Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist verabredet worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Geordnete Insolvenz - Die Haltung der Bundesregierung
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme
der Bundeswehr an der Friedensmission der
Vereinten Nationen in Sudan ({0})
- Drucksache 17/7000 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
- Drucksachen 17/6298, 17/7057 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Kerstin Müller ({3})
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 13 und 16 werden abgesetzt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Oppositionsfraktionen rücken entsprechend vor. - Damit
sind Sie einverstanden. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Waldstrategie 2020 - Internationales Jahr der Wälder 2011.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Herr Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste auf der Tribüne! Halten Sie den Atem an ({0})
und atmen Sie weiter. Den Atem zu kontrollieren und
frische Luft in die Lungen aufzunehmen, ist etwas, was
man etwa 20 000 bis 30 000 Mal im Jahr macht. Das
Sauerstoffvorkommen in der Luft und somit das Überleben von Mensch, Tier und Umwelt werden von unseren
Wäldern in der Welt gesichert. Sie sorgen aber nicht nur
für den lebensnotwendigen Sauerstoff. Auch viele andere wichtige Faktoren wie beispielsweise das Wasser
und der Klimaschutz hängen mit dem Erhalt unserer
Wälder weltweit eng zusammen. Ich möchte Ihnen das
an einer Zahl verdeutlichen: 20 Prozent des weltweiten
Ausstoßes des Klimagases CO2 gelangen durch Brandrodung in die Atmosphäre.
Die VN hat das Internationale Jahr des Waldes ausgerufen. Die Bundesregierung hat sich daher heute in der
Redetext
Kabinettssitzung mit der Bundeswaldstrategie beschäftigt und diese verabschiedet. Danach sollen Maßnahmen
zur Stärkung der nachhaltigen Bewirtschaftung, Erhaltung und Entwicklung aller Arten von Wäldern zum
Nutzen heutiger und zukünftiger Generationen durchgeführt werden.
Wir stellen auch in Deutschland leider fest, dass immer mehr Menschen - nicht nur in den städtischen Gebieten - den Bezug zum Ökosystem Wald verlieren. Für
uns ist er Heimat und Refugium unzähliger Tiere und
Pflanzen. Er schützt das Klima, das Wasser und den Boden. Er liefert Energiequellen wie den nachwachsenden
Rohstoff Holz. Er bietet außerdem Erholung, Arbeit und
Naturerlebnis.
Der Wald in Deutschland wird nachhaltig bewirtschaftet. Der Begriff der Nachhaltigkeit, der heute in unser aller Munde ist - das gilt für viele Politik- und
Lebensbereiche -, hat seinen Ursprung in der Forstwirtschaft. Hans Carl von Carlowitz, sächsischer Oberberghauptmann, gilt als wesentlicher Schöpfer des Nachhaltigkeitsbegriffs. Er schrieb 1713 das erste geschlossene
Werk zum Thema Forstwirtschaft. Unser Ministerium ist
nun der Aufforderung der VN gefolgt und hat die bundesweite Kampagne „Waldkulturerbe“ ins Leben gerufen. Sie haben richtig gehört: Wir verstehen den deutschen Wald - ein Drittel der Landfläche - als Kulturerbe,
das es nachhaltig zu schützen und weiterzuentwickeln
gilt. An dieser Kampagne haben sich bisher 1 000 Partner beteiligt - Bund, Länder und Verbände. Diese haben
über 6 000 Veranstaltungen eingebracht.
Heute haben wir im Kabinett die Waldstrategie 2020
beraten und beschlossen. Dahinter steckt eine über zweijährige Diskussion mit allen betroffenen Verbänden, aber
auch mit allen politischen Ebenen. An dieser Stelle möchte
ich auch den 2 Millionen Waldbesitzern in Deutschland
- den kleinen und großen Forstwirtschaften - herzlich für
ihre häufig sehr mühsame und aufopferungsvolle Arbeit
danken.
Die Bundesregierung steht in diesem Spannungsfeld
in der Verantwortung, den Gleichklang von Ökologie,
Ökonomie und Sozialem zum Nutzen und Wohle künftiger Generationen zu erhalten. Für Deutschland heißt das,
das bewährte Prinzip einer nachhaltigen, multifunktionalen Forstwirtschaft als Grundlage weiterzuentwickeln.
In Deutschland hat sich der Wald entgegen dem weltweiten Trend positiv entwickelt. Während wir weltweit
jährlich rund 13 Millionen Hektar Wald verlieren,
wächst der Wald in Deutschland dank nachhaltiger
Forstwirtschaft jährlich zu. In den letzten vier Jahrzehnten nahm die Waldfläche in Deutschland um 1 Million
Hektar auf über 11 Millionen Hektar zu. Für die Zuhörerinnen und Zuhörer möchte ich das erläutern: Es darf
nicht mehr geschlagen werden, als nachwächst. Wir haben eine positive Bilanz. Zwischen den Waldinventuren
in den Jahren 1987 und 2002 ist der Holzvorrat um
700 Millionen Kubikmeter gestiegen. Deutschland ist in
Europa das Holzland Nummer eins.
Die Waldstrategie 2020 zeigt auf, wie in der Gemengelage - von Biodiversität bis zur Holznutzung, vom Klimawandel bis zur Kohlenstoffspeicherung - jetzt zahlreiche Schrauben justiert werden müssen, um unsere Ziele
zu erfüllen. Die Strategie ist als Leitlinie angelegt, aus
deren Empfehlungen in neun Handlungsfeldern Maßnahmen auf unterschiedlichster Akteursebene abgeleitet werden müssen. So fordern die Beschlüsse der Bundesregierung zur Energiewende beispielsweise eine stärkere
Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Holz hat hier großes
Potenzial - Stichwort Biomasse. Holz spielt aber auch bei
der energetischen und stofflichen Nutzung eine große
Rolle.
Diese Anforderungen muss und wird die Waldstrategie mit den ebenfalls steigenden Anforderungen des Naturschutzes in Einklang bringen. Dabei setzt sie die
Nachhaltigkeit und den Erhalt der Produktionskraft der
Wälder als obersten Grundsatz. Die Waldstrategie zeigt
damit erstmals in einer Gesamtbetrachtung Wege zu einer tragfähigen Balance zwischen den steigenden Ansprüchen an den Wald - auch seitens der Gesellschaft:
Tourismus, Begehungsgebot - und seiner nachhaltigen
Leistungsfähigkeit.
Der heutige Beschluss der Bundesregierung über die
Waldstrategie 2020 ist daher ein sehr starkes Signal im
Internationalen Jahr der Wälder. Ich sage zusammenfassend: Es gibt viele tagesaktuelle schwierige Probleme,
die wir zu bewältigen haben; aber eine echte Überlebensfrage für Menschheit, Tier und Natur sind der Erhalt
und die nachhaltige Pflege unserer Wälder in Deutschland und weltweit.
Herzlichen Dank.
({1})
Bevor ich die erste Frage aufrufe, will ich Sie daran
erinnern, dass wir vor der Sommerpause ein neues Verfahren etabliert haben, nämlich dass sich alle Fragesteller und alle Antwortenden auf eine Minute beschränken.
Danach erklingt hier ein wunderbares Signal, das Sie darauf aufmerksam macht.
Herr Caesar, bitte.
Zunächst einmal darf ich der Bundesregierung herzlich danken, dass sie mit der Waldstrategie Zeichen setzt.
Ich darf den Parlamentarischen Staatssekretär fragen, ob
er mit mir einig darüber ist, dass die Waldstrategie insbesondere auf die Bedeutung des Waldes sowie der Forstwirtschaft verweist, bei der die Wertschöpfung vor allem
vor Ort erfolgt, und dass unsere Forstwirtschaft aufgrund
ihrer Nachhaltigkeit weltweit ein Vorbild ist. Der Rohstoff Holz wird umweltfreundlich erzeugt; gleichzeitig
wächst die energetische Bedeutung des Rohstoffes Holz.
Vielleicht kann die Bundesregierung ergänzend erläutern, wie groß die wirtschaftliche Bedeutung der Forstwirtschaft ist und welche Bedeutung den Waldbesitzern
und Forstleuten zukommt, die zu der entsprechenden
Entwicklung beigetragen haben.
Herr Kollege, wir haben in Deutschland 2 Millionen
Privatwaldbesitzer sowie 8 000 Staatsforstbetriebe bei
Bund, Ländern und Kommunen; vielfach sind es sehr
kleine Betriebe. Der Wald hat eine herausragende Bedeutung. Ich möchte dabei auch die Bereiche Schutzwald und Bergwald nennen, die in der Region, aus der
ich komme, von Bedeutung sind. Ich habe selber einen
kleinen Waldbesitz und weiß, wie mühsam das ist. Das
ist das eine.
Das andere ist die wirtschaftliche Nutzung. Wir haben
die Holzvorräte in Deutschland seit 1960 durch nachhaltige Forstwirtschaft verdoppelt. Der häufig erhobene
Vorwurf, die Forstwirte gingen nur in den Wald, um
kurzfristigen Nutzen daraus zu ziehen, trifft absolut
nicht zu. Forstwirte denken langfristig, nicht in Jahreskreisen, sondern auf 30 oder 50 Jahre bezogen. Nachhaltigkeit wird in Deutschland umgesetzt. Sie zeigt sich in
vielfacher Weise. Auch der Waldzustand hat sich im vergangenen Jahr weiter verbessert. Er kann selbstverständlich noch besser werden; aber er hat sich weiter verbessert, dank der Forstwirte in der Republik.
Frau Behm.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Bericht. Sie
haben erwähnt, dass der Holzvorrat in den letzten Jahren
um 700 Millionen Kubikmeter gestiegen ist; das ist
durchaus erfreulich. Sie lassen aber auch nicht unerwähnt, dass die Ansprüche an den Wald und damit auch
an das Holz gestiegen sind, dass mehr nachgefragt wird.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass ernstzunehmende Experten für 2020 und die folgenden Jahre
eine Holzlücke von 30 Millionen Kubikmetern pro Jahr
prognostizieren. Das ist, bezogen auf die Menge, die
überhaupt nachhaltig produziert werden kann, ein wirklich beträchtlicher Anteil. Sie haben jetzt in Ihrem Vortrag gesagt, dass die Waldstrategie die Ansprüche an den
Wald und seine nachhaltige Leistungsfähigkeit in Einklang bringen muss. Ich frage Sie: Welche Konsequenzen und Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
in der Waldstrategie daraus für die Energiepolitik?
Ich betone noch einmal, dass das Prinzip der Nachhaltigkeit bedeutet: Schützen durch Nützen. Die Forstwirtschaft nutzt den Wald auf vielfältige Weise. Wenn wir
beispielsweise unsere ehrgeizigen Ziele bei der Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien erreichen
wollen, kommt dem Holz als Träger der Biomasse herausragende Bedeutung zu. Ich will es einmal an ein paar
Zahlen verdeutlichen: Schon derzeit trägt Holz als
NaWaRo mit einem Anteil von 35 Prozent grundlegend
zur Gewinnung erneuerbarer Energien bei. Der Anteil
des Holzes an erneuerbaren Energien aus Biomasse beträgt 60 Prozent; bei der Wärmegewinnung aus erneuerbaren Energien beträgt der Anteil des Holzes 66 Prozent,
bei der Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien
12 Prozent.
Die Waldstrategie hat das Ziel, das Gleichgewicht
zwischen der Ökonomie, Wertschöpfung aus dem Wald
durch die Pflege, und der Ökologie in vielfältigster
Weise herzustellen. Ich möchte an der Stelle betonen,
dass wir dieses Ziel im engen Schulterschluss mit dem
Bundesumweltministerium verabschiedet haben.
Frau Happach-Kasan.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihre Einführung.
Ich bin sehr froh, dass sich die Bundesregierung entschlossen hat, im Jahr der Wälder eine Waldstrategie zu
verabschieden. Sie hat damit viel Kompetenz bewiesen.
Wald ist die natürliche Vegetation in Deutschland.
Das bedeutet, dass wir eine besondere Verantwortung für
den Wald haben. Dieser kommen wir nach. Das Bundesamt für Naturschutz zeigt auf, dass die Zahl der gefährdeten Arten im Wald geringer ist als in allen anderen
Biotopen.
Holz ist der wichtigste nachwachsende Rohstoff. Deswegen stelle ich eine ganz grundlegende Frage: In welcher Weise will die Bundesregierung im Rahmen ihrer
Waldstrategie dafür sorgen, dass Holz in dem für die verschiedenen Verwendungen benötigten Umfang zur Verfügung steht - ich denke an Nadelholz für die Papierherstellung oder Eiche für die Möbelherstellung - und
gleichzeitig die Biodiversität bewahrt wird? Welche
konkreten Schritte unternimmt die Bundesregierung,
und in welcher Weise werden insbesondere die Besitzer
kleiner Waldstücke, die über Holzreserven verfügen,
eingebunden?
Frau Kollegin, die Besitzer kleiner Waldstücke und
die Privatwaldbesitzer liegen uns sehr am Herzen. Die
Vererbung von kleinen Waldstücken bedeutet ein gewisses Problem. Wir wollen insbesondere die forstwirtschaftlichen Vereinigungen stärken. Ich rufe die Kleinwaldbesitzer auf - sie gehören häufig zur städtischen
Bevölkerung und haben von der Mutter oder Oma ein
Stück Wald geerbt -, mit Waldpflegevereinbarungen an
die Waldbesitzervereinigungen heranzutreten.
Mit der Waldstrategie reagieren wir auf dieses Problem. Wir haben verschiedene Handlungsfelder festgelegt. Ich nenne das Handlungsfeld „Rohstoffsicherung
und Effizienz“. Es geht dabei um den Waldbau. Das
heißt, die Waldfläche soll erhalten bleiben. Es geht um
die Verbesserung der Wertschöpfung. Ich nenne Ihnen
die Zahlen: 1,2 Millionen Beschäftigte im Cluster Holzund Forstwirtschaft und ein Umsatz von 170 Milliarden
Euro. Das ist also kein Randthema der Gesellschaft. Es
ist sowohl in wirtschaftlicher als auch in ökologischer
Hinsicht von herausragender Bedeutung.
Frau Crone, bitte.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
die Gesellschaft hat viele Ansprüche an den Wald. In der
Waldstrategie werden dementsprechend neue Handlungsfelder formuliert. Wie hat die Bundesregierung die
Ansprüche der Gesellschaft in der Waldstrategie 2020
gewichtet? Welche Waldprodukte und Dienstleistungen
sind aus Sicht der Bundesregierung wichtig, und welche
sind weniger wichtig? Ich denke an ökologische Aspekte
wie Natur- und Artenschutz, an Erholung und an die
Holzproduktion.
Frau Kollegin, ökonomische, ökologische und soziale
Anforderungen und Aspekte stehen gleichwertig nebeneinander. Deshalb ist es uns wichtig, dass mit der Waldstrategie in enger Abstimmung mit der Nachhaltigkeitsstrategie und der Biodiversitätsstrategie genau dieser
Ausgleich gesucht wird. Es gibt kein vor- oder nachgelagertes Ziel.
Der Kollege Holzenkamp.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär
Müller, vielen Dank für den Bericht und für Ihr persönliches Engagement für den Wald in Deutschland und damit auch für die vielen Waldbesitzer. Sie haben gerade
von dem Wirtschaftsfaktor Holz und Wald gesprochen.
Wie kann man die Wirtschaftskraft und die Wettbewerbsfähigkeit dieses Bereichs erhalten bzw. stärken?
Was tut die Bundesregierung dafür? Welche Rolle spielt
in diesem Zusammenhang die Forschung?
Vielen Dank. Ich danke auch dem Deutschen Forstwirtschaftsrat, insbesondere dem Kollegen Schirmbeck
- er ist anwesend -, der wesentliche Vorschläge dazu
eingebracht hat.
Das Maßnahmenbündel macht deutlich, dass die Forschungsförderung einen hohen Stellenwert hat. Im Zuge
des Umbaus unserer Wälder unter dem Aspekt der Klimatauglichkeit gibt es viele Fragen, die wir angehen
müssen. Die Fachleute wissen, was damit gemeint ist.
