Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Morgen!
Bitte nehmen Sie Platz.
Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich Ihnen sagen, dass wir Grund zur Freude haben, weil unser
Kollege Ulrich Petzold heute mit uns gemeinsam seinen
60. Geburtstag feiert.
({0})
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu sehr
herzlich und wünsche alles Gute.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum
Steuervereinfachungsgesetz 2011 zu erweitern, die
gleich als Erstes aufgerufen werden soll. - Sie sind damit einverstanden; ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist das auch so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Steuervereinfachungsgesetz 2011
- Drucksachen 17/5125, 17/5196, 17/6105,
17/6121, 17/6146, 17/6583, 17/6875, 17/7025 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
Kollege Michael Meister, wollen Sie Bericht erstatten?
({2})
- Es ist nicht erforderlich. Dann kommen wir gleich zur
Abstimmung. Das spart uns an diesem Freitagmorgen
Zeit.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache
17/7025? - Ein Blick genügt, um festzustellen, dass alle
Fraktionen zustimmen. Vorsichtshalber frage ich noch
nach den Gegenstimmen. - Keine. Enthaltungen? -
Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der
gesetzlichen Krankenversicherung ({3})
- Drucksache 17/6906 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung
einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung
- Drucksache 17/3215 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Sie
sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erster in unserer
Debatte hat Bundesminister Daniel Bahr für die Bundesregierung das Wort. Herr Bundesminister, bitte.
({6})
Redetext
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Jetzt, wo der Sommer zu Ende ist,
({0})
können viele Deutsche darauf zurückblicken, welche
Gesundheitssysteme sie im Ausland erlebt haben. Eines
können wir immer wieder feststellen: Wenn ihnen im
Ausland etwas passiert, möchten sie so schnell wie möglich zurück nach Deutschland, um hier behandelt zu werden.
({1})
Die Patienten in Deutschland wissen, dass sie hier den
Arzt, das Krankenhaus und auch die Krankenkasse ihres
Vertrauens selbst wählen können. Die Patienten in
Deutschland vertrauen darauf, dass alles medizinisch
Mögliche für ihre Gesundheit getan wird und sinnvolle
Innovationen schnell Eingang in die Praxis finden. Kurz:
Sie vertrauen auf unser deutsches Gesundheitssystem.
Wir stellen fest, dass andere Länder uns um unser Gesundheitssystem beneiden.
({2})
Bei aller Kritik im Detail, bei allem, was man noch
besser machen kann - darum streiten wir hier im Deutschen Bundestag -, wissen wir, dass es kaum ein anderes
Land auf dieser Welt gibt, das es schafft, freie Arztwahl,
freie Krankenhauswahl, Therapiefreiheit, freie Wahl der
Krankenkasse miteinander zu verbinden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt es auch für die Zukunft zu
erhalten.
Die Herausforderungen, vor denen das deutsche Gesundheitssystem steht, sind nicht leicht zu bewältigen.
Die demografische Entwicklung, die alternde Bevölkerung und der medizinisch-technische Fortschritt sind Herausforderungen, die an die Finanzierbarkeit, aber auch
an die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens große Herausforderungen stellen. Tagtäglich leisten
Tausende von Pflegern und Pflegerinnen, von Ärzten
und Ärztinnen, von Arzthelferinnen und Arzthelfern,
von Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Ergotherapeuten und Angehörige vieler anderer Berufsgruppen
ihre Arbeit. Vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung wird die Belastung bei dieser Arbeit zunehmen. Für die Leistung, die in den Gesundheitsberufen
tagtäglich erbracht wird, braucht es Motivation, Vertrauen und Anerkennung. Genau das ist das Ziel des Versorgungsstrukturgesetzes.
({3})
Wir wollen denjenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten, Motivation, Vertrauen und Anerkennung für ihre
Leistung geben und die Versorgung für die Patienten
deutlich verbessern.
Die Gesundheitsberufe wandeln sich. Während früher
die Pflege immer weiblich war, war die Medizin männlich. Wir stellen fest, dass in Deutschland sechs von zehn
Erstsemestern in der Humanmedizin mittlerweile Frauen
sind. Junge Medizinerinnen wie junge Mediziner haben
heute eine andere Einstellung zum Arztberuf, als das früher der Fall war. Früher war der Arzt in der Regel männlich, hat 60 bis 70 Stunden - Notdienste und Wochenenddienste eingerechnet - gearbeitet, und zu Hause hat
sich die Frau um die Familie gekümmert. Das wird nicht
das Berufsbild des künftigen Arztes, der künftigen Ärztin sein. Deshalb brauchen wir eine bessere Vereinbarkeit von Gesundheitsberuf und Familie. Weil die jungen
Medizinerinnen und Mediziner nach geregeltem Einkommen und geregelten Arbeitszeiten suchen, müssen
wir die Strukturen etwas verändern. Wir müssen auf diesen gesellschaftlichen Wandel eine Antwort haben, damit nicht diejenigen, die ein teures Medizinstudium, aus
Steuermitteln finanziert, aufgenommen haben, später
aufgrund der Rahmenbedingungen, die ihnen die Politik
gibt, sagen: Wir gehen doch nicht in die ärztliche Versorgung. Wir werden kein Arzt. - Hier läuft etwas falsch,
und das ändern wir mit diesem Gesetz.
({4})
Wir verbessern die Vertretungsregelung für Mediziner
in der Praxis. Wir schaffen eine bessere Möglichkeit, einen Entlastungsassistenten einzustellen. Damit geben
wir den jungen Medizinern eine verlässliche Perspektive, eine Praxis auch in der Fläche zu eröffnen.
Früher wurde über die Ärzteschwemme diskutiert.
Heute stellen wir fest, dass mittlerweile gerade in der
Fläche - im Münsterland an der niederländischen
Grenze, in der Oberpfalz an der tschechischen Grenze, in
der Uckermark, in Schleswig-Holstein und in vielen anderen Regionen in Deutschland - offene Stellen in Krankenhäusern zu beklagen sind und Haus- und Fachärzte
keine Nachfolger finden. Es bringt nichts, darüber zu
streiten oder den drohenden Ärztemangel zu leugnen.
Diese Koalition, diese Regierung hat gehandelt. Wir haben das Problem angepackt, weil wir die Sorgen der
Menschen vor Ort ernst nehmen. Die Menschen werden
uns danach beurteilen, ob wir ihnen eine medizinische
Versorgung vor Ort gewährleisten, und dafür sorgt diese
Koalition.
({5})
Regelungen, die vielleicht einmal ihre Berechtigung
hatten, sind dort infrage zu stellen, wo Versorgungsprobleme drohen. In überversorgten Gebieten hat die Mengenabstaffelung sicher ihre Berechtigung. Aber wenn
Mengenabstaffelung, was bedeutet, dass ein Arzt bei immer mehr Patienten immer weniger Geld bekommt, dazu
führt, dass junge Mediziner in der Fläche keine Arztpraxis eröffnen, dann läuft etwas falsch. Wir heben diese
Mengenabstaffelung auf.
Wir erlauben Zuschläge, die gewährt werden können,
um jungen Medizinern einen Anreiz zu geben, sich in
der Fläche niederzulassen. Wir stärken den Grundsatz
„Beratung vor Regress“, weil es nicht sein darf, dass ein
Mediziner, der in der Fläche mehr Patienten betreut,
doppelt bestraft wird, weil er möglicherweise mehr Arzneimittel verschreiben muss.
({6})
Wir stärken die Notdienste durch Kooperationen zwischen Ärzten und Krankenhäusern. Wenn alle diese Anreize nicht wirken, werden wir dafür sorgen, dass die
Kassenärztliche Vereinigung oder sogar Kommunen mit
eigenen Einrichtungen eine medizinische Versorgung
vor Ort gewährleisten können. Wir bauen Bürokratie ab.
Wir regeln, dass delegationsfähige Leistungen von Ärzten auf andere Berufsgruppen übertragen werden können, um den Arzt in seiner Tätigkeit zu entlasten und andere Berufsbilder in ihrer Tätigkeit zu stärken.
Während SPD und Grüne während ihrer Regierungszeit und in den Debatten der letzten Wochen und Monate
immer den drohenden Ärztemangel geleugnet haben, packen wir als Koalition dieses Problem an.
({7})
Wir wollen, dass der Landarzt für die Menschen nicht
nur in einer idyllischen Vorabendserie existiert. Wir sorgen mit gezielten Anreizen - nicht mit der Gießkanne dafür, dass sich auch die Menschen in der Fläche darauf
verlassen können, dass sie eine medizinische Versorgung
vor Ort bekommen.
Es stimmt: Es gibt nicht überall unterversorgte Gebiete. Aber wenn ich mir den Altersschnitt der Ärzte in
der Praxis anschaue, dann wird deutlich, dass dieses Problem auf uns zukommen wird. Da gilt es, jetzt zu handeln.
Es gilt, den Medizinern eine verlässliche Perspektive
zu eröffnen und den Pflegern und Arzthelfern verlässliche Rahmenbedingungen zu bieten. Wir schaffen eine
Bedarfsplanung, die sich am wirklichen Bedarf orientiert. Die bisherige Bedarfsplanung war rein historisch
begründet, setzte auf den Zustand Anfang der 90er-Jahre
auf, anstatt die Demografie und die Morbidität zu berücksichtigen, anstatt den wirklichen Bedarf zu berücksichtigen. Wir schaffen Flexibilität,
({8})
damit vor Ort geschaut werden kann: Wo gibt es wirklich Überversorgung? Wo droht Unterversorgung? Wo
müssen gezielt Anreize gesetzt werden, damit sich dort
jemand niederlässt?
Wir schaffen eine Regionalisierung in der Vergütung.
Das heißt, vor Ort wird wieder entschieden, wie vergütet
wird. Wir können doch angesichts der unterschiedlichen
Situationen nicht glauben, man könne zentralistisch von
Berlin aus die richtige Vergütung in ganz Deutschland
festlegen.
Wir bauen die Überversorgung ab, indem wir die
Möglichkeit bieten, dass frei werdende Arztsitze in überversorgten Gebieten aufgekauft werden. Das ist der richtige Weg, um die Überversorgung in Ballungsräumen
schrittweise abzubauen. Ich halte nichts davon, dass wir
durch Strafen Ärzte demotivieren, die auch in überversorgten Gebieten viele Patienten zu versorgen haben.
Wenn Sie durch Deutschland fahren, werden Sie in vielen Städten Diskussionen darüber erleben, wie häufig
lange Wartezeiten sind, bis man einen Termin beim Arzt
bekommt. Die Diskussion über eine Überversorgung
müssen wir sachlich führen. Wir müssen die Überversorgung durch richtige Maßnahmen abbauen, statt einfach
nur die Mediziner in Ballungsräumen durch Honorarkürzungen zu bestrafen; denn das ist der falsche Weg.
({9})
Wir schaffen mit diesem Gesetz auch eine neue Möglichkeit für fairen Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Wir geben den Versicherten die
Möglichkeit der Wahlfreiheit, das heißt, ihre Krankenkasse nach ihren Bedürfnissen wählen zu können. Krankenkassen können künftig wieder Zusatzleistungen anbieten wie beispielsweise eine bessere Unterstützung
durch Haushaltshilfen, wie beispielsweise eine zusätzliche Vergütung bei künstlicher Befruchtung oder wie beispielsweise die Erstattungsfähigkeit von rezeptfreien
Medikamenten. Dadurch schaffen wir einen fairen Wettbewerb um eine bessere Versorgung, um bessere Leistungen der Krankenkassen untereinander. Wer profitiert
von diesen Maßnahmen? Wen beglücken wir mit diesem
Gesetz? Wir beglücken mit diesem Gesetz die Patientinnen und Patienten, weil sie dadurch mehr Wahlfreiheit
und eine bessere Versorgung haben. Sie erleben, dass wir
ihre Sorgen und Nöte wirklich ernst nehmen.
({10})
Ich möchte ein Beispiel anführen, mit dem meine
Vorvorgängerin, Frau Schmidt von der SPD, genauso belastet war; denn eine Krankenkasse bereitet uns seit Jahren wirtschaftliche Sorgen und Probleme. Als die City
BKK in Berlin und Hamburg geschlossen werden
musste, haben wir erlebt, dass sich die Menschen offensichtlich nicht darauf verlassen können, dass die gesetzlichen Krankenkassen Solidarität untereinander zeigen,
und dass es offensichtlich nicht selbstverständlich ist,
dass man sich für den notwendigen Krankenversicherungsschutz seine Krankenkasse selbst auswählen kann.
Mit diesem Versorgungsstrukturgesetz sorgen wir dafür, dass die richtigen Maßnahmen ergriffen werden, damit sich die Patientinnen und Patienten, die Versicherten
darauf verlassen können, dass sie einen Krankenversicherungsschutz unabhängig vom Alter, unabhängig von
Vorerkrankungen, unabhängig vom Geschlecht und unabhängig vom sozialen Stand in Deutschland selbstverständlich haben. Wir sorgen dafür, dass, wenn eine
Kasse geschlossen wird, unbürokratisch ein Wechsel zu
einer anderen Kasse möglich wird. Wenn Kassen noch
einmal ein solch inakzeptables Abwimmelverhalten zeigen, dann wird es drastische Strafen geben bis hin zur
Abberufung des Vorstandes. Das ist ein notwendiger
Schritt, der mit diesem Gesetz gegangen wird.
({11})
Insofern setzen wir mit diesem Gesetz gezielt Anreize, um die Versorgung der Menschen in Deutschland
zu verbessern. Das machen wir nicht mit der Gießkanne,
sondern mit gezielten Maßnahmen. Diese Maßnahmen
sind notwendig. Wenn wir nichts tun, dann wird es deutlich teurer; denn der Ärztemangel in den Regionen führt
zu deutlich höheren Kosten, als wenn wir jetzt die richtigen Anreize setzen, um Mediziner in die Fläche zu locken und damit die Versorgung in der Fläche zu gewährleisten.
Herzlichen Dank und auf eine gute Beratung dieses
Gesetzentwurfs.
({12})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Der nächste
Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Professor Karl Lauterbach.
Bitte schön, lieber Kollege.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zunächst einmal ganz konkret: Was
hat uns der Minister vorgetragen?
({0})
Was hat der Minister wirklich gesagt?
Erster Punkt. Er hat die Verbesserung der Situation
der Hausärzte und Landärzte angesprochen. Was passiert
denn konkret? Es werden insgesamt 100 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt, nachdem vorher die Hausarztverträge auf dem Land mehr oder weniger sang- und klanglos gekappt worden sind. Dem System wird bei der hausärztlichen Versorgung netto Geld entzogen. Die
Hausärzte gehören nicht zu der Gruppe, die sich der
Klientelpolitik der FDP sicher sein könnte; die Hausärzte sind nicht geschützt durch den Lobbyismus der
FDP. Den Hausärzten ist zunächst ein großer Teil des
Geldes entzogen worden. Jetzt werden auch noch Zuschläge für die unterversorgten Gebiete entzogen. Dann
gibt es zusätzlich ein Almosen von 100 Millionen Euro,
und das will der Minister hier als eine Förderung der
hausärztlichen Versorgung verkaufen. Das ist doch Augenwischerei. In Wirklichkeit wird den Hausärzten Geld
entzogen, und nichts anderes.
({1})
Zweiter Punkt. Es wurde darüber gesprochen, was in
den überversorgten Gebieten passiert. In den überversorgten Gebieten können die Kassenärztlichen Vereinigungen ein Vorkaufsrecht geltend machen; sie können
dort Kassensitze kaufen. Aber welchen Anreiz dazu haben sie denn? Dazu hat der Minister nichts gesagt. Im
Prinzip ist es so: Die Kassenärztliche Vereinigung kann
zwar ein paar Sitze kaufen, die Politik aber macht nichts.
Es ist doch Ihre Aufgabe, sehr verehrter Herr Minister,
für den Abbau der Überversorgung zu sorgen. Sie als
Minister können bei den Kassenärztlichen Vereinigungen doch nicht als Bittsteller auftreten, ohne einen Mechanismus nennen zu können, wie das Ganze funktionieren soll. Die Überversorgung wird durch dieses Gesetz
überhaupt nicht angegangen. Das ist dem Minister auch
klar; daher bestritt er die Überversorgung. Er hat gesagt:
Wenn man in die überversorgten Gebiete fährt, dann
stellt man fest, dass man auch dort warten muss. Das
stimmt. Das liegt aber nicht daran, dass dort Ärzte fehlen, sondern das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten Honorarpolitik, an der Sie ebenfalls nichts ändern.
({2})
Sie produzieren die Überversorgung und machen nichts,
um sie abzubauen.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Sehr gerne, ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Sehr geehrter Herr
Kollege Lauterbach, Sie reden immer so viel von Überversorgung. Ist Ihnen bekannt, dass die sozialdemokratische Senatorin in Hamburg Frau Prüfer-Storcks, die
auch immer gesagt hat, es gebe überall eine immense
Überversorgung, auf die Frage, ob die Überversorgung
überhaupt bestehe und wie sie abgebaut werden könne,
geantwortet hat: „In Hamburg gibt es keine Überversorgung“? Hamburg ist, wie Sie vielleicht wissen, die
zweitgrößte Stadt Deutschlands. Warum reden Sie also
immer von Überversorgung, wenn dies doch die eigenen
Minister bzw. Senatoren negieren und sagen: Nein, bei
uns natürlich nicht. - Mich würde interessieren, wie Sie
darauf reagieren.
Vielen Dank.
Sie konfrontieren mich hier mit einem möglichen
Zitat, welches ich weder prüfen kann noch kenne. Ich
kann nur so viel sagen: Im Hinblick auf ein Gesetz, zu
dem der Minister vorträgt, er wolle Überversorgung abbauen, erwarte ich vom Minister, dass er einen zumindest plausiblen Mechanismus erklärt, wie das, was er
sich selbst zum Ziel setzt - er bestreitet somit ja die
Überversorgung nicht -, funktionieren kann.
({0})
Das Gesetz ist erneut handwerklich gescheitert.
Meine Kritik ist: Wenn man eine Überversorgung einräumt, was der größte Teil im Hause jederzeit bereit ist
zu tun, weil es offensichtlich ist - anderes zu behaupten,
würde der Bestreitung gleichen, dass die Erde eine Kugel ist -, und sie beseitigen will, muss man hier tätig
werden. Da kann der Minister nicht zum Bittsteller bei
der Kassenärztlichen Vereinigung degenerieren.
({1})
Das war die Antwort auf die Zwischenfrage der Kollegin Aschenberg-Dugnus. - Bitte schön, Sie haben das
Wort.
Nichtsdestotrotz: Dieses Gesetz enthält eine Reihe
von Kostensteigerungen, über die nicht so schnell hinweggegangen werden darf. Es ist zwar so, dass sich die
Versorgung nicht verbessert, aber die vorhandene Versorgung - das darf man nicht außer Acht lassen - wird
deutlich teurer. So wird beispielsweise in den Regionen,
in denen Ärztemangel besteht, die Mengenabstaffelung
abgeschafft, was ökonomisch völlig unsinnig ist. Wenn
ich mehr Leistungen der gleichen Art erbringe, habe ich
natürlich geringere Fixkosten pro Leistung; somit sinken
auch meine Kosten für die Grenzleistung. Das ist ökonomisch ein völlig natürlicher Prozess. Aber diese Abstaffelung wird abgeschafft.
({0})
Von einer Erhöhung spreche ich doch gar nicht, Herr
Lanfermann. Die Abstaffelung ist im Großen und Ganzen ein Ergebnis der Arbeit der Großen Koalition. Das
war nicht das Schlechteste, was wir gemacht haben.
Meine Kritik, dass die Abschaffung der Abstaffelung
eine Verteuerung der bestehenden Leistungen darstellt,
ist berechtigt. Die vorhandene Versorgung wird teurer.
Das spiegelt sich auch in diesem Gesetzentwurf wider.
Weshalb sollte das gemacht werden? Weshalb stellen wir
nicht das Ziel in den Vordergrund, die Leistungen auszudehnen und zu verbessern? Was ist der Grund dafür? Die
Leistungen in den unterversorgten Gebieten müssen ausgedehnt werden; denn dort besteht ein Leistungsbedarf.
Dieser Leistungsbedarf wird im vorliegenden Gesetzentwurf aber nicht angesprochen. Die Leistung bei bestehender Unterversorgung wird einfach nur höher vergütet. Somit handelt es sich hierbei nur um ein Geschenk
an ein paar Ärzte. Für die Patienten bessert sich die Versorgung in keiner Weise.
({1})
Es handelt sich nicht um den Entwurf eines Strukturgesetzes, sondern um ein Geschenk an ein paar Ärzte. Eine
Veränderung der Versorgungssituation wird es nicht geben.
({2})
Eine ähnliche Entwicklung ist bei der spezialärztlichen Versorgung zu beobachten. In Zukunft wird jeder
onkologische Leistungen anbieten können, der auf der
Grundlage einer Einschätzung der Kassenärztlichen Vereinigungen die Kriterien dafür erfüllt. Das wird natürlich
dazu führen, dass jede noch so kleine onkologische Einrichtung - ob Praxis oder Krankenhaus - diese spezialärztlichen Leistungen extrabugdetär abrechnet. Auch das
ist nichts anderes als eine Verteuerung, wenn nicht sogar
eine Verschlechterung der jetzigen Leistungen. Das wird
doch dazu führen, dass mehr Leistungserbringer die gleichen Leistungen anbieten, sodass sich die Leistungen
auf mehr Einheiten verteilen. Es wird dazu führen, dass
Onkologen, die kaum Erfahrung haben, Leistungen erbringen. Somit haben wir hier sogar den Fall, dass die
bestehenden Leistungen nicht nur teurer, sondern auch
schlechter werden. Ich verstehe nicht, worin der Sinn einer solchen Regelung liegt.
({3})
Hinzu kommt, dass der Vorbehalt des Verbots im Hinblick auf die Leistungen im Krankenhaus schwerer wird;
denn um eine neue Leistung im Krankenhaus zu verbieten, müssen zwei Drittel der Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses ein Verbotsvorbehalt äußern.
Die Krankenhausgesellschaft kann also im Prinzip im
Block neue Leistungen im Krankenhaus zulassen, und
zwar selbst dann, wenn deren medizinischer Wert in keiner Weise erwiesen ist. Auch das ist ein Beispiel dafür,
dass durch dieses Gesetz - wenn es denn konkret wird entweder die bestehenden Leistungen teurer werden oder
Leistungen eingeführt werden, die in medizinischer Hinsicht unsinnig sind und deren medizinischer Wert zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt werden
kann. Das ist also auch keine Verbesserung der Versorgung.
Durch dieses Gesetz wird es in Zukunft möglich sein,
als bisher nicht zugelassener Leistungserbringer Leistungen zu erbringen. Ich spreche dabei beispielsweise von
Homöopathen oder Heilern. Im Prinzip kann dann eine
Leistung zulasten der Krankenkasse erbracht werden,
die wir nach unserem jetzigen Verständnis gar nicht als
eine medizinische Leistung ansehen. Bei allem Respekt
vor der Homöopathie: Sind das tatsächlich Leistungen,
die über die Zusatzbeiträge der Versicherten bezahlt werden sollten? Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Auch das ist doch nichts anderes als das Bemühen, die
Versorgung aufzubohren.
Ich komme zum Ende
({4})
und will das Gesetz in Gänze beurteilen. Sie selbst haben
die Frage gestellt, wen Sie mit diesem Gesetz beglücken.
Sie beglücken in erster Linie die Kassenärztlichen Vereinigungen; denn sie werden den größten Teil der Regelungen dieses Gesetzes umsetzen müssen. Die Politik
wird somit zum Bittsteller der Kassenärztlichen Vereinigungen. Das bezieht sich sowohl auf den Bundesausschuss als auch auf die Regelungen der regionalisierten
Bedarfsplanung. Außerdem beglücken Sie ein paar
Ärzte, die die bestehenden Leistungen schlicht und
ergreifend höher abrechnen können. Es wird dadurch
nicht mehr Hausärzte geben. Es wird auch nicht zu
einem Abbau der Unterversorgung oder zu einem Abbau
der Überversorgung kommen. Wen Sie definitiv nicht
beglücken, sind die Versicherten und die Patienten, da
von diesem Gesetz keine Initiative zur Verbesserung der
Versorgungsqualität ausgeht. Es sind bestenfalls neutrale
oder bedenkliche Vorschläge. Sie beglücken auch nicht
die Beitragszahler; denn die Versorgungsstruktur wird
verschlechtert und die Zusatzangebote werden am Ende
über Zusatzbeiträge zu finanzieren sein, die dann die
Nettoeinkünfte der Geringverdiener und Rentner schmälern. Das ist das, worüber wir hier konkret sprechen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Der nächste Redner in
unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser
Kollege Johannes Singhammer. Bitte schön, Kollege
Singhammer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen die
Gesundheitsversorgung demokratischer, patientennäher
und gerechter gestalten.
({0})
Deshalb bringen wir jetzt und heute das GKV-Versorgungsstrukturgesetz ein und beenden damit die unerfreuliche jahrelange Praxis, Gesundheitsgesetze ausschließlich am Sparzwang auszurichten. Wir gestalten damit
nachhaltig eine bessere ärztliche Versorgung, vor allem
in ländlichen Regionen. Wir wollen gleiche Lebensverhältnisse in den Ballungsräumen und den ländlichen
Regionen. Deshalb ist das Versorgungsstrukturgesetz darauf ausgerichtet, eine Balance zu finden und die Landflucht zu stoppen.
({1})
Wir haben uns auf folgende Maßnahme verständigt
- jetzt hören Sie einmal zu! -:
Erstens: Demokratisierung der Bedarfsplanung. Die
Länder erhalten bei der Bedarfsplanung mehr Mitwirkungsrechte und können damit regionale Besonderheiten
ganz anders berücksichtigen.
({2})
Damit wird mehr Kompetenz dahin verlagert, wo die
Entscheidungen getroffen werden.
Zweitens: mehr Ärzte in ländlichen Regionen. Ärzte,
die bereit sind, sich in unterversorgten Regionen niederzulassen, erhalten - ja, selbstverständlich, Herr
Lauterbach - einen Blumenstrauß an erheblichen finanziellen Anreizen. Sie werden von Begrenzungen der Vergütung ausgenommen, können Preiszuschläge für ihre
Leistungen erhalten und über einen Strukturfonds von
den Kassenärztlichen Vereinigungen gefördert werden,
damit die Attraktivität gesteigert wird.
({3})
Drittens. Wir schaffen einen Bonus für junge Landärzte. Ärzte, die sich in unterversorgten Bereichen niederlassen, werden künftig bei der Auswahl von Nachbesetzungen in den Ballungsräumen, die vielen attraktiver
erscheinen, besonders berücksichtigt. Damit soll erreicht
werden, dass die erstmalige Niederlassung eines Arztes
in einer ländlichen Region nicht zu einer Lebensentscheidung wird, bei der der junge Arzt oder die junge
Ärztin das Gefühl hat, man könne sie nicht mehr revidieren. Auf der anderen Seite werden wir die Überversorgung in bestimmten Regionen durch einen Abbau von
Arztsitzen mindern. Das geschieht selbstverständlich
über die KV, die Selbstverwaltung, weil sie das beste Instrumentarium bietet.
Viertens. Wir sorgen für eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Herr Minister Bahr, Sie haben zu
Recht darauf hingewiesen, dass viele von denen, die
künftig den ärztlichen Beruf ergreifen, junge Ärztinnen
sind. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, ihren
Wünschen hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf besser zu entsprechen.
({4})
Deshalb tun wir dreierlei: Erstens. Die Möglichkeit für
Vertragsärztinnen, sich im zeitlichen Zusammenhang mit
einer Entbindung vertreten zu lassen, wird von 6 auf
12 Monate verlängert; das ist natürlich sinnvoll. Zweitens. Die Möglichkeit der Beschäftigung einer Entlastungsassistentin bzw. eines -assistenten wird bei der Erziehung von Kindern für bis zu 36 Monate sowie bei der
Pflege von Angehörigen für bis zu 6 Monate eröffnet. Damit synchronisieren wir die Vertretungsmöglichkeiten
mit anderen Gesetzen, die schon bestehen. Drittens. Bei
der Auswahlentscheidung über die Nachbesetzung eines
Vertragsarztsitzes in einem gesperrten Bereich werden
Kindererziehungs- und Pflegezeiten, durch die eine ärztliche Tätigkeit unterbrochen worden sind, künftig berücksichtigt. - Das ist ein echter Zugewinn an Familienfreundlichkeit. Wem das nicht passt, der soll hier einmal
aufstehen und dagegen sprechen.
({5})
Fünftens. Wir sehen eine gerechtere Honorarverteilung vor. Die Verteilung der Honorare für die ambulante
Versorgung erfolgt künftig wieder stärker auf der Ebene
der Kassenärztlichen Vereinigungen. Auch dadurch wird
regionalen Besonderheiten stärker Rechnung getragen.
Sechstens. Wir setzen neueste Technologien ein. Wir
sorgen beispielsweise für den Ausbau der Telemedizin.
Wir sagen: Diejenigen, die von Ballungsräumen am weitesten entfernt sind, sollen die modernste Technologie
bekommen. Deswegen machen wir das.
({6})
Siebtens - das ist ganz wichtig - sorgen wir für mehr
Transparenz in der Selbstverwaltung. Wir werden die
Struktur des Gemeinsamen Bundesausschusses neu gestalten. Wir wollen ein transparenteres, nachvollziehbares Verfahren. Damit sorgen wir für eine größere Akzeptanz der Entscheidungen.
Schließlich wollen wir mehr Offenheit. Damit sich
Versicherte bei der Wahl ihrer Krankenkasse umfassend
auch über die wirtschaftliche Situation der Kassen informieren können, werden die Krankenkassen künftig verpflichtet sein, die Geschäftsergebnisse des vergangenen
Jahres in verständlicher Form regelmäßig zu veröffentlichen. Auch damit schaffen wir ein großes Stück mehr
Verbraucherschutz und -freundlichkeit.
({7})
Neben der Vielzahl von Verbesserungen, die bereits
jetzt im Gesetzentwurf vorgesehen ist, werden wir uns
im Rahmen des Beratungsverfahrens für eine Reihe von
zusätzlichen Verbesserungen einsetzen:
Dazu gehören erstens praktische Hilfen für Familien.
Wir wollen beispielsweise, dass die Haushaltshilfe künftig eine verpflichtende Leistung der Krankenkasse ist.
Warum ist das so wichtig? Weil wir aus einer Vielzahl
von Gesprächen wissen, dass das notwendig ist. Wenn in
einer Familie beispielsweise die Mutter krank wird, im
Krankenhaus liegt, ist es notwendig, dass über einen längeren Zeitraum hinweg eine häusliche Unterstützung da
ist. Diese Verlässlichkeit muss gegeben sein. Deshalb
wollen wir an dieser Stelle eine Verbesserung.
Zweitens. Wir wollen neue Versorgungsformen unterstützen. Kooperative Versorgungsformen wie Ärztenetze
wollen wir unterstützen. Sie sollen gerecht gestaltet sein
und nicht zu Verwerfungen, sondern zu sinnvollen Synergieeffekten führen.
Drittens. Wir wollen kürzere Wartezeiten. Das ist
selbstverständlich. Die Wartezeit für einen Behandlungstermin beim Facharzt soll verkürzt werden. Die Selbstverwaltung soll die Maßnahmen für ein besseres Versorgungsmanagement vereinbaren.
Wir haben einen ganz entscheidenden Schritt nach
vorne unternommen, und zwar im Sinne einer Neuausrichtung der Gesundheitspolitik. Wir können das deshalb
tun, und zwar nur deshalb, weil wir anders als im vergangenen Jahr nicht mehr darüber diskutieren müssen,
ob wir ein riesiges Haushaltsloch bei den gesetzlichen
Krankenkassen schließen müssen. Damals betrug das
drohende Haushaltsloch bis zu 11 Milliarden Euro. Jetzt
diskutieren wir möglicherweise darüber, was wir mit den
vorhandenen Überschüssen des Gesundheitsfonds machen wollen. Eine Diskussion darüber, wie wir Milliarden aus dem Gesundheitsfonds richtig und nachhaltig
verwenden, ist mir viel lieber als eine Diskussion darüber, wie wir vorhandene Haushaltslöcher schließen
können.
({8})
Das zeigt, dass sich in der Gesundheitspolitik Entscheidendes getan hat. Weiteres wird mit diesem Gesetz folgen.
Die Opposition behauptet immer, diese Regierung
würde in besonderer Weise Klientelpolitik betreiben;
weil mich das ärgert, muss ich das ansprechen.
({9})
- Horchen Sie einmal genau hin: Wir haben die Ausgaben für Medikamente um 6 Prozent gesenkt. Das bedeutet für die Krankenkassen eine monatliche Entlastung
von 100 Millionen Euro. Die Arzneimittelindustrie leistet dazu einen ganz erheblichen Beitrag; das gilt auch für
den Großhandel und andere. Wenn gesagt wird, das sei
Klientelpolitik, kann ich nur sagen: Die Dankbarkeit der
Pharmaindustrie, die uns für diese Art von Klientelpolitik entgegenschlägt, ist ungefähr so nachhaltig wie die
der Atomindustrie gegenüber den Grünen für den Atomausstieg.
Wir haben damit eine klare neue Linie nicht nur aufgezeigt, sondern auch umgesetzt. Wir werden noch eine
ganze Reihe weiterer Verbesserungen im Gesundheitsbereich angehen. Wir werden zeigen, dass diese Regierung handlungsfähig und in der Lage ist, das Gesundheitswesen nachhaltig zu stabilisieren.
({10})
Sie wollen immer an die Regierung; das ist verständlich.
({11})
Aber man muss einmal schauen, was Sie eigentlich wollen und wie fähig Sie sind.
({12})
Ich möchte auf einen Punkt kommen, über den in dieser
Woche auch im Ausschuss diskutiert worden ist. Es ging
um die Abschaffung der Zuzahlungen; das ist ein wichtiger Punkt. Die Linken haben beantragt, alle Zuzahlungen abzuschaffen. Es geht ja nur um eine Kleinigkeit
von 5 Milliarden Euro.
({13})
Entsprechende Hinweise darauf, wie dies ermöglicht
werden soll, sind natürlich nicht erfolgt. Die Sozialdemokraten lehnen das ab - das ist, finde ich, richtig und
verantwortlich -, die Grünen enthalten sich der Stimme.
So wollen Sie Regierung machen. Wir in Deutschland,
die deutschen Patienten und die in der Gesundheitswirtschaft Tätigen, brauchen keine Chaoscombo, sondern
eine seriöse Regierung.
({14})
Dass wir eine solche sind, zeigen wir mit diesem Gesetzentwurf.
({15})
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kollegin Frau Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke.
Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Bunge.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! „Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung“, das ist ein vollmundiger Titel, der große Erwartungen weckt. Aber leider folgen den vollmundigen
Ankündigungen - wie so oft bei dieser Regierung keine, falsche oder nur halbherzige Taten.
Was sind für Sie eigentlich die Versorgungsstrukturen
der gesetzlichen Kassen? Ein großer Teil der Versorgung
findet in Krankenhäusern statt. In Ihrem Gesetzentwurf
finde ich kein Wort dazu. Ein großer Teil der Versorgung
findet durch Krankenpflegepersonal statt. In Ihrem Gesetzentwurf finde ich kein Wort dazu. Besonders beim
Pflegepersonal drückt doch der Schuh erheblich. Ein anderer großer Teil der Versorgung findet durch Heilberufe
wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten usw. statt. Dies
ist für Sie offensichtlich Gedöns; denn dazu finde ich in
Ihrem Gesetzentwurf kein Wort.
Wir alle sind in der Pflicht, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Dazu muss der Zugang
zur Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen endlich barrierefrei werden. Auch hier Fehlanzeige. Das alles ist untragbar.
({0})
Für Sie besteht die Versorgung offensichtlich allein
aus ärztlichen Ambulanzen. Aber von den acht Schwerpunkten, die Sie selber in diesem Gesetzentwurf formuliert haben, beschäftigt sich nur einer mit der flächendeckenden ambulanten ärztlichen Versorgung. Wir
sehen: Nicht nur der Name Ihres Gesetzes, sondern auch
inhaltlich ist Ihr Gesetz aufgebauscht. Das ist angesichts
der Probleme, die wir haben und die auch von Ihnen
schon beschrieben wurden, fatal.
({1})
Eines muss ich noch loswerden. Es dürfte als ein Novum in der Gesundheitspolitik in Deutschland gelten,
dass der Finanzminister, dass das Finanzministerium in
einer derart massiven Weise Einfluss auf ein Gesundheitsgesetz genommen hat. Weil der Bundeshaushalt
künftig mit den Kosten für den Sozialausgleich zu Ihrer
Kopfpauschale belastet wird, hat der Finanzminister
festschreiben lassen, dass zusätzliche Kosten für Ärzte
und Zahnärzte aus dem Geld für den Sozialausgleich herausgerechnet werden müssen, wenn nicht an anderer
Stelle im Gesundheitssystem gespart wurde. Für das zusätzliche Geld für Ärzte haften also immer die Versicherten, entweder mit Leistungsminderungen oder mit Kürzungen des Sozialausgleichs. Beides, also die
Leistungen und der Sozialausgleich, sind aber Rechtsansprüche. Wie Sie das praktisch hinbekommen wollen, ist
mir völlig schleierhaft.
({2})
Herr Bahr, ich schätze die Satzungsleistungen völlig
anders ein. Ich denke, Sie machen deshalb ein Einfallstor
für Leistungsminderungen auf, indem Sie den Umfang
der freiwilligen Leistungen, also Satzungsleistungen der
Krankenkassen, erweitern. Selbst die Kassen gehen davon aus, dass infolge dieser Regelung bald Kernleistungen zu Satzungsleistungen werden und die Regelleistungen der Kassen immer weiter abgeschmolzen werden.
({3})
- Dann lesen Sie einmal die Stellungnahmen.
Eines ist klar: Noch bevor der erste Cent beim Sozialausgleich aus Bundesmitteln bezahlt wurde, steht fest:
Dieser Sozialausgleich ist eine Farce, und: Wer sich auf
diese Regierung verlässt, ist verlassen.
({4})
Nun zur Versorgung. Sie haben vielfach angekündigt,
etwas gegen den vorhandenen und zu erwartenden Ärztemangel zu tun, aber Sie haben bis heute nicht verstanden, dass wir in allererster Linie ein Problem bei der
Verteilung der Ärztinnen und Ärzte haben. Also noch
einmal von vorne: Wir wissen doch gar nicht genau, wie
viele Ärztinnen und Ärzte wir eigentlich für die Versorgung der Menschen brauchen. Aber wie wollen wir Versorgung sicherstellen, wenn wir das Erforderliche nicht
kennen? Die heutige Bedarfsplanung beruht auf Daten
von 1990. Da wurden einfach die vorhandenen Ärztinnen und Ärzte gezählt, in Relation zur Bevölkerung gesetzt und der so ermittelte Wert für jede Arztgruppe als
100-Prozent-Wert zugrunde gelegt. Damit agieren wir
bis heute. Seit über zwei Jahrzehnten!
Ausgehend von dieser völlig unzulänglichen Basis
haben wir heute im Bundesdurchschnitt bei allen Arztgruppen eine Versorgung von mehr als 100 Prozent, also
offiziell Überversorgung. Bei Hausärzten reichen die
Versorgungszahlen nach jetzigem Maßstab von 67 bis
167 Prozent. Aber die praktischen Erfahrungen der Patientinnen und Patienten sind: Überall klemmt es; man
muss ewig auf einen Arzttermin warten, lange Wartezeiten in Kauf nehmen und, und, und. Das ist doch nicht
hinnehmbar.
({5})
An der Ausgangsbasis soll in Ihrem Versorgungsgesetz
nichts geändert werden.
Ganz speziell sieht die Lage bei den Psychotherapeuten aus. 1999 wurde das Psychotherapeutengesetz novelliert, um Unterversorgung zu beheben. Die damals vorhandene Unterversorgung wurde 1999 dennoch mit einer
100-Prozent-Versorgung gleichgesetzt. Inzwischen sind
wir aber vorangekommen. Die Versorgung hat gegenüber dem damaligen Stand 150 bis 190 Prozent erreicht;
trotzdem haben wir in etlichen Gebieten immer noch
Unterversorgung. Gemäß den Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfs könnten jedoch Psychotherapeutenpraxen aufgekauft und geschlossen werden, solange ein
Wert von 110 Prozent der damals festgestellten Versorgung überschritten wird. Das bedeutet: Fast die Hälfte
der Psychotherapeutensitze könnte zugemacht werden.
Dieser Vorschlag ist doch unglaublich.
({6})
Was wir brauchen, ist, dass endlich wissenschaftlich
evaluiert wird, wie viele Ärztinnen und Ärzte, aber auch
wie viel Pflegepersonal, wie viele Physiotherapeuten,
Hebammen usw. für die Versorgung eigentlich notwendig sind. Grundlage dafür muss der Gesundheitszustand
der Menschen und der zeitliche Aufwand sein, einen
Arzt oder einen anderen Gesundheitsdienstleister zu erreichen. Sie wollen den tatsächlichen Bedarf an Ärztinnen und Ärzten aber gar nicht wissen; das erinnert Sie
viel zu sehr an Planwirtschaft. Es geht hier aber um Daseinsvorsorge. Hier ist der Staat gefordert und nicht der
von Ihnen so geliebte Markt.
({7})
Unabhängig davon, ob wir nun zu viele oder zu wenige Ärzte haben, steht fest, dass die Regionen unterschiedlich gut versorgt sind. Es müssen mehr Ärztinnen
und Ärzte in die offiziell unterversorgten Gebiete und
weniger Ärztinnen und Ärzte in die offiziell überversorgten Gebiete. Nur wenn an diesen beiden Stellschrauben gedreht wird, können wir wirklich etwas erreichen.
Nach Ansicht der Bundesregierung reicht es aber aus,
vor allem finanzielle Anreize zu schaffen, damit Ärztinnen und Ärzte vermehrt in unterversorgte ländliche Bereiche gehen. Eine wissenschaftliche Studie hat aber gezeigt, dass man sie mit Geld nicht aufs Land locken
kann.
({8})
Wenn man die Versorgung gerechter organisieren will,
muss man tatsächlich an die Strukturen heran, wie es der
Gesetzesname verspricht, und nicht nur an die Geldschatulle der Versicherten.
({9})
Wenn sich die Versorgung nicht oder nur schwer über
freiberufliche Ärzte mit lebenslangen, sogar von Generation zu Generation vererbbaren Zulassungen organisieren lässt, muss man davon Abstand nehmen. Wir brauchen mehr oder eigentlich generell befristete
Kassenzulassungen, und es muss viel mehr auf angestellte Ärztinnen und Ärzte gesetzt werden.
