerung
der Effizienz geht, sondern - in der letzten Wahlperiode
haben Sie sogar einen Antrag mit diesem Titel eingebracht - um die Verhinderung moderner Kohlekraftwerke.
({2})
Wenn moderne Kohlekraftwerke verhindert werden,
dann bedeutet dies mittelfristig nicht, dass Umweltpolitik und Klimapolitik besser werden. Es bedeutet nur,
dass wir in Deutschland zunächst einmal eine Versorgungslücke haben werden.
({3})
Die Deutsche Energie-Agentur - sie ist nicht verdächtig, überzogene Vorstellungen vom zukünftigen Stromverbrauch zu haben - hat festgestellt, dass wir bis zum
Jahr 2020 15 neue Großkraftwerke brauchen, um den
bundesweiten Bedarf decken zu können. Wie wollen wir
das schaffen, wenn wir keine neuen, modernen Kohlekraftwerke bauen? Ganz einfach: Wir werden zunächst
einmal alte Anlagen weiterbetreiben müssen. Das Kraftwerk in Grevenbroich, das als Beispiel genannt worden
ist, wird auch mit einem geringeren Effizienzgrad weiterbetrieben werden. Das ist kein Beitrag zum Klimaschutz.
({4})
Wir werden auch andere konventionelle Energien, aus
deren Nutzung wir alle aussteigen wollen, weiter nutzen
müssen. Es geht nicht anders; denn wir haben eine Versorgungslücke. Wer diese Lücke nicht schließen will,
muss in letzter Konsequenz akzeptieren, dass wir uns
vom Ausland abhängig machen. Die „lupenreinen Demokraten“ haben sich aber schon in der Vergangenheit,
was den Rohstoffhandel betrifft, nicht unbedingt als solche erwiesen. Gerade von ihnen möchte ich Deutschland
nicht abhängig machen.
({5})
Was bedeutet dieser Gesetzentwurf für den Forschungs- und Technologiestandort Deutschland? Wir haben vorhin vom CCS-Verfahren gehört. CCS heißt,
dass das CO2 am Ort des Entstehens abgeschieden wird
und nicht in die Atmosphäre gelangt. Das ist aber verbunden mit 5 bis 10 Prozent weniger Effizienz.
({6})
- Eben, wir haben diese Technologie noch nicht; deswegen müssen wir forschen und herausfinden, ob sie eine
Alternative ist.
({7})
Wenn die Genehmigungsverfahren jedoch ausschließlich
oder hauptsächlich von der Effizienz des Kraftwerks abhängig gemacht werden, wird in diesem Bereich in
Deutschland keine Forschung und Entwicklung stattfinden. Dabei betonen gerade Sie immer, wie wichtig Forschung und Entwicklung sei. Wer unseren Forschungsstandort erhalten will, darf Ihren Gesetzentwurf nicht
unterstützen.
({8})
Die Politik der Grünen in diesem Bereich ist aus meiner Sicht eine sehr dogmatische Politik: Kohlekraftwerke sind böse.
({9})
Was passiert, wenn man an einer Schwarz-Weiß-Denke
festhält, kann man in Tübingen sehen: In Tübingen ist
- auch mithilfe von Grünen-Mitgliedern dieses Hauses ein Gaskraftwerk mit einem hohen Effizienzgrad verhindert worden. Der grüne Tübinger Oberbürgermeister
wurde dazu gezwungen, um die Versorgung zu decken,
in ein Kohlekraftwerk zu investieren.
({10})
Etwas zu verhindern, einfach nur um recht zu behalten,
das ist nicht die Politik, die wir verfolgen wollen.
({11})
Wir Liberale als grüne, das heißt ökonomisch und
ökologisch denkende Menschen können diesen Gesetzentwurf deswegen nicht mittragen.
Vielen Dank.
({12})
Frau Skudelny, das war Ihre erste Rede hier im Haus.
Wir gratulieren Ihnen sehr herzlich und wünschen Ihnen
viel Erfolg für Ihre Arbeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Koeppen für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als letztem Redner der Debatte bleibt mir nur noch, zusammenzufassen und das Fazit zu ziehen. Wir haben alle
schon festgestellt: Mit ihrem Gesetzentwurf mit den
Mindestwirkungsgraden geht es den Grünen darum, mit
dem Ausstieg aus der Kohleverstromung zu beginnen.
Dieser Antrag ist ein Gesetzentwurf anti Kohle und pro
Gas.
Das ist vielleicht aus der Sicht der Grünen ein hehres
Ziel. Sie haben dabei aber wie immer einige Sachen aus
den Augen verloren. Als Techniker sage ich Ihnen: Sie
haben die Physik aus den Augen verloren; denn das, was
Sie wollen, ist nicht machbar. Sie haben aber, wie wir
heute feststellen konnten, nicht nur die Machbarkeit
aus den Augen verloren, sondern auch die globalen
Realitäten, die man beachten muss. Wenn es heißt, dass
in China jeden zweiten Tag ein neues Kohlekraftwerk
ans Netz geht, dann frage ich mich: Was hat das mit Klimaschutz zu tun?
({0})
Wenn Sie etwas verändern wollen, wenn Sie etwas verbessern wollen, wenn Sie etwas erreichen wollen, dann
müssen Sie die Realitäten akzeptieren. Sie müssen sich
von Ihrer Ideologie befreien. Sie müssen an Ihrer Vision
konstruktiv arbeiten.
({1})
Visionen sind ja gut. Aber Tagträumereien, Herr
Krischer, bringen uns nicht weiter.
Das Ziel, höhere Wirkungsgrade zu erreichen, tragen wir mit. Durch den Neubau von Kohlekraftwerken
können wir alte Anlagen abschalten. Damit haben wir in
Deutschland - das ist schon jetzt Realität - den Wirkungsgrad im Durchschnitt auf insgesamt 40 Prozent angehoben. Das ist in Ordnung. Diesen Weg wollen wir
weitergehen. Aber Sie müssen die Realitäten im Auge
behalten.
({2})
Ihr Ziel ist in Wirklichkeit nicht die Erhöhung des
Wirkungsgrades und dadurch eine Verringerung der
CO2-Emissionen, sondern Sie wollen vorhandene Anlagen bis zum Jahre 2015 abschalten.
({3})
Sie wollen verhindern, dass neue Anlagen gebaut werden. Frau Menzner, das ist übrigens wie in der DDR. Da
der Bau von Neuanlagen verhindert wurde, blieben Anlagen mit einem Wirkungsgrad von circa 27 oder 28 Prozent in Betrieb. Diese haben dann wirklich die Luft verpestet. Das wollen wir nicht. Wir wollen neue Anlagen
und dadurch nach und nach einen höheren Wirkungsgrad
erreichen.
({4})
Sie müssen klar sagen, ob Sie sich von der CCS-Technologie komplett verabschieden wollen. Damit werden
Sie aber die Forschung in Deutschland verhindern. Sie
werden damit auch die Vorreiterrolle und letztendlich
den Export solcher Anlagen unterbinden.
Kommen wir jetzt zu den Wirkungsgraden. Sie fordern einen Wirkungsgrad von 58 Prozent für Neuanlagen. Das ist für Kohle kaum erreichbar. Das ist Materialwirtschaft. Jede Erhöhung des Wirkungsgrades um zwei
Punkte setzt eine Forschungszeit von ungefähr 10 bis
15 Jahren voraus. Also schaffen Sie es innerhalb dieser
kurzen Zeit gar nicht, von 40, 43 oder maximal 45 Prozent auf 58 Prozent Wirkungsgrad zu kommen. Das ist
nicht möglich.
Bei der Kohle ist dieser Wirkungsgrad nicht erreichbar, aber beim Gas kann das erreicht werden. Bei Gasanlagen sind schon jetzt 58 Prozent Wirkungsgrad Stand
der Technik. Dieses Ziel ist gar nicht mehr ambitioniert.
Ihr Gesetzentwurf ist für mich eine Aufforderung, verstärkt auf Gas zu setzen. Wie kommen wir dazu, russisches Gas zu fördern? Wenn Sie aus der Kernenergie
aussteigen und Kohlekraftwerke verbieten wollen, dann
brauchen Sie 445 Terawattstunden Strom aus Erdgas.
({5})
- Das brauchen Sie. Das ist die Hälfte des Gesamtverbrauchs in Deutschland.
Was bedeutet das?
({6})
Das bedeutet, Herr Krischer: Abhängigkeit von russischem Gas. Das bedeutet: Versorgungssicherheit wird
verschlechtert. Das bedeutet: Es freut sich Russland, und
vielleicht freuen sich auch Fischer und Schröder, aber
nicht die deutsche Industrie und der deutsche Steuerzahler. Deswegen können wir das nicht machen.
({7})
Dann haben wir auch festgestellt - das hat Herr
Kauch wunderbar herausgearbeitet -: Russland wird natürlich alles verfügbare Gas schön teuer an Europa verkaufen und im Inland Kohleverstromung betreiben.
Diese Kohlekraftwerke haben, wenn sie gut sind, im
Schnitt einen Wirkungsgrad von 34 Prozent. Jetzt erklären Sie mir bitte, was das mit Klima- und Umweltschutz
zu tun hat. Überhaupt nichts!
({8})
Wir lassen keine Deindustrialisierung zu. Klimaschutz wirkt nur global. Mindestwirkungsgrade wirken
nur global. Auch die CCS-Technologie wirkt nur global.
Gleiches gilt für den Emissionshandel. Deswegen muss
das alles gesamtheitlich betrachtet werden.
Was können wir tun? Wir wollen natürlich eine Antwort geben. Erstens - da lohnt sich ein Blick in unseren
hervorragenden Koalitionsvertrag -:
({9})
„ideologiefreie, technologieoffene und marktorientierte
Energiepolitik“,
({10})
und zwar für Strom, Wärme und Mobilität. Das müssen
Sie alles im Auge behalten. Dann wird das auch was mit
dem Klimaschutz.
({11})
Zweitens. Wir wollen die erneuerbaren Energien
konsequent ausbauen - das ist gar keine Frage, auch das
steht im Koalitionsvertrag - mit dem Ziel, dass die erneuerbaren Energien den Hauptanteil an der Energieversorgung übernehmen. Aber dazu brauchen wir einen
Energiemix, der kontinuierlich, lieber Herr Fell, und
nicht mit der Holzhammermethode die konventionellen
Energien langsam ablösen kann. Die Betonung liegt auf
„kann“. Dass wir das wollen, ist klar. Aber das muss
auch machbar sein.
Drittens. Wir müssen das Energiesystem umbauen,
und zwar mit Sinn, Verstand und Beharrlichkeit. Deswegen werden wir ein Energiekonzept im nächsten Jahr
vorlegen, aus dem hervorgeht, wie die Energie bezahlbar, zuverlässig und sauber ist.
({12})
Wir werden mit diesem Koalitionsvertrag die Vorreiterrolle in Deutschland übernehmen. Wir brauchen ambitionierte Ziele. Dazu sagen wir Ja. Aber zu Verboten
- das sage ich bei fast jeder Rede, wenn es um Ihre Vorlagen geht - und zu Unmöglichem sagen wir Nein. Mit
Totschlagargumenten und mit der Holzhammermethode
werden Sie kläglich scheitern. Das ist nicht unser Weg.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/156 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung aufgeführt finden. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Deutschland muss deutliche Zeichen für eine
Welt frei von Atomwaffen setzen
- Drucksache 17/242 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Als Erstes gebe ich der Kollegin Uta Zapf für die
SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir hätten uns keinen besseren Tag aussuchen können, um diese Debatte zu führen;
({0})
denn gerade gestern ist bekannt geworden, dass die Präsidenten von Russland und den USA vor dem direkt bevorstehenden Abschluss der START-Verhandlungen
verabredet haben, weitere Verhandlungen über die Abrüstung nuklearer Waffen zu führen, wobei insbesondere
auch die taktischen Nuklearwaffen ins Visier geraten
werden. Ich denke, dadurch wird unsere Diskussion hier
auch noch einmal beflügelt.
In der letzten Sitzungswoche haben wir über zwei
Anträge mit diesem Schwerpunkt diskutiert. Unser Antrag, den ich damals schon angekündigt habe, ist ein
bisschen breiter angelegt. Ich hoffe, dass unsere Diskussionen in den Ausschüssen dazu führen werden, dass wir
in diesem Hause einen ganz breiten Konsens über unsere
Forderungen in dem Bereich der nuklearen Abrüstung
erreichen können. Dies würde ganz besonders wichtig
sein, um die NPT Review Conference, also die im
Mai 2010 stattfindende Konferenz zur Überprüfung des
Nichtverbreitungsvertrages, zu unterstützen, damit dort
nicht dasselbe passiert wie im Jahre 2005, als es zu keinem Ergebnis gekommen und das ganze Gefüge des
Nichtverbreitungsvertrages in Gefahr geraten ist.
Ich glaube, die Chancen sind im Moment nicht nur
deshalb gut, weil sich die beiden Staatsmänner der Supermächte entschlossen haben, diesen Weg weiterzugehen, sondern auch, weil in den letzten Jahren eine Atmosphäre entstanden ist, in der sich sehr viele
Staatsmänner im Viererpack zu Wort gemeldet haben.
Dies fing 2007 mit George Shultz, William Perry, Sam
Nunn und Henry Kissinger an. Ganz viele andere sind
ihnen gefolgt. Die Letzten waren gerade die Niederlande. Vorher waren es auch Großbritannien, Frankreich,
Norwegen, Polen und Italien, die übrigens wieder einmal
unbedingt mehr als vier haben mussten, aber das verwundert nicht. Natürlich war auch Deutschland dabei.
Für Russland gilt das leider noch nicht, aber vielleicht
kommt das noch.
Im September 2009 hat der UN-Sicherheitsrat einstimmig eine Resolution verfasst und beschlossen, mit
der er für eine atomwaffenfreie Welt plädiert. Alle
Mächte, die offiziell über Nuklearwaffen verfügen, waren dabei - und auch Indien. Ich denke, auch das ist etUta Zapf
was, was man immer wieder ansprechen muss, wenn es
um weitere Prozesse der nuklearen Abrüstung geht.
Anfang Dezember 2009 hat die Generalversammlung
der UNO eine Resolution zur Abschaffung von Nuklearwaffen mit 171 Ja-Stimmen angenommen. Es freut mich
sehr, dass Deutschland diese Resolution mit eingebracht
hat. Ich denke, dass das uns als Parlament und auch der
Regierung eine gewisse Verpflichtung auferlegt.
Vor einigen Tagen ist der Bericht der Internationalen
Kommission für Nichtverbreitung und Abrüstung mit
der Unterstützung Australiens und Japans erschienen.
Vorsitzende der Kommission sind der hochrenommierte
Gareth Evans, der sicherlich jedem in diesem Hause bekannt ist, und Yoriko Kawaguchi.
Interessant fand ich, dass der ehemalige General
Naumann der Kommission angehört, der bislang etwas
andere Ansichten in der Öffentlichkeit vertreten hat.
Aber auch das lässt hoffen, dass es entsprechende mentale Entwicklungen gibt.
Zuvor gab es schon andere Kommissionsberichte wie
den Bericht der Blix-Kommission „Weapons of Terror“.
Diese 300 Seiten sollte jeder, der in diesem Bereich Verantwortung trägt, sorgfältig lesen, auch wenn ich einiges
daran zu kritisieren habe. Ich glaube, auch das müssen
wir diskutieren.