Ich nenne das Stichwort „Waldklimafonds“. Mit dem
Bundesumweltministerium kamen wir überein, einen
Haushaltsansatz von 35 Millionen Euro jährlich festzulegen - wir hätten uns mehr vorstellen können -, wobei
wir insbesondere die von Ihnen genannten Ziele und die
Forschungsförderung im Auge hatten. Ich sage noch einmal: Die privaten Kleinwaldbesitzer stärkt man insbesondere durch eine Stärkung der Forstbetriebs- und
Waldbauernvereinigungen.
Frau Tackmann.
Vielen Dank auch von mir. Wir sind froh, dass die
Waldstrategie nun endlich vorliegt, nachdem sie bereits
im Januar angekündigt war. Nach dem ersten Querlesen
muss ich Respekt zollen. Das eine oder andere in der
Diskussion ist offensichtlich angekommen und eingearbeitet worden. Über die Details können wir sicherlich
noch streiten.
Meine Frage geht in folgende Richtung. Sie thematisieren auch die Jagd. Das ist bei der Frage, wie wir den
Waldumbau angesichts der historisch hohen Schalenwildbestände schaffen, ein wichtiges Thema. Sie fordern
sozusagen die Beteiligten, also Jäger, Waldbesitzer und
Bauern, zu einer intensiven Kommunikation auf, um ein
Leitbild der „Jagd im Wald“ zu entwickeln. Mich würde
interessieren: Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung vom Leitbild der „Jagd im Wald“, und wie will
sie diesen Kommunikationsprozess, der, wie ich weiß,
emotional und schwierig ist, begleiten und fördern?
Zum Wald gehören natürlich das Wild und damit auch
der Jäger und die Jagd. Es gibt keinen Konflikt zwischen
Wald- und Forstwirtschaft und Jagd bzw. Jäger. Hier gibt
es regionale Unterschiede. Ich nenne einmal das Stichwort „Brandenburg“. Dort gibt es aktuell eine Diskussion darüber, ob zu wenig gejagt wird, was zu einem
starken Verbiss und weniger Aufwuchs führt. An anderen Stellen im Lande wird die Klage geführt, es werde zu
viel gejagt. Das können und werden wir nicht national
regeln. Dazu gibt es Jagdgesetze, Landesgesetze und
Kreisbehörden, die das im Einvernehmen zwischen
Holz- und Forstwirtschaft, Jagdgenossen und Jägern
sehr erfolgreich festlegen. Wir stellen deutschlandweit
eine nachhaltige Jagdausübung fest.
Herr Gerig.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihren Bericht. Ich freue mich, dass wir mit der Novellierung des Waldgesetzes in 2010 und mit der baldigen
Verabschiedung der Waldstrategie in 2011 zwei ganz
wichtige Marksteine zum Wohle unserer Wälder setzen.
Meine einfache Frage lautet: Welche Strategien verfolgt
die Bundesregierung konkret zur Anpassung unserer
Wälder an den Klimawandel?
Wir werden die vorhandenen Mittel aus dem Waldklimafonds vor allem in die Forschung investieren, um weitere Probleme zu lösen. Eine zentrale Frage ist: Was ist
der optimale Waldbestand, welche Mischung aus Laubund Nadelwald sollte es an welchem Standort geben? Ich
kann zu meiner Freude feststellen, dass es durch die hohe
fachliche und forstliche Praxis, die vor Ort praktiziert
wird, in den vergangenen 30 Jahren zu einem natürlichen
Umbau weg von diesen reinen Monokulturen, zum Beispiel mit Fichten oder Tannen, hin zu einer Mischbewaldung gekommen ist. Wir haben heute - insgesamt gibt es
11,1 Millionen Hektar Wald - einen Mischwaldanteil von
70 Prozent und einen Laubbaumanteil von 40 Prozent.
Wir unterstützen die Länder, aber auch die Kommunen
bei der Forschung zu der Frage, wie wir dieses Verhältnis
in Zukunft optimal auf die jeweilige Region bezogen weiterentwickeln.
Frau Maisch, bitte.
Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf die
EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie. Im Kapitel zum Schutz
von Boden und Wasserhaushalt in der Waldstrategie steht
ja deutlich, dass die Bundesregierung eine solche Richtlinie ablehnt. Wir sind für eine solche Richtlinie. Deshalb
frage ich Sie: Wie wird die Ablehnung dieser Richtlinie
forstpolitisch begründet?
Das wird EU-politisch so begründet: Die EU soll sich
um die Fragen kümmern, für die sie die Rechtszuständigkeit hat.
({0})
Für den Boden im Forst gilt das nicht.
Herr Schirmbeck, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben aus meiner Sicht richtigerweise ausgeführt, dass der deutsche Wald, was Quantität und Qualität betrifft, in den vergangenen Jahrzehnten erheblich gewachsen ist. Es hat also eine sehr
positive Entwicklung stattgefunden. Da wir uns im Zeitalter der Biomasse befinden, frage ich Sie: Strebt die
Bundesregierung pauschale Flächenstilllegungen an?
Ich habe mir die entsprechenden Unterlagen noch einmal genau angeschaut. Wir streben keine pauschalen
Flächenstilllegungen an. Ich weise aber darauf hin: Im
neuesten Indikatorenbericht der Bundesregierung zur nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt wird festgestellt, dass wir mit einem Indikatorwert von 81 Prozent
den höchsten Teilindikator haben. Das heißt, Nachhaltigkeit wird in hohem Maße umgesetzt.
Schon heute stehen sage und schreibe 75 Prozent der
Waldfläche unter Schutz. Der Anteil der Naturschutzgebiete der durch die FFH-Richtlinie und Natura 2000 geschützten Gebiete und nach Bundesnaturschutzgesetz
etc. geschützten Biotope beträgt 23 Prozent. Zudem sind
120 000 Hektar Bannwald ausgewiesen, die nun bundeseinheitlich kartiert und aufgenommen werden sollen.
Wir gehen davon aus, dass die 5 Prozent, von denen die
Rede ist, längst erreicht sind. Es wird keine pauschale
Ausweisung einer Schutzgebietszone in Höhe von 5 Prozent geben.
Herr Kelber, bitte.
Herr Staatssekretär, wir freuen uns, dass Sie die Waldstrategie nach drei Jahren vorgelegt haben. Der Praxischeck ist allerdings etwas ernüchternd. Wenn man sich
§ 11 des Bundeswaldgesetzes anschaut, stellt man fest,
dass zum Schutz des Waldes genau zwei Punkte festgelegt sind: Kahlgeschlagene Flächen sollen in angemessener Frist wieder aufgeforstet werden, wenn keine andere
Nutzung genehmigt wird, und die Kulturgeschichte des
Waldes soll berücksichtigt werden. Ist die Bundesregierung jetzt bereit, die gute fachliche Praxis, die Sie gerade
erwähnt haben, ins Bundeswaldgesetz aufzunehmen und
damit ökologische und soziale Mindeststandards gesetzlich festzulegen?
Wir haben das Bundeswaldgesetz im vergangenen
Jahr novelliert. Es steht keine weitere Novellierung des
Bundeswaldgesetzes an. Es besteht aus ökologischer
Sicht und auf der Basis der von mir vorgetragenen Erkenntnisse kein Anlass, an der guten fachlichen Praxis in
den Ländern zu zweifeln. Auch ihre Umsetzung und ihre
Kontrolle sind gewährleistet.
Herr Fischer, bitte.
Herr Staatssekretär, in der Vergangenheit galt der
Grundsatz „Wald und Wild“. Meine Frage: Wird dieser
Grundsatz durch die Waldstrategie verdrängt, oder wird
er beibehalten? Besteht das Risiko, dass der Grundsatz
„Wald vor Wild“ in den Ländern wieder verstärkt zum
Tragen kommt?
„Wald und Wild“ ist ein tragfähiger Grundsatz, an
dem wir festhalten. Eines unserer Handlungsfelder besteht darin, für Aufklärung und Information zu sorgen
und zu verhindern, dass Feindbilder in die Gesellschaft
getragen werden. Die Jägerinnen und Jäger in Deutschland leisten herausragende Arbeit. Sie leisten auch einen
Beitrag zum Schutz und zur Erhaltung des Ökosystems
Wald. Das funktioniert in den allermeisten Fällen in hervorragender Zusammenarbeit und im Zusammenspiel
mit den Forstwirten. Wir fordern alle Beteiligten auf,
auch in Zukunft gemeinsam für die Erhaltung des Ökosystems Wald und für den Schutz von Natur und Tieren
einzutreten.
Herr Süßmair.
Herr Staatssekretär, meine Frage knüpft an die eben
erwähnte Stilllegung von Waldflächen an. Sie haben gesagt, es soll keine pauschalen Stilllegungen geben, und
die bestehenden Flächen genannt. Mich würde interessieren: Was plant die Regierung für den Fall, dass zum
Beispiel private Waldbesitzer im Rahmen der Biodiversitätsstrategie Flächen stilllegen? Wird der finanzielle
Ausfall ersetzt? Werden Entschädigungen gezahlt? Zurzeit ist in den Bundesländern leider die Tendenz zu beobachten, dass vor allem Staatsforste stillgelegte Flächen bzw. ökologische Vorrangflächen zur Verfügung
stellen, mit der Folge, dass diese Einnahmen den öffentlichen Haushalten fehlen.
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir bereits
75 Prozent des deutschen Waldes als Sondergebiete bzw.
als Schutzgebiete ausgewiesen haben und dass es jetzt
keine Notwendigkeit gibt, darüber hinaus mit gesetzlichen Regelungen zu agieren.
Ich darf Sie noch auf eine interessante Studie des
Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hinweisen; denn
mit Ihrer Frage wird ja suggeriert, stillgelegte Waldflächen seien ökologisch wertvoller als genutzte Wälder.
Dem wird durch die Ergebnisse der Wissenschaftler in
der Studie widersprochen. Sie sagen: Die Biodiversität
wird durch wirtschaftlich genutzte Wälder nicht mehr
oder nur sehr wenig mehr als durch absolut nicht genutzte, verrottende Wälder beeinträchtigt. Ich kann Ihnen das am Beispiel der Käfer- und Vogelarten darstellen: Während es im Naturwald 451 Käferarten und
30 Vogelarten gibt, sind es im Wirtschaftswald 423 Käferarten und 32 Vogelarten.
Wir haben das in einem Monitoring ganz genau wissenschaftlich untersucht. Deshalb sind wir nicht für eine
weitere gesetzliche Festlegung einer 5-Prozent-Schutzzone.
Herr Caesar, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben zu Recht formuliert, dass es auf eine nachhaltige Bewirtschaftung ankommt. Sind Sie der Auffassung, dass dem durch die
Waldstrategie Rechnung getragen wird, und zwar vor
dem Hintergrund, dass aufgrund der umweltfreundlichen
Erzeugung dieses Rohstoffes und der energetischen Verwertung zusätzliche Anforderungen an den Wald gestellt
werden?
Gerade mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wollen
wir bestimmte Ziele erreichen, um der Bedeutung des
Klimaschutzes und natürlich auch der erneuerbaren
Energien Rechnung zu tragen. Was besagt also die Waldstrategie hinsichtlich der Tatsache, dass auch dem energetischen Bedarf Beachtung geschenkt werden muss?
Das würde bedeuten, dass man in der Lage ist, dort entsprechend ausreichende Holzmassen bereitstellen zu
können.
Ich habe den Istzustand genannt. Holz spielt eine herausragende Rolle. Wenn wir die Bioenergieziele, die
sich die Bundesregierung gesetzt hat, erreichen wollen,
wird Holz eine weiter steigende Bedeutung haben müssen - auch unter dem Gesichtspunkt des aktiven Klimaschutzes.
Der Wald speichert ja nicht nur CO2 und gibt Sauerstoff ab - das sind seine herausragenden Funktionen -,
sondern durch die stoffliche und energetische Nutzung
ist der Kohlenstoff gebunden. Er wird nicht in die Atmosphäre abgegeben. Es gibt also viele Gründe dafür, den
Bereich Holz sowohl für die energetische als auch für
die stoffliche Nutzung - als Baustoff für den Hausbau
und somit als Alternative zu Beton - weiter zu stärken.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen
Punkt kurz ansprechen: Wir haben nicht nur national ein
Zertifizierungssystem, das der Deutsche Forstwirtschaftsrat begründet hat - die Forstwirte haben dies ein
Stück weit freiwillig entwickelt -, sondern wir sind daneben intensiv dabei, solche Regeln auch international
umzusetzen.
Herr Ebner, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben die wichtige
volkswirtschaftliche Bedeutung der Holzwirtschaft erwähnt. Der Waldumbau weg von Nadelholzmonokulturen hin zu Mischwäldern wird angesichts des Klimawandels auch von der Bundesregierung - so haben Sie das
vorhin auch ausgeführt - wenn nicht als alternativlos, so
doch als Ziel angesehen. Gleichzeitig ist die Holzwirtschaft in weiten Teilen des Landes nicht auf die VerwerHarald Ebner
tung von Laubholz, sondern überwiegend auf die Verwertung von Nadelholz eingestellt.
Daher lautet meine Frage: Welche Strategie verfolgt
die Bundesregierung, um holzwirtschaftlich und insbesondere auch forschungspolitisch auf diese Herausforderung reagieren zu können? Das Thema Baustoffverwendung haben Sie ja schon angesprochen.
Danke.
Ich habe die Zahlen genannt: 70 Prozent Mischwälder
mit einem Anteil von 40 Prozent Laubbäumen. In diesem Zusammenhang nenne ich auch die Themen Aufwuchs und Buche. Außerdem verzeichnen wir einen Zuwachs bei 80-jährigen Wäldern. Dies zeigt, dass durch
die fachliche forstwirtschaftliche Praxis in den Ländern
und vor Ort eine Nachhaltigkeit beim Umbau unseres
deutschen Waldes erreicht wird, sodass der Klimaschutz
erhöht werden kann. Mit dieser positiven Entwicklung
sind wir sehr zufrieden. Die Holzwirtschaft muss sich,
was die Verarbeitung betrifft, sicherlich ein Stück weit
darauf einstellen. Ich sehe derzeit keine Notwendigkeit,
dass vonseiten der Bundesregierung hier der Holzwirtschaft Hilfen geboten werden.
Frau Crone, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich am Anfang unter
anderem für die Zusammenarbeit mit den Waldbesitzern
bedankt. Schon zu Beginn des Jahres wurde ein Entwurf
präsentiert, der dann aber zurückgezogen werden
musste, weil von den Naturschutzverbänden, Umweltverbänden und auch Forstverbänden sehr viel Kritik geübt wurde. Man hatte nicht den Eindruck, dass da sehr
viel Partizipation vorhanden war. Wie sehen Sie das?
Wie sehen Sie den Informationsfluss zwischen dem Umweltministerium und dem BMELV?
Bundesminister Röttgen und Bundesministerin Aigner
haben diese Waldstrategie im Einvernehmen beschlossen. Auf fachlicher Ebene gab es vorher einen zweijährigen Informationsaustausch; das ist selbstverständlich.
Die Fachkompetenz aller Ressorts wird hier eingebracht.
Meine Kollegin Staatssekretärin Heinen haben wir
leider an das Bundesumweltministerium abgeben müssen.
({0})
Damit ist der Einfluss unseres Hauses und die Kompetenz dort in diesen Fragen gewachsen. Dies hat sich in
der Abstimmung und in der Zusammenarbeit als sehr
positiv herausgestellt. Die ökologischen und wirtschaftlichen Themen sind zu einer Gesamtstrategie zusammengewachsen, wie es in einer funktionierenden Bundesregierung vielleicht beispielgebend sein könnte.
({1})
Frau Behm.
Es ist schön, dass ich noch einmal das Wort bekomme. - Der Kollege Fischer hat die Jagd angesprochen. In Ihrer Strategie stellen Sie selbst nun fest, dass
sich die Jagdausübung in Deutschland ändern muss, damit es möglich ist, dass sich Wälder überall in Deutschland ohne kostenaufwendige Einzäunung, die für die
Waldbesitzer wirklich ein Problem ist, naturverjüngen.