({10})
Damit wären die Sitze und Anstellungen in unterversorgten Gebieten viel attraktiver und zukunftssicherer,
und das starre System wäre endlich flexibilisiert, das
heißt planbarer.
({11})
Wir brauchen auf dem Land mobile Arztpraxen und
Shuttledienste zu Ärztezentren. So sehen moderne Strukturen aus.
({12})
Natürlich muss die Landarzttätigkeit mit ihren vielen
Hausbesuchen und langen Anfahrtswegen, aber auch mit
ihrer sozialen Funktion adäquat vergütet werden. Nur:
Ihr Vorschlag, die Abstaffelung der Leistungsmenge für
Ärzte in unterversorgten Gebieten aufzuheben, ist eine
Lachnummer.
({13})
Diese Regelung betrifft nicht einmal 40 Ärzte
({14})
und bringt keinen Arzt zusätzlich aufs Land.
({15})
Aber Sie gehen damit hausieren - das tun Sie auch heute
wieder -, als sei es das Ei des Kolumbus. Was wir brauchen, ist eine dauerhaft aufwandsdeckende Vergütung
der Landärzte für ihr oft unermüdliches Engagement in
dünnbesiedelten Gebieten.
({16})
- Ja, aber dauerhaft; das muss man wissen. - Es darf
kein ständiges Hin und Her geben.
({17})
- Hören Sie ordentlich zu!
({18})
Das größte Hindernis für eine gerechtere, bessere Verteilung der Ärzte ist Ihr fehlender Wille,
({19})
in offiziell überversorgten Gebieten die Arztdichte zu
verringern. So sollen zum Beispiel die gerade erst eingeführten Abschläge wegfallen. Wir denken: Um für eine
bessere, gerechtere Verteilung der Ärztinnen und Ärzte
zu sorgen, müssen wir in den offiziell überversorgten
Gebieten ansetzen. Sonst bleibt alles beim Alten.
Auf Dauer müssen wir dahin kommen, dass das Geld
dem Bedarf an Versorgung entsprechend in eine Region
fließt und dort bleibt.
({20})
Wird es nicht abgerufen, weil Ärztinnen und Ärzte fehlen, können damit andere Versorgungsformen wie mobile Praxen, Shuttledienste oder eingerichtete Praxen
finanziert werden. Es ist doch ein Unding, dass das Geld
gegenwärtig dorthin fließt, wo die meisten Ärztinnen
und Ärzte sind, und nicht dorthin, wo die meisten Ärztinnen und Ärzte gebraucht werden.
({21})
Ich denke, Sie sollten sich, wenn Sie mir schon nicht
zuhören, einmal in Ruhe den vorliegenden Antrag der
Linksfraktion anschauen, in dem es darum geht, wie man
zukunftsfähige Versorgungsstrukturen gestalten kann. Es
lohnt sich, hineinzuschauen.
({22})
Mein Fazit: Ihrer vollmundigen Ankündigung, eine
flächendeckende Versorgung zu sichern, kommen Sie
mit diesem Gesetzentwurf nicht oder zumindest nicht
ausreichend nach.
({23})
Das ist kein Versorgungsgesetz für die Patientinnen und
Patienten, sondern ein Versorgungsgesetz für die Ärzteschaft, aber nicht einmal für die Ärztinnen und Ärzte,
die es am dringendsten bräuchten, sondern für den Berufsstand insgesamt. Insofern sage ich - ich bin ja erstaunt, dass Sie den Begriff „Beglückung“ übernommen
haben -: Für den Berufsstand ist es ein Beglückungspaket.
({24})
In nicht einmal zwei Jahren Regierungszeit haben Sie
es geschafft, dafür zu sorgen, dass der Bundesfinanzminister im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung der
Bevölkerung mitbestimmt. Eines ist doch wohl klar: Die
Entscheidung, ob Geld in Banken oder in die medizinische Versorgung investiert wird, fällt bei Ihnen immer
zugunsten der Banken aus. Für die gesetzlich Versicherten bleibt eine Versorgung nach Kassenlage. Eine Politik
für die Menschen, die Patientinnen und Patienten und
die Versicherten sieht anders aus.
({25})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Die nächste Rednerin
in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Birgitt Bender. Bitte schön,
Frau Kollegin Bender.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die
Koalition besteht unser Gesundheitswesen offensichtlich
nur aus Ärztinnen und Ärzten.
({0})
Wie anders lässt sich erklären, dass der Bundesgesundheitsminister den Anspruch erhebt, die medizinische
Versorgung, vor allem die auf dem Lande, zu verbessern,
und dann einen Gesetzentwurf vorlegt, der sich nur auf
eine einzige Berufsgruppe im Gesundheitswesen bezieht, nämlich auf die Ärztinnen und Ärzte?
({1})
Herr Minister, Sie sollten vielleicht weniger Fernsehen schauen und nicht die Soapoperas mit den Landärzten zum Leitbild erheben, sondern einmal mit Ihren
Fachleuten im Ministerium reden.
({2})
Dann würden Sie nämlich erfahren, dass Ihre eigenen
Fachbeamtinnen und Fachbeamten im Jahre 2008 im
Auftrag der Gesundheitsministerkonferenz an einem Bericht zur Sicherstellung der Primärversorgung in
Deutschland mitgearbeitet haben. Das ist heute unser
Thema. Damals wurde errechnet, dass aufgrund der
Alterung der Bevölkerung alleine bis zum Jahr 2020
15 000 zusätzliche Hausärztinnen und Hausärzte notwendig sein werden, und zwar nur, um den Status quo zu
erhalten. Darin waren Versorgungsengpässe, die es in
ländlichen Gegenden oder in den ärmeren Vierteln der
Großstädte bereits gibt, noch nicht eingerechnet.
Weiter hätten Sie, Herr Minister, dem Bericht entnehmen können, dass ein derartiger Anstieg eine Verdoppelung der jährlichen Niederlassungen innerhalb der
nächsten zehn Jahre voraussetzt. Des Weiteren hätten Sie
dann festgestellt, dass nach Einschätzung sowohl Ihrer
eigenen Fachleute als auch der Fachleute aus den Ländern ein derartiger Anstieg in so kurzer Frist schlicht
nicht möglich ist und allein schon deshalb die vorhandenen Potenziale nichtärztlicher Gesundheitsberufe, wie
zum Beispiel die von Pflegekräften, zu erschließen sind.
Aber genau das tun Sie nicht.
({3})
Das heißt, die steigende Nachfrage nach Hausbesuchen,
nach Patientenberatung und -schulung und auch nach
Unterstützung betreuender Angehöriger wird sich durch
Ihr Gesetz nicht befriedigen lassen.
Diese seit drei Jahren vorliegenden Erkenntnisse und
Empfehlungen entsprechen auch dem, was 2007 der
Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen festgestellt hat. Aber davon ist in Ihren Gesetzentwurf nichts
eingegangen, außer einigen Plattitüden. Man kann auch
sagen: Außer Spesen nichts gewesen.
Auch ist in Ihrem Gesetzentwurf keine Rede von
neuen Versorgungsformen, wie etwa von Kommunen gegründeten Arztstationen, um die Versorgung auf dem
Land zu verbessern. Stattdessen wird der weitere Ausbau von medizinischen Versorgungszentren, in denen
Patientinnen und Patienten eine Versorgung aus einer
Hand vorfinden, behindert, zum Beispiel indem Gründungswilligen der Zugang zum Kapitalmarkt versperrt
wird. Stattdessen wird der Geldhahn für die Ärztinnen
und Ärzte aufgedreht. Zum vierten Mal innerhalb von
vier Jahren steigen die Honorarmittel für die Ärzteschaft, und das nicht etwa mit einer spezifischen Steuerungswirkung, nein, für alle, unabhängig davon, ob sie in
über- oder unterversorgten Regionen praktizieren.
({4})
Die bereits vor Jahren beschlossenen, aber bis heute von
der Selbstverwaltung nicht umgesetzten Honorarabschläge in überversorgten Bezirken werden ersatzlos gestrichen. Wirksame Anreize hingegen für die Niederlassung auf dem Land oder in sozialen Brennpunkten gibt
es keine.
An fehlenden Hausbesuchen, ermüdenden Wartezeiten und langen Anfahrten zur nächsten Landarztpraxis
wird dieses Gesetz nichts ändern.
({5})
Aber offensichtlich - ich kann es Ihnen nicht ersparen hat diese Regierung gar nicht vor, Probleme der Gesundheitsversorgung wirklich zu lösen. Vielmehr kämpft die
FDP um ihr Überleben. Sie überlegt sich, wo sie vielleicht noch ein Klientel vorfinden und befriedigen
könnte - dies könnte innerhalb der Ärzteschaft sein -,
um einmal wieder 1 Prozent hinzuzugewinnen.
Ich muss schon sehr ernsthaft sagen, Herr Minister:
Für die Zusammenschlüsse der Ärzteschaft ist es ein absolut legitimes Anliegen, für die wirtschaftlichen Interessen ihrer eigenen Mitglieder zu kämpfen. Wenn sich
aber eine Regierung dies zu eigen macht, dann ist das
eine politische Bankrotterklärung. Das werfen wir Ihnen
vor.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in
unserer Debatte ist unsere Kollegin Frau Christine
Aschenberg-Dugnus für die Fraktion der FDP. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich muss Ihnen sagen: Wenn es hier im
Plenum um Gesundheitsthemen geht, freue ich mich immer schon Tage vorher darauf, hier vor Ihnen zu sprechen. Ich schaue in die netten Gesichter der Kolleginnen
und Kollegen,
({0})
vor allem auf der linken Seite, von denen unentwegt
Vorwürfe kommen: Lobbyismus, Klientelpolitik und
wen wir angeblich alles beglücken. Ich freue mich jedes
Mal darauf. Dabei sind Sie doch eigentlich nur verärgert
darüber, dass wir etwas regeln und etwas tun. Sie hingegen haben jahrelang nichts getan und immer behauptet,
es müsse auch nichts getan werden. Sie ärgern sich doch
nur darüber.
({1})
Meine Damen und Herren, unser Minister Daniel
Bahr hat Ihnen soeben einen Gesetzentwurf vorgestellt,
mit dem die zentralen Probleme in der Gesundheitsversorgung gelöst werden. Mit dem Gesetzentwurf gehen
wir den drohenden Ärztemangel an und sorgen dafür,
dass die Menschen das Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem nicht verlieren.
Der Entwurf eines GKV-Versorgungsstrukturgesetzes, das wir Ihnen heute hier vorlegen, ist ein erneuter
Beweis dafür, dass sich die christlich-liberale Koalition
um die Sorgen der Menschen kümmert.
({2})
Mit unserem Gesetzentwurf verbessern wir ganz konkret
die medizinische Versorgung der Patienten und rücken
wir den Menschen dorthin, wo er hingehört, nämlich in
den Mittelpunkt unseres Handelns. Die Menschen vor
Ort werden spüren, dass ihre tatsächliche und auch erlebte Versorgungssituation besser ist als in Zeiten sozialdemokratischer Gesundheitspolitik unter Ulla Schmidt.
({3})
Verantwortlich dafür ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Sie müssen sich den Gesetzentwurf nur einmal
durchlesen. Ich nenne vier Beispiele:
Erstens. Die am Wohl des Patienten ausgerichtete
Weiterentwicklung der Bedarfsplanung. Sie ist nicht
zentralistisch, Frau Bunge, sondern zielgenau, flexibel
und die regionalen Besonderheiten berücksichtigend,
was uns besonders wichtig ist.
Zweitens. Die Weiterentwicklung der Steuerung des
Niederlassungsverhaltens von Ärzten. Diese ist ebenfalls
flexibel und regionalisiert ausgestaltet; denn vor Ort
weiß man besser, was zu tun ist.
({4})
Drittens. Die stärkere Verzahnung von ambulanter
und stationärer Behandlung.
Viertens. Die sektorenübergreifende Organisation des
ärztlichen Notdienstes. Auch durch den Ausbau mobiler
Versorgungskonzepte werden wir zur Sicherstellung einer flächendeckenden und bedarfsgerechten Versorgung
beitragen.
({5})
Während die eine Hälfte des Hauses die Ärzte gebetsmühlenartig als eigennützige Berufsgruppe bezeichnet,
die möglichst viel Geld raffen will,
({6})
sehen wir es als selbstverständlich an, dass die Ärzte mit
ihrem Beruf auch Geld verdienen müssen. Das ist doch
wohl ganz klar. Deswegen finden wir es ganz im Gegenteil zu Ihnen auch überhaupt nicht schlimm, dass das
Niederlassungsverhalten der Ärzte über finanzielle Anreize geregelt wird. Frau Bunge, ich habe es eben in einem Zwischenruf schon einmal gesagt: In der DDR gab
es eine Medaille zum Ehrentitel „Verdienter Arzt des
Volkes“. Ich glaube, dafür gab es 8 000 Ostmark. Insofern müsste Ihnen das eigentlich bekannt vorkommen.
({7})
Meine Damen und Herren, ich komme aus einer ländlichen Region in Schleswig-Holstein. Mein Wahlkreis ist
Rendsburg-Eckernförde. Glauben Sie wirklich, dass ich
einen jungen Arzt aus Kiel mit gutem Zureden überreden
kann, sich in einer ländlichen Gegend wie zum Beispiel
Brekendorf niederzulassen, nur weil dort ein Bedarf
besteht? Meinen Sie, er würde sein gesamtes bisheriges
familiäres und kulturelles Umfeld aufgeben, weil die
Politik nach zehn Jahren Ulla Schmidt gegensteuern und
den Ärztemangel auf dem Land bekämpfen muss, was
wir jetzt ja tun? Das glaube ich nicht.
Wir haben mit den Ärzten gesprochen und ihnen zugehört. Das rate ich Ihnen auch.
({8})
Natürlich ist den Ärzten das Honorar wichtig. Man muss
schließlich auch Geld verdienen; das ist völlig legitim.
Deswegen schaffen wir einen finanziellen Anreiz dadurch, dass Landärzte von der Abstaffelung der Honorare ausgenommen werden, damit sie für mehr Arbeit
nicht auch noch weniger Geld bekommen.
({9})
Wer den Ärzten zuhört, der wird auch feststellen, dass
die Finanzen nicht das Wichtigste sind, sondern ganz besonders wichtig ist für junge Ärzte das Umfeld, in dem
sie arbeiten und leben. Genau deshalb lockern wir die
Residenzpflicht. Dass Mediziner dort wohnen müssen,
wo sie ihre Praxis haben, ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Wenn Menschen auf dem Land wohnen und in der
Stadt arbeiten können, dann muss das genauso gut auch
umgekehrt möglich sein.
({10})
Eine Lockerung der Residenzpflicht wird dazu beitragen, dass Mediziner ihre Lebensentwürfe stärker als bisher an der Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und
Beruf ausrichten können. Das betrifft vor allen Dingen
auch Frauen. Wir alle wissen ja: Die Medizin wird weiblich. Durch diese Maßnahme wird die ärztliche Versorgung auf dem Land immens gestärkt.
Nicht nur unsere konkreten Schritte zur Verbesserung
der medizinischen Versorgung sind wegweisend, sondern auch der Geist dieses Gesetzentwurfs und der Mentalitätsunterschied zu den Ansätzen der Opposition sind
im besten Sinne bemerkenswert.
({11})
Wir setzen eben nicht auf Zwang, wie es der SPD-Mentalität entsprechen würde, sondern wir setzen auf Anreize und Motivation.
({12})
Wir sagen nicht einfach: Geh aufs Land! Mach, dass du
dort hinkommst! - Vielmehr bieten wir Anreize, sich in
unterversorgten Regionen niederzulassen. Wir ermutigen und bestärken junge Mediziner, sich bewusst auf
dem Land niederzulassen, weil es eben nicht mit Nachteilen verbunden sein wird, weil es eben nicht unattraktiv ist, sondern gewürdigt wird.
({13})
Sie werden es erleben: Wenn unser Versorgungsstrukturgesetz in Kraft ist, werden Sie zugeben müssen, dass
Ihre verbale Geisterfahrt völlig unangemessen war. Wir
machen nämlich kein Ärztebeglückungsgesetz. Unser
Minister macht ein Patientenbeglückungsgesetz. Das
werden Ihnen die Patienten demnächst bestätigen.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in
unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Dr. Marlies Volkmer. Bitte schön,
Frau Kollegin Dr. Volkmer.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Alle Menschen in unserem Land müssen
sich darauf verlassen können, eine gute medizinische
Versorgung zu bekommen, ganz gleich, ob sie in Ballungsgebieten der Großstadt oder auf dem Land leben.
Dazu gehört die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt. All das muss unter den Bedingungen der Demografie in einer älter werdenden Gesellschaft erbracht
werden.
Ein Versorgungsgesetz muss sich daran messen lassen, wie es diese Ziele umsetzt. Ich sage von vornherein:
Dieser Gesetzentwurf wird den Zielen nicht einmal im
Anspruch gerecht,
({0})
denn man kann die Anforderungen von morgen nicht mit
den Strukturen von gestern lösen. Zu klären ist doch:
Was müssen wir in unserem Gesundheitssystem verändern? Wie müssen wir die Strukturen gestalten, damit
wir tatsächlich zu einer bedarfsgerechten Versorgung
kommen? Dabei ist die Frage entscheidend: Wie ist der
Zugang in dieses Gesundheitssystem?
Im geltenden Gesetz haben wir das geregelt. Wir hatten noch niemals so viele Medizinerinnen und Mediziner
im Lande wie heute. Trotzdem wissen wir alle aus der
Praxis, dass Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten
haben, Termine beim Facharzt zu bekommen. Sie haben
Schwierigkeiten, einen Hausarzt zu finden, wenn ihr bisheriger Hausarzt in Rente geht. Das liegt an vielem, aber
es liegt auch daran, dass wir in den strukturschwachen
Regionen eine Unterversorgung und in den Ballungsgebieten häufig eine Überversorgung haben.
Ein Versorgungsgesetz muss für eine bessere Verteilung der Ärzte sorgen. Dazu gehört es, Überversorgung
abzubauen, und zwar wirksam.
({1})
Das ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Inzwischen fordern auch Teile der Ärzteschaft, gesetzlich zu
regeln, dass überflüssige Praxen nicht wiederbesetzt,
sondern aufgekauft werden.
({2})
Freiwilligkeit nützt hier nichts. Damit kommen Sie nicht
weiter.
Der Gesetzentwurf dieser Bundesregierung wird dazu
führen, dass der Ärztemangel regional sogar noch verstärkt wird, nämlich durch die Regelung für die spezialärztliche Versorgung.
({3})
Ich will es ganz klar sagen: Sie sehen in Ihrem Gesetzentwurf vor, für die spezialärztliche Versorgung jegliche
Bedarfsplanung und jegliche Mengenbegrenzung abzuschaffen. Das heißt, ein Arzt kann seine Leistungen
überall im Lande erbringen, und zwar ohne Mengenbegrenzung. Wer kann, der darf.
({4})
Ich muss keine Hellseherin sein, um vorauszusagen, was
passieren wird: Die Ärzte werden danach drängen, in die
spezialärztliche Versorgung zu gehen.
Das hat zwei Folgen. Die eine Folge ist - das wissen
Sie ganz genau - eine deutliche Verteuerung dieses Gesundheitssystems. Zu bezahlen haben es die Versicherten
allein, nämlich durch Zusatzbeiträge.
({5})
Die zweite negative Folge ist: Der Anreiz von Medizinstudenten, sich zum Allgemeinmediziner ausbilden zu
lassen, sinkt. Dadurch wird es nicht mehr, sondern weniger Hausärzte geben.
({6})
Das ist gegen die Interessen der Patientinnen und Patienten, und es ist auch gegen die Interessen vieler Ärztinnen
und Ärzte. Um Überversorgung abzubauen, müssen außerdem die Honorarzuschläge in unterversorgten Gebieten Honorarabschlägen in überversorgten Gebieten gegenüberstehen.
Sie haben von einem Blumenstrauß an finanziellen
Anreizen gesprochen, den Sie Ärzten zur Verfügung
stellen wollen, die sich auf dem Land niederlassen. Mit
diesem Blumenstrauß werden Sie nicht viel erreichen.
Denn es sind nicht in erster Linie finanzielle Gründe, die
Ärzte daran hindern, eine Landpraxis zu übernehmen
oder zu gründen.
({7})
Ein wesentlicher Grund ist vielmehr, dass sie nicht als
Einzelkämpfer rund um die Uhr für ihre Patienten verantwortlich sein wollen. Da ist es sehr schwer, Beruf und
Familie zu vereinbaren.
({8})
Sie wollen auch Zeit für eine kontinuierliche Fortbildung
und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen haben.
Deswegen liegt es auf der Hand, dass wir Strukturen
brauchen, die mehr Teamarbeit ermöglichen. Integrierte
Versorgungskonzepte und medizinische Versorgungszentren auch in Krankenhäusern sind gerade in den
strukturschwachen ländlichen Regionen extrem wichtig.
Mit dem Gesetzentwurf tun Sie aber nichts, um diese
Strukturen zu verbessern. Sie erschweren vielmehr die
Gründung von medizinischen Versorgungszentren und
ihr Fortbestehen. Das ist zwar durchaus im Interesse der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, aber es ist gegen
die Interessen von Patientinnen und Patienten und auch
in diesem Fall wieder gegen die Interessen vieler Ärztinnen und Ärzte.
Es ist auch an der Zeit, nichtärztliche Gesundheitsberufe stärker einzubinden. Ihre Forderung an den Gemeinsamen Bundesausschuss, eine Liste delegierbarer
Leistungen zu erstellen, ist bloß ein Feigenblatt. Ärzte
können doch schon heute Leistungen delegieren. Das
wird auch praktiziert.
Viele Maßnahmen der Bundesregierung kranken daran, dass Sie den Arzt immer noch als Einzelkämpfer sehen. Das ist aber überholt.
Zusammenfassend stelle ich fest: Der Gesetzentwurf
verbessert die Versorgung nicht, er verteuert sie aber.
Die steigenden Kosten sind allein durch die Versicherten
über Zusatzbeiträge aufzubringen.
Der Entwurf dieses Gesetzes mit dem wohlklingenden Namen Versorgungsstrukturgesetz oder, wie ich
heute gelernt habe, Patientenbeglückungsgesetz
({9})
ist nichts anderes als eine teure, schillernde Seifenblase,
die schon beim bloßen Hinsehen zerplatzt.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Jetzt spricht als Nächster für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Jens
Spahn. Bitte schön, Kollege Jens Spahn.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte schadenfroh sein, Herr Kollege
Lauterbach und Frau Kollegin Volkmer, wenn man sieht,
wie Sie sich hier winden müssen,
({0})
um Argumente zu suchen und Haare in der Suppe zu finden. Denn Sie wissen genau, dass Sie das, was wir mit
dem Versorgungsstrukturgesetz angehen und was im
Grunde die Debatte fast der letzten zehn Jahre über die
Versorgung im ländlichen Raum widerspiegelt, in den
vergangenen Jahren längst hätten tun müssen. Es wurmt
Sie, dass wir das jetzt tun. Deswegen suchen Sie mit aller Gewalt und mit zum Teil etwas verqueren Argumentationen das Haar in der Suppe.
({1})
Ärgern Sie sich nicht! Arbeiten Sie konstruktiv mit,
damit der Gesetzentwurf in den Beratungen im Deutschen Bundestag noch besser wird!
({2})
Wir haben im letzten Jahr die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung neu geregelt. Wir haben
eine zusätzliche Einnahmequelle jenseits einer lohnabhängigen Finanzierung gefunden, die tragfähig und auf
Dauer angelegt ist. In diesem Jahr geht es, nachdem wir
im letzten Jahr die Finanzierung besprochen haben, im
Schwerpunkt um die Frage, was mit dem Geld passiert.
Wie können wir die beiden entscheidenden Qualitätsmerkmale des deutschen Gesundheitswesens, die uns
deutlich von allen anderen Ländern in Europa und auf
der Welt unterscheiden, auch für die Zukunft sichern?
Diese beiden Merkmale sind erstens der schnelle Zugang
zu Innovation - man findet kaum noch ein Land, in dem
ein neu zugelassenes Medikament erstattungsfähig ist;
die Erstattungsfähigkeit in Deutschland beizubehalten, ist
uns wichtig, weil sie für viele Patienten, etwa für krebskranke, die Hoffnung auf Leidminderung bedeutet - und
zweitens eine flächendeckende Versorgung; Spitzenmedizin darf nicht nur in München oder in Hamburg angesiedelt sein, sondern es muss sie auch andernorts geben;
wir wollen, dass es überall rund um die Uhr einen guten
Zugang zur Versorgung gibt. Die Sicherung dieser beiden Qualitätsmerkmale ist das eigentliche Ziel dessen,
was wir hier tun.
({3})
Es geht hier heute um ein - dieser Begriff ist zu Recht
verwandt worden; mit dem Wort „Patientenbeglückungsgesetz“ tue ich mich allerdings schwer - Patientengesetz. Das ganze Jahr schon stellen wir den Patienten und seine Bedürfnisse, seinen Blick, seinen
erlebten Versorgungsalltag in den Mittelpunkt.
({4})
Wir haben in diesem Jahr schon das Krankenhaushygienegesetz verabschiedet. Es enthält Regelungen in Bezug
auf das Thema: Wie ist eigentlich der Zustand im Krankenhaus? Kommt man aus dem Krankenhaus kränker
heraus, als man hineingegangen ist, weil man sich Infektionen zugezogen hat? Wir reden noch über das Patientenrechtegesetz. Die Eckpunkte stehen bereits fest. Es
wird gerade am Gesetzentwurf gearbeitet. Wir wollen
die Patienten und ihre Rechte stärken.
({5})
Natürlich steht im Mittelpunkt all dieses Tuns die Absicht, sich anzuschauen, wie ein Patient die Versorgung
auf Grundlage dieses Versorgungsgesetzes erlebt.
Ein großes Thema in diesem Zusammenhang ist - das
ist hier schon angesprochen worden - die flächendeckende Versorgung. In einer 20 000-Einwohner-Stadt
wie Gescher im Münsterland, meiner Heimatregion, gibt
es noch sieben Hausärzte. Wenn man dort eine Veranstaltung zum Thema Patientenversorgung durchführt,
kommen 200 Menschen. Die Menschen dort wissen
nämlich: Von den sieben Hausärzten dort sind fünf über
55 Jahre. Da man weiß, dass es für Hausärzte im Moment nicht attraktiv ist, aufs Land zu gehen, bewegen die
Menschen die Fragen: Was ist eigentlich in zehn Jahren?
Was tun die Politiker gegen diese mangelnde Attraktivität?
({6})
Es geht hier nicht um ein Ärztegesetz. Man bringt eine
gute Versorgung der Menschen nur mit den Menschen
zustande, nicht gegen sie. Wir denken von den Sorgen
der Menschen her, wenn wir über diese Maßnahmen an
dieser Stelle reden.
({7})
Ansetzen muss man bei der Definition des Istzustandes. Sie haben recht: Die heutige Bedarfsplanung funktioniert nicht. Sie wurde in den 1990er-Jahren zu Zeiten
der Ärzteschwemme diskutiert. Aus den uns vorliegenden Zahlen lässt sich die Frage, ob eine Region gut versorgt ist oder nicht, nicht angemessen beantworten. Deswegen führen wir eine neue Bedarfsplanung durch. Wir
schauen dabei nicht mehr nur in die Landkreise oder
Städte, sondern wir gehen kleinräumiger vor, damit wir
genau wissen, wo im Land es einen Versorgungsbedarf
gibt.
Das Ganze ist übrigens nicht nur - vieles in dieser
Debatte war für mich arg verkürzt - ein Stadt-Land-Problem. Natürlich gibt es bei uns im Münsterland, in der
Eifel, in Mecklenburg-Vorpommern und in vielen anderen Gegenden Versorgungsprobleme. Aber diese Probleme gibt es auch in den Städten. Vielleicht sollten wir
auch darüber einmal eine Diskussion führen. In BerlinNeukölln gibt es zwar die meisten Kinder, aber in Berlin-Charlottenburg gibt es die meisten Kinderärzte. Auch
in den Städten gibt es also Verteilungsprobleme. Auch
da müssen wir entsprechende Anreize setzen.
({8})
- Wenn das Einzige, was Ihnen zum Thema „flächendeckende Versorgung“ einfällt, der Abbau von Überversorgung ist, dann ist das aber arg wenig; das muss ich Ihnen
sagen. Das in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen,
wird dem Thema nun wirklich nicht gerecht, zumal Sie
genau wissen, dass wir dieses Problem angehen.
Jetzt komme ich zum Thema „flächendeckende Versorgung“. Frau Kollegin Bunge, ich muss mich schon
sehr wundern. Ich finde es gut, dass wir in einem freiheitlichen Staat leben, in dem jeder selbst entscheiden
kann, wo er eine Praxis eröffnet.
({9})
Sie sprachen auch von angestellten Ärzten. Ich weiß
nicht, ob Sie damit eine Art kubanisches Modell „angestellte Parteiärzte“ meinen. Wir jedenfalls haben ein Bild
von freiberuflichen Ärzten, die natürlich selbst entscheiden, wo sie sich in unserem freien Land niederlassen.
({10})
Man muss über Anreize reden, durch die es attraktiv
wird, sich auf dem Land niederzulassen. Über ein Staatsdekret geht das seit 1990 glücklicherweise jedenfalls
nicht mehr.
Aus den beschriebenen Gründen reden wir über solche Anreize. Dazu gehören finanzielle Anreize. Selbstverständlich muss es sich finanziell lohnen, aufs Land zu
gehen; schließlich muss man dort viel mehr arbeiten als
in der Stadt: Praxen sind länger voll; man ist womöglich
der einzige Arzt weit und breit. In Mecklenburg-Vorpommern etwa muss man für einen Hausbesuch zum
Teil 30 Kilometer fahren. Auf dem Lande hat man wegen der Zersiedelung und der Kleinräumigkeit weitere
Wege.
Hinzu kommen andere wichtige Rahmenbedingungen. Geld allein wird es nicht richten; da haben Sie
recht. In diesem Zusammenhang geht es um die bereits
angesprochene Residenzpflicht: Muss ein Arzt in der
Nähe seiner Praxis wohnen, oder ist es ihm gestattet, in
der Stadt zu wohnen und auf dem Land zu arbeiten? Darüber hinaus geht es um die Organisation von Notdiensten. Ärzte auf dem Land haben zweimal im Monat am
Wochenende Notdienst, Ärzte in der Stadt hingegen nur
ein Mal im halben Jahr. Angesichts dessen kann, glaube
ich, jeder verstehen, dass dieser Aspekt für eine junge
Ärztin oder einen jungen Arzt ein Kriterium bei der Beantwortung der Frage ist, ob man aufs Land oder in die
Stadt geht.
Deswegen ist nicht nur Geld ein Thema, sondern es
müssen auch viele andere Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Genau das tun wir mit diesem Gesetz.
Es enthält viele Maßnahmen - größere wie kleinere -,
um es insgesamt attraktiver zu machen, sich als Arzt in
schwierigen Stadtteilen oder im ländlichen Raum niederzulassen. Wir blicken vor allem auf den Arzt, weil auf
Dauer der beste Apotheker ohne einen Arzt in der Nähe
es nicht schafft.
({11})
Eine Apotheke ohne Rezept funktioniert nicht gut. Die
Diskussion darüber, wie wir eine flächendeckende Versorgung mit Ärzten hinbekommen, ist nichts anderes als
eine Vorbotendebatte über die Frage, wie wir insgesamt
eine gute medizinische Versorgung der Bevölkerung hinbekommen. Es wäre gut, wenn Sie sich etwas konstruktiver und etwas weniger plakativ in diese Debatte einbringen würden.
({12})
Ein weiteres Thema, das die Menschen auf allen Veranstaltungen wahnsinnig bewegt, sind die Wartezeiten,
wenn es darum geht, einen Facharzttermin zu bekommen. Zum Teil gibt es objektive Probleme. Bei uns im
Münsterland etwa ist die Zahl der Neurologen im Moment leider noch sehr überschaubar. Deswegen muss
man dort als Parkinsonpatient fünf, sechs Monate auf einen Termin zur Neueinstellung der Medikamente warten. Zum Teil gibt es auch subjektive Probleme, wie man
sie aus den großen Städten kennt. Herr Kollege
Lauterbach, da unterscheiden wir uns sehr deutlich. Ich
bin Ihnen dankbar, dass Sie in den letzten Monaten die
Unterschiede so deutlich gemacht haben. Sie wollen mit
Strafen arbeiten. Der Arzt, der nicht innerhalb von zwei,
drei Wochen einen Termin anbietet, soll 20 000 Euro
- oder wie viel auch immer - Strafe zahlen. Nach Ihrem
Arztbild müssen die Ärzte gezwungen werden, die Menschen zu versorgen. Sie tun so, als ob die Ärzte gar
nichts mit Patienten zu tun haben wollten. Das ist nicht
unser Arztbild. Wir wissen, dass wir eine gute Versorgung der Menschen nicht gegen die Ärzte, sondern nur
mit den Ärzten hinbekommen. Es ist schön, dass Sie diesen Unterschied zwischen uns im Zusammenhang mit
den Maßnahmen, die wir ergreifen wollen, deutlich gemacht haben.
({13})
Wir wollen bei den Wartezeiten auf gemeinsame Vereinbarungen setzen, aus denen hervorgeht, wie die Abläufe zu erfolgen haben, wann ein Hausarzt einen Patienten an den Facharzt überweist, wie schnell Termine zu
finden sind. Ärzte und Krankenkassen sollen vertragliche Rahmenbedingungen vereinbaren. Natürlich geht es
dabei auch um Vergütungsstrukturen. Es muss sich lohnen, sich um schwierige Fälle zu kümmern und einen
Patienten intensiv zu untersuchen.
({14})
Es dürfen nicht einmal im Quartal nur leichtere Fälle
einbestellt werden, weil dann die pauschale Finanzierung ausgelöst wird. Wir müssen also über die Anreize
reden und dürfen die Ärzte nicht pauschal diffamieren,
wie Sie das tun. Wir haben hier einen anderen Ansatz.
({15})
Ein weiteres Thema, das die Menschen bewegt, ist
das Entlassungsmanagement im Krankenhaus. Wenn ich
als Patient am Freitagnachmittag nach einer Hüftoperation das Krankenhaus verlasse, dann möchte ich mich
nicht fragen müssen, was jetzt passiert. Es gibt schon
viele Häuser, in denen das sehr gut klappt. Aber es gibt
auch viele, in denen es noch Probleme gibt. Es geht dabei um folgende Fragen: Wie geht es nach der Entlassung aus dem Krankenhaus weiter, ambulante Pflege
oder stationäre Pflege? Gibt es eine Familie, die den Patienten auffängt, oder lebt der Patient allein? Wie geht es
mit der Medikation weiter? Braucht der Patient vielleicht
ein Rezept für die Physiotherapie oder für ein Arzneimittel? Bislang sind all diese Fragen zu oft ungeklärt. Wir
sagen: Das muss besser laufen. Das Einfachste ist eine
bessere Kommunikation zwischen Krankenhäusern und
niedergelassenen Ärzten. Aber auch zwischen Haus- und
Fachärzten muss es besser laufen. Deswegen wollen wir
vernetzte Strukturen und eine bessere Zusammenarbeit.
Der Patient soll einen Anspruch darauf haben, dass zwischen Krankenhaus und niedergelassenem Arzt eine
Kommunikation stattfindet. Das wollen wir regeln. Dabei setzen wir aber nicht auf Strafen, sondern auf Anreize; denn wir glauben, dass das die Versorgung letztlich verbessert.
({16})
Kollege Spahn, der Kollege Dr. Lauterbach möchte
eine Zwischenfrage stellen und damit Ihre Redezeit verlängern. Gestatten Sie dies?
Mit Freuden.
Bitte schön.
Sie haben die Problemlage beschrieben,
({0})
zum Teil nicht falsch. Aber Sie haben aus meiner Sicht
zum Gesetzentwurf eigentlich nichts gesagt. Daher
greife ich das einzige konkrete Beispiel auf, das Sie genannt haben. Sie haben gesagt, dass man als Parkinsonpatient in Münster - wenn man so will, in Ihrer Heimatstadt - auf einen Termin für die Neueinstellung der
Medikamente sechs Monate warten muss. Was ändert
denn Ihr Gesetzentwurf, den wir heute beraten, an diesem konkreten Fall? Meines Erachtens ändert sich dadurch nichts. Münster ist die Stadt, die vom Kollegen
Bahr und Ihnen sozusagen mit betreut wird. In dem einzigen Fall, den Sie als Beispiel genannt haben, ändert
sich durch das Gesetz aus meiner Sicht nichts.
Erstens, Herr Kollege Lauterbach, ist es immer hilfreich, die Wörter bis zum Ende zu hören. Ich habe vom
Münsterland gesprochen. Der Kollege Bahr kommt aus
der Stadt Münster. Ich komme aus den Weiten des Münsterlandes. Die Stadt Münster ist hervorragend versorgt
- manche sagen sogar: überversorgt -, während es in den
Weiten des Münsterlandes ganz anders aussieht. Bei uns,
50 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt,
ist es deutlich schwieriger, Ärzte zu finden, die sich dort
niederlassen. Insofern ist diese Unterscheidung schon
einmal wichtig. Also: Genau zuhören!
Zweiter Punkt: Was ändert dieses Gesetz? Natürlich
ändert es etwas, weil die Unterversorgung, die die Menschen täglich erleben und die tatsächlich vorhanden ist,
aufgedeckt wird - das ist heute nicht der Fall, weil die
Statistik so schlecht ist - und eine bessere Vergütung der
Ärzte geplant ist, die sich in Regionen wie dem Münsterland niederlassen, die schlecht versorgt sind.
Die Frage, wer eigentlich in der Arztpraxis sitzt - das
betrifft die Zusammenarbeit der Ärzte untereinander ({0})
- doch; hören Sie einmal genau zu, Herr Kollege Kuhn -,
hat mit den Vergütungsstrukturen zu tun. Wenn es nur
Pauschalvergütungen gibt, dann ist das ein Anreiz dafür,
möglichst viele Patienten mit leichten Krankheiten einmal im Quartal zu bestellen.
({1})
Wenn es aber die Möglichkeit der Einzelleistungsvergütung gibt, dann stellt das einen Anreiz dar, sich als Facharzt in unterversorgten Gebieten niederzulassen. Wir haben viele konkrete Punkte aufgegriffen. Man hat aber
schon an Ihrer Rede gemerkt, dass Sie den Gesetzentwurf nicht besonders intensiv gelesen haben.
({2})
Sie können das aber bei den Beratungen in den nächsten
Wochen noch nachholen, Herr Kollege Lauterbach.
({3})
Auch das Thema Regress beschäftigt die Menschen.
Dabei geht es nicht nur um die Ärzte. Vielmehr haben
die Patienten Angst, dass ihnen ihr Arzt aus Angst vor
Regressforderungen nicht die Medikamente verschreibt,
die er wirklich braucht. Mit dieser Angst der Patienten
müssen wir umgehen. Wir können doch nicht nur mit
den Achseln zucken, sondern wir müssen darauf reagieren. Wir wollen den Ärzten die Angst vor dem Regress
nehmen, sie aber trotzdem zu wirtschaftlichem Verordnen anhalten; denn es soll nichts verschwendet werden.
Deswegen muss das Prinzip „Beratung vor Regress“ und
„Beratung vor Bestrafung“ gelten, damit der Arzt keine
Angst haben muss, wenn er Medikamente verschreibt,
und vor allem der Patient sicher sein kann, dass er das
bekommt, was er braucht. Wir tun mit vielen Einzelmaßnahmen etwas für die Patienten. Diese Beispiele machen
das sehr deutlich.
({4})
Abschließend kann man mit Fug und Recht sagen,
({5})
dass wir mit diesem Gesetzentwurf die erlebte Versorgungsrealität des Patienten in den Mittelpunkt stellen.
Erstmals seit 10, 15 Jahren ist dies auch der Entwurf eines Gesetzes im Gesundheitswesen, das kein Spargesetz
ist, sondern durch das Strukturen verändert werden.
({6})
Es geht darum, wofür wir wie viel Geld ausgeben, um
die Versorgung der Patienten zu verbessern.
Ich verstehe, dass Sie sich ärgern und etwas schmallippig sind, weil wir diese Dinge anstoßen, während Sie
zehn Jahre lang nur darüber geredet haben.
({7})
Es wäre schön, wenn Sie sich in den nächsten Wochen
konstruktiv in diese Debatte einbringen würden. Sie haben noch viele Gelegenheiten dazu. Ich sage Ihnen eines
zu:
Das war doch schon ein wunderbarer Schlusssatz.
Wenn Sie zur Abwechslung einmal einen konstruktiven Vorschlag machen, greifen wir ihn gerne auf.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Dr. Harald Terpe. Bitte schön, Kollege
Dr. Terpe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer nach den
bisherigen enttäuschenden Gesundheitsgesetzen der
schwarz-gelben Koalition einen gesundheitspolitischen
Aufbruch erwartet hat, der wird auch diesmal enttäuscht:
Trippelschrittchen in die Zukunft und weit ausholende
Schritte in die Vergangenheit.
({0})
Nun will ich nicht behaupten, dass der Gesetzentwurf
überhaupt keine für die Versorgung sinnvollen Einzelregelungen enthält. Es ist manches darunter, wofür Sie
unsere konstruktive Unterstützung haben.
({1})
Ich nenne beispielsweise die Überarbeitung der ärztlichen Bedarfsplanung mit regionalem Bezug, die Lockerung der Residenzpflicht, die Datengrundlage für die
Versorgungsforschung und nach meiner Meinung - trotz
aller Unbestimmtheit - im Grundsatz auch die Schaffung
der spezialärztlichen Versorgung.
({2})
Aber gemessen an dem, was zur Verbesserung der Versorgung eigentlich getan werden müsste, ist dieser Gesetzentwurf ein Flop.
Wir wissen, dass durch den demografischen Wandel
die Zahl der chronisch und mehrfach erkrankten Patientinnen und Patienten zunehmen wird, vor allem in ländlichen Räumen. Deshalb wird sich die Art der Versorgung
ohnehin ändern müssen, und zwar weg von der rein
arztzentrierten Behandlung hin zu einer ganzheitlichen
Versorgung der Patientinnen und Patienten.
({3})
Dazu liegen zahlreiche Studien vor. Beispielsweise hat
der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen wiederholt darauf hingewiesen, dass schon heute ein erheblicher Verbesserungsbedarf in der gesundheitlichen Versorgung besteht. Dabei
geht es nicht nur um die erlebte Versorgungsqualität
- ohne Frage ein wichtiger Punkt -, sondern es geht auch
um tiefgreifende Strukturveränderungen. Es geht um
eine Stärkung der integrierten Versorgung, damit endlich
die überkommene Grenze zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Krankenhäusern überwunden wird.