Ein Kritikpunkt ist, dass dieser Bericht einen zu langen Zeitraum bis zur endgültigen Abrüstung der Nuklearwaffen vorsieht. Ich glaube, wir sollten nicht so lange
warten. Wir sollten schneller voranschreiten; denn man
kann nur dann glaubwürdig auf Nonproliferation drängen, wenn die Abrüstungsbemühungen derjenigen, die
im Besitz von Atomwaffen sind, auch ernsthaft sind.
({1})
Ein weiterer Punkt, den ich an dem Bericht zu bemängeln habe, ist, dass der Entwurf der Nuklearwaffenkonvention, die seit Jahren in der Generalversammlung der
UNO beraten und auch von Ban Ki-moon stark unterstützt und eingefordert wird, erst nach der Abrüstungsphase, wenn ein Minimalbestand an Nuklearwaffen erreicht ist, Verhandlungen vorsieht. Ich glaube, dass ein
paralleler Prozess notwendig ist, weil dies signalisiert,
dass wir uns bei Atomwaffen genauso wie bei chemischen Waffen auf eine vertraglich bindende feste Grundlage stellen wollen. Das wäre ein Signal an andere Nationen, die möglicherweise Hintergedanken hinsichtlich
eigener nuklearer Bewaffnung haben.
Ich denke, wir müssen uns jetzt an die Arbeit machen
und darüber nachdenken, wie wir als Parlamentarier und
wie die Regierung die Verantwortung für das Gelingen
der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag wahrnehmen können. Ich appelliere dabei auch an
unsere Regierung, zu den 13 Schritten zurückzukehren,
die im Jahr 2000 vereinbart worden sind. Unser Antrag
stützt sich auf diese 13 Schritte, auch wenn sich nicht
alle darin wiederfinden. Wir können aber noch über Details diskutieren. Wir sollten unsere Regierung unterstützen, in diesem Sinne an den Verhandlungen teilzunehmen, um die Nonproliferation und die Abrüstung zu
unterstützen.
({2})
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen.
Wenn wir erreichen wollen - ich hatte in der letzten Debatte den Eindruck, dass wir alle in diesem Hause dies
wollen -, dass es nukleare Abrüstung auf null gibt und
dass die Nuklearwaffen aus Europa verschwinden, dann
müssen wir zwingend über Strategien reden, und zwar
nicht nur über die russische und die amerikanische Strategie. Wir müssen auch im Zuge des strategischen Konzepts der NATO auf eine Minimierung der Rolle von
Nuklearwaffen, ja möglicherweise auf einen völligen
Verzicht auf diese Kategorie drängen. Was in den letzten
zwei Jahren aus den NATO-Gremien und was vom letzten NATO-Gipfel in Kehl zu hören war, deutet aber nicht
darauf hin, dass die Rolle der Nuklearwaffen in der Diskussion tatsächlich herabgestuft werden soll. Ich denke,
das liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Staates,
der der NATO angehört.
Ich wünsche mir, dass nicht nur die neue Nuclear Posture Review der USA mit einer minimierten Rolle der
Nuklearwaffen das Licht der Welt erblickt, sondern dass
sich auch unsere Regierung und andere Regierungen Europas dafür einsetzen, dass im Zuge der Beratungen über
eine neue NATO-Strategie die Rolle der Nuklearwaffen
zumindest stark minimiert, wenn nicht gar eliminiert
wird. Ich erinnere daran, dass wir uns alle - oder fast
alle - gewünscht haben, dass eine No-first-use-Strategie
in der NATO-Strategie festgeschrieben wird. Vielleicht
können wir das gemeinsam erreichen.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Roderich
Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte
Kollegin Zapf, Sie haben Ihre Rede genauso sachlich
vorgetragen, wie der Antrag Ihrer Fraktion formuliert ist.
Das ist genau das, worum es in der Sicherheitspolitik
geht, nämlich dass wir darüber hier im Hause sachlich
diskutieren und eine gewisse Einigkeit in den Grundzügen entwickeln. Ich darf sagen, dass wir das auch unseren Soldaten im Einsatz schuldig sind, die es zurzeit
wirklich nicht einfach haben.
Heute geht es um die nukleare Abrüstung. Wir setzen
darauf. Viele leben hier nach dem Prinzip Hoffnung. Wir
setzen auf Fakten. Im Koalitionsvertrag fordern wir einen schrittweisen und beherzten Ansatz. Über welche
Reduzierungsinstrumente verfügen wir eigentlich? Da
hilft ein Blick in den Nichtverbreitungsvertrag; den wollen wir stärken. Im Mai nächsten Jahres beginnt die
Überprüfungskonferenz. Sie bietet eine Chance, die wir
nur alle fünf Jahre haben. Unser Land hat bereits 1969
den Atomwaffensperrvertrag ratifiziert. Aber es gibt
Staaten, die ihn sichtbar verletzten oder ihm erst gar
nicht beigetreten sind.
Doch wo Schatten ist, brennt auch Licht; Frau Zapf ist
darauf eingegangen. Auf strategischer Ebene haben die
Verhandlungen über ein START-Folgeabkommen zwischen Russland und den USA begonnen, ein willkommener Fortschritt für die internationale Abrüstung. Das
heißt, es wird endlich wieder über Abrüstung bei den
strategischen Nuklearwaffen verhandelt. Wir werden zu
einem Ergebnis kommen. Es gibt jedoch auch Nuklearwaffen bei einigen Staaten der Welt, die sich dem Nichtverbreitungsvertrag verweigern oder ihn sogar bewusst
verletzen. Es ist zu befürchten, dass der eine oder andere
Staat Atomwaffen herstellen kann, möglicherweise bald
auch der Iran.
Wir wollen eine wirksame Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages ab Mai 2010. Wir wollen uns hier konstruktiv einbringen. Das dient nicht zuletzt unseren
sicherheitspolitischen Interessen. Bei unserem schrittweisen Ansatz geht es uns auch um die in Deutschland
stationierten Atomwaffen. Genauso wie beim STARTNachfolgevertrag sollten wir hier rasch Abrüstungsvereinbarungen anstreben. Bei START ist das Ziel, die Anzahl nuklearer Sprengköpfe auf 1 500 zu reduzieren.
Diese Zahl kann aber nur ein Zwischenschritt sein. Dafür sollten wir Deutsche uns in der NATO und gegebenenfalls auch im NATO-Russland-Rat einsetzen. Eine
deutliche Reduzierung, zu der wir uns im Koalitionsvertrag bekennen, sieht anders aus. Sie muss weiter gehen.
Dafür werden wir uns nachdrücklich einsetzen. Wir wissen aber, dass es noch ganz viel zu tun gibt. Die wenigen
verbliebenen US-Atomwaffen in Europa sind bislang als
Beitrag zu Rückversicherung und Solidarität beibehalten
worden. Deren Zahl muss weiter reduziert werden, und
die Atomwaffen müssen nicht nur in Deutschland ganz
beseitigt werden,
({0})
und das im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen. Wir
sollten uns diesbezüglich auch bei der Überarbeitung des
strategischen Konzepts der NATO im nächsten Jahr intensiv einbringen.
({1})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist überzeugt: Wir
werden gemeinsam mit unseren Bündnispartnern unser
Ziel erreichen. Wir müssen auch hier im Hause Konsens
herstellen. Zur Fortsetzung dieses Prozesses schlage ich
folgende fünf Schritte vor, die ein Abrüstungsplan enthalten sollte:
Erster Schritt: Analyse der sicherheitspolitischen Herausforderungen mit Blick auf Terrorismus, nukleare
Aufrüstung und die Folgen unkontrollierter Verbreitung.
Es gilt der Grundsatz: je weniger Nuklearwaffen, desto
geringer die Gefahr, dass Nuklearmaterial in terroristische Hände fällt. Wie ist unser Vorgehen gegenüber
Staaten, die den Nichtverbreitungsvertrag nicht akzeptieren? Was ist zum Beispiel, wenn sich der Iran nuklear
bewaffnet?
Zweiter Schritt: eine umfassende Abstimmung über
unsere Sicherheitsinteressen auch im Bündnis. Das bezieht die Frage der transatlantischen Abstimmung ein.
Bisher haben hier die in Europa stationierten USNuklearwaffen eine entscheidende Rolle gespielt. Welches sind also unsere sicherheitspolitischen Interessen,
und wie vertreten und begleiten wir sie vor allem glaubwürdig?
Dritter Schritt: Schaffung einer gesamteuropäischen
Abrüstungsperspektive sowohl für nukleare als auch für
konventionelle Waffen.
Deshalb sollten wir mit Russland über den KSE-Vertrag, also den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in
Europa, pragmatisch zusammenkommen.
({2})
Hierzu bieten sich Gespräche im NATO- und OSZERahmen an. Wir berücksichtigen zugleich - das ist uns
ganz wichtig - die Sicherheitsbedürfnisse unserer östlichen Partner wie Polen oder die baltischen Staaten.
Vierter Schritt, Schaffen von Anreizen für Abrüstung
und nicht von Misstrauen, das zu neuer Aufrüstung
führt. Abrüstung schafft freie Ressourcen, zum Beispiel
für Bildung und Forschung. Außerdem sollten wir Hilfen für die Sicherung von Nukleararsenalen anbieten.
Das ist in einigen Ländern ein herausragendes Problem.
Fünfter und letzter Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung des langfristigen Ziels Global Zero, Festlegung
einer möglichst geringen Anzahl von Kernwaffen als
Restversicherung, das heißt zügiges Wegverhandeln der
taktischen Atomwaffen in Europa, drastische Reduzierung der vorhandenen Atomwaffen weit unterhalb der
jetzt zwischen den USA und Russland vorgesehenen
Größe von 1 500. Dann irgendwann kann das GlobalZero-Ziel erreicht werden.
Mit diesem pragmatischen und konstruktiven Vorschlag, mit diesen fünf Punkten, machen wir unsere, die
deutschen Interessen klar, und - auch das gilt es festzuhalten - wir gehen keinen deutschen Sonderweg. Das hat
uns in der Vergangenheit immer geschadet, wie auch der
Kollege Dr. Lamers und die Kollegin Hoff in der letzten
Sitzungswoche betonten.
({3})
Darum geht es in der Sicherheitspolitik: um Beharrlichkeit, Mut und Verlässlichkeit. Es gilt, das Entstehen
neuer Atommächte zu verhindern und entschieden gegen
die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen vorzugehen. Dazu müssen wir hier im Parlament einen Konsens herbeiführen.
Ich betone noch einmal: Visionen allein helfen nichts.
Erst brauchen wir eine inhaltliche Diskussion mit allen
Fakten. Dann können wir entscheiden. So sichern wir
unseren Einfluss. Darum geht es doch für unser Land:
um Einfluss und Glaubwürdigkeit. Dafür stehen wir. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion schlägt deshalb vor, den
konstruktiven Antrag der SPD in die Ausschüsse zu
überweisen. Lassen Sie mich kurz vor Weihnachten sagen: Es ist vielleicht leichter, Gewehre in Gitarren und
Schwerter in Pflugscharen zu verwandeln als Atomwaffen in was auch immer. Lassen Sie uns über die gesegnete Weihnachtszeit darüber nachdenken und die fünf
Punkte im neuen Jahr aufgreifen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Wolfgang Gehrcke hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich muss ehrlich sagen: Ich habe mich über den Antrag
der SPD gefreut. Das kommt bei mir sehr selten vor, was
die Außenpolitik angeht. Über diesen Antrag habe ich
mich gefreut, weil er einen Grundgedanken transportiert,
nämlich dass Deutschland Zeichen setzen soll, was die
atomare Abrüstung angeht. Das heißt, der Ball liegt in
unserem Spielfeld, so notwendig internationale Verhandlungen über die Abrüstung auch sind.
Ich habe mich an die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erinnert, die auch in der Sozialdemokratischen Partei einmal tief verankert war. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich Menschen in unserem Lande für die
Vision einer atomwaffenfreien Welt engagieren. Sie zu
verwirklichen, fängt damit an, dass Deutschland und Europa, zumindest Mitteleuropa, atomwaffenfrei gemacht
werden.
({0})
Es ist allerhöchste Zeit.
Ich habe die Hoffnung, dass jetzt ein politisches Zeitfenster geöffnet ist, was die Atomwaffen angeht. Man
muss über sehr viele Fragen reden. Ich sage Ihnen aber
auch: Wenn die Überprüfungskonferenz zum Nichtweiterverbreitungsvertrag scheitert, dann wird das ganze
System der Kontrolle der atomaren Abrüstung zusammenbrechen. Deswegen können wir uns gar nicht leisten,
diese Konferenz scheitern zu lassen. Ich möchte die Anregung geben, dass Abgeordnete aller Fraktionen des
Deutschen Bundestags nach New York fahren, um dort
das Eintreten des deutschen Parlaments für atomare Abrüstung deutlich zu machen. Ich würde das für ein gutes
Zeichen der Ermunterung halten.
({1})
Schauen wir uns die Sachen im Einzelnen an. Ich
habe mit großem Vergnügen die Rede des Staatsministers im Auswärtigen Amt, des Kollegen Hoyer, zum
Thema Frieden gelesen, die er vor „Bürgermeistern für
den Frieden“ - Mayors for Peace - gehalten hat und in
der er davon spricht, dass atomare Rüstung heute nicht
mehr Sicherheit bringt, sondern eine Belastung für die
Sicherheit geworden ist. Das kann man wörtlich zitieren.
({2})
Er hat sehr vernünftige Ausführungen gemacht, warum Deutschland gut beraten ist, über diese Frage mit
den USA zu reden. Ich frage Sie als Kollegen in diesem
Parlament ehrlich: Wäre es nicht möglich, einen Antrag
mit dem simplen Satz „Wir bitten die USA, wir bitten
den amerikanischen Präsidenten, die verbliebenen
Atomwaffen der USA aus Deutschland abzuziehen“
fraktionsübergreifend in allem Respekt zu beschließen?
({3})
Eine einfache Entscheidung löst nicht alle Probleme.
Sie zeigt aber ein wenig den Weg auf, den man gehen
könnte. Deshalb will ich Ihnen von meiner Seite aus einen Vorschlag bzw. eine Überlegung - Angebot hört sich
immer so blöd an - nahebringen. Die drei Anträge der
Oppositionsfraktionen, also der der Linken, der der Grünen und der der SPD, liegen nicht so weit auseinander.
Sie haben zwar teilweise andere Begründungen und setzen unterschiedliche Schwerpunkte, es wäre aber überhaupt kein Problem, aus all dem eine kleine Synopse zu
machen und einen gemeinsamen Antrag der drei Oppositionsfraktionen einzubringen. Ich bin überzeugt davon,
dass die FDP, wenn sie das ernst nimmt, was Kollege
Hoyer gesagt hat und was im Koalitionsvertrag steht,
({4})
dagegen nicht opponieren wird. Das heißt, wir könnten
von unserem Parlament die Botschaft aussenden - daran
bin ich sehr interessiert -, dass in der Frage der Atomwaffen etwas passiert.
({5})
Ich will auch sagen - das müssen meine Kollegen
jetzt erst einmal verdauen -: Ich habe mit der NATO
zwar nichts am Hut, wie Sie wissen - ich bin nie ein
Freund der NATO gewesen, im Gegenteil; ich will das
auch nicht umdeuten -; ich wäre aber sehr dafür, dass bei
der nächsten NATO-Konferenz in Lissabon einige Fragen, die im Antrag der SPD angesprochen werden, ernsthaft verhandelt werden. Unabhängig von meiner Gegnerschaft zur NATO
({6})
möchte ich gerne, dass die nukleare Erstschlagsdoktrin
der NATO aufgegeben wird. Ich möchte, dass die
NATO-Staaten erklären, dass sie keine Atomwaffen gegen Staaten einsetzen werden, die ihrerseits nicht über
Atomwaffen verfügen. Ich möchte auch, dass das deutliche Signal gesendet wird, dass die Nichtweiterverbreitung nicht aufrechtzuerhalten sein wird, wenn die Atomwaffenstaaten jetzt nicht atomar abrüsten. Technisch
sind viele Länder dazu in der Lage, nach Massenvernichtungs- bzw. Atomwaffen zu greifen. Ich möchte,
dass ein deutliches Signal gegen den Einsatz solcher
Waffen gesendet wird.