Da frage ich mich ganz besorgt, warum Sie nicht die
Schlussfolgerung ziehen, das Jagdrecht, also den rechtlichen Rahmen, zu ändern; denn schließlich ist es der
rechtliche Rahmen, mit dem dafür gesorgt werden soll,
dass wir in allen Teilen Deutschlands waldgerechte
Wilddichten haben.
Frau Kollegin Behm, ich bin Herrn Fischer sehr dankbar dafür, dass er dieses Ehrenamt übernommen hat und
diese Grundsätze in den Deutschen Jagdschutzverband
hineinträgt. Den bundesgesetzlichen Rahmen für die
Jagd in Deutschland bilden das Bundesjagdgesetz, die
Bundesjagdzeitenverordnung sowie die Bundeswildschutzverordnung.
Nun sage ich Ihnen Folgendes aus der Praxis: Vor ein
paar Wochen, mittags um 12 Uhr, war ich zu Hause, lag
auf der Terrasse und sah, wie ein Fuchs vorbeiging. Stellen Sie sich das einmal vor!
({0})
Er machte sich an meinem Kompost zu schaffen und
schlich sich dann wieder davon.
Das verdeutlicht das Problem. Wir haben beispielsweise in meiner Region das Problem der Fuchsbejagung;
denn viele Jäger sagen: Das mache ich nicht, weil es sich
nicht mehr lohnt. - Viele meinen noch immer, dass mit
der Jagd etwas verdient wird. Vielmehr müssen wir den
Jägern dankbar sein, dass sie für diesen notwendigen
Ausgleich sorgen.
Die Abschusszahlen für Wild - das ist wichtig - werden jeweils vor Ort, also regional, festgelegt. Es wäre
Unsinn, wenn wir in Berlin oder auf Landesebene festlegen würden, was in der Region wie in welchem Ausmaß
bejagt werden muss.
Wir bedanken uns beim Herrn Staatssekretär ausdrücklich für den Einblick in das Leben eines Staatssekretärs.
({0})
Ich lebe halt naturnah.
Das ist wunderbar. - Herr Rief hat noch eine Frage.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, es ist heute schon
verschiedentlich angesprochen worden: Das Wissen um
die Zusammenhänge im Wald und um den Wald herum
ist bei der ländlichen Bevölkerung teilweise noch vorhanden, bei der städtischen entsprechend weniger. Welchen Beitrag kann die Waldstrategie leisten, um hier einfach Abhilfe zu schaffen?
Wir führen in diesem Jahr mit vielen Partnern im
Rahmen des Waldkulturerbes 6 000 Veranstaltungen
durch. Das darf aber kein einmaliges Strohfeuer sein,
sondern der Wald gehört als Unterrichtsfach in die Schulen. Kinder und Jugendliche müssen den Naturraum
Wald erleben. Auch manchem Abgeordneten würde es
guttun,
({0})
wenn er am Sonntag keine Presseerklärungen abgeben,
sondern im Wald spazieren gehen würde.
({1})
Frische Luft schafft freie und gute Gedanken.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Weitere Fragen zur heutigen Kabinettssitzung und
auch andere Fragen an die Bundesregierung liegen uns
nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/6994, 17/7019 Die dringliche Frage 1 des Kollegen Thierse wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen auf Drucksache 17/6994.
Auch hier wollen wir es so halten, wie wir das eben bereits praktiziert und auch vor der Sommerpause verabredet haben, dass jeweils nach einer Minute bei Fragen
und Antworten ein Signal ertönt. Ich bitte Sie, schon im
Vorfeld darauf zu achten, dass Sie Ihre Redezeit nicht
überziehen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht uns der Herr Parlamentarische
Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Christian Lange
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 3 der Abgeordneten Ute
Kumpf:
Wie ist der aktuelle Sachstand zum Ausbau der 27 Neckarschleusen, und gehört dieser Ausbau, wie er von der letzten Bundesregierung im Investitionsrahmenplan 2006 bis
2010 zugesichert wurde, nach wie vor trotz der neuen Kategorisierung dieses Streckenabschnittes südlich von Heilbronn
durch die Bundesregierung als Ergänzungs- und Nebennetz zu
den prioritären Investitionsprojekten?
Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin, die Antwort lautet: Mit erforderlichen vorbereitenden Instandsetzungsmaßnahmen an den
Schleusenanlagen wurde begonnen. Zurzeit laufen Voruntersuchungen und Planungen zur Grundinstandsetzung bzw. zur Verlängerung von Schleusenkammern,
zum Bau von Fischaufstiegsanlagen sowie zum Ausbau
und zur Sicherung von Liegestellen und Vorhäfen.
Für die zu verlängernden Schleusenkammern sollen
die Planungen bis zum Jahr 2012 so weit vorangebracht
werden, dass anschließend mit dem Bau begonnen werden kann. Die Reihenfolge der Maßnahmen wird anhand
zustandsbedingter verkehrlicher und planerischer Kriterien festgelegt. Hierbei sollen unter Berücksichtigung
der verkehrlichen Auslastung der einzelnen Streckenabschnitte die Maßnahmen zur Schleusenverlängerung,
flussaufwärts betrachtet bis Heilbronn, prioritär vorangetrieben werden, um möglichst frühzeitig den Hafen
Heilbronn mit 135 Meter langen Schiffen erreichen zu
können. Zugleich soll im Abschnitt Heilbronn-Plochingen jeweils eine der beiden Zwillingskammern instand
gesetzt werden, damit die Schifffahrt auch in diesem Abschnitt den Neckar weiterhin sicher und leicht verkehren
kann.
Der Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 stellt, wie
der Name besagt, einen Rahmenplan für die in diesem
Zeitraum vorgesehenen Infrastrukturinvestitionen dar.
Dabei wurde im Hinblick auf eine mögliche zeitliche
Verzögerung bei einzelnen Projekten bewusst eine Planungsreserve einkalkuliert. Keinesfalls kann und konnte
zu irgendeinem Zeitpunkt aus dem Investitionsrahmenplan eine Realisierungszusage in einem festgelegten
Zeitraum abgeleitet werden.
Frau Kumpf, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, erst einmal herzlichen Dank dafür, dass mit Ihrer Antwort ein bisschen mehr Licht ins
Dunkel gebracht wurde. Trotzdem gibt es noch einige
offene Fragen, auf die ich gerne eine Antwort hätte.
Haben Sie auch schon mit der baden-württembergischen Landesregierung Kontakt aufgenommen, um diesen Zeitplan und die Zeitschiene entsprechend zu erläutern und darüber zu diskutieren? Haben Sie Ihr Wissen,
das Sie uns heute präsentiert haben, auch an den Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart und an die Region weitergegeben, die Sie dringend gebeten haben, bei diesen
Ausbauplänen zu bleiben? Es geht also nicht nur um die
Renovierung, sondern auch um den Ausbau und die Verlängerung der Schleusen. Haben Sie diesen Sachstand an
die entsprechenden Stellen weitergegeben?
Geschätzte Frau Kollegin, wir sind in ständigem Kontakt mit allen Landesregierungen,
({0})
selbstverständlich auch mit der in Baden-Württemberg.
Wie Sie wissen, sind wir gerade dabei, einen neuen Investitionsrahmenplan zu erarbeiten. Auch in diesem Zusammenhang wird die Landesregierung von BadenWürttemberg beteiligt werden.
Wir haben schon seit dem Jahr 2007 mit der Landesregierung in Baden-Württemberg einen intensiven Austausch über den Ausbau. Ich bin mir sicher, dass die von
Ihnen geforderte Informationsweitergabe an die jeweiligen kommunalen Verantwortungsträger in bewährter
Weise erfolgen wird.
Ist der Eindruck richtig, dass Sie eine zweite Nachfrage haben, Frau Kumpf? - Bitte schön.
Genau, ich habe eine zweite Nachfrage und muss
noch einmal insistieren. Denn ich muss die Briefe beantworten, die mir geschrieben werden, aber eigentlich an
Sie gerichtet sein müssten.
In der Großen Koalition ist verabredet worden, die
Sanierung und Verlängerung innerhalb von zehn Jahren
zu bewerkstelligen. Das ist schon ein relativ langer Zeitraum, und wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie
das noch weiter strecken. Das heißt, dass die ersten
Schiffe von 135 Metern Länge wahrscheinlich nicht erst
2021, sondern erst 2025 den Neckar passieren können,
woraus sich eine Belastung für den Straßengüterverkehr
ergibt. Wie ist das, was Sie gesagt haben, genau zu interpretieren? Vielleicht können Sie das konkret sagen.
Das kann ich leider nicht, weil ich natürlich nicht vorhersehen kann, wie die einzelnen Planungsverfahren
ausgehen werden, ob es möglicherweise Klagen dagegen
gibt und in welchem Rahmen uns der Deutsche Bundestag, also Sie als Haushaltsgesetzgeber, die finanziellen
Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um die Maßnahmen
baulich umzusetzen. Das alles wird nur dann funktionieren, wenn wir einen ausreichend großen Verkehrsetat bekommen.
Da ich nicht über hellseherische Fähigkeiten verfüge,
kann ich Ihnen schlecht darüber Auskunft geben, wann
wir genau damit beginnen werden. Ich habe gesagt, dass
wir anstreben, zumindest im Planungsbereich bis zum
Jahr 2012 fertigzuwerden. Ich denke, dass wir uns dann
auf Grundlage der zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel mit der Realisierung befassen müssen.
Wir haben ein großes Interesse daran, den Verkehr,
der jetzt noch über die Straße läuft, möglichst auf andere
Verkehrsträger zu verlagern. Das ist eine sinnvolle Politik. Denn wir werden in den nächsten Jahren einen gewaltigen Anstieg des Güterverkehrs erleben. Wir haben
ein eigenes Interesse daran, einen Teil dieses Verkehrs
über den Neckar zu bewältigen.
Es gibt eine Nachfrage der Kollegin Roth zu dieser
Frage.
Verehrter Herr Staatssekretär Mücke, bei den 27 Neckarschleusen geht es um ein großes Thema, was Investition
und Planung betrifft. Daher haben wir in der Großen Koalition ein besonderes Amt eingerichtet, das unter anderem diese Planung vorbereitet. Das ist Ihnen bekannt.
In Ihrer Antwort sind Sie auf die Planungen bis Heilbronn eingegangen. Das sollte auch in dem vorgesehenen
Zeitraum erfolgen. Darüber hinaus waren auch die Planungen der Baumaßnahmen von Heilbronn bis Plochingen eingetaktet. Sie haben in diesem Zusammenhang einen interessanten Satz gesagt, nämlich dass die oberhalb
von Heilbronn notwendigen Sanierungsmaßnahmen erfolgen. Das hört sich zwar gut an, ist aber zu wenig.
Denn die Beschlussfassung sieht klar vor, neben der Sanierung auch gleichzeitig den Ausbau für Schiffe von
135 Metern Länge zu erreichen. Sind Sie in der Lage,
mir heute zu bestätigen, dass Sie auch das planen, oder
ist nur die Sanierung vorgesehen?
Frau Kollegin, das kann ich Ihnen heute nicht sagen.
({0})
Denn wir sind, wie Sie wissen, mitten in einer WSV-Reform. Wir nehmen gerade eine Netzkategorisierung vor,
und zwar auf Anforderung des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages. Zunächst einmal sind die Ergebnisse dieser Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung und der damit verbundenen Netzkategorisierung
abzuwarten. Aus dieser Netzkategorisierung ergibt sich
dann, ob wir in Neubaumaßnahmen investieren können
oder ob wir zunächst in den Erhalt der bestehenden Infrastruktur investieren.
Diese Kategorisierung und Priorisierung von Maßnahmen ist auch angesichts der Sparzwänge, die wir alle
gemeinsam im Bundeshaushalt haben, notwendig; denn
die Steuerbürger erwarten zu Recht von uns, dass wir mit
dem Geld, das sie uns zur Verfügung stellen, ganz besonders sorgsam umgehen und deshalb zuerst an den Stellen
investieren, wo der volkswirtschaftliche Nutzen ganz besonders hoch ist.
Damit kommen wir zu Frage 4 der Kollegin Ute
Kumpf:
Bis wann und nach welchen Modalitäten - Anforderungsprofil, Kriterien, Abgabe, Entscheidung - schreibt die Bundesregierung die „Schaufenster Elektromobilität“ aus?
Herr Mücke, bitte.
Ziel der Bundesregierung ist es, der innovativen Elektromobilitätstechnologie in Deutschland branchenübergreifend und branchenverknüpfend in konstruktiver Zusammenarbeit mit den Bundesländern Schaufenster zu
bieten. Die deutsche Technologiekompetenz soll in etwa
drei bis fünf Großprojekten demonstriert werden, damit
die Öffentlichkeit die Elektromobilität erleben und buchstäblich erfahren kann. Vor allem die Offenheit neuen
Technologien gegenüber soll in diesen Schaufenstern aktiv unterstützt werden.
In den Schaufenstern können Mobilitätskonzepte sowie ordnungspolitische Rahmenbedingungen erprobt
werden. Durch die erfolgreiche und sichtbare Demonstration sollen Impulse für die internationale Nachfrage
generiert werden, was auch den Gedanken der Leitanbieterschaft für Elektromobilität fördern soll. In den Schaufenstern werden die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen aus den im Rahmen des Konjunkturpakets II
der Bundesregierung initiierten Programmen zur Förderung der Elektromobilität, also aus den Modellregionen
und Modellprojekten, die Ende 2011 auslaufen, weiterentwickelt.
Die Bekanntmachung zur Förderung von Forschung
und Entwicklung der „Schaufenster Elektromobilität“
wird im Herbst 2011 herausgegeben. Nach einer Bewerbungsfrist von zehn Wochen wird für Interessenten nach
jetziger Planung im Winter eine Fachjury tagen. Sie erstellt eine Rangfolge der ausgewählten Projekte und
schlägt diese den Bundesministerien BMVBS, BMWi,
BMU und BMBF zu deren abschließenden Entscheidung
der Auszuwählenden vor. Die Bundesregierung, vertreten durch diese vier beteiligten Bundesministerien, entscheidet auf Basis der eingereichten und bewerteten
Konzepte unabhängig, unter Berücksichtigung der Auswahlvorschläge.
Frau Kumpf, eine Nachfrage.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Das hilft
schon etwas weiter; denn die Modellregionen warten auf
eine Entscheidung, wann sie ihre Bewerbungen einreichen können. Der Herbst hat allerdings, so glaube ich,
mit dem heutigen Tag, dem 21. September, schon begonnen und geht bis Dezember. Dieser Zeitraum, den Sie
mir genannt haben, ist also sehr ungenau. Deswegen
frage ich nach: Wann ist mit dieser Ausschreibung zu
rechnen? Die Vorbereitungen laufen bereits in den Modellregionen und den Ländern. Wer wird diese Auswahl
konkret treffen? Wie ist die Jury zusammengesetzt?
Handelt es sich wieder überwiegend um Vertreter aus
den Unternehmen wie bei der Nationalen Plattform
Elektromobilität? Sind die Verbraucher eingebunden?
Sind vielleicht auch ein paar Damen dabei? Bislang ist
das ein sehr herrenlastiger Verein. Wie stellen Sie sich
die Zusammensetzung dieser Fachjury vor?
Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich leider kein konkreteres Datum als den Herbst nennen. Da Sie wissen, wann
der Herbst endet, können Sie abschätzen, wann spätestens eine Entscheidung fallen wird bzw. die Partner in
der Region wissen, bis zu welchem Zeitpunkt sie sich
bewerben können.
Wir gehen davon aus, dass in der Fachjury natürlich
Vertreter der Industrie, aber auch der Wissenschaft sein
werden. Ich habe Ihnen vorhin erläutert, dass es nicht
nur um technische Aspekte geht, sondern auch um Fragen des Ordnungsrechts. Das alles soll dort erprobt werden. Deshalb wäre es sicher ein falscher Ansatz, ausschließlich auf die Industrie zu setzen. Die Fachjury
wird insofern breit aufgestellt sein. Ich kann jetzt
schlecht vorhersagen, ob auch Frauen dabei sein werden.