Es geht um eine andere Aufgabenverteilung, um bessere
Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen und
um eine Stärkung der Primärversorgung. Meine These
lautet, dass sektoren- und professionenübergreifende
Versorgungsstrukturen die besten Chancen für eine
nachhaltig gute Versorgungsqualität bieten.
Der Sachverständigenrat hat auch wiederholt darauf
hingewiesen, dass die Anreize in unserem Gesundheitswesen nicht stimmen. Der gesunde Patient lohnt sich für
den Arzt überhaupt nicht. Es geht nur noch darum, möglichst viele Leistungen zu erbringen. Das führt zu einer
häufig entseelten, nicht am Gesundheitsnutzen der Patientinnen und Patienten orientierten Medizin.
({4})
Es tut mir leid: Ich sehe in diesem Gesetzentwurf wenig
oder nichts, durch das dieses spezifische Problem auch
nur im Ansatz zu lösen wäre.
Stattdessen öffnen Sie die Tür für größtenteils unkonditionierte Honorargeschenke an Ihre vermeintliche
Klientel. Ich glaube, es werden mehr Anreize für eine
bessere Versorgung, gerade im Primärbereich, gebraucht; gebraucht wird nicht die Belohnung der cleversten Leistungsausweitung. Honorare ja, aber leistungsgerecht und transparent.
({5})
Ähnlich verfahren Sie mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Auch dort stärken Sie die finanziellen Interessen der Leistungserbringer. Künftig wird es noch
schwerer sein, Behandlungsmethoden auszuschließen,
die uns alle nur Geld kosten, für die Patientinnen und Patienten aber keinen gesundheitlichen Nutzen bringen.
({6})
Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass unsolidarische Politik zulasten vieler und zum Nutzen weniger leider Tradition in der FDP hat.
({7})
Der Vorgänger im Amt des Gesundheitsministers, Herr
Rösler, hat bei der Verabschiedung des GKV-Finanzierungsgesetzes im vergangenen Jahr an dieser Stelle beklagt, dass im Gesundheitswesen reglementiert werde,
wer wann welche Leistung bei wem an welchem Ort erbringen dürfe oder eben nicht. Deshalb muss hier gefragt
werden: Warum und zu wessen Nutzen reglementieren
Sie eigentlich, wer in Deutschland ein Medizinisches
Versorgungszentrum gründen darf? Sollen die MVZ in
Kliniken gar ausgebremst werden? Warum begrenzen
Sie sogar die Wahl der Rechtsform eines solchen Versorgungszentrums? Von den 1 700 MVZ sind ganze 5 MVZ
in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Trotzdem
wird Zeit darauf verschwendet, eine Regelung für diese
fünf Fälle zu treffen. Ich finde, das ist Placebopolitik.
({8})
Auch andere Regelungen in diesem Gesetzentwurf
sind mehr als dürftig. Sie rühmen sich unter anderem damit, dass Ärztinnen und Ärzte in unterversorgten Regionen künftig keine Angst mehr vor Honorarkürzungen haben müssen. Wir haben dazu in einer Kleinen Anfrage
nachgefragt. Daraufhin wurde uns gesagt: Diese gesetzliche Regelung würde im Grunde aktuell 37,3 Ärztinnen
und Ärzte betreffen. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass Hausärztinnen und Hausärzte in den wirklich
unterversorgten Regionen eigentlich ohnehin keine
Honorarkürzungen haben, dann betrifft das nur noch
7,3 Ärztinnen und Ärzte.
({9})
Es ist also auch eine Regelung, die im Grunde kaum eine
Bedeutung hat.
Wir sind dann bei der Frage, die auch schon aufgeworfen worden ist: Wie gehen wir mit der Unterversorgung um - das ist das Wichtigste bei diesem Thema -,
aber auch mit der Überversorgung? Dazu ist schon ein
Beispiel genannt worden: Wir müssen uns darum kümmern, wie hier in der Stadt die Charlottenburger Kinderärzte nach Neukölln kommen.
({10})
Abschließend: Dieser unzulängliche Gesetzentwurf
bräuchte im Verfahren eine grundlegende Neuorientierung, nämlich eine Orientierung an den Patientinnen und
Patienten und nicht am monetären Nutzen einzelner
Leistungserbringer. Dafür hätten Sie jedenfalls unsere
volle Unterstützung.
({11})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner für die
Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Lothar
Riebsamen.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor der Sommerpause haben wir den Entwurf des Krankenhaushygienegesetzes vorgelegt, und kurz nach der
Sommerpause, also heute, legen wir den Entwurf des
Versorgungsstrukturgesetzes vor. Sie können erkennen,
dass wir bei beiden Gesetzentwürfen die Versorgungsqualität der Menschen in Deutschland in den Fokus rücken. Sie können auch erkennen, dass der Gesetzgebungsprozess des vergangenen Jahres - es ging darum,
die GKV-Finanzierung auf der Einnahmeseite wie auf
der Ausgabenseite auf sichere Beine zu stellen - kein
Selbstzweck war. Damit haben wir sozusagen Mittel
freigeschaufelt, um die Versorgungsqualität, die in
Deutschland weitestgehend gut ist, zu sichern. Dort, wo
sie weniger gut ist - in ländlichen Räumen, aber auch in
manchen Stadtbezirken -, soll sie deutlich verbessert
werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf orientieren wir
uns an der Lebenssituation der Patientinnen und Patienten, aber auch an der Lebenssituation der Ärztinnen und
Ärzte im 21. Jahrhundert, an den Strukturen unseres Gesundheitssystems, insbesondere in den Sektoren und an
deren Grenzen.
Entscheidende Weichenstellungen sind in diesem Zusammenhang im Bereich der Bedarfsplanung vorgesehen. Wir wollen weg von einer eher zentralen Bedarfsplanung hin zu einer dezentralen Bedarfsplanung. Die
Fachleute vor Ort kennen die Situation. Sie wissen, wie
viele Kilometer es bis zum nächsten Hausarzt, Facharzt
oder Krankenhaus sind. Es ist wichtig, diese Bedarfsplangrenzen nicht an politischen Grenzen festzumachen,
sondern an Grenzen, die an der Vernunft und am Wissen
der Fachleute vor Ort orientiert sind.
Es ist folgerichtig, dass die Länder erheblich mehr
Mitwirkungsrechte bekommen. In den Landesausschüssen
werden Sie mitberaten können. Die Bedarfsplanung ist
den Ländern vorzulegen. Sie werden auch beim Gemeinsamen Bundesausschuss ein Mitspracherecht bekomLothar Riebsamen
men. Bei der Umsetzung werden allerdings nicht nur die
Länder einbezogen, sondern auch die Gemeinden. Wenn
die Kassenärztlichen Vereinigungen gemeinsam mit den
Gemeinden erkennen, dass die Notwendigkeit besteht,
eine Versorgungslücke zu schließen, können die Gemeinden eigene Einrichtungen betreiben.
Neben der Bedarfsplanung geht es um die sektorübergreifende Versorgung und um deren Ausbau. Hier entstehen zusätzliche Möglichkeiten, insbesondere im spezialärztlichen Bereich. Jeder, der eine entsprechende
medizinische Leistung erbringen kann - die Betonung
liegt auf „kann“; die Qualität der Behandlung ist die
erste und wichtigste Voraussetzung - darf behandeln. In
beiden Sektoren muss die gleiche Leistung erbracht werden.
({0})
Wir orientieren uns an der Lebenssituation der Ärztinnen und Ärzte, die sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Wir haben in den medizinischen Berufen derzeit
mehr Abgängerinnen als Abgänger zu verzeichnen. Deswegen spielt es eine besondere Rolle, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Auch in
diesem Zusammenhang spielen die Sektoren eine Rolle.
Es ist eine Erleichterung für Männer wie für Frauen,
wenn zum Beispiel die niedergelassenen Ärzte bei der
notärztlichen Versorgung nicht auf sich alleine gestellt
sind, sondern wenn großräumiger gedacht wird und auch
Krankenhäuser einbezogen werden und damit die Wochenenden und die Nächte bei der Notversorgung freigestellt sind.
Eine weitere Erleichterung für Ärztinnen, die entbunden haben, sind die Entlastungsassistenten, die künftig
für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren eingestellt
werden können.
Auch die Residenzpflicht wurde angesprochen. Leider ist es natürlich so, dass nicht alle Ärztinnen und
Ärzte, die grundsätzlich bereit sind, ihren Beruf im ländlichen Raum oder in bestimmten Stadtbereichen auszuüben, dort auch leben und wohnen wollen. Es geht auch
um die Situation der Ehegatten bzw. um die Arbeitsplatzfindung der Ehegatten. Deswegen macht es Sinn,
die Residenzpflicht nicht mehr vorzusehen.
Außerdem haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen,
dass Aufgaben vom ärztlichen Bereich an den Pflegebereich delegiert werden können. Auch dies ist eine Erleichterung insbesondere für die Versorgung des ländlichen Raums.
Natürlich geht es auch um wirtschaftliche Anreize. Es
geht darum, dass es dort, wo es zu viele Arztsitze gibt,
erleichtert wird, diese aufzukaufen. Ferner geht es darum, die Honorarverteilung vor Ort dezentral vorzunehmen, sodass den örtlichen Gegebenheiten besser Rechnung getragen wird.
({1})
Dabei spielt die Abstaffelung, die heute schon mehrfach angesprochen worden ist, eine ganze besondere
Rolle. Es geht nicht darum, wie die Abstaffelung heute
aussieht, sondern es geht darum, wie sich die Abstaffelung entwickeln wird. Nehmen wir beispielsweise eine
Gemeinde mit 3 000 Einwohnern und zwei Ärzten.
Wenn ein Arzt in den Ruhestand geht und nur noch ein
Arzt übrig bleibt, so wird dieser selbstverständlich mehr
arbeiten müssen als vorher. Das soll nicht bestraft werden. Das wollen wir mit dieser Abstaffelung belohnen.
Darum geht es.
({2})
Mit diesem Gesetz sorgen wir für eine Verbesserung
der heutigen Situation. Vor allem aber werden wir die
Aufgaben erfüllen, die uns erwarten. Die Situation wird
sich aufgrund der demografischen Entwicklung und der
Morbiditätsentwicklung natürlich ein Stück weit dramatisieren. Wir begegnen dieser Problematik und werden
mit diesem Gesetz die Situation der Patientinnen und Patienten in unserem Land ein weiteres Mal verbessern.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in
unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Dr. Carola Reimann. - Bitte schön,
Frau Kollegin Dr. Reimann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich könnte zu Beginn meiner Rede an die vielen berechtigten Kritikpunkte der Vorrednerinnen und Vorredner anknüpfen. Zunächst einmal möchte ich aber der
schwarz-gelben Regierung meine Glückwünsche aussprechen. Bei all dem Chaos und Gezänk der vergangenen Wochen - Herr Kollege Singhammer hat das Chaoscombo genannt ({0})
grenzt es schon an ein kleines Wunder, dass Sie überhaupt noch in der Lage sind, diesem Parlament einen
Gesetzentwurf vorzulegen.
Hinsichtlich der Pflege - der Minister hat an das kalendarische Ende des Sommers erinnert - können Sie
heute noch nicht einmal grobe Eckpunkte vorlegen. Bei
all dem, was wir inzwischen von Schwarz-Gelb so gewohnt sind, sind das geradezu überraschende Ansätze eines gemeinsamen Handlungswillens, die viele von uns
gar nicht mehr erwartet hatten.
Die Abläufe bei Ihren hilflosen Reformbemühungen
kennen wir aber leider inzwischen zu gut, um uns über
Ansätze so richtig freuen zu können. Egal ob bei der Gesundheitsreform, bei der Pflege oder jetzt beim Versorgungsstrukturgesetz: Die Abläufe sind gleich. Es wird
ausgiebig gestritten. Dann wird monatelang entgegen
zahlreichen Ankündigungen - die Stichworte waren das
Zweibettzimmer oder die Terminvergabe bei Fachärz15078
ten - weiter gestritten und nichts vorgelegt. Wenn dann
am Ende doch noch etwas mit Hängen und Würgen präsentiert wird, dann wünscht man sich, es wäre gar nicht
erst zu einer Einigung gekommen.
({1})
Entweder wurde wieder einmal munter an den eigentlichen Problemen vorbeireformiert, oder - schlimmer
noch - das schwarz-gelbe Reformwerk präsentiert neue
zusätzliche Probleme.
({2})
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist eine Mischung
aus beidem. Er ist ein Sammelsurium von Vorschlägen
und Maßnahmen mit allen möglichen Auswirkungen auf
die Versorgung.
Das Hauptziel, nämlich die Versorgung, werden Sie
damit aber sicher nicht erreichen. Die Versorgung der
Patientinnen und Patienten in unserem Land wird so
nicht verbessert.
Beginnen wir einmal mit der Kategorie „Gut gemeint,
aber an den eigentlichen Problemen vorbeireformiert“.
Sie gehen von der Annahme aus - davon muss ich ausgehen -, dass das, was für den Arzt gut ist, auch gut für
den Patienten ist und ihm hilft. Der Minister hat selbst
davon gesprochen, wer mit diesem Gesetz beglückt
wird. Nur so kann man das verstehen; denn sonst ist es
lupenreine Klientelpolitik.
Natürlich ist es richtig, Anreize auch finanzieller Art
zu geben, um Ärztinnen und Ärzte aufs Land zu locken.
Wenn man aber auf der einen Seite den Versicherten
diese zusätzlichen Kosten zumutet, dann muss es doch
auf der anderen Seite auch möglich sein, beim Abbau
der Überversorgung den Ärzten etwas abzuverlangen.
Zur Erinnerung: Wir hatten noch nie so viele Ärzte im
Land wie heute. Es gibt genug; aber sie sind nicht immer
da - in der Analyse sind wir uns alle einig -, wo man sie
braucht.
Um das zu ändern, müssen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, mit Privilegien brechen und etablierte Strukturen verändern.
({3})
Aber dazu fehlt Ihnen die Kraft. Ihnen fehlt der Mut, beispielsweise nicht nur Honorarzuschläge - also mehr
Geld - zu verteilen, sondern in überversorgten Gebieten
Abschläge festzuschreiben. Ihnen fehlt der Mut - Kollegen haben das angesprochen -, noch stärker auf eine
bessere Kooperation der Berufsgruppen zu setzen und
neue Aufgabenverteilungen einzufordern. Ihnen fehlt
einfach der Mut, auch der eigenen Klientel etwas abzuverlangen.
Stattdessen belasten Sie die Versicherten weiter durch
höhere Ausgaben für Ärztehonorare. Der Gesundheitsminister spricht zwar immer noch von Ausgabenneutralität, der Ministerkollege Schäuble aber, der für die Finanzen zuständig ist, besteht auf einer Klausel zur
Minderung der Zahlungen für den Sozialausgleich. Dabei kommt es doch nach Ihrer Überzeugung zu gar keinen Mehrkosten. Das muss mir erst mal einer erklären.
({4})
Damit sind wir an der Stelle, wo Gesetze nicht nur
ihre Ziele nicht erreichen, sondern wo neue, zusätzliche
Probleme geschaffen werden. Eben erst haben Sie mit
dem GKV-Finanzierungsgesetz eine Kopfpauschale mit
der Beruhigungspille „Sozialausgleich“ eingeführt. Jetzt,
mit dem nächsten Gesetz, dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz, werden die Gelder für den Sozialausgleich
wieder genommen. Sie werden genommen, damit die
Honorarmehrausgaben für die Ärzte finanziert werden
können.
Die Liste der Fehlentscheidungen in dem Entwurf
lässt sich weiter fortführen. Nachdem wir mit der letzten
Honorarreform gemeinsam in der Großen Koalition die
Angleichung der bis dahin sehr verschiedenen Vergütungsniveaus in den Kassenärztlichen Vereinigungen auf
den Weg gebracht haben, kehren Sie jetzt wieder um.
Als Niedersächsin weiß ich, wovon ich rede. Was nutzen
mir denn Zuschläge für unterversorgte Gebiete im Norden - wie zum Beispiel im Harz -, wenn die eigentliche
Leistung wesentlich schlechter vergütet wird als zum
Beispiel bei Ihnen in Bayern? Herr Singhammer, das ist
ein Blumenstrauß allein für die Bayern.
({5})
Diese Regelung ist ein Rückschritt genauso wie Ihr
Plan, weitreichende Einschränkungen bei den medizinischen Versorgungszentren vorzunehmen, obwohl gerade
diese im Sinne der Patientinnen und Patienten eine wichtige Brücke für eine bessere ärztliche Versorgung bilden
können.
({6})
Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben die Bedürfnisse und Interessen der Patienten - anders, als es
hier gesagt worden ist - ganz offensichtlich keine Rolle
gespielt. Sie stellen, wie so häufig, den Arzt ins Zentrum
Ihrer Bemühungen und werden deshalb das Ziel, eine
bessere Versorgung in Stadt und Land, nicht erreichen.
({7})
Ich kann Ihnen nur raten: Hören Sie auf, sich an alten
Besitzständen zu orientieren. Überwinden Sie etablierte
Strukturen, rückständige Zuständigkeiten und Arbeitsverteilungen. Haben Sie auch einmal den Mut, wirklich
allen die Bereitschaft zu Veränderungen abzuverlangen.
Dann und nur dann werden Sie die Versorgungssituation
in unserem Land - auch auf dem Land - im Sinne der
Patientinnen und Patienten wirklich verbessern.
Danke.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dietrich
Monstadt. Bitte schön, Kollege Dietrich Monstadt.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte einige Kritik der Opposition zu hören bekommen.
Es gab aber nicht nur Kritik, sondern wir haben auch lernen dürfen, welche Fernsehsendungen die Kollegin
Bender offensichtlich bevorzugt.
Meine Damen und Herren von der SPD, liebe Frau
Kollegin Dr. Reimann, ich befürchte, es ist Ihnen nicht
klar, was Sie permanent kritisieren. Das, was Sie kritisieren, sind Auswirkungen der Politik, die Ihre Ministerin,
Frau Ulla Schmidt, auf den Weg gebracht hat. Diese
Auswirkungen müssen wir jetzt mühsam wieder einfangen.
Herr Kollege Dr. Lauterbach, Sie haben uns eine Bürgerversicherung angekündigt. Auf dieses Konzept warten wir bis heute. Offensichtlich sind Sie mit der Arbeit
der Koalition so zufrieden, dass Sie auf eigene Konzepte
gänzlich verzichten.
({0})
Trotzdem und gerade deswegen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erfreulicher Anlass für unsere heutige
Debatte. Die Versorgung von Patientinnen und Patienten
wird sich verbessern. Arztpraxen und Krankenhäuser
werden schrittweise besser miteinander verzahnt. In der
neuen spezialärztlichen Versorgung werden Krankenhausärzte und niedergelassene Ärzte ihre Patienten ambulant versorgen.
Lassen Sie mich auf einen Kernbereich unseres Gesetzgebungsvorhabens hinweisen, der gerade für mein
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern besonders wichtig ist: die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung. Die bundesweiten Zahlen zeigen zwar keinen Ärztemangel auf. Wir haben aber ein zunehmendes
Ärzteverteilungsproblem. Einerseits gibt es in attraktiven städtischen Ballungsräumen überversorgte Regionen, andererseits sehen wir in ländlichen Gebieten, wie
es sie in Mecklenburg-Vorpommern und auch in anderen
Ländern gibt, eine drohende Unterversorgung. Die demografische Entwicklung wird diese Probleme noch verstärken; Herr Minister Bahr ist darauf intensiv eingegangen. Es ist richtig, in unterversorgten Regionen neue
Versorgungsstrukturen zu ermöglichen, die über die
klassischen Praxismodelle hinausgehen. Deshalb gibt es
einen umfassenden Katalog von Anreizen und finanziellen Unterstützungen, der Ärzten die Entscheidung, sich
in ländlichen oder strukturschwachen Regionen niederzulassen, erleichtern soll.
({1})
Mit einer leistungsgerechten Vergütung wollen wir
die Bedingungen für die Ärzte in strukturschwachen Gebieten verbessern. So soll der Arzt, der mehr arbeitet,
weil er mehr Patienten versorgen muss, nicht finanziell
dafür büßen. Er wird von der Abstaffelung der Vergütung bei Mengenüberschreitungen befreit und damit entscheidend bessergestellt. Wichtig ist auch, dass die Bundesländer künftig mehr Mitwirkungsrechte bei der
Bedarfsplanung erhalten. Auf diese Weise können regionale Besonderheiten besser berücksichtigt werden. Aus
der Sicht eines Landes wie Mecklenburg-Vorpommern
sind das die richtigen Schritte, um eine flächendeckende
und hochwertige Versorgung sicherzustellen. Dies wird
im Übrigen nicht nur von der Regierungskoalition so gesehen. Positive Bewertungen kommen sowohl vonseiten
der Landespolitik als auch vonseiten der Selbstverwaltung und der Patientenvertreter.
Erlauben Sie mir eine Bemerkung zur psychotherapeutischen Versorgung: Wir wissen - viele von uns sind
in letzter Zeit darauf angesprochen worden -, dass es in
diesem Bereich Wartezeiten und Engpässe gibt. Es gibt
die Befürchtung, dass die Krankenversicherungen Psychotherapeutensitze abbauen, wenn eine nominelle
Überversorgung besteht, obwohl der tatsächliche Bedarf
nicht gedeckt ist. Natürlich soll durch das Gesetz gerade
dies nicht möglich sein. Ziel ist vielmehr, die Verteilung
der Praxissitze am tatsächlichen Bedarf der Menschen
auszurichten. Der Abbau von Praxen, gerade auf Kosten
einer Facharztgruppe, ist damit eindeutig nicht gemeint.
Wir werden aber prüfen, ob es im Versorgungsgesetz
noch Klarstellungsmöglichkeiten gibt.
Eine wichtige Neuerung führen wir mit der Erprobung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
ein. Damit sichern wir gesetzlich versicherten Patienten
den Zugang zu medizinischen Innovationen. Darüber hinaus sorgen wir für die Gewinnung wissenschaftlicher
Daten zum Nutzen einer Methode. Nach der heutigen
Rechtslage auf der Grundlage des § 137 c SGB V kann
der Gemeinsame Bundesausschuss eine im stationären
Bereich eingeführte neue Methode, zum Beispiel eine
neue Krebstherapie, auf ihren Nutzen überprüfen. Das
soll auch so bleiben.
Bislang ist es allerdings so, dass der Gemeinsame
Bundesausschuss entweder den Nutzen als Beleg anerkennt oder aber die Methode aus dem GKV-Leistungskatalog ausschließen muss. Bisher hat der Gemeinsame
Bundesausschuss keine Möglichkeit, selbst eine Studie
zu veranlassen, wenn der Nutzenbeleg noch unzureichend ist. Das ändern wir mit der Erprobung im neuen
§ 137 e. Der Gemeinsame Bundesausschuss kann künftig innovative Methoden zeitlich begrenzt unter strukturierten Bedingungen bei gleichzeitigem Erkenntnisgewinn erproben. Er muss also nicht sofort zu seiner
schärfsten Waffe, dem Ausschluss nach § 137c, greifen,
wenn die Studiendaten noch nicht ausreichen. Damit erhält der Gemeinsame Bundesausschuss ein neues Instrument für die Bewertung von Methoden, deren Nutzen
zwar noch nicht mit hinreichender Evidenz belegt ist, die
aber vielversprechend sind und therapeutisches Potenzial besitzen, weil sie zum Beispiel weniger invasiv sind
oder weniger Nebenwirkungen haben.
Wenn eine Erprobung stattfindet, heißt das übrigens
nicht, dass Patienten außerhalb der Studie keinen Zugang mehr zu dieser Methode haben. Parallel zur Erprobung unter Studienbedingungen haben Patienten weiterhin Zugang zu dieser Methode.
Meine Damen und Herren, ein Teil der infrage kommenden Methoden wird Medizinprodukte betreffen. Ich
habe neulich die Befürchtung gehört, künftig müsse je15080
der Rollstuhl durch eine solche Erprobung, eine klinische Studie. Solche Befürchtungen sind nicht begründet.
Es handelt sich um Medizinprodukte, die ihre klinische
Bewertung nach dem Medizinproduktegesetz längst hinter sich haben, verkehrsfähig sind, legal vermarktet werden dürfen und als Nachweis dafür die CE-Kennzeichnung tragen. Wenn der G-BA feststellt, dass der Nutzen
eines solchen Medizinproduktes noch nicht hinreichend
belegt ist, heißt dies also nicht, dass das Produkt am
Nullpunkt seiner klinischen Entwicklung steht.
In § 137 c und e des Fünften Buches Sozialgesetzbuch geht es gar nicht um die Frage, ob solche Medizinprodukte auf den Markt kommen und verwendet werden
dürfen oder nicht, sondern darum, ob die gesetzlichen
Krankenkassen dafür zahlen oder nicht. Mit den Regelungen des neuen § 137 e SGV V erleichtern wir den Patientinnen und Patienten den Zugang zu Innovationen.
({2})
Meine Damen und Herren, mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz setzen wir unsere Reformen für ein
stabiles, zukunftsfähiges, soziales Gesundheitssystem
fort. Ich lade Sie dazu ein, sich konstruktiv in die jetzt
anstehenden Beratungen einzubringen.
Herzlichen Dank.
({3})
Herr Kollege, wir haben zu danken. Sie waren der
letzte Redner in unserer Debatte. - Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6906 und 17/3215 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 29 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiterentwicklung nutzen
- Drucksache 17/6372 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Studienfinanzierung stärken - Das BAföG
zum Zwei-Säulen-Modell ausbauen
- Drucksache 17/7026 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz ({3}), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Notfallplan für die Hochschulzulassung
zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln - Sozialen Zugang und Durchlässigkeit
in Masterstudiengängen sichern
- Drucksachen 17/5899, 17/5475, 17/7051 Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Swen Schulz ({4})
Dr. Martin Neumann ({5})
Kai Gehring
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
Fraktion Die Linke unserer Kollegin Nicole Gohlke.
Bitte schön, Frau Kollegin Gohlke.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Das BAföG hat am 1. September seinen 40. Geburtstag
gefeiert. Auch die Fraktion Die Linke gratuliert dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz zu seinem Jubiläum, war doch das BAföG der erste Versuch in der Bundesrepublik, die Hochschulen für die Breite der Gesellschaft und nach sozialen Kriterien zu öffnen: ein
Studium nicht mehr nur für die Kinder von Rechtsanwälten und höheren Beamten, sondern auch für die Söhne
und endlich auch vermehrt für die Töchter von Fabrikarbeiterinnen und Bäckern. Wenn man sich das BAföG
heute anschaut, dann will es einem zu diesem Jubiläum
aber nicht so richtig feierlich zumute werden. Denn die
Ausbildungsförderung wird ihren ursprünglichen Zielen
immer weniger gerecht; sie ist eigentlich nur noch ein
Schatten ihrer selbst.
In der Gesetzesbegründung des BAföG von 1971
wurde der Anspruch formuliert, „soziale Unterschiede …
auszugleichen“ und „durch Gewährung von individueller Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwirken“. Diesem
Anspruch wurde das BAföG wahrscheinlich nie völlig
gerecht; aber es gab zunächst eine sehr positive Entwicklung. Heute sind wir davon allerdings weiter entfernt
denn je, obwohl diese Regierung angeblich eine „Bildungsrepublik“ ausrufen möchte.
({0})
Was sind die Fakten? In den 60er-Jahren, vor Einführung des BAföG, lag der Anteil der Studierenden aus sogenannten sozial niedrigen Herkunftsgruppen bei durchschnittlich 6 Prozent. 1982, nach Einführung des BAföG,
war der Anteil dieser Gruppe auf 23 Prozent gestiegen.
Und heute? Im Jahr 2009 gab es einen Rückgang auf nur
15 Prozent. Eine andere Zahl: Nach der Einführung 1971
wurden 44 Prozent der Studierenden mit dem BAföG gefördert; heute sind es nur noch knapp 20 Prozent.
Während das BAföG in den ersten Jahren für viele
Studierende eine bedarfsdeckende Finanzierung war,
deckt das BAföG heute nur noch 15 Prozent der Gesamtfinanzierung der Studierenden ab. Zwei Drittel der Studierenden müssen parallel zum Studium arbeiten, um ihr
Leben und ihr Studium bestreiten zu können. Bei den
heutigen Mietpreisen und Lebenshaltungskosten erlaubt
es nicht einmal der Höchstsatz den Studierenden, ohne
Nebenjob auszukommen.
Das BAföG war in seiner ursprünglichen Konzeption
ein Vollzuschuss. Die Regierung Kohl hat es komplett
auf ein Darlehen umgebaut. Das war ein Fehler, den leider auch die nachfolgenden Regierungen nicht mehr
vollständig korrigiert haben. Seit 1990 ist das BAföG
zur Hälfte ein Darlehen und zwingt seitdem die Studierenden, sich zumindest teilweise zu verschulden.
All diese Zahlen machen deutlich, wie sehr die derzeitige Ausgestaltung des BAföG an dem vorbeigeht,
was die Studierenden brauchen. Das ist für diese selbsternannte Bildungsrepublik der eigentliche Skandal.
({1})
In dieser Situation lässt Frau Schavan vermelden,
dass die BAföG-Erhöhung des Jahres 2010 das vorgezogene Geschenk zum 40-jährigen Jubiläum gewesen sei
und sie weitere, von vielen Seiten dringend geforderte
Erhöhungen ablehne.
({2})
Als Ausgleich - das ist ihr Vorschlag - könnten die Studierenden ja noch ein Darlehen aufnehmen. Noch ein
Darlehen! Also weitere Verschuldung statt Förderung.
So ein Vorschlag, so ein Umgang mit den Studierenden
ist aus meiner Sicht wirklich zynisch und völlig lebensfern;
({3})
denn bereits die Verschuldung, die heutzutage mit dem
BAföG verbunden ist, schreckt einen großen Teil der
jungen Menschen ab. Auch diese Regierung muss irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen, dass die berufliche Realität von jungen Menschen, auch die von jungen
Akademikerinnen und Akademikern, schon seit Jahren
nicht mehr so ist, dass alle nach ihrem Studium tolle und
hochbezahlte Jobs finden und dann nach wenigen Monaten in der Lage sind, ihre Schulden, die sie während des
Studiums gemacht haben, zurückzuzahlen. Muss man
dieser Regierung wirklich erklären, dass auch hierzulande und nicht nur in Griechenland oder Spanien viele
Hochschulabsolventinnen und -absolventen in Praktika
oder in befristeten Beschäftigungsverhältnissen landen
oder sie sich erst einmal lange mit irgendwelchen mies
bezahlten Jobs, die gar nichts mit ihrem Abschluss oder
ihrem Studienfach zu tun haben, über Wasser halten
müssen? Deswegen haben junge Menschen Angst vor
der Verschuldung. Sie wissen nicht, ob und wie schnell
sie in der Lage sein werden, ihre Schulden zurückzuzahlen. Frau Schavan sollte wirklich aufhören, mit dem Hintergrund einer gut dotierten Bundesministerin jungen
Menschen, die keine klare berufliche Perspektive haben,
eine Verschuldung zu empfehlen. Sie sollte stattdessen
das BAföG so ausbauen, dass junge Menschen sorgenfrei studieren können.
({4})
Die Linke fordert, dass das BAföG endlich wieder als
Vollzuschuss gewährt wird; denn nur so kann man junge
Menschen, vor allem die aus sogenannten sozial prekären Herkunftsgruppen, ermutigen, ein Studium aufzunehmen. Wir fordern die sofortige Anhebung des BAföG
um 10 Prozent, eine jährliche Anpassung an die Lebenshaltungskosten und eine deutliche Ausweitung des Berechtigtenkreises. Und wir wollen, dass Schülerinnen
und Schüler der Oberstufe endlich wieder BAföG beziehen können; denn die soziale Auslese, die das deutsche
Bildungssystem dramatisch durchzieht, beginnt in der
Schule, und das muss endlich durchbrochen werden.
Dabei hat die schwarz-gelbe Regierung durch die
Veröffentlichung der neuesten OECD-Studie doch gerade wieder einmal die Quittung für ihr sozial diskriminierendes Bildungssystem bekommen. Die Studie stellt
fest, dass in Deutschland nur 26 Prozent der jungen Erwachsenen einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss bzw. einen Meisterbrief machen, während der
Durchschnitt in den westlichen Industrieländern insgesamt bei 37 Prozent liegt. Die Anzahl der Hochqualifizierten und der Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik wächst also unterdurchschnittlich.
In dieser Situation hat Schwarz-Gelb nichts anderes
zu tun, als mit dafür zu sorgen, dass Jahr für Jahr Tausende von Bewerberinnen und Bewerbern von den
Hochschulen abgewiesen werden und keinen Studienplatz erhalten. Tausende junge Menschen haben zwar
Abitur gemacht, haben also vielleicht mühevoll ihr
Recht auf ein Studium erlangt, können von ihrem Recht
aber keinen Gebrauch machen, weil es nicht genug Studienplätze gibt.
Mittlerweile unterliegen die meisten Studiengänge in
Deutschland lokalen oder bundesweiten Zulassungs- und
Zugangsbeschränkungen. Im Wintersemester 2010/11
waren rund 51 Prozent örtlich zulassungsbeschränkt; bei
den Masterstudiengängen sind es mindestens 37 Prozent.
Für die meisten Studiengänge reicht schon lange nicht
mehr die Abiturnote aus. Nein, es gibt Eignungs- und
Sprachtests, es werden Praktikumsnachweise und Motivationsschreiben verlangt. Jede Hochschule, jeder Studiengang entwickelt eigene Ranking- und Auswahlsysteme. Diese für die Bewerberinnen und Bewerber
wirklich schwierige Situation ist nicht neu, doch sie wird
seit Jahren hingenommen, obwohl der Bund seit 2006
für die Hochschulzulassung zuständig sein kann. Man
kann das Thema also nicht einfach den Ländern in die
Schuhe schieben. Doch die Regierung schaut beim Zulassungschaos zu. Im Moment bewerben sich Tausende
von Studierenden doppelt und dreifach auf Studienplätze
aus Angst, sonst überhaupt keinen Studienplatz zu erhalten. Weil es über diese Mehrfachbewerbungen aber keinen bundesweiten Überblick gibt, bleiben trotz eigentlichem Studienplatzmangel Studienplätze unbesetzt. Im
letzten Jahr waren es über 16 000. Die Lösung für dieses
Problem sollte das dialogorientierte Serviceverfahren
werden, eine Stelle, bei der alle Studienplätze und alle
Bewerber registriert und die Informationen abgeglichen
werden. Doch Software- und Schnittstellenprobleme
verhindern dessen Einführung seit Monaten. Es ist überhaupt nicht absehbar, wann es zu einer Lösung dieser
Probleme kommt.
Seien wir einmal ehrlich: Das eigentliche Problem
sind doch nicht Software- oder Technikfragen. Das
Grundproblem sind schlicht und ergreifend fehlende
Studienplätze und die mangelnde öffentliche Finanzierung des Hochschulsystems. Derzeit kommen auf rund
1,1 Millionen ausfinanzierte Studienplätze 2,2 Millionen
Studierende. Die gesamte Infrastruktur der Hochschulen
- die Bibliotheken, die Räume, die Studentenwohnheime
und die Mensen - ist eigentlich nur für die Hälfte der
derzeitigen Studierenden ausgelegt. Das ist doch die eigentliche Katastrophe.
({5})
In der Praxis sieht das dann so aus - diese Bilder
kennt man auch aus dem Fernsehen und der Presse -,
dass Studierende vor Hörsälen schlafen, um noch einen
Platz für die Vorlesung am nächsten Tag zu bekommen,
oder dass Kirchen- und Kinosäle angemietet werden, um
das Raumproblem der Hochschulen zu lösen. Die, die
studieren dürfen, studieren unter erschwerten, oft unzumutbaren Bedingungen. Unter diesem Zustand leiden
natürlich nicht nur die Studierenden, sondern auch die
Lehrenden und die Hochschulmitarbeiter.
({6})
Tausende Bewerberinnen und Bewerber erhalten
überhaupt keinen Studienplatz. Dieses Wintersemester
werden es wohl bis zu 50 000 sein. Im Rahmen des
Hochschulpakts II wurden zwar 275 000 Studienplätze
geschaffen, um die doppelten Abiturjahrgänge auszugleichen, und im Zuge der Aussetzung der Wehrpflicht
hat die Regierung die Zahl der Studienplätze auf
334 000 erhöht, benötigt werden allerdings - allen seriösen Quellen zufolge - mindestens 500 000. Die Linke
will, dass alle, die studieren möchten, auch tatsächlich
studieren können.
({7})
Die, die studieren wollen, wissen selbst am besten, für
welches Fach sie sich entscheiden und welche Hochschule am besten für sie geeignet ist. Sie kennen ihre
Neigungen, ihre Wünsche, ihre individuelle Lebensplanung und ihre Qualifikationen. Dass sie, die Studierenden und ihr Auswahlrecht - und nicht das der Hochschulen -, endlich in den Mittelpunkt gerückt werden, ist
nicht nur ein politisches Ziel an sich, es ist auch die Voraussetzung für gutes Studieren.
Das gilt auch für das Masterstudium. Die Entscheidung, ob man nach seinem Bachelorabschluss noch ein
Masterstudium anhängen möchte oder direkt in den Beruf einsteigen möchte, sollen die Studierenden selbst
treffen können. Dies darf nicht durch die Hochschule, irgendwelche Zulassungshürden oder die ständige Mängelverwaltung im Masterstudium für sie entschieden
werden.
Die Linke fordert deswegen einen Ausbau der Studienplätze um 500 000, um endlich jedem und jeder Studierwilligen das Recht auf einen Studienplatz zu sichern.
Wir fordern ein Bundesgesetz, das die transparente und
koordinierte Vergabe von Studienplätzen regelt und dieses wahnsinnige Zulassungschaos beendet. Wir fordern
das Recht auf einen Masterstudienplatz für alle Bachelorabsolventen.
({8})
Eine Hochschulpolitik, die - wie die schwarz-gelbe
Politik - mit dem realen Leben der Studierenden nichts
zu tun hat und stattdessen in alter Ständepolitik verharrt,
muss scheitern. Ich habe große Sympathie für all diejenigen Studierenden und Schülerinnen und Schüler, die im
kommenden Wintersemester vielleicht wieder einmal
auf die Straße gehen müssen, um auf ihre Situation und
Interessen aufmerksam zu machen.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Stefan Kaufmann erhält nun das Wort für
die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Heute werden wir über
gleich vier Oppositionsanträge abstimmen: zwei zum
BAföG und zwei zur Regelung der Hochschulzulassung.
In meiner Rede möchte ich mich auf die beiden Anträge
zum BAföG konzentrieren und nur einen Satz zu dem
Antrag der Linken zur Hochschulzulassung und zu den
verzerrenden Ausführungen von Frau Kollegin Gohlke
sagen.
({0})
Ihre Forderung, „Wer eine Studienberechtigung hat,
hat das Recht, ein Studium im Fach und an der Hochschule seiner Wahl aufzunehmen“, hat bei mir ein
Schmunzeln ausgelöst. Im Fach und an der Hochschule
seiner Wahl? Das heißt, jede Hochschule müsste entsprechend der Nachfrage ihr Studienplatzangebot beliebig
erweitern und zusätzlich auch noch alle gewünschten
Studiengänge anbieten. Ich finde, ein bisschen mehr Realitätsnähe könnten wir auch von einer Oppositionspartei
erwarten.
({1})
Nun zu den BAföG-Anträgen. Die Grünen fordern
gebetsmühlenhaft, die BAföG-Förderung auf ein sogenanntes Zwei-Säulen-Modell umzustellen. Beide Säulen
sind natürlich als Vollzuschüsse gedacht. Damit wollen
Sie erreichen, dass jeder, der sich an einer Hochschule
einschreibt, einen direkt auszahlbaren, bedarfsunabhängigen Studierendenzuschuss bekommt.
({2})
Meine Damen und Herren von den Grünen, das hört sich
für mich nach einem bedingungslosen Grundeinkommen
an. Ich weiß, dass es in Ihren Reihen und besonders bei
den Linken viele Anhänger dieser staatlichen Rundumversorgung gibt,
({3})
aber einmal ganz im Ernst: Wie viel soll Ihre BAföGReform kosten? Bei mehr als 2 Millionen Studierenden,
die monatlich elternunabhängig einen dreistelligen
Grundbetrag überwiesen bekommen, wünsche ich Ihnen
viel Spaß bei den Auseinandersetzungen mit Ihren Haushältern.
({4})
Seltsam ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, dass wir in Ihrer Regierungszeit von all diesen
Reformvorschlägen zum BAföG nichts gesehen haben.
({5})
Unter Rot-Grün hat sich praktisch überhaupt nichts getan.
({6})
Im Jahre 2002 stiegen die Förder- und Freibeträge nur
geringfügig. Zudem betraf dies ausschließlich Neuanträge. Für die meisten Betroffenen kamen nicht einmal
10 Euro mehr im Monat heraus. Deshalb wurde diese
Minierhöhung von den Studenten auch als „Pizzareform“ verspottet; denn man bekam gerade so viel Geld
mehr, dass man sich davon eine Pizza kaufen konnte.
Eine wirklich beeindruckende Bilanz rot-grüner BAföGPolitik!
({7})
Doch zurück zu den Anträgen: Wer bietet noch mehr?
Sie ahnen es: die Linken. Die Linken - wir haben es gehört - fordern eine Anhebung der Bedarfssätze um
10 Prozent bereits zum 1. Oktober.
({8})
Das ist aber noch nicht genug: Das BAföG soll sich jährlich automatisch erhöhen, und die Freibeträge sollen
ebenfalls um 10 Prozent steigen. Zudem soll das BAföG,
wie auch von den Grünen gefordert, in einen Vollzuschuss umgewandelt werden.
Und nun das Beste: Bei der Berufsausbildungsbeihilfe soll der Staat zusätzlich die Kosten übernehmen,
wenn der Auszubildende in eine eigene Wohnung umzieht. Auszubildende könnten sich also in Zukunft auf
Staatskosten eine Wohnung dazumieten. Willkommen
im roten Schlaraffenland, meine Damen und Herren!
Dazu fällt mir, ehrlich gesagt, nur noch ein Ausspruch
von Franz Josef Strauß ein. Der hat einmal gefragt: Was
passiert, wenn man in der Sahara den Sozialismus einführt? Antwort: Zehn Jahre gar nichts - und dann wird
der Sand knapp.
({9})
Für mich zeigen die vorliegenden Anträge vor allem
eines: Die Opposition zieht wieder die Spendierhosen
an. Aber das natürlich nur, solange Sie in der Opposition
sind. Ministerin Annette Schavan hat es vorgestern im
Ausschuss angesprochen: Nennen Sie mir doch einmal
ein einziges Bundesland, das von Ihnen regiert wird, das
eine BAföG-Erhöhung mitmachen würde.