Überlegen Sie doch einmal, ob es nicht sinnvoll wäre,
Ihre NATO-Freunde in diese Richtung zu beraten. Meine
sind es ja nicht, sodass ich das nicht kann; aber ich kann
zumindest diesen Rat geben.
Schönen Dank.
({7})
Elke Hoff hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Kollege Gehrcke, ich freue mich,
dass Sie wenigstens nicht in diesem Zusammenhang den
Neoliberalismus als Wurzel allen Übels identifiziert haben. Das ist zum Ende des Jahres wirklich eine sehr versöhnliche Geste. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Dass wir heute bereits zum zweiten Mal in diesem
Monat über Fragen der nuklearen Abrüstung diskutieren,
ist ein Zeichen für die Bedeutung, die Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung in den letzten Jahren erfahren haben. Ich glaube, wir alle, die wir als Kollegen in diesem Bereich tätig sind, können uns keinen
schöneren Tag als heute wünschen, an dem es zum ersten Mal Anzeichen dafür gibt, dass es Russland und
Amerika wohl schaffen werden, ein Nachfolgeabkommen zum START-1-Vertrag auf den Weg zu bringen. Das
finde ich sehr gut. Das sollten wir begrüßen. Es gibt vor
allen Dingen auch uns weitere Rückendeckung und weiteren Rückenwind für unsere Aktivitäten hier im Hause.
({1})
Wir alle können froh sein, dass das Thema der nuklearen Abrüstung dank des Engagements von vorausschauenden Staatsmännern wie Hans-Dietrich Genscher,
Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker wieder auf
die Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht
worden ist. Zudem hat sich mit der Prager Rede von USPräsident Obama die historische Chance eröffnet, die
globalen Abrüstungsbemühungen zaghaft wiederzubeleben und darüber hinaus beherzt den Weg in eine kernwaffenfreie Zukunft anzutreten. Die letzte Debatte hier
im Hause hat gezeigt, dass wir als Parlamentarier über
alle Fraktionsgrenzen hinweg der Überzeugung sind,
dass diese Chance genutzt werden sollte.
({2})
Deutschland kann und muss hierzu seinen Beitrag
leisten, indem in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten in der NATO dafür gesorgt wird, dass die letzten verbliebenen taktischen Atomwaffen auf deutschem
Boden abgezogen werden. Ich rechne fest damit, dass
wir im neuen Jahr einen interfraktionellen Antrag zur
Abrüstung verabschieden werden. Der vorliegende Antrag der SPD-Kollegen bietet hierfür eine sehr gute
Grundlage. Ich bin der Überzeugung, dass wir in den zuständigen Ausschüssen hierfür eine abstimmungsfähige
gemeinsame Grundlage finden werden und damit das
neue Jahr mit der nötigen Rückendeckung für unsere
Bundesregierung beginnen können.
({3})
Die Verbreitung von Kernwaffen und die Stabilität
des internationalen Staatensystems stehen in einem engen Zusammenhang. In den kommenden Monaten werden von der Weltgemeinschaft wichtige Weichenstellungen für die internationalen Bemühungen um nukleare
Abrüstung und Nichtverbreitung vorgenommen. Der
Gipfel zur nuklearen Sicherheit ist hier zu nennen, der
auf Initiative des amerikanischen Präsidenten im März
2010 zu Beratungen zusammenkommen wird.
Ebenso besteht die Hoffnung, dass im Frühjahr die
Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz über
einen Vertrag über ein Verbot zur Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial endlich beginnen können. In
beiden Fällen wird es darum gehen, die Proliferation von
Nuklearmaterial und sensiblem Know-how in die falschen Hände, seien sie staatlich oder nichtstaatlich, zu
verhindern.
Im Rampenlicht steht aber die Überprüfungskonferenz zum Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im Mai
nächsten Jahres. Ihr erfolgreicher Verlauf wäre ein erster
Meilenstein auf dem Weg in eine kernwaffenfreie Zukunft. Hierfür muss es den Staaten, die den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet haben, gelingen, das Gleichgewicht zwischen den drei Säulen des Kooperationsregimes - Abrüstung, Nichtverbreitung und das Recht
auf zivile Nutzung der Kernenergie - wieder herzustellen. Es muss verlorenes Vertrauen in den Nutzen und in
die Effektivität des Vertrages wiederhergestellt werden,
dessen Verlust in der gescheiterten Überprüfungskonferenz 2005 seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Wir können uns keinen weiteren Verfall des Vertrages leisten,
wenn die Weiterverbreitung von Kernwaffen glaubwürdig verhindert und die Abrüstung weiter vorangebracht
werden soll.
({4})
Es ist einerseits notwendig, die fünf Kernwaffenstaaten des Vertrages an ihre Abrüstungsverpflichtungen aus
Art. VI des Vertrages über die Nichtverbreitung von
Kernwaffen zu erinnern. Andererseits müssen die Vertragsstaaten die Verifikations- und Transparenzinstrumente des Vertrages weiter stärken. Regelbrecher und
Proliferateure dürfen nicht das Gefühl haben, unentdeckt
gegen die Normen und Prinzipien des Nichtverbreitungsvertrages verstoßen zu können.
({5})
Deshalb ist es so wichtig, die Universalisierung des
Zusatzprotokolls zu erreichen, wodurch der Internationalen Atomenergiebehörde umfangreichere Inspektionsrechte eingeräumt werden. Zudem muss das Projekt
einer Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufs vorangetrieben werden, um für die Zukunft verdeckte Proliferation im Rahmen ziviler Nuklearprogramme zu verhindern.
({6})
Die neue amerikanische Nuklearstrategie, welche Anfang 2010 vorgelegt werden wird, muss zudem zeigen,
ob sie den politischen Leitlinien der US-Regierung in
Fragen der Abrüstung und Nichtverbreitung gerecht
werden kann. Viele Nichtkernwaffenstaaten werden gerade im Vorfeld der Überprüfungskonferenz auf den
Nuclear Posture Review schauen und diesen als Gradmesser dafür ansehen, wie ernst es auch den Vereinigten
Staaten mit ihren kurz- und mittelfristigen Abrüstungsbemühungen ist.
Gleiches gilt für die Entscheidung des US-Senats
über die amerikanische Ratifikation des Atomteststoppvertrages. Die Ratifikation des CTBT muss aber - nicht
nur wegen der Vorbildfunktion für Staaten wie Indien gelingen, soll der Vertrag nicht für weitere Jahre auf Eis
gelegt werden. Nicht zuletzt hängen zukünftige Erfolge
bei der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung eng
mit einer diplomatischen Lösung für die Konflikte um
das iranische Nuklearprogramm und das nordkoreanische Kernwaffenprogramm zusammen. Ich habe immer
noch die Hoffnung, dass gerade mit dem Iran auf der Basis des jüngsten Vorschlags der IAEO zur Anreicherung
von Uran für den Teheran-Forschungsreaktor im Ausland doch noch eine Verständigung - vielleicht in letzter
Minute - zustande kommt. Denn ohne eine tragfähige
Lösung dieser Proliferationsrisiken wird ein substanzieller Fortschritt bei der weltweiten Abrüstung kurz- bis
mittelfristig kaum möglich sein.
Abschließend bleibt festzuhalten: Die Herausforderungen sind vielfältig; die einzelnen Bereiche sind
schwierig. Bundesaußenminister Westerwelle hat immer
betont: Abrüstung ist möglich, und zwar jetzt. Das
Schlüsselwort hierzu heißt „Zusammenarbeit“.
Auch in diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein frohes Weihnachtsfest sowie
ein gesundes und glückliches neues Jahr. Ich freue mich
auf den gemeinsamen Antrag im Jahr 2010.
Vielen Dank.
({7})
Agnes Malczak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
ein Gebot der Vernunft und zugleich unsere moralische
Pflicht, alles in unseren Möglichkeiten Stehende dafür
zu tun, die Bedrohung durch Atomwaffen überall auf der
Welt und für immer zu beseitigen.
({0})
Deshalb unterstützen wir jede Initiative, die sich diesem
Ziel verpflichtet, und sind gerne zu einem interfraktionellen Antrag bereit.
Deutschland kann einen unverzichtbaren Beitrag zur
Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt leisten.
Dieser besteht in der Beendigung der nuklearen Teilhabe
({1})
und dem Abzug der verbliebenen US-Atomwaffen aus
Büchel in Rheinland-Pfalz.
({2})
Was von einigen gerne als Utopie abgetan wurde, ist zu
einer greifbar nahen Vision geworden. Nutzen wir die
Gunst der Stunde, deutliche Zeichen für eine atomwaffenfreie Welt zu setzen!
({3})
Die beiden größten Atommächte sind schon dabei:
Russland und die USA stehen in Verhandlungen zu einem neuen START-Vertrag und ziehen weitere Verträge
in Erwägung. Bis zur Überprüfungskonferenz zum
Nichtverbreitungsvertrag im Mai nächsten Jahres in
New York öffnet sich ein einmaliges Zeitfenster,
({4})
um der Welt zu demonstrieren, wie nukleare Abrüstung
funktioniert.
Ich weise nochmals darauf hin, dass die USA eine
Modernisierung der Atomwaffen beschlossen haben.
Das kann gerade die in Deutschland gelagerten Waffen
betreffen. Es geht nicht nur darum, dass die weltpolitische Chance auf Abrüstung so groß wie nie zuvor ist,
sondern auch darum, dass aufgrund der Modernisierung
Fakten geschaffen werden können, die den Abzug der
US-Atomwaffen erst einmal unmöglich machen. So oder
so: Jetzt ist das Zeitfenster gegeben, zu handeln. Lassen
Sie diese Gelegenheit nicht verstreichen! Wir fordern
daher Außenminister Westerwelle dazu auf - er hat sich
immer zur Abrüstung bekannt -, seinen Worten Taten
folgen zu lassen und einen konkreten Plan zum Abzug
von Atomwaffen aus Deutschland vorzulegen.
({5})
Wenn wir Sie auffordern, den Abzug der in Büchel
verbliebenen US-Atomwaffen einzuleiten, können Sie
uns nicht, wie in der letzten Debatte, vorwerfen, wir propagierten einen deutschen Alleingang. Für Grüne war
und ist Multilateralismus ein zentraler Wert.
({6})
Nukleare Abrüstung bedeutet keine Abkehr vom Prinzip
der kollektiven Sicherheit. Sie richtet sich nicht gegen
unsere Bündnispartner, sondern gegen den Wahnsinn eines Waffensystems, das eine Bedrohung für die eigene
Sicherheit und die gesamte Menschheit darstellt.
({7})
Zwischen Abwarten, bis es zu spät ist, und deutschem
Alleingang gibt es eine Alternative - sie ist der richtige
Weg -: zu agieren für eine atomwaffenfreie Welt, einen
aktiven Beitrag zu leisten und damit auch eine führende
Rolle im Abrüstungsprozess wahrzunehmen.
({8})
Wenn es uns nicht gelingt, die Überprüfungskonferenz im Frühjahr zum Erfolg zu führen, ist nicht nur das
Ziel Global Zero, sondern sind auch die bestehenden Errungenschaften des Nichtverbreitungsvertrages bedroht.
Es gibt keine Alternative zur nuklearen Abrüstung; denn
die neuen aufstrebenden Staaten werden sonst die bisherigen Privilegien der offiziellen Atommächte nicht länger akzeptieren. Entweder wir gehen alle gemeinsam einen Schritt vorwärts, oder wir laufen Gefahr, in einen
Zustand permanenter Unsicherheit, wie es ihn in den
60er-Jahren gab, zurückgeworfen zu werden.
Wer stehen bleibt oder auf der Stelle tritt, der wird sehen, wie schnell der Weg steiniger wird und bald komplett verstellt ist. Wer sich nur hinstellt und sagt, wie
schön es doch wäre, wenn endlich etwas passieren
würde, der wird am Ende kein Stück weiter sein. Daher
appelliere ich dringend an die Bundesregierung: Überzeugen Sie nicht mit Worten, sondern mit Taten!
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Karl Lamers hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine atomwaffenfreie Welt ist unsere Vision, unser gemeinsames Ziel. Daran müssen wir hier im Hause alle
miteinander weiterarbeiten. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, hat dieser Vision in seiner beeindruckenden Rede in Prag gewissermaßen neue Flügel verliehen. Die Koalition aus CDU/
CSU und FDP bekennt sich ausdrücklich zu diesem Ziel.
Deutschland hat bereits vor Jahrzehnten auf Atomwaffen
verzichtet. Dies möchte ich, Frau Höger, ganz besonders
hervorheben.
({0})
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
werden sich bei den Verbündeten in der NATO nachdrücklich dafür einsetzen, dass die letzten in Deutschland verbliebenen Atomwaffen in absehbarer Zeit abgezogen werden.
({1})
Dies ist eine klare Zusage von unserer Seite an das ganze
Haus.
Die SPD-Fraktion schreibt in ihrem Antrag, dass eine
Welt frei von Atomwaffen erreichbar ist. Dieser Ansicht
stimme ich gerne zu, allerdings unter der Voraussetzung,
dass niemand auf der Welt Atomwaffen besitzt. Mich
macht es ein wenig nachdenklich, dass im SPD-Antrag
die Gefährdungen, die potenziell von Staaten wie dem
Iran und Nordkorea ausgehen, nicht in dem Maße angesprochen werden, wie dies meines Erachtens notwendig
wäre, ganz zu schweigen von der Gefahr, dass Terroristen in den Besitz von Atomwaffen oder nuklearem Material kommen. Es reicht nicht aus, auf die Bemühungen
des früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier
hinzuweisen. Wir brauchen in diesem Bereich tatsächliche Erfolge.
({2})
Solche kann ich gerade in diesen Tagen angesichts
immer neuer Machtdemonstrationen des Iran in keiner
Weise erkennen. Noch einmal: Visionen sind gut; aber
Realitäten in dieser Welt zur Kenntnis zu nehmen, ist
mindestens ebenso wichtig, vielleicht sogar lebenswichtig. Daher Ja zu Visionen, aber Nein zu Illusionen.
({3})
Der Iran lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass
er den nuklearen Brennstoffkreislauf schließen will und
wird. Gleichzeitig verbittet sich dieser Staat jede ausländische Einflussnahme, und es ist kaum zu erwarten, dass
sich der Iran an internationale Verpflichtungen hält, die
auch für ihn gelten.
({4})
Deswegen: Wer eine atomwaffenfreie Welt anstrebt
- das tun wir doch alle hier in diesem Hause -, muss
vorher solche elementaren Probleme lösen.
Dr. Karl A. Lamers ({5})
Die NATO war in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stets Garant unserer Sicherheit, lieber Herr
Gehrcke. Ich möchte an dieser Stelle - ich hoffe, im Namen des ganzen Hauses ({6})
unseren Verbündeten und Freunden ausdrücklich dafür
danken, dass sie stets an unserer Seite standen.