Ich wünsche mir das jedenfalls. Ich werde Sie rechtzeitig
über die Zusammensetzung der Fachjury schriftlich informieren, wenn Sie das wünschen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Bitte schön.
Ich möchte nachfragen: Die Schaufenster sind hoffentlich so gedacht, dass sie an den Modellregionen ansetzen und dass keine Projektruinen in den Modellregionen zurückbleiben. Nach ersten Informationen, die uns
erreichten, war nur von einem Schaufenster die Rede,
und zwar in Berlin. Dann wurde die Region Stuttgart erwähnt. Vielleicht gibt es noch ein Schaufenster in Bayern. Wie hoch ist die Zahl der Schaufenster? Sind auch
ländliche Räume und grenzüberschreitende Aspekte berücksichtigt?
Wir planen, wie ich vorhin schon erwähnt habe, mit
drei bis fünf Schaufenstern. Über grenzüberschreitende
Zusammenarbeit ist noch nicht entschieden worden.
Die Frage 5 des Abgeordneten Volker Beck und die
Frage 6 der Abgeordneten Silvia Schmidt werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Pronold auf:
Wann wird die Bundesregierung den bundesweiten Feldversuch mit Gigalinern im Jahr 2011 mit welcher Laufzeit
starten?
Herr Staatssekretär, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, aufgrund der
Vielzahl der eingegangenen ausführlichen Stellungnahmen der Verbände und der Verlängerung der Stellungnahmefrist für die Bundesländer bis zum 16. September
2011 kann eine Aussage zum genauen Starttermin des
Feldversuchs mit langen Lkw zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht getroffen werden. Der Feldversuch soll jedoch noch in diesem Herbst starten. Er soll auf eine
Laufzeit von fünf Jahren ausgelegt sein.
Herr Kollege Pronold, Sie haben eine Nachfrage? Bitte sehr.
Mich würde interessieren, ob das Rechtsgutachten,
das von dem renommierten Professor Battis ist und das
die Allianz pro Schiene vorgelegt hat, Auswirkungen auf
die Überlegung der Bundesregierung hat. Wenn ja, in
welcher Form? Wie bewerten Sie vor allem die rechtlichen Ausführungen, die besagen, dass der Bundestag
und die Bundesländer bei dieser Frage zwingend zu beteiligen sind, was von der Bundesregierung bislang unterlassen worden ist?
Wir kennen das Gutachten von Professor Dr. Battis
und gehen davon aus, dass Professor Battis hier einen
eigenständigen Regelungsgehalt einiger Vorschriften der
Ausnahmeverordnung annimmt. Diese Auffassung teilen
wir nicht. Wir gehen davon aus, dass es sich vielmehr
um Bedingungen und Auflagen zu den Ausnahmetatbeständen handelt und deshalb eine Eigenständigkeit der
Regelung, wie sie Professor Battis ansieht, nicht gegeben ist.
Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage? - Bitte
schön.
Ich habe die Nachfrage, worin denn die Verlängerung
der Frist, die Sie angesprochen haben, begründet liegt.
Hat das etwas mit dem Rechtsgutachten zu tun? Hat das
etwas mit dem Verhalten einiger Bundesländer zu tun?
Warum hat die Bundesregierung den Herbst, in dem sie
loslegen will, sozusagen noch kürzer gemacht und die
Anhörungsfrist um zwei Wochen verlängert?
Es ist generell eine gute Übung, dass wir uns und den
Bundesländern die Zeit geben, um dieses anerkanntermaßen schwierige Problem vernünftig abzuwägen. Deshalb ist, so glaube ich, eine zusätzliche Frist von zwei
Wochen zur Stellungnahme für die Bundesländer kein
Nachteil, sondern ein Vorteil. Ich glaube, dass das angesichts der von uns vorgesehenen Zeit von fünf Jahren für
diesen Versuch kein Zeitraum ist, der das Voranbringen
des Projekts wesentlich beeinträchtigen wird. Wir gehen
davon aus, dass diese zwei Wochen dazu genutzt wurden, dass die Bundesländer ihre Stellungnahmen uns detaillierter zur Kenntnis geben konnten. Es ist sicher in ihrem Interesse, dass das in vernünftiger Weise erfolgt.
({0})
- Eine Anhörung ist eine Form der Beteiligung.
Eine Nachfrage des Abgeordneten Burkert. Bitte
schön.
Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf den
Feldversuch. Können Sie bestätigen, dass das Bundesland Hessen aus dem Feldversuch ausgestiegen ist? Ist
Ihnen bekannt, dass die großen Speditionsfirmen in
Deutschland - ich nenne beispielsweise Kühne + Nagel,
aber auch andere - kundgetan haben, dass dann, wenn
Hessen nicht mehr bei dem Feldversuch mitmacht und
auch Gefahrgut in den Gigalinern nicht transportiert
werden darf, der Feldversuch obsolet und völlig überflüssig ist?
Diese Frage ist ähnlich wie die Frage 8 des Kollegen
Pronold gelagert. Uns ist ein Ausstieg des Bundeslandes
Hessen aus dem Feldversuch bisher nicht bekannt. Wir
haben gelesen, was dazu in der Presse zu finden war.
Aber richtig ist, dass es seitens des hessischen Verkehrsministers noch offene Fragen gegeben hat. Durch eine
entsprechende Anpassung in der Begründung der Ausnahmeverordnung konnte eine Lösung gefunden werden. Deshalb gehen wir davon aus, dass das Bundesland
Hessen am Feldversuch teilnehmen wird.
Dann sind wir jetzt bei der Frage 8 von Herrn
Pronold:
Was sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Gründe
des Bundeslandes Hessen, sich nicht an dem bundesweiten
Feldversuch mit Gigalinern in Deutschland zu beteiligen?
Das ist dieselbe Antwort: Uns ist ein Ausstieg des
Bundeslandes Hessen nicht bekannt.
Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Unabhängig von der Situation des Landes Hessen gibt
es aus vielen Bundesländern Widerstand, insbesondere
aus Baden-Württemberg, das sich auch zurückgezogen
hat. Wie bewertet die Bundesregierung diesen massiven
Widerstand, und hält sie es bei einem solchen Thema für
sachlich geboten, mit einer Ausnahmeverordnung zu
agieren?
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein verkehrspolitisch umstrittenes Thema von den Bundesländern sehr
unterschiedlich bewertet wird. Sie selber kennen die Geschichte der langen Lkw, die mit sehr unterschiedlichen
Bezeichnungen versehen worden sind, sehr gut. Es läuft
darüber schon sehr lange eine verkehrspolitische Diskussion. Deshalb ist es für die Bundesregierung geradezu
zwangsläufig, dass es einzelne Bundesländer gibt, die
sich dazu anders verhalten, eine andere Position einnehmen. Das respektieren wir selbstverständlich. Aber das
heißt nicht, dass wir für einen Versuch nicht eine Ausnahme von der gültigen Verordnung zulassen können.
Wir sehen ja, dass in einigen europäischen Ländern diese
langen Lkw zugelassen sind. Deutschland ist ein großes
Transitland. Es ist aus meiner Sicht auch durchaus zulässig, dass wir uns angesichts steigender Frachtzahlen, angesichts von Prognosen, die einen 70-prozentigen Zuwachs des Güterverkehrs vorhersagen, auch Gedanken
darüber machen, wie wir diesen Güterverkehr mit anderen Mobilitätskonzepten bewältigen können.
Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte
schön.
Dann will ich deutlicher nachfragen. Warum gehen
Sie angesichts der Umstrittenheit dieses Themas in der
Verkehrswelt und in der Öffentlichkeit über eine Ausnahmeverordnung? Trauen Sie Ihren eigenen Argumenten nicht zu, zu überzeugen, sodass Sie Bundestag und
Bundesrat bei dieser Frage ganz normal beteiligen könnten?
Ich glaube, dass die Ausnahmeverordnung das richtige Instrument für einen Versuch ist. Es wird ein Feldversuch und keine Regelanwendung sein. Deshalb ist die
von uns vorgesehene Regelung über eine Ausnahmeverordnung in der Tat der richtige Weg. Wir wollen die fünf
Jahre nutzen, eine ergebnisoffene Evaluierung des Versuchs vorzunehmen, um dann möglicherweise weitere
verkehrspolitische Schlüsse zu ziehen. Jetzt kommt es
uns darauf an, den Versuch ausnahmsweise möglich zu
machen, und ich glaube, dass das auch der richtige Weg
ist.
Jetzt noch einmal der Kollege Burkert.
Herr Staatssekretär, nachdem bekannt ist, dass bei den
Bahnübergängen in Deutschland für die langen Lkw die
Vertaktungen geändert werden müssen und das Millionenbeträge kostet, ist meine Frage: Ist das im Feldversuch schon berücksichtigt? Sind darin Bahnübergänge
mit Schranken enthalten? Wenn ja, wer trägt die Kosten?
Ist man mit der Deutschen Bahn schon zu einer Einigung
darüber gekommen?
Wir gehen davon aus, dass die langen Lkw auf speziell definierten Strecken unterwegs sein werden. Das
sind natürlich in allererster Linie Autobahnen und damit
kreuzungsfreie Strecken. Es geht uns ausdrücklich nicht
darum, dass die langen Lkw auf Kreis- oder Landesstraßen fahren dürfen, auf denen es üblicherweise Bahnübergänge gibt. Uns geht es vor allem um den Verkehr
von Güterverkehrszentrum zu Güterverkehrszentrum
über leistungsfähige Bundesstraßen.
Über eine konkrete Absprache mit der Deutschen
Bahn AG kann ich Ihnen heute nichts berichten.
Noch eine Nachfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, es gehe hauptsächlich
um Autobahnen und nicht um nachgeordnete Straßen.
Wenn es Ihnen hauptsächlich um Autobahnen geht, frage
ich mich: Warum sind denn auf der Liste, die in dem von
Ihnen verteilten Papier enthalten ist, sehr viele Straßen
aus dem nachgeordneten Bereich bis hin zu Kreisstraßen
verzeichnet?
Es ist ganz klar, dass der größte Teil der benutzten
Straßen Bundesautobahnen sein werden. Ich habe nicht
davon gesprochen, dass ausschließlich diese benutzt
werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in dem einen
oder anderen Fall auch nachgeordnete Straßen benutzt
werden. Jedenfalls werden nur solche Straßen benutzt
werden dürfen, die einen solchen baulichen Zustand haben - das wird uns von der Auftragsverwaltung, also von
den Bundesländern, mitgeteilt -, dass die Straßenprofile
mit den Dimensionen langer Lkw harmonieren. Sie wissen, dass lange Lkw beispielsweise andere Schleppkurven haben und sie deshalb bestimmte Kurven, Kreisverkehre und Kreuzungsbauwerke nicht benutzen können.
Wir vertrauen ganz darauf, dass die Bundesländer mit
uns zusammenarbeiten und uns Straßen benennen, damit
trotz des Einsatzes langer Lkw flüssiger Verkehr möglich sein wird.
Frau Gottschalck.
Herr Staatssekretär Mücke, können Sie ausschließen,
dass Bahnschranken betroffen sein werden?
Das kann ich nicht ausschließen, weil ich nicht die
ganze Liste der Straßen vor mir habe und damit auch
keine Auflistung der möglicherweise betroffenen Eisenbahnkreuzungen. Das kann ich Ihnen aber sehr gerne
nachliefern.
Das wäre schön. Danke.
Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Beckmeyer
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Groß:
Ist für den Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und das dazugehörige Haus die Einführung einer
Vignette oder einer anders ausgestalteten Art der Mauteinnahme für Pkw eine Alternative, wenn es wie zu erwarten
keine Haushaltsmittelerhöhung für den Verkehrsetat gibt, um
das Defizit von 2,5 Milliarden Euro auszugleichen?
Lieber Herr Kollege Groß, Herr Bundesminister
Dr. Ramsauer hat zuletzt in der Haushaltsdebatte des
Deutschen Bundestages vom 9. September 2011 zum
Einzelplan 12 bekräftigt, dass zielgerichtete Budgeterhöhungen für das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung notwendig sind. Ich möchte Sie auf
das Plenarprotokoll 17/125 verweisen. Da die Einführung einer jeglichen nutzerorientierten Abgabe entsprechende Umsetzungszeit benötigen würde, könnte diese
Alternative jedoch nicht zur kurzfristigen Schließung der
Finanzierungslücke im Bundesfernstraßenbau beitragen.
({0})
Herr Groß, eine Nachfrage. Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Mücke, ich frage Sie: Gibt es
schon Erkenntnisse, wie hoch bei der Einführung einer
Vignette die Kosten für Anschaffung und jährliche Erhebung wären?
Nein.
Gibt es nicht. - Ich habe eine zweite Frage. Sie haben
ja die Vignette nicht ausgeschlossen. Erhoffen Sie sich
von der Einführung einer Vignette eine Lenkungswirkung bezogen auf das Verkehrsaufkommen und vor allen
Dingen eine ökologische Wirkung?
Da niemand konkret über die Einführung einer Vignette nachdenkt, sondern nur allgemeine politische Diskussionen über eine mögliche Nutzerfinanzierung geführt werden, liegen solche Zahlen selbstverständlich
nicht vor.
Herr Pronold, bitte.
Jenseits von dem, was der Verkehrsminister hier erklärt, gibt es ja auch viel in den Zeitungen zu lesen. Daher würde mich interessieren, ob Sie für die Bundesregierung oder für das Verkehrsministerium sprechen, was
die Pkw-Maut angeht, und wie ich damit umgehen soll,
dass die Kanzlerin eine solche klar ablehnt, der Herr
Verkehrsminister aber die unterschiedlichsten Aussagen
hier im Plenum bisher dazu gemacht hat. Was gilt denn
nun: Wird es eine Pkw-Maut geben oder nicht?
Ich vertrete den Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung gerade hier in dieser Fragestunde, um
diese Frage zu beantworten.
Des Weiteren hatte ich Ihnen gerade erläutert, dass es
eine allgemeine politische Diskussion über das Thema
„Einführung einer Pkw-Maut“ gibt. Wenn man sich politisch entscheidet, diesem Gedanken nahezutreten, würde
eine Umsetzung, gleich welchen Modells - Vignette,
streckenabhängige Maut oder wie auch immer -, mindestens einen Zeitraum von drei Jahren erfordern, also
über diese Legislaturperiode hinaus dauern. Die Frau
Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt, dass sie die Einführung einer Pkw-Maut in dieser Legislaturperiode ausschließt. Deshalb handelt es sich um eine Diskussion, die
sich vor allen Dingen auf den Zeitraum nach dieser Legislaturperiode bezieht.
({0})
Herr Herzog.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Hinweis,
dass wir das dann in der nächsten Legislaturperiode entsprechend zu bearbeiten haben.
Das habe ich nicht gesagt.
Nachdem Sie uns nicht sagen konnten, was es kostet
und welche Einnahmen erzielt werden, jetzt die Frage an
den Vertreter des Verkehrsministers bzw. der Bundesregierung: Erwarten Sie denn von einer Vignette eine
bessere ökologische Lenkungswirkung als von der bisherigen Kfz-Steuer?
Ich glaube, dass man da zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann. Es kommt sehr darauf an, auf
welche Art und Weise eine solche Pkw-Maut erhoben
werden würde. Ob es technische Lösungen dazu überhaupt schon gibt, ist höchst zweifelhaft. Es gibt in den
allgemeinen politischen Diskussionen Überlegungen,
das ähnlich zu gestalten wie bei der jetzt in Deutschland
erhobenen Lkw-Maut. Ich glaube, dass man hier zunächst einmal die allgemeine politische Diskussion und
die Entscheidung dazu abwarten sollte. Dann muss man
sich alle Fragen, die daraus entstehen, nämlich ob es eine
ökologische Lenkungswirkung gäbe oder nicht, neu stellen. Aber zunächst einmal geht es hier um eine allgemeine politische Diskussion über das Thema „Nutzerfinanzierung im Straßenbau“. Hier sind alle Aspekte mit
zu betrachten, natürlich die Systemkosten, so wie wir sie
bei der Lkw-Maut schon kennen. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist eine Diskussion, die noch sehr lange dauern
wird. Sie wird keinesfalls in dieser Legislaturperiode
eine Rolle spielen.