({10})
Gerade erst hat die neue grüne Wissenschaftsministerin
in meinem Heimatland Baden-Württemberg, Theresia
Bauer, klargestellt, dass eine BAföG-Erhöhung für sie
keine Priorität hat.
({11})
Es ist genau das Gleiche wie beim BAföG-Änderungsgesetz vor einem Jahr. Vormittags fordert die Opposition
pressewirksam BAföG-Erhöhungen, und abends im Vermittlungsausschuss werden diese dann abgelehnt.
({12})
Auch aktuell ist mir ein Drängen der rot-grünen oder
der rot-roten Landesregierungen im Bundesrat auf eine
BAföG-Erhöhung nicht bekannt. Im Gegenteil - darauf
hatte ich bereits in meiner letzten Rede zum BAföG hingewiesen -: Von den Linken praktizierte Realpolitik
sieht ganz anders aus. In Brandenburg wurden den
Hochschulen ihre Rücklagen in Höhe von 10 Millionen
Euro immer noch nicht zurückgegeben. In Ihrem vorliegenden Antrag beklagen Sie aber gleichzeitig „die strukturelle Unterfinanzierung des deutschen Hochschulsystems“. Fangen Sie also bitte vor Ihrer eigenen Haustür
an!
({13})
Unter der CDU-geführten Bundesregierung und unter
Annette Schavan konnten wir hingegen vieles für die
Studierenden erreichen, und das trotz strikter Finanzdisziplin und Weltwirtschaftskrise. So wurden zunächst
2008 die Bedarfssätze des BAföG um satte 10 Prozent
und die Freibeträge um 8 Prozent angehoben. Zusätzlich
gab es kleine Verbesserungen wie zum Beispiel einen
Kinderbetreuungszuschlag. Dies, der Richtigkeit halber
gesagt, haben wir zusammen mit Ihnen, den Kolleginnen
und Kollegen der SPD, durchgesetzt.
({14})
CDU und FDP schafften es bereits zwei Jahre später,
das BAföG nochmals zu erhöhen. Es gab eine weitere
Anhebung der Bedarfssätze und der Freibeträge. Außerdem haben wir die Anhebung der Altersgrenze für das
Masterstudium auf 35 Jahre durchgesetzt, die Auslandsförderung für Schüler ausgeweitet, den BAföG-Höchstsatz auf 670 Euro pro Monat angehoben und, und, und.
Dafür haben wir allein 2010 noch einmal 170 Millionen
Euro zusätzlich ausgegeben. Insgesamt haben Bund und
Länder damit die Rekordsumme von fast 2,9 Milliarden
Euro für das BAföG aufgebracht. Damit ist das BAföG
der größte Einzelposten im Bildungshaushalt.
Die Erfolge stellen sich ein: Die Zahl der BAföGEmpfänger nähert sich der Millionengrenze. Mit einer
Steigerung von nochmals 5 Prozent gegenüber 2009 auf
derzeit rund 916 000 BAföG-Empfänger ist diese Regierung auf einem guten Weg. Das müssen auch Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, endlich
anerkennen.
Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass
sich die Welt verändert. In den 70er-Jahren stehen zu
bleiben
({15})
wie große Teile der Oppositionsfraktionen, hilft den
Menschen nicht weiter. Die Biografien werden vielfältiger, und somit muss auch die Bildungsfinanzierung vielfältiger werden. Mit Begabtenförderung und Stipendienprogramm setzen wir auf das richtige Pferd.
({16})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort
zum Deutschlandstipendium sagen: Das ständige
Schlechtreden des Deutschlandstipendiums, auch wieder
in Ihrem Antrag, liebe Kollegen von den Grünen, hat
nichts genützt.
({17})
Sie haben sich zu früh gefreut. Natürlich bedarf es Zeit,
eine neue Stipendienkultur in Deutschland zu etablieren;
das haben wir von Anfang an gesagt. Dennoch geben die
neuesten Zahlen zum Deutschlandstipendium Anlass zur
Freude.
({18})
In Baden-Württemberg haben bereits 20 Hochschulen
das Kontingent für 2011 voll ausgeschöpft,
({19})
darunter auch Kunst- und Musikhochschulen. Das heißt,
es ist keineswegs so, dass nur technische Studiengänge
vom Deutschlandstipendium profitieren.
({20})
Insgesamt hat bereits mehr als ein Drittel der teilnehmenden Hochschulen ihr Kontingent für 2011 voll ausgeschöpft.
({21})
Einige Hochschulen, etwa die FH Eberswalde, die
RWTH Aachen, die Universität Augsburg und die TU
Bergakademie Freiberg, haben sogar deutlich mehr Stipendien eingeworben, als sie in 2011 vergeben können.
({22})
Ihre Befürchtungen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, dass das Programm nur in wohlhabenden Regionen Westdeutschlands funktionieren
würde, haben sich also nicht bestätigt.
({23})
Bauen Sie bitte keine Luftschlösser, sondern lassen
Sie uns in Zukunft gemeinsam am Erfolg des Deutschlandstipendiums weiterarbeiten! Lassen Sie uns auch gemeinsam das BAföG behutsam weiterentwickeln! Dies
heißt aus meiner Sicht eher, die Basis der Anspruchsberechtigten zu erweitern, als ständig nach einer Erhöhung
der Fördersätze zu rufen.
({24})
Es muss in diesem Zusammenhang schon irritieren, dass
laut FiBS nur circa 50 Prozent der Anspruchsberechtigten überhaupt einen BAföG-Antrag stellen.
Fazit: In Deutschland steht jedem ein Studium offen.
Deutschland ist ein attraktiver Studienstandort.
({25})
Und: Unser Bildungssystem ermöglicht sozialen Aufstieg durch Leistung - trotz Ihrer Unkenrufe, liebe Frau
Kollegin Gohlke. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele,
die Sie der Presse entnehmen können.
Also: Hören Sie bitte auf, das BAföG im 40. Jahr seines Bestehens kleinzureden! Das BAföG ist und bleibt
die tragende Säule der Studienfinanzierung in Deutschland. Es hat Millionen Menschen eine akademische Ausbildung ermöglicht, unter anderem mir selbst.
Herzlichen Dank.
({26})
Swen Schulz ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! 40 Jahre
BAföG - das ist eine wechselvolle, insgesamt aber sehr
stolze Geschichte, über die wir diskutieren.
({0})
Das BAföG wurde 1971 eingeführt, und zwar - man
höre und staune - von der sozialliberalen Koalition.
({1})
Damals konnte man mit der FDP tatsächlich noch Staat
machen.
({2})
Aber es war natürlich die SPD,
({3})
die schon damals der Motor war und darauf gedrängt
hat, das BAföG einzuführen. Die SPD hat das BAföG
immer verteidigt und es, wo sie konnte, nach Kräften
ausgebaut. Das war auch 1998 der Fall, als wir gemeinsam mit den Grünen die Bundesregierung übernommen
haben. In der Kohl-Ära ist das BAföG nachgerade kaputtgemacht worden. Wir mussten es erst wieder aufbauen.
({4})
In der Großen Koalition haben wir das BAföG gegen
Angriffe von Ministerin Schavan verteidigt; das ist die
Wahrheit.
({5})
Wir unterstützen das BAföG nicht etwa aus Prinzipienreiterei oder weil es eine schöne Tradition ist, sondern weil wir davon ausgehen, dass es ein Menschenrecht auf Bildung gibt. Es darf nicht vom Geldbeutel
abhängen, ob jemand Bildung erhält oder nicht. Das ist
im Kern der Unterschied zwischen uns und Ihnen von
der Regierungskoalition.
({6})
Das BAföG war und ist Kernstück der Bildungsoffensive, die wir in den 70er-Jahren gestartet haben. Das
BAföG war in der Tat sehr erfolgreich. Es hat Millionen
Menschen ermöglicht, ein Studium oder den Schulbesuch zu finanzieren. Aber, Herr Kaufmann: Wir dürfen
uns nicht darauf ausruhen. Wir dürfen es nicht dabei belassen. Wir müssen das BAföG fortwährend weiterentwickeln. Es gibt in der Tat einige Studien - wir haben
auch im Ausschuss für Bildung und Forschung über sie
diskutiert -, deren Ergebnisse zeigen, dass es in erster
Linie finanzielle Gründe sind, die Menschen daran hindern, Bildungsangebote wahrzunehmen, oder sie veranlassen, ein Studium abzubrechen. Darum müssen wir das
BAföG weiter ausbauen.
({7})
Die Linke und vor allen Dingen die Grünen haben
hierzu Vorschläge vorgelegt, die durchaus diskutabel
sind. Die SPD hat schon letztes Jahr einen umfassenden
Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Uns geht es darum,
die Förderung zu erhöhen, damit das Geld während der
gesamten Dauer des Bildungsprozesses ausreicht. Wir
wollen vor allem, dass mehr Menschen in den Genuss
der Förderung kommen.
Wir beobachten durchaus eine Art Mittelstandsloch,
wie wir es nennen: Das Einkommen der Eltern vieler
Studierender liegt an einer Grenze. Sie bekommen entweder gar keine oder nur eine geringe Förderung, haben
aber trotzdem Schwierigkeiten, ihre Ausbildung zu
finanzieren. Da müssen wir durch die Ausweitung der
Förderung und auch durch ein neues Instrument, das wir
vorschlagen, nämlich das Nullzinsdarlehen, etwas machen. Auch müssen wir auf die Herausforderungen der
neuen Studienstruktur reagieren. Bei vielen gibt es in der
Förderung eine Lücke zwischen Bachelor und Master.
Das müssen wir ausgleichen.
Ich möchte ausdrücklich sagen, dass die Idee des einheitlichen, elternunabhängigen Sockels durchaus reizvoll ist. Darüber müssen wir diskutieren. Dies ist natürlich eine schwierige Sache, weil wir dann auch das
Kindergeld und die Steuerfreibeträge mit einbeziehen
müssen. Das ist - auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten - nicht ganz leicht.
({8})
Ich denke, das müssen wir einmal gemeinsam diskutieren, wenn wir wieder eine vernünftige Mehrheit im
Deutschen Bundestag haben.
({9})
Swen Schulz ({10})
In diesem Zusammenhang, weil ich über Steuern gesprochen habe, will ich noch etwas zum Thema steuerliche Absetzbarkeit sagen: Vor einiger Zeit gab es ein Urteil des Bundesfinanzhofs. Der Kollege Meinhardt von
der FDP hat dann gleich gesagt: Super! Jetzt gibt es die
Möglichkeit, weniger Steuern zahlen zu müssen. - Ich
bitte Sie herzlich, einmal darüber nachzudenken. Das ist
doch der falsche Weg. Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die nach der Ausbildung viel Geld verdienen,
Steuergutschriften erhalten. Vielmehr muss es darum gehen, dass die Leute jetzt, also in der Phase der Ausbildung, Unterstützung erhalten. Da müssen wir Veränderungen herbeiführen.
({11})
Eine bessere Bildungsfinanzierung kostet Geld; das
wissen wir. Auch wissen wir, dass das Geld nicht auf den
Bäumen wächst. Darum haben wir von der SPD ein
Konzept vorgelegt, nämlich einen Pakt für Entschuldung
und Bildung. Wir wollen, dass jährlich 20 Milliarden
Euro mehr von Bund und Ländern in Bildung investiert
werden. Da das gegenfinanziert werden muss, wie wir
sehr wohl wissen, sagen wir - obwohl dies unpopulär
und streitig ist -, dass das mit Steuererhöhungen für diejenigen mit hohen Einkommen und großen Vermögen
einhergehen muss.
({12})
Darüber werden natürlich harte Diskussionen geführt
werden, aber es ist eine klare Ansage und der richtige
Weg.
Wir streiten tatsächlich für Bildung. Aber was macht
die Koalition?
({13})
Sie dümpelt so vor sich hin.
({14})
Im letzten Jahr gab es beim BAföG ein bisschen obendrauf. In diesem Jahr gibt es eine Nullrunde. Was passiert denn im nächsten Jahr? Man weiß es nicht.
Aber das Stipendienprogramm soll der große Erfolg
sein. Herr Kollege Kaufmann hat gesagt, da gehe es richtig voran. Ich habe einmal nachgeschaut - neulich gab es
eine Presseerklärung des Ministeriums -: Aktuell gibt es
4 793 Stipendien.
({15})
Das sind 0,2 bis 0,3 Prozent aller Studierenden. Herzlichen
Glückwunsch, liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber die
rund 1 Million BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger
lassen Sie links liegen. Das geht so nicht!
({16})
Herr Kaufmann, Sie sagen immer - auch die Ministerin hat dies vor zwei Tagen in der Ausschusssitzung gesagt -: Die Länder machen nichts. Auch sie müssen eine
BAföG-Erhöhung mitfinanzieren. Von ihnen kommt
aber nichts. - Wie denn auch? Es sind doch Ihre verantwortungslose Steuer- und Finanzpolitik und Ihre Steuergeschenke für Hoteliers und Reiche, die den Ländern die
Beine weghauen.
({17})
Sie können einem Schwimmer doch keine Bleigewichte
anhängen und sagen: Nun schwimm mal schneller! Das
ist das, was Sie hier veranstalten.
({18})
- Ich weiß, dass das wehtut und dass Sie das aufregt,
aber Sie müssen der Wahrheit einmal ins Gesicht sehen.
({19})
Ehrlich gesagt: Die Selbstbeweihräucherung, wie viel
toller Sie sind, als die rot-grüne Regierungskoalition es
einmal war, und wie viel mehr Geld Sie für Bildung und
Forschung zur Verfügung stellen, geht auf die Nerven.
Herr Kollege Schulz, möchten Sie noch unmittelbar
vor Schluss Ihrer Rede eine Zwischenfrage des Kollegen
Rupprecht beantworten?
Gerne, ja.
Lieber Kollege Schulz, kann es sein, dass Sie übersehen haben, dass es vor zwei Wochen eine intensive Berichterstattung dahin gehend gegeben hat, dass der
größte Steuerausfall, den wir in den letzten 20 Jahren zu
verzeichnen hatten, durch die große Körperschaftsteuerreform von Rot-Grün verursacht wurde?
({0})
Diese Untersuchung wurde nicht von einem konservativen Institut, sondern von einem gewerkschaftsnahen Institut durchgeführt.
Das war eine Entscheidung, die wir gemeinsam getroffen haben. In der Tat sind wir in der Lage, gegebenenfalls auf neue Situationen entsprechend zu reagieren
und Konsequenzen daraus zu ziehen.
({0})
Swen Schulz ({1})
Wir haben ein klares Programm. Es muss dann eben
auch Steuererhöhungen für bessere Bildung geben. Sie
können sich aber nicht darauf einigen. Wir werden das
dann nach der nächsten Bundestagswahl machen.
({2})
Ich war gerade dabei, noch einmal die Unterschiede
zwischen dieser Koalition und Rot-Grün bei der Finanzierung von Bildung und Forschung zu skizzieren.
Das geht jetzt aber nicht mehr.
({0})
Das ist schade.
Ja, das finde ich auch.
Ich habe Sie vorhin so gelobt, Herr Präsident. Ich
dachte, jetzt bekomme ich eine Minute mehr.
Eigentlich hätte ich jetzt darauf hinweisen wollen,
({0})
dass Ihnen die Steigerung im Haushalt durch die Streichung der Eigenheimzulage möglich ist, die wir als RotGrün immer beantragt haben, während Sie sie im Bundesrat blockiert haben. Erst in der Großen Koalition haben wir das gemeinsam geschafft.
Wir stehen zum BAföG und streiten dafür, Sie dümpeln herum. Na gut, dann machen wir das mit einer
neuen Regierungskoalition besser.
Vielen Dank.
({1})
Es ist schade, wenn der Höhepunkt einer Rede dem
brutalen Redezeitregime zum Opfer fällt. Ich kann nur
immer wieder meine Empfehlung wiederholen, mit dem
Höhepunkt zu beginnen. Dann entsteht dieses Problem
regelmäßig nicht.
({0})
Nun hat der Kollege Patrick Meinhardt das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen!
({0})
Liebe Frau Gohlke, Ihre Feststellung, dass das BAföG
heutzutage ein Schatten seiner selbst sei, hat noch nicht
einmal Ihre eigene Fraktion dazu gebracht, an der Stelle
zu applaudieren.
({1})
Ich darf hier im Namen des ganzen Hauses zuerst einmal
feststellen: 40 Jahre BAföG ist eine bildungspolitische
Erfolgsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Es war 1971 eine richtige Entscheidung, unter dem
Vorzeichen des Bürgerrechts Bildung klarzumachen,
dass die Chancenverteilung im Bildungswesen auch
durch das Instrument BAföG in eine andere Richtung
gelenkt werden sollte. Ich glaube, das ist der richtige
Ausgangspunkt, unter dem man die BAföG-Gesetzgebung und die BAföG-Reformen in diesen 40 Jahren betrachten muss.
Es ist auch gut, dass es unter wechselnden Regierungen unterschiedliche Akzentuierungen und Fortentwicklungen beim BAföG gab. Anhand der 23 Novellen, die
es in diesen 40 Jahren gegeben hat, sieht man, dass es
beim BAföG mit Sicherheit einen lernenden Prozess
gibt. Ich sage auch ausdrücklich: Es war ein richtiges
politisches Zeichen, dass die Große Koalition im Jahre
2008 die Bedarfssätze um 10 Prozent und die Freibeträge um 8 Prozent erhöht hat. Die FDP-Fraktion hat damals zugestimmt, weil wir es für ein richtiges bildungspolitisches Zeichen nach einer sehr langen Durststrecke
gehalten haben, hier ordentlich etwas draufzusatteln.
Es ist auch richtig gewesen, dass wir bei der BAföGModernisierung im vergangenen Jahr noch einmal richtig etwas draufgelegt haben: ungefähr 500 Millionen
Euro mehr pro Jahr bzw. 1,6 Milliarden Euro mehr in
den kommenden drei Jahren. 43 000 Studierende mehr
können wir durch diese BAföG-Modernisierung schon
jetzt fördern. Wir sind auf dem Weg zur Millionengrenze. Entfall der Grenze von 30 Jahren bei der Masterförderung, verlässliches Beibehalten der Förderungsart
auch nach Fachrichtungswechsel, neue Berücksichtigung von Kinderbetreuungszeiten, Gleichstellung der
eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe beim
BAföG, Nichtanrechnung des Stipendiums von 300 Euro
auf das BAföG: All das zeigt, dass wir erkannt haben,
dass das BAföG ein wichtiges Instrument ist. Deswegen
war es ein richtiges Zeichen dieser Regierungskoalition,
hier zu modernisieren und einen großen Schritt voranzugehen.
({3})
In den vorliegenden Anträgen fordern Sie eine Erhöhung der Fördersätze. Bei den Grünen sind es 5 Prozent
und bei den Linken 10 Prozent. Beide Anträge sind offensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt, nach dem
Motto „Wünsch Dir was“. Sie setzen hier einfach
irgendwelche Beträge ein. Ich glaube, es ist wichtiger
- das müssen wir ehrlich sagen -, dass wir eine verlässli15088
che Finanzierung haben. Das bedeutet, dass wir vom
Bund und von den Ländern her Verlässlichkeit sicherstellen müssen.
Erinnern wir uns alle gemeinsam bitte an die letzte
Debatte über das BAföG im vergangenen Jahr und daran, welches Hickhack es hier aufgrund der 65/35-Finanzierung mit den Ländern gab.
({4})
Wir als Fraktion sind gerne bereit, darüber nachzudenken, wie wir erreichen können, dass es zu einer regelmäßigen Anpassung kommt. Aber eines muss dabei sichergestellt werden: Jeder muss seine Hausaufgaben
machen, auch in den eigenen Bundesländern.
({5})
Ich weiß, Frau Gohlke, was passieren würde, wenn
Sie Ihrer brandenburgischen Landesregierung eine Erhöhung des BAföG um 10 Prozent vorschlagen würden.
Die dortigen Minister würden sagen: Mit uns nicht! Das gefällt mir an dieser Stelle überhaupt nicht. Wir
müssen in diese Debatte eine ehrliche und verlässliche
Finanzierungsstruktur als Thema hineinbringen.
({6})
Wir alle wissen doch - die HIS-Studie ist hier schon
mehrfach angesprochen worden -, was eines der großen
Probleme überhaupt ist: Im Zusammenhang mit dem
BAföG fühlen sich 33 Prozent - so das Ergebnis der
HIS-Studie - schlecht beraten; bei denjenigen mit einer
niedrigen sozialen Herkunft waren es sogar 44 Prozent.
Bei der BAföG-Beratung haben wir insgesamt einen
enormen Nachholbedarf und müssen in allen Bundesländern etwas voranbringen. Angesichts einer Förderquote
von nur 25 Prozent, obwohl über 70 Prozent der Studierenden einen Anspruch auf Förderung haben, muss eines
klar sein: Wir müssen zusätzlich in ein frühzeitiges Informationssystem über die Fördermöglichkeiten im Bereich des BAföG investieren.
Es geht darum, eine kluge Studienfinanzierung zu erreichen. Dabei geht es einerseits um Bildungsdarlehen
und andererseits um BAföG. Darüber hinaus geht es darum, eine moderne, intelligente, kluge, zeitgemäße und
sozial gerechte Stipendienkultur in der Bundesrepublik
Deutschland zu justieren. Wir brauchen eine neue Stipendienkultur, um das hier sehr deutlich zu formulieren.
Der Grund, über die Einführung eines dezentralen
Deutschlandstipendiums nachzudenken, ist in allererster
Linie der, dass wir innerhalb der OECD-Staaten das
Schlusslicht in der Stipendienförderung sind. Es ist für
eine Wirtschafts- und Bildungsnation wie die Bundesrepublik Deutschland fahrlässig, die Besten der Besten
nicht zu fördern.
({7})
Die Besten der Besten zu fördern, heißt eben auch: Wir
wollen das unabhängig vom Geldbeutel und unabhängig
vom sozialen Status erreichen. Wir haben im Augenblick
die Situation, dass wir über die Begabtenförderungswerke, deren Mittel wir deutlich erhöhen, 1 Prozent der
Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Stipendium ausstatten können. Beim Deutschlandstipendium ist daher der elementare Ansatz: Wir dürfen
nicht länger das Schlusslicht in der Stipendienförderung
sein.
Wir wissen doch alle, dass im Moment Fachhochschüler in der Bundesrepublik Deutschland in der Förderung benachteiligt werden. Nur 9 Prozent der Stipendien
der Begabtenförderungswerke gehen an Fachhochschüler. Gleichzeitig wissen wir, dass über 50 Prozent der
dort Studierenden aus nicht akademischen Familien
kommen. Deswegen ist es für mich ein Zeichen von Bildungsgerechtigkeit, an den Hochschulen eine eigene Stipendienkultur in die Wege zu leiten, um dort für mehr
soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
({8})
Eine allerletzte Bemerkung. In Nordrhein-Westfalen
werden auch unter der neuen rot-grünen Regierung weiterhin 2 600 Studierende durch ein Stipendienprogramm
gefördert.
({9})
Ich zitiere eine entsprechende Meldung aus NordrheinWestfalen: SPD und Grüne wollen das NRW-Stipendium
so lange weiterführen, bis das Deutschlandstipendium in
entsprechendem Umfang greift. - Ich wäre froh, wenn
dieser Pragmatismus, der hinsichtlich der Studierenden
in Nordrhein-Westfalen richtigerweise an den Tag gelegt
wird, auch bundesweit bei Rot und Grün in der Debatte
um Bildungsgerechtigkeit vorherrschen würde.
(Kai Gehring ({10}):
Das heißt, wir müssen das Pinkwart-Programm auslaufen lassen?
Talentförderung ist kein Widerspruch zur Breitenförderung. Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch wird ausgedrückt, dass Bildung ein Bürgerrecht ist.
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Kai Gehring ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Zugang zu unseren Hochschulen ist ein ganz zentrales
Gerechtigkeitsthema und entscheidend für Wachstum
und Wettbewerbsfähigkeit. Daher können wir es uns
schlichtweg nicht länger erlauben, dass der Weg zum
Campus für viele junge Menschen blockiert bleibt.
Um Zugänge zu verbreitern, muss die Regierung dreierlei tun: Sie muss anlässlich des 40. BAföG-GeburtsKai Gehring
tags die staatliche Studienfinanzierung weiterentwickeln. Sie muss den Studienplatzmangel bei Bachelorund Masterstudiengängen wirksam bekämpfen. Sie muss
bundesweit für ein funktionierendes Hochschulzulassungsverfahren sorgen.
({0})
Es ist nicht hinnehmbar, dass unzureichendes BAföG,
fehlende Studienplätze, Zulassungschaos und bundesweit gestiegene lokale NCs junge Menschen vom Studium abhalten.
({1})
Dass die OECD letzte Woche in ihrer Vergleichsstudie Bildung auf einen Blick erneut festgestellt hat, dass
hierzulande Hochqualifizierte fehlen, nehmen wir als
Grüne sehr ernst. Die Bildungspolitiker der Koalition
würden diese alarmierende Botschaft am liebsten vom
Tisch wischen. Fakt ist aber: In Deutschland fehlen
Fachkräfte und Akademiker. Das muss Warn- und Weckruf für die Bundesregierung sein.
({2})
Der von Schwarz-Gelb beklagte Fachkräftemangel ist
im Übrigen größtenteils hausgemacht. Sie nutzen das
Studierendenhoch nicht. Im Wintersemester fehlen mindestens 50 000 Studienplätze. Deshalb fordern wir einen
Hochschulpaktnotfallplan sowie Nachverhandlungen
zwischen Bund und Ländern. Kein Studienberechtigter
sollte ohne Platz in einer Warteschleife landen. Alle jungen Menschen brauchen einen Zugang zur Hochschule.
({3})
Sie verwalten das anhaltende Zulassungschaos nur,
Sie lösen es aber nicht. Es ist ein Fiasko, dass das dialogorientierte Serviceverfahren nach wie vor nicht funktioniert. Es ist auch ein Fiasko, dass trotz der Knappheit
Studienplätze unbesetzt geblieben sind - fast 10 000 allein im letzten Semester -, da es nach vier Jahren Reden
noch immer kein funktionierendes Einschreibungs- und
Zulassungsverfahren gibt. Deshalb brauchen wir bundeseinheitliche Zulassungsregeln und ein funktionierendes und transparentes Vergabesystem, an dem sich möglichst alle Hochschulen beteiligen und das angemessen
ausfinanziert ist.
({4})
Sie sorgen im Ausbildungsbereich nicht dafür, dass es
weniger Warteschleifen, Abbrecher und Altbewerber
gibt. Sie hoffen einfach auf eine demografische Lösung
und lehnen sich zurück. Im Übrigen knausern Sie auch
noch bei der Weiterbildung, statt ein umfassendes
Erwachsenenbildungsförderungsgesetz auf den Weg zu
bringen.
Das alles ist mangelhaft und hilft nicht, den Fachkräfte- und Akademikermangel zu bekämpfen. Bundesministerin Schavan müsste endlich die Bekämpfung des
Fachkräftemangels zur Chefinnensache machen. Sie
muss endlich von der Zuschauertribüne herunterkommen, um zu gestalten und zu handeln. Sie sollte im Übrigen auch an solchen Debatten wie der heutigen teilnehmen.
({5})
Moderne Hochschulpolitik eröffnet Chancen und ermöglicht Teilhabe. An den Schnittstellen und Übergängen in unserem Bildungssystem zeigt sich, ob Chancengleichheit besteht und Aufstieg durch Bildung gelingt.
Vergleichsstudien stellen uns immer wieder ein schlechtes Zeugnis aus: Ein Sechstel aller Kinder wächst in
ALG-II-Bedarfsgemeinschaften auf. Deren Chancen auf
einen Universitätsabschluss sind leider weiterhin sehr
gering.
Jugendliche aus einkommensärmeren Nichtakademiker-Elternhäusern werden nach wie vor völlig unzureichend gefördert und zu wenig zum Bildungsaufstieg ermuntert. Es ist eine traurige Realität, dass Konto oder
Pass der Eltern stärker über Bildungserfolg oder Bildungsmisserfolg in unserem Land entscheiden als Talent
und Potenzial.
({6})
Das muss sich ändern. Bisher ist es so. Daher kann
von Bildungsgerechtigkeit keine Rede sein. Wir müssen
die krassen Bildungsungerechtigkeiten weiter abbauen.
Wir brauchen breite Zugänge zum Campus, und deshalb
geht es auch darum, die Studienfinanzierung zu verbessern.
Vor 40 Jahren wurde das BAföG eingeführt. Es hat
seitdem 4 Millionen Menschen ein Studium finanziert,
die es sich sonst nicht hätten leisten können. Wir können
heute sagen: Herzlichen Glückwunsch zu einer der großen Erfolgsstorys des deutschen Sozialstaates! Das
BAföG hat unser Land definitiv gerechter gemacht.
({7})
40 Jahre sind Anlass zum Feiern, aber auch zum Fortentwickeln. Alle Seiten dieses Hauses haben BAföG-Reformen auf den Weg gebracht. Seit 1998 unter der rotgrünen Bundesregierung ging es dabei glücklicherweise
nur noch um Aufbau und Ausbau statt um den Abbau
wie in den Zeiten davor.
In dem von uns vorgelegten Antrag fordern wir kurzfristige Reformschritte, darunter eine Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge um mindestens 5 Prozent, um
den Berechtigtenkreis zu erweitern und mehr jungen
Menschen den BAföG-Bezug zu ermöglichen.
Über diese Reparaturen hinaus wollen wir das BAföG
mittelfristig zu einem Zwei-Säulen-Modell ausbauen.
Herr Kaufmann, ich erkläre es Ihnen und anderen gerne
noch einmal: Dieses Modell kombiniert bedarfsabhängige und bedarfsunabhängige Elemente. Die erste Säule
ist ein Zuschuss für alle Studierenden und schafft damit
eine gewisse Basisabsicherung. Damit würden wir allen
Studienberechtigten einen starken Anreiz bieten, ein Stu15090
dium aufzunehmen. Die zweite Säule ist ein Bedarfszuschuss, der eine starke soziale Komponente für Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern garantiert.
Das Ganze ist also bedarfsabhängig.
Im Rahmen dieses Zwei-Säulen-Modells würden wir
die familienbezogenen Leistungen, also das Kindergeld
und Steuerfreibeträge, in einen Sockel für alle überführen. Dieses Geld käme dann den Studierenden direkt zugute. Das wäre ein großer Vorteil im Vergleich zum bisherigen BAföG.
({8})
Mit unserem Modell würden wir im Übrigen Studienberechtigte aus dem bisherigen BAföG-Mittelschichtsloch herausholen. Das ist eine ganz wichtige Herausforderung. BAföG-Mittelschichtsloch heißt doch: Die
Eltern verdienen knapp über der Grenze und können
trotzdem ihren Kindern das Studium nicht finanzieren.
Die Gruppe derjenigen, die in dieses Loch fallen, ist
ziemlich groß, und da müssen wir Angebote machen. Es
ist spannend, dass Linksfraktion, GEW und CHE vergleichbare Säulenmodelle vorschlagen. Vielleicht - so
habe ich Herrn Schulz vorhin verstanden - macht sich
die SPD ebenfalls noch auf den Weg, das mit uns gemeinsam zu diskutieren oder womöglich bald einzuführen.
({9})
Bei Schwarz-Gelb scheint einerseits endlich die
Phase überwunden zu sein, das BAföG schlechtzureden,
zu attackieren und stattdessen Studienkredite für alle zu
propagieren, wie man es gerade Ende der 1990er-Jahre
und in den 2000er-Jahren gemacht hat. Andererseits ist
es bedauerlich, dass sich die Bundesministerin zum
40. BAföG-Geburtstag verweigert, ein Reformpaket zu
schnüren. BAföG ist kein Almosen, kein Geschenk, sondern Lebensunterhaltsfinanzierung vieler junger Menschen in unserem Land. Sie brauchen es dringend.
({10})
Schwarz-Gelb wandert trotz gelegentlicher Erleuchtungen weiter auf Irrwegen. Im vergangenen Jahrzehnt
haben sieben schwarz-gelb-regierte Bundesländer Studiengebühren eingeführt. Das war sozial ungerecht. Das
ist und bleibt ungerecht. Das hat Studienberechtigte reihenweise vom Studium abgeschreckt, und es hat nicht
mehr Mittel an die Hochschulen gebracht, weil Sie
gleichzeitig die Grundfinanzierung dieser Hochschulen
in den Ländern abgesenkt haben.
({11})
Angesichts dessen ist es ein historischer Erfolg, dass vor
allem rot-grüne Länder die ungerechte Campusmaut abgeschafft haben. Darauf sind wir gemeinsam stolz.
({12})
Letzte Gebührenbastionen sind jetzt Niedersachsen und
Bayern. Das sind die letzten Mohikaner, bei denen Studiengebühren für alle anfallen. Ich sage Ihnen voraus:
Auch die werden wir knacken, und wir werden endlich
eine studiengebührenfreie Republik schaffen.
({13})
Ein weiterer Irrweg bleiben Ihre Deutschlandstipendien. Die Energie und das Geld, mit dem Sie Ihren Ladenhüter auch heute hier promoten, sollten Sie wirklich
lieber ins BAföG investieren. Das brächte auch ein dickes Plus für Bildungsgerechtigkeit.
({14})
Das Deutschlandstipendium ist doch nichts anderes als
eine Eliteförderung für bisher 0,3 Prozent aller Studierenden in Deutschland.
({15})
Da kann man doch nicht von einer neuen Säule der Studienfinanzierung reden. Daran kann man erkennen: Sie
setzen ganz klar eine falsche Priorität. Wir müssen eine
bessere staatliche Studienförderung in der Breite erreichen.
Wenn 71 Prozent der Akademikerkinder ein Studium
aufnehmen, aber nur 24 Prozent der Nichtakademikerkinder,
({16})
zeigt das doch, dass sich eine gerechte Studienfinanzierung auf diese potenziellen Bildungsaufsteigerinnen und
Bildungsaufsteiger konzentrieren muss. Ihre neue Stipendienkultur, die Sie auch heute hier proklamiert haben, ist nichts anderes als eine Fata Morgana.
({17})
Ihr Programm ist die falsche Reaktion auf die soziale
Schieflage beim Hochschulzugang.
({18})
Womöglich ist die Bundesregierung derzeit wieder
dabei, einen neuen Irrweg einzuschlagen, nämlich beim
Umgang mit dem Urteil des Bundesfinanzhofs zur steuerlichen Absetzbarkeit von Erstausbildungskosten. Wir
wollen keine nachlaufende Gutschrift, die vom Studienfach oder der Gehaltshöhe abhängt. Wir wollen auch
nicht, dass Studiengebühren an privaten Hochschulen
über die Hintertür des Steuerrechts vom Steuerzahler
subventioniert werden, sondern wir wollen eine bessere,
direkte Förderung während der Ausbildungs- und Studienzeiten, die sich an der Bedürftigkeit des Einzelnen
bemisst. Fakt ist: Die staatliche Studienfinanzierung
muss gerechter, besser, verlässlicher und leistungsfähiger
werden. Niemand soll aus finanziellen Gründen auf ein
Studium verzichten müssen.
({19})
Ich setze dabei auch auf die Erkenntnisse in der Koalition, dass Fachkräfte- und Akademikermangel Wohlstand, Wachstum und Innovation bremsen, und das umso
mehr in Zeiten demokratischer Schrumpfung und Alterung, in denen das Arbeitskräftepotenzial dramatisch
sinkt. Wir brauchen daher dringend mehr Bildungsaufsteiger. Kein Talent darf zurückgelassen werden. Das ist
keine Floskel und keine Phrase, sondern das muss die
absolute Priorität haben. Alles andere wäre wirtschaftlich widersinnig und absolut ungerecht.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort erteile ich nun dem Kollegen Reinhard
Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir feiern in diesen Tagen 40 Jahre BAföG. Das ist ein
guter Grund, zu feiern; denn über Jahrzehnte hinweg hat
das BAföG Millionen von Schülern und Studenten geholfen,
({0})
ihre Ausbildungskosten zu decken. Die christlich-liberale Koalition wird die Geschichte des BAföG erfolgreich weiterschreiben. Gerade in Zeiten, in denen landauf, landab vom Fachkräftemangel gesprochen wird,
wird deutlich, welche zentrale Bedeutung eine gute Ausbildung nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für
unser Land als Ganzes hat.
Die Förderung von Bildung und Forschung war von
Anfang an eines der zentralen Projekte dieser Koalition.
Der Haushaltsentwurf 2012 für das Bundesministerium
für Bildung und Forschung sieht wie die Jahre zuvor erneut eine massive Steigerung vor: im Vergleich zu 2011
um fast 10 Prozent auf 12,8 Milliarden Euro. Noch nie
hat eine Bundesregierung so viel Geld für Bildung und
Forschung ausgegeben.
({1})
Wir sind stolz darauf, diesen Schwerpunkt setzen zu
können, trotz der schwierigen Haushaltssituation,
({2})
und das, ohne unser anderes großes Ziel, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, aus den Augen zu verlieren.
Einfach mehr ausgeben, das kann jeder.
({3})
Aber die Neuverschuldung konsequent zurückzuführen
und dennoch einen solchen Akzent zu setzen, das ist
nachhaltige, das ist generationengerechte Politik.
({4})
Das ist ein Markenzeichen dieser Bundesregierung und
dieser Koalition.
({5})
Von unserem Schwerpunkt auf Bildung und Forschung haben in den vergangenen Jahren auch die
BAföG-Empfänger profitiert. Nach der großen BAföGNovelle 2008 haben wir 2010 das BAföG noch einmal
erhöht. Die Bedarfssätze sind um 2 Prozent gestiegen,
die Einkommensfreibeträge um 3 Prozent. Bund und
Länder haben im Jahr 2010 über 2,8 Milliarden Euro für
das BAföG ausgegeben. Das waren 170 Millionen Euro
mehr als im Vorjahr. 916 000 Schüler und Studenten haben 2010 BAföG-Leistungen erhalten. Das waren über
40 000 mehr als 2009. Kollege Kaufmann hat weitere
Verbesserungen beim BAföG angesprochen, die wir im
Zuge dieser Novelle vorgenommen haben. Ich brauche
das daher nicht zu wiederholen. Hinzu kommt, dass der
Anteil derer, die ein Studium aufnehmen, in den letzten
Jahren konstant gestiegen ist, allein in den vergangenen
fünf Jahren um 10 Prozentpunkte auf heute 46 Prozent
des Altersjahrgangs.
Das alles kann man natürlich kleinreden. Es geht immer noch mehr. Ich weiß auch, dass im Bildungssystem
noch längst nicht alles in Ordnung ist. Aber wir haben
eben nicht nur Verantwortung für die finanzielle Unterstützung von Schülern und Studenten während ihrer
Ausbildungszeit, sondern auch Verantwortung für den
Staatshaushalt und den Staat als Ganzes. Genauso wie
bei jeder anderen staatlichen Transferleistung müssen
wir beim BAföG immer wieder das Interesse derer, die
die Leistung beziehen, mit den Interessen derer in Ausgleich bringen, die mit ihren Steuern diese Leistungen
bezahlen, obwohl sie selbst sie nie in Anspruch nehmen.
Auch das gehört zur Gerechtigkeit. Es kann dabei nicht
danach gehen, wer am lautesten schreit; denn das schafft
nur Ungerechtigkeit.
({6})
Gerecht kann es nur auf einer sachlichen Basis geschehen. Die Bundesregierung schafft seit Einführung
des BAföG eine solche Basis, indem sie alle zwei Jahre
den BAföG-Bericht vorlegt, der aufzeigt, wie sich Ein15092
kommen und Verbraucherpreise entwickeln. Bei der
letzten Erhöhung 2010 sind wir sogar bewusst darüber
hinausgegangen, um unser Schwerpunktthema Bildung
noch einmal besonders herauszustellen. Der nächste
BAföG-Bericht kommt 2012. Auf dieser Basis und je
nach Lage der Staatsfinanzen werden wir im nächsten
Jahr darüber beraten, um wie viel wir das BAföG erhöhen können.
Sie können sich darauf verlassen: Bildung und Forschung bleiben auch in Zukunft ein Schwerpunktthema
dieser Bundesregierung und der Koalition. Wir dürfen
aber auch nicht überziehen. Nur wenn wir das BAföG
mit Vernunft und Ernsthaftigkeit weiterentwickeln,
bleibt auch die breite Akzeptanz für dieses international
herausragende Instrument der Studienfinanzierung erhalten. Nur dann werden wir in zehn Jahren einen guten
Grund zu feiern haben, nämlich das fünfzigjährige Jubiläum des BAföG.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Burchardt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geld
allein bringt noch nichts Gutes. Das sehen wir bei dem
neuen dialogorientierten Serviceverfahren, das zu diesem Wintersemester in Kraft treten sollte. Die Einführung eines modernen effizienten Zulassungsverfahrens
ist abermals verschoben worden. Das ist - ich glaube,
das sehen wir alle so - eine Blamage für den Hochschulund Wissenschaftsstandort Deutschland.
({0})
Der Ansturm der Bewerber zu diesem Wintersemester
kommt nicht unerwartet. Er ist schon länger bekannt.
Das wissen alle. Die Studenten dieses Bewerberjahrgangs finden keinen geebneten Zugang zu den Fächern,
die sie studieren wollen, sofern die Hochschulen überhaupt eine ausreichende Zahl an Studienplätzen zur Verfügung stellen. Selbst für diejenigen, die einen der knappen Plätze erhalten, wird der Einstieg nicht geebnet,
sondern sie finden wieder einen Bürokratiedschungel
vor. Es ist zu befürchten, dass mit viel Geld finanzierte
Studienplätze brachliegen werden. So war es im letzten
Jahr. Lieber Kollege Gehring, die Zahl des BMBF hinsichtlich nicht besetzter Studienplätze, die mir bekannt
ist, lautet 20 000. Das kann nicht länger hingenommen
werden.
({1})
Mit diesem Flop setzt sich eine fast zehn Jahre währende Geschichte, ein neues Zulassungsverfahren einzuführen, fort. Es ist eine Geschichte von Pleiten, Pech und
Pannen. 1999 hat die rot-grüne Koalition den Hochschulen die Freiheit gegeben, Bewerber selber auszusuchen
- das als Hinweis für die Redenschreiber der Koalition.
Seitdem ist klar - 2002 hat die Kultusministerkonferenz
das selber festgestellt -: Ohne ein Mindestmaß an zentraler Koordinierung kann das nicht funktionieren. Dann
hat die Kultusministerkonferenz noch einige Jahre gebraucht, um auf die Idee zu kommen, die ZVS, eine Behörde, in eine Stiftung umzuwandeln. Jetzt hat ein Stiftungsrat die Verantwortung übernommen, der sich aus
16 Vertretern der Landesregierungen und 16 Vertretern
der Hochschulrektoren zusammensetzt. Erstmals sind die
Hochschulrektoren mitverantwortlich, ob etwas klappt
oder nicht. Das möchte ich an dieser Stelle festhalten.
