Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/18/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie zur voraussichtlich letzten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in diesem Jahr. ({0}) - Bei dem Beifall ist mir jetzt nicht völlig klar, ob sich das auf die freundliche Begrüßung oder auf die Ansage bezieht, dass mit weiteren Plenarsitzungen in diesem Jahr nicht zu rechnen ist. Aber das können die Redner für die Fraktionen anschließend der Reihe nach klarstellen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart hat, während der Haushaltswoche ab dem 18. Januar nächsten Jahres, wie üblich bei Haushaltswochen, keine Regierungsbefragung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Ich nehme an, dass es dazu Einvernehmen gibt. Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe dann unseren Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 ({2}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1895 ({3}) vom 18. November 2009 - Drucksachen 17/180, 17/275 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rainer Stinner Marieluise Beck ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/277 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven Kindler Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch dies ist offenkundig einvernehmlich. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Djir-Sarai von der FDP. ({6})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die EU-Operation Althea in Bosnien und Herzegowina ist bisher ein großer Erfolg. Das ist - auch das muss man an dieser Stelle sagen - ein Verdienst unserer Soldatinnen und Soldaten, die dort im Einsatz sind. ({0}) Redetext Heute kann die Sicherheitslage in Bosnien und Herzegowina sogar als stabil eingestuft werden. Die innenpolitische Lage ist jedoch fragil. Vor wenigen Wochen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Mitgliedstaaten erneut autorisiert, mit einer multinationalen Stabilisierungstruppe und NATO-Präsenz weiter vor Ort zu sein und das Engagement in Bosnien und Herzegowina fortzusetzen. Das wird einen guten Grund haben. Die aktuelle Lage im Parlament dort ist verworren. Die Parteien blockieren immer wieder das Zustandekommen einer effektiven Demokratie. Wir hören sogar Drohungen von der Zerspaltung des Landes. Politische Kompromisse zu finden, ist so nur eingeschränkt möglich. Die EU muss sich demnach weiterhin um die Vermittlung zwischen den Entitäten bemühen. Sie muss ein Signal für zukünftige Unterstützung setzen. ({1}) Keine Frage: Eine Beendigung der Kampfhandlungen hätte ohne das Dayton-Abkommen womöglich niemals stattgefunden. Jedoch ist dieser Vertrag auch zugleich die Grundlage der ethnisch geprägten Verfassung, die nach wie vor zu massiven Uneinigkeiten zwischen den Parteien vor Ort führt. ({2}) Diese Verfassung erschwert den Fortschritt in der Region. Heute, über ein Jahrzehnt nach Kriegsende, wird immer deutlicher, dass unbedingt eine Verfassungsreform vorangetrieben werden muss, die die Kriterien für ein modernes, EU-fähiges Staatswesen erfüllt. ({3}) Insbesondere funktionale, menschenrechtliche und fiskalische Gesichtspunkte sollten dabei im Vordergrund stehen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der politische und soziale Prozess in Bosnien und Herzegowina stagniert. Die militärische und rechtsstaatliche Absicherung durch die EU muss also erhalten bleiben. ({4}) Der demokratische Prozess wird durch die Fortsetzung der Operation Althea nicht behindert, ganz im Gegenteil: Althea ist eine Erinnerung für die Regierung in Bosnien und Herzegowina, dass bestimmte Rahmenbedingungen noch nicht erfüllt sind. Althea sollte als Ansporn zur Verbesserung der politischen und sozialen Situation dienen. Die Operation Althea ist aber auch ein Symbol, dass die EU und auch die Bundesrepublik Deutschland noch immer hinter den Menschen dieser Region stehen. Wir sehen, dass das militärische Kontingent fortwährend verringert wird. Die weitere Senkung des Militäranteils ist eine richtige und sinnvolle Entwicklung. ({5}) Die Bundesregierung unterstützt den Ausbau der Polizeimission. Sie setzt zudem verstärkt auf ziviles Engagement und auf die Entwicklungszusammenarbeit. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen vor allem von den Linken, heute ist leider noch nicht der richtige Zeitpunkt, um vollständig auf das militärische Potenzial verzichten zu können. ({6}) Mit den innenpolitischen Zerwürfnissen als Grund werden wir der unveränderten Fortsetzung des Engagements in Bosnien und Herzegowina zustimmen. Zum heutigen Zeitpunkt kann das EUFOR Althea-Mandat nicht inhaltlich verändert werden. Dafür sind die politischen Spannungen einfach zu groß. ({7}) Es stellt sich nun die Frage, wie in Sachen Hoher Repräsentant weiter verfahren wird. Das Amt des Hohen Repräsentanten wird vorerst erhalten bleiben, da die für seine Abschaffung nötigen Ziele und Bedingungen bisher nur unzureichend erfüllt sind. An dieser Stelle möchte ich jedoch mein Bedauern darüber ausdrücken, dass diese Institution bis heute nicht aufgelöst werden konnte. Der Hohe Repräsentant hat noch immer exekutive Sondervollmachten, die mehr auf dem Papier existieren, als dass sie in der praktischen Umsetzung möglich sind. Die Abschaffung des Hohen Repräsentanten wurde bereits 2008 beschlossen. Dieses Vorhaben ist eindeutig der richtige Weg. Die FDP hatte diese Maßnahme schon seit mehreren Jahren gefordert. Denn als Voraussetzung für die Festigung demokratischer Strukturen muss Bosnien und Herzegowina die Eigenverantwortlichkeit zurückerlangen. ({8}) Es wäre sehr schön, wenn die EU in Zukunft den Problemen in der Balkanregion insgesamt mehr Priorität geben würde. Mit den Maßnahmen der Operation Althea sowie der Polizei- und Verwaltungsmission in Bosnien und Herzegowina soll ein Rückschritt verhindert werden. Aus unserer Sicht muss dieses Land Fortschritte letztlich jedoch selbst machen. Niemand hat die schrecklichen Bilder aus Bosnien und Herzegowina vergessen, die uns nach dem BosnienKrieg Anfang der 90er-Jahre erreicht haben. Wir haben in einem geschundenen Land Verantwortung übernommen - politisch, militärisch und zivil. Dazu müssen wir nun auch stehen. Zieht Deutschland jetzt seine Hilfe aus der Region ab, treten wir diese Verantwortung mit Füßen. Als Bundesrepublik Deutschland, als Deutsche haben wir ein großes Interesse daran, dass Bosnien und Herzegowina weiter stabilisiert werden. Wir haben ein großes Interesse daran, dass dieser Staat selbst für die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger sorgen kann. Wir haben ein großes Interesse daran, dass dort ein friedlicher und demokratischer Rechtsstaat entsteht. Und wir haben ein großes Interesse daran, dass eine Integration in die friedenssichernde Europäische Union erfolgen kann. Wir dürfen nicht nur mit dem Wort, sondern müssen auch mit der Tat dafür sorgen, dass sich die ganze Region positiv entwickelt. Dazu müssen wir unseren Beitrag leisten. Wir müssen zu unserer Verantwortung stehen. Der Gesamteinsatz soll unter der Absenkung der Obergrenze von 2 400 auf 900 Soldatinnen und Soldaten erfolgen. Er muss aber inhaltlich unverändert erfolgen. Ich wiederhole es, weil es so wichtig ist: Er muss inhaltlich unverändert erfolgen. Daher bitte ich Sie, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Djir-Sarai, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen für die weitere parlamentarische Arbeit alles Gute. ({0}) Rolf Mützenich ist nun der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Montag vor 14 Jahren, am 14. Dezember 1995, wurde in Paris das Dayton-Abkommen unterzeichnet. Damit endete einer der blutigsten und schrecklichsten Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit endeten die jugoslawischen Erbfolgekriege aber leider nicht. Immerhin war dies aber ein wichtiges Datum für eine hoffentlich friedliche und zivile Entwicklung in den einzelnen neuen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Ich hoffe, dass die nachfolgenden Generationen die Lehren aus diesem Konflikt ziehen. Das gilt für die Menschen dort. Aber ich glaube, das gilt auch für uns hier in Europa. Herr Kollege, ich möchte Sie ganz herzlich zu Ihrer ersten Rede beglückwünschen und Ihnen dafür danken. ({0}) Ich freue mich auf die Zusammenarbeit im Auswärtigen Ausschuss. Ich teile viele Ihrer Schlussfolgerungen. Nur, ich weiß nicht, ob wir wirklich sagen können: Was dort passiert ist, war eine einmalige Erfolgsgeschichte. Ich persönlich gebe auf der einen Seite zu, dass ich mir manches schneller erwartet hätte, dass ich gedacht habe, wir hätten in diesem Zusammenhang schnellere und größere Erfolge. Leider ist das nicht so. Ich glaube, dass die politisch Verantwortlichen in dieser Region noch eine Menge tun müssen und dass wir weiterhin eine schwierige Lage haben. Auf der anderen Seite können wir aber feststellen: Es gibt auch Fortschritte. Flüchtlinge sind zurückgekehrt. 60 000 Soldaten waren dort zu Beginn stationiert; heute sind es noch 2 000 Soldaten. Wir brauchen sie noch immer, um die insgesamt schwierige Situation zu überwinden. Die internationale Präsenz ist auch deswegen erforderlich, weil sie das wichtige Zeichen setzt, dass wir ein großes Interesse an Fortschritten haben. Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Fortentwicklung ist - das haben Sie gesagt - die europäische Integration. Deswegen war ich sehr enttäuscht, als die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm geschrieben hat: Diese Perspektive geben wir nicht mehr allen Staaten in dieser Region. - Ich glaube, dieser Anreiz muss gegeben werden, um überhaupt zu den Fortschritten zu kommen, die wir uns wünschen, auch um unsere dortige internationale Präsenz überflüssig zu machen. Deswegen würde ich mich wirklich freuen, wenn auch in Ihren Reihen ein gewisser Lernerfolg eintritt: Die EU-Integration bleibt ein wichtiges politisches Element für den Balkan und den Frieden in dieser Region; ({1}) das brauchen wir. Ich bitte den Außenminister - ich glaube, wir sind hier derselben Auffassung -, seine Kolleginnen und Kollegen und die Bundeskanzlerin zu ermutigen, diese Perspektive in Verantwortung aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite erwarten wir von den politischen Eliten bzw. von Herrn Dodik - ich habe das eben angedeutet -, dass er sich an das hält, was er offensichtlich vorgestern gesagt hat: Es soll keine Separation geben; der Staatsverbund soll erhalten bleiben. Das ist aber auch eine Aufforderung an die Verantwortlichen in Serbien, keine Hinweise darauf zu geben, dass die Republika Srpska irgendwann in Serbien integriert werden könnte. Im Gegenteil: Es muss bei den bisherigen Verhältnissen bleiben. Wir müssen auch von der serbischen Führung ein Bekenntnis hierzu verlangen; daran muss nach meinem Dafürhalten in den Gesprächen, die die Regierungen führen, immer wieder erinnert werden. ({2}) Wir haben gehört, dass der Hohe Repräsentant weiterhin über einen Teil seiner Befugnisse verfügt. Zum Beispiel liegt die juristische Aufarbeitung von Kriegs1084 verbrechen auch in den nächsten drei Jahren in seiner Hand; das ist wichtig und richtig. Er hat aber einen anderen Teil seiner Befugnisse abgegeben, nämlich die Aufarbeitung von Korruptionsfällen. ({3}) - Ja, das musste er; aber das ist nicht der Punkt. Die Frage wird doch sein: Was machen jetzt die Verantwortlichen aus dieser Situation? Dazu sage ich vonseiten des Deutschen Bundestages: Wir brauchen weiterhin eine Aufarbeitung der Korruptionsfälle, der Misswirtschaft, Kriminalität usw., und zwar unabhängig davon, wer in diesem Gebiet welche Rolle spielt. Niemand darf denken, er wäre von der Verfolgung durch die Strafverfolgungsbehörden ausgenommen. Das ist ein wichtiges Signal an die dortigen politischen Akteure: Wir wollen, dass die juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, aber auch von Korruptionsfällen und Kriminalität fortgesetzt wird, egal wer die Verantwortung dafür trägt. ({4}) Zum Schluss möchte ich einen weiteren Aspekt ansprechen. Wir reden oft über Abrüstung und Rüstungskontrolle, auch gleich hier im Deutschen Bundestag. Wir haben im Zusammenhang mit dem Abkommen von Dayton gesehen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle wichtige Elemente der Konfliktnachbereitung sind. Minenräumung ist ein wichtiges Feld; sie muss in diesem Gebiet weiter erfolgen. Hier muss die internationale Gemeinschaft noch mehr Anstrengungen leisten. Die Rüstungskontrolle spielte auch beim Abkommen von Dayton eine wichtige Rolle: Sie sollte eine Überrüstung des auseinanderfallenden Jugoslawiens verhindern und dafür sorgen, dass es nicht wieder in große Konflikte hineinschlittert. Das Kapitel der Rüstungskontrolle muss neu aufgeschlagen werden. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt. Damit bietet der Deutsche Bundestag der Regierung, aber auch der Region eine Perspektive. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Antrag. Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und alles Gute für das neue Jahr. Danke. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor es so weit ist, setzen wir die Debatte fort, ({0}) als Nächstes mit dem Redner Peter Beyer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({1})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bosnien-Herzegowina kämpft bis heute mit den Folgen der Kriegshandlungen auf seinem Gebiet. Die innere Zerrissenheit ist geblieben; ethnische Spannungen bestehen fort. Betrachtet man die Entwicklungen nach dem letzten Krieg, fühlt man sich unwillkürlich an das Wort erinnert, dass der Balkan mehr Geschichte habe, als er selbst verarbeiten könne. Die militärische Operation Althea begann im Dezember 2004. Seitdem ist sie Garant dafür, dass die Sicherheitslage im Land stabil geblieben ist, trotz schwieriger politischer Umstände. Viele der dort stationierten Soldaten werden Weihnachten nicht zu Hause im Kreise ihrer Familie verbringen können. Umso mehr gebührt ihnen der Dank von uns allen. ({0}) Der Erfolg von Althea ist auch für die Nachbarländer von entscheidender Bedeutung. Der Staat Bosnien-Herzegowina spielt aufgrund seiner zentralen Lage auf dem Balkan eine Schlüsselrolle in der gesamten Region. Es ist deshalb ein sehr gutes Zeichen, dass wegen der grundsätzlich stabilen Sicherheitslage die Obergrenze von bisher 2 400 Soldatinnen und Soldaten auf 900 einzusetzende Soldatinnen und Soldaten gesenkt werden kann. Tatsächlich eingesetzt sind von deutscher Seite wesentlich weniger: Circa 130 Soldatinnen und Soldaten sind derzeit dort stationiert. Das alles zeigt: Die gemeinsamen Anstrengungen der beteiligten Länder haben die Sicherheit weiter verbessert. Wichtig ist, dass die Ziele der Mission trotz der deutlich reduzierten Truppenstärke nicht aus den Augen verloren werden und sie gesichert bleiben, Stichwort: Reservekräfte, die Over-the-Horizon-Forces. Der Friedensprozess ist noch nicht abgeschlossen. Die dringend nötige Verfassungsreform stockt, weil die ethnischen Konflikte weiter schwelen. Bosniaken, Serben und Kroaten leben in vielen Fällen nebeneinander statt miteinander. Die innere Zerrissenheit der Gesellschaft nach dem Krieg ist lange noch nicht überwunden. Das Land muss dahin kommen, dass sich die Menschen vor Ort als Bürger von Bosnien-Herzegowina begreifen und nicht nur als Bosniaken, Serben oder Kroaten. Damit das uns und den Menschen vor Ort gelingt, braucht der Staat eine Perspektive. Die Annäherung an die Europäische Union und die NATO kann eine solche Perspektive sein. Wir freuen uns deshalb sehr darüber, dass Bosnien-Herzegowina den Beitritt zur Europäischen Union anstrebt. Dass mangels der Erfüllung der Bedingungen die Visabeschränkungen für Bosnien-Herzegowina bisher nicht aufgehoben werden konnten, ist zu bedauern, insbesondere weil die bosnischen Serben aufgrund ihrer Verbindung zu Serbien andere Möglichkeiten haben als die Bosniaken, was die Situation nicht leichter macht. Dennoch müssen wir auf der Einhaltung der Kriterien bestehen, Herr Kollege Mützenich. Der Fahrplan zur Annäherung der Westbalkanländer an die EU legt einzelne Stufen fest, die nicht übersprungen werden dürfen. Dieser schrittweise Prozess ist auch im Interesse von Bosnien-Herzegowina und der richtige Weg für dieses Land. Wir werden mit Althea weiter zur Stabilisierung beitragen und das Land zudem zivil und finanziell fördern. Wir unterstützen ferner den Aufbau einer funktionierenden Polizeistruktur. Aber wir brauchen auch die staatliche Eigenleistung. Demokratie muss sich langfristig selbst tragen. Althea darf keine Dauereinrichtung werden. Ich denke, das ist weitgehender Konsens in diesem Hause. Bosnien-Herzegowina kann als inhomogenes Gebilde nur als föderaler Staat funktionieren. Gerade in föderalen Systemen führt aber der demokratische Weg oft nur über Konflikt und Kompromiss zum Konsens. Das ist langwierig. Demagogen bieten dagegen scheinbar schnelle und absolute Lösungen an. Das macht gerade junge Staaten so anfällig für deren Versprechungen. Das Land braucht letztlich Menschen, die den Mut haben, sich nicht hinter dem anfangs erwähnten Zuviel an Geschichte zu verstecken. Das gilt gerade im Hinblick auf die Wahlen im nächsten Jahr. Ethnische Fragen dürfen nicht länger wichtiger sein als der gemeinsame Wille zur gemeinsamen Zukunft. Es braucht Menschen, die bereit sind, Vergangenes hinter sich zu lassen, alte Grenzen zu überwinden und neue Wege zu beschreiten. Den einen Big Bang wird es nicht geben, sondern viele kleine Schritte. So hat es kürzlich erst der derzeitige Hohe Repräsentant Valentin Inzko formuliert. Dass Bosnien-Herzegowina diese Belastungsprobe am Ende besteht, daran müssen wir ein ureigenes Interesse haben. Seit Aufnahme der bilateralen Beziehungen verbindet uns mit dem Land eine aufrichtige Freundschaft. Bosnien-Herzegowina verdient endlich Demokratie statt Manipulation und nationaler Ideologie. Die nötigen Anstrengungen, die Kriterien zum Beitritt zur EU zu erreichen, werden die demokratischen Strukturen am Ende kräftigen, nicht schwächen. Mit dem Erfolg jeder demokratisch gefundenen Entscheidung wird das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit steigen. Damit die demokratischen Strukturen weiter wachsen können, ist die Verlängerung des Althea-Mandats erforderlich. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Schreiben des damaligen UNGeneralsekretärs Pérez de Cuéllar an Außenminister Genscher vom 14. Dezember 1991 warnte er - ich zitiere -, „dass verfrühte selektive Anerkennungen eine Erweiterung des Konflikts in jenen empfindlichen Regionen nach sich ziehen würden“. Weiter heißt es: „Solch eine Entwicklung könnte schwerwiegende Folgen für die ganze Balkanregion haben …“ Wir wissen, welche unrühmliche Rolle die deutsche Außenpolitik dann auf dem Balkan gespielt hat und leider weiter spielt. Das setzt sich im Antrag der Bundesregierung fort. Im SPD-Antrag heißt es dagegen - ich zitiere -: Für die Vereinigten Staaten und die EU gilt es, die Verantwortlichen in der Republika Srpska vor den verheerenden Folgen einer Sezession zu warnen. „Bravo!“ möchte man Ihnen zurufen! Plötzlich entdecken Sie das Völkerrecht wieder. Aber der Schein trügt. ({0}) Die rot-grüne und die jetzige Bundesregierung unterscheiden sich in diesem Punkt leider gar nicht. Das Völkerrecht entdecken Sie immer nur dann, wenn es Ihnen genehm ist. Haben Sie denn irgendetwas getan, um Jugoslawien vor dem Zerfall zu bewahren? ({1}) Haben Sie nicht einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien geführt? Und waren Sie es nicht, die die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovos anerkannt und damit eine neue Lunte an das Pulverfass Balkan gelegt haben? Jetzt jammern Sie, wenn andere durch die Türen gehen, die Sie geöffnet haben. ({2}) Eine völkerrechtskonforme Politik auch dieser Bundesregierung würde etwas für den Zusammenhalt Bosnien-Herzegowinas bewegen; ({3}) deutsche Soldaten auf dem Balkan haben es in der Vergangenheit nicht und werden es auch in Zukunft nicht. Aus der Debatte wird auch klar, dass Sie an einer ehrlichen Bilanz des Althea-Militäreinsatzes nicht wirklich interessiert sind. Sie bauen sich hier systematisch eine Scheinwelt auf, die dazu dient, den Militäreinsatz zu legitimieren. ({4}) In der jüngsten Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Bilanz der bisherigen EU-Militär- und Polizeieinsätze heißt es, dass sich die Stimmen mehren, die sagen, dass die Situation in Bosnien nach Dayton selten so verfahren und angespannt war wie im Jahr 2009. Ich frage Sie: Ist das das positive Ergebnis dieser Militärmission, das einen weiteren Verbleib in Bosnien rechtfertigt? Die Autoren der Studie haben doch recht, wenn sie konstatieren, dass dieser Konflikt weder durch politischen noch durch wirtschaftlichen oder militärischen Druck gelöst werden kann. Der EU-Militäreinsatz hat - selbst wenn man Ihrer Logik folgen würde - nichts, aber auch gar nichts Positives bewirkt. Im Gegenteil: Er hat mit verhindert, dass es zu einem wirklich nachhaltigen zivilen und sozialen Aufbau in Bosnien-Herzegowina kommt. ({5}) Man muss doch den Tatsachen ins Auge sehen. Dazu gehört, dass alle deutschen Bundesregierungen nach Dayton dabei halfen, dass auch in Bosnien-Herzegowina eine neoliberale Wirtschaftsordnung durchgesetzt wurde. ({6}) - Schauen Sie sich doch einmal den Anhang des DaytonAbkommens an. Die Privatisierung und damit die Verschleuderung öffentlichen Eigentums standen ganz oben auf der Agenda. ({7}) Aber die erwarteten westlichen Investoren hielten sich aufgrund der Sicherheitslage zurück. So konnten sich an der Privatisierung vor allen Dingen diejenigen bereichern, die nach dem Krieg vor Ort genügend Kapital zur Verfügung hatten, nämlich ethnonationalistische Gewaltunternehmer, deren wirtschaftlich-politisch-kriminelle Netzwerke heute für die verarmte Bevölkerung das einzige soziale Netz darstellen. Auch wenn Sie das nicht hören wollen: So schafft man keinen Frieden, indem man soziale Strukturen zerstört und die Leute damit in die Arme der Nationalisten treibt. ({8}) Und auch in puncto Rechtsstaatlichkeit haben Sie schlichtweg versagt. Der Hohe Repräsentant setzt per Dekret Recht, und somit haben wir es mit einem EUProtektorat zu tun, das alle Züge einer Kolonialverwaltung trägt. ({9}) - Es ist klar, dass Ihnen das nicht gefällt. Die lokale Polizei wurde und wird von NATO und EU aufgebaut, ausgebildet und beaufsichtigt, und nach unabhängigen Angaben ist die Bevölkerung in BosnienHerzegowina noch nie so schlecht auf diese Polizei zu sprechen gewesen wie im letzten Jahr. Auch das gehört zu Ihrer Bilanz. Lassen Sie mich mit einem Appell schließen, auch wenn ich weiß, dass das bei Ihnen wahrscheinlich gar nichts nutzen wird: Ziehen Sie die Bundeswehr ab, deren Mission gescheitert ist! Kehren Sie zurück zur Politik! Lassen Sie Ihre imperialen Spielchen! ({10}) Achten Sie endlich wieder das Völkerrecht! Machen Sie Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit zur Maxime deutscher Außenpolitik, damit deutsche Außenpolitik Friedenspolitik werden kann! Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manche von Ihnen wissen, dass ich seit 1992 mit dieser Region sehr verbunden bin. Solch ein Beitrag macht mich einfach fassungslos. ({0}) Frau Kollegin, es ist eine Tatsache: Die kroatische Stadt Vukovar wurde von der serbischen Armee überfallen, bevor Kroatien anerkannt worden war. Lesen Sie doch bitte ein bisschen in den Geschichtsbüchern. ({1}) Noch etwas: Srebrenica war keine Scheinwelt. Vielleicht sollte Ihre Fraktion einmal den Mut haben - das möchte ich Ihnen wirklich nahelegen - und nach Srebrenica fahren. ({2}) Fahren Sie einmal dorthin! Schauen Sie sich das an! Der Genozid in Srebrenica ist sogar gefilmt worden. Sie können sich die Dokumente anschauen. Man kann sogar General Mladic auf dem Gelände der ehemaligen Batteriefabrik in Potocari sehen, wo die Selektion der Männer und Jungen beginnt, die dann in die Wälder geführt worden sind, um dort ermordet zu werden. Sevim DaðdelenSevim Dağdelen Marieluise Beck ({3}) ({4}) Althea dient der Stabilisierung; es ist jetzt eigentlich ein Präventionseinsatz. Es geht um Prävention von Gewalt, was für UN-Missionen gut und richtig ist. Wir sollten jetzt weniger über Militär und mehr über Politik sprechen. ({5}) Der Kollege Mützenich hat schon gesagt, dass sich hier auch an uns die Frage richtet: Welche Perspektive geben wir dieser Region? Um diese Region nicht zu einem schwarzen Flecken innerhalb Europas werden zu lassen, braucht die Region die Perspektive einer EUMitgliedschaft. ({6}) Wir alle wissen, dass dieser Passus in der Koalitionsvereinbarung ausgespart worden ist. Das offenbart, dass es diesbezüglich in der Regierung eine Differenz gibt und die CDU dieser Region diese Perspektive nicht aufzeigen will. Wenn der Fortschritt in dieser Region nicht mit dem Tempo kommt, das wir alle uns wünschen, hat das sehr viel damit zu tun, dass diese Perspektive nicht glaubwürdig und klar von uns und der Europäischen Union formuliert wird. ({7}) Die Dinge stehen nicht so gut, wie wir in diesem Hohen Haus das gerne sagen; darüber haben wir hier schon diskutiert, Herr Außenminister. Es wird häufig geschrieben, dass die zentrifugalen Kräfte in Bosnien eher zunehmen und bosnische Politiker sich mit nationalistischen Parolen und der Obstruktion von Reformen, die für die Schaffung eines Gesamtstaates erforderlich sind, profilieren können. Aber auch da haben wir eine Verantwortung. Wir haben mit dem Dayton-Abkommen eine Verfassung schreiben und unterschreiben lassen, in der die Zugehörigkeit zu einer Ethnie - man müsste eigentlich sagen: Religionsgruppe - Voraussetzung für den Zugang zu Ämtern ist. Der jetzige bosnische Außenminister kann nicht für das Staatspräsidium dieses Landes kandidieren, weil er sich keiner der Gruppen, die benannt worden sind, zuordnen kann. Junge Menschen, die aus einer kroatisch-bosnischen Ehe hervorgegangen sind, müssen sich einer sogenannten Ethnie zuordnen, bevor sie für das Amt des Repräsentanten dieses Staates kandidieren können. Das kann in Europa nicht sein. ({8}) Wenn wir über unsere Werte sprechen, muss uns klar sein, dass wir eine Bringschuld haben; denn so können wir dieses Land gar nicht in Europa aufnehmen. Unsere Aufgabe ist die Überwindung von Dayton. Das ist eine sehr große Aufgabe. Man muss auch den Mut haben, sehr deutlich zu benennen, wo der Hauptstörenfried sitzt. Wir alle wissen es. Ministerpräsident Dodik kann schadlos das Entitätenveto nutzen. Er setzt dieses Veto ein, wenn es darum geht, diesen Staat zu bauen und endlich zentrale Institutionen einzurichten, um ihn überhaupt arbeitsfähig zu machen. Dann knickt auch noch der OHR ein bzw. muss einknicken, weil er keine Rückendeckung von den europäischen Staaten bekommt und immer mehr zur Lame Duck gemacht wird; das setzt sich durch die ganze Reihe der Hohen Repräsentanten fort. Auch das ist eine Verantwortung, die auf uns zeigt und nicht nur nach Bosnien selbst. ({9}) Die Menschen haben ein tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Das ist auch in Bosnien so. Ich sage noch einmal: Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein kleines Land wie Serbien, das ja keinen großen Dschungel hat, nicht in der Lage ist, General Mladic auszuliefern. Wenn wir in dieser Region Frieden und Gerechtigkeit herbeiführen wollen - dabei geht es nicht um Strafe oder Rache, sondern nur um die Benennung der Wahrheit -, muss mit großer Klarheit und Ernsthaftigkeit verlangt werden, dass General Mladic endlich in Den Haag landet. ({10}) Es darf nicht darauf gesetzt werden, dass uns eines Tages die biologische Lösung von dieser Forderung, die schwer durchzusetzen ist und Konflikte mit Serbien bedeutet, befreit. Schönen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst kann ich im Konsens mit der übergroßen Mehrheit hier im Hause nochmals