Herr Hacker.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, dass die
Überlegungen in Ihrem Hause weiter gediehen sind, als
dass man sie nur als rein theoretische Überlegungen bezeichnen könnte; denn sonst würde der Bundesminister
das Thema Pkw-Maut nicht von Zeit zu Zeit immer wieder einmal in der deutschen Öffentlichkeit ansprechen.
Deswegen frage ich Sie: Welche Entlastungswirkungen
für Pkw-Fahrer im ländlichen Bereich haben Sie eigentlich in diese Überlegungen mit einbezogen? Wie sollen
die möglichen Einnahmen aus der Pkw-Maut verwendet
werden? Sollen sie also konkret für den Bau und den Erhalt von Straßen verwendet werden? Welche Überlegungen gibt es dazu in Ihrem Hause?
Lieber Herr Kollege Hacker, ich muss Sie sehr enttäuschen. Es gibt leider kein fertiges Mautkonzept. Auch
wenn Sie oder einer Ihrer Kollegen noch 20-mal nachfragen, bleibt es dabei: Es ist leider nicht existent.
({0})
Ich kann Ihnen weder etwas zu möglichen Ausgleichsmaßnahmen für Autofahrer im ländlichen Raum
noch etwas zu anderen damit im Zusammenhang stehenden Fragen sagen, da es bisher kein konkretes Konzept
dazu gibt. Es gibt eine allgemeine politische Diskussion
über die Einführung einer Nutzerfinanzierung, bezogen
auf die Bundesstraßen, auch für den Pkw-Bereich mehr nicht.
Herr Burkert, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn man Sie richtig verstehen
will, müsste man sagen: Sie reden darüber, aber ohne
Plan; so könnte man es auch übersetzen. Würden Sie uns
und den Zuhörerinnen und Zuhörern sagen, wie viele
ausländische Pkw von einer solchen Maut betroffen wären?
Dazu gibt es unterschiedliche Schätzungen. Ich will
mich hier auf keine Zahl festlegen. Ich kenne Zahlen von
5 bis 8 Prozent. Aber das sind alles Schätzungen, die
man im Moment nur wenig konkret vornehmen kann,
weil wir dazu keine Zählstellen oder ähnliche Erfassungsmöglichkeiten haben. Das wäre also im Bereich
der Schätzung, und es ist immer noch eine rein spekulative Frage, ob es jemals eine Pkw-Maut geben wird. Wir
befinden uns im Stadium einer allgemeinen politischen
Diskussion zum Thema Nutzerfinanzierung.
Herr Pronold.
Ich hoffe, dass ich nicht in die Tiefen und intimen
Angelegenheiten des Verkehrsministeriums eindringe,
wenn ich folgende Frage stelle: Der Herr Ramsauer hat
hier vor über eineinhalb Jahren erklärt, es gebe keine
Denkverbote und in seinem Haus werde intensiv darüber
nachgedacht, ob und wie eine Pkw-Maut einzuführen ist.
Jetzt, eineinhalb Jahre später, wäre doch der Zeitpunkt
gekommen, eine Idee davon zu haben, was aus diesen
Denkprozessen herausgekommen ist. Daher möchte ich
Sie inständig bitten, einmal ein paar Eckpunkte zumindest dieses Denkprozesses hier zu nennen und uns nicht
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag oder auf die nächste
Wahlperiode zu vertrösten.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich kann Ihr Interesse sehr gut verstehen. Dass es im Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung keine Denkverbote gibt, ist doch etwas sehr Gutes. Ich finde es gut,
dass da allgemein verkehrspolitisch nachgedacht werden
kann,
({0})
genauso wie Sie und sehr viele Interessenverbände es
machen. Die Logistiker, der ADAC, sehr viele Menschen in diesem Land machen sich Gedanken darüber,
wie wir möglicherweise eine Nutzerfinanzierung gestalten können. Ob dadurch ein zusätzliches Aufkommen im
Verkehrshaushalt entsteht oder ob dies aufkommensneutral ist, wie viele ausländische Fahrzeuge davon betroffen wären - all das sind allgemeine politische Fragen,
über die jeder diskutieren kann.
({1})
Ich kann Ihnen nur so viel sagen:
({2})
Es gibt kein Konzept im Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung, das Ihnen vorzulegen wäre.
({3})
Deshalb kann ich Ihnen leider auf diese Frage keine Antwort geben. Sie werden von uns kein Konzept bekommen.
Frau Lühmann, bitte.
Eigentlich wollte ich eine ähnliche Frage stellen.
Das habe ich mir gedacht.
Ihre Antwort bringt mich aber zu einer anderen Frage. - Der Minister hat mehrfach - nicht nur vor eineinhalb Jahren - in der Presse dargestellt, dass er seinem
Haus den Auftrag gegeben hat, über die Einführung einer Pkw-Maut nachzudenken und ihm das Ergebnis vorzulegen. Sie sagen jetzt, Sie können uns das Ergebnis
dieser Überlegungen nicht darlegen. Stimmen Sie mir
zu, dass Sie den Anweisungen Ihres Ministers nicht gefolgt sind?
({0})
Es gibt keine Anweisung.
({0})
Dann sagt der Minister die Unwahrheit?
Selbstverständlich hat der Minister völlig recht, wenn
er sagt, dass es keine Denkverbote gibt. Aber wenn der
Denkprozess noch nicht abgeschlossen ist, dann kann Ihnen schlechterdings nichts vorgelegt werden. So einfach
ist die Welt.
({0})
Ich rufe die Frage 12 des Kollegen Groß auf:
Kann das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Berichte der Süddeutschen Zeitung bestätigen, in denen dargestellt wird, dass im Zusammenhang mit
dem Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 mehrere Projekte,
wie der für den Wirtschaftsraum Nordrhein-Westfalen hochwichtige Rhein-Ruhr-Express, RRX, nicht aus dem Vorgängerplan übernommen werden?
Lieber Herr Kollege Groß, ich kann Ihnen darüber relativ wenig Auskunft geben, weil es keinen neuen Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 gibt.
({0})
Herr Groß, Sie haben eine Nachfrage? - Bitte schön.
Können Sie mir dann erklären, warum in der Presse
deutlich und definitiv beschrieben wurde, dass der RRX
- eines der wichtigsten Projekte im Ruhrgebiet, um die
Mobilität der Menschen dort zu verbessern - bis 2015
nicht finanziert werden wird?
Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich gehe davon
aus, dass die Grundlage für all das, was innerhalb und
außerhalb des Verkehrsausschusses öffentlich diskutiert
wird, ein Arbeitspapier ist, das nicht abgestimmt worden
ist, und zwar weder mit der Leitung des Hauses noch mit
den Bundesländern, die zwingend zu beteiligen sind.
Deshalb ist all das, was im Moment öffentlich diskutiert
wird, reine Spekulation.
Herr Groß, Sie haben eine zweite Nachfrage?
Stimmen Sie mir denn zu, dass der RRX ein so wichtiges Projekt ist, dass Sie alles Notwendige tun werden,
um das Projekt in den nächsten vier Jahren umzusetzen?
Jedes Verkehrsprojekt in Deutschland ist unheimlich
wichtig.
({0})
Herr Herzog, bitte.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die sehr wichtige
Aussage, die Sie eben getroffen haben. Es lässt Rückschlüsse auf die Arbeit des Verkehrsministeriums zu,
wenn deutlich wird, dass alle Projekte als gleichermaßen
wichtig angesehen werden.
Meine Frage zielt auf Ihre Aussage ab, dass sich die
Arbeitspapiere, von denen wir heute Morgen im Verkehrsausschuss gehört haben, noch in der Abstimmungsphase befinden. Herr Ramsauer kennt sie wahrscheinlich
gar nicht. Könnten Sie unsere Ungeduld begrenzen, indem Sie uns sagen, wann der Deutsche Bundestag von
diesen Papieren offiziell Kenntnis erhalten wird?
Wenn der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesen Plan offiziell aufgestellt hat, wird er
vorgestellt. Das wird erst dann passieren, wenn es eine
Abstimmung innerhalb des Hauses, aber auch mit den
Bundesländern gegeben hat; denn die Bundesländer sind
für uns im Wege der Auftragsverwaltung beispielsweise
im Straßenbau tätig. Deshalb ist eine Abstimmung mit
den Bundesländern gerade beim Investitionsrahmenplan
eine sehr wichtige Angelegenheit. Ich gehe davon aus,
dass Sie noch in diesem Jahr darüber informiert werden.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Hacker auf:
Wie ist der Stand der Erarbeitung eines neuen Investitionsrahmenplanes, IRP, für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes,
nachdem der bisherige IRP 2010 ausgelaufen ist?
Bitte schön, Herr Mücke.
Das ist ein ähnliches Thema. Derzeit wird der Entwurf des Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 für die
Verkehrsinfrastruktur des Bundes erarbeitet. Der Referentenentwurf befindet sich gegenwärtig in der Abstimmung.
Herr Hacker, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie hatten das Thema vorhin
schon gestreift. Meine konkrete Nachfrage lautet: Wie
weit sind Sie denn im Hinblick auf die Abstimmungen
mit den Ländern? Kann man sagen, dass Sie den Entwurf für einen neuen Investitionsrahmenplan inhaltlich
und auch projektbezogen mit den Ländern verbindlich
abgestimmt haben?
Wir werden diesen Investitionsrahmenplan zunächst
im Haus fertig abstimmen und dann den Bundesländern
in sehr kurzer Frist offiziell übergeben. Offensichtlich
existieren Arbeitsfassungen, die sich noch ändern können. Das aber, was offiziell abgestimmt ist, wird den
Bundesländern zur Stellungnahme zugeleitet werden.
Nach dieser Abstimmung wird es auch eine offizielle
Vorstellung des Investitionsrahmenplans geben.
Sie haben eine zweite Nachfrage. Bitte schön.
Im mittlerweile abgelaufenen Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 war eine ganze Reihe von Verkehrsprojekten enthalten, die nicht zu Ende geführt worden
sind bzw. gar nicht erst begonnen wurden. Welche Prioritätskriterien sind eigentlich maßgeblich für die Erarbeitung des neuen Investitionsrahmenplans, der bis 2015
gelten soll, und wie gehen Sie mit den nicht fertiggestellten Verkehrsprojekten um?
Wir sind gerade dabei, zunächst einmal die Projekte
fertigzustellen, die sich aktuell im Bau befinden. Es ist
vernünftig, so vorzugehen, und zwar unabhängig davon,
ob sie im Investitionsrahmenplan enthalten sind oder
nicht. Im Moment werden auch einige Maßnahmen fertiggestellt, die nicht im Investitionsrahmenplan verankert wurden.
Ich kann hier zu einzelnen Verkehrsprojekten keine
Auskunft geben, weil es noch keinen abgestimmten Investitionsrahmenplan gibt. Ich muss Sie an dieser Stelle
um Geduld bitten. Sie alle kennen das Verfahren. Zunächst einmal sind wir durch die Ausbaugesetze sowohl
in Bezug auf die Schienenwege als auch in Bezug auf die
Bundesstraßen verpflichtet gewesen, eine BedarfsplanParl. Staatssekretär Jan Mücke
überprüfung vorzunehmen. Diese hat im letzten Jahr
stattgefunden. Auf Grundlage dieser Bedarfsplanüberprüfung, bei der das Nutzen-Kosten-Verhältnis der einzelnen Maßnahmen untersucht wurde, ist der neue Investitionsrahmenplan in die Bearbeitung gegangen.
Ein weiteres wichtiges Kriterium sind die in diesem
Jahr zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel, die geplanten Haushaltsmittel für das nächste Jahr und die Mittel, die uns im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung zugesagt werden. Das alles sind die Rahmenbedingungen, auf deren Grundlage Ihnen dieser Investitionsrahmenplan dann letztendlich vorgestellt wird.
Herr Groß hat noch eine Frage.
Herr Mücke, Sie haben vorhin gesagt, alle Projekte
seien wichtig. Können Sie mir erklären, nach welchen
Kriterien die Bundesregierung Projekte umsetzt? In Bayern wurde zum Beispiel der Kirchholztunnel gebaut.
Das war ein Projekt aus dem Weiteren Bedarf, Kosten
168 Millionen Euro für eine Strecke von 5 Kilometern.
Andere Projekte wie zum Beispiel der RRX werden dagegen nicht in den Investitionsrahmenplan aufgenommen.
Wie Sie wissen, arbeiten wir sehr eng mit den Bundesländern zusammen; denn wir haben eine Auftragsverwaltung. Das heißt, wenn der Deutsche Bundestag über
den Straßenbauplan beschlossen hat, gehen wir auf die
Bundesländer zu und besprechen ein Ausbauprogramm.
Wenn wir wissen, wie viel Geld zur Verfügung steht,
können wir auch mit den Bundesländern besprechen,
was wir konkret umsetzen. Anhand dieser Abstimmungen mit den Bundesländern werden dann die einzelnen
Maßnahmen umgesetzt. Das ist ein partnerschaftliches
Verfahren mit den Bundesländern, das sich sehr bewährt
hat.
Herr Burkert, bitte.
Herr Staatssekretär, ein Projekt des Vordringlichen
Bedarfs in Bayern ist die Elektrifizierung der Strecke
von Nürnberg nach Marktredwitz und die Weiterführung
nach Tschechien bzw. Prag. Können Sie uns sagen, ob
die dafür notwendigen 460 Millionen Euro im Investitionsrahmenplan vorgesehen sind oder ob sie dem Rotstift des Ministers zum Opfer fallen?
Auch wenn Sie nach weiteren einzelnen Projekten
fragen, bleibe ich bei meiner Antwort: Solange es keinen
abgestimmten Investitionsrahmenplan gibt, kann ich zu
einzelnen Verkehrsprojekten nicht Stellung nehmen.
Wir kommen jetzt zur Frage 14 des Kollegen Hacker:
Welche im derzeit gültigen Investitionsrahmenplan 2006
bis 2010 verankerten Bauprojekte haben derzeit Baurecht,
können aber aufgrund fehlender finanzieller Mittel des Bundes nicht begonnen werden ({0})?
Aussagen zu konkreten Projekten sind angesichts des
gegenwärtigen Arbeitsstandes derzeit noch nicht möglich.
Herr Hacker, Sie haben eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, wir haben bei der Erarbeitung des
Investitionsrahmenplans Projekte für Straße, Schiene
und Wasserwege, konkret bezogen auf die Länder, definiert. Diese sollten nach bestimmten Vorrangigkeiten abgearbeitet werden. Für diese Projekte wurden in diesem
Planungszeitraum auch Finanzmittel eingestellt. Insofern verwundert mich Ihre Aussage, dass Sie die im Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 konkret benannten
Projekte hinsichtlich der Baureife und der künftigen
Überführung in den neuen Investitionsrahmenplan nicht
konkret bestimmen können.
Das kann ich verstehen. Wir reden über ungelegte
Eier. Es gibt noch keinen Investitionsrahmenplan 2011
bis 2015. Deshalb kann ich Ihnen zu einzelnen Verkehrsprojekten keine Auskunft geben.
({0})
Herr Hacker bitte, eine zweite Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich muss auf meine schriftliche
Frage verweisen. Ich habe gefragt:
Welche im derzeit gültigen Investitionsrahmenplan
2006 bis 2010 verankerten Bauprojekte haben derzeit Baurecht, können aber aufgrund fehlender finanzieller Mittel des Bundes nicht begonnen werden …?
Da hatte ich um eine länderscharfe Darstellung gebeten.
Ich kann Ihnen keine Auskunft geben zu Projekten,
die möglicherweise im künftigen Investitionsrahmenplan mit berücksichtigt werden.
({0})
- Ich kann Ihnen diese Liste gerne zukommen lassen; ich
habe sie jetzt nicht dabei.