Man sollte also die Forderungen nicht immer nur an die
Politik richten. Übrigens ist auch das BMBF Mitglied
des Stiftungsrates, wenn auch ohne Stimmrecht.
Über Jahre ist nichts passiert, weil widerstreitende Interessen und Erwartungen, wechselnde Wünsche von
Politik und Hochschulrektoren und ideologische Ressentiments gegenüber zentraler Koordinierung die Debatten
des Stiftungsrates dominierten. Die Praktiker, die viele
Jahre für die Organisation der Bewerbungsverfahren bei
der ZVS, bei der Hochschule und dem Unternehmen
HIS verantwortlich waren, sind entweder nicht gefragt
worden oder auf sie wurde nicht gehört.
Dieses Grundproblem ist virulent, seitdem die Anschubfinanzierung von 15 Millionen Euro eingesetzt
wurde, die unser Ausschuss bei den Haushältern lockergemacht hat. Das durfte Frau Schavan dann öffentlich
verkünden. Auch dieses Hin und Her bei der Entwicklung des dialogorientierten Serviceverfahrens hat eine
Rolle dabei gespielt, dass es noch nicht in Kraft gesetzt
werden konnte. Dabei muss allen Verantwortlichen von
Anfang an bewusst gewesen sein - Bund, Ländern und
Hochschulrektoren -, dass es dabei nicht nur um die Entwicklung einer anspruchsvollen Technik geht, sondern
auch um ein hochkomplexes Geschäftsmodell. Ein
neues, zentrales technisches Verfahren muss mit der
IT-Software, die an den Hochschulen vorhanden ist,
kompatibel sein. Das ganze System scheiterte, weil es an
80 Prozent der Hochschulen, die mit einer bestimmten
Software gearbeitet haben, nicht funktioniert hat. Das
kann eigentlich keine Überraschung gewesen sein, war
es aber für die Verantwortlichen in BMBF und Stiftungsrat doch. Jedes Unternehmen weiß, Herr Murmann:
Wenn ein neues technisches System eingeführt wird,
dann muss es eine Prozessanalyse und ein Schnittstellenmanagement geben. Darauf haben die Damen und Herren von Stiftungsrat und BMBF in ihrer Weisheit aber
verzichtet.
Auch Frau Schavan ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
({2})
Sie hat zwar die 15 Millionen Euro vollmundig verkündet, sich aber anschließend um nichts mehr gekümmert.
({3})
Insofern hat nicht die Technik versagt, sondern das Management, und zwar auf ganzer Linie.
Das BMBF hat nicht eingegriffen, als es aufgrund des
Finanzierungsstreits zwischen Ländern und Hochschulen mit dem versprochenen Full Service für die Bewerber nichts wurde, sondern eine Version „light minus“ herauskam. Es hat kein zentrales Bewerbungsmanagement
gegeben. Das ist keine Entlastung der Bewerber von Bürokratie. Es hat keine Entlastung für die Hochschulen gegeben. Hochschulen mit Mehrfachstudiengängen konnten
überhaupt nicht mitmachen. Damit war das Versprechen
der HRK überhaupt nicht einlösbar.
Sie sind mit dafür verantwortlich, dass es in diesem
System und in dem ganzen Verfahren keinen Plan B gab.
Das kann keiner verstehen. Jeder muss wissen: Wenn es
um ein hochkompliziertes Modell geht, muss es einen
Plan B geben. Aber aufgrund des Finanzierungsstreits
haben Sie darauf verzichtet, im System eine Funktion
programmieren zu lassen, die einen Plan B ermöglicht
hätte, nach dem die Hochschulen das Ganze in Ihrem
Auftrag, nach Ihren Wünschen an die Zentrale in Dortmund, an die Stiftung, hätten verlagern können.
Wenn jetzt HIS, also das Unternehmen Hochschul-Informations-System, zum Sündenbock gemacht wird,
dann ist das degoutant und kaschiert nur die eklatante
Fehleinschätzung, die es bei Ländern, bei den Hochschulrektoren und auch an der Spitze des BMBF gegeben hat. Das BMBF ist zusammen mit den Ländern Gesellschafter von HIS. Man hätte wissen können, dass an
80 Prozent der Hochschulen eine 13 Jahre alte HIS-Software in Betrieb war. Kein Mensch käme auf die Idee,
dass man einen 13 Jahre alten Gebrauchtwagen so tunen
kann, dass er bei der Formel 1 mitfahren kann, um dann
dem Unternehmen die Schuld aufs Auge zu drücken und
zu sagen: Ach, er hat leider nicht das ganze Rennen
funktioniert. - Für ein solches Vorgehen fehlt wirklich
jegliches Verständnis. Man sollte in Klausur gehen und
erkennen: So geht es nicht weiter.
({4})
Jetzt hat der Neustart begonnen. Im Oktober sollen
die ersten Testläufe stattfinden. Zum Wintersemester
2012/13 soll das ganze System in Betrieb gehen. Ein
paar Forderungen von uns sind erfüllt worden. Endlich
ist ein Lenkungsausschuss eingesetzt worden. Klasse,
muss ich sagen; Hauptsache, man hat gelernt. Es hat aber
leider ein bisschen zu lange gedauert.
Einen Notfallplan haben Sie leider nicht entwickelt.
Die Studienplatzbörse, die nie richtig funktioniert hat, ist
auf dem alten Stand. Darum hat sich keiner gekümmert.
Vor allen Dingen aber - das beunruhigt mich wirklich
und, ich glaube, auch Frau Grütters; sie hat gestern im
Ausschuss entsprechende Andeutungen gemacht -: Man
muss ernsthafte Zweifel haben, ob dieses System zum
Wintersemester 2012/2013 tatsächlich zum Einsatz
kommen kann, unter anderem deshalb, weil es wieder einen unerträglichen Finanzierungsstreit gibt, diesmal um
5 Millionen Euro, die dem Unternehmen HIS zur Verfügung gestellt werden sollen, damit es die alte Software
anpassen kann. Dort, wo die neue HIS-Software angewandt wurde, hat das Ganze übrigens funktioniert; deswegen ist es sowieso total falsch, das Unternehmen zu
beschimpfen. Die Gesellschafterversammlung - Bund
und Länder - hat beschlossen, dass HIS 5 Millionen
Euro erhält, um den Anpassungsprozess hinzubekommen. HIS ist ein Unternehmen. Es muss Gewinne erwirtschaften. Die Länderfinanzminister haben aber gesagt:
Die 5 Millionen Euro gibt es nicht.
({5})
Im Oktober soll das Ganze anlaufen, und HIS hat bis
heute kein Geld gesehen. Meine Damen und Herren, lieber Herr Staatssekretär, vielleicht kümmern Sie sich jetzt
endlich einmal um die Sache.
({6})
Ich sage Ihnen heute: Aus dieser Verantwortung
kommt keiner mehr heraus. Es geht nicht an, das allein
auf die Länder zu schieben. Die Länder darf man zwar
bei der Kritik nicht außen vor lassen, aber Sie können
auch nicht sagen: Das ist alles Ländersache; wir haben
damit nichts zu tun.
Es gibt viele gute Gründe, über mehr zu diskutieren
als nur über dieses Zulassungsverfahren. Der wirkliche
Skandal ist, dass es einen flächendeckenden Numerus
clausus gibt. Deswegen brauchen wir eine strukturell
vernünftige Bildungsfinanzierung, eine Aufhebung des
Kooperationsverbots. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD
wird dies auf ihrem Bundesparteitag im Dezember beschließen. Wir haben die Verständigung zwischen Bundes- und Landespolitikern erreicht.
({7})
Sie haben die Chance, drei Wochen vorher etwas vorzulegen. - Jetzt hätte es mal Beifall geben dürfen.
({8})
Wir müssen vor allen Dingen Schluss machen mit der
Ideologie der Bestenauslese. Ich habe den Satz von Ihrem Staatssekretär Lange noch im Ohr, der gesagt hat:
Der NC ist eine Frage der Qualitätsauswahl. Machen Sie
Schluss mit dieser Mottenkiste, sonst kommen wir an
dieser Stelle nicht weiter.
Wir brauchen endlich eine solide Bestandsaufnahme
darüber, wie viele Studienplätze es gibt. Es kann doch
nicht sein, dass die KMK in ihrem Bericht zum Masterbereich lapidar feststellt, dass es keine Kenntnis über die
Anzahl bundesweit vorhandener Studienplätze gibt. Es
kann auch nicht sein, dass Sie nicht im Traum daran denken, eine solche Erhebung durchzuführen, weil sie mit
zu viel Bürokratie verbunden wäre. Das ist des Wissenschaftsstandorts Deutschland nicht würdig. Man muss
doch eine vernünftige Ressourcenplanung machen können, und dafür braucht man eine empirische Basis.
({9})
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Wir brauchen ein Bundeszulassungsgesetz und keine Wundertüte, wie die Linke
das verspricht. Wir brauchen solide, vernünftige Instrumente und empirische Daten, und zwar nicht nur, damit
man weiß, ob ausreichend Studienplätze zur Verfügung
stehen, sondern auch, damit man weiß, wie viele Studienplätze es insgesamt gibt und wie viele Menschen einen Studienplatz erhalten.
Ich habe die dringende Bitte an die Ministerin und die
Koalition: Machen Sie von Ihrer Kompetenz Gebrauch!
Sie haben im Zuge der Föderalismusreform zugestimmt,
dass der Bund die Kompetenz für die Zulassung hat.
Frau Kollegin.
Wenn Sie es nicht machen, dann werden wir es in Angriff nehmen.
({0})
Martin Neumann ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich in meiner zur Verfügung stehenden Zeit auf die Anträge von SPD und Linken zum Thema Hochschulzulassung konzentrieren.
Schauen wir uns die Anträge genau an. Wir sollten hinterfragen, wie die Probleme, die aufgezeigt werden, tatsächlich gelöst werden können.
Zum Antrag der SPD, in dem ein Notfallplan für die
Hochschulzulassung gefordert wird. Es ist klar - Frau
Burchardt hat das eben deutlich gemacht -, dass das Verschieben des Starts des dialogorientierten Zulassungsverfahrens mehr als nur ärgerlich ist. Darüber sind wir
uns einig. Wir haben über die verschiedenen Ursachen,
zum Beispiel die Softwareprobleme, diskutiert. Wir gehen davon aus, dass alles geklärt werden kann. Allen Beteiligten ist klar, dass eine große Aufgabe vor uns liegt,
die aber erfüllt werden kann.
Der Notfallplan und die damit verbundenen konkreten Forderungen an den Bund können nicht allein vom
Bund erfüllt werden. Das muss man deutlich sagen. Hier
hilft nur - das ist wichtig hervorzuheben - eine gemeinsame Kraftanstrengung der Länder, der Stiftung für
Hochschulzulassung und der beteiligten Hochschulen.
Der Bund hat vieles gemacht, vor allen Dingen hat er das
gemacht, wozu er rechtlich und insbesondere finanziell
in der Lage ist. Den Notfallplan kann man daher aus unserer Sicht nur als weiße Salbe beschreiben.
Ich komme zum Antrag der Linken. Alle Welt spricht
von Vollbeschäftigung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist ein redliches Ziel, völlig klar. Genauso bedeutsam ist es natürlich, eine sogenannte Vollbeschäftigung für Studierwillige zu schaffen. Auch in
diesem Punkt sind wir uns einig.
Doch es gibt auch gravierende Unterschiede; so bewerten wir das zumindest. Sie sprechen von einem Heer
von Studierwilligen. Die Zahlen zeigen, dass im letzten
Jahr weit über 10 000 zulassungsbeschränkte Studienplätze frei waren. Das entspricht einer Vakanz von 5 Prozent und einer offensichtlichen Diskrepanz in Bezug auf
die Vermutung, dass Menschen, die studieren wollen,
nicht studieren können. Die genannte Vakanz geht übrigens mit einer signifikanten Erhöhung der Studierendenquote einher. Fast die Hälfte aller Schulabgänger des
Jahres 2010 begann mit einem Studium. Das ist ein
neuer Rekord. Das muss man an dieser Stelle würdigen.
({0})
Lassen Sie mich also feststellen: Wer studieren
möchte, der kann das auch tun. Ich denke an Gespräche,
die ich zum Beispiel mit Handwerkskammerpräsidenten
führe. Sie sagen: Das ist in Ordnung. Der Weg ist richtig.
Wir brauchen Hochqualifizierte. - Auch das ist ein
Punkt, den es zu würdigen gilt.
Weiter fordern Sie eine freie Studienplatzwahl an jeder beliebigen Hochschule des Landes in jedem beliebigen Studiengang. Das haben Sie so geschrieben. Das
klingt ein bisschen nach „Wünsch dir was“. Der eine
oder andere Antrag, den Sie vorgelegt haben, hat diesen
Anschein. Wenn man sich Ihre Anträge genauer anschaut, dann muss man - Frau Gohlke, das muss ich an
dieser Stelle sagen - die Ernsthaftigkeit Ihrer Absicht infrage stellen.
({1})
Wenn man sämtliches Abstraktionsvermögen, über
das man verfügt, einmal zusammennimmt und versucht,
ein Ziel herauszuarbeiten, dann stellen sich gleich mehrere Fragen. Sie forderten gestern in diesem Hohen Haus
mehr Planungssicherheit für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie für Wissenschaftler. Sie
wollen also de facto weniger Zeitarbeit und weniger befristete Arbeitsverträge auf diesem Gebiet.
({2})
So weit, so gut. Das erfordert aber - jetzt kommen wir
auf den Punkt - Planungssicherheit für die Hochschulen.
Wie sollen die Hochschulen das denn machen?
({3})
- Liebe Frau Gohlke, ohne entsprechende Steuerung
käme jedes Jahr eine unbekannte Zahl an Studienanfängern an die Hochschulen oder eben nicht.
Dr. Martin Neumann ({4})
({5})
Umso wichtiger wäre es in dem Fall für Hochschulen, je
nach Bedarf Personal einstellen zu können und nicht benötigte Kapazitäten abzuwickeln. Letztere Alternative
stellt im Übrigen ein Problem dar. Werden weniger
populäre Universitäten nicht mehr so stark frequentiert,
dann müssten dort Stellen abgebaut werden.
Aus Zeitgründen möchte ich nur ganz kurz auf das
Bundeshochschulzulassungsgesetz eingehen. Sie fordern
damit etwas heraus. Das muss Ihnen bewusst sein. Wir
wollen die Autonomie der Hochschulen. Wir sehen das
als einen sehr wichtigen Punkt an, weil damit in einem
gewissen Sinne Freiheit für Wissenschaft entwickelt
werden kann. Diese Forderung, die Sie gestellt haben,
werden wir von der FDP nicht mittragen.
Nun noch zu einer Behauptung, die Sie immer wieder
anführen, nämlich zum angeblichen Mangel an Masterstudienplätzen an deutschen Hochschulen. Ich will es an
dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen. Wir haben
in Deutschland keinen Mangel an Masterstudienplätzen.
({6})
90 Prozent der Bachelorabsolventen 2009, die ein Masterstudium aufgenommen haben, gaben an, sowohl ihr
Wunschfach als auch einen Platz an ihrer Wunschhochschule bekommen zu haben.
({7})
Drei Viertel aller Masterstudiengänge sind nicht mit
einem Numerus clausus belegt. Selbst bei den örtlich zulassungsbeschränkten Fächern blieben nach Ende des
Nachrückverfahrens
({8})
- Frau Burchardt, hören Sie doch erst einmal zu - fast
20 Prozent der Plätze frei. Wie erklären Sie das?
({9})
Nicht alle Bachelorabsolventen - an dieser Stelle
komme ich auf den Sinn von Bologna zu sprechen; das
dürfen wir nicht vergessen - streben einen Masterabschluss an. Dies anzunehmen beweist wieder einmal Ihr
völlig falsches Verständnis des neuen Studiensystems.
({10})
Sie verdrehen den Sinn des Bologna-Prozesses.
({11})
Ich stelle gerade fest, dass die Zeit etwas knapp wird.
Ich habe noch eine Minute.
Nein, eben nicht. Aber für eine schöne Schlussformel
reicht es allemal.
Die Opposition schafft Studienbeiträge ab, spart kategorisch am falschen Ende und wirft uns dann vor, wir
würden die Studierenden im Stich lassen.
Ich weiß, das wollen Sie nicht hören, aber ich sage es
noch einmal ganz deutlich an dieser Stelle: Knapp die
Hälfte aller Deutschen hält Studienbeiträge für ein probates Mittel zur Studienfinanzierung. Mit einem durchdachten System dahinter können gute und auch sozialverträgliche Erfolge erzielt werden.
({0})
Zum Abschluss noch ein Zitat von Herrn Brecht, der
einst so treffend schrieb:
Wer A sagt, muß nicht B sagen. Er kann auch erkennen, daß A falsch war.
({1})
In diesem Sinne lege ich Ihnen nahe, Ihre Haltung zu
den eben genannten Punkten noch einmal zu überdenken
und sie in ein nicht so ganz weltfremdes Licht zu rücken.
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Monika Grütters für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Für Sie und nicht
zuletzt die jungen und anderen Zuhörer oben auf den
Tribünen möchte ich noch einmal sagen: 40 Jahre
BAföG sind eigentlich ein freudiger und guter Anlass für
eine Plenardebatte.
({0})
- Das sehen wir alle gemeinsam so; auch das ist bemerkenswert. - BAföG ist immerhin eines der weltweit erfolgreichsten Studienfördermodelle, um das wir von vielen anderen Ländern beneidet werden.
({1})
Es ist richtig, dass die Opposition und wir die Gunst
der Stunde nutzen, um noch einmal über das leidige
Thema Hochschulzulassung zu diskutieren. Frau
Burchardt hat natürlich recht: Die Situation ist zum Verzweifeln; auch das eint uns leider. Wir haben im Plenum
- das letzte Mal, glaube ich, im Frühjahr - und immer
wieder in den Ausschüssen, inklusive Anhörungen, darüber sprechen müssen: Der Bund hat jenseits aller Zuständigkeiten mit seiner Unterstützung in Form der Anfinanzierung in Höhe von 15 Millionen Euro - um die wir
ringen mussten; aber diese Maßnahme war sicher richtig - seinerseits das Notwendige getan, um die Situation
für die Studierenden maßgeblich zu verbessern: mit der
Möglichkeit, maximal 12 Studienwünsche anzugeben,
und durch die Möglichkeit der Kombination von Fach
und Studienort die Suche wesentlich zu erleichtern. Es
geht immerhin um nicht weniger als eine Entscheidung
für den künftigen Lebensweg. Insofern ist das keine
Kleinigkeit, sondern ein zentraler Punkt der Hochschulpolitik.
Aber: Selbst wenn das dialogorientierte Serviceverfahren für die Hochschulzulassung derart stolpert, sollten wir es jetzt noch nicht totreden und nicht infrage stellen.
({2})
Liebe Frau Gohlke, ich glaube, dass selbst die Piraten
Softwareprobleme nicht einfach wegbellen können.
({3})
Sie können sich natürlich hier hinstellen und fordern, das
Chaos gefälligst mal eben zu beseitigen. Es geht aber
schließlich nicht um politische Maßnahmen, sondern um
Computerprobleme.
Die SPD fordert, dass wir eine Taskforce Hochschulzulassung einrichten sollen. Da kann ich nur fragen: Was
versprechen Sie sich von einer solchen Bundessteuerung? Die steht uns weder zu, noch wird sie angestrebt,
noch könnten wir sie ausfüllen,
({4})
weil die Verantwortung für das Gelingen des neuen Verfahrens formal und materiell bei den Ländern, bei der
Stiftung, bei den Hochschulen und bei den Vertragspartnern liegt. Wir sind keine KMK-Dompteure, wir sind
auch keine HRK-Feuerwehr.
({5})
Übrigens nimmt der Bund seinen Sitz in dem Gremium
natürlich wahr, selbst wenn er nicht stimmberechtigt ist.
Es wäre frech, das hier in Abrede zu stellen. Mit Gesetzen lassen sich Softwareprobleme eben nicht lösen;
({6})
im Übrigen auch nicht durch ein Bundeszulassungsgesetz.
({7})
Frau Gohlke, in Ihrem Antrag steht noch ein anderer
bemerkenswerter Satz, nämlich:
Der Ansatz, dass die Hochschulen selbst die aus ihrer Sicht besten Studieninteressierten auswählen
sollen, muss als gescheitert betrachtet werden …
Darüber kann man sich jetzt lange streiten. Was aber die
politische Aussage dabei ist, möchte ich nicht verhehlen.
({8})
Ich finde es nämlich unverantwortlich, wenn Sie auf
diese Weise vor allen Dingen eines zur Disposition stellen: die Autonomie der Hochschulen. Diese Autonomie
gilt bei Ihnen offensichtlich reichlich wenig.
({9})
Sie wäre das erste Opfer einer linken Hochschulpolitik.
In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen Blick
in das Hochschulgesetz des soeben abgewählten rotroten Senats in Berlin. Dieses Gesetz hat immerhin der
Präsident der FU beklagt. Die kleinteilige und bürokratische Gängelung könne er nicht mögen. Und der Präsident der Universität der Künste, Martin Rennert - der
nicht verdächtig ist, ein Bürgerlicher zu sein -, hat das
Gesetz schlichtweg als Misstrauensvotum des Senats gegenüber den Hochschulen bezeichnet.
({10})
Die Anträge von Linkspartei und SPD, die Hochschulzulassung durch ein Bundesgesetz zu regeln, zeigen keine Möglichkeit auf, wie es in dem Bereich bergauf gehen könnte, sondern spiegeln Ihren Wunsch nach
Zentralismus und staatsgläubiger, kleinlicher Gängelung
wider. Das können wir nicht haben. Die Entmündigung
der deutschen Hochschulen wird es jedenfalls mit der
christlich-liberalen Koalition nicht geben. Wir glauben
nach wie vor, dass die Hochschulen am besten wissen,
wie sie bei der Auswahl der Studierenden qualitätsorientiert und sozial ausgewogen agieren.
Zur Forderung der SPD, die Deckelung des Hochschulpakts 2020 aufzuheben und einen „Hochschulpakt
Plus“ zu etablieren, möchte ich wissen: Wie sehen das
denn Ihre Ministerpräsidenten? Da käme doch eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung nicht zuletzt auf
Nordrhein-Westfalen zu. Herr Gehring, Sie wagen sich
sogar so weit vor, zu sagen: Wir fordern bis 2015 mindestens 400 000 zusätzliche Studienplätze. Die Zahl von
zusätzlich 335 000 Plätzen bis 2015 haben wir ja nicht
willkürlich gegriffen. Sie beruhte auf einer Berechnung
der KMK.
({11})
Wir haben immer gesagt: Wenn es mehr werden, finanzieren wir diese nachlaufend nach zwei Jahren nach; so
haben wir das auch im Hinblick auf den Hochschulpakt I
gemacht. Ich finde es verwegen, hier irgendwelche Zahlen in den Raum zu stellen.
({12})
Ich will Sie nur davor warnen, unsere Zahlen durch eigene Spekulationen zu überbieten. Denn diese Zahlen
sind wahrscheinlich nicht stichhaltig. Das gemeinsam
von Bund und Ländern vereinbarte System zur Finanzierung - zwei Jahre nachlaufend, weil dann die Zahlen
feststehen - ist doch besser, als neue Zahlen in den
Raum zu stellen.
Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Regierung den
Etat des BMBF um satte 54 Prozent gesteigert hat.
({13})
Wenn wir uns trotz der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten mit den Ländern auf einen „Hochschulpakt ohne
Grenzen“, den die Opposition fordert, einigen würden,
glaube ich, dass er möglicherweise die SPD- und Grünengeführten Landesregierungen überfordern würde. Schön
wäre es, wenn das Stichwort von dieser Seite gekommen
wäre. Aber auch in Berlin, lieber Herr Kollege Schulz,
muss man erst einmal um jede Komplementärfinanzierung - so auch bei Exzellenzinitiative und Hochschulpakt - betteln.
({14})
- Berlin hat 62 Milliarden Euro Schulden. Das war kein
gutes Stichwort, Herr Schulz.
Einen Augenblick! Für die Verlängerung des Berliner
Wahlkampfes ist jetzt weder Anlass noch Zeit. Die Kollegin sollte Gelegenheit bekommen, ihre Rede zu Ende
zu führen.
Das stimmt. Ich bringe meine Rede zu Ende. Allerdings sind Schulden in Höhe von 62 Milliarden Euro
nach zehn Jahren unter Rot-Rot eine eindeutige Antwort
auf Ihre Frage, Herr Schulz.
({0})
Wir haben dem Qualitätspakt für die Lehre zusätzliche 2 Milliarden Euro an Bundesgeldern zugeführt. Wir
haben einen Rekordetat für den Bildungsbereich möglich gemacht. Wir verbessern damit die Situation der
Studierenden nachhaltig. Wir arbeiten am Erreichen des
10-Prozent-Ziels und an der Weiterentwicklung Deutschlands zu einer Bildungsrepublik. Sie sollten weder die
Erhöhung der Bundeszuschüsse zu den Begabtenförderungswerken noch das Deutschlandstipendium schlechtreden.
({1})
Sie sollten auch die BAföG-Erhöhung dieser Regierung
nicht schlechtmachen.
Eines haben wir damit doch schließlich gemeinsam erreicht: Noch nie gab es so viele junge studierende Menschen in Deutschland. Noch nie wurden so viele vom
Bund und von den Ländern gefördert.
({2})
Ich finde: Das ist auch gut so.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Rossmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Gohlke hat am Anfang ihrer Rede das 40-jährige
Jubiläum des BAföG in den Mittelpunkt gestellt. Ich
möchte dies gerne aufgreifen: Das BAföG ist wie eine
Katze, die einfach nicht kleinzukriegen ist. Es ist richtig
stabil und ist immer wieder aufgestanden. Es verdient,
auch die nächsten zehn Jahre eine gute Perspektive zu
haben. Was sind die Anforderungen dafür?
Die erste Anforderung ist sicherlich - Herr
Kaufmann, uns hat es gefreut, dass auch Sie das in den
Mittelpunkt gestellt haben -, dass wir zu den Zahlen aus
dem Jahre 1971 zurückkommen. Damals wurden 45 Prozent der Schüler und Studierenden durch das BAföG gefördert. Aktuell sind es nur noch 25 Prozent. Selbst wenn
wir den Anteil von 45 Prozent so schnell nicht erreichen,
sollte es unser gemeinsames Ziel sein, zum 50-jährigen
Jubiläum auf 35 Prozent zu kommen. Das wäre schon etwas. Wenn wir gut sind, kommen wir vielleicht auch auf
40 Prozent.
Wir müssen an dem Ansatz festhalten, die Freibeträge
hochzusetzen. Auf diese Weise können auch weitere Bevölkerungskreise aus dem Grenzbereich zwischen Nichtgutverdienenden und der Mittelschicht vom BAföG profitieren. Das war schon bei der letzten Debatte unser
Anliegen. Sie sind dem noch nicht nachgekommen. Wir
freuen uns aber über alle, die dazulernen.
Der zweite Punkt ist, dass wir Ihre Aufmerksamkeit
auf etwas richten wollen, das das BAföG damals stark
gemacht hat: Es gab auch eine Förderung für Schülerinnen und Schüler, selbst wenn diese noch zu Hause wohnten. Man wollte anhand des BAföG die bildungsfernen
Schichten für höhere Studien- und Bildungsperspektiven
gewinnen. Diese Schülerförderung müssen wir wieder
aufnehmen.
({0})
Wir müssen das BAföG an die veränderten sozialen
Bedingungen anpassen. Damals war es - das ist nicht
diskriminierend gemeint - das katholische Arbeitermädchen vom Lande, das man durch die BAföG-Förderung
für weiterführende Bildung gewinnen wollte. Heute ist
es der eingewanderte Jugendliche aus Duisburg, der vor
folgende Frage gestellt wird: Mache ich eine Berufsausbildung und verdiene schnell Geld, oder nehme ich ein
Studium in Angriff? Er könnte dann über die Oberstufenfinanzierung seine Schulausbildung weiterführen und
danach sogar ein Studium aufnehmen. Vor diesem Hin15098
tergrund sollten Sie einmal ernsthaft darüber nachdenken.
Drittens. Das BAföG, das vor 40 Jahren aktuell war,
muss sich auf neue Studienstrukturen einstellen. Angesichts der heutigen Bachelor- und Masterstruktur muss
es eine Anpassung geben, zum einen durch Einführung
einer Förderung ohne Unterbrechung für den Übergang
vom Bachelor zum Master, zum anderen durch eine
deutliche Anhebung, wenn nicht gar einen Wegfall der
Altersgrenzen; wir wollen doch gerade den Wechsel
zwischen Studium und Arbeit fördern, aber das funktioniert mit einer Altersbegrenzung nicht.
({1})
Es muss auch in Bezug auf die Teilzeitstudiengänge
eine Verbesserung geben. Wir leben in einer Zeit, in der
vermehrt Teilzeitstudiengänge aufgenommen werden;
aber dies bildet sich noch nicht im BAföG ab. Dementsprechend müssten Aufstockungsbeträge für Teilzeitstudenten hinzukommen.
Eine weitere neue Dimension: Wir haben gemeinsam
in der Großen Koalition die Anerkennung von Kindererziehungszeiten beim BAföG deutlich verbessert, aber
noch nicht die Pflegeverantwortung berücksichtigt, die
Menschen möglicherweise tragen, wenn sie - vielleicht
sogar in einem höheren Alter - im Studium sind. Auch
das muss integriert werden; es ist eine neue soziale Qualität, die sich im BAföG wiederfinden sollte.
Viertens. Das BAföG hat durch das Meister-BAföG
eine Erweiterung erhalten. Wenn wir darüber nachdenken, müssen wir anerkennen, dass wir auch beim
Meister-BAföG zu weiteren Verbesserungen kommen
müssen, unter anderem bei der Maßnahmenförderung.
Andererseits muss das vielleicht heißen, dass jemand,
der spät einen Masterstudiengang anfängt, auch eine
Maßnahmenförderung erhält; aktuell müsste er den Lebensunterhalt während des Studiums alleine tragen.
Es gibt also genügend konkrete Sacharbeit beim
BAföG, die wir im Hinblick auf die „Perspektive Bildung 2021“ zu leisten haben. Das gilt umso mehr, als die
ganze europäische Dimension 2021 viel virulenter sein
wird, als sie 1971 war. Wenn man die europäische Perspektive einnimmt, dann erkennt man, dass es in Europa
bei der Studienförderung zwei Denkschulen gibt: zum
einen die skandinavische Denkschule - Elternunabhängigkeit -, zum anderen die angelsächsische Denkschule,
nach der das Studium von den Betroffenen selbst finanziert wird. Wir in Deutschland haben zum Glück eine
Affinität zum skandinavischen Modell, aber noch nicht
in Bezug auf die Elternunabhängigkeit der Förderung,
die von den Grünen immer wieder eingefordert wird.
Es ist natürlich ein gewaltiger Schritt, ein solches
Fundament, ein Bildungsgeld, zu finanzieren. Können
wir nicht darüber nachdenken, ob es eine Plausibilität
dafür gibt, das Kindergeld für über 18-Jährige, das bisher an die Eltern gezahlt wird, stattdessen an die erwachsenen Kinder zu zahlen?
({2})
Es wäre ein erster Weg, um ein Bildungsgeld zu finanzieren, ohne dass die Mittel aufgestockt werden müssten.
Wenn das Kindergeld an die erwachsenen Kinder gezahlt würde, würde das ihre Emanzipation befördern.
({3})
Weil SPD und Grüne dies nicht allein schaffen, werben
wir jetzt dafür, dass auch die anderen das voranbringen.
({4})
- Wir schaffen es auch deshalb nicht, weil wir im gesamten Bildungsförderungsverfahren des nächsten Jahrzehnts - es gibt die Perspektive eines Bildungsgesetzbuches - die Unterstützung der anderen Seite im Bundesrat
brauchen.
Ich will ausdrücklich Herrn Brandl unterstützen, der
perspektivisch fragte: Wie sieht das BAföG im Jahr
2021, beim 50. Geburtstag des BAföG, aus? Wenn wir
ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass es 2002 unter
Rot-Grün mit der Deckelung der Darlehen und der
Nichtanrechnung des Kindergeldes eine deutliche Verbesserung gegeben hat.
({5})
2008 hat es unter Schwarz-Rot mit der Aufstockung der
Freibeträge um 10 Prozentpunkte - das war der
Struck’sche Kampf, den wir erfolgreich mit Ihnen führen
konnten - und der besseren Anerkennung für studierende Eltern deutliche Verbesserungen gegeben.
({6})
- Herr Kaufmann, wenn wir es bis 2021 schaffen, dass
35 Prozent der Studierenden mit BAföG gefördert werden, und die neuen Bedingungen des Bachelors und des
Masters, die Anerkennung der Pflegeverantwortung und
die europäische Dimension einarbeiten, dann soll einem
um das BAföG nicht bange sein.
Herr Kollege.
Dann haben wir hier bei der Bildungsförderung in
Deutschland nicht nur eine stabile, stressresistente
Katze, sondern auch eine richtig schöne Katze.
Danke.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Axel Knoerig für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das 40. Jubiläum des BAföG ist ein Anlass, dieses GeAxel Knoerig
setz zunächst einmal zu würdigen. Es hat den beruflichen Werdegang vieler junger Menschen erheblich erleichtert bzw. überhaupt erst möglich gemacht.
Insbesondere Kindern aus einkommensschwächeren Familien hat dieses Gesetz die Tür zu einer akademischen
Laufbahn geöffnet. Wir sollten auch erwähnen: Für viele
Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist das BAföG
Teil der persönlichen Lebensgeschichte.
({0})
Es gibt ganz prominente Mitglieder des Hauses, die
BAföG erhalten haben; damit ist viel gesagt.
In Ergänzung zu meinen Vorrednern möchte ich mich
der Wirkung dieses Gesetzes und der Idee, die ihm zugrunde liegt, widmen. Dabei möchte ich vor allem die
wirtschaftlichen Aspekte beleuchten. Grundlage war bekanntermaßen das Wissen um die Notwendigkeit, die
geistigen Ressourcen in unserer Volkswirtschaft zu fördern. Die staatliche Förderung von Bildung fließt in die
Kosten-Nutzen-Rechnung eines jeden Einzelnen ein.
Wir sollten uns einmal anschauen, wie die Rechnung
ohne BAföG aussieht. Sich über ein Studium zu bilden,
ist für den Studenten mit verschiedenen Kosten verbunden. Da sind einmal die Kosten für die Ausbildung
selbst. Hinzu kommt der Ausfall des Verdienstes aus einer anderen, oft geringer qualifizierten Tätigkeit, der
man sonst nachgegangen wäre. Diesen Kosten steht die
Differenz zwischen dem erwarteten, höheren Einkommen nach dem Studium und dem Einkommen, das man
ohne akademischen Abschluss beziehen würde, also der
mögliche Mehrverdienst aufgrund höherer Bildung, gegenüber. Es ist erwähnenswert, dass der Wert der Persönlichkeitsentwicklung, die man durch ein Studium erfährt, einen besonderen Stellenwert hat.
Das Gesetz leistet somit einen sinnvollen Beitrag zur
Wohlfahrt unserer Volkswirtschaft. Ohne BAföG entginge der Allgemeinheit der Wohlstandsbeitrag, der später von dem Geförderten geschaffen wird. Dieser schlägt
sich unter anderem in höheren Steuerzahlungen nieder.
Ich möchte Ihnen aber auch eine andere Betrachtungsweise nahebringen: Die BAföG-Leistungen müssen von Steuerzahlern aufgebracht werden. Diese sind
durchaus für die oben dargelegte Argumentation zu gewinnen, auch dann, wenn sie selbst keine Akademiker
sind. Allerdings ist ihnen nicht zu vermitteln, dass derjenige, der später meist mehr verdient, seine Ausbildung,
wie von der Fraktion Die Linke gefordert, voll staatsbezuschusst und darlehensfrei erhalten soll. Ich frage Sie:
Warum soll nicht weiterhin ein Teil der Ausbildungskosten zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Geförderte in
seinem Beruf tätig ist, zurückgezahlt werden? Das ist für
mich nicht nachvollziehbar, insbesondere nicht vor dem
Hintergrund, dass es eine Gruppe von Studierenden gibt,
die von uns zu wenig gewürdigt wird. Das sind diejenigen, die berufsbegleitend studieren und deswegen auch
kein BAföG erhalten. Wenn ihre Studiengebühren nicht
vom Arbeitgeber übernommen werden, müssen sie
durchweg fast alle Kosten tragen.
({1})
Darüber hinaus zahlen sie Steuern und Sozialabgaben
und finanzieren so die Vollzeitstudenten mit. Allein an
der größten Privathochschule in unserem Land studieren
auf diese Weise über 17 000 junge Menschen ausbildungs- und vor allem berufsbegleitend. Ich meine die
FOM Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige GmbH mit über 20 Studienzentren in
Deutschland.
Diese Studierenden sind in gewisser Weise die akademischen Lastenträger unserer Bildungspolitik; denn abgesehen von der steuerlichen Absetzbarkeit ihrer Studienbeiträge fördern wir sie nicht, und das, obwohl ihre
Chancen am Arbeitsmarkt hervorragend sind. Es gibt
viele Studien, die ausweisen, dass das berufsbegleitende
Studieren eine ideale Verbindung von Theorie und Praxis ist.
({2})
Die Situation beim sogenannten Meister-BAföG sieht
ähnlich aus. Der Kollege von der SPD hat das zu Recht
angesprochen. Auch hier wird dieses Jahr ein kleines
Jubiläum gefeiert: 1996, vor 15 Jahren, wurde das
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz - schwieriges
Wort - verabschiedet. Junge Menschen, die nach der
Schule eine berufliche Ausbildung erfolgreich abschließen, erwerben dadurch einen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung, wenn sie sich beruflich weiterqualifizieren wollen. Diese Förderung ist - das sollten wir
herausstellen - von Einkommen und Vermögen unabhängig. 166 000 berufstätige Menschen wurden im vergangenen Jahr mit Meister-BaföG-Leistungen gefördert.
Diese Zahl steigt weiter an.
Vor dem Hintergrund, dass Fachkräfte aus den Bereichen Industrie, Handel, Dienstleistungen und Handwerk
in unserer Wirtschaft eine essenzielle Aufgabe erfüllen,
halte ich das Meister-BAföG für besonders förderungswürdig. Das ist insbesondere zu berücksichtigen, wenn
man über den Ausbau der Maßnahmen reden möchte.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich bedanke mich für die vorbildliche Nichtinanspruchnahme einer vorhandenen Redezeit. Ich nehme
das als leuchtendes Beispiel zu Protokoll.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich werde versuchen, vier Höhepunkte in
meine Rede einzubauen.
({0})
Erstens. Nicht nur in Unternehmen, sondern auch in
der Politik gilt: Wer Erfolg haben will, braucht klare
Ziele und Prioritäten. 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung, das ist ein mutiges
und klares Ziel, wie es vor uns niemand so klar formuliert hat.
({1})
Das macht deutlich: Bildung und Forschung haben
klare Priorität in unserer Politik. Wenn etwas Priorität
hat, dann muss dies auch erkennbar sein. 6 Milliarden
Euro mehr für Bildung - davon übrigens ein großer Teil
für das BAföG - und 6 Milliarden Euro mehr für Forschung, das verbessert die Chancen für unsere Jugend
und für unser Land. Wo stehen wir heute? In 2010 liegen
wir bereits bei 9,3 Prozent, und das bei einem steigenden
Bruttoinlandsprodukt. Im Forschungsbereich - dort haben wir das 3-Prozent-Ziel - liegen wir zum ersten Mal
bei über 2,8 Prozent; denn nicht nur der Staat, sondern
auch die Unternehmen haben ihre Forschungsanstrengungen erhöht. Das macht sich bemerkbar: Starke Unternehmen bedeuten starke Wirtschaft, geringe Arbeitslosigkeit, steigende Löhne, steigende Zahlen der
Auszubildenden und nicht zuletzt steigende Steuereinnahmen. Das ist nicht nur Glück, sondern auch das Ergebnis einer Politik mit klaren Prioritäten.
({2})
- Menschlich kann ich natürlich verstehen, dass sich bei
dem einen oder der anderen aus der Opposition ein wenig Neid einschleicht.
({3})
- Politisch können wir es auch verstehen.
Zweiter Punkt: das BAföG. Wir feiern heute Geburtstag; das soll auch so sein. Mit 1,5 Milliarden Euro ist es
der größte Einzeltitel in unserem Bildungshaushalt. Das
begrüßen wir alle, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung. Zu Recht ist das BAföG eine wichtige Säule
der Bildungspolitik, aber das BAföG ist keine sozialistische Wunderwaffe, wie Sie es uns manchmal glauben
machen wollen. Es ist ein wichtiges Instrument im Instrumentenkasten. Bei aller Euphorie über die hohe Zahl
der Studienanfänger - die Quote liegt bei 46 Prozent; darüber freuen wir uns alle -, müssen wir zur Kenntnis
nehmen, dass die Absolventenquote immer noch unter
30 Prozent liegt. Diese Zahl gilt es jetzt anzugehen. Wir
brauchen nicht noch mehr Studienanfänger, wir brauchen mehr Absolventen.
({4})
Dies gilt ganz besonders in diesem Jahr, in dem der
demografische Wandel zum ersten Mal richtig zuschlägt.
Für 100 Akademiker, die in den Ruhestand gehen, kommen nur 90 nach. Das wird eine Wachstumsbremse; darum müssen wir uns jetzt kümmern. Deswegen werden
die Studienberatung und der Qualitätspakt Lehre zukünftig sehr hohe und klare Priorität haben.
Zum dritten Aspekt: das geforderte Bundeshochschulzulassungsgesetz. Liebe Kolleginnen und Kollegen an der linken Außenlinie, der Bund soll und kann im
Alleingang keine Regelung beim Hochschulzugang treffen.
({5})
Dies würde einen Angriff auf die Autonomie der Hochschulen darstellen. Das wollen wir nicht, und das machen wir auch nicht mit. Wir wollen eigenständige
Hochschulen; denn nur eigenständige Hochschulen sind
der Garant für hohe Qualität.