festhalten, dass die EU-Mission Althea in Bosnien-Herzegowina eine notwendige Mission ist, deren Verlängerung wir als CDU/CSU aus voller Überzeugung zustimmen. ({0}) Als jemand, der dieses in der Tat geschundene Land seit 1995 - ganz offensichtlich im Vergleich zu Ihnen 1088 immer wieder besucht hat, will ich eine klare Bemerkung in Richtung der Kritiker der Mission machen. ({1}) Dafür, dass dieses Land einem Aggressionskrieg und einem Völkermord ausgesetzt war, sind die vergangenen 14 Jahre seit dem Friedensabkommen von Dayton eine sehr kurze Zeit. Wir alle hier sollten uns bei mancher Ungeduld und manchem Kopfschütteln über einzelne Akteure vor Ort immer fragen: Wo wären wir, die Deutschen, 14 Jahre nach einem solchen Genozid, wenn wir zwar militärische Absicherung des Friedens, dabei aber keinen Marshallplan und keine zentrale Lage in Europa hätten? Es ist wahr - das weiß ich aus vielen Gesprächen vor Ort -: Das Ausmaß der Korruption ist eine Geißel, die Bosnien-Herzegowina bei seiner Entwicklung hindert. Wahr ist auch: Nationalismus ist eine rhetorische Karte, die innerhalb Bosniens noch immer allzu oft sticht. Die Bosnier, insbesondere die Bosniaken, haben nicht Rache geübt an den Tätern - und es gab mehr als Srebrenica; dieser Ort ist nur das Fanal für andere Hunderte von Massakern, deren Tote noch immer nicht identifiziert sind. Wer der Lebenswirklichkeit und der Seelenlage der Bevölkerung nachspürt, der muss feststellen: Hunderttausende Überlebende dieses Genozids sind wirtschaftlich geschlagen und erfahren zu wenig Gerechtigkeit; das hat Kollegin Beck gerade eindrücklich formuliert. Diese Menschen sind nicht nur von vielen in der eigenen Führung enttäuscht. Sie hatten viel Hoffnung in Europa, aber sind meist mit der internationalen Gemeinschaft und auch mit manchem Lehrmeisterton schon lange nicht mehr einverstanden. Wer täglich erleben muss, dass Täter des Genozids - hier geht es nicht nur um den meistgesuchten aller Kriegsverbrecher, Herrn Mladic bei Polizei und Verwaltung heute wieder oben sitzen, und das sogar in Srebrenica, der zweifelt an der Situation und verliert auch Energie für den Wiederaufbau. Wer sieht, dass die EU aktuell die auslaufenden Mandate internationaler Richter und Staatsanwälte nicht verlängern hilft, der wertet dies als fatales Signal beim Kampf gegen Korruption und bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt bleibt richtig: Wir müssen auf eine Zeit hinsteuern, die den OHR überflüssig macht. Allerdings heißt das auch: Wir müssen uns darauf gut vorbereiten. Wer manch eine Analyse über „die da unten“ und wir die internationale Gemeinschaft, liest oder davon hört, der darf sich über unsere Fehler, die gemacht worden sind, überhaupt nicht wundern. Zu viele faule waren unter den Kompromissen, und zu wenig wurde die Würde der Opfer dieses Genozids mitten in Europa beachtet, als es um konkrete Vorschläge ging. Ich spreche es offen an: Es ist an der Zeit, nicht nur andere zu tadeln, sondern auch die eigenen Fehler, die Fehler der internationalen Gemeinschaft, in den letzten zehn Jahren offen und ehrlich zu analysieren. Nach all den Kriegen der 90er-Jahre hat der Balkan - das gilt nicht nur für Bosnien - eine neue Ordnung gefunden, die zwingende Voraussetzung für dauerhafte Stabilität ist und das Risiko eines neuen Balkan-Krieges ein für alle Mal beenden soll. Deswegen sage ich: Die aktuellen Drohgebärden aus der Republika Srpska im Hinblick auf eine Abspaltung und die teils unverhohlene Sympathie für solch gefährliche Rhetorik widersprechen allen, wirklich allen europäischen Grundsätzen und bedeuten nicht weniger als eine akute Gefährdung der regionalen Stabilität. ({3}) Die Mission Althea schützt dieses Land auch vor denen, die innerhalb wie außerhalb den Appetit auf Teile Bosniens erkennbar nicht verloren haben. Deshalb muss festgehalten werden - Herr Mützenich, hier stimme ich Ihnen ausdrücklich zu und bin für Ihre Äußerung dankbar -: Das inzwischen demokratische, neue Serbien muss denen klar widersprechen, die wie Dodik und andere nur 15 Jahre nach dem Ende der Milosevic-Kriege schon wieder offen fabulieren, von Banja Luka bis Srebrenica Teile aus Bosnien herausschneiden zu wollen. Eines ist klar: Wer von Banja Luka in Bosnien bis Mitrovica in der Republik Kosovo zündelt, der spielt mit dem Feuer neuer Konflikte auf dem Balkan. Das dürfen wir nicht zulassen. ({4}) Wer glaubt, dass die radikalen Kräfte in Serbien, im Kosovo, in Mazedonien und anderswo nicht genau beobachten, wie die EU mit diesen Themen umgeht, der begeht einen gefährlichen Irrtum. Dieser Destabilisierung und Radikalisierung in Südosteuropa müssen wir mit Nachdruck entgegentreten. Eine zweite Runde von Balkan-Konflikten darf Europa nicht zulassen. Auch dies dokumentiert unser Engagement im Rahmen von Althea, KFOR, EULEX und anderen Missionen in Südosteuropa. Mit Entschlossenheit und Umsicht müssen wir im Interesse Bosniens endlich den Weg in die PostDayton-Ära beschreiten. Ich stelle fest, dass mit Ausnahme einer Fraktion alle Fraktionen dieses Hauses formuliert haben, dass wir einen Prozess brauchen, der Dayton überwindet, der neue Akzente setzt. Dayton war wichtig, um den Krieg zu beenden. Er reicht aber nicht aus für die heutigen Realitäten und als Grundlage, um das Land zurückzugeben. Das müssen wir allerdings erreichen. Es muss uns gelingen, den Bosniern ihr Land in guter Weise und gut geordnet zurückzugeben. In Bosnien und auch auf unserer Seite ist noch einiges zu tun. Der neue deutsche Außenminister bedeutet auch hier eine Chance auf Verbesserung. Wir wünschen uns eine aktivere Rolle Deutschlands in Südosteuropa. Die CDU/CSU bietet jede gewünschte Hilfe in der Sache an. Erlauben Sie mir, in dieser letzten Sitzung vor der Weihnachtspause an uns alle zu appellieren: Die Opfer des schlimmsten Genozids in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg haben es mehr als nur verdient, dass wir uns hier besondere Mühe geben. Wir wollen und werden alles unternehmen, um den Menschen in Bosnien den Weg in eine Zukunft in Würde und Wohlstand mitten in der Gemeinschaft EU-Europas mit zu ebnen. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Fritz Rudolf Körper ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Fritz Rudolf Körper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen einen kurzen Rückblick auf die griechische Mythologie werfen. Althea, die Namensgeberin dieser EU-Mission, ist die griechische Göttin der Heilkunst. Wer sich mit der Problematik von Bosnien-Herzegowina beschäftigt, wird wissen, dass Heilen und die Fähigkeit, zu versöhnen, dringend notwendig sind. ({0}) Dem Mythos nach wurde Althea von den Göttern erklärt, dass ihr Sohn sterben würde, sobald ein Stück Holz auf ihrem Feuer verbrannt ist. Althea nahm daraufhin das Holz vom Feuer, löschte es und legte es in einen Kasten, um das Leben ihres Sohnes zu bewahren. - Nach dem Löschen des Feuers in Bosnien-Herzegowina unterstützt die EU-Mission Althea jetzt das Heilen des Landes und seiner Bevölkerung. Anders als im Mythos soll das Holz nie wieder aus dem Kasten genommen werden, sondern für immer sicher verwahrt bleiben. ({1}) Ich habe diesen Rückgriff gewählt, um deutlich zu machen - das hat vorhin beispielsweise bei dem Beitrag von Frau Beck eine Rolle gespielt -, mit welch einer Problematik wir es in Bosnien-Herzegowina zu tun hatten und haben. Bei allen Unzulänglichkeiten der heutigen Situation können wir doch eines feststellen: Diese Mission, dieser Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft hat dem ethnisch motivierten Morden und Töten ein Ende machen können. ({2}) - Frau Beck, das ist eine andere Frage. Es war leider zu spät; aber wir haben dieses Ergebnis zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht, und das war gut so. Durch die militärische Komponente dieser Mission, durch die militärische Präsenz ist es gelungen, Gewaltausbrüche der ehemaligen Konfliktparteien zu verhindern und die nationalen und die internationalen Akteure in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Europäische Union hat diese Stabilisierungsaufgabe vor fünf Jahren von der NATO übernommen. Die Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina ist zumindest etwas stabiler als vorher. In diesem Zusammenhang will ich auch die europäische Polizeimission ansprechen, bei der sich die EU umorientiert mit der Konzentration auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Korruption sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaften. Das ist ganz wichtig; denn wenn ein solches Land die Korruption nicht wirksam bekämpfen kann, hat es keine Chance. ({3}) Ich will zugeben: Es hat mich schon ein bisschen irritiert, dass, als Frau Beck die Forderung gestellt hat, dass Herr Mladic ausgeliefert wird und in Den Haag landet, dies nicht den Applaus des gesamten Hauses bekommen hat. ({4}) Versöhnung ist ganz wichtig. Wie kann man die ethnische Spaltung überwinden und Versöhnung herstellen? Wir sehen im Moment, dass die ethnische Problematik an jeder Stelle ungeheuer hinderlich ist, beispielsweise bei der Frage, wie der Staat vernünftig aufgebaut und organisiert werden kann. Bestimmte Funktionen und Stellen müssen dreifach besetzt werden - mit all der Problematik, die dies mit sich bringt. Deswegen ist es wichtig, dass wir zur Versöhnung der Ethnien in BosnienHerzegowina beitragen. Ich will mit einem Beispiel schließen, das ein bisschen Hoffnung gibt. In der letzten Woche kam es zur Wiedereröffnung der direkten Bahnverbindung zwischen Belgrad und Sarajevo, nachdem diese Verbindung 18 Jahre gekappt war. Vielleicht ist das ein Symbol, ein Hoffnungsschimmer dafür, dass es zu dem notwendigen Ausgleich, dem notwendigen Versöhnungsprozess der betroffenen Ethnien auf dem Balkan in naher Zukunft kommt; denn nur dann wird es gelingen, dass der Balkan eine Zukunft hat. Das ist für die europäische Perspektive von großer Bedeutung. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Florian Hahn ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Als ich im Frühjahr 2002 in Sarajevo war, waren dort 1 600 deutsche Soldatinnen und Soldaten sta1090 tioniert, 1 600 Soldaten in einer Stadt, in deren Zentrum neben den deutlich sichtbaren Zerstörungen des Krieges der Marktplatz mit jungen Menschen gefüllt war, die in der Frühlingssonne den ersten Kaffee des Jahres im Freien genossen haben - eine schöne mediterrane Atmosphäre. Doch unsere Delegation musste damals von Sicherheitskräften begleitet werden; denn die Sicherheitslage war extrem angespannt. Das war auch zu spüren, als wir nach dem Vorfall in Rajlovac unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten besucht haben und sie einen Tag lang begleiten durften. Heute, knapp acht Jahre danach, kann die militärische Sicherheitslage als grundsätzlich stabil eingestuft werden. Personenschutz ist größtenteils nicht mehr notwendig. Wir konnten unsere deutschen Sicherheitskräfte inzwischen auf 130 Soldatinnen und Soldaten reduzieren. Das bringt nur leider einige europäische Staaten zu der Annahme, dass wir unsere Truppen gänzlich abziehen könnten. Doch wie meine Vorredner schon erwähnt haben, ist die innenpolitische Lage weiterhin fragil. Bosnien und Herzegowina ist nach wie vor unser Sorgenkind Nummer eins auf dem Balkan, ein Sorgenkind inmitten Europas. Die zivilgesellschaftlichen Probleme, die uns schon damals vor Augen geführt wurden, haben leider noch heute zum großen Teil Bestand. Die Lage kann sich schnell wieder ändern, wenn wir unsere Unterstützung verweigern. Wir alle kennen die Drohungen, die beispielsweise ein Herr Dodik ausgesprochen hat, wenn seine Bedingungen nicht erfüllt werden. Oft genug haben wir heute in diesem Hohen Hause über die nationalistischen Kräfte in Bosnien und Herzegowina diskutiert. Unser Ziel ist, dass das europäische Land Bosnien und Herzegowina zu einem friedlichen, demokratischen Rechtsstaat in Europa wird. Ein Abzug unserer militärischen Kräfte würde den Menschen vor Ort signalisieren, dass wir, dass Europa kein Interesse mehr an ihnen hat, insbesondere vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten des Butmir-Prozesses. Ein Abzug würde die jahrelange Aufbauarbeit der Nachkriegsgesellschaft zunichte machen. Die reine Anwesenheit des Militärs ist für den zivilgesellschaftlichen Aufbau von immenser Wichtigkeit. Nehmen wir hier nur als Beispiel die Flüchtlingsrückkehrer, für die das subjektive Gefühl der militärischen Anwesenheit essenziell ist. Wir müssen Bosnien und Herzegowina unterstützen. Aber ich sage auch: Diese Unterstützung darf nicht nur geschenkt sein. Deshalb war es richtig, Bosnien und Herzegowina die Aufnahme in den Membership Action Plan der NATO zu verweigern. Auch die Bosnier müssen ihren Teil dazu beitragen und dürfen bei Beitrittgesuchen keine Rabatte bekommen. Ich kann mir übrigens gut vorstellen, dass unsere militärischen und zivilen Aufbauhelfer in Bosnien und Herzegowina das Gefühl haben, von uns, von der deutschen Öffentlichkeit durch die Afghanistan-Diskussion vergessen zu werden, gerade auch durch den unverantwortlichen Klamauk, den die Opposition hier im Haus in den letzten Tagen veranstaltet hat. ({0}) Deshalb hier mein klares Statement: Wir wissen um die Leistungen, die unsere Landsleute dort erbringen. Ich möchte ihnen ganz herzlich dafür danken und wünsche ihnen für die zukünftigen Aufgaben Gottes Segen. ({1}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche uns allen ein gesegnetes Weihnachtsfest. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der Drucksache 17/275 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Althea. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/180 anzunehmen. Dazu ist eine namentliche Abstimmung be- antragt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses im Saal anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Dann schließe ich hiermit die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Wir geben das Ergebnis der Abstim- mung nach üblichem Verfahren während der nächsten Debattenrunde bekannt.1) Wenn Sie bitte wieder, wo immer Sie mögen, aber je- denfalls Platz nehmen, können wir mit den weiteren Ab- stimmungen fortfahren. Nachdem sich nun allmählich eine fast weihnachtli- che Stille über den Plenarsaal legt, können wir die Ab- stimmungen fortsetzen mit der erneuten freundlichen Einladung, sie im Sitzen zu absolvieren, weil es höhere gesetzliche Anforderungen jedenfalls für den Abstim- mungsvorgang nicht gibt. Wir kommen zunächst zum Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/282. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Entschlie- ßungsantrag abgelehnt. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/283. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Antrag hat keine Mehrheit gefunden. 1) Seite 1092 D Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des BundesImmissionsschutzgesetzes - Drucksache 17/156 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die Nachrichten, die wir von der Konferenz in Kopenhagen bekommen, stimmen, dann bestehen Chancen, dass wir doch noch zu einer Vereinbarung kommen und das 2-Grad-Ziel festschreiben. Ich glaube, ich spreche im Namen aller in diesem Hause, wenn ich denjenigen, die dort gerade verhandeln und guten Willens sind, den bestmöglichen Erfolg wünsche. ({0}) Es gibt aber schon ein anderes Ergebnis aus Kopenhagen, das leider nicht erfreulich ist, nämlich dass unter der Klimakanzlerin a. D., Frau Dr. Angela Merkel, ({1})) Deutschland die Führungsrolle im internationalen Klimaschutz abgegeben hat. ({2}) Deutschland, bisher international Vorreiter im Klimaschutz, ist vom Motor zum Bremser geworden, und die Welt hat gemerkt, dass man in Deutschland zwar vielleicht ambitionierte Ziele hat, aber bei der Umsetzung Anspruch und Wirklichkeit deutlich auseinanderklaffen. ({3}) Nirgendwo wird das deutlicher als im Energiesektor, der für über 40 Prozent der Emissionen, die aus Kraftwerken - ganz überwiegend aus Kohlekraftwerken stammen, verantwortlich ist. Dieser Anteil der Emissionen nimmt in den letzten Jahren sowohl absolut als auch relativ immer weiter zu. Das ist erschreckend, wenn wir unsere Klimaschutzziele erreichen wollen. ({4}) Wir müssen diese hohen Emissionen senken. Doch die Realpolitik sieht ganz anders aus. Wir müssen nur nach Nordrhein-Westfalen schauen. Parallel zur Konferenz in Kopenhagen schafft die dortige Landesregierung den Klimaschutz in der Landesplanung ab, als wollte sie beweisen, dass Deutschland die Vorreiterrolle abgeben will. ({5}) Wer die handelnden Personen in Nordrhein-Westfalen kennt, den überrascht das nicht. Dort spricht man inzwischen, wenn es um Klimaschutz geht, von George W. Rüttgers, ({6}) einem großen Protagonisten, der das Landesgesetz eigens ändert - die berühmte Lex Eon -, um ein vom Gericht gestopptes Kohlekraftwerk zu genehmigen. Schlimmer als das, was in Nordrhein-Westfalen passiert, ist das, was der Bundesumweltminister zu diesem Thema sagt. Hier im Bundestag gibt er den Umweltphilosophen und redet von der ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft. In den Feuilletons lesen wir ähnliche Äußerungen. In der Realität aber begrüßt er - von der Konferenz in Kopenhagen aus - das, was in Nordrhein-Westfalen passiert. Daher befürchte ich Schlimmes für unser Land, was den Klimaschutz in den nächsten Jahren angeht. ({7}) Dass es auch ohne neue Kohlekraftwerke geht, haben schon die Meseberger Beschlüsse der Großen Koalition gezeigt. Danach sollen der Anteil der erneuerbaren Energien bis 2020 bei 30 Prozent, der Anteil der KraftWärme-Kopplung bei 25 Prozent und der Anteil der Stromeinsparung bei 11 Prozent liegen. Das macht insgesamt 66 Prozent. Das heißt, wir müssen nur noch ein Drittel der Energie aus dem vorhandenen Kraftwerkspark beziehen. Dazu brauchen wir kein einziges neues Kohlekraftwerk. Trotzdem sind in Deutschland nach wie vor 25 Kohlekraftwerksprojekte in Planung. Wir brauchen aber kein einziges, wenn wir unsere Klimaschutzziele erreichen wollen. ({8}) Das Problem ist, dass die Genehmigungsbehörden zwar die Gestaltung des Kühlturms bestimmen können, dass aber CO2-Emissionen und Klimaschutz in den Genehmigungsverfahren überhaupt keine Rolle spielen. Das muss sich ändern, wenn wir bei unseren Klimaschutzzielen vorankommen wollen. ({9}) Diesen Missstand wollen wir ändern. Deshalb haben wir Ihnen unseren Gesetzentwurf zur Beratung vorgelegt. Wir wollen, dass neue Kraftwerke einen Mindestwirkungsgrad von 58 Prozent aufweisen müssen. Dieser wird nur von modernen GuD-Kraftwerken erreicht, die nur ein Drittel dessen emittieren, was ein neues Braunkohlekraftwerk emittiert. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt unseres Gesetzentwurfs ist: Wir wollen anstelle von reinen Kondensationskraftwerken, die nur Strom erzeugen, die hoch effiziente und dezen1092 trale Kraft-Wärme-Kopplung voranbringen, die Wirkungsgrade von über 90 Prozent haben kann und entsprechend geringe CO2-Emissionen aufweist. Es ist doch Irrsinn, wenn zum Beispiel rund um das Ruhrgebiet, einen der größten Ballungsräume Europas, ein Kranz von Kohlekraftwerken gebaut wird, die 60 Prozent der Energie nutzlos an die Umgebung abgeben, während in den Städten Millionen schlecht isolierter Wohnungen mit aus Russland teuer importiertem Erdgas beheizt werden. Das ist doch Unsinn. ({10}) Wir müssen Stromerzeugung und Wärmeproduktion zusammenbringen. Das wäre eine wirkliche Effizienzrevolution in der Energiewirtschaft. Aber dazu finde ich im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP kein Wort, keine Zeile, keine Silbe. ({11}) Wir wollen - das ist der dritte zentrale Punkt unseres Gesetzentwurfs -, dass mit angemessenen Übergangsfristen alte, völlig ineffiziente Kraftwerke entweder ertüchtigt werden und einen höheren Wirkungsgrad erreichen oder, wenn der Betreiber das nicht will oder nicht finanzieren möchte, stillgelegt werden. Denn die Entwicklung zeigt: Es werden neue Kohlekraftwerke gebaut, aber alte nicht stillgelegt. So kommen Emissionen obendrauf. Hier zeigt sich der Emissionshandel bisher leider als wirkungslos. Das zeigt sich zum Beispiel im rheinischen Frimmersdorf bei Grevenbroich. Dort, im Rheinland, nicht in Polen oder Griechenland oder sonst wo, steht das schmutzigste Kraftwerk Europas, betrieben vom RWEKonzern. ({12}) Es scheint sich offensichtlich für diesen Konzern zu lohnen, dieses schmutzige Kraftwerk trotz des Emissionshandels weiter zu betreiben, obwohl er neue Kraftwerke baut. Mit solchen Profiten muss Schluss sein. Es kann nicht sein, dass ein Konzern auf Kosten des Klimas Geld verdient. ({13}) Zum Schluss möchte ich noch meiner Freude Ausdruck geben, dass die SPD, die ich in Nordrhein-Westfalen immer als vehemente Befürworterin von Kohlekraftwerken erlebt habe, zumindest auf Bundesebene dabei ist, ihre Position zu ändern. Nicht anders kann ich eine dpa-Meldung vom 14. Dezember über den Kollegen Kelber interpretieren, der sich zu Kopenhagen und zur Lex Eon in Nordrhein-Westfalen geäußert hat. Er sagte - ich zitiere -: Es ist das völlig falsche Signal, denn Deutschland wird mit neuen Kohle-Dreckschleudern international völlig unglaubwürdig. Herr Kelber - er ist leider nicht hier -: Wo Sie recht haben, haben Sie recht. ({14}) Ich freue mich darauf, wenn Sie und vielleicht auch die Kollegen der anderen Seite des Hauses sich bei den weiteren Beratungen über diesen Gesetzentwurf Gedanken machen, damit wir vorankommen und damit wir Milliarden nicht in Kohlekraftwerke investieren, sondern in erneuerbare Energien, in Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz, in Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung und in Maßnahmen zur Energieeinsparung. Das braucht das Klima, und das braucht der Wirtschaftsstandort Deutschland. Danke schön. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Krischer, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Es war Ihnen deutlich anzumerken, dass Ihnen die Freude an der parlamentarischen Arbeit von Minute zu Minute zuwuchs. ({1}) - Ab der siebten besonders auffällig. ({2}) Deswegen habe ich mich nicht getraut, Ihnen auch nur einen dezenten Hinweis darauf zu geben, was ab sofort gilt, nämlich die Redezeit, die die Fraktion für Sie angemeldet hat. ({3}) Ich möchte Ihnen nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Fortsetzung der Althea-Mission bekannt geben. Abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben gestimmt 497, mit Nein 66 Kolleginnen und Kollegen. Es gab 8 Enthaltungen. Damit ist die Beschlussempfehlung mit breiter Mehrheit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 571; davon ja: 497 nein: 66 enthalten: 8 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({4}) Manfred Behrens ({5}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Präsident Dr. Norbert Lammert Wolfgang Börnsen ({6}) Norbert Brackmann Klaus Brähmig Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Leo Dautzenberg Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({7}) Dirk Fischer ({8}) Axel E. Fischer ({9}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({10}) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Dieter Jasper Andreas Jung ({11}) Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({12}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Volkmar Klein Jürgen Klimke Julia Klöckner Axel Knoerig Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach ({13}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({14}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Stefan Müller ({15}) Nadine Müller ({16}) Dr. Gerd Müller Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Lucia Puttrich Daniela Raab Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({17}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({18}) Anita Schäfer ({19}) Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({20}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({21}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({22}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({23}) Peter Weiß ({24}) Sabine Weiss ({25}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Lothar Binding ({26}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({27}) Edelgard Bulmahn Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel Michael Gerdes Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({28}) Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({29}) Hubertus Heil ({30}) Rolf Hempelmann Präsident Dr. Norbert Lammert Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Frank Hofmann ({31}) Dr. Eva Högl Christel Humme Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({32}) Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({33}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({34}) Franz Müntefering Dietmar Nietan Thomas Oppermann Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({35}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({36}) Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder ({37}) Werner Schieder ({38}) Ulla Schmidt ({39}) Carsten Schneider ({40}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Swen Schulz ({41}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Dr. Dieter Wiefelspütz Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({42}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({43}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth ({44}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({45}) Christian Lindner Michael Link ({46}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({47}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({48}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({49}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel ({50}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({51}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({52}) Volker Beck ({53}) Cornelia Behm Birgitt Bender Alexander Bonde Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({54}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven Kindler Ute Koczy Thomas Koenigs Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Undine Kurth ({55}) Markus Kurth Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({56}) Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({57}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Frithjof Schmidt Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Dr. Valerie Wilms Nein CDU/CSU Dr. Peter Gauweiler DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Präsident Dr. Norbert Lammert Andrej Konstantin Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Petra Hinz ({58}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Winfried Hermann Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Beate Müller-Gemmeke Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön, Herr Kollege Paul, Sie haben das Wort. ({59})