({1})
Ich weiß aber nicht, was das mit dem Investitionsrahmenplan für 2011 bis 2015 zu tun haben soll.
({2})
Herr Herzog, Sie hatten sich nicht gemeldet, sondern
sich nur körpersprachlich geäußert?
({0})
Herr Beck, bitte.
Ich frage Sie, ob den Staatssekretären der Bundesregierung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der letzten Wahlperiode zu ihren Antwortpflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag bekannt
ist. Ich finde es eine Ungezogenheit, wenn Sie hier auf
eine im Rahmen der Fragestunde schriftlich eingereichte
Frage - wenn hier mündlich nach etwas gefragt wird,
was nicht vorbereitet werden konnte, habe ich Verständnis -, in der präzise nach Sachverhalten gefragt wird
- im vorliegenden Fall, welche Bauprojekte Baurecht haben und welche Rangfolge sie in diesem Plan einnehmen -,
keine Antwort parat haben. Dazu müssen Sie im Ministerium einen Stehsatz haben.
({0})
Ich erwarte, dass die Staatssekretäre der Bundesregierung die Antworten mitbringen und hier vortragen und
dass entsprechend nachgefragt werden kann. Sie schneiden dem Parlament jede Nachfragemöglichkeit ab, wenn
Sie die Antworten nur schriftlich zuschicken.
({1})
Dafür haben wir ein anderes Instrument in der Geschäftsordnung, nämlich die schriftliche Frage; dort
funktioniert das so.
Ist Ihnen diese Rechtsprechung bekannt, und geruht
die Bundesregierung, sich in Zukunft daran zu halten?
Herr Kollege Beck, diese Rechtsprechung ist mir bekannt. Ich kann nur darauf verweisen, dass der Kollege
Hacker nicht nur nach diesen Projekten gefragt hat. Vielmehr ist die Zielrichtung, dass die Projekte, die in dem
alten Investitionsrahmenplan enthalten waren und nicht
umgesetzt worden sind, möglicherweise im neuen Investitionsrahmenplan mit verankert werden müssten.
({0})
Da der Investitionsrahmenplan für die nächste Periode
aber noch nicht vorliegt, kann ich zu einzelnen Verkehrsprojekten keine Auskunft geben.
({1})
Ich habe dem Kollegen Hacker gerade eben zugesagt,
dass er eine solche Liste bekommt. Ich bin gerne bereit,
in der nächsten Fragestunde zu einzelnen Projekten Stellung zu nehmen. Das ist kein Problem.
({2})
Frau Lühmann, bitte.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie eben dem
Kollegen gesagt haben, dass Sie den derzeit gültigen Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 und die dort verankerten Bauprojekte, nach denen gefragt wurde, jetzt
nicht dabeihaben, ihn dann aber zuschicken werden?
Habe ich das so richtig verstanden?
Das haben Sie richtig verstanden, ja.
Dann sind wir jetzt bei Frage 15 des Kollegen Ernst
Dieter Rossmann.
Welche Nutzungsausfälle nach Gesamtdauer und Anzahl
der Tage durch welche Ursachen gab es nach Kenntnis der
Bundesregierung bei den beiden Großschleusen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau jeweils in den vergangenen drei Jahren
2008, 2009 und 2010 und im bisherigen Verlauf des Jahres
2011?
Die summierten Ausfallzeiten der rund um die Uhr
betriebenen beiden großen Schleusenkammern in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau sind in nachfolgender Tabelle
als Jahresstunden angegeben. Da die Ausfälle nicht immer ganze Tage betreffen, ist eine Statistik nach Kalendertagen in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen.
Der summierte Ausfall der Nord- oder Südkammer der
großen Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal betrug in Stunden in Brunsbüttel im Jahr 2008 775, 2009 994, 2010
2 724 und im Jahr 2011 bis zum 31. August 1 225 Stunden. Die Zahlen für Kiel-Holtenau lauten: 114 Stunden
im Jahr 2008, 309 Stunden im Jahr 2009, 235 Stunden
im Jahr 2010, 220 Stunden bis Ende August 2011.
Die Ursachen für die Ausfälle sind außerplanmäßige
betriebstechnische Störungen, Schiffshavarien - insbeParl. Staatssekretär Jan Mücke
sondere durch Torkollisionen und besondere Witterungslagen, also Elbsturmfluten und Eisgang - sowie planmäßige Wartungen, Instandsetzungen und Inspektionen.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Rossmann. Bitte
schön.
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus
der von Ihnen dargelegten Situation, dass es, wenn man
allein Ihre Zahlen für 2008 bis 2010 und das erste Halbjahr 2011 nimmt, einen drastischen Zuwachs an Stunden
gibt, an denen die Schleusen nicht zugänglich waren?
Wir sehen den Bedarf an einer umfassenden, mehrjährigen Grundinstandsetzung, einer Sanierung. Wir
werden die dazu vorliegenden Vorplanungen in den
nächsten Wochen aktualisieren und mögliche Varianten,
sowohl mit als auch ohne den vorlaufenden Neubau einer fünften Schleusenkammer, prüfen. Dies gilt im weiteren Verlauf auch für die großen Schleusenkammern in
Kiel-Holtenau.
Herr Rossmann, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte
schön.
Weil Sie es so darstellen, dass Sie jetzt prüfen, möchte
ich nachfragen: Wie kann es angehen, dass ein Staatssekretär Ihres Hauses, Klaus-Dieter Scheurle, im Lande
erklärt hat, dass es nicht sinnvoll und notwendig ist, im
Bundeshaushalt 2012 Investitionsmittel für den Bau
einer fünften Schleusenkammer zur Verfügung zu stellen? Der Aufwuchs bei den Stunden der nicht störungsfreien Zugänglichkeit zeigt doch deutlich, dass in Zukunft durchaus die Situation auftreten kann, dass die
beiden vorhandenen großen Schleusenkammern parallel
ausfallen. Der Kanal wäre dann dicht, sofern es keine
dritte Schleusenkammer gäbe, über die man große
Schiffe durch den Kanal in Brunsbüttel leiten könnte.
In der jetzigen Situation sind notwendige Notreparaturen aus den aktuellen Haushaltsmitteln zu bestreiten.
Ich will darauf verweisen, dass wir uns im Stadium der
Vorplanung für mögliche Sanierungsmaßnahmen an diesen Schleusen befinden. Solange wir keine Ausführungsplanung haben, macht ein Einplanen im Bundeshaushalt, also die Zurverfügungstellung von Mitteln,
keinen Sinn. Bevor das, was gebaut werden soll, umgesetzt werden kann, muss es zunächst eine Planung geben.
Herr Rix, bitte.
Ich gehe davon aus, dass bei diesen Planungen - es
gibt hier schon eine Planfeststellung - die Landesregierung mit im Boot ist. Auf welche Art und Weise binden
Sie die Landesregierung ein? Welche Forderungen stellt
die Landesregierung an Sie, wenn Sie mit ihr in Kontakt
sind?
Anders als im Fernstraßenbau haben wir im Bereich
der Bundeswasserstraßen keine Auftragsverwaltung der
Bundesländer; hier besteht eine eigene Zuständigkeit des
Bundes. Deshalb erfolgt eine Information der Landesregierung, aber keine verwaltungstechnische Abstimmung.
Wir kommen zur Frage 16 des Kollegen Rossmann:
Wie bewertet die Bundesregierung den baulichen und betrieblichen Zustand der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und
Kiel-Holtenau?
In den letzten Wochen waren beide großen Schleusenkammern in Brunsbüttel wechselseitig von technischen
Störungen betroffen. Die dafür ursächlichen Schäden an
den Führungsschienen der Schleusentore werden derzeit
schnellstmöglich repariert. Die großen Schleusenkammern in Brunsbüttel bedürfen darüber hinaus aufgrund
ihres Alters - ich erwähnte es schon - einer umfassenden, mehrjährigen Grundinstandsetzung. Die hierzu vorhandenen Vorplanungen werden in den nächsten Wochen aktualisiert; mögliche Varianten werden geprüft.
Herr Rossmann, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, dass es in Bezug auf
den Neubau einer dritten großen Schleusenkammer eine
Planfeststellung gibt? Weshalb gehen Sie in Ihren Antworten nicht auf die Möglichkeit ein, auf Grundlage der
Planfeststellung für eine zusätzliche Schleusenkammer
in eine Investitionsfinanzierung einzutreten?
Das Problem ist, dass wir hier eine wirtschaftliche
Lösung finden müssen. Es ist durchaus denkbar, dass die
vorhandenen Vorplanungen eine nicht so wirtschaftliche
Lösung vorsehen. Es muss uns möglich sein, preiswertere Alternativen zu prüfen. Ich habe Ihnen schon erläutert, dass der Verkehrshaushalt dramatisch unterfinanziert ist; das ist kein Geheimnis. Deshalb suchen wir
nach möglichst wirtschaftlichen Lösungen, um hier
einen Schleusenbau bzw. die Sanierung eines Schleusenbaus voranzutreiben.
Herr Rossmann, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Bitte sehr.
Haben Sie Verständnis dafür, dass parteiübergreifend
alle politischen Gremien im Norden Deutschlands, in
Schleswig-Holstein und in Hamburg, ebenso wie die
Wirtschaft und die Menschen in der Region erwarten,
dass die Bundesregierung die Sicherheit und nicht die
Wirtschaftlichkeit als oberstes Kriterium bei der Bewertung dieser Frage heranzieht? Mit welcher Expertise sind
Sie ausgestattet? Glauben Sie, dass Ihre aktuellen Planungen, mit denen Sie marode Schleusen notdürftig
sichermachen wollen, dem Kriterium einer dauerhaften
Sicherheit im Betrieb gerecht werden?
Ich bin sicher, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung nur Sanierungen vornimmt, die den Sicherheitsanforderungen genügen. Alles andere wäre ja auch grob
fahrlässig. Wir gehen davon aus, dass das die richtige
Reaktion ist. Ich habe aber viel Verständnis dafür, dass
der Zustand der Schleusen in den norddeutschen Bundesländern, insbesondere in Schleswig-Holstein, große
Besorgnis hervorruft. Deshalb wird die Bundesregierung
die Vorplanungen überprüfen. Wir wollen, dass dieses
Problem gelöst wird. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass
wir eine mehrjährige Sanierung dieser Schleusen anstreben. Das ist ein klares Signal an die Region, dass wir
dieses Thema sehr ernst nehmen. Dieses Thema ist nicht
nur für dieses Bundesland entscheidend, sondern für die
gesamte Seeverkehrswirtschaft im Norden Deutschlands
von enormer Bedeutung.
Herr Kollege Rix hat eine Nachfrage.
Wie sehen die Zeitplanungen genau aus? Habe ich Sie
richtig verstanden, dass Sie von dem Vorhaben abgegangen sind, dort eine dritte Schleuse zu bauen?
Nein, ich habe Ihnen gesagt, dass wir zurzeit die Vorplanungen überprüfen und mögliche Varianten erarbeiten. Das kann bedeuten, dass diese Schleusenkammer
gebaut wird. Es kann aber auch sein, dass wir zu anderen
Ergebnissen kommen. Ich darf Sie bitten, diese Überprüfung abzuwarten. Wir werden Sie selbstverständlich, wie
Sie das gewohnt sind, vollständig informieren.
({0})
Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Thönnes
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Rix auf:
Wie ist der Stand der aktuellen Planungen für die Ertüchtigung der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau,
und wie begründet die Bundesregierung die Verzögerungen
gegenüber den ursprünglichen Zeitplänen?
Die Fragen 19 und 20 werden wegen ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Dann rufe ich auch die Frage 20 des Kollegen Rix
auf:
Aus welchen Gründen favorisiert das Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nach Medienberichten
„eine kleine Lösung“, wonach anstelle des geplanten und
planfestgestellten Neubaus einer dritten Großschleuse die ursprünglich ab 2014 geplante Grundinstandsetzung der beiden
vorhandenen großen Schleusenkammern vorgezogen werden
soll ({0})?
Die Spielräume für Investitionen in Wasserstraßen
werden durch die Finanzierungsmöglichkeiten des Bundeshaushalts im Rahmen der dringend notwendigen
Haushaltskonsolidierung begrenzt. Da demnach auf
absehbare Zeit nur ein kleiner Teil der erwogenen hochwirtschaftlichen Projekte in vertretbaren Zeiträumen
realisiert werden kann, müssen konsequent sparsame
Lösungen gesucht werden.
Die großen Schleusenkammern in Brunsbüttel bedürfen aufgrund ihres Alters einer umfassenden und mehrjährigen Grundinstandsetzung. Vor dem oben genannten
Hintergrund werden in den nächsten Wochen die vorhandenen Vorplanungen aktualisiert und mögliche Varianten
sowohl mit als auch ohne vorlaufenden Neubau einer
fünften Schleusenkammer geprüft. Erst nach Vorlage der
Ergebnisse dieser Prüfung können hierzu weitere Aussagen getroffen werden.
Für den Neubau einer dritten großen Schleuse in
Brunsbüttel besteht vollziehbares Baurecht. Für die
Schleusengruppe in Kiel-Holtenau wird derzeit ein Instandsetzungskonzept erarbeitet.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Rix.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Situation an den
Schleusen bekannt ist. Deshalb frage ich nach Ihrem
politischen Willen. Sind Sie bereit, wenn die benötigten
Mittel zur Verfügung gestellt werden können, eine dritte
Schleuse zu bauen?
Der politische Wille ist hier nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass wir mit den Haushaltsmitteln sparsam
und wirtschaftlich umgehen müssen. Ich habe erläutert,
dass der Verkehrshaushalt unterfinanziert ist, und zwar
seit vielen Jahren. Wir haben eine Erblast übernommen.
({0})
Der Zustand der Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal ist ja
nicht erst seit Kurzem so schlecht. Daran möchte ich Sie
gern erinnern.
Herr Rix, Sie haben eine weitere Nachfrage. Sie haben, wenn Sie möchten, danach noch zwei weitere Möglichkeiten zur Nachfrage, weil beide Fragen gleichzeitig
beantwortet wurden.
Das kommt auf die Antworten an; so fair will ich sein.
Ich stelle noch einmal die Frage, die ich vorhin bereits
gestellt habe. Auch wenn die Landesregierung bei der
Planung von Wasserstraßen nicht direkt zu beteiligen ist,
sondern nur informiert wird, gehe ich davon aus, dass
Sie einen intensiven Kontakt mit der Landesregierung
pflegen. Mich würde interessieren, ob Forderungen der
Landesregierung bei Ihnen aufgelaufen sind und wie
diese lauten.
Wir wissen, dass die Landesregierung Wert darauf
legt, dass diese Schleusen möglichst zügig und vollständig instand gesetzt werden. Wir kennen die Forderung
aus der Region, aber wir müssen uns an das Wirtschaftlichkeitsgebot halten. Deshalb versuchen wir, gemeinsam mit dem Land zu Lösungen zu kommen, die vor Ort
akzeptiert werden können. Aber zunächst einmal ist für
uns wichtig, dass wir für die Wasserstraßenverwaltung in
eigener Verantwortung tätig sind, und das wird auch
künftig so sein.
Herr Rix hat noch eine weitere Frage.
Sie haben nun zum wiederholten Male die Wirtschaftlichkeit an erste Stelle gestellt. Ich möchte Sie fragen, an
welcher Stelle die Sicherheit bei Ihnen steht.
Wirtschaftlichkeit und Sicherheit sind kein Gegensatz. Nicht jede wirtschaftliche Lösung ist automatisch
unsicher. Es ist doch ganz klar, dass wir für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs im Wasserstraßenbereich Sorge tragen. Sie können beruhigt sein: Wir werden der Sicherheit selbstverständlich genauso unser
Augenmerk widmen wie der Wirtschaftlichkeit.
Herr Rossmann hat eine Nachfrage, bitte.