({6})
Wenn Sie eine Garantie für einen Masterstudienplatz
geben wollen, so können Sie das ja in Brandenburg, einem
der letzten Bundesländer, in denen Sie noch mitregieren,
einführen. Dann werden Sie sehen, dass das keinen Erfolg
hat. Man muss auch klar darauf hinweisen: Es gibt einen
diskriminierungsfreien Zugang zum Masterstudium. Dieser Zugang wird an transparente Leistungskriterien geknüpft. Das ist gut so; denn nur das Leistungsprinzip garantiert eine hohe Qualität des Masterabschlusses, und
diese Qualität brauchen wir. Deshalb ist Ihr Antrag, in
dem eine reine Garantie für einen Masterstudienplatz gefordert wird, auf keinen Fall zustimmungsfähig.
({7})
Nun zu meinem vierten Punkt. Bildungspolitik lebt
natürlich nicht nur von Zahlen, Bildungspolitik lebt auch
von Vorbildern. Vorgestern waren die Preisträger des
diesjährigen „Jugend forscht“-Wettbewerbs bei der Bundeskanzlerin. Zum ersten Mal haben sich mehr als
10 000 Schülerinnen und Schüler bei „Jugend forscht“
angemeldet, mehr als je zuvor. Auf der Tribüne sitzen einige junge Menschen; vielleicht war der eine oder andere von euch dabei.
({8})
Wenn Sie sich diese jungen Menschen anschauen, dann
kommt Begeisterung auf. Sie stellen sich Fragen und suchen Antworten. Sie sind interessiert und setzen sich ein.
Sie arbeiten selbstständig und häufig gemeinschaftlich.
Sie trauen sich etwas zu und haben Spaß am Wettbewerb. Sie geben nicht auf, bis sie Lösungen gefunden haben. Wenn ich die Begeisterung dieser jungen Leute
sehe, dann weiß ich: Wir sind bei Bildung und Forschung auf einem richtigen und guten Weg.
Zum Schluss. Die Zahlen sprechen eine deutliche
Sprache. Wir alle haben sie heute gehört. Deswegen
kann ich nicht verstehen, warum man mit so vielen Anträgen - es liegen vier Anträge vor - den Geburtstag des
BAföG ein bisschen an den Rand schiebt.
({9})
Solche undurchdachten, unfinanzierbaren, undurchführbaren und zum Teil auch rechtlich gar nicht umsetzbaren
Forderungen können wir nicht unterstützen.
Wir wollen klare Linien. Irrwege werden wir nicht
mitgehen. Wir lehnen sie ab und bleiben bei unserem
Ziel: Vorfahrt für Bildung und Forschung. Das ist das
Markenzeichen der Politik dieser Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6372 und 17/7026 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 29 c. Hier geht es um die Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung auf der Drucksache 17/7051.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der SPD-
Fraktion auf der Drucksache 17/5899 mit dem Titel
„Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Winterse-
mester 2011/2012 jetzt starten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist
mit Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
17/5475 mit dem Titel „Hochschulzulassung bundesge-
setzlich regeln - Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in
Masterstudiengängen sichern“. Wer stimmt dieser Be-
schlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch hier ist die Beschlussempfehlung
mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Eingliederungschancen
am Arbeitsmarkt
- Drucksachen 17/6277, 17/6853 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/7065 Berichterstattung:
Abg. Katja Mast
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/7068 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({2})
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Priska Hinz ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Mast,
Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit orientieren - Weichen für
gute Arbeit, Vollbeschäftigung und Fachkräftesicherung stellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Agnes Alpers, Jutta Krellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Arbeitsmarktpolitik neu ausrichten und
nachhaltig finanzieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Katrin GöringEckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitsmarktpolitik - In Beschäftigung und
Perspektiven investieren statt Chancen kürzen
- Drucksachen 17/6454, 17/5526, 17/6319,
17/7065 Berichterstattung:
Abgeordnete Katja Mast
Die Aussprache soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine Stunde dauern. - Das ist offenkundig
nicht umstritten, sodass wir so verfahren können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Dr. von
der Leyen.
({5})
Vielen Dank, Herr Präsident.
Vielleicht, Frau Ministerin, warten wir noch ein paar
Sekunden, um den Schichtwechsel ordnungsgemäß abzuwickeln. - Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, das wir heute abschließend beraten, behandelt die
Instrumente der Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen mit der
Neuordnung der Instrumente vor allen Dingen die Zahl
der Instrumente reduzieren; denn wir wissen, dass Vermittlerinnen und Vermittler vor Ort aus dem Instrumentenkasten ein bestimmtes Reservoir kennen und das dann
auch anwenden. Masse ist hier nicht gefragt - sie verwirrt nur -, sondern Zielgenauigkeit. Wir wollen deshalb
auch mehr Flexibilität für die Vermittlerinnen und Vermittler vor Ort ermöglichen. Schließlich haben wir die
Akzente verschoben. Über all das wollen wir heute debattieren.
Das Gesetz kommt zur rechten Zeit; denn die Nachfrage nach Arbeit ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr.
Das zeigt sich auch an allen Daten: Wir haben eine Rekordbeschäftigung, die höchste seit der Wiedervereinigung; es gibt 1 Million offene Stellen; die Arbeitslosigkeit ist unter 3 Millionen gesunken; und es gelingt uns
inzwischen, die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit
langsam, aber sicher abzubauen. Das war viele, viele
Jahre nicht der Fall. Allein in den letzten fünf Jahren ist
die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 1,7 Millionen fast
auf die Hälfte gesunken, nämlich auf 880 000. Das ist erfreulich für die Menschen; das ist erfreulich für den Arbeitsmarkt. Es ist ein Zeichen der guten Bilanz der Bundesregierung unter Angela Merkel.
({0})
Diese gute Zeit am Arbeitsmarkt wollen wir nutzen
und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente neu ausrichten. Wir rechnen weiterhin mit einer stabilen Wirtschaft
und einem robusten Arbeitsmarkt, auch wenn wir wissen, dass es internationale Risiken gibt. Trotzdem: Der
Arbeitsmarkt ist robust.
Wir müssen umstellen von dem Szenario der Massenarbeitslosigkeit, das wir lange hatten, auf das Szenario
„Wir suchen Fachkräfte“. Dazu müssen die Menschen
passgenau qualifiziert werden. Das heißt, wir müssen
auch die alten Förderrezepte, die in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit funktioniert haben, sorgfältig überprüfen. Das haben wir getan. Wir räumen gewissermaßen
den Instrumentenkasten mit diesem Gesetz auf.
Wir wollen eine einfache Handhabung, wir wollen
passgenaue und individuelle Hilfen. Deshalb möchte ich
zwei Punkte aufgreifen, die oft in der Kritik sind, die
aber auch zeigen, wo die neuen Akzente liegen.
Wir gehen weg von der globalen Betrachtung der Arbeitslosen, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, und
sagen nicht mehr: „Alle Instrumente müssen für alle passen“ - also nach dem Motto: „One fits all“, Instrumente
von der Stange -, sondern wir wollen Instrumente, die
personenzentriert, individuell und passgenau sind.
({1})
Nehmen wir zum Beispiel die Gruppe der Alleinerziehenden. Langzeitarbeitslose Alleinerziehende waren
über Jahre ein Block, in dem sich kaum etwas bewegt
hat, weil die Grundhaltung in etwa lautete: Sie hat ein
Kind; es lohnt sich sowieso nicht. - Wir haben im letzten
Jahr eine Umstellung vorgenommen und gesagt: Das
Motto muss lauten: Weil sie ein Kind hat, müssen wir
dafür sorgen, dass Kinderbetreuung gewährleistet ist,
dass es familienfreundliche Arbeitsplätze gibt, dass
Netzwerke gebildet werden. - Wir stellen jetzt unter dem
Strich fest: Die Langzeitarbeitslosigkeit der Alleinerziehenden sinkt schneller als die Langzeitarbeitslosigkeit
insgesamt. Dies zeigt: Die passgenaue Ausrichtung unserer Instrumente ist in dieser Zeit der richtige Weg.
({2})
Immer wieder wird die Summe, die für die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt
wird, kritisiert. Die sinkende Arbeitslosigkeit bringt mit
sich, dass wir nicht mehr ein und dieselbe starre Summe
ausgeben müssen. Dennoch steht im Rahmen der Grundsicherung in 2012 knapp 1 Milliarde Euro mehr für Eingliederung und Verwaltung zur Verfügung, als es im Jahr
2007 der Fall war. Alle wissen: Dazwischen gab es eine
Krise und ein Konjunkturpaket gegen Arbeitslosigkeit.
Der Vergleich zeigt: Heute steht 1 Milliarde Euro mehr
zur Verfügung. Damals gab es aber 660 000 Langzeitarbeitslose mehr als heute. Das heißt, wir stellen mehr
Mittel zur Verfügung, obwohl es weniger Arbeitslose
gibt und der Arbeitsmarkt deutlich aufnahmefähiger ist.
Es geht also nicht nur um die Masse der Instrumente. Es
geht vor allen Dingen um Zielgenauigkeit und Präzision.
({3})
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage oder
Zwischenbemerkung zu?
Nein. Wir sind am Anfang der Debatte. Im Laufe der
Diskussion können alle Argumente ausgetauscht werden.
In der Grundsicherung für Arbeitsuchende verändern
wir etwas, gerade mit Blick auf die öffentlich geförderte
Beschäftigung. Wir gehen weg von der Dauerförderung
künstlich geschaffener Arbeitsplätze. Sie waren in der
Zeit der Massenarbeitslosigkeit richtig. Sie sind für
Menschen, die überhaupt keine Chance am Arbeitsmarkt
haben, auch heute noch richtig. Aber in einer Zeit, in der
auf dem ersten Arbeitsmarkt händeringend Arbeitskräfte
gesucht werden, dürfen sie nicht weiterhin das dominierende Instrument sein.
Die Untersuchungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass zu häufig die Falschen künstlich geförderte
Arbeitsplätze hatten und Menschen dadurch sogar Chancen, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren, verpasst haben. Deshalb verfahren wir nicht mehr nach dem
Gießkannenprinzip. Wir sagen zum Beispiel: Es muss
genau begründet werden, warum jemand einen 1-EuroJob braucht. Dann kann er auch zur Verfügung gestellt
werden. Dies darf aber nicht mehr mit der bisherigen
Pauschalität und in der bisherigen Größenordnung geschehen. Ich glaube, das ist eine richtige Umstellung.
({0})
Wir müssen weg von der künstlich geförderten Beschäftigung und viel stärker auf Weiterbildung und Qualifizierung setzen, damit die Menschen aufgrund ihrer
Qualifikation Anschluss an den ersten Arbeitsmarkt finden. Deshalb investieren wir bei weniger als 3 Millionen
Arbeitslosen 3 Milliarden Euro in Weiterbildung und,
insbesondere mit Blick auf Jugendliche, 3,2 Milliarden
Euro in den Bereich des Übergangs von Schule, Ausbildung und Beruf. Dadurch helfen wir passgenau den jungen Menschen, die, obwohl es derzeit viele offene Lehrstellen gibt, noch nicht die richtige Lehrstelle gefunden
haben. 500 000 jungen Menschen greifen wir damit unter die Arme.
Ich glaube, wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt,
der zur rechten Zeit kommt, die richtigen Akzente setzt
und die richtige Politik unterstreicht.
Vielen Dank.
({1})
Hubertus Heil ist der nächsten Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, was wir gerade erlebt haben, war
der Versuch einer doppelten Täuschung der deutschen
Öffentlichkeit. Ich will Ihnen sagen, warum. Das, was
Sie uns eben geboten haben, war der Versuch, für eine
Kürzungspolitik, die Sie mit dem schön klingenden Begriff „Instrumentenreform“ verschleiern, eine Sprache
zu finden. Aber die Wahrheit ist: Es geht Ihnen nicht um
zielgenaue arbeitsmarktpolitische Instrumente, sondern
um die Anpassung der Instrumente an Ihre Kürzungsbeschlüsse aus dem letzten Jahr. Das war der erste Versuch
der Täuschung.
({0})
Frau Ministerin, weil Sie, wie so oft, so mit Zahlen
hantiert haben, wie es Ihnen gerade in den Kram passt
- ich frage mich übrigens, warum Sie nicht 2008 als Referenzjahr genannt haben; denn 2008 war das Jahr vor
der Krise, nicht 2007 -, will ich Ihnen und der deutschen
Öffentlichkeit sagen, was in den Jahren bis 2015 geschehen wird - die Kürzungspolitik zulasten langzeitarbeitsloser und arbeitsloser Menschen, die Sie in den nächsten
Jahren fortsetzen, kann man nämlich, wenn man die
Zahlenwerke insgesamt betrachtet, eindrucksvoll belegen -: Sie kürzen erstens im Bereich des SGB II, also
zulasten von langzeitarbeitslosen Menschen, bis 2015,
also innerhalb von vier Jahren, allein 8 Milliarden Euro
bei der Eingliederung. Sie kürzen zweitens durch die sogenannte Instrumentenreform zusätzlich 7,5 Milliarden
Euro. Das macht zusammen „round about“ 15 Milliarden Euro zulasten von Langzeitarbeitslosen.
Zusätzlich haben Sie schon Kürzungen im Bereich
der Arbeitslosenversicherung auf den Weg gebracht,
nämlich 13 Milliarden Euro bis 2015 weniger durch das
sogenannte Sparpaket und des Weiteren 12,15 Milliarden Euro durch den Entzug eines halben Mehrwertsteuerpunktes.
Frau Ministerin, Sie können sich nicht hier hinstellen
und sagen, es werde gar nicht gekürzt.
({1})
Wenn man das, was Sie im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik jetzt auf den Weg bringen, alles zusammenzählt, dann stellt man fest, dass Sie in vier Jahren
40 Milliarden Euro zulasten von langzeitarbeitslosen
Menschen kürzen.
({2})
Damit bin ich, weil ich davon gesprochen habe, dass
das eine doppelte Täuschung ist, bei einem weiteren
Punkt, der in Ihrer Rede wieder zum Vorschein gekommen ist. Frau von der Leyen, es ist eine Milchmädchenrechnung - ich kann Ihnen diesen Begriff nicht ersparen -,
({3})
wenn Sie nach dem Motto verfahren: Da es weniger Arbeitslose gibt, braucht es auch weniger Mittel. - Tatsache ist: Wir bekommen in Deutschland einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt. Während auf der einen Seite immer
mehr Unternehmen aufgrund der Auswirkungen des demografischen Wandels am Arbeitsmarkt händeringend
Fachkräfte suchen werden, haben wir nach wie vor einen
verfestigten Sockel von Dauer- und Langzeitarbeitslosigkeit. Jeder, der sich in der Materie ein bisschen auskennt, weiß, dass die Menschen, die drei, vier, fünf,
sechs Jahre und länger arbeitslos sind, begleitende Hilfen, Qualifizierung und Maßnahmen brauchen, um zu einem selbstbestimmten Leben in Beschäftigung zu kommen.
Frau von der Leyen, wenn Sie uns schon nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens den Profis der Bundesagentur für Arbeit, die das letzte Woche deutlich gemacht haben. Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann
glauben Sie den Wohlfahrtsverbänden und den arbeitgebernahen oder arbeitnehmernahen Weiterbildungsträgern an diesem Punkt. Sie sagen Ihnen: Was Sie jetzt
machen, ist eine Zerstörung von Maßnahmen und Strukturen. Die langzeitarbeitslosen Menschen werden von
Ihnen abgehängt, und zwar dauerhaft.
({4})
Frau von der Leyen, wenn Sie das fiskalisch damit begründen - Sie könnten das ja -: „Es ist weniger Geld da;
wir müssen auch bei mir sparen“, dann sage ich Ihnen eines: Kurzfristig bewirken diese Kürzungen im Haushalt
schöne Zahlen bei Ihnen und bei Herrn Schäuble. Aber
langfristig läuft das Ganze auf eines hinaus: Diese Ge15104
Hubertus Heil ({5})
sellschaft findet sich mit Langzeitarbeitslosigkeit ab.
Wir lassen die Menschen im Transfer mit allen Folgekosten, die das hat.
({6})
Das wird für den Staat und die Gesellschaft verdammt
teuer.
Reden wir einmal über die Menschen, die das, was
Sie hier an Kürzungen machen, betrifft. Wer sind denn
die Langzeitarbeitslosen in dieser Zeit in diesem Land?
Das sind die jungen Menschen, die aufgrund von Problemen in den Familien oder Fehlleistungen im Bildungswesen keine anständige Qualifikation haben. 65 000 junge
Menschen verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne
Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen
20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung.
Und was machen Sie? Sie hängen diese Jugendlichen
dauerhaft ab. Sie schaffen dauerhaften Nachwuchs für
Hartz IV, indem Sie beispielsweise den Qualifizierungszuschuss vollständig streichen. Das, Frau von der Leyen,
müssen Sie sich zurechnen lassen. Sie spalten den Arbeitsmarkt in einer Zeit des Fachkräftebedarfs, indem
Sie junge Menschen dauerhaft zurücklassen.
({7})
Und was machen Sie noch? Wir haben ein bewährtes
Instrument - nach allen Expertenmeinungen ist es ein
gutes Instrument -, das beispielsweise Arbeitslosen in
der Vergangenheit die Möglichkeit eröffnet hat, nicht nur
in reguläre Beschäftigung zu kommen, sondern auch,
sich selbstständig zu machen, nämlich den Gründungszuschuss. Viele Arbeitslose konnten sich mit dieser Hilfe
selbstständig machen. Das ist also ein Instrument sowohl
der Arbeitsmarkt- als auch der Wirtschaftsförderung, das
bewirkte, dass auch noch weitere Arbeitsplätze geschaffen wurden. Sie jedoch trocknen dieses Instrument in
wesentlichen Teilen aus. Auch das wird Folgen haben.
Frau Ministerin, ich kann Ihnen an dieser Stelle eines
nicht ersparen - das Motto „Warme Worte, kalte Taten“
kennen wir ja schon; auch heute haben wir es wieder erlebt -: Ich befürchte langsam, dass in den Reihen der
schwarz-gelben Koalition möglicherweise ein Menschenbild zu finden ist, das klammheimlich davon ausgeht, dass es einen großen Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit, von Menschen gibt, die man gar nicht mehr in
Beschäftigung bringen mag und die man mit sozialem
Transfer abspeisen will.
({8})
Ich sage Ihnen: Wir bleiben bei dem Grundsatz „Fördern und Fordern“. Wir sagen: Fördern und Fordern ist
richtig. Es ist zwar richtig, zu sagen, dass sich Menschen
selbst anstrengen müssen. Aber Menschen, die besondere Vermittlungshemmnisse haben, brauchen an diesem
Punkt Unterstützung.
({9})
Damit, dass Sie bis 2015 40 Milliarden Euro im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik streichen, sagen
Sie diesen Menschen Folgendes: Bleibt draußen, nehmt
die Stütze, bleibt in Arbeitslosigkeit! - Was das für die
betroffenen Menschen und übrigens auch für die Kinder
dieser Familien bedeutet, die in einer solchen Situation
sind und nicht erleben, dass es einen regulären Tagesablauf gibt und dass Menschen würdig in Arbeit kommen
und von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können, interessiert Sie offensichtlich nicht. Angesichts der zerstörerischen Wirkung, die Sie durch diese Kürzungspolitik
verursachen, werden und müssen wir das spätestens
2013 korrigieren. Darauf kann sich die deutsche Öffentlichkeit verlassen.
({10})
Frau von der Leyen, ich finde es schier unerträglich,
dass Sie hier - das tun Sie auch sonst verstärkt - die
Wortvernebelungsmaschine angeworfen haben. Das tun
Sie in Talkshows, wie gestern Abend im Politikmagazin
Markus Lanz, und das tun Sie auch heute hier im Deutschen Bundestag wieder. Ich kann Ihnen diesen Vorwurf
nicht ersparen.
Herr Kollege.
Wir haben gestern Seine Heiligkeit hier erlebt. Heute
haben wir hier Ihre Scheinheiligkeit erlebt.
Herzlichen Dank.
({0})
Na ja. - Jetzt hat jedenfalls der Kollege Johannes
Vogel für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Heil, ich glaube, Ihre letzte Bemerkung richtet sich selbst.
({0})
Ich will Ihnen sagen, was ich unerträglich finde: Unerträglich finde ich es, wie Sie hier die Öffentlichkeit
täuschen. Ich will nur einmal auf die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt hinweisen: Wir haben unter 3 Millionen Arbeitslose. Das ist so wenig wie seit 20 Jahren
nicht mehr.
({1})
Die Sockelarbeitslosigkeit, die Zahl derjenigen, die langzeitarbeitslos mit einer schlechten Perspektive sind,
Johannes Vogel ({2})
sinkt in diesem Aufschwung, lieber Herr Heil. Man kann
sich bei der Jugendarbeitslosigkeit ja auch einmal die
Vergleichszahlen in den Ländern anschauen, in denen
Sie in der Landesregierung Verantwortung tragen, zum
Beispiel hier in Berlin.
({3})
Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist die niedrigste aller großen Industrienationen in Europa.
({4})
Frankreich und auch Schweden haben eine doppelt so
hohe Jugendarbeitslosigkeit wie wir, lieber Herr Heil.
Gerade in dieser Lage sagt die Koalition eben nicht:
„Auf dem Arbeitsmarkt läuft alles gut“, sondern wir
widmen uns jetzt der Aufgabe, allen Menschen eine Perspektive zu geben.
({5})
Das ist auch der Gedanke, der hinter dieser Instrumentenreform steht. Wir wollen die Arbeitsmarktvermittlung
besser machen. Dieser Gesetzentwurf ist ein sehr guter
Beitrag auf diesem Weg.
({6})
Sie nennen immer wieder die Zahlen. Das klingt natürlich auch erst einmal gut. Sie addieren die Milliardenbeträge, die möglicherweise zurückgenommen werden.
({7})
Herr Heil, Sie vergessen aber, darauf hinzuweisen, dass
die einzig seriöse Betrachtung von Zahlen in diesem Fall
darin liegt, zu ermitteln, wie viel Geld pro Arbeitslosen
zur Verfügung steht.
({8})
Lieber Herr Heil, ich kann nur sagen: Wir stellen uns der
Aufgabe, den Haushalt zu konsolidieren.
Ich will auch auf die großen Risiken für den Arbeitsmarkt hinweisen. Wir befinden uns mitten in der europäischen Schuldenkrise. Wir konsolidieren den Haushalt, Sie wollen Schulden vergemeinschaften. Während
wir konsolidieren, sorgen wir dafür, dass nicht an der falschen Stelle gespart wird.
({9})
Lieber Herr Heil, pro Langzeitarbeitslosen steht in
diesem und im nächsten Jahr genauso viel Geld wie
2008 zur Verfügung, als Sie noch Regierungsverantwortung getragen haben. Das ist die Wahrheit. Alles andere
ist eine Täuschung der Öffentlichkeit.
({10})
Sie haben von der Gefahr der Spaltung des Arbeitsmarktes gesprochen.
({11})
Das ist richtig. Ich kann Ihnen aber sagen, was das Beste
ist, um einer Spaltung vorzubeugen, nämlich in Qualifikation zu investieren.
({12})
Der Arbeitsmarkt wird nicht durch Flexibilität gespalten,
sondern durch die mangelnde Qualifikation von einigen
Menschen.
({13})
Ich schaue mir einmal die Zahlen an: 2005 hatten wir
5 Millionen Arbeitslose, in diesem Jahr sind es unter
3 Millionen. 2005 war das letzte Regierungsjahr von
Rot-Grün. Dieses Jahr geben wir 1 Milliarde Euro mehr
für Qualifikation aus, als Sie das 2005 getan haben.
({14})
Von wegen schlechte Perspektive und gespaltener Arbeitsmarkt! Das war Ihre Politik. Wir machen eine andere.
({15})
In den letzten zwei Minuten will ich noch ein paar
Sätze zum Gesetzentwurf selbst sagen. Es geht in der Tat
darum, dass wir den Instrumentenkasten aufräumen. Wir
sagen: Es ist richtig, auf Instrumente zu verzichten, mit
denen Menschen nicht in Arbeit gebracht werden. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass zum Beispiel das Instrument ABM wegfällt, was nie ein erfolgreiches Instrument war,
({16})
und dass wir uns gleichzeitig auf die Instrumente konzentrieren, durch die den Menschen wirklich eine Perspektive gegeben wird. Das ist der Gedanke, der hinter
diesem Gesetzentwurf steht. So etwas legen wir hier vor.
({17})
Ich will noch auf einen anderen Aspekt eingehen. Ich
freue mich nämlich - das sage ich besonders für meine
Fraktion -, dass wir auch die privaten Arbeitsvermittler
im Instrumentenkasten der Arbeitsvermittlung erhalten
konnten.
({18})
Es geht darum, kreative Konkurrenz im Markt zu haben,
und zwar Konkurrenz um die besten Lösungen, wie wir
den Menschen eine Perspektive geben können.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich
ahne schon, was gleich kommen wird. Es wäre für das
Johannes Vogel ({20})
Niveau unserer Debatte - das sage ich offen - schön,
wenn wir auf derselben Grundlage ehrlich miteinander
diskutieren würden.
({21})
Deshalb, Frau Kollegin Pothmer, würde ich mich freuen,
wenn Sie gleich darauf verzichten würden, hier wieder
die Lüge zu erzählen, das sei ein schlechtes Instrument.
Die Evaluation des IAB hat ergeben: Das ist ein gutes
Instrument. Es bringt nämlich Menschen in Beschäftigung. Deswegen erhalten wir es.
In der Tat wollen wir auch bei der öffentlich geförderten Beschäftigung dafür sorgen, dass diese nicht das Instrument der ersten Wahl ist, zum Beispiel für junge
Menschen, sondern dass es um Qualifikation geht und
dass wir uns in der öffentlich geförderten Beschäftigung
auf die konzentrieren, die sie wirklich brauchen und sie
in diesem Bereich wirkungsvoll halten. Mein Kollege
Kober wird dazu gleich etwas sagen.
Zum Schluss will ich einen Aspekt, auf den Sie gar
nicht eingehen - ich kann verstehen, warum -, hier in
der Debatte anführen. Ich meine den Paradigmenwechsel bei der Förderung der Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern. Wir stellen uns mit diesem Gesetzentwurf auch der Aufgabe, den Arbeitsmarkt der
Zukunft zu bauen. Es wird Regionen geben - diese gibt
es in diesem Land auch schon heute -, in denen Vollbeschäftigung herrscht. Die Frage ist hier: Wie reagieren
wir auf den Fachkräftemangel?
Wir schaffen hier einen echten Paradigmenwechsel.
Erstmalig wird nicht nur die Möglichkeit geschaffen, die
Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern, von
Geringqualifizierten und Älteren weiter zu finanzieren,
sondern auch die Möglichkeit, dass alle Arbeitnehmer
von kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Land
- bei denen ist die Weiterbildungsquote nicht so hoch
wie bei den Konzernen - durch die Bundesagentur für
Arbeit teilgefördert werden.
({22})
Das ist eine echte Innovation, die Sie nie geschafft haben. Wir stellen uns der Aufgabe, auf den Fachkräftemangel und das Problem von mangelnder Qualifikation,
das eine Spaltung des Arbeitsmarkts bewirkt, zu reagieren. Dieser Gesetzentwurf bringt einen echten Paradigmenwechsel.
Sie haben nichts Besseres zu tun, als über angebliche
Haushaltskürzungen zu reden. Man könnte das schon als
Kompliment sehen: Was man an diesem Gesetzentwurf
inhaltlich kritisieren könnte, fällt Ihnen offenbar nicht
ein. Ich bin gespannt, ob dazu im Laufe der Debatte etwas kommt. Ich rechne nicht wirklich damit.
Vielen Dank.
({23})
Ich erteile der Kollegin Sabine Zimmermann das
Wort, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sollen uns heute abschließend mit dem
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Verschlechterung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt beschäftigen.
({0})
- Ach, ich habe mich versprochen, Entschuldigung. Ich
meine natürlich: zur Verbesserung.
({1})
Doch, ich habe ganz bewusst ausgesprochen - das hat
bei Ihnen auch Wirkung gezeigt -, was die Sozialverbände, Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen und die
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger von diesem Gesetz denken.
({2})
Die Bundesregierung sorgt damit nur ein weiteres
Mal für einen gigantischen Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik, und das auf dem Rücken von erwerbslosen
Menschen in diesem Land. Während der Rettungsschirm
für die Banken immer größer wird, drückt die Bundesregierung den vielen erwerbslosen Menschen nur einen
kleinen löchrigen Knirps in die Hand. Das ist ungerecht,
aber das ist Ihre Politik. Dabei machen wir nicht mit.
({3})
Selbst in Zeiten des Aufschwungs gelingt es nicht,
Langzeitarbeitslose in nennenswerten Größenordnungen in Beschäftigung zu bringen. Ihr Anteil an allen Erwerbslosen blieb im August mit 33 Prozent genauso wie
im Vorjahr. Damit liegt Deutschland deutlich über dem
Durchschnitt der europäischen Länder. Nur die Slowakei
hat einen noch höheren Anteil langzeitarbeitsloser Menschen. Mit Ihrem Gesetz zur vermeintlichen Verbesserung der Eingliederungschancen werden Sie es bald
schaffen, den Spitzenplatz in Europa zu erobern. Dazu
können wir nur sagen: Glückwunsch! Deutschland, das
Land der Langzeitarbeitslosen! - Das ist Ihr Verdienst
von Ihrer Regierung, meine Damen und Herren der
schwarz-gelben Koalition.
({4})
Ich möchte noch etwas zu den absoluten Zahlen sagen. Im Juni betrug die offizielle Zahl der Langzeitarbeitslosen im Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für
Arbeit 868 000. Im Juli belief sich diese Zahl dann auf
962 000. Nun fragen Sie bestimmt, warum, Herr Vogel,
der Sie uns so schön Ihre Rechnungen aufmachen. Ich
kann Ihnen sagen, woran es liegt. Erstmals konnten nämlich Langzeitarbeitslose ausgewiesen werden, die von
den Optionskommunen betreut werden. All die Jahre zuSabine Zimmermann
vor - das waren sieben Jahre; seit dieser Zeit bestehen
die Optionskommunen - wurden sie vor der Öffentlichkeit offenbar versteckt.
Ich frage mich: Was ist hier los?
({5})
Genau genommen weiß man gar nicht genau, wie viele
Arbeitslose es in unserem Land gibt. Außerdem gibt es
noch die knapp 100 000 über 58-jährigen arbeitslosen
Hartz-IV-Bezieher - die Sie vergessen haben, Herr Vogel -,
die aus der Statistik herausgefallen sind,
({6})
weil sie in den letzten zwölf Monaten kein Jobangebot
vom Jobcenter bekommen haben.
({7})
Ich frage mich: Was ist hier los? Wie wollen Sie uns
darstellen, dass die Arbeitsmarktpolitik greift und die
Arbeitslosigkeit zurückgeht? Wenn etwas in Bewegung
ist, dann sind es nicht die Langzeitarbeitslosen auf dem
Weg in ihren neuen Job, sondern allenfalls die Statistiken. Nur 2,2 Prozent der Langzeitarbeitslosen gelang es
in den letzten zwölf Monaten, in einen Job zu kommen.
Von großen Erfolgen am Arbeitsmarkt, insbesondere für
Langzeitarbeitslose, zu reden, halten wir für Augenwischerei.
({8})
Sie, allen voran unsere Ministerin Frau von der Leyen,
verschließen die Augen vor der Realität.
Vor allem Langzeiterwerbslose benötigen dringend
Weiterbildung und Qualifizierung, um eine Chance auf
einen Job zu erhalten. Das wurde heute schon mehrfach
angesprochen. Die Hälfte von ihnen verfügt nicht über
eine abgeschlossene Berufsausbildung. Doch die Maßnahmen zur Weiterbildung und Qualifizierung haben Sie
bereits in diesem Jahr drastisch zusammengestrichen.
Die Teilnehmerzahlen sind um 36 Prozent zurückgegangen, Herr Vogel.
Gleichzeitig redet die Regierung, auch Sie, Herr
Vogel, von einem Fachkräftemangel. Auf der einen Seite
werden die Gelder für aktive Maßnahmen gestrichen.
Auf der anderen Seite jammern Sie auf hohem Niveau,
dass wir einen Fachkräftemangel haben. Ich bitte Sie,
das passt doch nicht zusammen.
Die Linke steht für eine andere Arbeitsmarktpolitik.
({9})
Ich denke, das wird Sie nicht wundern. Dazu haben wir
einen Antrag eingebracht, den Sie vielleicht einmal lesen
sollten.
Notwendig ist eine Reform der Arbeitsmarktinstrumente - darin sind wir uns einig -, die aber nicht auf Billigmaßnahmen und Vermittlung in prekäre Beschäftigung setzt und damit lediglich die Arbeitslosenstatistik
bereinigt. Es gilt, Qualifizierung und Vermittlung in gute
Arbeit zu stärken.
({10})
Die Linke möchte nachhaltige Maßnahmen stärken,
die am individuellen tatsächlichen Bedarf der Betroffenen ausgerichtet sind. Damit verbunden sind Rechtsansprüche der Betroffenen auf Fördermaßnahmen. Insbesondere müssen die Erwerbslosen mit den größten
Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt besser unterstützt werden: Ältere, Menschen mit Behinderungen, aber auch
Langzeiterwerbslose. Denn diese Gruppen sind die großen Verlierer der letzten Jahre und werden dies aufgrund
Ihres Gesetzentwurfs auch weiter sein.
Die Bundesagentur für Arbeit darf von der Bundesregierung nicht weiter in die chronische Unterfinanzierung
getrieben werden. Damit meine ich die Abschaffung der
Defizithaftung des Bundes, die vorgesehene Reduzierung des Beitrages zur Arbeitsförderung und die Strafgebühr beim Übergang vom Arbeitslosengeld I in Hartz IV.
Sie pressen die Bundesagentur für Arbeit aus wie eine
Zitrone. Das geht zulasten der erwerbslosen Menschen.
({11})
Zudem darf die Arbeitsverwaltung nicht länger Motor
für prekäre Beschäftigung sein. Wir fordern eine Neugestaltung der Zumutbarkeitsregelungen und eine bessere
Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, um dem Druck zur
Aufnahme von niedrig entlohnter und nicht qualifikationsgerechter Beschäftigung entgegenzuwirken. Denn
es kann nicht sein, dass Menschen in Arbeit vermittelt
werden und zusätzlich Hartz IV beziehen müssen. Damit
muss endlich Schluss sein in diesem Land!
({12})
Statt die öffentlich geförderte Beschäftigung einzustampfen, wie es die Regierung derzeit tut, wollen wir
neue Rahmenbedingungen für gute öffentlich geförderte
Beschäftigung schaffen, um Langzeiterwerbslosen eine
Perspektive zu geben. Dies sind eben nicht 1-Euro-Jobs;
es geht vielmehr um sinnvolle zusätzliche Arbeit, von
der man leben und seine Familie ernähren kann.
Die Arbeitsverwaltung wurde in den letzten Jahren
immer mehr zu einem System umgestaltet, das sich ausschließlich negativ definiert: über Sperrzeiten, Sanktionen und wenig Förderung. Dieser falsche Weg muss ein
Ende haben.
({13})
Solange Sie mit Ihrem vorgelegten Gesetzentwurf die
Chancen von langzeitarbeitslosen Menschen so dramatisch verschlechtern, werden wir als Linke nie zustimmen.
Danke.
({14})
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der hier
heute vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich nicht an
den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Der hier heute
vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich am Rotstiftdiktat des Finanzministers.
({0})
Dem werden jedenfalls wir nicht zustimmen.
Sie behaupten immer, Herr Vogel und Frau von der
Leyen, dass die vorgesehenen Einsparungen durch Effizienz und Zielgenauigkeit aufgefangen werden. Diese
Effizienz und diese Zielgenauigkeit wollen Sie dadurch
erreichen, dass die Entscheidungskompetenz der Jobcenter gesteigert wird. Deswegen werden Pflichtleistungen
in Ermessensleistungen umgewandelt. Jetzt will ich Ihnen einmal am Beispiel des Gründungszuschusses erläutern, wie das aussieht. Beim Gründungszuschuss sollen
5 Milliarden Euro eingespart werden; das sind 83 Prozent des Etats. Die Ausweitung der Entscheidungskompetenz vor dem Hintergrund dieser Einsparungen ist
nichts anderes, als dass Sie die Drecksarbeit der Ablehnung nach unten verlagern.
({1})
Es gibt aber interessanterweise eine Ausnahme: Die Vermittlungsgutscheine für private Vermittler werden nicht
in eine Ermessensleistung umgewandelt. Die Vermittlungsgutscheine für private Vermittler sind so etwas wie
die Mövenpick-Steuer der Arbeitsmarktpolitik.
({2})
Das ist das einzige Instrument, das nicht zur Ermessensleistung wird.
Sie sind angetreten, um den Instrumentenkasten nach
dem Prinzip der Effizienz zu organisieren. Wie sieht die
Effizienz bei den privaten Vermittlern eigentlich aus? Im
Jahr 2010 sind 634 000 Vermittlungsgutscheine ausgegeben worden. Eingelöst worden sind davon 50 000. Das
entspricht 7,9 Prozent.
({3})
Arbeit haben davon nur 4,2 Prozent gefunden. Das ist
das Prinzip der Effizienz à la FDP.
({4})
Ich will hier aber gar nicht den Eindruck erwecken, als
würden schon mit dem Ausgeben des Vermittlungsgutscheines Kosten fällig, auch wenn damit durchaus Beratungs- und Bürokratieaufwand verbunden ist. Aus Seriositätsgründen will ich hier deutlich machen: Die
Provision wird erst gezahlt, wenn jemand tatsächlich
sechs Wochen in Arbeit ist. Herr Vogel, was ist an
4,2 Prozent effizient?
({5})
Das hier ist kein Effizienzinstrument; das ist Wahlkampfhilfe für die FDP.
({6})
So viele private Vermittler gibt es aber gar nicht, um der
FDP über die Fünfprozenthürde zu helfen. Hinzu kommt
noch - das besagt im Übrigen auch die IAB-Studie -,
dass die privaten Vermittler im Wesentlichen den Rahm
abschöpfen. Die wirklich schweren Fälle bleiben bei der
Bundesagentur für Arbeit und bleiben bei den Jobcentern.
Aber die schwer Vermittelbaren interessieren Sie ja
sowieso nicht; die haben Sie längst abgeschrieben. Dieser Gesetzentwurf konzentriert sich auf diejenigen, die
ohne großen Unterstützungsbedarf in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Frau von der Leyen, es geht Ihnen darum, sich im schönen Schein der durch die Konjunktur
abnehmenden Arbeitslosenzahlen zu sonnen. Ich sage
Ihnen: Wo Sonne ist, da ist auch Schatten.
({7})
Ich finde, die Aufgabe einer Arbeitsministerin besteht
darin, sich diesem Schatten einmal zuzuwenden.
({8})
Was wir nämlich nicht brauchen, ist eine Schattenkanzlerin. Was wir brauchen, ist eine Arbeitsministerin, die
sich genau um diese Schattenseiten kümmert, und das
sind die schwer Vermittelbaren,
({9})
das sind die gesundheitlich Eingeschränkten, das sind
die ohne Ausbildung, das sind die Älteren, und das sind
die Alleinerziehenden.
Frau von der Leyen, wenn Sie hier auftreten und sagen, die Zahl der Arbeitslosen unter den Alleinerziehenden sei überproportional zurückgegangen, dann kann ich
nur sagen: Das stimmt nicht. Genauso stimmt Ihre Rechnung nicht, dass Sie pro Kopf mehr als in den Jahren zuvor ausgeben werden. Wenn Sie allerdings das Jahr 2005
zum Referenzjahr nehmen, also das Jahr, in dem diese
Regelung eingeführt worden ist und die Jobcenter im
Aufbau begriffen waren, dann zeigt das den Mangel an
Seriosität in Ihrer Argumentation.
({10})
Die Zahl, die wirklich relevant ist, ist folgende: Die Zahl
der Langzeitarbeitslosen ist im letzten Jahr um 4 bis 5 ProBrigitte Pothmer
zent gesunken. Aber Sie kürzen in diesem Bereich um
25 Prozent. Sie können vieles außer Kraft setzen, nicht
aber Adam Riese.
({11})
Die Probleme, die wir heute auf dem Arbeitsmarkt
haben, sind grundsätzlich anderer Natur als vor zwei
Jahren. Heute sind die Menschen arbeitslos, nicht weil
Arbeitsplätze fehlen, sondern weil ihnen die Qualifikation für die vorhandenen Arbeitsplätze fehlt. Es ist Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik, das zu verändern. Wenn
das nicht gelingt, dann hat die Arbeitsmarktpolitik versagt. Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit, das ist das Versagen der verantwortlichen
Ministerin. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
({12})
Die Anhörung hat das noch einmal deutlich gemacht.
Alle fordern eine Rücknahme der Kürzungen, aber auch
eine qualitative Verbesserung. Wir brauchen einen besseren Personalschlüssel. Wir brauchen besser qualifiziertes Personal in den Jobcentern. Wir brauchen Qualifizierungsmaßnahmen insbesondere für Geringqualifizierte,
die zu einem Abschluss führen. Wir brauchen die volle
Finanzierung von Umschulungen, besonders in nachgefragten Berufen wie in der Pflege. Welchen Sinn macht
es eigentlich, dass die Kosten der Umschulungen hier
nicht übernommen werden? Tatsächlich ist jede Umschulung im Pflegebereich mit einer Jobgarantie verbunden.
({13})
Dazu finden wir in Ihrem Gesetzentwurf nichts, rein gar
nichts. Mit diesem Gesetz treiben Sie die Spaltung des
Arbeitsmarktes und damit auch die Spaltung in der Gesellschaft voran. Leider hat der Änderungsantrag, den
die Fraktionen vorgelegt haben, daran nicht wirklich etwas geändert. Deswegen werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({14})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Karl Schiewerling.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es amüsant, dass
sich die Opposition an unserer Bundesarbeitsministerin
in persönlichen Fragen handfest abarbeitet. Sie scheint
eine so gute Politik zu machen, dass Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, nur noch mit Schlägen
unterhalb der Gürtellinie operieren können.
({0})
Ich sage es Ihnen sehr deutlich: Auch Sie, Frau Kollegin
Pothmer, können Adam Riese nicht außer Kraft setzen.
5 Millionen Arbeitslose sind nun einmal mehr als knapp
3 Millionen Arbeitslose.
({1})
Wenn Sie die Zahlen nicht zur Kenntnis nehmen wollen,
dann nenne ich Ihnen hier in der Öffentlichkeit die Zahlen noch einmal: 2006 gab es 5 Millionen Arbeitslose.
Wir haben damals 1 643 Euro pro Kopf ausgegeben. Wir
werden im Jahr 2011 2 524 Euro pro Kopf ausgeben,
damit Langzeitarbeitslose bzw. Arbeitslose in den Arbeitsmarkt integriert werden können.
({2})
Gegen Adam Riese werden Sie, Frau Kollegin Pothmer,
nicht argumentieren können.
Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mast?
Mit verhaltener Freude.
({0})
Bitte schön, Frau Mast.