({7})
Die Strategie des Bündnisses war und ist es, jedem potenziellen Aggressor militärische Gegenmaßnahmen anzudrohen, wenn er die Souveränität der NATO-Staaten
missachtet und die territoriale Integrität des Bündnisgebietes ignoriert.
({8})
Die Glaubwürdigkeit dieser Strategie, von der auch Sie,
Herr Gehrcke, letztlich profitieren, gründet sich auf einen Mix aus konventioneller Stärke und nuklearer Abschreckungsfähigkeit.
({9})
Das seit 1999 gültige NATO-Strategiekonzept wird
zurzeit einer Überarbeitung unterzogen. Im Konsens mit
den Bündnispartnern werden wir im nächsten Jahr eine
zeitgemäße Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen finden, die sich in der Zwischenzeit ergeben haben. Ich bin überzeugt, Frau Zapf, dass auch
unser Bündnis auf die nukleare Abschreckung verzichten wird, wenn es uns gelungen ist, die offiziellen und
inoffiziellen, möglichen oder tatsächlichen Nuklearwaffenstaaten zum Verzicht auf nukleare Bewaffnung zu bewegen.
({10})
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es geht nicht nur
um Visionen, sondern auch um tatsächliche Schritte hin
zur Abschaffung aller Atomwaffen. Die fünf Schritte dahin hat unser Kollege Kiesewetter sehr beeindruckend
vorgestellt.
({11})
Zum SPD-Antrag sage ich klar und deutlich: Es geht
nicht nur um einen Verzicht der NATO, sondern auch
und gerade um einen Verzicht von Staaten wie dem Iran
und Nordkorea, die versuchen, durch den Besitz von
Atomwaffen unangreifbar zu werden und das strategische Gleichgewicht in bestimmten Regionen der Welt zu
verändern, indem Sie damit drohen und andere erpressen. Das Entscheidende für mich ist aber: Die Gefährdung, die von Nuklearwaffen ausgeht, liegt nicht nur im
Haben, im Besitz dieser Waffen, sondern vor allem im
Verantwortungsbewusstsein dessen, der über sie verfügen kann. Darum geht es. Wir jedenfalls bedrohen niemanden.
Ich frage Sie: Wann hat die NATO jemals irgendjemanden bedroht? Sie nimmt lediglich das Recht auf kollektive Verteidigung für den Fall eines Angriffs auf das
Bündnisgebiet in Anspruch. Dieses legitime Recht aller
Staaten besteht weiterhin.
({12})
Wir wollen ein strategisches Gleichgewicht, und dies
letztendlich ohne Nuklearwaffen; doch bis dahin ist es
noch ein weiter Weg. Wir begrüßen alle Versuche und
Bemühungen weltweit, in Bezug auf nukleare Abrüstung
und Rüstungskontrolle zu wirklich akzeptablen Ergebnissen zu kommen. Zwischenschritte auf dem Weg zu einer großen Lösung des Nuklearwaffenproblems dürfen
nicht einseitig gemacht werden, sondern müssen von allen betroffenen Staaten vollzogen werden, um am Ende
gleiche Sicherheit auch ohne Atomwaffen zu erreichen.
Deshalb ist es richtig und wichtig, die konventionelle
Abrüstung einzubeziehen.
Wir alle fühlen uns dem Ziel verpflichtet, den Frieden
in Freiheit zu sichern. Lassen Sie mich deshalb mit einem Zitat von Alexander von Humboldt schließen:
Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine
Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu
genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.
Ich danke Ihnen.
({13})
Damit schließe ich die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage
auf Drucksache 17/242 an die Ausschüsse zu überwei-
sen, die in der Tagesordnung vorgesehen sind. - Damit
sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Klaus Ernst, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundeseinheitliche Finanzierung von Frauenhäusern sicherstellen
- Drucksache 17/243 Überweisungsvorschlag
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Ekin Deligöz, Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundrechte schützen - Frauenhäuser sichern
- Drucksache 17/259 1114
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine
halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Heute vor 30 Jahren trat die UN-Frauenrechtskonvention in Kraft. Ihr Ziel ist, jegliche Diskriminierung von Frauen zu beseitigen. Die Bundesrepublik
bekennt sich seit langem zu dieser Konvention und verpflichtet sich zu ihrer Einhaltung; doch ihre Umsetzung
läuft sehr schleppend.
Erst im Februar kritisierte der zuständige Ausschuss
zum Beispiel das Fehlen einer gesicherten Finanzierung
der Frauenhäuser in Deutschland und forderte Abhilfe.
Eine Anhörung im Deutschen Bundestag, die vor zwei
Jahren auf Initiative der Linken stattgefunden hat, führte
zu dem Ergebnis, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Es war die erste Anhörung zu diesem Thema nach
30 Jahren Frauenhausbewegung. Schwarz-Rot hat trotzdem nur eine Prüfung beschlossen. Ich denke, SchwarzGelb ist jetzt dringend zur Tat verpflichtet.
({0})
Aus unserer Sicht ist klar, dass der Bund zuständig
ist; denn es gilt der Verfassungsauftrag, gleichwertige
Lebensverhältnisse zu sichern, und zwar erst recht für
von Gewalt betroffene Frauen. Dieser Verfassungsauftrag ist aber nicht erfüllt, wenn es vom Wohnort oder
von der sozialen Situation der Frau abhängt, ob sie Zuflucht vor Gewalt findet oder nicht. Daran wird sich
nichts ändern, wenn die Finanzierung weiterhin allein
den Ländern und Kommunen überlassen wird. Eine Finanzierung nach Kassenlage anstatt nach Bedarf ist gerade bei Gewaltopfern absolut inakzeptabel.
({1})
Ich nenne ein paar daraus resultierende Probleme:
Erstens. Bei der Versorgung zeigt sich, dass es zu wenig
Schutzplätze und zu große regionale Unterschiede gibt. In
Bremen kommt ein Frauenhausplatz auf 6 200 Einwohnerinnen und Einwohner, in Bayern sogar auf 17 100.
Gemessen an den Normen der Europäischen Kommission fehlen im Bundesdurchschnitt 4 800 Plätze. Es
ist inakzeptabel, wenn es vom Wohnort abhängt, ob eine
Zuflucht verfügbar ist oder nicht.
({2})
Zweitens. Soziale Zugangsbarrieren. Mit der Einführung von Hartz IV wurde die Situation der Gewaltopfer
noch verschlechtert. Der Wechsel von der Pauschal- zur
Tagessatzfinanzierung bedeutet, dass die Übernahme der
Aufenthaltskosten im Frauenhaus nur dann gesichert ist,
wenn die Betroffene Anspruch auf Hartz IV oder Sozialgeld hat. Nicht Anspruchsberechtigte - das sind Schülerinnen, Auszubildende, Studentinnen und illegalisierte
Migrantinnen - müssen entweder den Tagessatz selbst
bezahlen oder ihnen bleibt der Zugang verwehrt. Ein
Frauenhaus ist aber eine Schutzeinrichtung und kein Hotel für liquide Gäste. Es ist zynisch und rechtsstaatlich
höchst bedenklich, wenn der Geldbeutel über die Möglichkeit einer Zuflucht entscheidet.
({3})
Nur Berlin, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein
sind bei der Pauschalfinanzierung geblieben.
Drittens. Regionale Zugangsbarrieren. Wenn eine
Hartz-IV-Bezieherin aus Sicherheitsgründen in ein Frauenhaus flüchten muss, das außerhalb ihrer Herkunftskommune liegt, muss diese trotzdem für sie die Kosten
übernehmen, aber nur in Höhe der eigenen Regelsätze.
Die Differenz zu den möglicherweise höheren Sätzen in
der Zufluchtskommune muss das Frauenhaus selbst
übernehmen. Deshalb verlangen viele Kommunen, keine
ortsfremden Frauen aufzunehmen. Das ist realitätsfremd
und absolut inakzeptabel.
({4})
Stellen wir uns kurz vor, wir wären Mitarbeiterinnen
in einem Frauenhaus und müssten misshandelte Frauen
abweisen, weil sie jenseits der Stadtgrenze wohnen oder
weil sie Studentin oder Migrantin ist. Würden Sie diese
Frau ohne Hilfe wegschicken oder sie trotz des knappen
Etats des Frauenhauses aufnehmen? Nur, wie oft könnten Sie sich eine solch humanitäre Geste leisten? Genau
vor dieser Frage stehen Frauenhausmitarbeiterinnen nahezu täglich. Dabei sind sie unterbezahlt und müssen nebenbei zum Beispiel für Beratungsarbeit auch noch Eigenmittel einwerben. In NRW sind das stattliche
70 Prozent des Etats. Beim rot-rot regierten Berlin sind
es übrigens nur 3 Prozent.
Aus all diesen Gründen brauchen wir dringend eine
bundeseinheitliche bedarfsgerechte Pauschalfinanzierung für Frauenhäuser,
({5})
für Unterkunft, Betreuung, Prävention und Aufklärungsarbeit, für administrative Arbeiten und die Vernetzung
von Schutzeinrichtungen. Das zu sichern, beantragt Die
Linke heute erneut, und wir werden weiter Druck machen, bis jedes Zimmer in jedem Frauenhaus für seine
Bewohnerin die Tür zu einer gewaltfreien Zukunft öffnet.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Dorothee Bär hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In einer Woche ist Weihnachten, und Weihnachten ist für
viele Menschen das Fest der Familie, der Besinnung und
des Friedens. Aber gerade an diesen Feiertagen kommt
es vermehrt zu häuslicher Gewalt und das in allen Einkommensbereichen, in allen Bildungsschichten und auch
in allen Kulturkreisen.
Jede vierte Frau in Deutschland erlebt mindestens
einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner. Beleidigungen, Schläge, Demütigungen, Vergewaltigungen und lebensgefährliche Verletzungen führen zum Teil
zu lebenslangen seelischen Folgen. Zumeist braucht es
sehr viele Anläufe, bis die Betroffenen bereit und in der
Lage sind, sich aus dieser Gewaltsituation zu lösen. Deswegen brauchen diese Frauen Beratung und Zuwendung
und vor allen Dingen einen sicheren Ort.
Für viele Frauen und ihre Kinder ist der letzte Ausweg die Flucht aus der eigenen Wohnung in ein Frauenhaus. Aber wie gesagt: Diesen Schritt überhaupt zu gehen, ist natürlich mit sehr vielen seelischen Belastungen
verbunden. In unseren Frauenhäusern erhalten sie die
notwendige Unterstützung, sie erhalten eine Unterkunft,
Essen, finanzielle Soforthilfe und - was in den meisten
Fällen besonders wichtig ist - die Möglichkeit, sich zu
verstecken.
Als zentrale Anlaufstelle und Einrichtung für Opfer
von häuslicher Gewalt sind unsere Frauenhäuser seit
30 Jahren unverzichtbar geworden. Schon in unserem
Antrag „Die Situation von Frauenhäusern verbessern“
haben wir auf ihre hohe Bedeutung hingewiesen. Frauenhäuser und Frauenzufluchtswohnungen sind unerlässliche Einrichtungen der Notfallhilfe. Sie sind auch wichtige Anlauf- und Beratungsstellen für die Betroffenen,
leisten einen wertvollen Beitrag zur Gewaltprävention
und bieten Beratung und Vermittlung in persönlichen
Krisensituationen und Notlagen an.
Derzeit haben wir in Deutschland ungefähr 7 000 Bettenplätze in circa 330 Frauenhäusern und in circa
60 Frauenzufluchtswohnungen. In diesen Frauenhäusern
bitten jährlich 45 000 misshandelte Frauen mit ihren
Kindern um Zuflucht.
Wir haben bei den Frauenhäusern insbesondere folgende Probleme: Nicht überall - das ist angesprochen
worden - ist die regionale Versorgung gewährleistet. Gerade über die kommenden Feiertage während der Weihnachtszeit kommt es teilweise zu extremen Engpässen.
Betroffene Frauen mit drei Kindern, psychisch kranke
Frauen und drogenabhängige Frauen finden nicht immer
schnell einen Platz.
Ein anderes Problem ist, dass die Betroffenen oft Studentinnen oder Migrantinnen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus sind, die keine sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche haben. Dies führt insbesondere bei
Frauenhäusern, die sich über Tagessätze finanzieren, zu
großen Finanzierungsschwierigkeiten. Frauenhäuser, die
diese Personengruppen aufnehmen, müssen deshalb einen erheblichen bürokratischen Aufwand leisten und
bleiben nicht selten auf den Kosten sitzen. Ein weiteres
Problem tritt in der Praxis auf, wenn Frauen Schutz im
Frauenhaus einer fremden Kommune suchen und keine
Kostenübernahmeerklärungen der Herkunftskommune
vorliegen.
Im Koalitionsvertrag haben wir beschlossen, eine
bundesweite Notrufnummer einzurichten, die rund um
die Uhr besetzt ist und die den Betroffenen konkrete Unterstützung vor Ort vermitteln kann. Diese Nummer
- Herr Staatssekretär, ich weigere mich im Sinne des
Schutzes der deutschen Sprache, sie Helpline zu nennen soll dabei helfen, die einzelnen Bedürfnisse der Frauen
und ihrer Kinder festzustellen und das passende Hilfsangebot - Frauenhaus, Gewaltschutz oder andere Maßnahmen - herauszufinden. Dieser Telefonnotruf soll der
erste Schritt, soll ein niedrigschwelliger Schlüssel zu einem Hilfesystem sein, mit dem auch Gruppen von
Frauen erreicht werden, die sich bisher aus unterschiedlichen Gründen nicht angesprochen fühlten oder noch
keine Vorstellung davon haben, dass das bestehende
Hilfsangebot sich auch an sie richtet. Mit der Telefonnummer hat man eine Anlaufstelle, bei der man Informationen bekommen kann und bei der die erste Hilfe organisiert werden kann.
Dieser erste Schritt hin zu einem flächendeckenden
differenzierten Hilfesystem für die von Gewalt betroffenen oder bedrohten Menschen soll seitens der Bundesregierung baldmöglichst eingeleitet werden. Union und
FDP haben sich im Koalitionsvertrag zudem darauf geeinigt, dass ein Bericht zur Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser und der darüber hinausgehenden Hilfeinfrastruktur vorgelegt wird. Für Mitte 2010 wird
außerdem eine Stellungnahme der Arbeitsgruppe Frauenhaus des Deutschen Vereins für öffentliche und private
Fürsorge e. V., in der die verschiedenen staatlichen Ebenen und das Frauenunterstützungssystem vertreten sind,
erwartet.
Die Arbeitsgruppe Frauenhaus wird konkrete Empfehlungen aussprechen, welche Maßnahmen auf Bundesebene, auf Länderebene und auf kommunaler Ebene
ergriffen werden können. Wir werden dann entscheiden,
wie das Hilfesystem im Bereich von Gewalt gegen
Frauen im Rahmen der Bundeszuständigkeit weiter unterstützt werden kann. Denn die Finanzierung von Frauenhäusern ist je nach Bundesland und Kommune unterschiedlich geregelt. Damit Frauen und Kinder überall in
Deutschland schnell und unbürokratisch Hilfe bekommen können und die Frauenhäuser die notwendige Planungssicherheit haben, müssen ganz besonders die Länder und die Kommunen bei der Finanzierung noch
besser zusammenarbeiten.
Einzelne Bundesländer sind angesprochen worden,
zum Beispiel Schleswig-Holstein, wo die Frauenhausfinanzierung sehr gut geregelt ist. Unserer Meinung nach
wäre es wünschenswert, wenn dieses Modell auch in anderen Ländern Nachahmer finden würde.