Um es etwas anschaulicher zu machen: Die Dauer
einer Sanierung der Großschleusen wird von den Fachleuten auf zwei bis zweieinhalb Jahre geschätzt, die
Dauer des Neubaus einer dritten Großschleuse auf fünf
und mehr Jahre. Aktuell wird in den Schleusen Hartholz
eingebaut, damit sich die Schleusentore überhaupt noch
bewegen lassen. Können Sie uns vor diesem Hintergrund die Zeitachse für den großen Bypass über die
dritte Schleuse, also die Kapazitätserweiterung, für die
Sanierung der beiden Großkammern und für die aktuellen notdürftigen Maßnahmen darstellen? Es ist doch eigentlich logisch, dass man, weil es um Sicherheit geht,
keine Maßnahmen ergreifen darf, bei denen nicht ausgeschlossen ist, dass es am Ende zu einer Totalblockade
kommen könnte. Von daher stelle ich die Frage: Welche
Rolle spielt für Sie die Sicherheit in dem Gesamtkonzept
mit diesen drei möglichen Maßnahmen?
Für uns geht es bei diesen Notmaßnahmen - ich
kenne das Problem mit den Holzbalken - zunächst einmal darum, die Schleusentore gängig zu halten, damit
die Schleusen überhaupt arbeiten können und der sichere
Fluss des Verkehrs sichergestellt wird. Bei der Frage
nach den Varianten, Sanierung oder Neubau, muss ich
Sie auf das verweisen, was ich vorhin gesagt habe. Wir
überprüfen dies im Moment. Ich darf Sie bitten, diese
Überprüfung abzuwarten. Wir werden Sie rechtzeitig
darüber informieren, für welche der beiden Lösungen
wir uns entschieden haben. Dabei spielen die Aspekte
Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs genauso eine
Rolle wie die Wirtschaftlichkeit.
Herr Rossmann kann keine weitere Nachfrage stellen,
weil er nicht der ursprüngliche Fragesteller ist.
Die Frage 21 der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm,
die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Hans-Peter
Bartels sowie die Fragen 24 und 25 der Kollegin Bettina
Hagedorn werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 26 des Kollegen Gustav
Herzog:
Kann die Bundesregierung den Standort und den Personalstand des Wasser- und Schifffahrtsamtes Hannoversch Münden zusichern?
Im Rahmen der laufenden Organisationsuntersuchung
werden unter anderem die im zweiten Bericht zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung an den
Deutschen Bundestag dargestellte mögliche Zielstruktur
für den Außenbereich, die Ämter und die Direktion intensiv überprüft. Über die notwendigen Anpassungen
der Personalstruktur und der Aufbauorganisation kann
erst nach Abschluss der Untersuchung entschieden werden. Die Organisationsüberprüfung erfolgt ausdrücklich
ergebnisoffen, sodass zum jetzigen Zeitpunkt keine de14810
taillierten Aussagen zur zukünftigen Aufbauorganisation
möglich sind.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Herzog? Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, dass Sie mir die
Antwort auf meine Frage 08/439 vorgelesen haben, die
mir Ihr Kollege Ferlemann bereits gegeben hatte. Ich
war in der Zwischenzeit fleißig und habe mich etwas
umgehört. Ich frage Sie jetzt, wie Sie im Hinblick darauf, dass Sie gesagt haben, alles werde ergebnisoffen
geprüft, dem Deutschen Bundestag, den Abgeordneten
könne man keine Informationen geben, zu dem Brief stehen, den Ihr Kollege Ferlemann mit Datum vom 12. Mai
dieses Jahres an den Landrat Schermann im Landkreis
Göttingen geschrieben hat? Ich zitiere aus diesem Brief:
Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang versichern, dass die Aufgabe des Standortes
Hann.Münden nicht geplant ist. Ferner wird es im
Zuge der WSV-Reform weder zu einem zusätzlichen Personalabbau noch zu betriebsbedingten
Kündigungen in der WSV kommen.
Ich kenne dieses Schreiben nicht. Ich kann Ihnen nur
sagen, dass die gesamte Untersuchung zur WSV-Reform
noch läuft. Wir wollen den Entscheidungen des Haushaltsausschusses und des Deutschen Bundestages insgesamt nicht vorgreifen. Ganz klar ist, dass der Haushaltsausschuss unser Haus beauftragt hat, eine Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu prüfen und Reformvorschläge vorzulegen. Wir sind dabei, in der bewährten Systematik - zunächst einmal Netzkategorisierung und dann Aufbau der Verwaltung - Vorschläge zu
erarbeiten. Es gibt noch keine fertige Aufbauorganisation, weil wir noch mitten im Reformprozess stecken.
Deshalb möchte ich Sie bitten, sich bis zum Abschluss
dieser Arbeiten zu gedulden. Ich bin mir sehr sicher,
dass wir Ihnen dann schnell eine Auskunft geben können.
Sie haben eine weitere Nachfrage, Herr Herzog?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, da Sie mich jetzt bitten, zu warten, bis Sie mit der ergebnisoffenen Prüfung fertig sind,
frage ich Sie: Wie erklären Sie sich, dass auch die Bundestagskollegen Hartwig Fischer und Lutz Knopek, Abgeordnete Ihrer Koalition, mit Datum vom 16. April
2010 in der Mündener Rundschau mit der Aussage, dass
die WSV in Hannoversch Münden sicher ist, zitiert werden? Geben Sie den Abgeordneten des Deutschen Bundestages unterschiedliche Auskünfte?
Das wäre vielleicht auch eine Frage an die Präsidentin: Warum bekommen wir hier keine Auskunft, während Abgeordneten der Koalition und Landräten schriftlich mitgeteilt wird, dass ihre Ämter erhalten bleiben?
Ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Ich weiß
nicht, auf Basis welcher Datenlage die betreffenden Kollegen diese Aussagen getroffen haben; das müssten Sie
die Kollegen selbst fragen. Für das Bundesverkehrsministerium kann ich Ihnen nur sagen, dass die Reform
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung noch nicht abgeschlossen ist und Organisationsfragen noch offen sind.
Herr Pronold.
Der Kollege hat aus einem Brief Ihres Ministeriums,
in dem schon Auskünfte zur WSV-Reform erteilt werden, zitiert. Dieser Brief wurde von Ihrem Kollegen
Ferlemann unterzeichnet. Hat er dem Landrat etwas Falsches geschrieben?
Das weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die
Prüfung ergebnisoffen durchgeführt wird.
({0})
Niemand kann heute Aussagen dazu treffen, ob der
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die Reformvorschläge des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung billigen wird
({1})
und ob er die Vorschläge zur Aufbauorganisation für
richtig hält. All das sind Fragen, die noch offen sind.
Deshalb kann ich Ihre Frage nicht beantworten.
({2})
Frau Gottschalk.
Herr Staatssekretär, auch ich finde das in der Tat etwas merkwürdig; da schließe ich mich dem Kollegen
Pronold an. Aber: In Niedersachsen fanden Kommunalwahlen statt. Vielleicht ist das eine Erklärung.
({0})
Sehr geschätzter Herr Mücke, auch ich habe eine
Frage. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass laut
Ihrem Ablaufplan zur Modernisierung der WSV bereits
Investitionsentscheidungen getroffen wurden, obwohl
Sie gerade wieder gesagt haben, dass alles offen ist, dass
es bisher noch keine Kriterien zur Prüfung der Kategorien gibt und dass es auch keine Prüfungen der Ablauforganisation der WSV als Entscheidungshilfe gibt? Wie
können Sie mir diese Diskrepanz erklären?
Das lässt sich dadurch erklären, dass wir uns noch
mitten in diesem Reformprozess befinden.
({0})
Sie stellen heute sehr viele Fragen zu wichtigen verkehrspolitischen Zukunftsentscheidungen. Aber das sind
Entscheidungen, die noch nicht endgültig getroffen sind
und bei denen wir uns noch mitten im Arbeitsprozess befinden.
({1})
Ich kann Ihren Ärger darüber, dass sich der eine oder andere Kollege aus diesem Haus zu diesem Thema schon
öffentlich geäußert hat, verstehen.
({2})
Aber ganz klar ist, dass die gesamte Reform der Wasserund Schifffahrtsverwaltung noch in Arbeit ist und dass
deshalb heute noch kein endgültiges Ergebnis vorliegen
kann. Wenn ich Ihnen heute sage, dass beispielsweise
die Prüfung der Aufbauorganisation der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung ergebnisoffen durchgeführt wird,
dann ist das so. Niemand kann dazu eine andere Aussage
treffen. Diese Prüfung wird ergebnisoffen durchgeführt.
Der Deutsche Bundestag hat zu Recht einen Anspruch darauf, dass er über den Haushaltsausschuss von
uns die Informationen bekommt, die er verlangt. Wir
sind aufgefordert worden, diese Reform vorzulegen. Genau das tun wir. Wir sind mitten in der Arbeit, und Sie
werden die Ergebnisse vorgelegt bekommen. Bis dahin
werden noch keine Entscheidungen getroffen worden
sein.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Herzog auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der deutschen Binnenschifffahrt im europäischen Wettbewerb, und
mit welchen Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung
diese zu verbessern?
Die Bundesregierung schätzt die Lage der Binnenschifffahrt mittel- und langfristig positiv ein. Die
Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Binnenschifffahrt noch über erhebliche Wachstumspotenziale
verfügt. Die aktuelle Lage der Binnenschifffahrt ist noch
von Überkapazitäten gekennzeichnet. Dies gilt ganz besonders für die Tankschifffahrt. Die Gütermenge und die
Verkehrsleistung der Binnenschifffahrt sind in den letzten Jahren aber deutlich angestiegen.
Nach der aktuellen Kurzfristprognose - Sommer 2011 wird die Binnenschifffahrt im Jahr 2011 das Vorkrisenniveau wohl noch nicht erreichen. Erst im Jahr 2012
wird die Gütertransportleistung das Topniveau von 2008
übertreffen.
Die Bundesregierung fördert die Wettbewerbsfähigkeit der Binnenschifffahrt durch zahlreiche infrastrukturelle, finanz- und ordnungspolitische Maßnahmen, zum
Beispiel durch die Ausbildungsförderung, die Weiterbildungsförderung, die Terminalförderung und die Entfristung des § 6 b Einkommensteuergesetz. Daneben engagieren wir uns im Forum Binnenschifffahrt und Logistik,
und wir haben ein nationales Hafenkonzept entwickelt.
Herr Herzog, Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank für diese Antwort, Herr Staatssekretär. Sie fördern ja auch die Umrüstung von Motoren, damit
die Binnenschifffahrt ihren ökologischen Vorteil noch
stärker untermauern kann. Können Sie sich vorstellen,
dieses Programm auch über das Jahr 2012 hinaus zu erhalten und die Mittel eventuell sogar aufzustocken?
Das liegt nicht in meinem Ermessen; denn es ist die
Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, zu entscheiden, wie
viele Mittel uns für dieses Programm zur Verfügung gestellt werden. Ich bin immer für eine Aufstockung des
Verkehrsetats zu haben, ganz egal, an welcher Stelle. Die
Mittel können wir gut gebrauchen.
({0})
Sie haben aber völlig recht: Die Umrüstung von
Schiffsdieseln in der Binnenschifffahrt ist ein wichtiges
Ziel. Wir würden uns freuen, wenn wir vom Haushaltsgesetzgeber mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet
werden.
({1})
Herr Herzog, Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, es freut mich, dass Sie so viel
Respekt vor dem Haushaltsgesetzgeber haben. Vielleicht
kann sich die Bundesregierung aber doch dazu aufraffen,
den Vorschlag zu machen, dies entsprechend fortzusetzen, und das auch in die Entwürfe, die dem Parlament
vorgelegt werden, hineinzuschreiben.
Wie Sie wissen, befinden wir uns im Status der Haushaltskonsolidierung. Die gesamte Bundesregierung
- alle Häuser - muss dazu beitragen, dass wir eines Tages einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen können. Das heißt, dass wir alle unter erheblichen Sparzwängen stehen und vieles Wünschenswerte gerne im
Verkehrshaushalt vorfinden würden, das wir im Moment
nicht ausreichend finanzieren können. Ganz klar ist
nämlich, dass wir uns als Gesamtstaat nicht übernehmen
können; denn wir sehen ja an einigen europäischen Partnerländern, wohin es führen kann, wenn man sich zu
sehr verschuldet.
Frau Lühmann.
Herr Staatssekretär, es geht jetzt einmal nicht um die
Zukunft, sondern um die Vergangenheit, nämlich um die
Schleuse Kleinmanchow. Es gibt einen Planfeststellungsbeschluss aus dem Jahr 2002. Die Bundesregierung
hat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage - Drucksache 17/511 - festgestellt, dass der Ersatz der Schleuse
Kleinmalchow aufgrund ihres Zustandes zwingend erforderlich ist und dass das nichts mit irgendwelchen Verkehrszahlen zu tun hat.
({0})
Ich frage Sie, warum Sie diesen Planfeststellungsbeschluss im Dezember 2010 zurückgenommen haben, obwohl Sie in der Antwort auf die Kleine Anfrage gesagt
haben, dass der Ersatz zwingend erforderlich ist.
Frau Kollegin, ich gehe davon aus, dass Sie nicht die
Schleuse Kleinmalchow und auch nicht die Schleuse
Kleinmanchow, sondern die Schleuse Kleinmachnow
meinen.
({0})
- Wie bitte?
({1})
- Ich korrigiere die Kollegin ja nur ungern, aber ich
finde, das ist die pure Wahrheit, und das muss hier gesagt werden. Das ist also die Schleuse Kleinmachnow.
Der Ausbau dieser Schleuse war ursprünglich vorgesehen. Wir haben diesen Planfeststellungsbeschluss
nicht vollzogen, weil wir einen erheblichen Druck aus
der Region und den Zweifel gespürt haben, dass dieses
Projekt so einfach umsetzbar wäre.
Die Frau Kollegin Behm lächelt mich die ganze Zeit
interessiert an. Sie ist beispielsweise eine der Kolleginnen, die massiv gegen den Ausbau dieser Schleuse zu
Felde gezogen sind.
({2})
Zum Bedarf dieser Schleuse gibt es durchaus sehr unterschiedliche Einschätzungen. Bundesminister Peter
Ramsauer hat entschieden, dass dieser Planfeststellungsbeschluss zunächst nicht vollzogen wird.
Ich glaube, dass wir im Sinne einer Priorisierung von
Maßnahmen, gerade bei den Bundeswasserstraßen, diejenigen Maßnahmen umsetzen sollten, die ganz besonders hochwirtschaftlich sind.
Ich erteile Herrn Burkert zur nächsten Nachfrage das
Wort.
Herr Staatssekretär, wie kommt es eigentlich, dass
Binnenschiffe auf dem deutschen Binnenwasserstraßennetz unter maltesischer Flagge fahren, obwohl wir keine
Binnenwasserstraße erdacht haben und, soweit ich weiß,
noch keine Wasserstraße Deutschland und Malta verbindet?
Diese Frage kann ich Ihnen so aus dem Hut nicht beantworten. Ich nehme sie aber gerne mit und werde Ihnen gerne eine Antwort zukommen lassen.
({0})
Frau Gottschalk.
Herr Staatssekretär, unter welchen Tarifbedingungen
arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Binnenschifffahrtsunternehmen - damit meine ich die
Schwarze und die Weiße Flotte - mit Sitz in Deutschland
im Vergleich zu Unternehmen mit Sitz im europäischen
Ausland? Welche Maßnahmen unternimmt die BundesUlrike Gottschalck
regierung gegen Dumpinglöhne in der Binnenschifffahrt?
Die Binnenschifffahrt ist wie jeder andere Wirtschaftszweig vollständig frei, mit den Tarifpartnern gemeinsam einen Tarifvertrag auszuhandeln. Die Bundesregierung wird sich in die Findung von Tarifen ganz
sicher nicht einmischen. Das liegt nämlich nicht in unserer Zuständigkeit.
Herr Pronold, bitte schön.
Auch mir geht es um die Binnenschifffahrt und die
Fahrgastschifffahrt. Zum 31. Dezember läuft die geltende Regelung zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz
aus. Ist denn daran gedacht, das fortzusetzen? Ergänzend: Was ist, wenn Übernachtungsmöglichkeiten auf
dem Schiff sind, werden sie dann wie Hotels bewertet?