Herr Kollege Schiewerling, vielen Dank, dass Sie
meine Zwischenfrage zulassen. - Mich interessiert, wie
sich die Pro-Kopf-Ausgaben für Langzeitarbeitslose in
Deutschland seit Ihrer Regierungsübernahme entwickelt
haben bzw. entwickeln werden. Da Sie offenbar gerne
mit Zahlen agieren, wird es für Sie sicherlich kein Problem sein, uns auch hierzu konkrete Zahlen zu nennen.
Die habe ich Ihnen gerade genannt.
({0})
- Nein, Frau Kollegin, ich habe Ihnen die Zahlen genannt. - 2011 gibt es geschätzt 2,1 Millionen Arbeitslose
im SGB-II-Bereich. Die Pro-Kopf-Ausgaben liegen bei
2 524 Euro. 2006 gab es 2,8 Millionen Langzeitarbeitslose. Damals wurden pro Kopf 1 643 Euro ausgegeben.
Das sind die Zahlen.
({1})
Frau Kollegin Mast, es tut mir leid, dass die Zahlen nun
einmal so sind, wie sie sind, und dass Sie mit Ihrer Argu15110
mentation nicht durchdringen. Aber auch Sie müssen
diese Zahlen einmal zur Kenntnis nehmen.
({2})
Wir schließen nach der Organisationsreform und der
Reform der Regelsätze mit dem Gesetz, über dessen Entwurf wir heute abschließend beraten, nun den dritten
Teil der Arbeitsmarktgesetzgebung, die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, ab. Ich finde, dass
wir in den letzten zwei Jahren einiges auf den Weg gebracht haben.
Herr Kollege Schiewerling, auch Frau Kollegin
Pothmer würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, jetzt nicht.
({0})
Die Notwendigkeit, die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu reformieren - ich sage Ihnen das in aller
Deutlichkeit -, besteht unabhängig von der Konjunktur
und den Finanzen. Selbst wenn wir 4 Milliarden Euro
mehr zur Verfügung hätten, müssten wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente effizienter gestalten; denn
ob 4 Milliarden Euro mehr oder 500 Millionen Euro weniger, es geht in jedem Fall darum, die Steuergelder effizient einzusetzen, weil wir gegenüber dem Steuerzahler
für das, was wir tun - das bleibt immer so -, Verantwortung tragen.
({1})
Es geht bei dem, was wir tun, um einen Umbau und
nicht - das wollen einige von Ihnen suggerieren - um einen Abbau der Sozialleistungen. Es geht erst recht nicht
um einen Kahlschlag. Es geht darum, dass auch die
Langzeitarbeitslosen ihre Chancen nutzen können, auf
dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden.
({2})
Diese Gesetzgebung stellt in der Tat einen Paradigmenwechsel dar. Wir müssen konsequent in die Qualifizierung investieren und konsequent eine Treppe zum ersten
Arbeitsmarkt bauen. Einige brauchen mehr Stufen, um
dorthin zu kommen, einige brauchen nur eine Stufe oder
müssen nur einen Schritt gehen; es geht aber darum, dass
wir die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren.
Sie, Frau Kollegin Pothmer, sagen, uns habe die Konjunktur geholfen. Die Konjunktur hat uns überhaupt
nicht geholfen; sie ist vielmehr die Basis dafür, Menschen wieder im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen.
Arbeitsmarktpolitische Instrumente schaffen keine Arbeitsplätze, sondern sie ebnen den Weg, um wieder in
Beschäftigung zu kommen.
({3})
Arbeitsplätze werden von der Wirtschaft geschaffen, und
die Wirtschaft kann sie nur bei einer entsprechenden
Konjunktur und dann schaffen, wenn gute Rahmenbedingungen von der Politik gesetzt werden. Wir haben die
Rahmenbedingungen richtig gesetzt; sonst hätten wir
den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt nicht.
({4})
Der Weg ist von uns dadurch geebnet worden, dass
wir die Instrumente zusammengefasst haben, dass wir
mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit vor Ort haben und die Instrumente zur Vermittlung auf den ersten
Arbeitsmarkt geschärft haben. Ich bin auf einige Dinge,
die wir jetzt erreicht, aber die wir zusammen in der letzten Legislaturperiode nicht geschafft haben - das sage
ich Ihnen sehr deutlich -, ein klein wenig stolz. Wir haben es geschafft, die Entscheidungsfreiheit vor Ort anzusiedeln, weil die Situation zwischen Kiel und Konstanz,
zwischen Aachen und Görlitz völlig unterschiedlich ist.
Wir flexibilisieren, wir überlassen die Entscheidungsfreiheit den Verantwortlichen vor Ort, haben aber auch
die dringende Bitte, dass diese Entscheidungsfreiheit
wahrgenommen wird und die Möglichkeiten tatsächlich
genutzt werden.
({5})
Wir flexibilisieren sogar die Finanzierung dahin gehend, dass die Verantwortlichen entscheiden können, wie
sie immerhin 20 Prozent des gesamten Eingliederungstitels - das sind weit mehr als 800 Millionen Euro - einsetzen, um die spezifischen Arbeitsmarktprobleme vor Ort
zu lösen. Das setzt Eigenverantwortung voraus. Darauf
bauen wir, und darauf setzen wir unsere Akzente.
({6})
Das hat auch etwas mit dem Fachkräftemangel zu tun.
Aber tun wir doch nicht so, als sei das Problem des
Fachkräftemangels ein monolithischer Komplex. Es
handelt sich vielmehr um eine sehr differenziert zu beantwortende Frage,
({7})
weil die Situation der Menschen höchst unterschiedlich
ist. Dort, wo wir etwas leisten können, damit Jugendliche, Heranwachsende und Menschen, die gerade in Beschäftigung gekommen sind, weiterqualifiziert werden,
um eine Perspektive zu haben, weil wir ihre Kraft, ihre
Begabungen und ihre Fähigkeiten brauchen, investieren
wir und bieten Qualifizierungsmöglichkeiten. Wir bitten
alle Träger und Institutionen, die sich in diesem Bereich
engagieren, dies weiter mit voller Kraft zu tun.
({8})
Es ist mir an dieser Stelle ein Anliegen, ein deutliches
Wort des Dankes an die vielen Initiativen und Träger zu
richten.
({9})
Ich weiß, dass in einigen Bereichen der Beschäftigungsinitiativen, die sich für Langzeitarbeitslose einsetzen,
Umstrukturierungen stattfinden werden.
({10})
Diejenigen, die ausschließlich Beschäftigung organisieren, werden es schwer haben, weil wir sie auffordern,
Beschäftigung mit Qualifizierung zu verbinden und den
Weg in den ersten Arbeitsmarkt zu organisieren.
({11})
Dafür werden wir die Mittel bereitstellen. Dafür werden
wir die Rahmenbedingungen schaffen. Wir erreichen
mehr Effizienz, weil mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort
entsteht.
({12})
Ich bin ganz sicher, dass es nicht nur um die Frage geht,
wie wir die Mittel verteilen, sondern auch um die Frage,
wie wir die Mittel effizient einsetzen.
In diesem Sinne freue ich mich darauf, dass wir zu
neuen Aufbrüchen in diesem Bereich kommen. Es geht
nicht um Abbau. Es geht um Umbau. Es geht um Schärfung. Es geht um gute Perspektiven für die Menschen,
junge wie ältere, damit sie eine gute und hoffnungsvolle
Zukunft am Arbeitsmarkt haben. Ich bin froh darüber,
dass sich die Zahlen so entwickelt haben, wie sie sich
entwickelt haben. Ich rate Ihnen, den Menschen das auch
nicht schlechtzureden;
({13})
denn sie brauchen Mut, und sie brauchen nicht permanent Schwarzmaler, die ihnen sagen: Ihr habt sowieso
keine Perspektive. - Sie haben eine Perspektive, und wir
eröffnen sie ihnen.
({14})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Gabriele
Lösekrug-Möller.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege
Schiewerling, wer sich Effekte des Aufschwungs so an
die Brust heftet, wie Sie es getan haben, der sollte die
andere Seite der Brust freilassen; denn dahin heften wir
dann die Effekte, die entstehen, wenn der Aufschwung
nachlässt.
Was hier geschieht, ist unverantwortlich. Es ist unverantwortlich, dass Sie sagen: All das Gute auf dem Arbeitsmarkt haben wir gemacht. - Ich glaube, die Menschen in Deutschland wissen das besser. Auch wenn Sie
so froh sind über das Gesetz, das heute verabschiedet
wird, und sich einer Noch-Mehrheit im Parlament rühmen können, so haben Sie doch nicht die Mehrheit der
Gesellschaft auf Ihrer Seite. Wir haben in diesem Verfahren erlebt, wie Sozialverbände, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Initiativen gegen das Sturm gelaufen sind,
was heute verabschiedet wird.
({0})
Zwei Dinge müssen zusammen gesehen werden, Herr
Zimmer: Ihre radikalen Kürzungen und die Veränderung
der Instrumente. Die Kollegin Pothmer hat es auf den
Punkt gebracht. Ich will es noch einmal sagen, weil Sie
es offenbar noch nicht verstanden haben: Sie geben den
Mitarbeitern in den Jobcentern vor Ort nur die Chance,
Nein zu sagen, wenn sie ihr Ermessen ausüben. Das ist
fahrlässig. Das haben sie auch wirklich nicht verdient.
({1})
Wir wissen: Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts. - Wir Sozialdemokraten haben einmal Instrumente reformiert, zusammen mit der CDU/CSU. Das
war ein guter Schritt. Wir haben signalisiert: Wir sind
bereit, weiterzumachen. - Das gilt aber nicht, wenn Sie
eine Instrumentenreform machen und sich die Instrumente nur noch auf das beziehen, was nach Ihren
Milliardenkürzungen hinter dem Komma noch übrig
bleibt. Das ist Missbrauch von Reform.
({2})
Das führt dazu, dass der Graben zwischen jenen Menschen, die in guter Arbeit sind, und denen, die gar keine
Arbeit haben oder zu schlechten Bedingungen arbeiten
müssen, noch tiefer wird. Das sind die Effekte Ihrer Arbeitsmarktpolitik, auf die Sie so stolz sind.
Wir können das am Beispiel der Jugendwerkstätten in
Niedersachsen durchbuchstabieren. Frau Ministerin, Sie
kennen sich da aus. Sie wissen: Über 100 Einrichtungen
arbeiten seit Jahren erfolgreich. Mehr als 5 000 junge
Menschen ohne Chance bekommen dort genau das, was
sie brauchen, damit sie gut in Ausbildung und Arbeit
kommen. Wenn es nicht Proteste gegeben hätte, dann
wären diese Werkstätten radikal ans Ende ihrer Existenz
gekommen.
({3})
Was wir jetzt haben, Kollege Straubinger, ist ein kleiner
Fortschritt. Sie könnten sich bei Ihrer Kollegin
Connemann aus Niedersachsen informieren. Sie hat
auch berechtigte Sorge in der Frage, wie es in diesem
Zusammenhang weitergeht.
Das alles zeigt mir: Wenn es konkret darum geht, jungen Menschen Chancen zu eröffnen, dann passen Sie
Ihre Politik nicht der Wirklichkeit an, sondern legen
wunderbare Sachen ins Schaufenster. Betreten dann aber
Bedürftige den Laden, finden sie leere Regale vor. - Das
ist die Politik, die Sie machen. Das gilt für den Gründungszuschuss. Das gilt für den Vermittlungsgutschein
für junge Leute. Da ist es ja eine wunderbare Ausnahme,
wenn es mit den Privaten funktioniert; wir haben das
hier hinreichend erörtert. Auch das wird der FDP als
Partei nicht weiterhelfen. Möglicherweise eröffnet es
Personen, die irgendwann einmal ohne Mandat sein werden, die Chance auf Vermittlung. Ich empfehle da auch
unsere öffentlichen Einrichtungen. Auch die vermitteln
gut. Diese Aktion wäre nicht notwendig gewesen.
({4})
Leider müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen,
({5})
trotz der Änderungsvorschläge, die von CDU/CSU und
FDP immerhin noch gekommen sind. Einige waren bitter nötig. Ich denke hier an die Wohnheime und an die
Förderung kleiner Einrichtungen, die offenbar von der
Frau Ministerin nicht beachtet worden sind. Es wird
dringend Zeit, dass sich die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in dieser Republik ändert.
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP spricht jetzt der Kollege Pascal Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie tun
mir schon leid;
({0})
denn es ist offensichtlich sehr schwer, gegen eine so erfolgreiche Regierung Opposition zu machen. Ihnen fällt
nichts anderes ein, als auf persönliche Angriffe unter der
Gürtellinie auszuweichen.
({1})
Ich kann es nur wiederholen: Diese Regierung ist so
erfolgreich, wie Sie es sich im Interesse der Menschen in
unserem Land nur wünschen könnten. Wir haben in der
Bundesrepublik gegenwärtig 41 Millionen Erwerbstätige, so viele wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.
Wir haben weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Die
Langzeitarbeitslosigkeit, die die Schwächsten der
Schwachen betrifft, sank im letzten Jahr erstmalig seit
Einführung des Hartz-IV-Systems um 6 Prozent. Die Jugendarbeitslosenquote liegt bei unter 10 Prozent, also
nur halb so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Im
letzten Jahr wurden 684 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen.
Von daher kann ich schon verstehen, dass es schwer ist,
Opposition gegen eine so erfolgreiche Regierung zu machen.
({2})
Ich möchte Sie für Folgendes sensibilisieren. Was ich
eben genannt habe, waren die nackten Zahlen. Aber stellen Sie sich vor, wie viele persönliche Lebensschicksale
Hunderttausender sich konkret dahinter verbergen: Hunderttausende Menschen, die jetzt wieder schlafen können, Hunderttausende Familien, die in den Urlaub fahren
können, Hunderttausende Menschen, die wieder eine
Perspektive haben - das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sollten Sie anerkennen um des
Lebensglücks dieser Menschen willen.
({3})
Wir sind nicht so vermessen, alles auf unsere Regierungsführung zurückzuführen.
({4})
Wir wissen, dass bereits in der Vergangenheit Wesentliches im Bereich der Wirtschaft geschehen ist, das dazu
geführt hat, dass es jetzt so viele Chancen für die Menschen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Es gibt 1 Million offene Stellen, die darauf warten, besetzt zu werden. Deshalb ist es richtig, dass wir in die Weiterbildung
investieren. Wir investieren mehr, als Sie je zu investieren bereit waren. Sie haben 2005 2 Milliarden Euro in
die Weiterbildung investiert.
({5})
Wir investieren 3 Milliarden Euro. Das zeigt deutlich,
wo wir uns in der Verantwortung sehen. Wir ergänzen
das, was auf dem Arbeitsmarkt durch eine glücklicherweise gute Konjunkturentwicklung möglich war, durch
eine kluge Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
({6})
Lassen Sie mich daran erinnern, dass ich Sie bei der
ersten Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfes gebeten habe, sich nicht darauf zurückzuziehen, nur ständig
über die Rückführung von Mitteln zu klagen.
({7})
Ich habe Sie aufgefordert, sich konstruktiv an der Verbesserung der einzelnen Instrumente zu beteiligen; aber
von Ihnen ist in dieser Hinsicht nichts gekommen. Wir
hingegen haben bei den bereits zur Verfügung stehenden
Instrumenten die Stellschrauben justiert, um so in Zukunft größere Erfolge zeitigen können.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Bei den 1-Euro-Jobs
bzw. den Arbeitsgelegenheiten haben wir eine sogePascal Kober
nannte Nachrangigkeitsklausel eingeführt, sodass das Instrument nur dann anwendbar ist, wenn -
Herr Kollege Kober, ich wollte Sie eigentlich nicht
mitten im Satz unterbrechen. Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil zulassen?
Eine Zwischenfrage des Kollegen Heil natürlich
gerne.
Bitte schön.
Geschätzter Kollege Kober, in der vergangenen Woche war auf meine Einladung hin Herr Staatssekretär
Brauksiepe in meinem Heimatwahlkreis. Dies ist der
Landkreis Peine, zwischen Braunschweig und Hannover
gelegen. Herr Staatssekretär Brauksiepe hat ähnlich argumentiert, wie Sie argumentiert haben, nämlich nach
dem Motto: Pro Kopf wird überhaupt nicht gespart. Komischerweise erleben wir gerade, dass die Strukturen
einer hocheffizienten Berufsbildungs- und Beschäftigungsgesellschaft des Landkreises Peine zusammenbrechen. Derzeit vollzieht sich dort ein Strukturwandel.
Dass die Caritas und die Diakonie über die Jugendwerkstätten einiges zu berichten haben, hat die Kollegin
Lösekrug-Möller bereits angesprochen.
Ich habe eine einfache Frage an Sie. Ich schlage vor,
dass wir vereinbaren, dass Sie in einem Jahr in meinen
Wahlkreis kommen und den Menschen vor Ort erklären,
dass alles so toll ist, wie Sie es hier prognostizieren.
Nehmen Sie meine Einladung an?
Lieber Hubertus Heil, zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass dieses Gesetz noch gar nicht wirksam ist. Wenn die Träger jetzt verunsichert sind, was ihnen in Zukunft bevorsteht, dann liegt das im
Wesentlichen daran, dass Sie hier nicht sachlich argumentieren, sondern den Trägern Angst machen.
({0})
Nun zu Ihrer Frage, Herr Heil. Ich komme gerne und
lade Sie zugleich in meinen Wahlkreis ein. Danach tauschen wir uns darüber aus. Ich freue mich darauf.
({1})
Wir haben im Bereich des 1-Euro-Jobs eine Nachrangigkeitsklausel eingeführt, damit genau diejenigen davon profitieren, die es nötig haben und für die diese Arbeitsgelegenheit sinnvoll ist, statt sie zu verwenden, um
irgendwelchen Trägern oder sonstigen Auftraggebern
billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. So haben
wir - die Zeit reicht nicht mehr, dies auszuführen - an
ganz vielen Stellen gerade im Bereich des SGB II ganz
konkrete kleine Veränderungen vorgenommen, um diese
Instrumente zielgerichteter einzusetzen, damit mehr
Menschen die Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Uns
geht es in der Tat gerade um die Schwächsten. Deshalb
- darauf können Sie vertrauen - werden wir auch weiter
mit Ihnen die Diskussion und die Auseinandersetzung
suchen.
Vielen Dank.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir verabschieden heute das Gesetz zur Verbesserung
der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt. Damit
setzt sich nach der Jobcenterreform und der Leistungsreform die Reform der gesetzlichen Grundlagen der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung fort. Ich glaube,
es ist ein sehr gutes Gesetz, das wir heute verabschieden,
weil damit ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik verbunden ist. Es geht nämlich darum, mehr Eigeninitiative bei den Jobcentern und bei der Arbeitsvermittlung insgesamt zuzulassen und diese nicht mit
irgendwelchen Pflichtleistungen zu strangulieren. Das ist
der entscheidende Gedanke bei dieser Gesetzgebung.
({0})
Alle Arbeitsagenturen begrüßen die Möglichkeit der Eigeninitiative, die damit zukünftig verbessert wird.
({1})
- Natürlich. - Darüber hinaus werden damit den Menschen mehr Chancen eröffnet.
In den vergangenen Jahren haben wir bereits eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik betrieben, auch in der
Zeit der Großen Koalition; das möchte ich in keiner
Weise in Abrede stellen. Mittlerweile ist ein signifikanter Rückgang der Dauerarbeitslosigkeit festzustellen;
denn wir sind das Problem der Arbeitslosigkeit kontinuierlich angegangen.
Unter Rot-Grün gab es 5 Millionen Arbeitslose. Jetzt
sind es 2,8 Millionen Arbeitslose. Gestern wurde gemeldet, dass der Monat September den neuesten Tiefpunkt
bei der Arbeitslosigkeit in Deutschland bedeuten wird.
Es wird 200 000 Arbeitslose weniger geben als vor einem Jahr im Monat September. Das zeigt sehr deutlich,
dass der Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist und dass es
deshalb geboten ist, die Instrumente so einzusetzen, dass
zunächst in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt wird und
nicht in irgendwelche Arbeitsgelegenheiten oder andere
Formen der Eingliederung.
({2})
Ziel dieses Gesetzes ist es, den ersten Arbeitsmarkt zu
bedienen. Ich habe natürlich Verständnis für diejenigen,
die sich als Leistungsanbieter von Eingliederungsmaßnahmen betätigt haben. Wichtiger aber ist es, Menschen
in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Dass dieser Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist, möchte
ich durch ein Beispiel aus meinem Heimatwahlkreis untermauern. Jüngst in der letzten Woche erschien dort
eine Meldung von der Bundesagentur für Arbeit, dass
derzeit 197 Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können. Das bedeutet, dass es große Chancen für Jugendliche gibt. Sosehr ich die Leistungsfähigkeit von Jugendnetzwerken und sonstigen Einrichtungen schätze,
weitaus entscheidender ist es, die jungen Menschen zuerst in eine Lehrstelle zu bringen. Nichts ist lehrreicher
als die praktische Erfahrung im Betrieb, um damit ein
selbstbestimmtes Leben führen zu können. Das ist der
Sinn dieser Gesetzgebung.
Häufig wird kritisiert, es würden ständig nur finanzielle Kürzungen vorgenommen. Es ist aber ein Unterschied - Vorredner haben es bereits gesagt -, ob wir
5 Millionen Arbeitslose haben oder 3 Millionen oder unter 3 Millionen. Weil auch das oft bezweifelt wird,
möchte ich darlegen: Im Jahr 2007 hatten wir im
SGB-II-Rechtskreis 2,5 Millionen Arbeitslose zu vermelden. Im Jahr 2011 sind wir bei 2 Millionen angelangt. Das heißt, wir haben 500 000 Arbeitslose weniger.
Im SGB-III-Rechtskreis hatten wir im Jahr 2007
1,25 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen, im Jahr 2010
waren es 900 000, und im Jahr 2011 - davon bin ich
überzeugt - werden wir knapp 800 000 erreichen.
Das zeigt sehr deutlich: Auch wenn wir geringere
Mittelansätze im Haushalt tätigen, steht trotzdem je Fall
mehr Geld zur Verfügung. In dem Zusammenhang kann
man hervorheben - es wurde bereits dargelegt -: Im Jahr
2007 wurden je Fall ungefähr 2 000 Euro aufgewandt;
im laufenden Jahr werden es ungefähr 2 500 Euro je Fall
sein. Wir werden unserer Verantwortung gegenüber den
Arbeitslosen mitten in unserem Land gerecht und integrieren sie in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist zuvörderst
unsere Aufgabe.
({3})
Deshalb ist es kleinlich, was die Opposition heute betrieben hat.
({4})
- Ja natürlich ist das alles kleinlich, was Sie dargelegt
haben. - Sie haben selbst kein richtiges Konzept, außer
nach immer mehr Geld und Finanzmitteln zu rufen, dann
aber nicht bereit zu sein, den Arbeitslosen die Chancen,
die der Arbeitsmarkt bietet, mit effizienter und effektiver
Arbeitsvermittlung zu eröffnen. Das werden wir mit den
neuen Instrumenten tun. Deshalb werbe ich für Zustimmung des ganzen Hauses.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Angelika
Krüger-Leißner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was ich bis jetzt in der Debatte gehört habe,
könnte widersprüchlicher nicht sein. Es ist unglaublich.
Wir alle reden zum gleichen Gesetz, auf Regierungsseite
sehr euphorisch, mit viel Lob und vielen Versprechungen sowie viel Glauben daran, dass dieses Gesetz nun alles besser machen wird in der Arbeitsmarktpolitik.
({0})
Die massive Kritik von der anderen Seite des Hauses,
Herr Kolb, die hören Sie gar nicht. Die ignorieren Sie
genauso wie die Frau Ministerin, die die Oppositionskritik und die Kritik auch der Verbände, der BA, der Gewerkschaften und des Deutschen Landkreistags permanent ignoriert. Eigentlich wundert mich das aber nicht.
Schon seit langer Zeit beobachte ich, dass Ihr Programm
heißt: Große Ankündigung, Versprechungen, Schönreden, Sparen zulasten der Ärmsten und dann wider besseres Wissen Durchziehen mit der Kraft der Mehrheit der
Stimmen dieses Hauses.
({1})
Ich möchte eines klarstellen: Keiner von uns entzieht
sich der Verpflichtung, auch Reformen der Instrumente
der Arbeitsmarktpolitik zu machen. Nach den Evaluierungen erscheint es mir ohnehin notwendig, hier Verbesserungen zu erbringen. Auch die Veränderungen in der
Gesellschaft und in der Arbeitswelt erfordern das. Ich
frage Sie allerdings: Was ist eine Reform wert, die sich
nicht den dringendsten Fragen dieser Zeit stellt? Dazu
gehören folgende Fragen:
({2})
Wie gelingt es, die Verfestigung in der Langzeitarbeitslosigkeit aufzubrechen? Wie begegnen wir dem zunehmenden Fachkräftemangel? Oder: Wie verhindern wir
Dumpinglöhne im Niedriglohnbereich? Auf all diese
Fragen sind in diesem Gesetzentwurf keine Antworten
zu finden. Stattdessen höre ich von Ihnen, dass mit der
Instrumentenreform alles viel einfacher, viel transparenter und viel effizienter werden soll. Es soll mehr Gestaltungsmöglichkeiten geben. Sie reden sogar von neuen
Perspektiven.
({3})
Aber wo sind diese Perspektiven?
In der Anhörung haben selbst die Sachverständigen
diese neuen Perspektiven nicht gesehen. Bei allem Gerede über Chancen für die Arbeitsuchenden und insbesondere für die Langzeitarbeitslosen ist eines gewiss:
Mit diesem Gesetzentwurf wird alles viel schwieriger.
Das gilt sowohl für die öffentliche Beschäftigung als
auch für die Qualifizierung, die berufliche Weiterbildung, Umschulungen und die Chance, den Existenzgründungszuschuss zu bekommen. Das betrifft nicht nur einzelne Gruppen, sondern alle, quer durch die Bank.
({4})
All das ist schon schlimm genug. Das Fatale an diesem Gesetzentwurf ist aber die Verknüpfung mit dem
Sparhaushalt, den wir in der letzten Sitzungswoche zum
ersten Mal beraten haben. Die Spielräume für die Jobcenter und die BA werden enger und enger. Auch die
Gestaltungsspielräume sind nicht mehr gegeben. Das gilt
insbesondere für die individuelle Beratung, für eine längerfristige Förderung und für zielgenaueres Handeln. Da
geht den Jobcentern die Luft aus.
Sie haben den Schwerpunkt Ihrer Sparmaßnahmen
genau im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik angesetzt. Allein die für das nächste Jahr geplanten Kürzungen in Höhe von 4 Milliarden Euro sind Beleg dafür,
dass diese Reform, über die wir heute reden, nichts weiter als eine Makulatur ist. Auch die am Mittwoch vorgenommenen Änderungen ändern nichts an der Fehlausrichtung Ihres Gesetzentwurfs. Sie zeigen lediglich, dass
das, was Sie eingebracht haben, ziemlich stümperhaft
ist.
Liebe Ministerin, ich bin überzeugt, dass Sie sehr
bald zu der Erkenntnis kommen werden, dass die Kürzungen im Bereich der öffentlichen Beschäftigung der
schwerwiegendste Fehler sind. Das wird Ihnen auf die
Füße fallen. Denn gerade in diesem Bereich brauchen
wir intensive Aktivitäten und viele neue Anreize, um
dem künftigen Fachkräftebedarf gerecht zu werden.
({5})
Diese dringenden Investitionen in die Zukunft fehlen.
Stattdessen gibt es ganz kuriose Regelungen - anders
kann man das nicht sagen, Herr Vogel -, mit denen Sie
an erfolglosen Instrumenten festhalten. Aber es ist ja alles durchschaubar.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Danke, Herr Präsident. Auf der anderen Seite kürzen
Sie die Mittel für Instrumente wie den Gründungszuschuss, für den es in diesem Land einen großen Bedarf
gibt. Man kann nur sagen: ziemlich kopfloses Agieren,
nicht weitsichtig und purer Lobbyismus.
Kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluss.
Diese Reform steht unter keinem guten Stern.
Danke.
({0})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Heilige Vater hat gestern im Plenum dieses
Bundestages von dem „hörenden Herz“ gesprochen. Ich
finde, das ist eine sehr schöne Metapher.
({0})
Wenn ich mir das eine oder andere, was heute von der
Opposition vorgetragen wird, anhöre, bekomme ich den
Eindruck, Sie sind der Meinung, ein hörendes Herz bereits dann zu haben, wenn Sie spendierende Hosen anhaben. Das ist falsch.
({1})
Dies ist in der Anhörung vor einigen Tagen sehr deutlich geworden. Dort hat die Kollegin Mast erklärt: Gerade dann, wenn die Arbeitslosigkeit abnimmt, müssen
wir doch mehr Geld ausgeben. Demnach müssen wir
mehr Geld ausgeben, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt,
aber auch, wenn sie steigt. Da kann ich doch nur fragen:
Können Sie mir eigentlich irgendeinen Zeitraum nennen,
in dem wir weniger Geld ausgeben können? Oder führt
ihr Modell dazu, dass für die Betreuung des letzten Arbeitslosen 8 Milliarden Euro und 15 000 Eingliederungsbeamte zur Verfügung stehen? Was Sie hier vorschlagen,
kann doch eigentlich nicht Ihr Ernst sein.
({2})
Das erinnert mich ein wenig an die britische Kolonialverwaltung, die in der Zeit von 1935 bis 1957 ihr Personal verdreifacht hat, obwohl die Zahl der Kolonien stark
abgenommen hat. Das muss eine sozialdemokratische
Regierung gewesen sein.
({3})
Meine Damen und Herren, ich will, weil das nicht erwähnt worden ist, auf einige Höhepunkte der Instrumentenreform eingehen; ich glaube, das ist wichtig. Wir haben nicht nur die Instrumente gestrafft, sondern haben
auch - das finde ich besonders wichtig - die Mittel für
die freie Förderung deutlich erhöht: Wir haben den Anteil der Eingliederungsmittel, den die Bundesagentur für
die freie Förderung nach § 16 e und f SGB II aufwenden
darf, auf insgesamt 20 Prozent aufgestockt. Das gibt den
Vermittlern vor Ort erheblich mehr Flexibilität.
({4})
Wir haben das Aufstockungs- und Umgehungsverbot herausgenommen. Auch das trägt zu erheblich mehr Flexibilität bei.
Wir haben bei den Arbeitsgelegenheiten - sie sollen
wettbewerbsneutral ausgestaltet sein, zusätzlich geschaf15116
fen werden und im öffentlichen Interesse liegen - die
Rolle der Beiräte gestärkt. Ich bin schon der Meinung,
dass die Beiräte eine wichtige Funktion erfüllen können,
wenn es darum geht, vor Ort zu entscheiden, welche Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden können.
({5})
Wir haben die Senkung der Trägerpauschale auf maximal 150 Euro pro Teilnehmer vom Tisch bekommen.
Die Maßnahmen werden, sofern sie wirtschaftlich effizient sind, nach wie vor gefördert; da gab es große Bedenken bei den Trägern.
Last, but not least - auch das ist mir wichtig; Kollegin
Lösekrug-Möller hat es erwähnt -: Das Jugendwohnen
ist wieder ins Gesetz aufgenommen worden. Verehrte
Frau Kollegin, es war der Arbeitsminister Scholz, der es
herausgenommen hat; wir haben es jetzt wieder hineingenommen. Ich finde das gut. Zudem haben wir eine pädagogische Betreuung installiert.
({6})
Ich finde, darauf kann man einmal stolz sein. Wir
können sagen, wir haben hier eine gute Reform hinbekommen.
({7})
Bei der einen oder anderen Wortmeldung, die ich hier
höre, hatte ich ein wenig den Eindruck, dass die Kritik,
die geübt wurde, weit über das Ziel hinausschießt. Frau
Kollegin Pothmer, das betrifft vor allen Dingen die Kürzung des Gründungszuschusses.
({8})
Ich bin nicht der Meinung - es entspricht auch nicht der
üblichen Diktion -, dass wir damit, wie Sie es formuliert
haben, „die Drecksarbeit der Ablehnung nach unten verlagern“.
({9})
Ich finde, das ist starker Tobak. Ich glaube, die Beamten
und Mitarbeiter vor Ort machen das sehr verantwortlich.
({10})
Frau Pothmer, es ist aber nicht verantwortlich, die Mitnahmeeffekte beim Gründungszuschuss zu leugnen. Sie
könnten sonst auch gleich das Geld unter das Brandenburger Tor legen und sagen: „Nehmt es doch mit!“ So
geht es nicht.
({11})
Letzter Punkt: die private Arbeitsvermittlung. Ich
finde es schon richtig, dass wir mit der privaten Arbeitsvermittlung einen Wettbewerber der Bundesagentur für
Arbeit aufgestellt haben. Ich glaube auch, dass der Wettbewerb der Bundesagentur und den privaten Arbeitsvermittlern guttut. Eine Kollegin hat es bereits gesagt - ich
schließe mich dem nur an -: Vielleicht sind wir eines Tages, am Ende unserer parlamentarischen Laufbahn, froh,
auf einen guten, fähigen privaten Arbeitsvermittler zu
treffen, der uns in einer Notlage weiterhelfen kann.
({12})
Abschließend sage ich: Es ist ein gutes Gesetz, das
den Notwendigkeiten am Arbeitsmarkt Rechnung trägt.
Ich empfehle Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 30 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7065, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung - Drucksachen 17/6277 und
17/6853 - in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Abstimmungsverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/7065 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6454 mit dem Titel
„Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit
orientieren - Weichen für gute Arbeit, Vollbeschäftigung
und Fachkräftesicherung stellen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5526 mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitik neu
ausrichten und nachhaltig finanzieren“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Grünen auf Drucksache 17/6319 mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitik - In Beschäftigung und Perspektiven investieren statt Chancen kürzen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({0}), Petra Crone, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kinderrechte in Deutschland umfassend stärken
- Drucksache 17/6920 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht für die
antragstellende SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die SPD hat einen Antrag „Kinderrechte in Deutschland
umfassend stärken“ eingebracht. Worum geht es uns? In
diesem Jahr feiern wir „22 Jahre UN-Kinderrechtskonvention“. Darin sind alle Rechte von Kindern - gemeint
sind alle Kinder von 0 bis 18 Jahren - niedergelegt. Das
ist übrigens das meistgezeichnete Dokument. Bis auf
zwei Staaten, nämlich USA und Somalia, haben alle die
Konvention gezeichnet und ratifiziert, auch wir.
Wir haben als Staat bei der Zeichnung aber festgelegt,
dass wir bei bestimmten Punkten Vorbehalte, Anmerkungen haben. Das Parlament fand das eigentlich überflüssig und hat immer wieder angemahnt, dies zurückzunehmen. Das Parlament und die Kinderkommission
waren sich darüber einig, dass es auf internationaler
Ebene nicht besonders gut aussieht, wenn Deutschland
bei bestimmten Punkten Ausnahmen machen will. Diese
Ausnahmen betrafen unter anderem Adoptionskinder,
Kindersoldaten, aber auch Flüchtlingskinder. Im Grunde
genommen waren alle Punkte geregelt, bis auf die
Flüchtlingskinder. Das führte jedoch dazu, dass die Vorbehaltserklärung nach wie vor Bestand hatte. Letztes
Jahr ist es gelungen - danke an die Koalition; das muss
ich einfach sagen -, dass sie zurückgenommen wurde.
International hat es uns geholfen, weil endlich gesehen
wurde: Deutschland nimmt es zurück. Ein erster großer
Schritt ist getan.
Jetzt muss der zweite Schritt erfolgen. Wir müssen
die deutsche Gesetzgebung, und zwar die einfache Gesetzgebung, daraufhin überprüfen, ob sie dem entspricht,
was die Kinderrechtskonvention vorschreibt. In der Kinderrechtskonvention gibt es den wunderbaren Art. 3.
Dieser schreibt den Staaten sehr dezidiert vor, dass sie
bei all ihrem Handeln - Ämter, Gerichte, Parlamente vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen haben.
Das ist jetzt notwendig. Das heißt, wir haben die Vorbehalte jetzt zwar zurückgenommen, aber wir haben die
einfache Gesetzgebung keineswegs angepasst. Wir haben die Flüchtlingskinder nicht aufgenommen; mein
Kollege Strässer wird nachher noch etwas zu den Punkten sagen, die dringend überarbeitet gehören. Wir haben
ebenfalls nicht deutlich gemacht, dass wir wollen, dass
die Kinderrechte auch im Grundgesetz als Werteausdruck unserer Gesellschaft wiederzufinden sind, und
zwar mit den Kindern als Rechtssubjekte, nicht nur als
Objekte. Das alles haben wir noch nicht geschafft.
Wir brauchen auch dringend ein klares Konzept für
Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland. Der Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ ist ausgelaufen. Er müsste in allen Politikfeldern unter Beteiligung
aller Kinder und Jugendlichen fortgeschrieben werden;
das ist dringend notwendig. Dabei ist ebenfalls notwendig, dass wir festlegen, wie wir messen, was wir erreicht
haben und ob wir etwas erreicht haben. Ein Monitoringverfahren muss also verankert werden. Auch das ist unser Ziel. Ich glaube, da gibt es bei uns Kinderpolitikern
kaum Unterschiede. Wir Kinderpolitiker wollen das. Es
ist dringend notwendig; denn bei allem muss das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen. Also: Kinderrechte ins
Grundgesetz und Fortführung des Aktionsplans mit einem Monitoringverfahren für Kinder- und Jugendpolitik
in Deutschland.
Ein wichtiger Punkt ist die Beteiligung von Kindern
und die Wahrnehmung der Rechte von Kindern. Wir haben keine Anlaufstellen für Kinder, um Beschwerden
loszuwerden. Darüber haben wir bei den Runden Tischen zum Kindesmissbrauch diskutiert. Dort wurde gefordert - das steht auch im Abschlussbericht -, sogenannte Anlaufstellen oder Ombudsstellen einzurichten,
die im Interesse der Kinder handeln und die Stimme erheben. Diese Aufgabe müssen wir uns als nächstes vornehmen.
Ich glaube, Deutschland muss sich mit dem, was wir
in all den Jahren auf den Weg gebracht haben, nicht verstecken. Das möchte ich hier betonen. Aber wir dürfen
nicht stehen bleiben und sagen, dass wir alles erreicht
haben, sondern wir müssen fragen: Wie muss es weitergehen, damit unsere Kinder so aufwachsen, dass aus ihnen selbstverantwortliche, für die Gesellschaft verantwortliche Menschen werden, die die Demokratie
stärken? Wenn wir das erreichen, haben wir nicht das
Problem, das wir derzeitig feststellen, wenn es um politische Beteiligung geht, nämlich dass sich die Hälfte der
Wahlberechtigten enthält. Das ist meiner Ansicht nach
eine Katastrophe für die Demokratie.
Das kann man ändern, indem man Kindern klarmacht,
dass man sie ernst nimmt, indem man auf Augenhöhe,
Marlene Rupprecht ({0})
kindgerecht und altersgemäß mit ihnen arbeitet und indem man ihre Rechte gut nachlesbar verankert. Das ist
die Aufgabe und die Herausforderung für die nächsten
Jahre. Aus diesem Grund haben wir einen Antrag vorgelegt, von dem wir hoffen, dass er Ihre Zustimmung findet und unterstützt wird, damit wir mit dem, was begonnen wurde, fortschreiten können.
Vielen Dank.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Dr. Peter Tauber.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir
über das Thema Kinderrechte sprechen, wenn wir darüber sprechen, wie wir Kinderrechte umfassend stärken
wollen, so ist es ganz gut, wie es die Kollegin Rupprecht
auch getan hat, die Probleme in den Blick zu nehmen. Es
ist aber auch ganz gut, wenn wir uns einmal darüber verständigen, wie viel Gutes in den letzten Jahren eigentlich
geschehen ist.
Sie haben dankenswerterweise einen Punkt genannt,
nämlich die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zu der
UN-Kinderrechtskonvention. Ich glaube, dass das ein
ganz starkes und wichtiges Signal war, dass wir als politische Entscheidungsträger die Rechte der Kinder ernst
nehmen und dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen wollen.
({0})
Sie wissen aber auch, dass der einzige Punkt, der
noch offen ist, ein bisschen komplizierter ist. Hier geht
es um Kinder, die im Rahmen eines Asylverfahrens nach
Deutschland kommen. Es beginnt bei der Frage, wie die
Identität der Kinder festgestellt werden kann, wenn sie
ohne Papiere einreisen. Hier muss man auch fragen, warum sie keine Papiere haben. Es geht weiter mit der
Frage, ob es eine Verpflichtung zur Ausstellung einer
Geburtsurkunde geben soll. Auch das ist ja eine Forderung, die erhoben wird. Hier muss zunächst einmal gesagt werden, auf welcher Basis denn dann eine Geburtsurkunde ausgestellt werden soll.
Das alles ist also ein bisschen schwieriger und komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Deswegen
rate ich dazu, ein bisschen vorsichtiger zu sein und nicht
frank und frei darüber zu sprechen. Ansonsten könnte
nämlich der Eindruck entstehen, als ob hinter gewissem
staatlichen Handeln böser Wille steht. Das, glaube ich,
ist nicht so. Das kann man zurückweisen. Auch Ihre Partei selbst hat das in der Vergangenheit ja so gewertet,
wenn ich das richtig sehe.
Wir diskutieren dieses Thema nicht erst seit gestern.
Es gab wechselnde politische Mehrheiten in der Frage,
ob die Vorbehaltserklärung überhaupt zurückgenommen
werden kann. Noch 2007 - da waren, wie ich glaube, Sozialdemokraten in der Bundesregierung vertreten herrschte politische Einigkeit, die ausländerrechtliche
Altersgrenze unangetastet zu lassen.
({1})
Insofern warne ich ein wenig vor zu starker Schwarzmalerei. Dadurch entstünde ein völlig falsches Bild. Natürlich liegen uns die Rechte der Kinder, die zu uns kommen, am Herzen.
({2})
Wenn wir jetzt darüber reden, was wir tun können, um
die Rechte von Kindern umzusetzen und zu gewährleisten, dann gehört es auch zur Wahrheit, festzustellen, dass
es nicht allein in unserer Hand liegt. Darüber entscheiden nicht wir als Deutscher Bundestag allein, sondern es
geht hier um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an
der eben auch andere Ebenen beteiligt sind. Religionsunterricht zum Beispiel auch für muslimische Kinder
- diese Forderung haben Sie ja aufgegriffen - ist eine
Aufgabe, der sich die Länder stellen müssen. Das Gleiche gilt für die Vermittlung von Medienkompetenz.
Auch hier sind die Länder und ihre Bildungsplanungen
gefragt.