({0})
All denen, die auf die angeblich hohen Kosten eines
solchen Engagements hinweisen, halte ich die Verpflich1116
tung entgegen, gerade Kinder und Frauen vor Gewalt zu
schützen und vorbeugend tätig zu werden. Meiner Meinung nach sind die Ausgaben im Vorfeld allemal geringer als die immensen gesellschaftlichen Kosten, die mit
dem durch Gewalt verursachten menschlichen Leid entstehen. Erfahrungen von Gewalt werden oft über mehrere Generationen hinweg an die Kinder weitergegeben
und sind eine schwere Hypothek für das ganze Leben.
Eine weitere wichtige Gruppe sind Frauen und Kinder
mit Behinderungen. Seitens der Union werden wir uns in
dieser Legislaturperiode sehr stark für diese Personengruppe einsetzen und häusliche Gewalt gegen Frauen
und Kinder weiter bekämpfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass der Bereich der Prävention weiter gestärkt wird. Es ist wichtig, Geld in die Hand zu
nehmen, um ein funktionsfähiges, unbürokratisches System hinzubekommen.
Sie haben uns als Unterstützer an Ihrer Seite. Wir
wollen, dass Gewalt gegen Frauen im Vorfeld verhindert
wird und keine einzige Frau abgewiesen wird, wenn die
Gewaltsituation doch eingetreten ist und die Frauen in
den Frauenhäusern Zuflucht suchen, und wir wollen,
dass die Frauenhäuser nicht am Ende auf den Kosten sitzen bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen
allen nicht nur besinnliche Weihnachten und Gottes Segen, sondern vor allem auch gewaltfreie Weihachten. An
dieser Stelle möchte ich im Namen des ganzen Hauses
all denen, die diesen Frauen Hilfe bieten und sie in den
rund 330 Frauenhäusern in Deutschland unterstützen,
meinen ganz herzlichen Dank aussprechen.
Vielen Dank.
({1})
Als Nächste spricht die Kollegin Marlene Rupprecht
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Das Private ist politisch - das war
die Quintessenz des Internationalen Jahres der Frau
1975. Ich sage das bewusst. Das ist 34 Jahre her.
({0})
Gewalt im sozialen Nahraum - nicht im öffentlichen,
aber im sozialen Nahraum - war Privatsache. In der polizeilichen Kriminalstatistik hieß das bis in die 90er-Jahre
hinein: Familienstreitigkeiten. Man ging hin und hat versucht, zu schlichten. Wenn einer total betrunken war, hat
man ihn vielleicht zur Ausnüchterung mitgenommen.
Aber ansonsten war es Sache der Frau, wie sie damit
umging. Das galt als individuelles Schicksal und nicht
als strukturelles Problem der Gesellschaft.
1975 hat die Frauenbewegung angefangen, das
Thema öffentlich zu machen. Man wurde sehr deutlich,
was dazu führte, dass bereits 1976 das erste Frauenhaus
in Berlin in Betrieb ging. Es wurde von einem Forschungsprojekt begleitet. Dieses Projekt wurde ausgewertet, und die Erfahrungen, die dabei gesammelt wurden, bildeten für viele Frauenhäuser, die danach
gegründet wurden, die Basis für das Handeln.
Die Forderung der Frauenbewegung lautete: Bekämpfung der Gewalt ist eine öffentliche Aufgabe und nicht
eine private.
({1})
Ich mache seit über 20 Jahren Frauenhausarbeit und leite
seit 20 Jahren ein Frauenhaus. Ich glaube, heute bestreitet niemand mehr - das ist in unserer Gesellschaft angekommen -: Wenn Frauen von Gewalt betroffen sind, ist
das kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem, das wir anzugehen haben.
In der Folge wurden viele Themen groß aufgezogen.
Sexualisierte Gewalt gegen Mädchen war über Jahrzehnte hinweg das Thema. Viele dieser einzelnen Aktionen wurden 1999 unter der ersten rot-grünen Regierung
im ersten Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, der von Bundesministerin Bergmann vorgelegt wurde, zusammengefasst. Viele rechtliche und präventive Maßnahmen wurden veranlasst, zum Beispiel
die Schulung der Polizeibediensteten und die Einrichtung einer Bund-Länder-AG, und Untersuchungen in
Auftrag gegeben.
Europa hat sich dieser Thematik ebenfalls angenommen. Im November 2006 war der Auftakt zur Kampagne
des Europarates zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt
gegen Frauen. Wir haben uns dieser Kampagne angeschlossen. Ich kann mich noch daran erinnern: Das war
hochproblematisch, ehe sich der Bundestag durchgerungen hat, mitzumachen. Mindeststandards wurden damals
gefordert. Unter anderem ging es darum, wie viele Frauenhausplätze pro 10 000 Frauen zwischen 18 und über
70 Jahren zur Verfügung gestellt werden müssen. Wir
haben diese Mindeststandards leider nicht erreicht. Ich
glaube, wir sollten noch einmal genau hinschauen und
nicht länger darüber diskutieren, ob wir das brauchen
oder nicht.
Ich glaube, dass das auch unter der Großen Koalition
so gesehen und die Politik fortgeführt wurde. Auch in
dem zweiten Aktionsplan, der 2007 aufgelegt wurde,
standen diese Maßnahmen im Mittelpunkt.
Aber 33 Jahre nach Einrichtung des ersten Hauses
stehen wir noch dort, wo wir damals standen: bei der
Initiierung eines Projektes, bei dem wir überlegen müssen, woher man Geld bekommt, wie das Haus finanziert
werden kann. Es ist so, als hätte man gerade die spontane Idee, ein Haus einzurichten. Ich weiß, wovon ich
spreche. Jede muss kreativ sein, jede muss schauen, woher sie das Geld für das nächste Jahr bekommt, wie sie
die Mitarbeiterinnen bezahlt und vor allem, wie sie die
Ausfälle auffängt, wenn die Kosten für den Aufenthalt
von Frauen nicht übernommen werden, weil sie durch
alle Raster fallen.
Marlene Rupprecht ({2})
Ich finde, dass wir uns jetzt eigentlich mit viel wichtigeren Themen beschäftigen müssten, zum Beispiel mit
dem Zustrom von Migrantinnen - übrigens aus EU-Staaten -, denen angebliche reiche Manager gesagt haben,
dass sie sie als Ehefrauen wollen. Sie werden hergeholt
und dann in die Prostitution geschickt und misshandelt.
Das sind Dinge, die uns in den Häusern derzeit massiv
beschäftigen. Es sind EU-Bürgerinnen, die Freizügigkeit
genießen, aber keinerlei sozialrechtliche Absicherung
haben. Dies müssten wir thematisieren. Aber was thematisieren wir nach 33 Jahren? Wir thematisieren, wie wir
es schaffen, ein Haus zu finanzieren, und zwar bundeseinheitlich. Jetzt dürfte ich hier gar nicht stehen; denn
ich habe mein Frauenhaus ganz gut finanziert. Wir stehen einigermaßen gut da.
({3})
- Nein, das bin ich. Man kann in Bayern alles finden, unser Haus und Häuser, die Tagessatzfinanzierung haben,
die schlecht finanziert sind. Sie finden alles, und zwar
bundesweit.
Die Mitarbeiterinnen sind kreativ und versuchen, die
Defizite auszugleichen. Übrigens würde das kein Mann
machen. Das betrifft fast nur Frauenprojekte; das nur nebenbei als Gender-Aspekt gesagt. Man hofft, dass die
Frauen das, was sie im Leben immer machen, nämlich
Lücken mit ihrer Kreativität auszugleichen, auch da
schaffen.
Wir haben über 300 Häuser, und sie brauchen dringend eine sichere Finanzierung. Jetzt sage ich Ihnen aus
meiner Erfahrung: Wir brauchen keine Tagessatzfinanzierung, sondern eine institutionelle Finanzierung.
({4})
Wenn Sie die volkswirtschaftlichen Schäden gegenrechnen, die durch Gewalt verursacht werden, wenn Sie sehen, welche Kosten durch Krankenhausaufenthalte und
Arztbesuche infolge von Gewaltanwendung entstehen,
und welche Ausfälle bei der Erwerbstätigkeit durch Gewalt verursacht werden, dann könnten die Häuser locker
finanziert werden. Verglichen damit, können die Kosten
quasi aus der Portokasse bezahlt werden. Wir brauchen
eine institutionelle Förderung für alle Häuser; denn die
Nachsorge, die persönliche Beratung, die telefonische
Beratung und die Öffentlichkeitsarbeit müssen sicher finanziert sein.
Ich gehe gern auf internationale Tagungen, weil ich
dort mit Stolz verkünden kann, was wir alles gemacht
haben. Das ist wirklich toll. Da sind wir meist weltweit
führend. Das können wir hier auch einmal sagen. Wir
haben in den letzten 30 Jahren viel gearbeitet, aber dass
wir bei den Frauenhäusern, der wichtigsten Institution,
dastehen wie in den ersten Tagen, ist blamabel für dieses
Land, das sonst immer sagt: Wir sind ganz vorne, wir
sind die Musterschüler.
({5})
Ich halte es für eine Grundeinrichtung der Daseinsvorsorge in der Kommune, Schutzeinrichtungen vorzuhalten. Denn Frauenrechte sind Menschenrechte. Daher
fordere ich Sie, die Regierung, auf,
({6})
mit den Kommunen und mit den Ländern zu reden.
Wenn sie die nötige Förderung nicht bereitstellen können, dann sollten wir es für sie machen. Ich glaube,
wenn es um die Bürgerinnen geht, dann ist es einem
wurscht, wer zuständig ist, dann sagt man: Jetzt suchen
wir alle Wege, um den Bürgerinnen, die den Anspruch
darauf haben, die Möglichkeit zu geben, geschützt zu
werden. Wir können nicht sagen: Ich bin es nicht, du bist
es nicht. Dieses Spiel haben wir in der Grundschule gespielt. Wir sind jetzt zu alt, um noch einmal von vorne
anzufangen. Ich würde es gern schaffen. Ich würde mit
meinen Mitarbeiterinnen gern zielgerichtet für die
Frauen arbeiten, die es wirklich brauchen.
Nachdem Frau Bär uns schon friedliche Weihnachten
gewünscht hat, wünsche auch ich Ihnen das an dieser
Stelle. Aber ich sage Ihnen noch etwas: Wir halten den
Betrieb an den Wochenenden und an den Feiertagen nur
aufrecht, weil wir ganz viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen haben, die rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag,
sieben Tage die Woche, Rufbereitschaft haben und auch
morgens um vier aufstehen, um eine Frau von einer Telefonzelle abzuholen, die dort mit ihren Kindern steht,
weil sie nicht weiß, wohin sie gehen soll. Das muss auch
einmal gesagt werden: Ohne das Ehrenamt wäre das
überhaupt nicht möglich. Ich finde, das ist eines so reichen Landes eigentlich unwürdig.
Danke.
({7})
Jetzt hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDPFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alles,
was wir bis jetzt zum Thema Frauenhäuser gehört haben,
macht brennglasartig auf ein gesellschaftliches Problem
aufmerksam, das nach wie vor nicht gelöst ist: die strukturelle Gewalt gegen Frauen innerhalb von Familien.
Wenn wir davon wissen, nehmen wir sie zur Kenntnis.
Ich denke aber, in viel zu vielen Fällen will man davon
gar nichts wissen. Insofern sind Frauenhäuser ein unangenehmes Thema.
In der Vergangenheit, in den letzten 30 Jahren, auf die
schon mehrfach zurückgeblickt worden ist, haben sie allerdings viele gesellschaftliche Diskussionen auf den
Weg gebracht. Mittlerweile gibt es beispielsweise das
Gewaltschutzgesetz.
({0})
Frauen müssen sich nicht mehr in ein Frauenhaus begeben. Der, der schlägt, muss das Haus, muss die Wohnung
der Familie verlassen. Dennoch ist diese Regelung für
viele Frauen nach wie vor keine Lösung. Deswegen
warne ich davor, Frauenhäuser zu schließen, auch wenn
die Versuchung gerade in Zeiten knappen Geldes naheliegt.
({1})
Wir müssen realisieren: Nach wie vor ist mindestens
jede vierte Frau in Deutschland - nach meinem Dafürhalten sind es eher mehr - in ihrem Leben einmal von
Gewalt in der Partnerschaft betroffen. Die Kinder bekommen dies häufig mit. Sie sind von solchen Erfahrungen möglicherweise noch traumatisierter, als wir wissen
({2})
und als es eventuell sogar die unmittelbar betroffene
Frau erlebt.
Wer sich mit dem Thema Frauenhäuser beschäftigt
- ich tue das seit vielen Jahren, und ich habe viele Frauenhäuser besucht -, weiß, dass es eine strukturelle Unterfinanzierung gibt und dass die Finanzierung ganz wesentlich von den Ländern respektive den Kommunen zu
erbringen ist. Das Geld reicht nicht aus. Gleichzeitig
führen wir immer wieder Debatten, wie wir gesellschaftliche Gewalt bekämpfen können.
Hier ist meiner Ansicht nach der Ansatzpunkt. Wenn
wir flankierende strafrechtliche Maßnahmen treffen
wollen, dann darf es nicht nur um die Strafbarkeit von
Straftaten gehen - das ist ganz klar; das ist unsere Verpflichtung und unsere Aufgabe -, sondern dann muss es
auch um flankierende Maßnahmen und Hilfestellungen
gehen, die den betroffenen Frauen den Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung ermöglichen, die oftmals von einer
fast suchtartigen Abhängigkeit gekennzeichnet ist.
Ich habe das Thema Frauenhausfinanzierung bereits
im Jahre 2004 mit einer schriftlichen Frage an die damalige Bundesregierung auf die parlamentarische Agenda
gehoben. Dann hat sich der Bundestag lange Zeit nicht
mit diesem Thema beschäftigt. Einen Bericht zur Frauenhaussituation in Deutschland gab es zuletzt im Jahre
1988. Deswegen hat die FDP-Fraktion dieses Thema im
vergangenen Jahr aufgegriffen. Wir haben dringend einen Bericht über die Situation der Frauenhäuser in
Deutschland gefordert.
Es freut mich, dass wir uns nach der sehr engagierten
Debatte im Familienausschuss im November 2008, in
der wir uns mit Finanzierungsfragen befasst haben, auch
im Rahmen der Koalitionsverhandlungen nachdrücklich
mit diesem Thema befasst und es auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben. Wir haben uns vorgenommen, das Hilfesystem, soweit es in der Zuständigkeit des
Bundes liegt, weiter zu stützen. Beispielsweise haben
wir uns die Aufgabe gestellt, eine bundesweite zentrale
Notrufnummer für betroffene Frauen einzurichten. Ich
denke, dies wird ein weiteres niedrigschwelliges Angebot sein, das den betroffenen Frauen den Zugang zu
Hilfe ermöglicht. Wir werden natürlich auch die Ergebnisse der Berichterstattung der Bundesregierung auswerten. Ich bin gespannt darauf, und ich lege großen Wert
darauf, dass dieser Bericht vonseiten der Bundesregierung nun möglichst zügig vorgelegt wird; denn er wird
eine Grundlage dafür sein, wie wir das Problem der
Finanzierung der Frauenhäuser lösen.
Dass wir dieses Problem lösen sollten, wird uns auch
auf der internationalen Ebene gesagt. Wenn wir einen
Blick in den letzten CEDAW-Bericht des entsprechenden UN-Ausschusses werfen, sehen wir, dass deutlich
gemacht wurde, dass Deutschland auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene die Finanzierung der Frauenhäuser verbessern muss. Das ist also nicht nur eine nationale Fragestellung, sondern wird auch international so
betrachtet.