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes“, so heißt es im Titel des Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute beraten. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Genau betrachtet müsste es heißen: „Gesetz über den Ausstieg aus der Kohlenutzung in Deutschland“; denn genau darum geht es. ({0}) Die Grünen wollen praktisch den vollständigen Ausstieg aus der Kohlenutzung in Deutschland - und das innerhalb der nächsten elf Jahre, und zwar sowohl aus der Steinkohle als auch aus der Braunkohle. Dieser Gesetzentwurf bedeutet das Aus für neue Kohlekraftwerke, also auch für neue, hocheffiziente; denn die für solche neuen Kraftwerke im Gesetzentwurf vorgesehenen Mindestwirkungsgrade von 58 Prozent können Kohlekraftwerke zurzeit und auch in den nächsten Jahren technisch nicht erreichen. Es handelt sich also hierbei um ein Neubauverbot, das gefordert wird. ({1}) Es sind aber gerade die neuen Kraftwerke, die höchste Effizienz mit geringstem Schadstoffausstoß verbinden. Es kann doch nicht das Ziel einer Gesetzesänderung in diesem Hause sein, die Modernisierung des Kraftwerkparks in Deutschland zu verhindern. Lieber Kollege Krischer, das gilt auch für Nordrhein-Westfalen. ({2}) Dass sie das Neubauverbot wollen, haben die Grünen schon einmal deutlicher gesagt; diesmal haben sie diese Absicht jedoch sowohl in der Gesetzesbegründung als auch in ihrem ersten Wortbeitrag heute ziemlich versteckt. Bereits am 13. Mai dieses Jahres hat der Bundestag mit breiter Mehrheit einen Antrag der Grünen abgelehnt, der die Dinge eindeutig beim Namen nannte. Der Titel des Antrags von damals lautete: „Neue Kohlekraftwerke verhindern - Genehmigungsrecht verschärfen“. Meine Damen und Herren, auch wenn man alte „Kamellen“, wie man bei uns im Rheinland sagt, immer wieder hervorholt, werden sie dadurch nicht zum Dauerlutscher. Oder anders gesagt: Auch durch Wiederholung wird Unvernünftiges nicht vernünftig. Wenn wir die weiteren Forderungen des Gesetzentwurfes wörtlich nehmen, hieße das, dass bereits in den nächsten sechs Jahren die bestehenden Kohlekraftwerke so umgerüstet werden müssten, dass sie einen Mindestwirkungsgrad von 38 Prozent bei Steinkohle und 36 Prozent bei Braunkohle erreichen. Ab Ende 2020 sollten es dann noch einmal 2 Prozentpunkte mehr sein. Auch Gaskraftwerke dürften dann nach dem Willen der Grünen einen Wirkungsgrad von 40 Prozent nicht unterschreiten. Diese Umrüstung ist aber in den allermeisten Fällen technisch nicht machbar. Ein sehr großer Teil der deutschen Kohlekraftwerke müsste damit spätestens Ende 2020 vom Netz gehen. Darüber, dass dieses Gesetz wahrscheinlich verfassungswidrig ist, will ich heute gar nicht sprechen. Ein Hinweis sei aber gestattet: Wer bestehenden Anlagen, die eine unbefristete Betriebsgenehmigung haben, durch erdrosselnde Vorschriften den Garaus machen will, der setzt sich über rechtsstaatliche Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz und Rechtssicherheit hinweg. ({3}) Wer für den Neubau von Anlagen so hohe Hürden setzt, dass keiner diese Hürden überwinden kann, der greift unzulässig in das durch das Grundgesetz aus gutem Grund geschützte Recht der freien Berufswahl ein. ({4}) Aber schauen wir noch einmal auf die Folgen, die dieses Gesetz in der Praxis hätte: Erstens. Über 100 000 Arbeitsplätze in Deutschland im Bereich des Braun- und Steinkohlebergbaus und im Kraftwerksbereich würden vernichtet. Das wäre eine unmittelbare Folge dieses Gesetzes. Zweitens. Die Sicherheit der Versorgung Deutschlands mit Energie würde massiv gefährdet. Wenn es nach den Grünen ginge, dann sollten wir ja aus der Kernenergie aussteigen - je schneller desto besser; so verstehe ich Sie jedenfalls immer. Aus der Kohle sollen wir auch aussteigen. Das zeigt Ihr heutiger Gesetzentwurf. Beides zusammen genommen bedeutet, dass ab dem Jahr 2020 fast die gesamte Grundlast, die heute zu rund 95 Prozent von Braunkohle und Kernenergie getragen wird, nicht mehr gesichert wäre. Das ist für eine Industrienation wie Deutschland verantwortungslos; ({5}) denn um die Stabilität des Netzes zu gewährleisten, sind in gleichmäßiger Verteilung Grundlastkraftwerke in Deutschland notwendig. Eine sich ansonsten ergebende erhebliche Schwankung der Stromfrequenz hätte fatale Auswirkungen bis hin zu regelmäßigen Zusammenbrüchen der Stromversorgung. Das können wir nicht ernsthaft riskieren. ({6}) Die Alternative wäre der massive Import von Strom. Import von Strom heißt aber nichts anderes, als dass die Emissionen exportiert und ins Ausland verlagert werden. Das kommt also auch nicht infrage, zumal eine zunehmende Abhängigkeit Deutschlands sowohl vom Stromals auch vom Gasimport unsere Versorgung nicht sicherer, sondern immer unsicherer machen würde. Das können wir nicht ernsthaft wollen. Drittens. Unser ehrgeiziges Klimaschutzziel - 40 Prozent Minderung der CO2-Emissionen in Deutschland gegenüber 1990 bis zum Jahr 2020 - können wir auch mit der Kohleverstromung erreichen. Das gilt übrigens für die gesamte Europäische Union, wie jüngst in einer Studie des Umweltbundesamtes vom September dieses Jahres gezeigt wurde, also in einer Studie von einer Institution, die sicher unverdächtig ist, eine glühende Kohlebefürworterin zu sein. Viertens. Mit diesem Gesetz wäre auch ein möglicherweise ökologisch vorteilhafter Einsatz von Kohle in Verbindung mit der CO2-Abscheidung und Speicherung, also dem sogenannten CCS, unmöglich gemacht. Das kann ökologisch nicht vernünftig sein. ({7}) Fünftens. Ein deutscher Sonderweg raus aus der Kohle wäre international gesehen nicht mehr als ein „Tröpfchen“ auf den heißen Stein. Schließlich ist die Kohle der Energieträger, der global gesehen am längsten verfügbar sein wird. Darum ist eine intelligente Nutzung der Kohle erforderlich. ({8}) Sechstens. Der Strom würde deutlich teurer, wenn es so kommt, wie Sie wollen, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen. ({9}) Wenn das Angebot verknappt wird, weil die Kohlekraftwerke vom Netz gehen, dann ist die Verteuerung eine notwendige Folge. Sie aber schweigen in Ihrem Gesetzentwurf wohlweislich zu den Auswirkungen auf die Preise, die private und gewerbliche Kunden künftig zahlen müssen. Dieses Schweigen spricht doch Bände. Siebtens. Das Gesetz wäre in der Praxis schwer zu vollziehen. Einen Wirkungsgrad festzustellen, ist technisch deutlich anspruchsvoller, als beispielsweise einen Emissionswert zu messen. Notwendig sind aufwendige Messverfahren über längere Zeitreihen. Mehr Aufwand und höhere Kosten, auch das wäre eine Folge dieses Gesetzes. ({10}) Meine Damen und Herren, um die angestrebten CO2Einsparungen zu erreichen, brauchen wir den ordnungsrechtlichen Ansatz der Grünen nicht. Wir haben bereits ein ökologisch wie ökonomisch wirkungsvolles Instrument: den Emissionshandel. Mit diesem marktwirtschaftlichen Instrument werden ja die ökologischen externen Kosten zumindest teilweise verursachergerecht internalisiert. Eine Beschränkung der Emissionen wird dabei durch das wirksamste ökonomische Instrument gewährleistet, das es gibt, nämlich durch die Wirtschaftlichkeit. Denn je höher die Effizienz und je niedriger der Emissionsausstoß, desto geringere Kosten entstehen für die am Emissionshandel teilnehmenden Unternehmen. ({11}) Der Emissionshandel gibt einen sinnvollen Anreiz zum Einsatz von Spitzentechnologie. Er schafft eine Balance zwischen Versorgungssicherheit einerseits und Klimaschutz andererseits, da die Emissionsrechte stetig verringert werden. Gestatten Sie mir noch ein Wort zu der von den Grünen geforderten Streichung des § 5 Abs. 1 Satz 4 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Dort werden Anlagen von der Pflicht ausgenommen, Energie effizient zu verwenden, wenn sie am Emissionshandel teilnehmen. Über die Frage der Notwendigkeit dieser Vorschrift können wir uns gerne unterhalten. Aber es ist doch mehr als bemerkenswert, dass diese Vorschrift gerade auf Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD im Jahre 2004 in das Bundes-Immissionsschutzgesetz hineingebracht wurde. Ausgerechnet diese Grünen verlangen jetzt die Streichung der von ihnen selbst mit verursachten Vorschrift. Sehr bemerkenswert! ({12}) Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Da der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen die Versorgungssicherheit gefährdet und weder ökologisch noch ökonomisch vorteilhaft ist und weil wir mit dem Emissionshandel einen effizienten Lenkungsmechanismus haben, wird die CDU/CSU-Fraktion dieses Vorhaben ablehnen. Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Auch Ihnen, Herr Kollege Paul, herzliche Gratulation zur ersten Rede im Deutschen Bundestag und weiterhin viel Erfolg bei der parlamentarischen Arbeit. ({0}) Ute Vogt ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({1})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Krischer, ein Teil der Freude über die SPD ist sicherlich berechtigt; denn in der Tat stimmen wir mit der Zielsetzung überein, dass wir die Effizienz von Kohlekraftwerken steigern müssen. Wir können durchaus darüber reden, dass der Mindestwirkungsgrad auch bei einer Genehmigung für den Neubau ein geeignetes Instrument sein kann. Allerdings bedeutet die Vorgabe von 58 Prozent Wirkungsgrad - das hat auch der Kollege Paul schon dargestellt - faktisch ein Verbot des Neubaus von Kohlekraftwerken. Auch wenn wir darin übereinstimmen, dass wir langfristig nicht darum herumkommen, fossile Energieträger durch erneuerbare Energien zu ersetzen, so gibt es doch auch Argumente, warum wir im Moment auf den Neubau nicht vollständig verzichten sollten. Wir brauchen dringend einen Ersatz für Altanlagen; wir brauchen eine Erneuerung des Kohlekraftwerkparks. Die Kohlekraftwerke der 50er- und 60er-Jahre müssen vom Netz. An dieser Stelle muss es Ersatzinvestitionen geben. Diese wären nicht möglich, wenn man mit der Vorgabe eines elektrischen Mindestwirkungsgrades in Höhe von 58 Prozent den Neubau von Kohlekraftwerken komplett verhindern würde. Die alten Dreckschleudern - diese Kraftwerke hat der Kollege Kelber gemeint müssen vom Netz. Für diese muss Ersatz geschaffen werden. ({0}) Wir müssen auch ernsthaft darüber diskutieren, ob wir mit einem Quasiverbot für Neubauten unser gemeinsames Ziel einer Dezentralisierung der Energieversorgung nicht ein wenig aus den Augen verlieren würden. Denn ein Verzicht auf jeglichen Neubau würde bedeuten, dass wir die Monopolstellung, die heute die großen Energieversorger haben, festigen. Wir würden damit den kleineren kommunalen Erzeugern wie beispielsweise den Stadtwerken überhaupt keine Chance geben, den Anschluss zu finden. ({1}) Wir sollten diesen Antrag zum Anlass nehmen, die notwendigen Debatten zu führen. Wir sind dabei, wenn es darum geht, das Genehmigungsrecht anzupassen. Priorität muss das Ersetzen von alten Kohlekraftwerken durch diejenigen Kraftwerke haben, die auf eine effiziente Energieerzeugung durch Kraft-Wärme-Kopplung setzen. Das ist bei einem Kohlekraftwerk der neuen Generation durchaus möglich. ({2}) Wir würden gerne den Weg beschreiten, eine untere Abschneidegrenze für alte Kraftwerke einzuführen. Dies halten wir ebenso für sinnvoll wie einen Mindestwirkungsgrad für neue Kraftwerke. Allerdings müssen wir über die Höhe der Wirkungsgrade und über die Frage, wie hoch die Untergrenze sein soll, noch trefflich diskutieren. Mit Sicherheit werden wir über einige Punkte streiten. Die Zielrichtung ist klar. Zur Klärung der Frage, ob Ihre vorgeschlagenen Maßnahmen die richtigen sind, um das Ziel zu erreichen, bedarf es noch einer ausführlichen Debatte. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Kauch erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Wir Liberale wollen langfristig heraus aus den fossilen Kraftwerken und hin zu einer Versorgung mit erneuerbaren Energien. Aber so, wie die Grünen das hier vorschlagen, so läuft das eben nicht. ({0}) Der Gesetzentwurf zeigt deutlich: Die Grünen haben die Wirkung des Emissionshandels überhaupt nicht verstanden. Sie tun so, als hätten wir überhaupt keine europäische Gesetzgebung. Der Emissionshandel begrenzt nämlich gerade die Obergrenze der CO2-Emissionen. Unter diesem Deckel können Sie mit Ordnungsrecht machen, was Sie wollen: Sie werden keine einzige Tonne CO2 einsparen; denn jede Tonne CO2, die ein abgeschaltetes Kohlekraftwerk nicht emittiert, wird von anderen Nachfragern bei dann sinkenden Zertifikatepreisen sozusagen aufgekauft. ({1}) Sie haben ökonomisch überhaupt nicht verstanden, wie das hier umweltpolitisch läuft. Sie machen es aus dem Bauch heraus und haben ein gutes Gefühl. Sie sagen, die bösen Konzerne müssten die Kohlekraftwerke abschalten. Aber so werden Sie die Umwelt nicht retten. Das ist reine Symbolpolitik. ({2}) Nur für die Zeit nach 2020, also für die Zeit, für die wir noch keine EU-rechtliche Regelung haben, ist es überhaupt von Bedeutung, was hier vorgeschlagen wird. Die Frage der Energieeffizienz wird es uns ermöglichen, ab 2020 ein geringeres Cap EU-weit festzulegen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte sehr.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauch, es ist erfreulich, festzustellen, dass die FDP offensichtlich eine ganz neue Energiepolitik auf den Weg bringen will. Statt einen Energiemix aus Atom, Kohle, Erdöl, Erdgas und erneuerbaren Energien anzustreben, sei das langfristige Ziel der Freien Demokraten, wie Sie gerade betont haben, zu 100 Prozent erneuerbare Energien einzuführen. Das ist erfreulich. Aber es widerspricht Ihren eigenen Aussagen. Sie haben im Sinne der sogenannten Carbon-Leakage-Theorie behauptet, dass dann, wenn wir beim Neubau von Kohlekraftwerken nicht vorangingen, an anderer Stelle Emissionen stattfinden würden. Damit übersehen Sie, dass der Ausbau erneuerbarer Energien auch in anderen Ländern bereits in einer solchen Geschwindigkeit erfolgt, dass dort schon konventionelle Kraftwerke ersetzt werden. Aufgrund der Geschwindigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien ist diese Theorie nicht mehr haltbar. Wir können das in China oder auch anderswo erkennen. Deswegen frage ich Sie, ob die Carbon-LeakageTheorie wirklich haltbar ist. Diese Theorie ist nämlich nur deswegen in die Welt gesetzt worden, um den Anschein zu erwecken, erneuerbare Energien könnten nicht schnell genug wachsen. Sie tun es aber. Sie können damit auch in anderen Ländern ohne den Neubau von Kohlekraftwerken und Weiterem eine Vermeidung von Emissionen in großem Stil bewirken.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Fell, wir sind uns einig, dass die erneuerbaren Energien mehr können, als man ihnen in der Vergangenheit zugetraut hat. Eines ist aber klar: Solange wir bei den Speichertechnologien nicht so vorankommen, dass wir auch aus Quellen mit einem schwankenden Energieangebot eine durchgängig stetige Versorgung erreichen können, so lange wird es in der Übergangsphase weiterhin nötig sein, mit Brückentechnologien zu arbeiten. Eine Brückentechnologie kann die Kernkraft und vor allem auch die Kohletechnologie sein. Wir unterscheiden uns, glaube ich, in der Einschätzung dessen, wie schnell man bei den erneuerbaren Energien die Speicherbarkeit und eine vollständige Netzintegration tatsächlich hinbekommt. ({0}) Meine Damen und Herren, entscheidend für die Frage, ob Kohlekraftwerke klimaverträglich sind, ist, wie hoch die Begrenzung durch den Deckel ist, den der Emissionshandel setzt. Sie können nicht sagen, der Emissionshandel habe bisher nicht gewirkt; das haben Sie ja gesagt. Er hat deshalb nicht gewirkt, weil Ihr damaliger Umweltminister, Herr Trittin, in der ersten Handelsphase die Obergrenzen so hoch gesetzt hat, dass er, wenn ich es richtig im Kopf habe, 4 Millionen Tonnen CO2 eingespart hat. ({1}) So können Sie natürlich auch keine Einspareffekte erzielen. ({2}) Ab 2013 wird es eine klare Absenkung des Deckels geben. Dies ist eine klare Klimaschutzmaßnahme mit einem Anreiz für eine neue Energieversorgungsstruktur. Im Übrigen, der vorliegende Gesetzentwurf ist scheinheilig. ({3}) Angeblich sollen Kohlekraftwerke effizienter gemacht werden. Aber eigentlich ist das ein Gesetz zur Verhinderung von Kohlekraftwerken und - schlimmer noch - ein Gesetz zur Förderung von Gaskraftwerken. Genau das wollen die Grünen, ohne dass sie es hier sagen. ({4}) Die Grenzwerte sind mit einem Wirkungsgrad von 58 Prozent so hoch, dass selbst moderne Kohlekraftwerke dies nicht leisten können. Man findet eine entlarvende Formulierung in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes. Dort steht nämlich: Moderne Gaskraftwerke können diesen elektrischen Wirkungsgrad erreichen. Soweit daraus folgt, dass der Neubau von Kohlekraftwerken nicht möglich ist, ist dies zum Schutz der Umwelt … notwendig. Das heißt doch in Wahrheit, Sie wissen, dass es einen Restbedarf an Strom gibt. Auch bei einem forcierten Ausbau erneuerbarer Energien ist in den nächsten Jahrzehnten eine grundlastfähige Versorgung sicherzustellen. Sie entscheiden sich mit diesem Gesetzentwurf klar gegen die Kohle und für Gas. Das kann man vielleicht aus der monokausalen Sicht, dass es um Klimaschutz geht, begründen. Aber im Rahmen der Energiepolitik gilt auch, das Ziel der Versorgungssicherheit zu sichern. In Wahrheit ist das, was Sie hier machen und nicht öffentlich sagen, eine Strategie pro Gas, eine Strategie für mehr Abhängigkeit von Russland und von Turkmenistan ({5}) sowie für mehr Abhängigkeit von durchleitenden Ländern wie der Ukraine. Da freut sich vor allen Dingen einer, nämlich Herr Putin, dessen Lobbyist Sie hier im Deutschen Bundestag sind. ({6}) Das verwundert aber überhaupt nicht; denn Ihr ehemaliger Außenminister, Herr Joschka Fischer, ist jetzt GasMichael Kauch lobbyist, Lobbyist für die Nabucco-Pipeline und die Wirtschaftsinteressen des Kaukasus. ({7}) Mit dieser Strategie machen Sie Deutschland abhängig und erpressbar; Sie gefährden die außenpolitische Unabhängigkeit unseres Landes. ({8}) Weil Russland das Gas exportiert, anstatt es selbst zu nutzen, werden dort die dreckigsten Kohlekraftwerke weiterbetrieben, im Übrigen auch Kernkraftwerke, die Sie hier abschalten wollen. ({9}) Sie machen hier also eine Milchmädchenrechnung auf. Es ist ein Nullsummenspiel für den Klimaschutz und eine Katastrophe für die Versorgungssicherheit unseres Landes. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Blindheit der bundesdeutschen Genehmigungsgesetze in Bezug auf Klima- und Ressourcenschutz ist schon enorm. Werden bei einem geplanten Kohlekraftwerk die Grenzwerte des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eingehalten, so hat der Betreiber in der Regel Anspruch auf Genehmigung, selbst wenn die Bürger, die Politik und die Behörden das eigentlich gar nicht wollen. Bündnis 90/Die Grünen mussten das in Hamburg-Moorburg leidvoll erfahren. Wenn der außerparlamentarische Widerstand in Berlin-Lichtenberg nicht ausgereicht hätte, um das Vattenfall-Projekt der Errichtung eines Steinkohlekraftwerks zu kippen, wäre es uns von der Linken nicht anders ergangen. Es gibt also quasi einen Zwang, solche Dreckschleudern zu genehmigen, wenn planungsrechtliche Auflagen erfüllt sind. Dieser Zwang besteht, weil für CO2 keine Grenzwerte gesetzt sind. Das ist der Fall in einem Land, in dem man, wenn man in einem reinen Wohngebiet einen Kindergarten errichten will, aufwendigste Gutachten beibringen muss, um nachzuweisen, dass die Emission, in diesem Fall die Lärmemission, nicht zu hoch ist. Was aber bei einem solchen Kraftwerk aus dem Schornstein kommt und wie effizient der Rohstoff eingesetzt wird, hat überhaupt keine Auswirkung auf die Genehmigungsfähigkeit. Das ist der Fall, weil CO2 bisher nicht als Schadstoff eingestuft ist, anders als zum Beispiel Schwefeldioxid, Stickoxide oder Schwermetalle. Jetzt könnte man einwenden - das Argument kam eben -, die Kraftwerke unterlägen doch dem Emissionshandel, der einen Grenzwert setze. Das ist aber ein ziemlich zahnloses Argument; ich werde das gleich weiter ausführen. In Anbetracht der Debatten, die wir im Moment führen, der Konferenz in Kopenhagen und der gesamtgesellschaftlichen Debatten halte ich die Ausnahmen für CO2 für ziemlich unfassbar. ({0}) Es stellt sich schon die Frage, wieso es überhaupt Ausnahmen für CO2 gibt. Wir alle wissen um die Schädlichkeit von CO2. Schäden treten aber nicht unbedingt am Ort des Entstehens auf, sondern an irgendeinem Ort, unter Umständen weit entfernt, wo die Folgen der Klimaerwärmung - Dürre, Tod und Zerstörung zu spüren sind. Kann es sein, dass wir uns diese Ausnahme im Bundes-Immissionsschutzgesetz noch leisten, weil die Folgen nicht bei uns vor der Haustür zu spüren sind? Vorletzte Woche hat die nationale Umweltbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika CO2 als gesundheitsschädlich eingestuft. Die Chefin der dortigen Umweltbehörde hält dies für einen Schritt, den Treibhauseffekt nachhaltig und pragmatisch zu bekämpfen. Ich finde, sie hat recht. Damit wird in den USA etwas möglich, das bei uns bisher nicht möglich ist: Die Höhe des CO2-Ausstoßes einer Anlage sowie ihre Effizienz können die Grundlage der Entscheidung in einem Genehmigungsverfahren, zum Beispiel bei der Genehmigung eines Kraftwerkes, bilden. Der Gesetzentwurf der Grünen fordert etwas Vergleichbares. Wir unterstützen das. ({1}) Wir haben eben die Einwände von Herrn Dr. Paul und von Herrn Kauch gehört: Wir hätten doch den Emissionshandel; damit sei doch alles wunderbar geregelt. Aber wenn das tatsächlich so wäre, dann müsste der Gesetzentwurf gar nicht sein. Der Emissionshandel funktioniert nicht. Das will ich an einigen Beispielen deutlich machen. Eben wurde schon darauf hingewiesen, dass es Emissionsgutschriften gibt, die gegen Projekte in der Dritten Welt aufgerechnet werden. Wir wissen alle, dass ungefähr ein Drittel dieser Aufrechnungen nicht funktioniert und dass eine Menge gemauschelt wird. Die Einsparung ist also nicht real. Weil die Emissionsrechte noch bis 2012 verschenkt werden, schaffen wir keinen Anreiz für die Energieunternehmen, sparsam zu sein. Die Zertifikate wurden reichlich ausgegeben, und man hat derzeit noch keinen Lenkungseffekt. Man kann nur hoffen, dass das eines Tages anders ist. Wir werden in der laufenden Handelsperiode 2008 bis 2012 ungefähr 400 Millionen Tonnen CO2 übrig haben. Sie sind in die nächste Handelsperiode übertragbar. Von daher werden wir auch in näherer Zukunft, in der nächsten Handelsperiode, keinen Lenkungseffekt haben. Wir alle wissen, dass die Zeit davonläuft. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Jedes neu genehmigte Kraftwerk hat eine voraussichtliche Laufzeit von 40 bis 50 Jahren. Die Entscheidung, die wir heute fällen, bedeutet also einen höheren Ausstoß, auch in Zukunft. Deswegen: Einigen wir uns auf Mindestwirkungsgrade, gerade beim Neubau fossiler Kraftwerke. Nur so können wir die Klimasünden verringern. ({2}) Eröffnen wir Räume für einen zukunftsfähigen Strommix aus erneuerbaren Energien und auch Gaskraftwerken, die deutlich schneller regelbar sind und besser zu erneuerbaren Energien passen. Die ganze Diskussion über die Grundlast ist fehl am Platz. Wir brauchen eine juristische Handhabe, um den Bau von extrem klimaschädlichen und ineffizienten Kraftwerken verhindern zu können. Diesen Ansatz verfolgt der Gesetzentwurf der Grünen. Diesen Ansatz unterstützt Die Linke. Ich danke Ihnen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! In der Tat ist es so, dass man im Umweltrecht ambitionierte Standards setzen muss. Insofern ist es legitim, über die Frage nachzudenken, welche Wirkungsgrade Kohlekraftwerke in Zukunft haben können und müssen. Dabei spielt die Erreichbarkeit die entscheidende Rolle. Dazu haben der Kollege Paul und der Kollege Kauch das Notwendige gesagt: Ihnen geht es in der Tat um den deutschen Komplettausstieg aus der Nutzung der Kohle. ({0}) Wenn man sich das vornimmt, dann darf man aber keinen Schaufenstergesetzentwurf vorlegen. ({1}) Was Sie zu den Bestandsanlagen schreiben, ist ziemlich entlarvend; denn Sie scheinen nicht davon auszugehen, dass Ihr Vorschlag zum Tragen kommt. Es geht zuerst um die ernsthafte Frage, wie die Übergangsfristen gestaltet werden müssten. Es ist spannend, dass zwei verschiedene Termine in Ihrem Gesetzentwurf stehen. Offenbar hat sich der Verfasser des Gesetzentwurfs plötzlich besonnen. In der Begründung sprechen Sie von der ersten Stufe zum 1. Januar 2012, und im Gesetzestext schreiben Sie dann plötzlich 31. Dezember 2015. Jemandem ist es offenbar aufgefallen, dass man das so kurzfristig nicht machen kann. Es ist dem Verfasser auch aufgefallen, dass es ein verfassungsrechtliches Problem gäbe. Das hat er geschickt umschifft, und zwar in der Weise, dass er über Art. 14 GG - Schutz des Eigentums - im Zusammenhang mit Neuanlagen philosophiert, der aber gar nicht einschlägig ist. Bei Bestandsanlagen aber lässt er ihn faktisch weg. Sie wissen genau, dass man das so kalt, wie Sie das machen wollen, wenn es denn so käme, nicht machen kann. Deshalb sage ich noch einmal: Das ist ein Schaufenstergesetzentwurf. ({2}) - Reden Sie nicht dazwischen. Das ist wie immer bei Ihren Ausstiegsforderungen. Solange Sie in der Opposition sind, fordern Sie den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Aber wenn man in der Regierung ist, dann ist dies plötzlich unverantwortbar, und die Laufzeiten werden um 20 Jahre und mehr verlängert. Bei diesem Thema machen Sie es genauso. Sie waren sieben Jahre in der Regierung. ({3}) Wo bitte war da Ihre Forderung nach einem Ausstieg aus der Kohlekraft? Die gab es nicht. Aber kaum dass Sie in der Opposition sind, sagen Sie, dass wir die Kohle überhaupt nicht brauchen und 100 Prozent erneuerbare Energien realistisch sind. Meine Damen und Herren, ein bisschen Realitätsbezug braucht man schon! ({4}) - Bestreiten Sie doch bitte nicht das, was Sie selber in Ihrem Gesetzentwurf formuliert haben. Immerhin sind Sie, wie man Ihnen schon vorhin anhand des Textes deutlich gemacht hat, bei den Neuanlagen sehr ehrlich. Laut Ihrem Gesetzentwurf gibt es, wenn das mit dem Wirkungsgrad von 58 Prozent nicht funktioniert, keine Neuanlagen. Das weist natürlich den Weg zum Gas. Ich gehe noch einen Schritt weiter als Herr Kollege Kauch vorhin: Das wird infolge der Entwicklung auf den Gasmärkten nicht nur dazu führen, dass woanders alte Kohlekraftwerke am Netz bleiben, sondern dass es eine Gegenbewegung gibt. Die Tatsache, dass Gas bei uns in Deutschland - in Verbindung mit dem Emissionshandel auch in Europa - teurer wird, wird dazu führen, dass Lieferantenländer wie zum Beispiel Russland Kohlekraftwerke bauen werden. ({5}) Ich frage mich, ob man eine gesicherte Energieversorgung in Deutschland wirklich aufs Spiel setzen muss, um am Ende nur die Emissionen von A nach B zu verschieben. Im Übrigen findet sich in dem Gesetzentwurf der Grünen kein Wort zu CCS. Sie wissen genau, dass man nicht beides kann, nämlich auf der einen Seite die Wirkungsgrade erhöhen und CO2-Abscheidung und -Speicherung betreiben. ({6}) - Nein, ich lasse an dieser Stelle keine Zwischenfragen zu. - Sie wissen genau, dass man nicht beides kann: Wirkungsgrade steigern und CCS betreiben. Von einem zukunftsweisenden Gesetzentwurf hätte ich erwartet, dass zu diesem Thema darin Stellung genommen wird. Ganz vorne in Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie wieder etwas über die Theorie, die mich immer ganz besonders ärgert, dass nämlich eine teilweise Aufrechterhaltung der konventionellen Energieversorgung die Entwicklung der erneuerbaren Energien behindert. Das ist objektiv falsch. Es gibt einen Einspeisevorrang, der im EEG formuliert ist. Die neue Regierung wird an diesem Einspeisevorrang nicht rütteln. Deshalb ist Ihre Behauptung, dass das eine das andere behindert, widerlegt. ({7}) Wir stehen dazu, dass wir unseren Beitrag dazu leisten werden, die erneuerbaren Energien nach Kräften auszubauen und zu fördern. Wir als Union wollen einen dynamischen Energiemix, bei dem der Anteil der erneuerbaren Energien mit Blick auf Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Klimaschutz aufwächst und der Anteil der konventionellen Energieversorgung in gleichem Maße abnimmt. Das halte ich für ganz entscheidend. Es geht darum, sicherzustellen, dass wir keine Energielücke bekommen und dass der Weg in eine dezentrale Energieversorgung, den auch wir wollen, so verläuft, dass die Wirtschaft in diesem Land keinen Schaden nimmt. Denn beim Klimaschutz können wir nicht ausschließlich in Deutschland etwas bewegen. Es wird darauf ankommen, dass wir den Schwellenländern und anderen Ländern zeigen, dass man beides kann: das Klima schonen und wirtschaftlich vorankommen. Mit dem, was Sie vorschlagen, nämlich schlagartig und schockartig in die Wirtschaft einzugreifen, werden wir das nicht hinbekommen. Der Weg, den die Union in der Energiepolitik einschlägt, ist der realistischere und deshalb auch der bessere. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Steiner.