Ein weiteres Thema, das immer wieder genannt wird,
sind die Beteiligungsrechte. Hier haben wir einiges auf
den Weg gebracht. Hauptgeldgeber bei der Schaffung eines Individualbeschwerdeverfahrens ist die Bundesrepublik, wenn es darum geht, beim zuständigen Ausschuss
für die Rechte des Kindes Beschwerdemöglichkeiten für
Kinder einzurichten.
So schwarz-weiß und so negativ, wie Sie es andeuten,
ist die Welt Gott sei Dank auch in diesem Punkt nicht.
Dieser Aspekt ist mir und meiner Fraktion sehr wichtig;
denn wir müssen ein wenig aufpassen, mit welchem
Duktus wir über Kinder und Jugendliche und ihre Perspektiven in diesem Land reden. Ich halte es schon für
richtig, den Finger in die Wunde zu legen und Probleme
auch zu benennen, statt sie schönzureden, aber in Ihrem
Antrag und zum Teil auch in Ihren Ausführungen suggerieren Sie, dass die Rahmenbedingungen für Kinder und
Familien in diesem Land schlecht seien.
Ein weiteres Problem ist, dass wir uns allzu oft in den
Debatten gegenseitig das Recht absprechen, diese Interessen wirklich in den Blick zu nehmen. Das ist nicht so.
Wir können über die sachliche Angemessenheit eines
Betreuungsgeldes streiten, aber dem anderen zu unterstellen, er sei bei diesen Überlegungen nicht von dem
Bemühen geleitet, die Rechte von Kindern und Familien
in den Blick zu nehmen, geht nicht. Wenn wir das nicht
ändern, dann tun wir Kindern, Jugendlichen und vor allem auch Familien in dieser Gesellschaft keinen Gefallen. Deswegen mahne ich auch bei diesem Punkt ein
bisschen mehr Sachlichkeit in der Debatte an.
({3})
Welcher Eindruck entsteht nämlich? Bei jungen Paaren, die vor der Frage stehen, ob sie sich für Kinder entscheiden, entsteht der Eindruck, dass sie von der Politik,
aber auch von der Gesellschaft selbst alleingelassen werDr. Peter Tauber
den. Ich glaube, dieser Eindruck ist falsch. Wir können
das so definitiv nicht stehenlassen. Denn die Politik hat
in den letzten Jahren an unheimlich vielen Stellen die
Rahmenbedingungen für Familien und damit für Kinder
deutlich verbessert.
({4})
Das beginnt beim Ausbau der Betreuungsangebote.
Sie wissen, dass der Bund die Kommunen und die Länder hierbei mit einem unglaublich umfangreichen Programm, dem Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz, unterstützt, sowohl bei den investiven Maßnahmen im
Gebäudebereich als auch bei den laufenden Betriebskosten. Wir werden dafür ab 2014 weiterhin 770 Millionen
Euro jährlich zur Verfügung stellen.
Es geht weiter mit der Unterstützung und dem stärkeren Einsatz von Familienhebammen; auch dies ist ein
ganz wichtiges Instrument, das wir den Familien an die
Hand geben wollen.
({5})
Ein weiterer Aspekt ist das Bundeskinderschutzgesetz,
das wir auf den Weg bringen. Zudem bleiben trotz der
Sparbemühungen im Hinblick auf den Bundeshaushalt
die Mittel des KJP weitgehend ungekürzt.
({6})
Lediglich im Bereich der Bürokratie sparen wir ein. Die
Leistungen für die Verbände und damit für die Kinder
und Jugendlichen bleiben gleich; auch dies ist ein ganz
wichtiges und starkes Signal.
({7})
Hinzu kommt die Offensive „Frühe Chancen“ zur
Sprach- und Integrationsförderung. In diesem Rahmen
stellen wir für 4 000 Schwerpunktkitas Sprache & Integration 400 Millionen Euro bereit.
({8})
Auch durch die Erhöhung des Kindergeldes werden die
Familien gestärkt.
({9})
Damit stärken wir auch das Recht der Kinder, in einer
Familie groß zu werden. An dieser Stelle sei darüber hinaus die Initiative „Jugend stärken“ erwähnt.
Da ich eben vonseiten der Sozialdemokraten den
Zwischenruf gehört habe,
({10})
ich würde nicht zum Thema reden, sage ich Ihnen: Ich
rede sehr wohl zum Thema. Denn all diese Maßnahmen
tragen am Ende dazu bei, dass Kinder in diesem Land so
groß werden können, wie wir alle es uns wünschen; man
könnte auch sagen: glücklich und behütet.
({11})
Die Maßnahmen, die ich erwähnt habe, helfen dabei.
Deswegen gehören sie in diese Rede.
Ich könnte ferner das Bildungspaket, das Kindern und
Jugendlichen die Teilhabe an unserer Gesellschaft ermöglichen soll, erwähnen.
({12})
Zum Beispiel wollen wir Kindern den Zugang zur digitalen Welt ermöglichen. Die Projektgruppe Medienkompetenz der Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ unter Leitung von Thomas Jarzombek hat
einen wunderbaren Vorschlag gemacht, um allen Kindern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, digitale
Kompetenzen zu vermitteln: Jedem Schüler soll künftig
ein Laptop zur Verfügung gestellt werden.
Wir versuchen, die Menschen, die mit jungen Leuten
zu tun haben, fit zu machen, zu qualifizieren und auszubilden. Hierbei spielen die Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte und die Medienqualifizierung für Erzieherinnen und Erzieher im Netzwerk Frühkindliche
Bildung mit dem wunderbaren Namen BIBER eine
wichtige Rolle.
Ein weiteres Element ist das Elterngeld, das ermöglicht, dass Familie in diesem Land ganz anders gelebt
werden kann und Väter ihrer Verantwortung stärker gerecht werden können; auch darauf haben Kinder nämlich
ein Recht. Außerdem sind wir der Auffassung, dass Kinderlärm keine Belästigung, sondern Zukunftsmusik ist.
Auch dies muss man deutlich sagen. Das gehört dazu,
wenn wir über Kinderrechte in dieser Gesellschaft reden.
({13})
Ich habe eine Menge politischer Maßnahmen aufgelistet.
({14})
Ich persönlich bin der festen Überzeugung: Wenn wir
über Kinderrechte reden, dann geht es in allererster Linie
darum, dass Kinder ein Anrecht auf Liebe und Fürsorge
oder, wie es der Heilige Vater gestern gesagt hat, auf ein
hörendes Herz haben. Das kann die Politik nicht verordnen. Das können nur die Eltern ihren Kindern geben.
({15})
Zum Schluss ist mir wichtig, Folgendes festzustellen:
In diesem Land haben Kinder trotz vieler Probleme alle
Chancen. Es gibt nur wenige Länder auf dieser Erde, in
denen Kinder unter solch guten Rahmenbedingungen heranwachsen können und in denen sie solch gute Perspektiven haben. Wenn wir dies den jungen Menschen nicht
zurufen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn
sich zu wenige von ihnen für ein eigenes Kind entscheiden.
Aus meiner Sicht haben Kinder vor allem ein Recht:
das Recht auf liebende und fürsorgliche Eltern. Weit
über 80 Prozent der Eltern in diesem Land machen einen
guten Job.
({16})
In einer Diskussion über Kinderrechte muss man zunächst einmal ihnen herzlich Dank sagen. Sie machen
das besser als wir, wenn wir nur reden und Regelungen
ins Grundgesetz schreiben. Das hilft den Kindern selten.
Die Kinder brauchen Eltern, die sich um sie kümmern.
({17})
Viele von ihnen machen das ganz toll. Ihnen gilt es
Danke zu sagen.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Das sagen nicht nur viele Kolleginnen und
Kollegen hier im Haus, das sagt auch das Bundesverfassungsgericht. Ich bin der Meinung, dass diese Auffassung endlich auch eine Mehrheit hier im Haus bekommen sollte, mit der Folge, dass Kinderrechte im
Grundgesetz verankert werden.
({0})
Ein achtjähriger Junge hat mir gegenüber bei einem
Workshop einmal den Satz geprägt: Kinderrechte sind
das, was Kinder brauchen, damit es ihnen gut geht. - Ich
finde, treffender kann man es gar nicht formulieren.
Doch was so einfach klingt, scheint schwer in die Realität überführbar zu sein; denn sonst würden wir uns heute
nicht zum ich weiß nicht wievielten Mal im Parlament
mit diesem Thema befassen.
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich der Blick auf die
Kinder in unserer Gesellschaft verändert hat. Bei diesem
veränderten Blick auf die Kinder merken wir natürlich
auch, welche Aufgaben alle noch vor uns liegen.
1992 - Marlene Rupprecht hat es gesagt - wurde die
UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesrepublik
ratifiziert. Das ist ziemlich lange her. Doch Deutschland
ist heute nach wie vor weit davon entfernt, ein wirklich
kinderfreundliches Land zu sein.
Schauen wir uns die Probleme einmal an: wachsende
Kinderarmut, Bildungsungerechtigkeit, fehlende Beteiligungsrechte für Kinder und die nach wie vor bestehende
massive Verletzung der Rechte von Flüchtlingskindern.
Ja, die Bundesrepublik hat nach langer Debatte endlich
den letzten Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen, der die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge betraf. Aber in der Praxis hat sich
nichts geändert.
Die Aussage von 1992, dass sich die Bundesrepublik
vorbehalte, Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen, war weder 1992 tragbar, noch ist sie
es heute.
({1})
Die betroffenen Kinder sind vor Krieg, Gewalt, drohender Zwangsrekrutierung, drohender Zwangsverheiratung,
Verfolgung und Beschneidung geflüchtet. Sie kommen
zum Teil nach einer dramatischen Flucht in Deutschland
an, erhalten aber nach wie vor nicht das, was wir deutschen Kindern ohne Vorbehalte zubilligen, indem wir ihnen Rechte und einen Rechtsbeistand an die Seite stellen.
Es fängt doch schon damit an, dass Kinder ab 16 Jahren
auch nach der Rücknahme des Vorbehaltes ein Asylverfahren ohne Beistand durchstehen müssen, dass sie in
vollgestopften Sammelunterkünften untergebracht werden, dass sie nur die notdürftigste Gesundheitsversorgung haben und dass sie in Abschiebehaft genommen
werden. Das ist ein unhaltbarer Zustand!
({2})
Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder - und
nach der UN-Kinderrechtskonvention sind es Kinder,
Herr Dr. Tauber, auch wenn sie 16 oder 17 Jahre alt sind;
die UN-Kinderrechtskonvention gilt für alle Kinder unter 18 Jahren - auch als solche behandelt werden, und
zwar menschenwürdig und ihrer Situation entsprechend.
Wir wollen keine reine Symbolpolitik anstelle von
tatsächlicher Umsetzung. Wir wollen, dass das deutsche
Asylrecht, das Aufenthaltsrecht, das Asylverfahrensrecht und das Sozialrecht endlich angepasst werden und
dass die Rücknahme des Vorbehaltes endlich in die Gesetzgebung einbezogen wird.
({3})
Wir bleiben dabei: Kinderrechte müssen für alle Kinder gelten. Aber das bezieht sich auch auf andere Bereiche in unserer Gesellschaft. Ich habe das Thema gerade
schon einmal kurz angesprochen, nämlich Kinderarmut.
2,6 Millionen Kinder in Deutschland leben auf Armutsniveau. Die Regelsätze der Grundsicherung für Kinder
sind nicht an den Bedarfen von Kindern orientiert. Sie
reichen nicht für gesunde Ernährung, Beiträge für Sportvereine oder Musikunterricht, ganz zu schweigen von
Kino- oder Theaterbesuch. Das wollte die Bundesregierung durch das großangekündigte sogenannte Bildungsund Teilhabepaket regeln. Aber wie jeder weiß: In der
Praxis ist es ein Flop. Es ist bürokratisch und lebensfern.
Die Nachweispflicht und die ständige gesonderte Beantragung drangsalieren die betroffenen Eltern. Zudem
grenzt es Kinder nach wie vor vom freien und vor allem
gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesellschaft
aus. Das ist genau das Gegenteil von dem, was die UNKinderrechtskonvention einfordert.
Seit Jahren wird die Bundesrepublik vom UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder kritisiert, weil hier, wie
in kaum einem anderen Industrieland, der soziale Status
der Elternhäuser über Schullaufbahn und Bildungserfolg
entscheidet. Die Bundesrepublik sagt zwar in ihrem letzten Staatenbericht, Kinder und Jugendliche haben ihre
eigenen Rechte, aber davon ist in der praktischen Umsetzung und in der praktischen Politik nichts zu sehen.
Ich wiederhole es daher: Kinder sind keine kleinen
Erwachsenen. Um Kindern einklagbare Rechte zu verleihen, ist es überfällig, den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention zu folgen und Kinderrechte auf
Schutz, Förderung und Beteiligung im Grundgesetz zu
verankern.
Im April nächsten Jahres jährt sich die Ratifizierung
durch Deutschland zum 20. Mal. Ich fände das einen guten Anlass dafür, dass Deutschland hier einen deutlichen
Schritt vorwärtsgeht. Die Kinder warten darauf.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Miriam Gruß.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich gebe es zu: Der Antrag der SPD
klingt sympathisch. Er beinhaltet aber nur wenig Neues.
Deswegen möchte ich anhand von drei Punkten aufzeigen, wie wir die Kinderrechte in Deutschland konkret
gestärkt haben und weiterhin stärken:
Erstens: die UN-Kinderrechtskonvention; sie ist jetzt
schon mehrfach angesprochen worden. Sie wurde im
Jahre 1992 mit einer Vorbehaltserklärung ratifiziert. Es
war diese Bundesregierung, die die Vorbehalte 2010 zurückgenommen hat. Insofern freut mich die Anerkennung von dir, Marlene, in diesem Punkt.
({0})
Ich finde wirklich, ein besseres Zeichen der Kinderfreundlichkeit konnten wir in dieser Regierung fast nicht
setzen. Das hat vorher nämlich keine Regierung hinbekommen.
Es war stets die Auffassung aller Bundesregierungen,
dass die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, insbesondere der Schutz der Flüchtlingskinder nach Art. 22,
in Deutschland ohne Einschränkung umgesetzt werden
sollten. Mit der Rücknahme der Erklärung entsteht deshalb auch keine Notwendigkeit, das innerstaatliche
Recht zu verändern. Die Forderung nach einer Änderung
des Asylrechts läuft also ins Leere.
({1})
Im Übrigen haben wir in Bayern in vorbildlicher Weise
einiges zugunsten der Familien verändert, die hier in
schlimmen Unterkünften hausen mussten.
Die Vertragsstaaten der UN-Kinderrechtskonvention
haben sich außerdem verpflichtet, dem Generalsekretär
der UN Berichte über entsprechende Maßnahmen und
die dabei erzielten Fortschritte vorzulegen. Wenn die
SPD jetzt einen EU-Staatenbericht fordert, dann ist das
also kein Mehrwert, sondern etwas, was von den Vertragsstaaten bereits geliefert wird. Eines ist aber ganz
entscheidend: Mit der Rücknahme haben wir gezeigt,
dass das Kindeswohl im Mittelpunkt unserer Politik
steht.
Zweitens: das Individualbeschwerdeverfahren. Rechte
ohne Durchsetzungsverfahren sind nichts wert. Deshalb
freut es mich, dass auf unsere Initiative hin erreicht
wurde, dass der UN-Menschenrechtsrat im Juni 2011
dem Entwurf des Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention zur Errichtung eines Individualbeschwerdeverfahrens zugestimmt hat. Damit bekommen die Kinder
ganz individuell ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie
sich gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren können.
Mit dem Individualbeschwerdeverfahren können Kinder und Jugendliche ihre Rechte im UN-Ausschuss für
die Rechte des Kindes in Genf rügen, und das - darauf
wurde Wert gelegt - im kindgerechten Verfahren. Es war
unsere Regierung, die diesen Antrag gemeinsam mit
neun anderen Staaten beim Menschenrechtsrat eingebracht hat.
Drittens: Debatte zum Thema „Kinderrechte ins
Grundgesetz“. Ich mache kein Hehl daraus und stehe
nach wie vor dazu: Als Mitglied der Kinderkommission
- ich gehöre ihr nach wie vor an, wenn auch nur als stellvertretendes Mitglied - bin ich dafür, dass Kinderrechte
ins Grundgesetz aufgenommen werden.
({2})
Leider hat sich in unserer Koalition keine Mehrheit dafür
finden können, aber ich mache mich persönlich nach wie
vor dafür stark.
({3})
Die Kinderrechte müssen in Deutschland umfassend
gestärkt und weiter bekannt gemacht werden. Es gibt
aber auch die Möglichkeit - darauf haben wir uns verständigt, und das hat auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden -, unterhalb der Ebene des Grundgesetzes
Kinderrechte zu stärken, und das tun wir.
Das beste Beispiel dafür ist der Kinderlärm; das ist
schon angesprochen worden. Wir haben erreicht, dass
Kinderlärm kein Grund mehr zur Klage ist. Tatsächlich
gilt der alte Spruch der Kinderkommission: Für uns ist
Kinderlärm jetzt endlich Zukunftsmusik. - Kinderlärm
darf nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden.
Kinder haben ein Recht auf kindertypischen Lärm, und
das ist gut so. Das ist das beste Beispiel dafür, dass wir
auch unterhalb der Ebene des Grundgesetzes eine Menge
für die Rechte von Kindern tun konnten und getan haben.
({4})
Für die Grünen hat jetzt die Kollegin Katja Dörner
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wenn man der Rede von Herrn Tauber
lauscht, könnte man glatt meinen, man sei bei Alice im
Wunderland.
({0})
Das ist aber nicht der Fall. Ich werde in meiner Rede
darlegen, dass die Wirklichkeit dieser Bundesregierung
durchaus etwas anders aussieht.
Fakt ist nämlich: Die Stärkung der Kinderrechte steht
nicht weit vorne auf der Agenda, wenn sie bei dieser
Bundesregierung überhaupt vorkommt. Die Ministerin
hat ganz lapidar verkündet: Die UN-Konvention ist in
Deutschland voll umgesetzt. Es gibt überhaupt keinen
Handlungsbedarf. - Der Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ ist ausgelaufen. Er wurde sangund klanglos beerdigt. Es soll keinen Nachfolgeplan geben. Ein Lichtschimmer an Aktivität - das haben wir
heute schon gehört -, die Rücknahme der Vorbehaltserklärung, verlischt letztlich ohne Wirkung, weil die Rücknahme ausdrücklich keine konkreten Folgen haben soll.
Ich finde, das ist eine Farce.
({1})
Die Bundesregierung dreht im Zusammenhang mit
der Rücknahme der Vorbehaltserklärung und den Folgen
für die minderjährigen Flüchtlinge ganz seltsame Pirouetten. Das kann man in der Antwort auf unsere Kleine
Anfrage zur Situation und zur Stärkung der Kinderrechte
sehr schön nachlesen.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Wir haben gefragt,
ob alle 16- und 17-jährigen Jugendlichen nach Auffassung der Bundesregierung Kinder im Sinne der Konvention seien. Die Antwort - Zitat -:
Ja, weil Artikel 1 der VN-Kinderrechtskonvention
das so bestimmt.
Wir haben weiter gefragt, ob alle 16- und 17-jährigen Jugendlichen die gleichen Rechte haben. Antwort: Ja,
… soweit nicht die gesetzlichen Regelungen zwischen deutschen und ausländischen Staatsangehörigen differenzieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passt vorne und
hinten nicht zusammen.
({2})
Entweder haben alle unter 18-Jährigen die Rechte, wie
sie in der Kinderrechtskonvention dargelegt sind, oder
wir unterscheiden nach Staatsangehörigkeit. Letzteres ist
aber der Kinderrechtskonvention zufolge überhaupt
nicht zulässig.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention längst selbst
dazu verpflichtet, minderjährige Flüchtlinge eben nicht
wie Erwachsene zu behandeln. Wir Grünen fordern ganz
klar, endlich die notwendigen Änderungen im Asyl-, im
Aufenthalts- und im Sozialrecht vorzunehmen. Die unselige Geschichte dieser Vorbehaltserklärung sollte und
muss endlich voll und ganz ein Ende haben.
({3})
Wir hören und lesen sehr oft den Satz: Kinder sind
unsere Zukunft. Das stimmt. Kinder sind aber bei weitem nicht nur unsere Zukunft, sondern Kinder sind heute
und jetzt. Kinder haben heute und jetzt eigene Rechte,
und zwar aus sich selbst heraus. „Kinder haben was zu
sagen“ - das ist auch das Motto des diesjährigen Weltkindertages. Wir müssen uns alle selber fragen, wo wir
Kinder zu Wort kommen lassen. Wo und wie beziehen
wir selbst die Perspektive von Kindern in unser eigenes
Arbeiten, in die Gesetzgebung mit ein?
Die Kinderkommission, der ich selber angehört habe,
leistet hier einen ganz wichtigen Beitrag als - im besten
Sinne - Lobby für Kinder im Bundestag. Aber auch die
Bundesregierung ist gefragt - vor allem nach den großen
Ankündigungen, die zu diesem Thema im Koalitionsvertrag zu lesen sind, die aber bisher keine besonderen Auswirkungen hatten -, echte Beteiligungs- und Partizipationsverfahren zu schaffen und auch anzuwenden.
Ähnlich verquer wie bei der Vorbehaltserklärung argumentieren Bundesregierung, CDU/CSU und FDP bei
der Frage der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Die Argumentation läuft nach dem Motto: Das
brauchen wir nicht, das hätte sowieso keine Folgen. Ich frage mich: Warum gibt es diesen Widerstand gegen
eine Maßnahme, die nach eigener Angabe sowieso keine
Folgen hätte?
({4})
Die Antwort ist ganz simpel: weil Sie es selber besser
wissen.
In der UN-Kinderrechtskonvention ist eine klare Anforderung formuliert. Ich möchte Art. 3 dieser Konvention zitieren:
Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen … ist
das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
Diesem Vorrangprinzip kann unserer Meinung nach
durch nichts mehr Durchschlagskraft verschafft werden
als durch die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Deshalb ist diese Aufnahme überfällig.
({5})
Ich mache der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen einen Vorschlag: Sie machen das einfach so
wie bei der Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Wir erarbeiten zusammen einen Gesetzentwurf zur Aufnahme
der Kinderrechte ins Grundgesetz.
Die Opposition unterstützt das alles und verschafft die
für die Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit. Die rechte Seite des Hauses sagt einfach weiterhin: Das hat keine Folgen. Die linke Seite des Hauses
macht dann etwas daraus.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Norbert Geis das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich gehe gleich auf die Forderung
ein, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Man
kann zwar darüber diskutieren, aber denken Sie daran,
dass die Menschenrechte für alle Menschen gelten und
deshalb auch für die Kinder; denn Kinder sind ebenfalls
Menschen. Wer bezweifelt, dass die Menschenrechte für
alle Menschen Geltung haben, der bezweifelt ihre Reichweite.
({0})
Dies ergibt sich letztlich auch aus der Konvention der
Vereinten Nationen vom 20. November 1989, die die
Rechte der Kinder hervorhebt. Darin wird betont, dass
das Kind von Anfang an eine Person ist und eine eigene
Würde hat, wie jeder andere Mensch auch.
Deshalb ist es nach meiner bescheidenen Auffassung
und auch nach Auffassung vieler anderer nicht notwendig, diese Rechte eigens in das Grundgesetz aufzunehmen. Das würde unter Umständen sogar, statt einen Akzent zugunsten der Kinder zu setzen, zum Nachteil der
Kinder wirken, wenn nicht alles so im Grundgesetz niedergelegt wird, wie wir uns das vorstellen, was die Frage
angeht, welche Rechte Kinder haben.
({1})
Deswegen warne ich davor, solche Rechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Sie sind schon im Grundgesetz enthalten.
({2})
Der Vorrang des Wohles des Kindes ist - das liegt in der
Natur der Sache - schon im Grundgesetz niedergelegt.
({3})
Die UN-Konvention vom 20. November 1989 über
die Rechte des Kindes ist deshalb entstanden, weil man
festgestellt hat, dass die Kinder weltweit am ehesten und
als Erste darunter zu leiden haben, wenn es zu Hungersnöten, Epidemien und Konflikten kommt.
Es gibt aber auch andere interessante Aspekte in der
Konvention, mit denen man sich ebenfalls beschäftigen
muss. Das Übereinkommen stellt nämlich klar, dass, wie
Sie vorhin schon richtig gesagt haben, Kinder keine Erwachsenen im Kleinformat sind, sondern das Recht auf
Erziehung haben. Dazu gehören eine liebende Umgebung und das Recht, angenommen zu werden. Dass sie
das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern haben, steht in
der Konvention. Das hat weitreichende Folgen, die ich
gleich noch darlegen werde. Ich weiß jetzt schon, dass
Sie nicht mit allem einverstanden sein werden.
({4})
Sie haben das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern.
({5})
Das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern ist im Übrigen auch durch ein interessantes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. April 2008 herausgestellt worden. Darin wird festgestellt, dass die Eltern nach Art. 6
Grundgesetz die Pflicht haben, Kinder zu erziehen, dass
aber daraus auch folgt - das kommt in Art. 6 Grundgesetz nicht direkt zum Ausdruck -, dass die Kinder ein
Recht darauf haben, dass die Eltern sie erziehen.
({6})
- Ich habe Sie nicht verstanden. Sie müssen eine Zwischenfrage stellen; sonst kann ich nicht darauf eingehen.
({7})
- Wenn Sie das nicht wollen. Sie werden es mir sicherlich nicht übelnehmen, wenn ich meine Redezeit ausnutze.
({8})
- Dann ist es ja gut. Aber die Schmerzen, die Sie bereiten, sind manchmal kaum noch zu ertragen.
({9})
Am besten geht man dann hinaus.
Aber wir wollen jetzt nicht über Schmerzfreiheit reden, sondern über Kinderrechte. Wenn es richtig ist, dass
die Kinder ein Recht darauf haben, von ihren Eltern erzogen zu werden, wie es im Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2008 und in der Konvention aus dem Jahr
1989 festgestellt wird, dann ist es auch richtig, dass die
Familien stärker in den Fokus gelangen. Wir müssen die
Familien stärker ins Blickfeld nehmen. Kinder können
nämlich nur dann richtig erzogen werden, wenn ihre Familien funktionieren.
({10})
Bei manchen Äußerungen hat man das Gefühl - ganz
und gar nicht bei Ihren, Frau Rupprecht -, dass die Eltern geradezu gefährlich sind für die Erziehung der Kinder, dass man alles dem Staat überlassen muss
({11})
und dass man die Kinder - ich weiß, dass Sie jetzt widersprechen - möglichst schnell in die Kita geben muss, damit sie dort ordentlich erzogen werden. Das ist falsch.
({12})
- Ich weiß, dass das Ihren ideologischen Vorstellungen
durchaus nicht entspricht. ({13})
Alle Gutachten bestätigen dies.
({14})
- Sie kennen sie nicht, und Sie lesen sie nicht, weil Sie
bereits eine ideologische Schranke haben.
({15})
Das ist ja das Problem. Man kann sich mit Ihnen überhaupt nicht darüber unterhalten. Sie regen sich bei diesem Thema sofort auf und gehen hoch wie ein
HB-Männchen. Man kann mit Ihnen überhaupt nicht ordentlich diskutieren. Sie degradieren dieses Parlament
geradezu zum Kindergarten. Das ist wirklich wahr.
({16})
- Der Papst hätte mir nicht widersprochen.
Lassen Sie mich wenigstens noch ein paar Gedanken
dazu äußern. Vielleicht haben Sie die Geduld, das wirklich einmal anzuhören.
Ich wiederhole: Wenn es richtig ist, dass die Kinder
einen Anspruch darauf haben, von ihren Eltern erzogen
zu werden - das haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die UN-Kinderrechtskonvention festgestellt -, dann müssen wir die Voraussetzungen dafür
schaffen. Wir müssen akzeptieren, dass die Erziehung
durch die Eltern die Regel ist. Wir müssen dort eingreifen, wo Ausfälle sind. Es gibt Ausfälle in der Bundesrepublik Deutschland, etwa bei 5 Prozent der Kinder. Wir
müssen stärker auf unterer Ebene, durch die Jugendämter, dafür Sorge tragen - ich weiß nicht, ob man das ganz
und gar gesetzlich regeln kann; wahrscheinlich ist das
nicht möglich -, dass die Elternkompetenz gestärkt wird
- das ist der nächste und wichtigste Schritt -, damit die
Kinder in den ersten beiden Lebensjahren bei ihren Eltern bleiben können. Es gibt genug Gutachten darüber,
dass die Kinder in den ersten zwei Jahren die Nähe der
Mutter und die Nähe des Vaters mehr als sonst in ihrem
Leben brauchen. Diese Nähe ist so wichtig wie die tägliche Nahrung.
Sie sagten, wir hätten zu wenig zustande gebracht.
Man kann natürlich immer kritisieren. Denken Sie einmal daran, dass wir 1998 das neue Kindschaftsrecht geschaffen haben. Durch die Neuregelung wurde das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ganz entscheidend
geändert. Das wird allerseits anerkannt. Für die damalige
Neuregelung war Edzard Schmidt-Jortzig verantwortlich. Er hat sich dadurch sicherlich große Verdienste erworben.
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen.
Wir haben uns natürlich auch um die gewaltfreie Erziehung der Kinder zu bemühen. Auf Initiative der damaligen Justizministerin Däubler-Gmelin hat das Parlament
im Jahre 2000 im BGB verankert, dass Kinder gewaltfrei
zu erziehen sind. Auch daran wird deutlich, dass man im
Hinblick auf die Rechte des Kindes vieles bedacht hat.
Unser größtes Problem im Augenblick ist der sexuelle
Missbrauch. Hierzu gab es einen Runden Tisch. Dieser
Runde Tisch hat, wie ich meine, wirklich gute Vorschläge gemacht, die auch aufgenommen worden sind
und im Kinderschutzgesetz niedergelegt werden sollen.
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Am nächsten
Montag findet dazu eine Anhörung statt. Deswegen will
ich mich gar nicht über all das ausbreiten, was vorgesehen ist. Ich meine, dass wir mit einer Novellierung des
Kinderschutzgesetzes vor allen Dingen in dem Versuch
einen Schritt weiterkommen, die Kinder vor dem Verbrechen des sexuellen Missbrauchs zu schützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gut,
sich darüber zu streiten. Ich hoffe, dass wir trotz des
Streits zu einem gemeinsamen Weg finden.
Danke schön.
({17})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph
Strässer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Geis, ich glaube, Ihr Exkurs
in das Verfassungsrecht, was den Art. 6 des Grundgesetzes angeht, beruht auf einem Verständnis des Gewollten,
das fundamental anders ist als das, was Sie in diese Bestimmung hineinzuinterpretieren versuchen. Niemand
hier braucht eine Belehrung darüber, dass Kinder Persönlichkeiten sind, Persönlichkeitsrechte haben und den
Schutz des Grundgesetzes genießen - schon jetzt.
Darüber kann und darf es keinen Streit geben. Aber
das, was mit der geplanten Änderung des Art. 6 des
Grundgesetzes geplant und gewollt ist, bezieht exakt das
ein, was im Prinzip alle Rednerinnen und Redner vorgetragen haben, nämlich dass Kinder eines besonderen
Schutzes bedürfen, dass Kinder in bestimmten Situationen eben nicht mit eigener Stimme sprechen können und
dass sie deshalb mehr als alle anderen auf staatlichen
Schutz angewiesen sind. Kinder bedürfen daher nach
meiner Überzeugung des Schutzes des Art. 6 GG.
({0})
Da das alles sehr theoretisch klingt, möchte ich auf
die Praxis zu sprechen kommen.
({1})
- Ich bin mir nicht sicher, ob das verfahrensmäßig geht.
Natürlich geht das. Wenn Sie es zulassen, kann der
Kollege Geis Ihnen eine Zwischenfrage stellen. - Bitte
schön.
Ich will nur darauf hinweisen - ich denke, dass Sie
mit mir darin übereinstimmen -, dass ich versucht habe,
genau den Inhalt des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. April 2008 wiederzugeben. Danach haben
die Eltern die Verpflichtung, ihre Kinder zu erziehen.
Aber darauf begründet sich auch das Recht der Kinder
auf Erziehung gegenüber den Eltern. Insofern meine ich,
dass das, was Sie wollen, durch das Bundesverfassungsgericht ordentlich ausgelegt worden ist.
Es gibt einen Brief des ehemaligen Bundespräsidenten und Verfassungsgerichtspräsidenten Roman Herzog
an die Bundeskanzlerin, in dem er klar darlegt, dass aufgrund dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine
Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nicht
erforderlich ist.
Ich will die hektische Debatte nicht fortführen, sondern nur das darlegen, was weder Sie noch offenbar Herr
Herzog richtig wahrgenommen haben. Es geht nicht um
das Recht eines jeden Kindes auf Erziehung, sondern darum, dass Kinder aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit eines besonderen Schutzes bedürfen und dass
dieser im Rahmen einer gesamtstaatlichen Regelung am
besten gewährleistet ist, wenn man ihre Rechte in das
Grundgesetz aufnimmt. Ich füge als jemand, der der
Meinung ist, dass man mit der Aufnahme von Rechten in
das Grundgesetz sehr restriktiv umgehen sollte, hinzu:
Was ist nicht alles in den letzten Jahren geregelt worden!
So ist der Tierschutz in Art. 20 a im Grundgesetz verankert worden. Zudem ist geplant, Sport, Kultur - und was
weiß ich noch alles - als Staatsziele aufzunehmen. Angesichts dessen kann man meiner Meinung nach nicht
ernsthaft darüber streiten, ob Kinderrechte den gleichen
Verfassungsrang haben sollen wie die Staatsziele Sport
und Kultur. Dann muss man erst recht die Kinderrechte
aufnehmen. Vielleicht sollte man danach aufhören, das
Grundgesetz weiter auszudehnen. Aber die Kinder brauchen einen im Grundgesetz verankerten Schutz. Dabei
bleibe ich.
({0})
Sie haben schon sehr oft auf die Kinderrechtskonvention verwiesen. Art. 3 der Kinderrechtskonvention hat
aus meiner Sicht genau das, was wir im Hinblick auf das
Grundgesetz einfordern, nämlich Verfassungsrang. Das
sollte auch in der deutschen Rechtsordnung so sein.
Dann könnten wir uns vielleicht andere Sachen sparen.
Aber wir kämpfen noch immer darum, dass Art. 3 der
Kinderrechtskonvention, in dessen Zentrum das Wohl
des Kindes steht, in der Gesetzgebung dieser Regierung
und dieser Koalition Berücksichtigung findet.
Ich will deutlich auf das Recht derjenigen Kinder hinweisen, die im Gegensatz zu vielen anderen Kindern in
Deutschland - der überwiegenden Mehrheit geht es gut;
das will ich nicht bestreiten; man wäre völlig verrückt,
wenn man das täte - weniger Rechte haben. Diese Kinder bedürfen auch eines besonderen Schutzes durch die
Ausgestaltung der einfachgesetzlichen Regelungen.
Herr Kollege Strässer, die Kollegin Deligöz möchte
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie es erlauben.
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Strässer, können Sie mir bestätigen,
dass Herr Herzog im Jahre 2006 - das habe ich soeben
im Internet gelesen - gemeinsam mit National Coalition
eine Erklärung in der Akademie der Künste in Berlin abgegeben hat, in der er fordert, Kinderrechte im Grundge15126
setz aufzunehmen? Das bestätigt alle Thesen, die Sie gerade vorgetragen haben.
({0})
Da ich nach der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages nicht befugt bin, am Rednerpult das Internet zu nutzen, gehe ich davon aus, dass die Quelle richtig zitiert ist. Mich würde auch verwundern, wenn Herr
Herzog etwas anderes vertreten hätte; denn er ist in der
von Ihnen erwähnten National Coalition höchst aktiv.
Ich bestätige das also, ohne es zu wissen. Ich glaube, es
stimmt.
({0})
Ich möchte gerne noch einmal auf die Regelung der
besonders schutzbedürftigen Kinder zurückkommen - sie
ist hier angesprochen worden -, die ohne Pass nach
Deutschland kommen. Sie, Herr Kollege Tauber, beklagen, dass sie keinen Pass haben. Wenn sie mit einem
Pass an die deutsche Grenze kämen, würden sie zurückgewiesen, weil sie dann keine Flüchtlinge wären. Das alles sind Widersprüche, die hier jetzt keine Rolle spielen.
Herr Dr. Stadler, ich glaube, dass die Regelung in § 12
Asylverfahrensgesetz, wonach auch ein Ausländer, der
das 16. Lebensjahr vollendet hat, zur Vornahme von Verfahrenshandlungen fähig ist, nicht in Übereinstimmung
mit der Kinderrechtskonvention steht, insbesondere
nicht mit Art. 20 und 22. Dort wird nämlich differenziert
zwischen Kindern, die in Deutschland leben, und Kindern, die nach dem Schutzrecht der internationalen Konvention geschützt werden. Hier wird die Grenze bei
18 Jahren gezogen.
Es gibt den Einwand, dass es in Deutschland Bereiche
gibt, in denen das Alter von 18 auf 16 Jahre gesenkt worden ist. Aber § 12 Asylverfahrensgesetz ist Verfahrensrecht. Verfahrensrechte sind Schutzrechte. Im Rechtsstaat wird Schutz durch das Verfahrensrecht gewährt.
Wenn man Kindern, die in diesem Alter nach Deutschland kommen, diesen Verfahrensschutz nimmt oder ihn
relativiert, dann verstößt das für mich ganz klar gegen
die Regeln der internationalen Kinderrechtskonvention.
Das muss geändert werden.
({1})
Ich glaube, dass auch an anderen Stellen viel nachzubessern und viel nachzuholen ist. Das betrifft insbesondere die Frage: Was passiert eigentlich mit Kindern, die
zum Beispiel mit dem Flugzeug in Frankfurt ankommen
und um Asyl bitten? Kann man auf diese Kinder wirklich das Flughafenverfahren anwenden? Können Kinder
in diesem Alter, die ohne Schutz, ohne Beistand, ohne
vernünftige Betreuung sind und die keine Schulbildung
haben, diesem Verfahren unterzogen werden? Nein, an
dieser Stelle waren wir froh über die Rücknahme. Wenn
es aber bei einem Placeboeffekt bleibt, dann machen wir
nicht mit. Wir werden Sie weiterhin mit Initiativen - in
Anführungszeichen - belästigen, um die Kinderrechte
und die Kinderrechtskonvention auch materiell in
Deutschland durchzusetzen.
Danke schön.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nachgesehen: Zum 18. Mal in dieser Legislaturperiode diskutieren wir heute das Thema Kinderrechte.
({0})
- Dies ist ein wichtiges Thema, völlig zu Recht. - Grob
überschlagen sind das etwa 13 Stunden Diskussion über
die Rechte der Kinder. Wenn man die Diskussionszeit
der vergangenen Legislaturperioden dazu zählt, haben
wir mehrere Tage über die Rechte von Kindern gesprochen. Das ist zunächst einmal - da haben Sie völlig
recht - ein gutes Zeichen; denn es zeigt, dass uns allen
- das ist einer der beliebtesten Sätze aus all diesen Debatten - die Rechte von Kindern am Herzen liegen.
Wenn man sich einige der bisherigen Debatten einmal
anschaut, dann muss man etwas schmunzeln, besonders
über die Debatten, bei denen Redner aller Fraktionen am
Rednerpult stehen und sich darüber ereifern, Kinder an
politischen Entscheidungen partizipieren zu lassen, und
das gegen 22 Uhr, also zu einer Tageszeit, zu der jedes
Kind im Bett liegt. Ich weiß, wir Fachpolitiker bestimmen nicht den Ablauf der Tagesordnung. Wir haben uns
auch heute nicht in die Primetime eingetaktet. Trotzdem
muss man einmal kritisch sagen: Es ist auch gut, dass
Kinder nicht alle Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren geführt haben, tatsächlich miterleben konnten. Sie würden uns zu Recht fragen, warum wir Jahrzehnte brauchten, um eine Selbstverständlichkeit,
nämlich die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention, umzusetzen. Wir als christlich-liberale
Koalition haben das jetzt endlich geschafft. Anstatt dies
anzuerkennen, nehmen Sie Fahrt auf für das nächste
Mammutprojekt, nämlich die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Ich wage einmal den Blick in die
Glaskugel:
({1})
Selbst wenn es uns einmal gelingen wird, die Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen, dann werden
uns die Kinder die Frage stellen: Jetzt habt ihr jahrelang
darüber diskutiert, aber was bringt das genau? Es wurde
heute von allen Oppositionsrednern versprochen, darauf
konkrete Antworten zu geben. Richtig konkrete AntworFlorian Bernschneider
ten habe ich aber nicht gehört. Die Verfassungsrechtler
sagen uns, die Kinderrechte sind im Grundgesetz schon
abgebildet. Deswegen wünsche ich mir, dass wir keine
Zeit mit abstrakten Debatten verlieren, sondern uns konkret damit beschäftigen, wie wir die Kinderrechte stärken können.
({2})
Das haben in der Vergangenheit auch alle anderen
Koalitionsfraktionen getan. Ich glaube aber trotzdem,
dass wir die Leistung von Schwarz-Gelb in den letzten
zwei Jahren auf keinen Fall kleinreden dürfen.
({3})
Kinderlärm ist kein Grund mehr für Klagen. Das Bundeskinderschutzgesetz sorgt dafür, dass viel Wichtiges
auf den Weg gebracht wird. Die Familienhebammen sind
die richtige Entscheidung, wenn es um den Präventionsgedanken geht. Wir investieren 12 Milliarden Euro mehr
in Bildung und Forschung. Mit der Offensive „Frühe
Chancen“ setzen wir 400 Millionen Euro für Chancengerechtigkeit ein. Die Freiwilligendienste, die Sommerferienjob-Regelung, alles das sind konkret erlebbare
Rechte für Kinder und Jugendliche in unserem Land.
So berechtigt einige der im vorliegenden SPD-Antrag
aufgeworfenen Fragen auch sein mögen: Der Antrag liefert wenig Konkretes. Selbst wenn man ihn beschlösse,
kämen am Ende wenig spürbare Ergebnisse für die Kinder dabei heraus. Spürbare Ergebnisse aber müssen unser Ziel sein. Ich habe gerade ein paar Punkte aufgezählt,
die zeigen, dass die christlich-liberale Koalition genau
diesen Weg eingeschlagen hat, nämlich Konkretes zu liefern, anstatt viele abstrakte Debatten zu führen. Ich
würde mich freuen, wenn Sie uns dabei begleiten würden.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6920 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts
- Drucksachen 17/6276, 17/6852 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/7063 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Matthias Zimmer
Hierzu ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll
genommen werden.1)
Deswegen kommen wir gleich zur Abstimmung. Der
Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7063, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/6276
und 17/6852 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der
SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. September 2011, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.