Ich glaube, dass wir hier einen breiten Konsens haben, dass Gewalt in der Familie und Gewalt gegen
Frauen nicht hinzunehmen sind und dass - als letzte Lösung - die Frauenhäuser nötig sind. Dann muss ihre
Finanzierung aber so gestaltet werden, dass sie Bestand
haben, dann dürfen diese Unsicherheiten, die viele Häuser seit Jahren kennen, nicht weiter bestehen.
Meine Damen und Herren, es ist ein guter Zufall, dass
wir uns so kurz vor Weihnachten mit der Finanzierung
der Frauenhäuser beschäftigen. Das Bild der Mutter mit
dem Kind, das uns an Weihnachten sehr berührt, gilt
nach wie vor: Seit Tausenden von Jahren gibt es Frauen,
die Zuflucht suchen, die ein Kind zu versorgen haben
und in dieser Situation ein sicheres Obdach brauchen. Es
ist, wie gesagt, gut, dass wir uns heute, so kurz vor
Weihnachten, mit dieser Fragestellung auseinandersetzen. Das ist für die Arbeit der Bundesregierung und unserer Koalition Programm für die Arbeit der kommenden
Jahre.
Danke schön.
({3})
Jetzt spricht Monika Lazar für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedes Jahr fliehen etwa 40 000 Frauen und Kinder vor
häuslicher Gewalt in ein Frauenhaus. Jede vierte in
Deutschland lebende Frau hat bereits körperliche und sexuelle Gewalt durch ihren Partner oder Expartner erlebt.
Diese Zahlen zeigen deutlich: Gewalt gegen Frauen ist
keine Privatsache, kein individuelles Problem, sondern
ein Problem, bei dem die Gesellschaft tätig werden
muss. Hier ist die Politik gefragt.
({0})
Es ist die Aufgabe des Staates, Gewalt gegen Frauen zu
verhindern, präventiv tätig zu werden, aber auch den Opfern Hilfe zu gewähren und sie zu schützen.
Bereits jetzt stehen die Frauenhäuser in einigen Bundesländern finanziell vor großen Problemen; meine Vorrednerinnen haben bereits darauf hingewiesen. Teilweise
sind die Probleme so gravierend, dass die Frauenhäuser
ihr Schutz- und Betreuungsangebot nicht mehr durchgängig sicherstellen können. Da ist auch die bundeseinheitliche Notrufnummer, die das Ministerium angekündigt hat, leider nicht ausreichend. Die Situation der
Frauenhäuser wird sich künftig nicht verbessern; denn
mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz wird sich die
Finanzlage von Kommunen und Ländern noch verschlechtern.
Manche Frauenhäuser nehmen aufgrund kommunaler Finanzierungsvorgaben nur Frauen aus ihrer Gemeinde oder ihrem Landkreis auf. Bei einer hohen Gefährdung der Frauen ist eine Unterbringung weit vom
Wohnort entfernt aber dringend notwendig. Immer wieder müssen wir in der Zeitung von Frauen lesen, denen
schwere Gewalt angetan wurde oder die sogar ermordet
wurden, nachdem ihr Expartner ihren Aufenthaltsort erfahren hatte. Am Dienstag dieser Woche begann in Hannover der Prozess gegen einen Mann, der seine Exfrau
erstochen haben soll, nachdem diese mit den Kindern in
ein Frauenhaus geflüchtet war.
Insbesondere residenzpflichtige Migrantinnen, die ein
Frauenhaus außerhalb des ihnen erlaubten Aufenthaltsgebietes in Anspruch nehmen wollen, erleben immer
wieder, dass die Zufluchtsgemeinden die Zuständigkeit
für Leistungen bestreiten und Leistungen verweigert
werden; auch dies ist schon angesprochen worden. Um
auch Migrantinnen eine optimale Versorgung zu ermöglichen, muss die räumliche Beschränkung in ihrem Aufenthaltstitel schnell aufgehoben werden. Auch die
Finanzierung der Dolmetschkosten muss sichergestellt
werden.
Immer häufiger werden Frauenhäuser durch belegungsunabhängige, einzelfallorientierte Tagessätze finanziert.
Dies ist bei Studentinnen, volljährigen Schülerinnen
und Auszubildenden problematisch, da diese keine Ansprüche aus dem SGB II haben. Wenn sie ihren Aufenthalt nicht selbst bezahlen können, kommt es vor, dass sie
von den Frauenhäusern abgewiesen werden. Der Zugang
zu Frauenhäusern soll aber kostenlos sein. Wenn Frauen
Angst vor den finanziellen Konsequenzen haben, ist dies
ein fatales Signal.
({1})
Damit wird der Schritt aus einer Gewaltbeziehung und
die Flucht in ein Frauenhaus erschwert. Der Zugang zu
einer Schutzeinrichtung muss daher grundsätzlich unabhängig vom Einkommen der Betroffenen sein.
({2})
Die positiven Beispiele Schleswig-Holstein, Berlin
oder Brandenburg wurden schon genannt und zeigen vor
allem, dass das möglich ist. Deshalb fordern wir die
Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Ländern Gespräche zu führen, um bundesweit qualitativ hochwertige, bedarfsgerechte und kostenlose Möglichkeiten zu
schaffen. Im Gegensatz zur Linksfraktion favorisieren
wir deshalb nicht von vornherein eine bundesweite Regelung. Sollten allerdings die Gespräche - wir warten
noch den angekündigten Bericht ab - zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis kommen, müssen wir hier im
Bundestag über eine bundesweit gültige Regelung nachdenken. Das sollten wir in den verbleibenden Jahren dieser Legislaturperiode wirklich ernsthaft angehen.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt
das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Thema der heutigen Debatte war bereits
Thema in der 16. Wahlperiode. Die Anhörung dazu fand
im November 2008 und die Debatte im Juni 2009 statt,
zu der alle Fraktionen ihre Anträge vorgelegt hatten. In
diesen Anträgen hatten wir in vielen Punkten Einigkeit,
zum Beispiel über die Daten zur Gewalt gegenüber
Frauen. Auch in den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen waren die damaligen Anträge, aber auch das, was
wir heute hier gehört haben, von weitgehender Übereinstimmung geprägt.
Verabschiedet haben wir im Juni dieses Jahres einen
Antrag der Großen Koalition, der der Bundesregierung
einen ausführlichen Katalog an Handlungs- und Prüfaufträgen aufgegeben hat. Vieles von dem, was wir damals
verabschiedet haben, findet sich heute in den Anträgen
wieder, die die Grünen und die Linken vorgelegt haben.
Es geht darum, die Bundeszuständigkeit zu prüfen, vor
allem aber auch Gespräche mit den Ländern zu führen,
und zwar ganz konkret mit dem Ziel, die nachhaltige
Finanzierung der Frauenhäuser zu verbessern, allen
Frauen, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen oder
ausländerrechtlichen Status, den Zugang zu gewähren:
unbürokratisch und barrierefrei. In diesem Beschluss
sollten ausdrücklich auch die Vorgaben des CEDAW-Berichts beachtet werden.
Welchen Sinn macht es, heute wieder über dieses
Thema zu debattieren? Es stellt sich die Frage, welche
Halbwertzeit wir unseren eigenen Beschlüssen zumessen. Dass wir das Thema heute wieder auf die Tagesordnung setzen, hat den Vorteil, dass dieses wichtige Thema
heute noch einmal zur Sprache gebracht wird und sich
der neue 17. Bundestag Gedanken darüber macht, welche Prioritäten er der neuen Bundesregierung mit in
diese junge Legislaturperiode geben will.
Aus Sicht der Union bleibt es bei der damaligen Einschätzung. Ein sehr wichtiges Anliegen ist für uns, den
Frauen in dieser Situation noch besser zu helfen. Wir
wollen dieses Ziel vor allem zusammen mit den Ländern
erreichen. An den Anfang der Debatte möchte ich den
Dank an die Organisationen stellen, die vor über
30 Jahren diesen Bedarf erkannt haben und die Frauenhäuser, die uns heute selbstverständlich erscheinen, sehr
kreativ aufgebaut haben und - Frau Rupprecht hat es gerade geschildert - mit großem Einsatz ehrenamtlich tätig
sind. Ohne sie könnten die betroffenen Frauen nicht die
nötige Hilfe bekommen. Deshalb an dieser Stelle mein
herzlicher Dank.
({0})
Ich möchte aber auch betonen, dass die neue Regierung dieses Thema sofort wieder auf die Tagesordnung
gesetzt hat. In den Koalitionsverhandlungen haben wir
uns darauf geeinigt, eine Notfallnummer einzurichten.
Realistisch ist die Umsetzung dieser Idee bis 2011. Es
geht schließlich nicht nur um die Technik, sondern man
muss dafür sorgen, dass am anderen Ende der Leitung
jemand sitzt, der einer Frau in einer bedrohlichen Situation die richtige Auskunft geben kann, und zwar auch
Auskunft über die Möglichkeiten des Gewaltschutzgesetzes, oder konkret das Frauenhaus nennen kann, das
zuständig und erreichbar ist.
Noch einmal zurück zur Finanzierung. Die Vorrednerinnen haben schon Fälle geschildert, in denen die Kosten nicht oder nur nach einem hohen bürokratischen
Aufwand getragen werden, sodass sich die Betreuerinnen darum kümmern müssen, anstatt sich um die traumatisierten Frauen kümmern zu können. Hier wird die
Lösung teilweise in einer bundeseinheitlichen Regelung
gesehen.
Zunächst stellt sich hier natürlich die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die nur unter sehr
engen Voraussetzungen gegeben ist. Ich will hier jetzt
gar nicht auf die Details des Verfassungsrechts eingehen,
diese Zuständigkeit ist von den sachverständigen Juristen in der Anhörung zunächst einmal verneint worden.
Auch die Länder sehen die Zuständigkeit ganz klar bei
sich, und zwar unabhängig von den jeweiligen Parteien,
die dort regieren. Über alle Grenzen hinweg sind die
Länder der Meinung, dass das in ihre Zuständigkeit fällt.
Ich denke, wer das Heil in einer bundeseinheitlichen
Lösung sucht, der unterliegt zwei Irrtümern:
Erstens. Bundesgesetze sind nicht immer automatisch
besser als die Landesgesetze.
({1})
Wir hier im Bundestag sind nicht automatisch kompetenter als die Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen. Die Länder haben die Problematik genauso erkannt wie wir. Sie haben auch den gleichen Willen, hier
effektiv zu helfen, und sie haben sich auf der Konferenz
der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen, -minister,
-senatorinnen und -senatoren der Länder in diesem
Sommer auch dazu positioniert und zum Ausdruck gebracht, dass man hier Verbesserungen erreichen will.
Es ist auch deshalb richtig, dass es Ländersache ist,
weil hier durchaus auch regionale Besonderheiten zu beachten sind. Die Versorgung mit Plätzen in Frauenhäusern ist nur ein Bestandteil eines umfassenden Konzepts.
Andere Dinge kommen noch hinzu: Beratungsstellen,
Zufluchtsstätten. Das kann von Land zu Land differieren, und auch der Bedarf ist unterschiedlich. Auch deshalb ist das bei den Ländern nicht schlecht aufgehoben.
Die Länder würden auch nicht zustimmen, wenn wir hier
ein Bundesgesetz erlassen würden. Hier sehe ich also
nur wenig Spielraum.
Zweitens. Mit einer bundesgesetzlichen Regelung
ginge nicht automatisch auch die Finanzierungslast auf
den Bund über. Das heißt, das Problem, das wir damit lösen wollen, wäre gar nicht zu lösen, sondern die Länder
wären weiterhin dafür zuständig, das Geld aufzubringen.
Damit liegt der Schwarze Peter aber bei weitem nicht
nur bei den Ländern, sondern wir müssen hier schauen,
was wir auf Bundesebene tun können, und zwar bitte an
der richtigen Stelle. Das heißt, wir müssen die Leistungsgesetze, in denen steht, wer in welcher Situation etwas bekommt, „entrümpeln“ und daraufhin überprüfen,
ob sie zielgenau auf den Bedarf dieser Frauen ausgerichtet sind.
Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII müssen
vielleicht unbürokratischer gewährt werden, damit die
Beantragung nicht so lange dauert, bis die Frau das Frauenhaus schon wieder verlassen hat. Hier brauchen wir
Vereinfachungen. Wir sollten ebenfalls kritisch überprüfen, welche Regelungen wir im Ausländer- bzw. Aufenthaltsrecht vereinfachen können, um den entsprechenden
Bedarf besser abdecken zu können. Hier sollten wir unsere Hausaufgaben machen, einiges vereinfachen und
klarstellen.
Hinsichtlich der Finanzierung möchte ich noch ganz
kurz auf einen Aspekt eingehen. Mir liegt daran, dass
wir auch die Verantwortlichen, die Täter, in dem einen
oder anderen Fall besser zur Finanzierung mit heranziehen. Frau Rupprecht hat gerade entsprechende Fälle geschildert, in denen durchaus zahlungskräftige Männer
ihre Frauen in Situationen gebracht haben, in denen sie
in Frauenhäuser gehen. Ich sehe überhaupt nicht ein,
dass die Kosten dafür aus Steuermitteln aufgebracht
werden müssen. Hier können wir durchaus auch an die
Gewalttäter herangehen.
({2})
Ich denke, auf dieser Grundlage werden wir diese Anträge erneut beraten. Im Übrigen schließe ich mich den
Wünschen für ein gutes und friedliches Weihnachtsfest
an alle Kollegen an.
Vielen Dank.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Es ist vorgeschlagen, dass die Vorlagen auf den
Drucksachen 17/243 und 17/259 an die in der TagesordVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten
- Drucksache 17/244 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden,
hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Martin Gerster für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es hätte aus meiner Sicht eigentlich keinen besseren
Zeitpunkt gegeben als heute, um über dieses Thema zu
sprechen. Letztendlich geht es um die Frage, wie wir mit
Menschen umgehen, die beispielsweise an den Weihnachtsfeiertagen diese erholsame Zeit nicht im Kreise
der Familie verbringen können, sondern diese Zeit opfern müssen, um zu arbeiten. Das ist kein kleiner Kreis,
und er wird immer größer. Inzwischen ist der Kreis derjenigen in Deutschland, die in Bereichen wie Gesundheit, Pflege, Verkehr oder Medien davon betroffen sind,
sehr groß geworden.
Das Statistische Bundesamt hat festgestellt, dass über
20 Millionen Beschäftigte in Deutschland sonntags,
nachts oder an Feiertagen arbeiten müssen. Über
8,5 Millionen Beschäftigte sind von Sonntagsarbeit betroffen. 5 Millionen Beschäftigte müssen nachts arbeiten. Deswegen ist es sicherlich ein positives Signal,
wenn wir an dieser Stelle denjenigen danken, die nachts,
an Feiertagen und Wochenenden diesen wichtigen
Dienst für unsere Gesellschaft leisten.
({0})
Mit dem Dank ist es aber nicht getan. Um es deutlich
zu sagen: Wir wollen nicht, dass die Arbeit sonntags,
nachts und an Feiertagen ausgedehnt wird. Sie ist aber in
vielen Bereichen eine gesellschaftliche Notwendigkeit.
Deswegen meinen wir, dass wir die Menschen für die
Strapazen entschädigen müssen, die sie dadurch auf sich
nehmen, dass sie beispielsweise an Weihnachten darauf
verzichten, sich gemeinsam mit ihrer Familie zu erholen.