Dorothea Steiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004166, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hätte verschiedene Anmerkungen zu machen zu fachlichen Unrichtigkeiten, die hier geäußert worden sind, zum Beispiel vom Kollegen Kauch. Aber ich kann es mir nicht verkneifen, die Ausführungen des Kollegen Nüßlein in Bezug auf CCS und CO2-Speicherung zu korrigieren. Zur ersten Unrichtigkeit. Wenn Sie über Wirkungsgrade und Klimaschutz reden, sollten Sie immer bedenken, dass CCS den Wirkungsgrad der Kohlekraftwerke erheblich senkt und deswegen eigentlich sogar ein größeres Problem ist, weil mehr Energie erzeugt werden muss, um Strom abgeben zu können. ({0}) Zur zweiten Unrichtigkeit. Aus Gesprächen mit Vertretern der Betreiber, der Energieversorger oder der Forschungsinstitute wissen Sie doch alle, dass diese sagen: Vor 2020 bekommen wir das überhaupt nicht hin. Sie bauen die neuen Kohlekraftwerke aber jetzt. 2010 bzw. 2012 sollen sie ans Netz gehen, und zwar ohne CCS, weil das gar nicht umsetzbar ist, von den Problemen der Speicherung ganz abgesehen. Deswegen ist es Augenwischerei, wenn man mit CCS argumentiert. Das ist nur ein Feigenblatt, das helfen soll, die Errichtung neuer Kohlekraftwerke durchzusetzen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Herr Kollege Nüßlein.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, ich sage das ungern, insbesondere in einer Sitzung kurz vor Weihnachten: Sie haben mir bei diesem Thema entweder nicht zugehört, oder Sie konnten mir nicht folgen. ({0}) Ich habe gesagt, dass durch CCS die Wirkungsgrade sinken. Wenn Sie einen Gesetzentwurf zu den elektrischen Wirkungsgraden beim Thema Kohle vorlegen, ist es natürlich notwendig, dass man auf dieses Thema eingeht. Dann muss man auch formulieren, was man machen würde, wenn CCS relevant würde. Wir alle wissen nicht, ob diese Technologie aufgrund ökonomischer oder technischer Fragen überhaupt einmal zum Tragen kommt. Was die Machbarkeit angeht, bin ich absolut ehrlich. Aber man muss so etwas natürlich berücksichtigen, und man kann nicht sagen, was Sie machen: Bei dieser Gelegenheit kann man eine neue Technologie verhindern, nämlich CCS; das ist dann auch gleich vom Tisch. Das wäre Tabula rasa auf ganzer Linie. Das ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen sehr wohl die Option haben, Kohle klimaschonend zu nutzen. Warum wollen wir das? Auch das kann ich Ihnen sagen: Schlicht und einfach, weil Kohle in anderen Ländern weiterhin benutzt wird. Ich sehe uns in der Pflicht, die Technologien dafür zu liefern. Herr Kollege Fell, in Indien oder China wird man sich nicht nach den deutschen Grünen richten, überhaupt nicht. Ich sehe uns in der Pflicht, dass wir die entsprechenden Technologien schaffen und entwickeln. Das wollen wir tun. Deswegen ist eine technologiefreundliche, eine technologieoffene Energiepolitik das, was Sie von der neuen Regierung erwarten können. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Becker für die SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Krischer, Ihr Auftritt war in der Tat sehr dynamisch. Ich denke, der von Ihnen genannte Grund für Ihren Gesetzentwurf ist ein richtiger und wichtiger: die Effizienzsteigerung in der konventionellen Energiewirtschaft. Heute beziehen Sie sich auf den Bereich des Stroms. Ich will das auf andere Bereiche ausdehnen: auf den Wärmebereich, auf die Frage, wie wir künftig mit Öl umgehen, aber auch auf die effizientere Verwertung der Biomasse; auch darüber müssen wir in Zukunft diskutieren. Ich glaube, dass die Frage der Effizienzpotenziale die Debatte der nächsten Jahre bestimmen wird. Das ist eine wichtige Aufgabe. Wir liegen hinter dem zurück, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf konzentrieren Sie sich auf den Bereich der Stromversorgung. Ich sage: Ja, es ist so, dass die Kohleverstromung - das gilt insbesondere für Braunkohle - sehr CO2-intensiv ist. Von daher ist die Frage, wie lange und wie wir Kohleverstromung betreiben, nicht nur von der Ressourcenverfügbarkeit abhängig, sondern auch von der Verantwortung für das Klima. Da sind wir eng beieinander. Wir haben ja, weil wir da beieinander und weil wir gemeinsam gegen die Kernenergie sind, unter Rot-Grün beschlossen, eine energiepolitische Wende, eine ökologische Energiewende mit dem EEG einzuleiten. Das ist aus dem Parlament, aus diesen Fraktionen gekommen. Anders als Sie - auch in Zeiten der Großen Koalition befürchtet haben, ist dieses EEG nicht nur geschützt, sondern sogar weiterentwickelt worden. So stehen wir heute vor einer Prognose des Bundesverbandes Erneuerbare Energie, der sagt: Wir können 47 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien bis 2020 schaffen. Ich sage an dieser Stelle: Wir sind froh und stolz darauf, dass wir das mit unserer Politik möglich gemacht haben. ({0}) Aber so sehr wir uns über diese positiven Aspekte freuen, bleibt die Frage nach dem Rest. Daran entfacht sich immer wieder der politische Streit. Wir bleiben dabei: Kernenergie ist nicht unsere Lösung zur Deckung dieses Rests. Wir halten Kernenergie nach wie vor für eine Risikotechnologie und schließen sie damit aus. Wenn man das aber so wie Sie macht, bleiben nur Kohle und Gas. Die Frage ist zu stellen, wie wir den restlichen Strombedarf so effizient und so verträglich wie möglich und entsprechend der Versorgungssicherheit zur Verfügung stellen können. Dies darf nicht passieren - da bin ich bei Ihnen -, indem alte ineffiziente Anlagen einfach weiterlaufen. Wir müssen alte Anlagen entweder modernisieren, wenn es möglich ist, oder gegebenenfalls durch neue effiziente Anlagen ersetzen. Zu dieser Aussage stehen wir; dazu haben wir auch in der Vergangenheit Stellung bezogen. Frau Vogt hat es gesagt: Ja, wir bekennen uns gerade mit Blick auf Altanlagen zum Ordnungsrecht. Wir halten das Ordnungsrecht für ein Instrument in Ergänzung zum Zertifikatehandel. Wir gehen aber ein Stück weiter. Wir halten es durchaus für möglich, dass man für diese Erneuerung des Kraftwerkeparks unter gewissen Bedingungen eine finanzielle Förderung zur Verfügung stellt. Sie haben ja das Thema Kraft-Wärme-Kopplung angesprochen. Wenn wir hohe Effizienzgrade erreichen wollen, wenn wir einen Vorrang der Kraft-Wärme-Kopplung sicherstellen wollen und wenn wir insbesondere für dezentrale Strukturen neue Kraftwerkstechnologien zur Verfügung stellen wollen, müssen wir schauen, wie wir das fördern können. Wir haben über das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz in der Großen Koalition einen ersten Anreiz gesetzt. Wir haben durch die Förderung des Neubaus und des Leitungszubaus erste Impulse gesetzt, die diesen Ausbau voranbringen sollen. An dieser Stelle haben Sie, genau wie Frau Löhrmann in Nordrhein-Westfalen, gesagt, dass Sie den massiven Ausbau der Kraft-WärmeKopplung wollen. Der Gesetzentwurf, den Sie hier vorlegen, verhindert diesen Ausbau. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer?

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie haben eben richtigerweise gesagt, das Erneuerbare-Energien-Gesetz habe eine Dynamik ausgelöst, die von uns allen nicht erwartet worden sei. Sie haben sogar die Zahl 47 Prozent in 2020 genannt. Das ist ja weit mehr, als die Große Koalition verabredet hat. Wenn ich 25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung obendrauf rechne und 11 Prozent Einsparung, dann bin ich bei einer Größenordnung von 75 Prozent. Dieser Strombedarf kann durch erneuerbare Energien, Kraft-WärmeKopplung und Einsparung gedeckt werden. Bitte erklären Sie mir - wir haben ja auch noch Kraftwerke, die in jedem Fall weiterlaufen werden, Gaskraftwerke und Kohlekraftwerke, die niemand stilllegen will und die 2020 noch laufen werden -, warum auch nur ein einziges neues Kohlekraftwerk notwendig sein sollte.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Krischer, ich habe Ihnen gerade die Zahlen genannt. Wir haben heute einen Bestand - ich nenne KraftWärme-Kopplung, weil ich da auch gleich ansetzen werde - von knapp 12 bzw. 13 Prozent. Wir werden nach heutigem Stand nicht mehr bekommen, durch Ihren Gesetzentwurf erst recht nicht. Darauf werde ich jetzt eingehen. Hätten Sie einen Moment gewartet, wäre die Frage möglicherweise schon beantwortet gewesen. Sie haben diesen Gesetzentwurf mit dem Verweis auf Effizienz eingebracht. Ich will Ihnen ein klassisches Beispiel vorrechnen. Nach diesem Gesetzentwurf ist es möglich, ein schlichtes Gaskraftwerk zu errichten, das einen Wirkungsgrad von 58 Prozent hat. Dieses Kraftwerk produziert Strom, keine Wärme; die Wärme geht in die Umwelt und bleibt ungenutzt. Demgegenüber hat eine Anlage mit Kraft-Wärme-Kopplung - ich nehme das Beispiel Kohle - je nach Größe 63, 64, vielleicht sogar einen Wirkungsgrad von 65 Prozent. Das heißt, diese Anlage hat eine höhere Effizienz. Die Wärme gelangt nicht in die Umwelt, sondern dient zum Beheizen von Wohnungen oder fließt in industrielle Prozesse. Sie wird also sinnvoll genutzt, und der Effizienzgrad ist höher. Eine solche Anlage schließen Sie aber aus. ({0}) Was hat das mit Effizienzsteigerung zu tun? ({1}) Es ist einfach so, dass Sie einen Grundsatzbeschluss fassen wollen. Ihren Anspruch, die Effizienz im Blick zu haben, verlieren Sie in Ihrem Gesetzentwurf aber leider aus den Augen. ({2}) Ich möchte auf eine weitere Fragestellung zu sprechen kommen. Ich glaube, dass das, was Sie in Ihrem Antrag zum Thema Emissionshandel schreiben, problematisch ist. Zurzeit finden die Klimaverhandlungen in Kopenhagen statt. Ich dachte immer, uns eint das Ziel, dass wir einen globalen Emissionshandel wollen. Bisher zumindest war das so. In Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie allerdings, dass der Emissionshandel als Lenkungsinstrument versagt hat. Ich frage mich ernsthaft: Ist es gut, diese Botschaft nach Kopenhagen zu senden? ({3}) - Im Gesetzentwurf der Grünen. - Ich muss Ihnen sagen: Ich halte diese Aussage für gefährlich und verkürzt. Ich will zwei Aspekte voneinander trennen: Erstens. Herr Kauch hat zu Recht darauf hingewiesen, dass mit Blick auf die Neubauten im Kraftwerksbereich sehr wohl eine Lenkungswirkung des Emissionshandels zu erkennen ist. Es ist nicht richtig, wenn Kraftwerksbetreiber heute sagen: Wir haben die Planung eingestellt, weil es uns an politischer Unterstützung fehlt. - Es ist in der Tat so, dass manche Anlagen wirtschaftlich nicht mehr darstellbar sind. Das ist ein Effekt des Emissionshandels. Somit beginnt er zu wirken. Das Zweite - hier haben Sie recht - ist, dass eine solche Wirkung mit Blick auf Altanlagen nicht festzustellen ist. Darum habe ich eingangs gesagt: Der Emissionshandel ist um ordnungsrechtliche Maßnahmen zu ergänzen. Als letzten Punkt habe ich eine Bitte, was den Emissionshandel grundsätzlich angeht. Das, was Sie wollen, verstehe ich. Vieles von dem, was Sie wollen, kann ich auch nachvollziehen. Wir sollten aber, bitte schön, ehrlich sein, wenn wir den Menschen den Emissionshandel erklären; Herr Kauch hat darauf bereits hingewiesen. Es wird immer wieder so getan, als ginge der Bau neuer Kraftwerke automatisch mit neuen, mit zusätzlichen Emissionen einher. ({4}) So ist es nicht. Es gibt die PEPP, und es gibt ein Budget. Sie hingegen erwecken ständig einen anderen Eindruck, weil dies Ihrer politischen Ausrichtung entgegenkommt. ({5}) - Sie brauchen gar nicht darum herumzureden. Ich erkläre Ihnen ganz einfach, worum es geht: Stellen Sie sich vor, in den Tank eines Autos passen 50 Liter. Es ist egal, wie viele Familienmitglieder mit diesem Auto fahren, ob eine Person oder 30 Personen. Wenn die 50 Liter verbraucht sind, ist die Reise zu Ende. ({6}) So funktioniert der Emissionshandel. Das ist ganz einfach zu erklären. ({7}) Hören Sie auf, den Menschen zu sagen, dass sich der CO2-Ausstoß durch den Bau zusätzlicher Kraftwerke insgesamt erhöht. Das ist falsch. Wenn Sie dies bestreiten, haben Sie wirklich nicht verstanden, wie der Emissionshandel funktioniert. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Erste, was mich an diesem Gesetzentwurf ärgert, ist, dass Sie das komplexe Thema der ökologischen Energiepolitik mit einfachen Schwarz-WeißMitteln wie der Steigerung der Effizienzgrade von Kohlekraftwerken behandeln. ({0}) Manche Kollegen in diesem Hause haben noch nicht verstanden, ({1}) dass es in Ihrem Gesetzentwurf nicht um die Steigerung der Effizienz geht, sondern - in der letzten Wahlperiode haben Sie sogar einen Antrag mit diesem Titel eingebracht - um die Verhinderung moderner Kohlekraftwerke. ({2}) Wenn moderne Kohlekraftwerke verhindert werden, dann bedeutet dies mittelfristig nicht, dass Umweltpolitik und Klimapolitik besser werden. Es bedeutet nur, dass wir in Deutschland zunächst einmal eine Versorgungslücke haben werden. ({3}) Die Deutsche Energie-Agentur - sie ist nicht verdächtig, überzogene Vorstellungen vom zukünftigen Stromverbrauch zu haben - hat festgestellt, dass wir bis zum Jahr 2020 15 neue Großkraftwerke brauchen, um den bundesweiten Bedarf decken zu können. Wie wollen wir das schaffen, wenn wir keine neuen, modernen Kohlekraftwerke bauen? Ganz einfach: Wir werden zunächst einmal alte Anlagen weiterbetreiben müssen. Das Kraftwerk in Grevenbroich, das als Beispiel genannt worden ist, wird auch mit einem geringeren Effizienzgrad weiterbetrieben werden. Das ist kein Beitrag zum Klimaschutz. ({4}) Wir werden auch andere konventionelle Energien, aus deren Nutzung wir alle aussteigen wollen, weiter nutzen müssen. Es geht nicht anders; denn wir haben eine Versorgungslücke. Wer diese Lücke nicht schließen will, muss in letzter Konsequenz akzeptieren, dass wir uns vom Ausland abhängig machen. Die „lupenreinen Demokraten“ haben sich aber schon in der Vergangenheit, was den Rohstoffhandel betrifft, nicht unbedingt als solche erwiesen. Gerade von ihnen möchte ich Deutschland nicht abhängig machen. ({5}) Was bedeutet dieser Gesetzentwurf für den Forschungs- und Technologiestandort Deutschland? Wir haben vorhin vom CCS-Verfahren gehört. CCS heißt, dass das CO2 am Ort des Entstehens abgeschieden wird und nicht in die Atmosphäre gelangt. Das ist aber verbunden mit 5 bis 10 Prozent weniger Effizienz. ({6}) - Eben, wir haben diese Technologie noch nicht; deswegen müssen wir forschen und herausfinden, ob sie eine Alternative ist. ({7}) Wenn die Genehmigungsverfahren jedoch ausschließlich oder hauptsächlich von der Effizienz des Kraftwerks abhängig gemacht werden, wird in diesem Bereich in Deutschland keine Forschung und Entwicklung stattfinden. Dabei betonen gerade Sie immer, wie wichtig Forschung und Entwicklung sei. Wer unseren Forschungsstandort erhalten will, darf Ihren Gesetzentwurf nicht unterstützen. ({8}) Die Politik der Grünen in diesem Bereich ist aus meiner Sicht eine sehr dogmatische Politik: Kohlekraftwerke sind böse. ({9}) Was passiert, wenn man an einer Schwarz-Weiß-Denke festhält, kann man in Tübingen sehen: In Tübingen ist - auch mithilfe von Grünen-Mitgliedern dieses Hauses ein Gaskraftwerk mit einem hohen Effizienzgrad verhindert worden. Der grüne Tübinger Oberbürgermeister wurde dazu gezwungen, um die Versorgung zu decken, in ein Kohlekraftwerk zu investieren. ({10}) Etwas zu verhindern, einfach nur um recht zu behalten, das ist nicht die Politik, die wir verfolgen wollen. ({11}) Wir Liberale als grüne, das heißt ökonomisch und ökologisch denkende Menschen können diesen Gesetzentwurf deswegen nicht mittragen. Vielen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Skudelny, das war Ihre erste Rede hier im Haus. Wir gratulieren Ihnen sehr herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre Arbeit. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letztem Redner der Debatte bleibt mir nur noch, zusammenzufassen und das Fazit zu ziehen. Wir haben alle schon festgestellt: Mit ihrem Gesetzentwurf mit den Mindestwirkungsgraden geht es den Grünen darum, mit dem Ausstieg aus der Kohleverstromung zu beginnen. Dieser Antrag ist ein Gesetzentwurf anti Kohle und pro Gas. Das ist vielleicht aus der Sicht der Grünen ein hehres Ziel. Sie haben dabei aber wie immer einige Sachen aus den Augen verloren. Als Techniker sage ich Ihnen: Sie haben die Physik aus den Augen verloren; denn das, was Sie wollen, ist nicht machbar. Sie haben aber, wie wir heute feststellen konnten, nicht nur die Machbarkeit aus den Augen verloren, sondern auch die globalen Realitäten, die man beachten muss. Wenn es heißt, dass in China jeden zweiten Tag ein neues Kohlekraftwerk ans Netz geht, dann frage ich mich: Was hat das mit Klimaschutz zu tun? ({0}) Wenn Sie etwas verändern wollen, wenn Sie etwas verbessern wollen, wenn Sie etwas erreichen wollen, dann müssen Sie die Realitäten akzeptieren. Sie müssen sich von Ihrer Ideologie befreien. Sie müssen an Ihrer Vision konstruktiv arbeiten. ({1}) Visionen sind ja gut. Aber Tagträumereien, Herr Krischer, bringen uns nicht weiter. Das Ziel, höhere Wirkungsgrade zu erreichen, tragen wir mit. Durch den Neubau von Kohlekraftwerken können wir alte Anlagen abschalten. Damit haben wir in Deutschland - das ist schon jetzt Realität - den Wirkungsgrad im Durchschnitt auf insgesamt 40 Prozent angehoben. Das ist in Ordnung. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Aber Sie müssen die Realitäten im Auge behalten. ({2}) Ihr Ziel ist in Wirklichkeit nicht die Erhöhung des Wirkungsgrades und dadurch eine Verringerung der CO2-Emissionen, sondern Sie wollen vorhandene Anlagen bis zum Jahre 2015 abschalten. ({3}) Sie wollen verhindern, dass neue Anlagen gebaut werden. Frau Menzner, das ist übrigens wie in der DDR. Da der Bau von Neuanlagen verhindert wurde, blieben Anlagen mit einem Wirkungsgrad von circa 27 oder 28 Prozent in Betrieb. Diese haben dann wirklich die Luft verpestet. Das wollen wir nicht. Wir wollen neue Anlagen und dadurch nach und nach einen höheren Wirkungsgrad erreichen. ({4}) Sie müssen klar sagen, ob Sie sich von der CCS-Technologie komplett verabschieden wollen. Damit werden Sie aber die Forschung in Deutschland verhindern. Sie werden damit auch die Vorreiterrolle und letztendlich den Export solcher Anlagen unterbinden. Kommen wir jetzt zu den Wirkungsgraden. Sie fordern einen Wirkungsgrad von 58 Prozent für Neuanlagen. Das ist für Kohle kaum erreichbar. Das ist Materialwirtschaft. Jede Erhöhung des Wirkungsgrades um zwei Punkte setzt eine Forschungszeit von ungefähr 10 bis 15 Jahren voraus. Also schaffen Sie es innerhalb dieser kurzen Zeit gar nicht, von 40, 43 oder maximal 45 Prozent auf 58 Prozent Wirkungsgrad zu kommen. Das ist nicht möglich. Bei der Kohle ist dieser Wirkungsgrad nicht erreichbar, aber beim Gas kann das erreicht werden. Bei Gasanlagen sind schon jetzt 58 Prozent Wirkungsgrad Stand der Technik. Dieses Ziel ist gar nicht mehr ambitioniert. Ihr Gesetzentwurf ist für mich eine Aufforderung, verstärkt auf Gas zu setzen. Wie kommen wir dazu, russisches Gas zu fördern? Wenn Sie aus der Kernenergie aussteigen und Kohlekraftwerke verbieten wollen, dann brauchen Sie 445 Terawattstunden Strom aus Erdgas. ({5}) - Das brauchen Sie. Das ist die Hälfte des Gesamtverbrauchs in Deutschland. Was bedeutet das? ({6}) Das bedeutet, Herr Krischer: Abhängigkeit von russischem Gas. Das bedeutet: Versorgungssicherheit wird verschlechtert. Das bedeutet: Es freut sich Russland, und vielleicht freuen sich auch Fischer und Schröder, aber nicht die deutsche Industrie und der deutsche Steuerzahler. Deswegen können wir das nicht machen. ({7}) Dann haben wir auch festgestellt - das hat Herr Kauch wunderbar herausgearbeitet -: Russland wird natürlich alles verfügbare Gas schön teuer an Europa verkaufen und im Inland Kohleverstromung betreiben. Diese Kohlekraftwerke haben, wenn sie gut sind, im Schnitt einen Wirkungsgrad von 34 Prozent. Jetzt erklären Sie mir bitte, was das mit Klima- und Umweltschutz zu tun hat. Überhaupt nichts! ({8}) Wir lassen keine Deindustrialisierung zu. Klimaschutz wirkt nur global. Mindestwirkungsgrade wirken nur global. Auch die CCS-Technologie wirkt nur global. Gleiches gilt für den Emissionshandel. Deswegen muss das alles gesamtheitlich betrachtet werden. Was können wir tun? Wir wollen natürlich eine Antwort geben. Erstens - da lohnt sich ein Blick in unseren hervorragenden Koalitionsvertrag -: ({9}) „ideologiefreie, technologieoffene und marktorientierte Energiepolitik“, ({10}) und zwar für Strom, Wärme und Mobilität. Das müssen Sie alles im Auge behalten. Dann wird das auch was mit dem Klimaschutz. ({11}) Zweitens. Wir wollen die erneuerbaren Energien konsequent ausbauen - das ist gar keine Frage, auch das steht im Koalitionsvertrag - mit dem Ziel, dass die erneuerbaren Energien den Hauptanteil an der Energieversorgung übernehmen. Aber dazu brauchen wir einen Energiemix, der kontinuierlich, lieber Herr Fell, und nicht mit der Holzhammermethode die konventionellen Energien langsam ablösen kann. Die Betonung liegt auf „kann“. Dass wir das wollen, ist klar. Aber das muss auch machbar sein. Drittens. Wir müssen das Energiesystem umbauen, und zwar mit Sinn, Verstand und Beharrlichkeit. Deswegen werden wir ein Energiekonzept im nächsten Jahr vorlegen, aus dem hervorgeht, wie die Energie bezahlbar, zuverlässig und sauber ist. ({12}) Wir werden mit diesem Koalitionsvertrag die Vorreiterrolle in Deutschland übernehmen. Wir brauchen ambitionierte Ziele. Dazu sagen wir Ja. Aber zu Verboten - das sage ich bei fast jeder Rede, wenn es um Ihre Vorlagen geht - und zu Unmöglichem sagen wir Nein. Mit Totschlagargumenten und mit der Holzhammermethode werden Sie kläglich scheitern. Das ist nicht unser Weg. Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/156 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung aufgeführt finden. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen - Drucksache 17/242 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Verteidigungsausschuss Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Als Erstes gebe ich der Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir hätten uns keinen besseren Tag aussuchen können, um diese Debatte zu führen; ({0}) denn gerade gestern ist bekannt geworden, dass die Präsidenten von Russland und den USA vor dem direkt bevorstehenden Abschluss der START-Verhandlungen verabredet haben, weitere Verhandlungen über die Abrüstung nuklearer Waffen zu führen, wobei insbesondere auch die taktischen Nuklearwaffen ins Visier geraten werden. Ich denke, dadurch wird unsere Diskussion hier auch noch einmal beflügelt. In der letzten Sitzungswoche haben wir über zwei Anträge mit diesem Schwerpunkt diskutiert. Unser Antrag, den ich damals schon angekündigt habe, ist ein bisschen breiter angelegt. Ich hoffe, dass unsere Diskussionen in den Ausschüssen dazu führen werden, dass wir in diesem Hause einen ganz breiten Konsens über unsere Forderungen in dem Bereich der nuklearen Abrüstung erreichen können. Dies würde ganz besonders wichtig sein, um die NPT Review Conference, also die im Mai 2010 stattfindende Konferenz zur Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrages, zu unterstützen, damit dort nicht dasselbe passiert wie im Jahre 2005, als es zu keinem Ergebnis gekommen und das ganze Gefüge des Nichtverbreitungsvertrages in Gefahr geraten ist. Ich glaube, die Chancen sind im Moment nicht nur deshalb gut, weil sich die beiden Staatsmänner der Supermächte entschlossen haben, diesen Weg weiterzugehen, sondern auch, weil in den letzten Jahren eine Atmosphäre entstanden ist, in der sich sehr viele Staatsmänner im Viererpack zu Wort gemeldet haben. Dies fing 2007 mit George Shultz, William Perry, Sam Nunn und Henry Kissinger an. Ganz viele andere sind ihnen gefolgt. Die Letzten waren gerade die Niederlande. Vorher waren es auch Großbritannien, Frankreich, Norwegen, Polen und Italien, die übrigens wieder einmal unbedingt mehr als vier haben mussten, aber das verwundert nicht. Natürlich war auch Deutschland dabei. Für Russland gilt das leider noch nicht, aber vielleicht kommt das noch. Im September 2009 hat der UN-Sicherheitsrat einstimmig eine Resolution verfasst und beschlossen, mit der er für eine atomwaffenfreie Welt plädiert. Alle Mächte, die offiziell über Nuklearwaffen verfügen, waren dabei - und auch Indien. Ich denke, auch das ist etUta Zapf was, was man immer wieder ansprechen muss, wenn es um weitere Prozesse der nuklearen Abrüstung geht. Anfang Dezember 2009 hat die Generalversammlung der UNO eine Resolution zur Abschaffung von Nuklearwaffen mit 171 Ja-Stimmen angenommen. Es freut mich sehr, dass Deutschland diese Resolution mit eingebracht hat. Ich denke, dass das uns als Parlament und auch der Regierung eine gewisse Verpflichtung auferlegt. Vor einigen Tagen ist der Bericht der Internationalen Kommission für Nichtverbreitung und Abrüstung mit der Unterstützung Australiens und Japans erschienen. Vorsitzende der Kommission sind der hochrenommierte Gareth Evans, der sicherlich jedem in diesem Hause bekannt ist, und Yoriko Kawaguchi. Interessant fand ich, dass der ehemalige General Naumann der Kommission angehört, der bislang etwas andere Ansichten in der Öffentlichkeit vertreten hat. Aber auch das lässt hoffen, dass es entsprechende mentale Entwicklungen gibt. Zuvor gab es schon andere Kommissionsberichte wie den Bericht der Blix-Kommission „Weapons of Terror“. Diese 300 Seiten sollte jeder, der in diesem Bereich Verantwortung trägt, sorgfältig lesen, auch wenn ich einiges daran zu kritisieren habe. Ich glaube, auch das müssen wir diskutieren. Ein Kritikpunkt ist, dass dieser Bericht einen zu langen Zeitraum bis zur endgültigen Abrüstung der Nuklearwaffen vorsieht. Ich glaube, wir sollten nicht so lange warten. Wir sollten schneller voranschreiten; denn man kann nur dann glaubwürdig auf Nonproliferation drängen, wenn die Abrüstungsbemühungen derjenigen, die im Besitz von Atomwaffen sind, auch ernsthaft sind. ({1}) Ein weiterer Punkt, den ich an dem Bericht zu bemängeln habe, ist, dass der Entwurf der Nuklearwaffenkonvention, die seit Jahren in der Generalversammlung der UNO beraten und auch von Ban Ki-moon stark unterstützt und eingefordert wird, erst nach der Abrüstungsphase, wenn ein Minimalbestand an Nuklearwaffen erreicht ist, Verhandlungen vorsieht. Ich glaube, dass ein paralleler Prozess notwendig ist, weil dies signalisiert, dass wir uns bei Atomwaffen genauso wie bei chemischen Waffen auf eine vertraglich bindende feste Grundlage stellen wollen. Das wäre ein Signal an andere Nationen, die möglicherweise Hintergedanken hinsichtlich eigener nuklearer Bewaffnung haben. Ich denke, wir müssen uns jetzt an die Arbeit machen und darüber nachdenken, wie wir als Parlamentarier und wie die Regierung die Verantwortung für das Gelingen der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag wahrnehmen können. Ich appelliere dabei auch an unsere Regierung, zu den 13 Schritten zurückzukehren, die im Jahr 2000 vereinbart worden sind. Unser Antrag stützt sich auf diese 13 Schritte, auch wenn sich nicht alle darin wiederfinden. Wir können aber noch über Details diskutieren. Wir sollten unsere Regierung unterstützen, in diesem Sinne an den Verhandlungen teilzunehmen, um die Nonproliferation und die Abrüstung zu unterstützen. ({2}) Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen. Wenn wir erreichen wollen - ich hatte in der letzten Debatte den Eindruck, dass wir alle in diesem Hause dies wollen -, dass es nukleare Abrüstung auf null gibt und dass die Nuklearwaffen aus Europa verschwinden, dann müssen wir zwingend über Strategien reden, und zwar nicht nur über die russische und die amerikanische Strategie. Wir müssen auch im Zuge des strategischen Konzepts der NATO auf eine Minimierung der Rolle von Nuklearwaffen, ja möglicherweise auf einen völligen Verzicht auf diese Kategorie drängen. Was in den letzten zwei Jahren aus den NATO-Gremien und was vom letzten NATO-Gipfel in Kehl zu hören war, deutet aber nicht darauf hin, dass die Rolle der Nuklearwaffen in der Diskussion tatsächlich herabgestuft werden soll. Ich denke, das liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Staates, der der NATO angehört. Ich wünsche mir, dass nicht nur die neue Nuclear Posture Review der USA mit einer minimierten Rolle der Nuklearwaffen das Licht der Welt erblickt, sondern dass sich auch unsere Regierung und andere Regierungen Europas dafür einsetzen, dass im Zuge der Beratungen über eine neue NATO-Strategie die Rolle der Nuklearwaffen zumindest stark minimiert, wenn nicht gar eliminiert wird. Ich erinnere daran, dass wir uns alle - oder fast alle - gewünscht haben, dass eine No-first-use-Strategie in der NATO-Strategie festgeschrieben wird. Vielleicht können wir das gemeinsam erreichen. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nächster Redner ist der Kollege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Zapf, Sie haben Ihre Rede genauso sachlich vorgetragen, wie der Antrag Ihrer Fraktion formuliert ist. Das ist genau das, worum es in der Sicherheitspolitik geht, nämlich dass wir darüber hier im Hause sachlich diskutieren und eine gewisse Einigkeit in den Grundzügen entwickeln. Ich darf sagen, dass wir das auch unseren Soldaten im Einsatz schuldig sind, die es zurzeit wirklich nicht einfach haben. Heute geht es um die nukleare Abrüstung. Wir setzen darauf. Viele leben hier nach dem Prinzip Hoffnung. Wir setzen auf Fakten. Im Koalitionsvertrag fordern wir einen schrittweisen und beherzten Ansatz. Über welche Reduzierungsinstrumente verfügen wir eigentlich? Da hilft ein Blick in den Nichtverbreitungsvertrag; den wollen wir stärken. Im Mai nächsten Jahres beginnt die Überprüfungskonferenz. Sie bietet eine Chance, die wir nur alle fünf Jahre haben. Unser Land hat bereits 1969 den Atomwaffensperrvertrag ratifiziert. Aber es gibt Staaten, die ihn sichtbar verletzten oder ihm erst gar nicht beigetreten sind. Doch wo Schatten ist, brennt auch Licht; Frau Zapf ist darauf eingegangen. Auf strategischer Ebene haben die Verhandlungen über ein START-Folgeabkommen zwischen Russland und den USA begonnen, ein willkommener Fortschritt für die internationale Abrüstung. Das heißt, es wird endlich wieder über Abrüstung bei den strategischen Nuklearwaffen verhandelt. Wir werden zu einem Ergebnis kommen. Es gibt jedoch auch Nuklearwaffen bei einigen Staaten der Welt, die sich dem Nichtverbreitungsvertrag verweigern oder ihn sogar bewusst verletzen. Es ist zu befürchten, dass der eine oder andere Staat Atomwaffen herstellen kann, möglicherweise bald auch der Iran. Wir wollen eine wirksame Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages ab Mai 2010. Wir wollen uns hier konstruktiv einbringen. Das dient nicht zuletzt unseren sicherheitspolitischen Interessen. Bei unserem schrittweisen Ansatz geht es uns auch um die in Deutschland stationierten Atomwaffen. Genauso wie beim STARTNachfolgevertrag sollten wir hier rasch Abrüstungsvereinbarungen anstreben. Bei START ist das Ziel, die Anzahl nuklearer Sprengköpfe auf 1 500 zu reduzieren. Diese Zahl kann aber nur ein Zwischenschritt sein. Dafür sollten wir Deutsche uns in der NATO und gegebenenfalls auch im NATO-Russland-Rat einsetzen. Eine deutliche Reduzierung, zu der wir uns im Koalitionsvertrag bekennen, sieht anders aus. Sie muss weiter gehen. Dafür werden wir uns nachdrücklich einsetzen. Wir wissen aber, dass es noch ganz viel zu tun gibt. Die wenigen verbliebenen US-Atomwaffen in Europa sind bislang als Beitrag zu Rückversicherung und Solidarität beibehalten worden. Deren Zahl muss weiter reduziert werden, und die Atomwaffen müssen nicht nur in Deutschland ganz beseitigt werden, ({0}) und das im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen. Wir sollten uns diesbezüglich auch bei der Überarbeitung des strategischen Konzepts der NATO im nächsten Jahr intensiv einbringen. ({1}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist überzeugt: Wir werden gemeinsam mit unseren Bündnispartnern unser Ziel erreichen. Wir müssen auch hier im Hause Konsens herstellen. Zur Fortsetzung dieses Prozesses schlage ich folgende fünf Schritte vor, die ein Abrüstungsplan enthalten sollte: Erster Schritt: Analyse der sicherheitspolitischen Herausforderungen mit Blick auf Terrorismus, nukleare Aufrüstung und die Folgen unkontrollierter Verbreitung. Es gilt der Grundsatz: je weniger Nuklearwaffen, desto geringer die Gefahr, dass Nuklearmaterial in terroristische Hände fällt. Wie ist unser Vorgehen gegenüber Staaten, die den Nichtverbreitungsvertrag nicht akzeptieren? Was ist zum Beispiel, wenn sich der Iran nuklear bewaffnet? Zweiter Schritt: eine umfassende Abstimmung über unsere Sicherheitsinteressen auch im Bündnis. Das bezieht die Frage der transatlantischen Abstimmung ein. Bisher haben hier die in Europa stationierten USNuklearwaffen eine entscheidende Rolle gespielt. Welches sind also unsere sicherheitspolitischen Interessen, und wie vertreten und begleiten wir sie vor allem glaubwürdig? Dritter Schritt: Schaffung einer gesamteuropäischen Abrüstungsperspektive sowohl für nukleare als auch für konventionelle Waffen. Deshalb sollten wir mit Russland über den KSE-Vertrag, also den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, pragmatisch zusammenkommen. ({2}) Hierzu bieten sich Gespräche im NATO- und OSZERahmen an. Wir berücksichtigen zugleich - das ist uns ganz wichtig - die Sicherheitsbedürfnisse unserer östlichen Partner wie Polen oder die baltischen Staaten. Vierter Schritt, Schaffen von Anreizen für Abrüstung und nicht von Misstrauen, das zu neuer Aufrüstung führt. Abrüstung schafft freie Ressourcen, zum Beispiel für Bildung und Forschung. Außerdem sollten wir Hilfen für die Sicherung von Nukleararsenalen anbieten. Das ist in einigen Ländern ein herausragendes Problem. Fünfter und letzter Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung des langfristigen Ziels Global Zero, Festlegung einer möglichst geringen Anzahl von Kernwaffen als Restversicherung, das heißt zügiges Wegverhandeln der taktischen Atomwaffen in Europa, drastische Reduzierung der vorhandenen Atomwaffen weit unterhalb der jetzt zwischen den USA und Russland vorgesehenen Größe von 1 500. Dann irgendwann kann das GlobalZero-Ziel erreicht werden. Mit diesem pragmatischen und konstruktiven Vorschlag, mit diesen fünf Punkten, machen wir unsere, die deutschen Interessen klar, und - auch das gilt es festzuhalten - wir gehen keinen deutschen Sonderweg. Das hat uns in der Vergangenheit immer geschadet, wie auch der Kollege Dr. Lamers und die Kollegin Hoff in der letzten Sitzungswoche betonten. ({3}) Darum geht es in der Sicherheitspolitik: um Beharrlichkeit, Mut und Verlässlichkeit. Es gilt, das Entstehen neuer Atommächte zu verhindern und entschieden gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen vorzugehen. Dazu müssen wir hier im Parlament einen Konsens herbeiführen. Ich betone noch einmal: Visionen allein helfen nichts. Erst brauchen wir eine inhaltliche Diskussion mit allen Fakten. Dann können wir entscheiden. So sichern wir unseren Einfluss. Darum geht es doch für unser Land: um Einfluss und Glaubwürdigkeit. Dafür stehen wir. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion schlägt deshalb vor, den konstruktiven Antrag der SPD in die Ausschüsse zu überweisen. Lassen Sie mich kurz vor Weihnachten sagen: Es ist vielleicht leichter, Gewehre in Gitarren und Schwerter in Pflugscharen zu verwandeln als Atomwaffen in was auch immer. Lassen Sie uns über die gesegnete Weihnachtszeit darüber nachdenken und die fünf Punkte im neuen Jahr aufgreifen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wolfgang Gehrcke hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehrlich sagen: Ich habe mich über den Antrag der SPD gefreut. Das kommt bei mir sehr selten vor, was die Außenpolitik angeht. Über diesen Antrag habe ich mich gefreut, weil er einen Grundgedanken transportiert, nämlich dass Deutschland Zeichen setzen soll, was die atomare Abrüstung angeht. Das heißt, der Ball liegt in unserem Spielfeld, so notwendig internationale Verhandlungen über die Abrüstung auch sind. Ich habe mich an die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erinnert, die auch in der Sozialdemokratischen Partei einmal tief verankert war. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich Menschen in unserem Lande für die Vision einer atomwaffenfreien Welt engagieren. Sie zu verwirklichen, fängt damit an, dass Deutschland und Europa, zumindest Mitteleuropa, atomwaffenfrei gemacht werden. ({0}) Es ist allerhöchste Zeit. Ich habe die Hoffnung, dass jetzt ein politisches Zeitfenster geöffnet ist, was die Atomwaffen angeht. Man muss über sehr viele Fragen reden. Ich sage Ihnen aber auch: Wenn die Überprüfungskonferenz zum Nichtweiterverbreitungsvertrag scheitert, dann wird das ganze System der Kontrolle der atomaren Abrüstung zusammenbrechen. Deswegen können wir uns gar nicht leisten, diese Konferenz scheitern zu lassen. Ich möchte die Anregung geben, dass Abgeordnete aller Fraktionen des Deutschen Bundestags nach New York fahren, um dort das Eintreten des deutschen Parlaments für atomare Abrüstung deutlich zu machen. Ich würde das für ein gutes Zeichen der Ermunterung halten. ({1}) Schauen wir uns die Sachen im Einzelnen an. Ich habe mit großem Vergnügen die Rede des Staatsministers im Auswärtigen Amt, des Kollegen Hoyer, zum Thema Frieden gelesen, die er vor „Bürgermeistern für den Frieden“ - Mayors for Peace - gehalten hat und in der er davon spricht, dass atomare Rüstung heute nicht mehr Sicherheit bringt, sondern eine Belastung für die Sicherheit geworden ist. Das kann man wörtlich zitieren. ({2}) Er hat sehr vernünftige Ausführungen gemacht, warum Deutschland gut beraten ist, über diese Frage mit den USA zu reden. Ich frage Sie als Kollegen in diesem Parlament ehrlich: Wäre es nicht möglich, einen Antrag mit dem simplen Satz „Wir bitten die USA, wir bitten den amerikanischen Präsidenten, die verbliebenen Atomwaffen der USA aus Deutschland abzuziehen“ fraktionsübergreifend in allem Respekt zu beschließen? ({3}) Eine einfache Entscheidung löst nicht alle Probleme. Sie zeigt aber ein wenig den Weg auf, den man gehen könnte. Deshalb will ich Ihnen von meiner Seite aus einen Vorschlag bzw. eine Überlegung - Angebot hört sich immer so blöd an - nahebringen. Die drei Anträge der Oppositionsfraktionen, also der der Linken, der der Grünen und der der SPD, liegen nicht so weit auseinander. Sie haben zwar teilweise andere Begründungen und setzen unterschiedliche Schwerpunkte, es wäre aber überhaupt kein Problem, aus all dem eine kleine Synopse zu machen und einen gemeinsamen Antrag der drei Oppositionsfraktionen einzubringen. Ich bin überzeugt davon, dass die FDP, wenn sie das ernst nimmt, was Kollege Hoyer gesagt hat und was im Koalitionsvertrag steht, ({4}) dagegen nicht opponieren wird. Das heißt, wir könnten von unserem Parlament die Botschaft aussenden - daran bin ich sehr interessiert -, dass in der Frage der Atomwaffen etwas passiert. ({5}) Ich will auch sagen - das müssen meine Kollegen jetzt erst einmal verdauen -: Ich habe mit der NATO zwar nichts am Hut, wie Sie wissen - ich bin nie ein Freund der NATO gewesen, im Gegenteil; ich will das auch nicht umdeuten -; ich wäre aber sehr dafür, dass bei der nächsten NATO-Konferenz in Lissabon einige Fragen, die im Antrag der SPD angesprochen werden, ernsthaft verhandelt werden. Unabhängig von meiner Gegnerschaft zur NATO ({6}) möchte ich gerne, dass die nukleare Erstschlagsdoktrin der NATO aufgegeben wird. Ich möchte, dass die NATO-Staaten erklären, dass sie keine Atomwaffen gegen Staaten einsetzen werden, die ihrerseits nicht über Atomwaffen verfügen. Ich möchte auch, dass das deutliche Signal gesendet wird, dass die Nichtweiterverbreitung nicht aufrechtzuerhalten sein wird, wenn die Atomwaffenstaaten jetzt nicht atomar abrüsten. Technisch sind viele Länder dazu in der Lage, nach Massenvernichtungs- bzw. Atomwaffen zu greifen. Ich möchte, dass ein deutliches Signal gegen den Einsatz solcher Waffen gesendet wird. Überlegen Sie doch einmal, ob es nicht sinnvoll wäre, Ihre NATO-Freunde in diese Richtung zu beraten. Meine sind es ja nicht, sodass ich das nicht kann; aber ich kann zumindest diesen Rat geben. Schönen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Elke Hoff hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Gehrcke, ich freue mich, dass Sie wenigstens nicht in diesem Zusammenhang den Neoliberalismus als Wurzel allen Übels identifiziert haben. Das ist zum Ende des Jahres wirklich eine sehr versöhnliche Geste. Herzlichen Dank dafür! ({0}) Dass wir heute bereits zum zweiten Mal in diesem Monat über Fragen der nuklearen Abrüstung diskutieren, ist ein Zeichen für die Bedeutung, die Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung in den letzten Jahren erfahren haben. Ich glaube, wir alle, die wir als Kollegen in diesem Bereich tätig sind, können uns keinen schöneren Tag als heute wünschen, an dem es zum ersten Mal Anzeichen dafür gibt, dass es Russland und Amerika wohl schaffen werden, ein Nachfolgeabkommen zum START-1-Vertrag auf den Weg zu bringen. Das finde ich sehr gut. Das sollten wir begrüßen. Es gibt vor allen Dingen auch uns weitere Rückendeckung und weiteren Rückenwind für unsere Aktivitäten hier im Hause. ({1}) Wir alle können froh sein, dass das Thema der nuklearen Abrüstung dank des Engagements von vorausschauenden Staatsmännern wie Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker wieder auf die Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht worden ist. Zudem hat sich mit der Prager Rede von USPräsident Obama die historische Chance eröffnet, die globalen Abrüstungsbemühungen zaghaft wiederzubeleben und darüber hinaus beherzt den Weg in eine kernwaffenfreie Zukunft anzutreten. Die letzte Debatte hier im Hause hat gezeigt, dass wir als Parlamentarier über alle Fraktionsgrenzen hinweg der Überzeugung sind, dass diese Chance genutzt werden sollte. ({2}) Deutschland kann und muss hierzu seinen Beitrag leisten, indem in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten in der NATO dafür gesorgt wird, dass die letzten verbliebenen taktischen Atomwaffen auf deutschem Boden abgezogen werden. Ich rechne fest damit, dass wir im neuen Jahr einen interfraktionellen Antrag zur Abrüstung verabschieden werden. Der vorliegende Antrag der SPD-Kollegen bietet hierfür eine sehr gute Grundlage. Ich bin der Überzeugung, dass wir in den zuständigen Ausschüssen hierfür eine abstimmungsfähige gemeinsame Grundlage finden werden und damit das neue Jahr mit der nötigen Rückendeckung für unsere Bundesregierung beginnen können. ({3}) Die Verbreitung von Kernwaffen und die Stabilität des internationalen Staatensystems stehen in einem engen Zusammenhang. In den kommenden Monaten werden von der Weltgemeinschaft wichtige Weichenstellungen für die internationalen Bemühungen um nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung vorgenommen. Der Gipfel zur nuklearen Sicherheit ist hier zu nennen, der auf Initiative des amerikanischen Präsidenten im März 2010 zu Beratungen zusammenkommen wird. Ebenso besteht die Hoffnung, dass im Frühjahr die Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz über einen Vertrag über ein Verbot zur Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial endlich beginnen können. In beiden Fällen wird es darum gehen, die Proliferation von Nuklearmaterial und sensiblem Know-how in die falschen Hände, seien sie staatlich oder nichtstaatlich, zu verhindern. Im Rampenlicht steht aber die Überprüfungskonferenz zum Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im Mai nächsten Jahres. Ihr erfolgreicher Verlauf wäre ein erster Meilenstein auf dem Weg in eine kernwaffenfreie Zukunft. Hierfür muss es den Staaten, die den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet haben, gelingen, das Gleichgewicht zwischen den drei Säulen des Kooperationsregimes - Abrüstung, Nichtverbreitung und das Recht auf zivile Nutzung der Kernenergie - wieder herzustellen. Es muss verlorenes Vertrauen in den Nutzen und in die Effektivität des Vertrages wiederhergestellt werden, dessen Verlust in der gescheiterten Überprüfungskonferenz 2005 seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Wir können uns keinen weiteren Verfall des Vertrages leisten, wenn die Weiterverbreitung von Kernwaffen glaubwürdig verhindert und die Abrüstung weiter vorangebracht werden soll. ({4}) Es ist einerseits notwendig, die fünf Kernwaffenstaaten des Vertrages an ihre Abrüstungsverpflichtungen aus Art. VI des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu erinnern. Andererseits müssen die Vertragsstaaten die Verifikations- und Transparenzinstrumente des Vertrages weiter stärken. Regelbrecher und Proliferateure dürfen nicht das Gefühl haben, unentdeckt gegen die Normen und Prinzipien des Nichtverbreitungsvertrages verstoßen zu können. ({5}) Deshalb ist es so wichtig, die Universalisierung des Zusatzprotokolls zu erreichen, wodurch der Internationalen Atomenergiebehörde umfangreichere Inspektionsrechte eingeräumt werden. Zudem muss das Projekt einer Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufs vorangetrieben werden, um für die Zukunft verdeckte Proliferation im Rahmen ziviler Nuklearprogramme zu verhindern. ({6}) Die neue amerikanische Nuklearstrategie, welche Anfang 2010 vorgelegt werden wird, muss zudem zeigen, ob sie den politischen Leitlinien der US-Regierung in Fragen der Abrüstung und Nichtverbreitung gerecht werden kann. Viele Nichtkernwaffenstaaten werden gerade im Vorfeld der Überprüfungskonferenz auf den Nuclear Posture Review schauen und diesen als Gradmesser dafür ansehen, wie ernst es auch den Vereinigten Staaten mit ihren kurz- und mittelfristigen Abrüstungsbemühungen ist. Gleiches gilt für die Entscheidung des US-Senats über die amerikanische Ratifikation des Atomteststoppvertrages. Die Ratifikation des CTBT muss aber - nicht nur wegen der Vorbildfunktion für Staaten wie Indien gelingen, soll der Vertrag nicht für weitere Jahre auf Eis gelegt werden. Nicht zuletzt hängen zukünftige Erfolge bei der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung eng mit einer diplomatischen Lösung für die Konflikte um das iranische Nuklearprogramm und das nordkoreanische Kernwaffenprogramm zusammen. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass gerade mit dem Iran auf der Basis des jüngsten Vorschlags der IAEO zur Anreicherung von Uran für den Teheran-Forschungsreaktor im Ausland doch noch eine Verständigung - vielleicht in letzter Minute - zustande kommt. Denn ohne eine tragfähige Lösung dieser Proliferationsrisiken wird ein substanzieller Fortschritt bei der weltweiten Abrüstung kurz- bis mittelfristig kaum möglich sein. Abschließend bleibt festzuhalten: Die Herausforderungen sind vielfältig; die einzelnen Bereiche sind schwierig. Bundesaußenminister Westerwelle hat immer betont: Abrüstung ist möglich, und zwar jetzt. Das Schlüsselwort hierzu heißt „Zusammenarbeit“. Auch in diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein frohes Weihnachtsfest sowie ein gesundes und glückliches neues Jahr. Ich freue mich auf den gemeinsamen Antrag im Jahr 2010. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Agnes Malczak hat jetzt das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ein Gebot der Vernunft und zugleich unsere moralische Pflicht, alles in unseren Möglichkeiten Stehende dafür zu tun, die Bedrohung durch Atomwaffen überall auf der Welt und für immer zu beseitigen. ({0}) Deshalb unterstützen wir jede Initiative, die sich diesem Ziel verpflichtet, und sind gerne zu einem interfraktionellen Antrag bereit. Deutschland kann einen unverzichtbaren Beitrag zur Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt leisten. Dieser besteht in der Beendigung der nuklearen Teilhabe ({1}) und dem Abzug der verbliebenen US-Atomwaffen aus Büchel in Rheinland-Pfalz. ({2}) Was von einigen gerne als Utopie abgetan wurde, ist zu einer greifbar nahen Vision geworden. Nutzen wir die Gunst der Stunde, deutliche Zeichen für eine atomwaffenfreie Welt zu setzen! ({3}) Die beiden größten Atommächte sind schon dabei: Russland und die USA stehen in Verhandlungen zu einem neuen START-Vertrag und ziehen weitere Verträge in Erwägung. Bis zur Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai nächsten Jahres in New York öffnet sich ein einmaliges Zeitfenster, ({4}) um der Welt zu demonstrieren, wie nukleare Abrüstung funktioniert. Ich weise nochmals darauf hin, dass die USA eine Modernisierung der Atomwaffen beschlossen haben. Das kann gerade die in Deutschland gelagerten Waffen betreffen. Es geht nicht nur darum, dass die weltpolitische Chance auf Abrüstung so groß wie nie zuvor ist, sondern auch darum, dass aufgrund der Modernisierung Fakten geschaffen werden können, die den Abzug der US-Atomwaffen erst einmal unmöglich machen. So oder so: Jetzt ist das Zeitfenster gegeben, zu handeln. Lassen Sie diese Gelegenheit nicht verstreichen! Wir fordern daher Außenminister Westerwelle dazu auf - er hat sich immer zur Abrüstung bekannt -, seinen Worten Taten folgen zu lassen und einen konkreten Plan zum Abzug von Atomwaffen aus Deutschland vorzulegen. ({5}) Wenn wir Sie auffordern, den Abzug der in Büchel verbliebenen US-Atomwaffen einzuleiten, können Sie uns nicht, wie in der letzten Debatte, vorwerfen, wir propagierten einen deutschen Alleingang. Für Grüne war und ist Multilateralismus ein zentraler Wert. ({6}) Nukleare Abrüstung bedeutet keine Abkehr vom Prinzip der kollektiven Sicherheit. Sie richtet sich nicht gegen unsere Bündnispartner, sondern gegen den Wahnsinn eines Waffensystems, das eine Bedrohung für die eigene Sicherheit und die gesamte Menschheit darstellt. ({7}) Zwischen Abwarten, bis es zu spät ist, und deutschem Alleingang gibt es eine Alternative - sie ist der richtige Weg -: zu agieren für eine atomwaffenfreie Welt, einen aktiven Beitrag zu leisten und damit auch eine führende Rolle im Abrüstungsprozess wahrzunehmen. ({8}) Wenn es uns nicht gelingt, die Überprüfungskonferenz im Frühjahr zum Erfolg zu führen, ist nicht nur das Ziel Global Zero, sondern sind auch die bestehenden Errungenschaften des Nichtverbreitungsvertrages bedroht. Es gibt keine Alternative zur nuklearen Abrüstung; denn die neuen aufstrebenden Staaten werden sonst die bisherigen Privilegien der offiziellen Atommächte nicht länger akzeptieren. Entweder wir gehen alle gemeinsam einen Schritt vorwärts, oder wir laufen Gefahr, in einen Zustand permanenter Unsicherheit, wie es ihn in den 60er-Jahren gab, zurückgeworfen zu werden. Wer stehen bleibt oder auf der Stelle tritt, der wird sehen, wie schnell der Weg steiniger wird und bald komplett verstellt ist. Wer sich nur hinstellt und sagt, wie schön es doch wäre, wenn endlich etwas passieren würde, der wird am Ende kein Stück weiter sein. Daher appelliere ich dringend an die Bundesregierung: Überzeugen Sie nicht mit Worten, sondern mit Taten! Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Karl Lamers hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine atomwaffenfreie Welt ist unsere Vision, unser gemeinsames Ziel. Daran müssen wir hier im Hause alle miteinander weiterarbeiten. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, hat dieser Vision in seiner beeindruckenden Rede in Prag gewissermaßen neue Flügel verliehen. Die Koalition aus CDU/ CSU und FDP bekennt sich ausdrücklich zu diesem Ziel. Deutschland hat bereits vor Jahrzehnten auf Atomwaffen verzichtet. Dies möchte ich, Frau Höger, ganz besonders hervorheben. ({0}) Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen werden sich bei den Verbündeten in der NATO nachdrücklich dafür einsetzen, dass die letzten in Deutschland verbliebenen Atomwaffen in absehbarer Zeit abgezogen werden. ({1}) Dies ist eine klare Zusage von unserer Seite an das ganze Haus. Die SPD-Fraktion schreibt in ihrem Antrag, dass eine Welt frei von Atomwaffen erreichbar ist. Dieser Ansicht stimme ich gerne zu, allerdings unter der Voraussetzung, dass niemand auf der Welt Atomwaffen besitzt. Mich macht es ein wenig nachdenklich, dass im SPD-Antrag die Gefährdungen, die potenziell von Staaten wie dem Iran und Nordkorea ausgehen, nicht in dem Maße angesprochen werden, wie dies meines Erachtens notwendig wäre, ganz zu schweigen von der Gefahr, dass Terroristen in den Besitz von Atomwaffen oder nuklearem Material kommen. Es reicht nicht aus, auf die Bemühungen des früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier hinzuweisen. Wir brauchen in diesem Bereich tatsächliche Erfolge. ({2}) Solche kann ich gerade in diesen Tagen angesichts immer neuer Machtdemonstrationen des Iran in keiner Weise erkennen. Noch einmal: Visionen sind gut; aber Realitäten in dieser Welt zur Kenntnis zu nehmen, ist mindestens ebenso wichtig, vielleicht sogar lebenswichtig. Daher Ja zu Visionen, aber Nein zu Illusionen. ({3}) Der Iran lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er den nuklearen Brennstoffkreislauf schließen will und wird. Gleichzeitig verbittet sich dieser Staat jede ausländische Einflussnahme, und es ist kaum zu erwarten, dass sich der Iran an internationale Verpflichtungen hält, die auch für ihn gelten. ({4}) Deswegen: Wer eine atomwaffenfreie Welt anstrebt - das tun wir doch alle hier in diesem Hause -, muss vorher solche elementaren Probleme lösen. Dr. Karl A. Lamers ({5}) Die NATO war in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stets Garant unserer Sicherheit, lieber Herr Gehrcke. Ich möchte an dieser Stelle - ich hoffe, im Namen des ganzen Hauses ({6}) unseren Verbündeten und Freunden ausdrücklich dafür danken, dass sie stets an unserer Seite standen. ({7}) Die Strategie des Bündnisses war und ist es, jedem potenziellen Aggressor militärische Gegenmaßnahmen anzudrohen, wenn er die Souveränität der NATO-Staaten missachtet und die territoriale Integrität des Bündnisgebietes ignoriert. ({8}) Die Glaubwürdigkeit dieser Strategie, von der auch Sie, Herr Gehrcke, letztlich profitieren, gründet sich auf einen Mix aus konventioneller Stärke und nuklearer Abschreckungsfähigkeit. ({9}) Das seit 1999 gültige NATO-Strategiekonzept wird zurzeit einer Überarbeitung unterzogen. Im Konsens mit den Bündnispartnern werden wir im nächsten Jahr eine zeitgemäße Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen finden, die sich in der Zwischenzeit ergeben haben. Ich bin überzeugt, Frau Zapf, dass auch unser Bündnis auf die nukleare Abschreckung verzichten wird, wenn es uns gelungen ist, die offiziellen und inoffiziellen, möglichen oder tatsächlichen Nuklearwaffenstaaten zum Verzicht auf nukleare Bewaffnung zu bewegen. ({10}) Meine Damen und Herren, Sie sehen, es geht nicht nur um Visionen, sondern auch um tatsächliche Schritte hin zur Abschaffung aller Atomwaffen. Die fünf Schritte dahin hat unser Kollege Kiesewetter sehr beeindruckend vorgestellt. ({11}) Zum SPD-Antrag sage ich klar und deutlich: Es geht nicht nur um einen Verzicht der NATO, sondern auch und gerade um einen Verzicht von Staaten wie dem Iran und Nordkorea, die versuchen, durch den Besitz von Atomwaffen unangreifbar zu werden und das strategische Gleichgewicht in bestimmten Regionen der Welt zu verändern, indem Sie damit drohen und andere erpressen. Das Entscheidende für mich ist aber: Die Gefährdung, die von Nuklearwaffen ausgeht, liegt nicht nur im Haben, im Besitz dieser Waffen, sondern vor allem im Verantwortungsbewusstsein dessen, der über sie verfügen kann. Darum geht es. Wir jedenfalls bedrohen niemanden. Ich frage Sie: Wann hat die NATO jemals irgendjemanden bedroht? Sie nimmt lediglich das Recht auf kollektive Verteidigung für den Fall eines Angriffs auf das Bündnisgebiet in Anspruch. Dieses legitime Recht aller Staaten besteht weiterhin. ({12}) Wir wollen ein strategisches Gleichgewicht, und dies letztendlich ohne Nuklearwaffen; doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wir begrüßen alle Versuche und Bemühungen weltweit, in Bezug auf nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle zu wirklich akzeptablen Ergebnissen zu kommen. Zwischenschritte auf dem Weg zu einer großen Lösung des Nuklearwaffenproblems dürfen nicht einseitig gemacht werden, sondern müssen von allen betroffenen Staaten vollzogen werden, um am Ende gleiche Sicherheit auch ohne Atomwaffen zu erreichen. Deshalb ist es richtig und wichtig, die konventionelle Abrüstung einzubeziehen. Wir alle fühlen uns dem Ziel verpflichtet, den Frieden in Freiheit zu sichern. Lassen Sie mich deshalb mit einem Zitat von Alexander von Humboldt schließen: Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit. Ich danke Ihnen. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/242 an die Ausschüsse zu überwei- sen, die in der Tagesordnung vorgesehen sind. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist das so be- schlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Möhring, Klaus Ernst, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundeseinheitliche Finanzierung von Frauenhäusern sicherstellen - Drucksache 17/243 Überweisungsvorschlag Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Lazar, Ekin Deligöz, Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundrechte schützen - Frauenhäuser sichern - Drucksache 17/259 1114

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Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Heute vor 30 Jahren trat die UN-Frauenrechtskonvention in Kraft. Ihr Ziel ist, jegliche Diskriminierung von Frauen zu beseitigen. Die Bundesrepublik bekennt sich seit langem zu dieser Konvention und verpflichtet sich zu ihrer Einhaltung; doch ihre Umsetzung läuft sehr schleppend. Erst im Februar kritisierte der zuständige Ausschuss zum Beispiel das Fehlen einer gesicherten Finanzierung der Frauenhäuser in Deutschland und forderte Abhilfe. Eine Anhörung im Deutschen Bundestag, die vor zwei Jahren auf Initiative der Linken stattgefunden hat, führte zu dem Ergebnis, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Es war die erste Anhörung zu diesem Thema nach 30 Jahren Frauenhausbewegung. Schwarz-Rot hat trotzdem nur eine Prüfung beschlossen. Ich denke, SchwarzGelb ist jetzt dringend zur Tat verpflichtet. ({0}) Aus unserer Sicht ist klar, dass der Bund zuständig ist; denn es gilt der Verfassungsauftrag, gleichwertige Lebensverhältnisse zu sichern, und zwar erst recht für von Gewalt betroffene Frauen. Dieser Verfassungsauftrag ist aber nicht erfüllt, wenn es vom Wohnort oder von der sozialen Situation der Frau abhängt, ob sie Zuflucht vor Gewalt findet oder nicht. Daran wird sich nichts ändern, wenn die Finanzierung weiterhin allein den Ländern und Kommunen überlassen wird. Eine Finanzierung nach Kassenlage anstatt nach Bedarf ist gerade bei Gewaltopfern absolut inakzeptabel. ({1}) Ich nenne ein paar daraus resultierende Probleme: Erstens. Bei der Versorgung zeigt sich, dass es zu wenig Schutzplätze und zu große regionale Unterschiede gibt. In Bremen kommt ein Frauenhausplatz auf 6 200 Einwohnerinnen und Einwohner, in Bayern sogar auf 17 100. Gemessen an den Normen der Europäischen Kommission fehlen im Bundesdurchschnitt 4 800 Plätze. Es ist inakzeptabel, wenn es vom Wohnort abhängt, ob eine Zuflucht verfügbar ist oder nicht. ({2}) Zweitens. Soziale Zugangsbarrieren. Mit der Einführung von Hartz IV wurde die Situation der Gewaltopfer noch verschlechtert. Der Wechsel von der Pauschal- zur Tagessatzfinanzierung bedeutet, dass die Übernahme der Aufenthaltskosten im Frauenhaus nur dann gesichert ist, wenn die Betroffene Anspruch auf Hartz IV oder Sozialgeld hat. Nicht Anspruchsberechtigte - das sind Schülerinnen, Auszubildende, Studentinnen und illegalisierte Migrantinnen - müssen entweder den Tagessatz selbst bezahlen oder ihnen bleibt der Zugang verwehrt. Ein Frauenhaus ist aber eine Schutzeinrichtung und kein Hotel für liquide Gäste. Es ist zynisch und rechtsstaatlich höchst bedenklich, wenn der Geldbeutel über die Möglichkeit einer Zuflucht entscheidet. ({3}) Nur Berlin, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein sind bei der Pauschalfinanzierung geblieben. Drittens. Regionale Zugangsbarrieren. Wenn eine Hartz-IV-Bezieherin aus Sicherheitsgründen in ein Frauenhaus flüchten muss, das außerhalb ihrer Herkunftskommune liegt, muss diese trotzdem für sie die Kosten übernehmen, aber nur in Höhe der eigenen Regelsätze. Die Differenz zu den möglicherweise höheren Sätzen in der Zufluchtskommune muss das Frauenhaus selbst übernehmen. Deshalb verlangen viele Kommunen, keine ortsfremden Frauen aufzunehmen. Das ist realitätsfremd und absolut inakzeptabel. ({4}) Stellen wir uns kurz vor, wir wären Mitarbeiterinnen in einem Frauenhaus und müssten misshandelte Frauen abweisen, weil sie jenseits der Stadtgrenze wohnen oder weil sie Studentin oder Migrantin ist. Würden Sie diese Frau ohne Hilfe wegschicken oder sie trotz des knappen Etats des Frauenhauses aufnehmen? Nur, wie oft könnten Sie sich eine solch humanitäre Geste leisten? Genau vor dieser Frage stehen Frauenhausmitarbeiterinnen nahezu täglich. Dabei sind sie unterbezahlt und müssen nebenbei zum Beispiel für Beratungsarbeit auch noch Eigenmittel einwerben. In NRW sind das stattliche 70 Prozent des Etats. Beim rot-rot regierten Berlin sind es übrigens nur 3 Prozent. Aus all diesen Gründen brauchen wir dringend eine bundeseinheitliche bedarfsgerechte Pauschalfinanzierung für Frauenhäuser, ({5}) für Unterkunft, Betreuung, Prävention und Aufklärungsarbeit, für administrative Arbeiten und die Vernetzung von Schutzeinrichtungen. Das zu sichern, beantragt Die Linke heute erneut, und wir werden weiter Druck machen, bis jedes Zimmer in jedem Frauenhaus für seine Bewohnerin die Tür zu einer gewaltfreien Zukunft öffnet. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dorothee Bär hat das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Woche ist Weihnachten, und Weihnachten ist für viele Menschen das Fest der Familie, der Besinnung und des Friedens. Aber gerade an diesen Feiertagen kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt und das in allen Einkommensbereichen, in allen Bildungsschichten und auch in allen Kulturkreisen. Jede vierte Frau in Deutschland erlebt mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner. Beleidigungen, Schläge, Demütigungen, Vergewaltigungen und lebensgefährliche Verletzungen führen zum Teil zu lebenslangen seelischen Folgen. Zumeist braucht es sehr viele Anläufe, bis die Betroffenen bereit und in der Lage sind, sich aus dieser Gewaltsituation zu lösen. Deswegen brauchen diese Frauen Beratung und Zuwendung und vor allen Dingen einen sicheren Ort. Für viele Frauen und ihre Kinder ist der letzte Ausweg die Flucht aus der eigenen Wohnung in ein Frauenhaus. Aber wie gesagt: Diesen Schritt überhaupt zu gehen, ist natürlich mit sehr vielen seelischen Belastungen verbunden. In unseren Frauenhäusern erhalten sie die notwendige Unterstützung, sie erhalten eine Unterkunft, Essen, finanzielle Soforthilfe und - was in den meisten Fällen besonders wichtig ist - die Möglichkeit, sich zu verstecken. Als zentrale Anlaufstelle und Einrichtung für Opfer von häuslicher Gewalt sind unsere Frauenhäuser seit 30 Jahren unverzichtbar geworden. Schon in unserem Antrag „Die Situation von Frauenhäusern verbessern“ haben wir auf ihre hohe Bedeutung hingewiesen. Frauenhäuser und Frauenzufluchtswohnungen sind unerlässliche Einrichtungen der Notfallhilfe. Sie sind auch wichtige Anlauf- und Beratungsstellen für die Betroffenen, leisten einen wertvollen Beitrag zur Gewaltprävention und bieten Beratung und Vermittlung in persönlichen Krisensituationen und Notlagen an. Derzeit haben wir in Deutschland ungefähr 7 000 Bettenplätze in circa 330 Frauenhäusern und in circa 60 Frauenzufluchtswohnungen. In diesen Frauenhäusern bitten jährlich 45 000 misshandelte Frauen mit ihren Kindern um Zuflucht. Wir haben bei den Frauenhäusern insbesondere folgende Probleme: Nicht überall - das ist angesprochen worden - ist die regionale Versorgung gewährleistet. Gerade über die kommenden Feiertage während der Weihnachtszeit kommt es teilweise zu extremen Engpässen. Betroffene Frauen mit drei Kindern, psychisch kranke Frauen und drogenabhängige Frauen finden nicht immer schnell einen Platz. Ein anderes Problem ist, dass die Betroffenen oft Studentinnen oder Migrantinnen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus sind, die keine sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche haben. Dies führt insbesondere bei Frauenhäusern, die sich über Tagessätze finanzieren, zu großen Finanzierungsschwierigkeiten. Frauenhäuser, die diese Personengruppen aufnehmen, müssen deshalb einen erheblichen bürokratischen Aufwand leisten und bleiben nicht selten auf den Kosten sitzen. Ein weiteres Problem tritt in der Praxis auf, wenn Frauen Schutz im Frauenhaus einer fremden Kommune suchen und keine Kostenübernahmeerklärungen der Herkunftskommune vorliegen. Im Koalitionsvertrag haben wir beschlossen, eine bundesweite Notrufnummer einzurichten, die rund um die Uhr besetzt ist und die den Betroffenen konkrete Unterstützung vor Ort vermitteln kann. Diese Nummer - Herr Staatssekretär, ich weigere mich im Sinne des Schutzes der deutschen Sprache, sie Helpline zu nennen soll dabei helfen, die einzelnen Bedürfnisse der Frauen und ihrer Kinder festzustellen und das passende Hilfsangebot - Frauenhaus, Gewaltschutz oder andere Maßnahmen - herauszufinden. Dieser Telefonnotruf soll der erste Schritt, soll ein niedrigschwelliger Schlüssel zu einem Hilfesystem sein, mit dem auch Gruppen von Frauen erreicht werden, die sich bisher aus unterschiedlichen Gründen nicht angesprochen fühlten oder noch keine Vorstellung davon haben, dass das bestehende Hilfsangebot sich auch an sie richtet. Mit der Telefonnummer hat man eine Anlaufstelle, bei der man Informationen bekommen kann und bei der die erste Hilfe organisiert werden kann. Dieser erste Schritt hin zu einem flächendeckenden differenzierten Hilfesystem für die von Gewalt betroffenen oder bedrohten Menschen soll seitens der Bundesregierung baldmöglichst eingeleitet werden. Union und FDP haben sich im Koalitionsvertrag zudem darauf geeinigt, dass ein Bericht zur Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser und der darüber hinausgehenden Hilfeinfrastruktur vorgelegt wird. Für Mitte 2010 wird außerdem eine Stellungnahme der Arbeitsgruppe Frauenhaus des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V., in der die verschiedenen staatlichen Ebenen und das Frauenunterstützungssystem vertreten sind, erwartet. Die Arbeitsgruppe Frauenhaus wird konkrete Empfehlungen aussprechen, welche Maßnahmen auf Bundesebene, auf Länderebene und auf kommunaler Ebene ergriffen werden können. Wir werden dann entscheiden, wie das Hilfesystem im Bereich von Gewalt gegen Frauen im Rahmen der Bundeszuständigkeit weiter unterstützt werden kann. Denn die Finanzierung von Frauenhäusern ist je nach Bundesland und Kommune unterschiedlich geregelt. Damit Frauen und Kinder überall in Deutschland schnell und unbürokratisch Hilfe bekommen können und die Frauenhäuser die notwendige Planungssicherheit haben, müssen ganz besonders die Länder und die Kommunen bei der Finanzierung noch besser zusammenarbeiten. Einzelne Bundesländer sind angesprochen worden, zum Beispiel Schleswig-Holstein, wo die Frauenhausfinanzierung sehr gut geregelt ist. Unserer Meinung nach wäre es wünschenswert, wenn dieses Modell auch in anderen Ländern Nachahmer finden würde. ({0}) All denen, die auf die angeblich hohen Kosten eines solchen Engagements hinweisen, halte ich die Verpflich1116 tung entgegen, gerade Kinder und Frauen vor Gewalt zu schützen und vorbeugend tätig zu werden. Meiner Meinung nach sind die Ausgaben im Vorfeld allemal geringer als die immensen gesellschaftlichen Kosten, die mit dem durch Gewalt verursachten menschlichen Leid entstehen. Erfahrungen von Gewalt werden oft über mehrere Generationen hinweg an die Kinder weitergegeben und sind eine schwere Hypothek für das ganze Leben. Eine weitere wichtige Gruppe sind Frauen und Kinder mit Behinderungen. Seitens der Union werden wir uns in dieser Legislaturperiode sehr stark für diese Personengruppe einsetzen und häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder weiter bekämpfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass der Bereich der Prävention weiter gestärkt wird. Es ist wichtig, Geld in die Hand zu nehmen, um ein funktionsfähiges, unbürokratisches System hinzubekommen. Sie haben uns als Unterstützer an Ihrer Seite. Wir wollen, dass Gewalt gegen Frauen im Vorfeld verhindert wird und keine einzige Frau abgewiesen wird, wenn die Gewaltsituation doch eingetreten ist und die Frauen in den Frauenhäusern Zuflucht suchen, und wir wollen, dass die Frauenhäuser nicht am Ende auf den Kosten sitzen bleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen allen nicht nur besinnliche Weihnachten und Gottes Segen, sondern vor allem auch gewaltfreie Weihachten. An dieser Stelle möchte ich im Namen des ganzen Hauses all denen, die diesen Frauen Hilfe bieten und sie in den rund 330 Frauenhäusern in Deutschland unterstützen, meinen ganz herzlichen Dank aussprechen. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste spricht die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Das Private ist politisch - das war die Quintessenz des Internationalen Jahres der Frau 1975. Ich sage das bewusst. Das ist 34 Jahre her. ({0}) Gewalt im sozialen Nahraum - nicht im öffentlichen, aber im sozialen Nahraum - war Privatsache. In der polizeilichen Kriminalstatistik hieß das bis in die 90er-Jahre hinein: Familienstreitigkeiten. Man ging hin und hat versucht, zu schlichten. Wenn einer total betrunken war, hat man ihn vielleicht zur Ausnüchterung mitgenommen. Aber ansonsten war es Sache der Frau, wie sie damit umging. Das galt als individuelles Schicksal und nicht als strukturelles Problem der Gesellschaft. 1975 hat die Frauenbewegung angefangen, das Thema öffentlich zu machen. Man wurde sehr deutlich, was dazu führte, dass bereits 1976 das erste Frauenhaus in Berlin in Betrieb ging. Es wurde von einem Forschungsprojekt begleitet. Dieses Projekt wurde ausgewertet, und die Erfahrungen, die dabei gesammelt wurden, bildeten für viele Frauenhäuser, die danach gegründet wurden, die Basis für das Handeln. Die Forderung der Frauenbewegung lautete: Bekämpfung der Gewalt ist eine öffentliche Aufgabe und nicht eine private. ({1}) Ich mache seit über 20 Jahren Frauenhausarbeit und leite seit 20 Jahren ein Frauenhaus. Ich glaube, heute bestreitet niemand mehr - das ist in unserer Gesellschaft angekommen -: Wenn Frauen von Gewalt betroffen sind, ist das kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem, das wir anzugehen haben. In der Folge wurden viele Themen groß aufgezogen. Sexualisierte Gewalt gegen Mädchen war über Jahrzehnte hinweg das Thema. Viele dieser einzelnen Aktionen wurden 1999 unter der ersten rot-grünen Regierung im ersten Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, der von Bundesministerin Bergmann vorgelegt wurde, zusammengefasst. Viele rechtliche und präventive Maßnahmen wurden veranlasst, zum Beispiel die Schulung der Polizeibediensteten und die Einrichtung einer Bund-Länder-AG, und Untersuchungen in Auftrag gegeben. Europa hat sich dieser Thematik ebenfalls angenommen. Im November 2006 war der Auftakt zur Kampagne des Europarates zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Wir haben uns dieser Kampagne angeschlossen. Ich kann mich noch daran erinnern: Das war hochproblematisch, ehe sich der Bundestag durchgerungen hat, mitzumachen. Mindeststandards wurden damals gefordert. Unter anderem ging es darum, wie viele Frauenhausplätze pro 10 000 Frauen zwischen 18 und über 70 Jahren zur Verfügung gestellt werden müssen. Wir haben diese Mindeststandards leider nicht erreicht. Ich glaube, wir sollten noch einmal genau hinschauen und nicht länger darüber diskutieren, ob wir das brauchen oder nicht. Ich glaube, dass das auch unter der Großen Koalition so gesehen und die Politik fortgeführt wurde. Auch in dem zweiten Aktionsplan, der 2007 aufgelegt wurde, standen diese Maßnahmen im Mittelpunkt. Aber 33 Jahre nach Einrichtung des ersten Hauses stehen wir noch dort, wo wir damals standen: bei der Initiierung eines Projektes, bei dem wir überlegen müssen, woher man Geld bekommt, wie das Haus finanziert werden kann. Es ist so, als hätte man gerade die spontane Idee, ein Haus einzurichten. Ich weiß, wovon ich spreche. Jede muss kreativ sein, jede muss schauen, woher sie das Geld für das nächste Jahr bekommt, wie sie die Mitarbeiterinnen bezahlt und vor allem, wie sie die Ausfälle auffängt, wenn die Kosten für den Aufenthalt von Frauen nicht übernommen werden, weil sie durch alle Raster fallen. Marlene Rupprecht ({2}) Ich finde, dass wir uns jetzt eigentlich mit viel wichtigeren Themen beschäftigen müssten, zum Beispiel mit dem Zustrom von Migrantinnen - übrigens aus EU-Staaten -, denen angebliche reiche Manager gesagt haben, dass sie sie als Ehefrauen wollen. Sie werden hergeholt und dann in die Prostitution geschickt und misshandelt. Das sind Dinge, die uns in den Häusern derzeit massiv beschäftigen. Es sind EU-Bürgerinnen, die Freizügigkeit genießen, aber keinerlei sozialrechtliche Absicherung haben. Dies müssten wir thematisieren. Aber was thematisieren wir nach 33 Jahren? Wir thematisieren, wie wir es schaffen, ein Haus zu finanzieren, und zwar bundeseinheitlich. Jetzt dürfte ich hier gar nicht stehen; denn ich habe mein Frauenhaus ganz gut finanziert. Wir stehen einigermaßen gut da. ({3}) - Nein, das bin ich. Man kann in Bayern alles finden, unser Haus und Häuser, die Tagessatzfinanzierung haben, die schlecht finanziert sind. Sie finden alles, und zwar bundesweit. Die Mitarbeiterinnen sind kreativ und versuchen, die Defizite auszugleichen. Übrigens würde das kein Mann machen. Das betrifft fast nur Frauenprojekte; das nur nebenbei als Gender-Aspekt gesagt. Man hofft, dass die Frauen das, was sie im Leben immer machen, nämlich Lücken mit ihrer Kreativität auszugleichen, auch da schaffen. Wir haben über 300 Häuser, und sie brauchen dringend eine sichere Finanzierung. Jetzt sage ich Ihnen aus meiner Erfahrung: Wir brauchen keine Tagessatzfinanzierung, sondern eine institutionelle Finanzierung. ({4}) Wenn Sie die volkswirtschaftlichen Schäden gegenrechnen, die durch Gewalt verursacht werden, wenn Sie sehen, welche Kosten durch Krankenhausaufenthalte und Arztbesuche infolge von Gewaltanwendung entstehen, und welche Ausfälle bei der Erwerbstätigkeit durch Gewalt verursacht werden, dann könnten die Häuser locker finanziert werden. Verglichen damit, können die Kosten quasi aus der Portokasse bezahlt werden. Wir brauchen eine institutionelle Förderung für alle Häuser; denn die Nachsorge, die persönliche Beratung, die telefonische Beratung und die Öffentlichkeitsarbeit müssen sicher finanziert sein. Ich gehe gern auf internationale Tagungen, weil ich dort mit Stolz verkünden kann, was wir alles gemacht haben. Das ist wirklich toll. Da sind wir meist weltweit führend. Das können wir hier auch einmal sagen. Wir haben in den letzten 30 Jahren viel gearbeitet, aber dass wir bei den Frauenhäusern, der wichtigsten Institution, dastehen wie in den ersten Tagen, ist blamabel für dieses Land, das sonst immer sagt: Wir sind ganz vorne, wir sind die Musterschüler. ({5}) Ich halte es für eine Grundeinrichtung der Daseinsvorsorge in der Kommune, Schutzeinrichtungen vorzuhalten. Denn Frauenrechte sind Menschenrechte. Daher fordere ich Sie, die Regierung, auf, ({6}) mit den Kommunen und mit den Ländern zu reden. Wenn sie die nötige Förderung nicht bereitstellen können, dann sollten wir es für sie machen. Ich glaube, wenn es um die Bürgerinnen geht, dann ist es einem wurscht, wer zuständig ist, dann sagt man: Jetzt suchen wir alle Wege, um den Bürgerinnen, die den Anspruch darauf haben, die Möglichkeit zu geben, geschützt zu werden. Wir können nicht sagen: Ich bin es nicht, du bist es nicht. Dieses Spiel haben wir in der Grundschule gespielt. Wir sind jetzt zu alt, um noch einmal von vorne anzufangen. Ich würde es gern schaffen. Ich würde mit meinen Mitarbeiterinnen gern zielgerichtet für die Frauen arbeiten, die es wirklich brauchen. Nachdem Frau Bär uns schon friedliche Weihnachten gewünscht hat, wünsche auch ich Ihnen das an dieser Stelle. Aber ich sage Ihnen noch etwas: Wir halten den Betrieb an den Wochenenden und an den Feiertagen nur aufrecht, weil wir ganz viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen haben, die rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Rufbereitschaft haben und auch morgens um vier aufstehen, um eine Frau von einer Telefonzelle abzuholen, die dort mit ihren Kindern steht, weil sie nicht weiß, wohin sie gehen soll. Das muss auch einmal gesagt werden: Ohne das Ehrenamt wäre das überhaupt nicht möglich. Ich finde, das ist eines so reichen Landes eigentlich unwürdig. Danke. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDPFraktion das Wort.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alles, was wir bis jetzt zum Thema Frauenhäuser gehört haben, macht brennglasartig auf ein gesellschaftliches Problem aufmerksam, das nach wie vor nicht gelöst ist: die strukturelle Gewalt gegen Frauen innerhalb von Familien. Wenn wir davon wissen, nehmen wir sie zur Kenntnis. Ich denke aber, in viel zu vielen Fällen will man davon gar nichts wissen. Insofern sind Frauenhäuser ein unangenehmes Thema. In der Vergangenheit, in den letzten 30 Jahren, auf die schon mehrfach zurückgeblickt worden ist, haben sie allerdings viele gesellschaftliche Diskussionen auf den Weg gebracht. Mittlerweile gibt es beispielsweise das Gewaltschutzgesetz. ({0}) Frauen müssen sich nicht mehr in ein Frauenhaus begeben. Der, der schlägt, muss das Haus, muss die Wohnung der Familie verlassen. Dennoch ist diese Regelung für viele Frauen nach wie vor keine Lösung. Deswegen warne ich davor, Frauenhäuser zu schließen, auch wenn die Versuchung gerade in Zeiten knappen Geldes naheliegt. ({1}) Wir müssen realisieren: Nach wie vor ist mindestens jede vierte Frau in Deutschland - nach meinem Dafürhalten sind es eher mehr - in ihrem Leben einmal von Gewalt in der Partnerschaft betroffen. Die Kinder bekommen dies häufig mit. Sie sind von solchen Erfahrungen möglicherweise noch traumatisierter, als wir wissen ({2}) und als es eventuell sogar die unmittelbar betroffene Frau erlebt. Wer sich mit dem Thema Frauenhäuser beschäftigt - ich tue das seit vielen Jahren, und ich habe viele Frauenhäuser besucht -, weiß, dass es eine strukturelle Unterfinanzierung gibt und dass die Finanzierung ganz wesentlich von den Ländern respektive den Kommunen zu erbringen ist. Das Geld reicht nicht aus. Gleichzeitig führen wir immer wieder Debatten, wie wir gesellschaftliche Gewalt bekämpfen können. Hier ist meiner Ansicht nach der Ansatzpunkt. Wenn wir flankierende strafrechtliche Maßnahmen treffen wollen, dann darf es nicht nur um die Strafbarkeit von Straftaten gehen - das ist ganz klar; das ist unsere Verpflichtung und unsere Aufgabe -, sondern dann muss es auch um flankierende Maßnahmen und Hilfestellungen gehen, die den betroffenen Frauen den Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung ermöglichen, die oftmals von einer fast suchtartigen Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Ich habe das Thema Frauenhausfinanzierung bereits im Jahre 2004 mit einer schriftlichen Frage an die damalige Bundesregierung auf die parlamentarische Agenda gehoben. Dann hat sich der Bundestag lange Zeit nicht mit diesem Thema beschäftigt. Einen Bericht zur Frauenhaussituation in Deutschland gab es zuletzt im Jahre 1988. Deswegen hat die FDP-Fraktion dieses Thema im vergangenen Jahr aufgegriffen. Wir haben dringend einen Bericht über die Situation der Frauenhäuser in Deutschland gefordert. Es freut mich, dass wir uns nach der sehr engagierten Debatte im Familienausschuss im November 2008, in der wir uns mit Finanzierungsfragen befasst haben, auch im Rahmen der Koalitionsverhandlungen nachdrücklich mit diesem Thema befasst und es auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben. Wir haben uns vorgenommen, das Hilfesystem, soweit es in der Zuständigkeit des Bundes liegt, weiter zu stützen. Beispielsweise haben wir uns die Aufgabe gestellt, eine bundesweite zentrale Notrufnummer für betroffene Frauen einzurichten. Ich denke, dies wird ein weiteres niedrigschwelliges Angebot sein, das den betroffenen Frauen den Zugang zu Hilfe ermöglicht. Wir werden natürlich auch die Ergebnisse der Berichterstattung der Bundesregierung auswerten. Ich bin gespannt darauf, und ich lege großen Wert darauf, dass dieser Bericht vonseiten der Bundesregierung nun möglichst zügig vorgelegt wird; denn er wird eine Grundlage dafür sein, wie wir das Problem der Finanzierung der Frauenhäuser lösen. Dass wir dieses Problem lösen sollten, wird uns auch auf der internationalen Ebene gesagt. Wenn wir einen Blick in den letzten CEDAW-Bericht des entsprechenden UN-Ausschusses werfen, sehen wir, dass deutlich gemacht wurde, dass Deutschland auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene die Finanzierung der Frauenhäuser verbessern muss. Das ist also nicht nur eine nationale Fragestellung, sondern wird auch international so betrachtet. Ich glaube, dass wir hier einen breiten Konsens haben, dass Gewalt in der Familie und Gewalt gegen Frauen nicht hinzunehmen sind und dass - als letzte Lösung - die Frauenhäuser nötig sind. Dann muss ihre Finanzierung aber so gestaltet werden, dass sie Bestand haben, dann dürfen diese Unsicherheiten, die viele Häuser seit Jahren kennen, nicht weiter bestehen. Meine Damen und Herren, es ist ein guter Zufall, dass wir uns so kurz vor Weihnachten mit der Finanzierung der Frauenhäuser beschäftigen. Das Bild der Mutter mit dem Kind, das uns an Weihnachten sehr berührt, gilt nach wie vor: Seit Tausenden von Jahren gibt es Frauen, die Zuflucht suchen, die ein Kind zu versorgen haben und in dieser Situation ein sicheres Obdach brauchen. Es ist, wie gesagt, gut, dass wir uns heute, so kurz vor Weihnachten, mit dieser Fragestellung auseinandersetzen. Das ist für die Arbeit der Bundesregierung und unserer Koalition Programm für die Arbeit der kommenden Jahre. Danke schön. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Monika Lazar für Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes Jahr fliehen etwa 40 000 Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt in ein Frauenhaus. Jede vierte in Deutschland lebende Frau hat bereits körperliche und sexuelle Gewalt durch ihren Partner oder Expartner erlebt. Diese Zahlen zeigen deutlich: Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache, kein individuelles Problem, sondern ein Problem, bei dem die Gesellschaft tätig werden muss. Hier ist die Politik gefragt. ({0}) Es ist die Aufgabe des Staates, Gewalt gegen Frauen zu verhindern, präventiv tätig zu werden, aber auch den Opfern Hilfe zu gewähren und sie zu schützen. Bereits jetzt stehen die Frauenhäuser in einigen Bundesländern finanziell vor großen Problemen; meine Vorrednerinnen haben bereits darauf hingewiesen. Teilweise sind die Probleme so gravierend, dass die Frauenhäuser ihr Schutz- und Betreuungsangebot nicht mehr durchgängig sicherstellen können. Da ist auch die bundeseinheitliche Notrufnummer, die das Ministerium angekündigt hat, leider nicht ausreichend. Die Situation der Frauenhäuser wird sich künftig nicht verbessern; denn mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz wird sich die Finanzlage von Kommunen und Ländern noch verschlechtern. Manche Frauenhäuser nehmen aufgrund kommunaler Finanzierungsvorgaben nur Frauen aus ihrer Gemeinde oder ihrem Landkreis auf. Bei einer hohen Gefährdung der Frauen ist eine Unterbringung weit vom Wohnort entfernt aber dringend notwendig. Immer wieder müssen wir in der Zeitung von Frauen lesen, denen schwere Gewalt angetan wurde oder die sogar ermordet wurden, nachdem ihr Expartner ihren Aufenthaltsort erfahren hatte. Am Dienstag dieser Woche begann in Hannover der Prozess gegen einen Mann, der seine Exfrau erstochen haben soll, nachdem diese mit den Kindern in ein Frauenhaus geflüchtet war. Insbesondere residenzpflichtige Migrantinnen, die ein Frauenhaus außerhalb des ihnen erlaubten Aufenthaltsgebietes in Anspruch nehmen wollen, erleben immer wieder, dass die Zufluchtsgemeinden die Zuständigkeit für Leistungen bestreiten und Leistungen verweigert werden; auch dies ist schon angesprochen worden. Um auch Migrantinnen eine optimale Versorgung zu ermöglichen, muss die räumliche Beschränkung in ihrem Aufenthaltstitel schnell aufgehoben werden. Auch die Finanzierung der Dolmetschkosten muss sichergestellt werden. Immer häufiger werden Frauenhäuser durch belegungsunabhängige, einzelfallorientierte Tagessätze finanziert. Dies ist bei Studentinnen, volljährigen Schülerinnen und Auszubildenden problematisch, da diese keine Ansprüche aus dem SGB II haben. Wenn sie ihren Aufenthalt nicht selbst bezahlen können, kommt es vor, dass sie von den Frauenhäusern abgewiesen werden. Der Zugang zu Frauenhäusern soll aber kostenlos sein. Wenn Frauen Angst vor den finanziellen Konsequenzen haben, ist dies ein fatales Signal. ({1}) Damit wird der Schritt aus einer Gewaltbeziehung und die Flucht in ein Frauenhaus erschwert. Der Zugang zu einer Schutzeinrichtung muss daher grundsätzlich unabhängig vom Einkommen der Betroffenen sein. ({2}) Die positiven Beispiele Schleswig-Holstein, Berlin oder Brandenburg wurden schon genannt und zeigen vor allem, dass das möglich ist. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Ländern Gespräche zu führen, um bundesweit qualitativ hochwertige, bedarfsgerechte und kostenlose Möglichkeiten zu schaffen. Im Gegensatz zur Linksfraktion favorisieren wir deshalb nicht von vornherein eine bundesweite Regelung. Sollten allerdings die Gespräche - wir warten noch den angekündigten Bericht ab - zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis kommen, müssen wir hier im Bundestag über eine bundesweit gültige Regelung nachdenken. Das sollten wir in den verbleibenden Jahren dieser Legislaturperiode wirklich ernsthaft angehen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema der heutigen Debatte war bereits Thema in der 16. Wahlperiode. Die Anhörung dazu fand im November 2008 und die Debatte im Juni 2009 statt, zu der alle Fraktionen ihre Anträge vorgelegt hatten. In diesen Anträgen hatten wir in vielen Punkten Einigkeit, zum Beispiel über die Daten zur Gewalt gegenüber Frauen. Auch in den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen waren die damaligen Anträge, aber auch das, was wir heute hier gehört haben, von weitgehender Übereinstimmung geprägt. Verabschiedet haben wir im Juni dieses Jahres einen Antrag der Großen Koalition, der der Bundesregierung einen ausführlichen Katalog an Handlungs- und Prüfaufträgen aufgegeben hat. Vieles von dem, was wir damals verabschiedet haben, findet sich heute in den Anträgen wieder, die die Grünen und die Linken vorgelegt haben. Es geht darum, die Bundeszuständigkeit zu prüfen, vor allem aber auch Gespräche mit den Ländern zu führen, und zwar ganz konkret mit dem Ziel, die nachhaltige Finanzierung der Frauenhäuser zu verbessern, allen Frauen, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen oder ausländerrechtlichen Status, den Zugang zu gewähren: unbürokratisch und barrierefrei. In diesem Beschluss sollten ausdrücklich auch die Vorgaben des CEDAW-Berichts beachtet werden. Welchen Sinn macht es, heute wieder über dieses Thema zu debattieren? Es stellt sich die Frage, welche Halbwertzeit wir unseren eigenen Beschlüssen zumessen. Dass wir das Thema heute wieder auf die Tagesordnung setzen, hat den Vorteil, dass dieses wichtige Thema heute noch einmal zur Sprache gebracht wird und sich der neue 17. Bundestag Gedanken darüber macht, welche Prioritäten er der neuen Bundesregierung mit in diese junge Legislaturperiode geben will. Aus Sicht der Union bleibt es bei der damaligen Einschätzung. Ein sehr wichtiges Anliegen ist für uns, den Frauen in dieser Situation noch besser zu helfen. Wir wollen dieses Ziel vor allem zusammen mit den Ländern erreichen. An den Anfang der Debatte möchte ich den Dank an die Organisationen stellen, die vor über 30 Jahren diesen Bedarf erkannt haben und die Frauenhäuser, die uns heute selbstverständlich erscheinen, sehr kreativ aufgebaut haben und - Frau Rupprecht hat es gerade geschildert - mit großem Einsatz ehrenamtlich tätig sind. Ohne sie könnten die betroffenen Frauen nicht die nötige Hilfe bekommen. Deshalb an dieser Stelle mein herzlicher Dank. ({0}) Ich möchte aber auch betonen, dass die neue Regierung dieses Thema sofort wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat. In den Koalitionsverhandlungen haben wir uns darauf geeinigt, eine Notfallnummer einzurichten. Realistisch ist die Umsetzung dieser Idee bis 2011. Es geht schließlich nicht nur um die Technik, sondern man muss dafür sorgen, dass am anderen Ende der Leitung jemand sitzt, der einer Frau in einer bedrohlichen Situation die richtige Auskunft geben kann, und zwar auch Auskunft über die Möglichkeiten des Gewaltschutzgesetzes, oder konkret das Frauenhaus nennen kann, das zuständig und erreichbar ist. Noch einmal zurück zur Finanzierung. Die Vorrednerinnen haben schon Fälle geschildert, in denen die Kosten nicht oder nur nach einem hohen bürokratischen Aufwand getragen werden, sodass sich die Betreuerinnen darum kümmern müssen, anstatt sich um die traumatisierten Frauen kümmern zu können. Hier wird die Lösung teilweise in einer bundeseinheitlichen Regelung gesehen. Zunächst stellt sich hier natürlich die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die nur unter sehr engen Voraussetzungen gegeben ist. Ich will hier jetzt gar nicht auf die Details des Verfassungsrechts eingehen, diese Zuständigkeit ist von den sachverständigen Juristen in der Anhörung zunächst einmal verneint worden. Auch die Länder sehen die Zuständigkeit ganz klar bei sich, und zwar unabhängig von den jeweiligen Parteien, die dort regieren. Über alle Grenzen hinweg sind die Länder der Meinung, dass das in ihre Zuständigkeit fällt. Ich denke, wer das Heil in einer bundeseinheitlichen Lösung sucht, der unterliegt zwei Irrtümern: Erstens. Bundesgesetze sind nicht immer automatisch besser als die Landesgesetze. ({1}) Wir hier im Bundestag sind nicht automatisch kompetenter als die Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen. Die Länder haben die Problematik genauso erkannt wie wir. Sie haben auch den gleichen Willen, hier effektiv zu helfen, und sie haben sich auf der Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen, -minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder in diesem Sommer auch dazu positioniert und zum Ausdruck gebracht, dass man hier Verbesserungen erreichen will. Es ist auch deshalb richtig, dass es Ländersache ist, weil hier durchaus auch regionale Besonderheiten zu beachten sind. Die Versorgung mit Plätzen in Frauenhäusern ist nur ein Bestandteil eines umfassenden Konzepts. Andere Dinge kommen noch hinzu: Beratungsstellen, Zufluchtsstätten. Das kann von Land zu Land differieren, und auch der Bedarf ist unterschiedlich. Auch deshalb ist das bei den Ländern nicht schlecht aufgehoben. Die Länder würden auch nicht zustimmen, wenn wir hier ein Bundesgesetz erlassen würden. Hier sehe ich also nur wenig Spielraum. Zweitens. Mit einer bundesgesetzlichen Regelung ginge nicht automatisch auch die Finanzierungslast auf den Bund über. Das heißt, das Problem, das wir damit lösen wollen, wäre gar nicht zu lösen, sondern die Länder wären weiterhin dafür zuständig, das Geld aufzubringen. Damit liegt der Schwarze Peter aber bei weitem nicht nur bei den Ländern, sondern wir müssen hier schauen, was wir auf Bundesebene tun können, und zwar bitte an der richtigen Stelle. Das heißt, wir müssen die Leistungsgesetze, in denen steht, wer in welcher Situation etwas bekommt, „entrümpeln“ und daraufhin überprüfen, ob sie zielgenau auf den Bedarf dieser Frauen ausgerichtet sind. Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII müssen vielleicht unbürokratischer gewährt werden, damit die Beantragung nicht so lange dauert, bis die Frau das Frauenhaus schon wieder verlassen hat. Hier brauchen wir Vereinfachungen. Wir sollten ebenfalls kritisch überprüfen, welche Regelungen wir im Ausländer- bzw. Aufenthaltsrecht vereinfachen können, um den entsprechenden Bedarf besser abdecken zu können. Hier sollten wir unsere Hausaufgaben machen, einiges vereinfachen und klarstellen. Hinsichtlich der Finanzierung möchte ich noch ganz kurz auf einen Aspekt eingehen. Mir liegt daran, dass wir auch die Verantwortlichen, die Täter, in dem einen oder anderen Fall besser zur Finanzierung mit heranziehen. Frau Rupprecht hat gerade entsprechende Fälle geschildert, in denen durchaus zahlungskräftige Männer ihre Frauen in Situationen gebracht haben, in denen sie in Frauenhäuser gehen. Ich sehe überhaupt nicht ein, dass die Kosten dafür aus Steuermitteln aufgebracht werden müssen. Hier können wir durchaus auch an die Gewalttäter herangehen. ({2}) Ich denke, auf dieser Grundlage werden wir diese Anträge erneut beraten. Im Übrigen schließe ich mich den Wünschen für ein gutes und friedliches Weihnachtsfest an alle Kollegen an. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Es ist vorgeschlagen, dass die Vorlagen auf den Drucksachen 17/243 und 17/259 an die in der TagesordVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Gerster, Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten - Drucksache 17/244 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-Fraktion. ({1})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hätte aus meiner Sicht eigentlich keinen besseren Zeitpunkt gegeben als heute, um über dieses Thema zu sprechen. Letztendlich geht es um die Frage, wie wir mit Menschen umgehen, die beispielsweise an den Weihnachtsfeiertagen diese erholsame Zeit nicht im Kreise der Familie verbringen können, sondern diese Zeit opfern müssen, um zu arbeiten. Das ist kein kleiner Kreis, und er wird immer größer. Inzwischen ist der Kreis derjenigen in Deutschland, die in Bereichen wie Gesundheit, Pflege, Verkehr oder Medien davon betroffen sind, sehr groß geworden. Das Statistische Bundesamt hat festgestellt, dass über 20 Millionen Beschäftigte in Deutschland sonntags, nachts oder an Feiertagen arbeiten müssen. Über 8,5 Millionen Beschäftigte sind von Sonntagsarbeit betroffen. 5 Millionen Beschäftigte müssen nachts arbeiten. Deswegen ist es sicherlich ein positives Signal, wenn wir an dieser Stelle denjenigen danken, die nachts, an Feiertagen und Wochenenden diesen wichtigen Dienst für unsere Gesellschaft leisten. ({0}) Mit dem Dank ist es aber nicht getan. Um es deutlich zu sagen: Wir wollen nicht, dass die Arbeit sonntags, nachts und an Feiertagen ausgedehnt wird. Sie ist aber in vielen Bereichen eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Deswegen meinen wir, dass wir die Menschen für die Strapazen entschädigen müssen, die sie dadurch auf sich nehmen, dass sie beispielsweise an Weihnachten darauf verzichten, sich gemeinsam mit ihrer Familie zu erholen. Deswegen halten wir von der SPD-Fraktion es für notwendig, die Steuerfreiheit der Zuschläge in diesem Bereich zu erhalten. Darum geht es uns in unserem vorliegenden Antrag. Deswegen bitten wir das ganze Haus um Zustimmung. ({1}) Denn wir haben die große Sorge, dass es mit der Steuerbefreiung dieser Zuschläge bald vorbei sein könnte. ({2}) Zum einen gibt es ein wissenschaftliches Gutachten, das vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben wurde, in dem die Abschaffung dieser Subventionen gefordert wird. Zum anderen ist festzustellen - auch wenn vom Bundesfinanzministerium beteuert wird, dass es keine konkreten Pläne zur Umsetzung dieser Forderung gibt -, dass seit Jahren insbesondere von der FDP, aber auch von der Union wie zuletzt 2005 gefordert wird, die Steuerfreiheit dieser Zuschläge abzuschaffen. Ganz aktuell hat am 8. Dezember der haushaltspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Fricke eine Diskussion über die Besteuerung der Nacht- und Feiertagszuschläge gefordert. Er kann sich, wie er sagt, die Besteuerung der Nacht- und Feiertagszuschläge vorstellen. Das heißt, es scheinen konkrete Pläne vorhanden zu sein, diese Steuerbefreiung abzuschaffen. Das Bundesfinanzministerium kann noch so sehr beteuern, dass es keine konkreten Pläne gibt. Wir haben die große Sorge, dass an der bestehenden Regelung gedreht wird, ({3}) und zwar auch deswegen, weil wir erst am 5. Dezember in diesem Hause die Subventionierung der Hoteliers und vieler anderer Bereiche beschlossen haben und es sich abzeichnet, dass die Haushaltslöcher immer größer werden. Wir werden mutwillig in die Verschuldung getrieben. Spätestens 2011 müssen auch aus den Reihen der Koalition Vorschläge kommen und Maßnahmen umgesetzt werden, um diese Verschuldung wieder zurückzuführen. ({4}) Deswegen glaube ich, dass höchste Aufmerksamkeit angebracht ist. Wir wollen von Ihnen eindeutig wissen: Stehen Sie zu der Aussage, dass keine konkreten Pläne vorliegen? Sind Sie bei uns, wenn wir die Steuerbefreiung für Zuschläge für die Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeit erhalten wollen, oder fallen Sie irgendwann um? Denn der Tag der Wahrheit wird kommen. Spätestens im Jahr 2011 werden Sie massive Einsparungen vornehmen müssen. Wir erwarten von Ihnen heute klare Aussagen, ob Sie unsere Position teilen, dass diese Zuschläge steuerfrei bleiben. ({5}) Wir wollen keine Lippenbekenntnisse. Wir wollen bei der Abstimmung ganz genau wissen, ob Sie bei uns sind. Die Millionen Beschäftigten in diesem Bereich haben einen berechtigten Anspruch darauf, zu wissen, wie es weitergeht; denn sie sind darauf angewiesen, dass ihre Zuschläge steuerfrei bleiben. Es geht um einen Betrag von 2 Milliarden Euro. Viele in diesem Bereich Tätige planen natürlich mit der Steuerfreiheit der Zuschläge. Wenn die Steuerfreiheit abgeschafft wird, kann das nicht über Tarifverhandlungen ausgeglichen werden; denn es sind Einbußen von bis zu 20 Prozent in der Lohntüte zu befürchten. Deswegen bitte ich Sie herzlich, unserem Antrag zuzustimmen. Das liegt im Interesse zum Beispiel all derjenigen, die an Weihnachten arbeiten müssen und darauf zählen, dass ihre Zuschläge steuerfrei bleiben. Wir werden nachher sehen, wie die Koalitionsvertreter abstimmen werden. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen schöne Feiertage, frohe Weihnachten und einen guten Rutsch in das neue Jahr. Wir sind auf die Positionierung der Koalitionsfraktionen gespannt. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Olav Gutting hat das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist kurz vor Weihnachten. Lieber Martin Gerster, du hast recht: Euer Antrag passt wirklich zu Weihnachten. Man könnte ihn mit „Eine schöne Bescherung“ überschreiben. Es ist wirklich komisch, wenn man bedenkt, dass euer Finanzminister Peer Steinbrück es war, der im Juli 2007 den Auftrag gegeben hat, die dem Volumen nach 20 größten Subventionen zu untersuchen. Es sollte eine systematische Erfolgskontrolle der Subventionen erfolgen. Das Ergebnis bezüglich der Steuerbefreiung von Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschlägen können Sie alle nun schwarz auf weiß nachlesen. Das von Herrn Steinbrück beauftragte Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut an der Universität zu Köln kommt zu folgendem Ergebnis: Die Transparenz der Begünstigung ist gering. Es gibt keine klare Zielsetzung. „Dies ist für eine Vergünstigung, die 2 Milliarden Euro öffentliche Mittel kostet, inakzeptabel.“ Weiter heißt es: Es handelt sich um einen Transfer, der ausschließlich Mitnahmeeffekte, aber keine lenkenden Anreizeffekte hervorruft. Es ist keine Begründung ersichtlich, wo das Allgemeininteresse von faktisch nahezu jeder beliebigen Tätigkeit nachts oder an Sonn- und Feiertagen liegt. Im Gutachten wird auch darauf hingewiesen, dass das Gerechtigkeitsprinzip verletzt ist. Verteilungspolitisch werden Besserverdienende mit der Steuerbefreiung stärker begünstigt. - Hört! Hört! Ich wiederhole: Verteilungspolitisch werden Besserverdienende mit der Steuerbefreiung stärker begünstigt. Ich zitiere weiter aus der Studie: Hinzu kommt, dass die Arbeitgeberseite in Tarifverhandlungen bei geringer entlohnten Arbeitskräften einen größeren Teil der Subventionen abschöpfen kann als bei höher entlohnten Beschäftigten. Das grobe Ziel des Schutzes der Arbeitnehmer wird nicht erreicht. Die durch die Steuerfreiheit der Zuschläge induzierte Anreizwirkung widerspricht dem Ziel des Schutzes des Arbeitnehmers. Das Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut an der Universität zu Köln empfiehlt deshalb ohne Einschränkung die Abschaffung der Steuerbefreiung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen. Die Abschaffung, so das Institut, werde eine bessere Steuertransparenz, höhere Effizienz und eine gleichmäßigere Einkommensverteilung mit sich bringen. So lautet das eindeutige Ergebnis des von Ihrem Finanzminister beauftragten Instituts. ({0}) Nun muss man in der Politik Gott sei Dank nicht alles machen, was Professoren, Schriftgelehrte und Institute vorgeben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie die eine Zwischenfrage der Abgeordneten Kressl zulassen?