Deswegen halten wir von der SPD-Fraktion es für
notwendig, die Steuerfreiheit der Zuschläge in diesem
Bereich zu erhalten. Darum geht es uns in unserem vorliegenden Antrag. Deswegen bitten wir das ganze Haus
um Zustimmung.
({1})
Denn wir haben die große Sorge, dass es mit der Steuerbefreiung dieser Zuschläge bald vorbei sein könnte.
({2})
Zum einen gibt es ein wissenschaftliches Gutachten, das
vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben
wurde, in dem die Abschaffung dieser Subventionen gefordert wird. Zum anderen ist festzustellen - auch wenn
vom Bundesfinanzministerium beteuert wird, dass es
keine konkreten Pläne zur Umsetzung dieser Forderung
gibt -, dass seit Jahren insbesondere von der FDP, aber
auch von der Union wie zuletzt 2005 gefordert wird, die
Steuerfreiheit dieser Zuschläge abzuschaffen.
Ganz aktuell hat am 8. Dezember der haushaltspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Fricke eine
Diskussion über die Besteuerung der Nacht- und Feiertagszuschläge gefordert. Er kann sich, wie er sagt, die
Besteuerung der Nacht- und Feiertagszuschläge vorstellen. Das heißt, es scheinen konkrete Pläne vorhanden zu
sein, diese Steuerbefreiung abzuschaffen.
Das Bundesfinanzministerium kann noch so sehr beteuern, dass es keine konkreten Pläne gibt. Wir haben die
große Sorge, dass an der bestehenden Regelung gedreht
wird,
({3})
und zwar auch deswegen, weil wir erst am 5. Dezember
in diesem Hause die Subventionierung der Hoteliers und
vieler anderer Bereiche beschlossen haben und es sich
abzeichnet, dass die Haushaltslöcher immer größer werden. Wir werden mutwillig in die Verschuldung getrieben. Spätestens 2011 müssen auch aus den Reihen der
Koalition Vorschläge kommen und Maßnahmen umgesetzt werden, um diese Verschuldung wieder zurückzuführen.
({4})
Deswegen glaube ich, dass höchste Aufmerksamkeit
angebracht ist. Wir wollen von Ihnen eindeutig wissen:
Stehen Sie zu der Aussage, dass keine konkreten Pläne
vorliegen? Sind Sie bei uns, wenn wir die Steuerbefreiung für Zuschläge für die Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeit erhalten wollen, oder fallen Sie irgendwann
um? Denn der Tag der Wahrheit wird kommen. Spätestens im Jahr 2011 werden Sie massive Einsparungen
vornehmen müssen. Wir erwarten von Ihnen heute klare
Aussagen, ob Sie unsere Position teilen, dass diese Zuschläge steuerfrei bleiben.
({5})
Wir wollen keine Lippenbekenntnisse. Wir wollen bei
der Abstimmung ganz genau wissen, ob Sie bei uns sind.
Die Millionen Beschäftigten in diesem Bereich haben einen berechtigten Anspruch darauf, zu wissen, wie es
weitergeht; denn sie sind darauf angewiesen, dass ihre
Zuschläge steuerfrei bleiben. Es geht um einen Betrag
von 2 Milliarden Euro. Viele in diesem Bereich Tätige
planen natürlich mit der Steuerfreiheit der Zuschläge.
Wenn die Steuerfreiheit abgeschafft wird, kann das nicht
über Tarifverhandlungen ausgeglichen werden; denn es
sind Einbußen von bis zu 20 Prozent in der Lohntüte zu
befürchten. Deswegen bitte ich Sie herzlich, unserem
Antrag zuzustimmen. Das liegt im Interesse zum Beispiel all derjenigen, die an Weihnachten arbeiten müssen
und darauf zählen, dass ihre Zuschläge steuerfrei bleiben. Wir werden nachher sehen, wie die Koalitionsvertreter abstimmen werden.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen schöne Feiertage, frohe Weihnachten und einen guten Rutsch in das
neue Jahr. Wir sind auf die Positionierung der Koalitionsfraktionen gespannt.
Herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Olav Gutting hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist kurz vor Weihnachten. Lieber Martin Gerster, du
hast recht: Euer Antrag passt wirklich zu Weihnachten.
Man könnte ihn mit „Eine schöne Bescherung“ überschreiben. Es ist wirklich komisch, wenn man bedenkt,
dass euer Finanzminister Peer Steinbrück es war, der im
Juli 2007 den Auftrag gegeben hat, die dem Volumen
nach 20 größten Subventionen zu untersuchen. Es sollte
eine systematische Erfolgskontrolle der Subventionen
erfolgen. Das Ergebnis bezüglich der Steuerbefreiung
von Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschlägen können
Sie alle nun schwarz auf weiß nachlesen.
Das von Herrn Steinbrück beauftragte Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut an der Universität zu Köln
kommt zu folgendem Ergebnis: Die Transparenz der Begünstigung ist gering. Es gibt keine klare Zielsetzung.
„Dies ist für eine Vergünstigung, die 2 Milliarden Euro
öffentliche Mittel kostet, inakzeptabel.“ Weiter heißt es:
Es handelt sich um einen Transfer, der ausschließlich
Mitnahmeeffekte, aber keine lenkenden Anreizeffekte
hervorruft. Es ist keine Begründung ersichtlich, wo das
Allgemeininteresse von faktisch nahezu jeder beliebigen
Tätigkeit nachts oder an Sonn- und Feiertagen liegt. Im
Gutachten wird auch darauf hingewiesen, dass das Gerechtigkeitsprinzip verletzt ist. Verteilungspolitisch werden Besserverdienende mit der Steuerbefreiung stärker
begünstigt. - Hört! Hört! Ich wiederhole: Verteilungspolitisch werden Besserverdienende mit der Steuerbefreiung stärker begünstigt.
Ich zitiere weiter aus der Studie: Hinzu kommt, dass
die Arbeitgeberseite in Tarifverhandlungen bei geringer
entlohnten Arbeitskräften einen größeren Teil der Subventionen abschöpfen kann als bei höher entlohnten Beschäftigten. Das grobe Ziel des Schutzes der Arbeitnehmer wird nicht erreicht. Die durch die Steuerfreiheit der
Zuschläge induzierte Anreizwirkung widerspricht dem
Ziel des Schutzes des Arbeitnehmers.
Das Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut an
der Universität zu Köln empfiehlt deshalb ohne Einschränkung die Abschaffung der Steuerbefreiung von
Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen. Die Abschaffung, so das Institut, werde eine bessere Steuertransparenz, höhere Effizienz und eine gleichmäßigere Einkommensverteilung mit sich bringen. So lautet das eindeutige
Ergebnis des von Ihrem Finanzminister beauftragten Instituts.
({0})
Nun muss man in der Politik Gott sei Dank nicht alles
machen, was Professoren, Schriftgelehrte und Institute
vorgeben.
Möchten Sie die eine Zwischenfrage der Abgeordneten Kressl zulassen?
Bitte schön.
Herr Kollege Gutting, da Sie so ausführlich aus dem
Gutachten zitiert haben, drängt sich mir folgende Frage
auf: Sind wir uns einig, dass die Entscheidung, wie mit
Bewertungen aus Sachverständigengutachten umzugehen ist, am Ende eine politische ist? Diese Frage drängt
sich mir besonders auf, weil die damalige politische Leitung des Finanzministeriums zwar, wie so oft, Gutachten
in Auftrag gegeben hat, aber schon damals deutlich gemacht hat, dass sie sich politisch mit diesen Wertungen
ausdrücklich nicht identifiziert.
({0})
Liebe Kollegin, ich habe gerade eben gesagt, dass es
ein Glück in der Politik ist, dass wir nicht immer das machen müssen, was die Professoren vorgeben. Aber Sie
müssen den Menschen schon erklären, warum Sie ein
Gutachten, das der Finanzminister für teures Steuergeld
in Auftrag gibt, ignorieren, egal welches Ergebnis bei
diesem Gutachten herauskommt. Dann haben die Steuerbürgerinnen und Steuerbürger nämlich ein Problem mit
Ihnen; denn die fragen sich zu Recht: Was treibt ihr eigentlich mit unserem Geld? - Darum geht es.
({0})
Dann kann man sich solche Studien in Zukunft sparen,
und man braucht keine Steuergelder zu verschwenden.
Es ist eine grundsätzliche Frage, ob wir mit Steuergeldern sinnvoll, dem Gemeininteresse dienend umgehen
und ob wir die öffentlichen Mittel sparsam verwenden.
Wenn ich diese Frage bejahe, kann ich nicht solche StuOlav Gutting
dien wie Ihr Finanzminister in Auftrag geben und sie anschließend einfach in die Tonne treten.
({1})
Im Übrigen ist es auch eine Frage des Respekts gegenüber den Wissenschaftlern, gegenüber den Menschen,
die in diesem Forschungsinstitut arbeiten, wie wir mit
dem Ergebnis dieser Arbeit umgehen.
({2})
- Ich sage Ihnen: Wir wollen das Ergebnis der Studie des
Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts an der
Universität zu Köln für die weitere Fortentwicklung des
Steuerrechts, die wir brauchen, zumindest beachten.
({3})
Ich will hier klar sagen: Die Union plant aktuell keine
Streichung dieser Steuerfreiheit. Dies würde im Übrigen
unserem Grundsatz widersprechen, dass wir mehr Netto
vom Brutto wollen. Der Wegfall von Ausnahmeregelungen ist grundsätzlich nur vertretbar, wenn er mit einer
großen Steuerstrukturreform
({4})
und in diesem besonderen Fall mit Tarifvereinbarungen
kombiniert wird, die Schlechterstellungen wie die der
gerade von Ihnen zitierten Krankenschwester verhindern. Wir wollen das Einkommensteuerrecht fortentwickeln. Wir wollen es einfacher, niedriger und gerechter machen.
({5})
Wir wollen ein Einkommensteuerrecht - es geht nicht
um die Umsatzsteuer -, das Leistung belohnt und diese
nicht bestraft.
({6})
Aber Ihr Antrag will eine das objektive Nettoprinzip verletzende Ausnahmevorschrift zementieren, und Sie wollen mit diesem Antrag in der Konsequenz eine die
Arbeitnehmer begünstigende Rechtsfortbildung verhindern. Für mich ist dieser Antrag eine Bankrotterklärung
an den Gestaltungswillen und den Gestaltungsanspruch
in der Steuerpolitik. Was wir brauchen, ist eine Einkommensteuerreform. Der Bürger will wissen, wofür er bezahlen muss. Ihm ist wichtig, dass die Steuerlast verteilt
wird, dass er sich nicht als der Dumme vorkommt, der
seine Pflichten erfüllt, während ein anderer, zum Beispiel sein Nachbar, verschont bleibt.
Herr Kollege, Sie hätten die Chance, eine Zwischenfrage von Herrn Poß zuzulassen.
Bitte schön.
Bitte sehr.
({0})
Ich bitte um Entschuldigung, dass sich das jetzt noch
verzögert. Ich habe nur eine ganz kurze Frage. Dürfen
wir Ihren Ausführungen, Herr Kollege, entnehmen, dass
Ihre Meinung zu dem Thema mit der Meinung von
Herrn Schäuble übereinstimmt, oder ist das nur Ihre persönliche Auffassung? Ist damit zu rechnen, dass Ihre
Auffassung zur Grundlage von politischen Entscheidungen der Bundesregierung möglicherweise noch in diesem Jahr wird?
({0})
In diesem Jahr ganz bestimmt nicht, Herr Kollege
Poß. Aber eines ist doch klar: Wir wollen eine Strukturreform bei der Einkommensteuer. Wenn ich eine Strukturreform bei der Einkommensteuer vorhabe, dann kann
ich doch nicht im Vorfeld gewisse Bereiche zu Tabuzonen erklären. Wir wollen, dass die Bürger wissen, wofür
sie bezahlen müssen. Wir wollen, dass das Steuerrecht
gerecht ist. Wir wissen nämlich, dass ungleiche Besteuerung ungerecht ist. Das ist ja nun ein Fakt; dem können
auch Sie sich nicht verschließen.
Formale Gleichheit verlangt, dass ziffernmäßig gleiche Einkommen gleich hohe Steuern auslösen, zunächst
einmal unabhängig davon, auf welche Weise das Einkommen erworben wurde. Das Einkommensteuerrecht,
wie wir es heute haben, differenziert ja normalerweise
nicht danach, wie schwer jemand zur Erzielung seines
Einkommens arbeiten muss. Nur bei den Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen soll in Form der Steuerbefreiung etwas anderes gelten.
Nun sprechen Sie immer wieder davon, dass diese
Steuerbefreiung für Schichtarbeiter, Krankenschwestern
oder Polizisten unbedingt zu erhalten ist. Aber was machen wir dann mit dem Gewerbetreibenden, der samstagabends oder sonntagmorgens in seinem Kiosk steht?
Was machen wir mit dem selbstständigen Bauzeichner,
der über die Weihnachtsfeiertage in seinem Büro sitzen
muss und nicht heraus kann, weil er noch Aufträge erledigen muss? Für all diese gibt es keine Steuerbefreiung.
Sie subventionieren mit ihren Steuern sogar noch die
Steuerfreiheit der anderen. Das ist doch nicht gerecht.
({0})
Ich sage Ihnen: Genau aus diesem Grund ist die in Ihrem
Antrag enthaltene Forderung nur vordergründig geeignet, um, wie von Ihnen beabsichtigt, populistische Strömungen zu bedienen.
({1})
Ich will es noch einmal wiederholen: Die Union plant
aktuell keine Abschaffung der Steuerfreiheit der Sonn-,
Feiertags- und Nachtzuschläge. Das ist nicht Bestandteil
unseres Regierungsprogramms. Wir wollen die Leistungsträger in diesem Land entlasten. Das sind die Krankenschwestern, die Polizisten und die Schichtarbeiter.
({2})
Wer wirklich arbeitnehmerfreundliche Politik machen
will, wer wirklich die breite Mitte der Gesellschaft, die
seit Jahren die Lasten dieses Landes trägt, entlasten will,
({3})
der muss das Ziel haben, das Einkommensteuerrecht
leistungsgerechter, in sich stringenter, einfacher und
transparenter zu gestalten.
Einem Antrag wie dem Ihren, mit dem Sie die Fortentwicklung des Einkommensteuerrechts hin zu einem
gerechten und einfacheren Steuersystem verhindern wollen, können wir nicht zustimmen.
Ich habe jetzt noch zweieinhalb Minuten; da aber bald
Weihnachten ist, mache ich Ihnen ein Geschenk und
schenke Ihnen die zweieinhalb Minuten und wünsche Ihnen und uns allen ein schönes, gesegnetes, friedliches
Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr, hoffentlich mit besseren Anträgen aus der Opposition.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nacht- und Sonntagsarbeit bedeutet für die
meisten Menschen eine erhebliche Belastung. Schlafund Gesundheitsprobleme können die Folge sein. Ein
eingeschränktes familiäres und soziales Leben muss in
Kauf genommen werden. Daher haben Lohnzuschläge
auf den Normallohn ihre Berechtigung. Gezahlt werden
sie von den Unternehmen und in Form einer Steuerbefreiung der Zuschläge auch von der Allgemeinheit.
Die 2 Milliarden Euro, die die Steuerbefreiung jährlich kostet, locken den jeweiligen Finanzminister zur
Streichung - nun auch Herrn Schäuble. Bereits im Mai
2003 hatte der Sozialdemokrat Peer Steinbrück, damals
Ministerpräsident, diese Euros im Blick. Als Bundesfinanzminister gab er auch die kürzlich veröffentlichte
Studie, die die Abschaffung befürwortet, in Auftrag.