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gutting, da Sie so ausführlich aus dem Gutachten zitiert haben, drängt sich mir folgende Frage auf: Sind wir uns einig, dass die Entscheidung, wie mit Bewertungen aus Sachverständigengutachten umzugehen ist, am Ende eine politische ist? Diese Frage drängt sich mir besonders auf, weil die damalige politische Leitung des Finanzministeriums zwar, wie so oft, Gutachten in Auftrag gegeben hat, aber schon damals deutlich gemacht hat, dass sie sich politisch mit diesen Wertungen ausdrücklich nicht identifiziert. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, ich habe gerade eben gesagt, dass es ein Glück in der Politik ist, dass wir nicht immer das machen müssen, was die Professoren vorgeben. Aber Sie müssen den Menschen schon erklären, warum Sie ein Gutachten, das der Finanzminister für teures Steuergeld in Auftrag gibt, ignorieren, egal welches Ergebnis bei diesem Gutachten herauskommt. Dann haben die Steuerbürgerinnen und Steuerbürger nämlich ein Problem mit Ihnen; denn die fragen sich zu Recht: Was treibt ihr eigentlich mit unserem Geld? - Darum geht es. ({0}) Dann kann man sich solche Studien in Zukunft sparen, und man braucht keine Steuergelder zu verschwenden. Es ist eine grundsätzliche Frage, ob wir mit Steuergeldern sinnvoll, dem Gemeininteresse dienend umgehen und ob wir die öffentlichen Mittel sparsam verwenden. Wenn ich diese Frage bejahe, kann ich nicht solche StuOlav Gutting dien wie Ihr Finanzminister in Auftrag geben und sie anschließend einfach in die Tonne treten. ({1}) Im Übrigen ist es auch eine Frage des Respekts gegenüber den Wissenschaftlern, gegenüber den Menschen, die in diesem Forschungsinstitut arbeiten, wie wir mit dem Ergebnis dieser Arbeit umgehen. ({2}) - Ich sage Ihnen: Wir wollen das Ergebnis der Studie des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts an der Universität zu Köln für die weitere Fortentwicklung des Steuerrechts, die wir brauchen, zumindest beachten. ({3}) Ich will hier klar sagen: Die Union plant aktuell keine Streichung dieser Steuerfreiheit. Dies würde im Übrigen unserem Grundsatz widersprechen, dass wir mehr Netto vom Brutto wollen. Der Wegfall von Ausnahmeregelungen ist grundsätzlich nur vertretbar, wenn er mit einer großen Steuerstrukturreform ({4}) und in diesem besonderen Fall mit Tarifvereinbarungen kombiniert wird, die Schlechterstellungen wie die der gerade von Ihnen zitierten Krankenschwester verhindern. Wir wollen das Einkommensteuerrecht fortentwickeln. Wir wollen es einfacher, niedriger und gerechter machen. ({5}) Wir wollen ein Einkommensteuerrecht - es geht nicht um die Umsatzsteuer -, das Leistung belohnt und diese nicht bestraft. ({6}) Aber Ihr Antrag will eine das objektive Nettoprinzip verletzende Ausnahmevorschrift zementieren, und Sie wollen mit diesem Antrag in der Konsequenz eine die Arbeitnehmer begünstigende Rechtsfortbildung verhindern. Für mich ist dieser Antrag eine Bankrotterklärung an den Gestaltungswillen und den Gestaltungsanspruch in der Steuerpolitik. Was wir brauchen, ist eine Einkommensteuerreform. Der Bürger will wissen, wofür er bezahlen muss. Ihm ist wichtig, dass die Steuerlast verteilt wird, dass er sich nicht als der Dumme vorkommt, der seine Pflichten erfüllt, während ein anderer, zum Beispiel sein Nachbar, verschont bleibt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie hätten die Chance, eine Zwischenfrage von Herrn Poß zuzulassen.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte sehr. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte um Entschuldigung, dass sich das jetzt noch verzögert. Ich habe nur eine ganz kurze Frage. Dürfen wir Ihren Ausführungen, Herr Kollege, entnehmen, dass Ihre Meinung zu dem Thema mit der Meinung von Herrn Schäuble übereinstimmt, oder ist das nur Ihre persönliche Auffassung? Ist damit zu rechnen, dass Ihre Auffassung zur Grundlage von politischen Entscheidungen der Bundesregierung möglicherweise noch in diesem Jahr wird? ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesem Jahr ganz bestimmt nicht, Herr Kollege Poß. Aber eines ist doch klar: Wir wollen eine Strukturreform bei der Einkommensteuer. Wenn ich eine Strukturreform bei der Einkommensteuer vorhabe, dann kann ich doch nicht im Vorfeld gewisse Bereiche zu Tabuzonen erklären. Wir wollen, dass die Bürger wissen, wofür sie bezahlen müssen. Wir wollen, dass das Steuerrecht gerecht ist. Wir wissen nämlich, dass ungleiche Besteuerung ungerecht ist. Das ist ja nun ein Fakt; dem können auch Sie sich nicht verschließen. Formale Gleichheit verlangt, dass ziffernmäßig gleiche Einkommen gleich hohe Steuern auslösen, zunächst einmal unabhängig davon, auf welche Weise das Einkommen erworben wurde. Das Einkommensteuerrecht, wie wir es heute haben, differenziert ja normalerweise nicht danach, wie schwer jemand zur Erzielung seines Einkommens arbeiten muss. Nur bei den Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen soll in Form der Steuerbefreiung etwas anderes gelten. Nun sprechen Sie immer wieder davon, dass diese Steuerbefreiung für Schichtarbeiter, Krankenschwestern oder Polizisten unbedingt zu erhalten ist. Aber was machen wir dann mit dem Gewerbetreibenden, der samstagabends oder sonntagmorgens in seinem Kiosk steht? Was machen wir mit dem selbstständigen Bauzeichner, der über die Weihnachtsfeiertage in seinem Büro sitzen muss und nicht heraus kann, weil er noch Aufträge erledigen muss? Für all diese gibt es keine Steuerbefreiung. Sie subventionieren mit ihren Steuern sogar noch die Steuerfreiheit der anderen. Das ist doch nicht gerecht. ({0}) Ich sage Ihnen: Genau aus diesem Grund ist die in Ihrem Antrag enthaltene Forderung nur vordergründig geeignet, um, wie von Ihnen beabsichtigt, populistische Strömungen zu bedienen. ({1}) Ich will es noch einmal wiederholen: Die Union plant aktuell keine Abschaffung der Steuerfreiheit der Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschläge. Das ist nicht Bestandteil unseres Regierungsprogramms. Wir wollen die Leistungsträger in diesem Land entlasten. Das sind die Krankenschwestern, die Polizisten und die Schichtarbeiter. ({2}) Wer wirklich arbeitnehmerfreundliche Politik machen will, wer wirklich die breite Mitte der Gesellschaft, die seit Jahren die Lasten dieses Landes trägt, entlasten will, ({3}) der muss das Ziel haben, das Einkommensteuerrecht leistungsgerechter, in sich stringenter, einfacher und transparenter zu gestalten. Einem Antrag wie dem Ihren, mit dem Sie die Fortentwicklung des Einkommensteuerrechts hin zu einem gerechten und einfacheren Steuersystem verhindern wollen, können wir nicht zustimmen. Ich habe jetzt noch zweieinhalb Minuten; da aber bald Weihnachten ist, mache ich Ihnen ein Geschenk und schenke Ihnen die zweieinhalb Minuten und wünsche Ihnen und uns allen ein schönes, gesegnetes, friedliches Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr, hoffentlich mit besseren Anträgen aus der Opposition. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nacht- und Sonntagsarbeit bedeutet für die meisten Menschen eine erhebliche Belastung. Schlafund Gesundheitsprobleme können die Folge sein. Ein eingeschränktes familiäres und soziales Leben muss in Kauf genommen werden. Daher haben Lohnzuschläge auf den Normallohn ihre Berechtigung. Gezahlt werden sie von den Unternehmen und in Form einer Steuerbefreiung der Zuschläge auch von der Allgemeinheit. Die 2 Milliarden Euro, die die Steuerbefreiung jährlich kostet, locken den jeweiligen Finanzminister zur Streichung - nun auch Herrn Schäuble. Bereits im Mai 2003 hatte der Sozialdemokrat Peer Steinbrück, damals Ministerpräsident, diese Euros im Blick. Als Bundesfinanzminister gab er auch die kürzlich veröffentlichte Studie, die die Abschaffung befürwortet, in Auftrag. Nun wird wieder, allen voran von der FDP, die Steuerbefreiung der Zuschläge als unsoziale Steuersubvention verunglimpft. Ich sage Ihnen: Wenn Krankenschwestern, Busfahrer oder Feuerwehrleute bereit sind, ihre Arbeit auch nachts und an Sonn- und Feiertagen zu verrichten, dann ist das doch sehr wohl im Interesse aller. ({0}) Daher ist eine Steuerbefreiung ihrer Zuschläge gerechtfertigt. Ob die Steuerbefreiung das beste Mittel für einen berechtigt höheren Stundenlohn ist, kann man diskutieren. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Eine ostdeutsche Verkäuferin ist, wie immer mehr ihrer Kolleginnen, im Niedriglohnbereich beschäftigt. Das heißt 5,60 Euro die Stunde. Bekommt sie den steuerlich maximal freigestellten Sonntagszuschlag von 50 Prozent, sind das gerade einmal 2,80 Euro pro Stunde mehr an Sonntagen. Die Steuerbefreiung dieses Zuschlags nützt ihr gar nichts; denn ihr Einkommen ist ohnehin zu niedrig, als dass sie darauf überhaupt Steuern zahlt. Diese Verkäuferin geht bei der Steuerbefreiung also leer aus. Sie könnte nur durch die konsequente Einführung eines angemessenen Mindestlohns der Armutsfalle entfliehen. Deshalb wird die Linke an diesem Punkt auch nicht lockerlassen. ({1}) Was wäre nun aber die Folge einer Abschaffung der Steuerbefreiung? Höhere Nachtarbeitszuschläge in Unternehmen oder bei der öffentlichen Hand? Mehr brutto, damit es netto wenigstens das Gleiche bleibt? Wohl kaum. Die Beschäftigten sitzen immer mehr am kürzeren Hebel gegenüber den Arbeitgebern. Ob SchwarzGelb, Rot-Grün oder die Große Koalition: Alle Bundesregierungen haben ihren Beitrag dazu geleistet, den Niedriglohnsektor auszubauen. Sie haben damit die soziale und die Verhandlungsposition der Beschäftigten immer weiter ausgehöhlt. Der überwiegende Teil der nachts und sonntags Arbeitenden lebt schon heute nicht in Saus und Braus, im Gegenteil. Wer ihnen von dem Wenigen, was sie bekommen, noch etwas nimmt, handelt eindeutig unsozial. Ich freue mich, dass auch die SPD das eingesehen hat. Als sie noch in Regierungsverantwortung war, sah sie das anders. ({2}) 2006 wurde im sogenannten Haushaltsbegleitgesetz neben der unsozialen Anhebung der Mehrwertsteuer eine drastische Beschränkung der Sozialversicherungsfreiheit von Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschlägen eingeführt. So wie die SPD kann vielleicht, hoffe ich, auch die Regierungskoalition heute dazulernen. Wir als Linke sagen Ihnen: Hände weg von der Steuerbefreiung auf Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit! Ich danke Ihnen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Ihrem Antrag, werte Kollegen von der SPDFraktion, wollen Sie sich zu Beschützern der Schichtarbeiter aufschwingen, ({0}) also von Polizisten und Krankenschwestern, von Bedienungen im Restaurant und anderen. Aber genau diese Berufsgruppen, wie viele andere auch, haben Sie in den letzten elf Jahren, in denen Sie die Regierungsverantwortung hatten, geschröpft wie nie zuvor. ({1}) Die Scheinheiligkeit der SPD ist nur schwer zu überbieten. Nach elf Jahren an der Macht wird nun, keine drei Monate nach Ihrer Abwahl, von Ihnen versucht, Ihre eigene Politik einfach vergessen zu machen. Die Wahrnehmung der Menschen in unserem Land sieht freilich ganz anders aus. Die SPD hat die größte Mehrwertsteuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit einer Belastung von mehr als 20 Milliarden Euro im Jahr zu verantworten. ({2}) Die SPD hat eine Unternehmensteuerreform zu verantworten, die den Namen nicht verdient hat. Die SPD hat die verkorkste Gesundheitsreform zu verantworten, die nichts besser, aber alles teurer gemacht hat. ({3}) Und wer hat dafür zu zahlen? Es sind die Leistungsträger in unserer Gesellschaft: die Schichtarbeiter, die Polizisten und die Krankenschwestern, übrigens unabhängig davon, zu welcher Tageszeit sie ihr Geld verdienen. ({4}) Von Ihnen brauchen wir uns nicht erklären zu lassen, was vernünftige Steuer- und Sozialpolitik ist; denn Sie sind die Steuererhöhungspartei in diesem Haus - wir sind die Steuersenkungspartei. ({5}) Erst kürzlich hatte ich ein Gespräch in der Münchner U-Bahn, in dem mir ein Mitarbeiter der Münchner Stadtwerke die von Ihnen hinterlassene Situation verdeutlichte. Er ließ sich seine hart erarbeiteten Überstunden auszahlen. Von den 1 200 Euro brutto blieben ihm nur 300 Euro netto - für Überstunden im Umfang von zwei Arbeitswochen. Das nennt die SPD also eine sozial gerechte Politik. Ich nenne so etwas ganz einfach unsozial und ungerecht. ({6}) Dieser und viele weitere Fälle machen eines deutlich: Nach elf Jahren SPD-Steuerpolitik lohnt sich Arbeit in Deutschland nicht mehr. Wir werden das ändern. Denn Arbeit muss sich in diesem Lande wieder lohnen. ({7}) Freiheit, Steuergerechtigkeit, Stärkung der Bürgerrechte und bessere Bildung für unsere Kinder: Das sind unsere primären Ziele. Davon werden wir uns nicht durch linke oder sozialdemokratische Verblendungen abbringen lassen. ({8}) Heute hat das Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Bundesrat passiert. ({9}) Die Regierungskoalition setzt damit ein deutliches Zeichen für eine schnelle Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. ({10}) Während die Opposition noch lamentiert, haben wir gehandelt und die Menschen und vor allen Dingen die Familien in diesem Lande entlastet. ({11}) Es profitieren insbesondere die Familien der Schichtarbeiter. Das ist moderne und soziale Steuerpolitik. ({12}) Bei der Erhöhung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge wurde übrigens von allen Sachverständigen darauf hingewiesen, dass diese Maßnahmen insbesondere den Schichten mit niedrigen Einkommen zugute kommen. ({13}) Durch diese zielgerichtete und vernünftige Entlastung werden finanzielle Spielräume für Familien mit Kindern eröffnet. Wir werden in den nächsten Jahren durch harte Arbeit Stück für Stück die Fehler der vergangenen Regierung aufarbeiten. ({14}) Dazu hat uns der Wähler beauftragt, auch wenn Sie von der Opposition das immer noch nicht wahrhaben möchten. Die Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages über das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat übrigens deutlich gezeigt, dass die Maßnahmen der schwarz-gelben Koalition Impulse für ein stabiles und dynamisches Wirtschaftswachstum setzen werden. ({15}) Da Sie, werte Kollegen von der Steuererhöhungspartei, es offenbar immer noch nicht verstanden haben - Sie haben ja in diesem Hause und übrigens auch im Bundesrat Steuerentlastungen abgelehnt -, will ich noch einmal versuchen, Ihnen das zu erklären. ({16}) Wir entlasten die Unternehmen mit Maßnahmen, mit denen sie die vorhandenen Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen können. Das ist die beste Sozialpolitik; denn nur so können wir uns überhaupt einen Sozialstaat leisten. ({17}) Die Regelung zur Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter, die Abmilderung der Zinsschranke und die Verbesserungen bei der Sanierungsklausel werden dazu dienen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise zu stärken. Die Korrekturen an der Unternehmensteuerreform wirken für die Unternehmen beschäftigungsfördernd, weil krisenentschärfend. Sie wurden daher von den Experten, nicht nur in der Sachverständigenanhörung, einhellig begrüßt. ({18}) Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist damit ein erster Schritt, um vor allem die Familien zu entlasten. Die Erhöhung der Kaufkraft der Familien ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Binnennachfrage und hilft vor allem den Kindern und damit unser aller Zukunft. Die Krise ist mit diesen Maßnahmen zwar noch nicht überwunden, aber das Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es sichert die Arbeitsplätze, schafft neue Arbeitsplätze und sorgt für mehr Netto vom Brutto auch für die Schichtarbeiter. ({19}) Liebe Kollegen von der Steuererhöhungspartei, nutzen Sie doch einmal die Weihnachtszeit zum Erkenntnisgewinn! ({20}) Folgen Sie unserem Kurs einer sozialen Steuergesetzgebung! Liebe Bürger dieses Landes, freut euch sehr; denn dank der FDP gibt es ab Januar mehr, ({21}) mehr Netto vom Brutto. Frohe Weihnachten! ({22})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Gerhard Schick hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte natürlich jetzt über den Unterschied zwischen Weihnachten und Karneval referieren. ({0}) Aber ich will lieber zur Sache sprechen. Herr Dr. Volk, Sie haben über das Wachstumsbeschleunigungsgesetz gesprochen. Es wäre schon interessant gewesen, zu erfahren: Was ist eigentlich versprochen worden? Entweder ist die schwarz-gelbe Koalition in Schleswig-Holstein als Bettvorleger gelandet, oder es gibt Versprechungen, die zulasten des Bundeshaushaltes gehen. In dem Fall hat dieses Haus ein Recht darauf, das zu erfahren. ({1}) Wenn wir über das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hier reden, dann darüber. Worum geht es beim vorliegenden Antrag? Bei der Steuerfreiheit der Zuschläge für Wochenend-, Nachtund Sonntagsarbeit geht es um eine Sondernorm. Die SPD schreibt, man dürfe diese nicht antasten. Ich glaube, es war richtig, diese Regelung in der rot-grünen Regierungszeit insofern anzutasten, als wir einen Missbrauch, den es in diesem Bereich bei den Spitzenverdienern gab, korrigiert und im Hinblick auf den Stundenlohn eine Höchstgrenze von 50 Euro festgelegt haben, damit die Kicker mit ihren Millioneneinkommen nicht von einer Regelung profitieren, die für Kleinverdiener, für Leute, die am Sonntag etwas für die Gesellschaft leisten müssen und wenig verdienen, gedacht ist. Sie übersehen auch, dass die Beitragsfreiheit in diesem Bereich - da gibt es eine Deckelung bei 25 Euro - noch viel wichtiger ist als die Steuerfreiheit. Denn dies trifft die Kleinverdiener, von denen Frau Dr. Höll zu Recht gesprochen hat, noch viel stärker als die Steuerfreiheit, die erst bei einer gewissen Grenze des Haushaltseinkommens greift. Wenn Sie die Tendenz zur Wochenendarbeit beklagen, dann sage ich Ihnen: Da muss man systematisch herangehen, und dann darf der rot-rote Senat in Berlin nicht als Erstes die Ladenöffnungszeiten für den Sonntag freigeben und sehr viele Beschäftigte zusätzlich in die Sonntagsarbeit treiben. ({2}) Seien Sie doch konsistent, wenn Sie dies ernst meinen! Ich finde, dass man auch die wissenschaftliche Forschung beachten muss, die sagt: Vielleicht ist das alles nicht ganz so gerecht, wie es zunächst scheint. An einer Stelle stimme ich Ihrem Antrag zu. Es geht um Prophylaxe - so verstehe ich Ihren Antrag -; denn es droht eine massive Gefahr. Der Bundesfinanzminister sagt: Ab 2011 haben wir einen großen Konsolidierungsbedarf; aber ich verrate nicht, wie wir vorgehen. - Liest man den Koalitionsvertrag, stellt man zwar fest, dass Sie sich zu allen möglichen Details in der Steuerpolitik äußern: zur Besteuerung von Jahreswagenrabatten, zum steuerlichen Abzug privater Steuerberatungskosten, zu Steuererklärungsvordrucken und vielem Weiteren. ({3}) Die Steuerfreiheit der Zuschläge wird aber nicht aufgeführt. Da werden wir natürlich hellhörig; denn wir befürchten, dass Sie die Argumente der Systematik und der Bürokratie, die bei den Hoteliers merkwürdigerweise nicht gezählt haben, dann wieder hervorholen, wenn es darum geht, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu belasten. So kommen wir nicht zu einem einfachen Steuersystem. Kein Mitglied der CDU/CSU und der FDP im Finanzausschuss fand die Regelung zur ermäßigten Mehrwertsteuer für die Hoteliers gut. Trotzdem haben sie alle mitgemacht. ({4}) - Ach so, Sie persönlich finden die Ausnahmeregelung, die mehr Bürokratie schafft und unsystematisch ist, gut? ({5}) Dann nehmen wir mal zu Protokoll, dass Sie das gut finden. ({6}) Kommen Sie also bei der Steuerfreiheit der Zuschläge nicht plötzlich mit dem Argument der Systematik und des Bürokratieabbaus. Dann sind Sie nämlich unglaubwürdig. ({7}) Wenn Sie sich die Statistik einmal anschauen, dann sehen Sie, dass die Zuschläge für Nacht-, Wochenendund Feiertagsarbeit im Bereich der Gaststätten und Hotels ganz besonders notwendig sind. Davon sind sehr viele Menschen betroffen. Ich glaube, dass Ihre Steuerpolitik und damit Ihre Politik der Spaltung dieser Gesellschaft - oben geben und unten nehmen - in den nächsten Jahren dazu führen wird, dass etwas passiert, wozu wir sagen: „So nicht“, nämlich dazu, dass die Beschäftigten im Gaststätten- und Hotelgewerbe dadurch, dass Sie die Steuerfreiheit abschaffen, für die Steuergeschenke an ihre Chefs werden zahlen müssen. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben, und das machen wir nicht mit. Danke schön und frohe Weihnachten! ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen, aber vor allem auch all denen, die uns hier im Saal und auch im ganzen Haus immer wieder bis zum Schluss und darüber hinaus unterstützen: Erstens. Schlafen Sie aus. Zweitens. Singen Sie laut. Drittens. Beten Sie, wenn Sie mögen. Viertens. Genießen Sie. Fünftens. Seien Sie behütet. Kurz: Gesegnete Weihnachten! Für Sie alle viel Kraft für das Neue, das danach kommt. Ich habe im Überschwang vergessen, den Antrag zu überweisen. Das machen wir noch nach den guten Wünschen sozusagen als Weihnachtsgeschenk. Drucksache 17/244 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Damit sind Sie alle offensichtlich einverstanden. So entlasse ich Sie in die freie Zeit und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 19. Januar 2010, 10 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.