Nun wird wieder, allen voran von der FDP, die Steuerbefreiung der Zuschläge als unsoziale Steuersubvention
verunglimpft.
Ich sage Ihnen: Wenn Krankenschwestern, Busfahrer
oder Feuerwehrleute bereit sind, ihre Arbeit auch nachts
und an Sonn- und Feiertagen zu verrichten, dann ist das
doch sehr wohl im Interesse aller.
({0})
Daher ist eine Steuerbefreiung ihrer Zuschläge gerechtfertigt.
Ob die Steuerbefreiung das beste Mittel für einen berechtigt höheren Stundenlohn ist, kann man diskutieren.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Eine ostdeutsche Verkäuferin ist, wie immer mehr ihrer Kolleginnen, im Niedriglohnbereich beschäftigt. Das heißt 5,60 Euro die
Stunde. Bekommt sie den steuerlich maximal freigestellten Sonntagszuschlag von 50 Prozent, sind das gerade
einmal 2,80 Euro pro Stunde mehr an Sonntagen. Die
Steuerbefreiung dieses Zuschlags nützt ihr gar nichts;
denn ihr Einkommen ist ohnehin zu niedrig, als dass sie
darauf überhaupt Steuern zahlt. Diese Verkäuferin geht
bei der Steuerbefreiung also leer aus. Sie könnte nur
durch die konsequente Einführung eines angemessenen
Mindestlohns der Armutsfalle entfliehen. Deshalb wird
die Linke an diesem Punkt auch nicht lockerlassen.
({1})
Was wäre nun aber die Folge einer Abschaffung der
Steuerbefreiung? Höhere Nachtarbeitszuschläge in Unternehmen oder bei der öffentlichen Hand? Mehr brutto,
damit es netto wenigstens das Gleiche bleibt? Wohl
kaum. Die Beschäftigten sitzen immer mehr am kürzeren Hebel gegenüber den Arbeitgebern. Ob SchwarzGelb, Rot-Grün oder die Große Koalition: Alle Bundesregierungen haben ihren Beitrag dazu geleistet, den
Niedriglohnsektor auszubauen. Sie haben damit die soziale und die Verhandlungsposition der Beschäftigten
immer weiter ausgehöhlt.
Der überwiegende Teil der nachts und sonntags Arbeitenden lebt schon heute nicht in Saus und Braus, im
Gegenteil. Wer ihnen von dem Wenigen, was sie bekommen, noch etwas nimmt, handelt eindeutig unsozial.
Ich freue mich, dass auch die SPD das eingesehen hat.
Als sie noch in Regierungsverantwortung war, sah sie
das anders.
({2})
2006 wurde im sogenannten Haushaltsbegleitgesetz neben der unsozialen Anhebung der Mehrwertsteuer eine
drastische Beschränkung der Sozialversicherungsfreiheit
von Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschlägen eingeführt. So wie die SPD kann vielleicht, hoffe ich, auch die
Regierungskoalition heute dazulernen.
Wir als Linke sagen Ihnen: Hände weg von der Steuerbefreiung auf Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und
Feiertagsarbeit!
Ich danke Ihnen.
({3})
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In Ihrem Antrag, werte Kollegen von der SPDFraktion, wollen Sie sich zu Beschützern der Schichtarbeiter aufschwingen,
({0})
also von Polizisten und Krankenschwestern, von Bedienungen im Restaurant und anderen. Aber genau diese
Berufsgruppen, wie viele andere auch, haben Sie in den
letzten elf Jahren, in denen Sie die Regierungsverantwortung hatten, geschröpft wie nie zuvor.
({1})
Die Scheinheiligkeit der SPD ist nur schwer zu überbieten. Nach elf Jahren an der Macht wird nun, keine drei
Monate nach Ihrer Abwahl, von Ihnen versucht, Ihre eigene Politik einfach vergessen zu machen.
Die Wahrnehmung der Menschen in unserem Land
sieht freilich ganz anders aus. Die SPD hat die größte
Mehrwertsteuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit einer Belastung von mehr als
20 Milliarden Euro im Jahr zu verantworten.
({2})
Die SPD hat eine Unternehmensteuerreform zu verantworten, die den Namen nicht verdient hat. Die SPD hat
die verkorkste Gesundheitsreform zu verantworten, die
nichts besser, aber alles teurer gemacht hat.
({3})
Und wer hat dafür zu zahlen? Es sind die Leistungsträger
in unserer Gesellschaft: die Schichtarbeiter, die Polizisten und die Krankenschwestern, übrigens unabhängig
davon, zu welcher Tageszeit sie ihr Geld verdienen.
({4})
Von Ihnen brauchen wir uns nicht erklären zu lassen,
was vernünftige Steuer- und Sozialpolitik ist; denn Sie
sind die Steuererhöhungspartei in diesem Haus - wir
sind die Steuersenkungspartei.
({5})
Erst kürzlich hatte ich ein Gespräch in der Münchner
U-Bahn, in dem mir ein Mitarbeiter der Münchner Stadtwerke die von Ihnen hinterlassene Situation verdeutlichte. Er ließ sich seine hart erarbeiteten Überstunden
auszahlen. Von den 1 200 Euro brutto blieben ihm nur
300 Euro netto - für Überstunden im Umfang von zwei
Arbeitswochen. Das nennt die SPD also eine sozial gerechte Politik. Ich nenne so etwas ganz einfach unsozial
und ungerecht.
({6})
Dieser und viele weitere Fälle machen eines deutlich:
Nach elf Jahren SPD-Steuerpolitik lohnt sich Arbeit in
Deutschland nicht mehr. Wir werden das ändern. Denn
Arbeit muss sich in diesem Lande wieder lohnen.
({7})
Freiheit, Steuergerechtigkeit, Stärkung der Bürgerrechte
und bessere Bildung für unsere Kinder: Das sind unsere
primären Ziele. Davon werden wir uns nicht durch linke
oder sozialdemokratische Verblendungen abbringen lassen.
({8})
Heute hat das Wachstumsbeschleunigungsgesetz den
Bundesrat passiert.
({9})
Die Regierungskoalition setzt damit ein deutliches Zeichen für eine schnelle Entlastung der Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland.
({10})
Während die Opposition noch lamentiert, haben wir gehandelt und die Menschen und vor allen Dingen die Familien in diesem Lande entlastet.
({11})
Es profitieren insbesondere die Familien der Schichtarbeiter. Das ist moderne und soziale Steuerpolitik.
({12})
Bei der Erhöhung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge wurde übrigens von allen Sachverständigen
darauf hingewiesen, dass diese Maßnahmen insbesondere den Schichten mit niedrigen Einkommen zugute
kommen.
({13})
Durch diese zielgerichtete und vernünftige Entlastung
werden finanzielle Spielräume für Familien mit Kindern
eröffnet. Wir werden in den nächsten Jahren durch harte
Arbeit Stück für Stück die Fehler der vergangenen Regierung aufarbeiten.
({14})
Dazu hat uns der Wähler beauftragt, auch wenn Sie von
der Opposition das immer noch nicht wahrhaben möchten.
Die Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen
Bundestages über das Wachstumsbeschleunigungsgesetz
hat übrigens deutlich gezeigt, dass die Maßnahmen der
schwarz-gelben Koalition Impulse für ein stabiles und
dynamisches Wirtschaftswachstum setzen werden.
({15})
Da Sie, werte Kollegen von der Steuererhöhungspartei, es offenbar immer noch nicht verstanden haben - Sie
haben ja in diesem Hause und übrigens auch im Bundesrat Steuerentlastungen abgelehnt -, will ich noch einmal
versuchen, Ihnen das zu erklären.
({16})
Wir entlasten die Unternehmen mit Maßnahmen, mit denen sie die vorhandenen Arbeitsplätze sichern und neue
Arbeitsplätze schaffen können. Das ist die beste Sozialpolitik; denn nur so können wir uns überhaupt einen Sozialstaat leisten.
({17})
Die Regelung zur Sofortabschreibung geringwertiger
Wirtschaftsgüter, die Abmilderung der Zinsschranke und
die Verbesserungen bei der Sanierungsklausel werden
dazu dienen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Unternehmen vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise zu stärken. Die Korrekturen an der Unternehmensteuerreform wirken für die Unternehmen beschäftigungsfördernd, weil krisenentschärfend. Sie
wurden daher von den Experten, nicht nur in der Sachverständigenanhörung, einhellig begrüßt.
({18})
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist damit ein erster Schritt, um vor allem die Familien zu entlasten. Die
Erhöhung der Kaufkraft der Familien ist ein wichtiger
Schritt zur Stärkung der Binnennachfrage und hilft vor
allem den Kindern und damit unser aller Zukunft.
Die Krise ist mit diesen Maßnahmen zwar noch nicht
überwunden, aber das Wachstumsbeschleunigungsgesetz
ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es sichert
die Arbeitsplätze, schafft neue Arbeitsplätze und sorgt
für mehr Netto vom Brutto auch für die Schichtarbeiter.
({19})
Liebe Kollegen von der Steuererhöhungspartei, nutzen Sie doch einmal die Weihnachtszeit zum Erkenntnisgewinn!
({20})
Folgen Sie unserem Kurs einer sozialen Steuergesetzgebung!
Liebe Bürger dieses Landes, freut euch sehr; denn
dank der FDP gibt es ab Januar mehr,
({21})
mehr Netto vom Brutto.
Frohe Weihnachten!
({22})
Der Kollege Gerhard Schick hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich könnte natürlich jetzt über den Unterschied zwischen
Weihnachten und Karneval referieren.
({0})
Aber ich will lieber zur Sache sprechen.
Herr Dr. Volk, Sie haben über das Wachstumsbeschleunigungsgesetz gesprochen. Es wäre schon interessant gewesen, zu erfahren: Was ist eigentlich versprochen worden? Entweder ist die schwarz-gelbe Koalition
in Schleswig-Holstein als Bettvorleger gelandet, oder es
gibt Versprechungen, die zulasten des Bundeshaushaltes
gehen. In dem Fall hat dieses Haus ein Recht darauf, das
zu erfahren.
({1})
Wenn wir über das Wachstumsbeschleunigungsgesetz
hier reden, dann darüber.
Worum geht es beim vorliegenden Antrag? Bei der
Steuerfreiheit der Zuschläge für Wochenend-, Nachtund Sonntagsarbeit geht es um eine Sondernorm. Die
SPD schreibt, man dürfe diese nicht antasten. Ich glaube,
es war richtig, diese Regelung in der rot-grünen Regierungszeit insofern anzutasten, als wir einen Missbrauch,
den es in diesem Bereich bei den Spitzenverdienern gab,
korrigiert und im Hinblick auf den Stundenlohn eine
Höchstgrenze von 50 Euro festgelegt haben, damit die
Kicker mit ihren Millioneneinkommen nicht von einer
Regelung profitieren, die für Kleinverdiener, für Leute,
die am Sonntag etwas für die Gesellschaft leisten müssen und wenig verdienen, gedacht ist. Sie übersehen
auch, dass die Beitragsfreiheit in diesem Bereich - da
gibt es eine Deckelung bei 25 Euro - noch viel wichtiger
ist als die Steuerfreiheit. Denn dies trifft die Kleinverdiener, von denen Frau Dr. Höll zu Recht gesprochen hat,
noch viel stärker als die Steuerfreiheit, die erst bei einer
gewissen Grenze des Haushaltseinkommens greift.
Wenn Sie die Tendenz zur Wochenendarbeit beklagen, dann sage ich Ihnen: Da muss man systematisch herangehen, und dann darf der rot-rote Senat in Berlin
nicht als Erstes die Ladenöffnungszeiten für den Sonntag
freigeben und sehr viele Beschäftigte zusätzlich in die
Sonntagsarbeit treiben.
({2})
Seien Sie doch konsistent, wenn Sie dies ernst meinen!
Ich finde, dass man auch die wissenschaftliche Forschung beachten muss, die sagt: Vielleicht ist das alles
nicht ganz so gerecht, wie es zunächst scheint.
An einer Stelle stimme ich Ihrem Antrag zu. Es geht
um Prophylaxe - so verstehe ich Ihren Antrag -; denn es
droht eine massive Gefahr. Der Bundesfinanzminister
sagt: Ab 2011 haben wir einen großen Konsolidierungsbedarf; aber ich verrate nicht, wie wir vorgehen. - Liest
man den Koalitionsvertrag, stellt man zwar fest, dass Sie
sich zu allen möglichen Details in der Steuerpolitik äußern: zur Besteuerung von Jahreswagenrabatten, zum
steuerlichen Abzug privater Steuerberatungskosten, zu
Steuererklärungsvordrucken und vielem Weiteren.
({3})
Die Steuerfreiheit der Zuschläge wird aber nicht aufgeführt. Da werden wir natürlich hellhörig; denn wir befürchten, dass Sie die Argumente der Systematik und der
Bürokratie, die bei den Hoteliers merkwürdigerweise
nicht gezählt haben, dann wieder hervorholen, wenn es
darum geht, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu belasten. So kommen wir nicht zu einem einfachen Steuersystem. Kein Mitglied der CDU/CSU und der FDP im
Finanzausschuss fand die Regelung zur ermäßigten
Mehrwertsteuer für die Hoteliers gut. Trotzdem haben
sie alle mitgemacht.
({4})
- Ach so, Sie persönlich finden die Ausnahmeregelung,
die mehr Bürokratie schafft und unsystematisch ist, gut?
({5})
Dann nehmen wir mal zu Protokoll, dass Sie das gut finden.
({6})
Kommen Sie also bei der Steuerfreiheit der Zuschläge
nicht plötzlich mit dem Argument der Systematik und
des Bürokratieabbaus. Dann sind Sie nämlich unglaubwürdig.
({7})
Wenn Sie sich die Statistik einmal anschauen, dann
sehen Sie, dass die Zuschläge für Nacht-, Wochenendund Feiertagsarbeit im Bereich der Gaststätten und Hotels ganz besonders notwendig sind. Davon sind sehr
viele Menschen betroffen. Ich glaube, dass Ihre Steuerpolitik und damit Ihre Politik der Spaltung dieser Gesellschaft - oben geben und unten nehmen - in den nächsten
Jahren dazu führen wird, dass etwas passiert, wozu wir
sagen: „So nicht“, nämlich dazu, dass die Beschäftigten
im Gaststätten- und Hotelgewerbe dadurch, dass Sie die
Steuerfreiheit abschaffen, für die Steuergeschenke an
ihre Chefs werden zahlen müssen. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben, und das machen wir nicht
mit.
Danke schön und frohe Weihnachten!
({8})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, damit sind wir am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche Ihnen, aber vor allem auch all denen, die
uns hier im Saal und auch im ganzen Haus immer wieder
bis zum Schluss und darüber hinaus unterstützen: Erstens. Schlafen Sie aus. Zweitens. Singen Sie laut. Drittens. Beten Sie, wenn Sie mögen. Viertens. Genießen
Sie. Fünftens. Seien Sie behütet. Kurz: Gesegnete Weihnachten! Für Sie alle viel Kraft für das Neue, das danach
kommt.
Ich habe im Überschwang vergessen, den Antrag zu
überweisen. Das machen wir noch nach den guten Wünschen sozusagen als Weihnachtsgeschenk. Drucksache 17/244 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. - Damit sind Sie alle
offensichtlich einverstanden.
So entlasse ich Sie in die freie Zeit und berufe die
nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 19. Januar 2010, 10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.