({0})
Es läuft noch eine Diskussion darüber, die vor allen
Dingen von den Finanzpolitikern zu entscheiden ist. Das
Bundesverkehrsministerium wird dazu keine Stellung
nehmen.
({0})
Noch eine Nachfrage, Frau Kressl. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, mich würde interessieren, wie Sie
die Aussage bewerten, die wir heute von der Bundesregierung im Finanzausschuss gehört haben, dass die
Bundesregierung keinen Vorschlag zur Verlängerung des
ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorlegen will.
({0})
Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Ich habe Ihnen
vorhin gesagt, was ich darauf antworte. Das ist eine
Frage, die selbstverständlich der Gesetzgeber zu entscheiden hat. Die Bundesregierung hat ihre Position
deutlich gemacht.
({0})
Wir kommen zur Frage 28 der Kollegin
Schwarzelühr-Sutter:
Wann beginnt die Bundesregierung mit der im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vorgesehenen schrittweisen Reduzierung des Schienenbonus, und wann wird das
Ziel erreicht, ihn ganz abzuschaffen?
Frau Kollegin, die Antwort auf Ihre Frage lautet: Der
Koalitionsvertrag sieht vor, den Schienenbonus schrittweise zu reduzieren mit dem Ziel, ihn ganz abzuschaffen. Die Bundesregierung sieht es als ihre Aufgabe an,
differenzierte Aspekte der Lärmcharakteristik, der konkreten schutzbedürftigen Situation und der Wirkung auf
den Menschen zu betrachten und auch die finanziellen
Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erarbeitet derzeit den Entwurf einer Änderungsverordnung zur 16. BImSchV, der voraussichtlich
bis Ende 2011 vorgelegt wird und danach innerhalb der
Bundesregierung abzustimmen ist.
Sie haben eine Nachfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, könnten Sie uns schon die Eckpunkte dieses Entwurfs mitteilen? Die Hälfte der Legislaturperiode ist schließlich schon vorbei.
({0})
Sie sind in der Tat sehr ungeduldig. Dieses Projekt befindet sich noch in der Erarbeitung. Ich darf Sie bitten,
sich bis zum Ende des Jahres 2011 zu gedulden.
({0})
Dann werden wir Ihnen einen Entwurf vorlegen.
Ich möchte eine ähnliche Situation wie beim Investitionsrahmenplan vermeiden, bei dem in der Öffentlichkeit über sehr vieles spekuliert wird, obwohl es noch keinen fertigen Investitionsrahmenplan gibt. Ich möchte
vermeiden, dass uns bei der schrittweisen Reduzierung
des Schienenbonus ein ähnliches Schicksal ereilt.
Sie haben eine zweite Nachfrage? Bitte schön.
Halten Sie es für möglich, dass die Umsetzung noch
in dieser Legislaturperiode erfolgt?
Wenn wir die Verordnung jetzt auf den Weg bringen,
dann gehe ich davon aus, dass wir ({0})
- ja, Ende 2011 - das Projekt innerhalb der Bundesregierung zeitnah abstimmen können und innerhalb dieser Legislaturperiode, die bis September 2013 andauert, umsetzen werden.
({1})
- Ich bin sehr optimistisch.
Wir sind damit bei Frage 29 der Kollegin
Schwarzelühr-Sutter:
Wann wird die Bundesregierung einen lärmabhängigen
Trassenpreis einführen, und wie steht sie zu der Forderung der
Deutschen Bahn AG eines öffentlich finanzierten Wagenbonussystems?
Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG am 5. Juli 2011 eine Eckpunktevereinbarung abgeschlossen, nach der die DB Netz AG zum
9. Dezember 2012 ein lärmabhängiges Trassenpreissystem mit achtjähriger Laufzeit einführen soll. Dabei ist
vorgesehen, dass der Bund zur Mitfinanzierung eines
Bonussystems aus den für die Lärmsanierung vorhandenen Haushaltsmitteln eine Zuwendung ausreicht.
Erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Inwieweit gedenkt die Bundesregierung eine Harmonisierung im Zusammenhang mit der Abschaffung des
Schienenbonus bei den lärmabhängigen Trassenpreisen
einzuführen?
Das sind unterschiedliche Regelungskreise; denn der
Schienenbonus bezieht sich auf neu zu bauende Verkehrsinfrastrukturen im Schienenbereich, während das
Trassenpreissystem auf allen Trassen Anwendung findet,
insbesondere auf den heute schon vorhandenen. Deshalb
gibt es keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Regelungskreisen. Sie ergänzen sich gegenseitig und sollen
dazu führen, dass es im Eisenbahnverkehr insgesamt zu
geringeren Lärmbelastungen kommt. Sehr viele Menschen in unserem Land sind von Eisenbahnlärm betroffen, wodurch insbesondere die Akzeptanz des Güterverkehrs sinkt. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran,
diese Akzeptanz zu erhöhen. Dazu sind beide Instrumente sehr wichtig.
Frau Kollegin, haben Sie noch eine Nachfrage? Nein. Dann stellt der Kollege Herzog eine Frage. Bitte
schön, Kollege Herzog.
Herr Staatssekretär, Sie haben das Ereignis angesprochen: Der Bundesverkehrsminister und der Chef des
DB-Konzerns haben eine Eckpunktevereinbarung beschlossen. Ich frage Sie: Darf das der Konzernchef überhaupt? Ist es nicht Sache der DB Netz AG, eine solche
Vereinbarung zu beschließen? Schließlich gibt es eine
klare Trennung zwischen Konzern und Netz. Wenn es
tatsächlich nur Eckpunkte waren: Wird dann irgendwann
ein Vertrag mit der DB Netz notwendig sein?
Wenn ich richtig informiert bin, ist es Ihre Partei gewesen, die immer an einem integrierten Konzern festgehalten hat. Das heißt, der Vorstandsvorsitzende der Holding kann für ein Tochterunternehmen natürlich Verträge
abschließen. Ihr Ansinnen wundert mich ein bisschen.
Ich habe dazu eine andere politische Auffassung. Ich
glaube, dass man diese Bereiche durchaus stärker trennen sollte, als das bisher der Fall ist.
Herr Dr. Grube ist durchaus berechtigt gewesen, solche Eckpunkte zu vereinbaren. Diese Eckpunktevereinbarung wird dazu führen, dass wir ein Trassenpreissystem bekommen werden, und zwar mit der Umstellung
auf den Winterfahrplan 2012/2013, so wie ich es Ihnen
beschrieben habe. Eine weitergehende Vereinbarung benötigen wir dafür nicht. Wir haben volles Vertrauen in
unser eigenes Unternehmen, sowohl in die DB ML AG
als natürlich auch in die DB Netz AG.
Dazu gibt es keine weitere Nachfrage.
Wir kommen zur Frage 30 des Kollegen Martin
Burkert:
Wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeit, dass
das prognostizierte steigende Güterverkehrsaufkommen vermehrt auf die Schiene verlagert wird?
Die Bundesregierung beantwortet die Frage wie folgt:
Ziel der Bundesregierung ist es, zum Erreichen der Umwelt- und Klimaschutzziele sowie zur Entlastung der
Straße die Verlagerung auf Schiene und Wasserstraße zu
fördern, wo immer dies sinnvoll ist. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die von ihr vorgesehenen investitions- und ordnungspolitischen Maßnahmen zur
Stärkung des Schienenverkehrs eine Verlagerung von
Güterverkehren auf die Schiene ermöglichen werden.
Herr Burkert, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Meine erste Nachfrage lautet: Welche Neu- und Ausbaumaßnahmen werden konkret in den nächsten fünf
Jahren für das steigende Güterverkehrsaufkommen an
den deutschen Nord- und Ostseehäfen durch die Bundesregierung realisiert?
Das ist eine versteckte Nachfrage nach dem Investitionsrahmenplan. Ich habe dazu vorhin bereits ausführlich Auskunft gegeben. Zu konkreten Projekten des
künftigen Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 kann
ich Ihnen aufgrund des Arbeitsstands heute leider keine
Auskunft geben.
Sie haben eine weitere Frage, diesmal keine versteckte, sondern eine direkte.
Ich habe immer direkte Fragen. - Wie sieht die Bundesregierung den Abfluss der Güter aus der Schweiz
nach Fertigstellung des Tunnelsystems und des Gotthardtunnels auf deutscher Seite im Jahr 2019? Werden
dafür Vorbereitungen getroffen? Wie sehen die Pläne für
den Brenner Basistunnel auf der österreichischen Seite
aus?
Wir werden hierzu im Investitionsrahmenplan Aussagen treffen. Sie wissen, dass das für uns ebenso wie die
Rheintalbahn oder auch die Fehmarnbelt-Querung eines
der sehr wichtigen internationalen Schienenverkehrsvorhaben ist. Das alles sind internationale Projekte. Zum
einzelnen Sachstand, was die Planung und Umsetzung
angeht, würde ich Ihnen gerne schriftlich Informationen
nachliefern.
Vielen Dank. - Sie haben noch eine Nachfrage, Frau
Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade bestimmte Strecken wie die Rheintalbahn genannt, zu der die Bundesregierung eine vertragliche Verpflichtung mit der Schweiz
eingegangen ist. Die Schweiz ist noch einmal verstärkt
auf die Bundesregierung zugegangen und hat diese Verpflichtung eingefordert. Mit Blick auf den IRP, der schon
mehrmals angesprochen worden ist, frage ich Sie: Welche Mittel werden im IRP eingestellt? Sind es weniger
als bisher? Was ist bei der Rheintalbahn der nächste
Schritt?
Wir möchten den Vertrag mit der Schweiz erfüllen.
Die Voraussetzung dafür ist, dass das Baurecht für die
einzelnen Abschnitte vorliegt, die realisiert werden sollen. Im neuen Investitionsrahmenplan werden Sie keine
Projekte finden, für die bis zum Jahr 2015 vermutlich
kein Baurecht vorliegen wird. In der Regel sind diese
Vorhaben zeitlich relativ anspruchsvoll. Bei Neubeginn
einer Planung muss man mit mindestens fünf bis sechs
Jahren bis zum Vorliegen eines Planfeststellungsbeschlusses rechnen.
Wir werden versuchen, die Maßnahmen auch im Dialog mit der Region schnell umzusetzen. Das ist nicht
ganz einfach, wie Sie wissen, weil sehr viele Bürgerinnen und Bürger beispielsweise wegen der Lärmbelastung, die bereits angesprochen wurde, diese Strecke kritisch hinterfragen. Gleichwohl ist für uns der Ausbau der
Rheintalbahn von enormer volkswirtschaftlicher Bedeutung. Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, dass
wir ihren Ausbau gemeinsam mit der Region hinbekommen.
Aber was den Investitionsrahmenplan anbetrifft, gilt
das, was ich vorhin gesagt habe. Ich bitte um Verständnis
dafür, dass ich zu einzelnen Projekten aus dem Investitionsrahmenplan heute keine Auskunft geben kann. Bitte
gedulden Sie sich, bis dieser vorliegt.
Eine weitere Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär Mücke, es gibt aber auch an der
Rheintalbahn baureife Projekte wie den Rastatter Tunnel. Wann wird mit dem Bau begonnen? Denn die
Rheintalbahn hat eine wichtige volkswirtschaftliche Bedeutung, wie Sie gerade gesagt haben. Dieser Tunnel hat
schon mehrere Jahre die Baureife.
Dazu kann ich heute keine Aussage treffen. Wir werden die Priorisierung der Projekte im IRP vornehmen
und Sie im Anschluss an die Erarbeitung des IRP darüber informieren, welches Projekt wann umgesetzt
wird.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Wir kommen jetzt
zu Frage 31 unseres Kollegen Martin Burkert:
Wie will die Bundesregierung Einfluss auf die Deutsche
Bahn AG und Hersteller von Güterwagen nehmen, um einen
festen Bestand von in Gebrauch befindlichen Güterwagen zu
gewährleisten?
Bitte schön, Herr Mücke.
Der Güterverkehr und damit auch die Beschaffung
und Vorhaltung von Güterwagen liegen in der unternehmerischen Verantwortung der Eisenbahnverkehrsunternehmen und somit auch der Deutschen Bahn AG. Es ist
eigenverantwortliche Aufgabe der Deutschen Bahn AG,
für einen ausreichenden Bestand an Fahrzeugen zu sorgen. Die Bundesregierung nimmt hierauf keinen Einfluss.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, was unternimmt die Bundesregierung, um die 600 000 Güterwagen in Europa, davon
180 000 in Deutschland, auf die Kunststoffbremssohle
umzurüsten und die Akzeptanz in der Bevölkerung im
Hinblick auf Schienenlärm zu verbessern?
Wir haben ein Förderprogramm ausgereicht, um die
Umrüstung der Güterwagen voranzubringen. Ich will an
meine Auskunft von vorhin erinnern: Wir setzen mit
dem lärmabhängigen Trassenpreissystem einen betriebswirtschaftlichen bzw. marktwirtschaftlichen Anreiz, Güterwagen umzurüsten. Jemand, der mit besonders alten
und lauten Güterwagen fahren wird, wird ab Dezember
2012 besonders hohe Trassenpreise zahlen. Es gibt also
einen wirtschaftlichen Anreiz, Güterwagen umzurüsten.
Wir haben mit unserem Förderprogramm zur Umrüstung
von Güterwagen gute Erfahrungen gemacht. Mit reinen
Subventionen kann das Problem nicht behoben werden.
Wir sind der Meinung, dass das lärmabhängige Trassenpreissystem ausreichend Anreize bietet, Güterwagen
umzurüsten.
Ihre zweite Nachfrage, bitte schön, Kollege Martin
Burkert.
Herr Staatssekretär, gibt es in Ihrem Hause Überlegungen, DB Schenker Rail aus dem DB-Konzern herauszulösen und zu privatisieren, um den Haushalt zu
konsolidieren?
Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, weil die Beteiligungsverwaltung im BMF angesiedelt ist. Ich selber bin
nicht Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn
AG. Das müssten Sie den Bundesfinanzminister fragen.
Bitte schön, Kollege Pronold, eine Nachfrage.
Ich bin überrascht, dass die sonst so gut zusammenarbeitende und untereinander bestens verknüpfte Bundesregierung nicht weiß, ob es entsprechende Pläne gibt.
Dem Verkehrsministerium muss doch bekannt sein, ob
Privatisierungspläne bezüglich Schenker vorhanden
sind. Falls Sie das wirklich nicht wissen - ich will Ihnen
nichts Böses unterstellen -: Könnten Sie es herausfinden
und es uns dann mitteilen?
Wir reden nur über Entscheidungen, die wir getroffen
haben. Wir sollten uns nicht gegenseitig Vermutungen
vorhalten. Sie erwarten doch sicherlich, dass Ihnen die
Bundesregierung zutreffende Antworten zu Entscheidungen gibt, die sie getroffen hat. Wir haben hier eine
ähnliche Diskussionslage wie schon bei einigen anderen
Themen, die heute besprochen wurden. Es gibt eine allgemeine politische Diskussion über mögliche Privatisierungen. Eine Entscheidung dazu ist jedenfalls nicht getroffen.
Vielen Dank. - Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann,
eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich richtig verstanden, dass
Sie der Meinung sind, dass die lärmabhängigen Trassenpreise ausreichend sind, um alle europäischen Güterwagen, die eine sehr lange Lebensdauer haben, zeitnah umzurüsten? Wie kommen Sie zu dieser Auffassung, da
doch die DB und andere augenscheinlich anderer Auffassung sind?
Ich glaube, dass wir mit dem lärmabhängigen Trassenpreissystem einen wirtschaftlichen Anreiz setzen,
eine entsprechende Umrüstung vorzunehmen. Es wird
für die Unternehmen sehr viel teuer werden, mit alten
Güterwagen zu fahren. Wir werden laufend überprüfen,
ob die Umsetzung des Trassenpreissystems funktionieren wird. Ich gehe davon aus, dass dieser Anreiz ausreichen wird, eine entsprechende Umrüstung vorzunehmen.
Wir können das selbstverständlich nicht für alle Güterwagen, die in Europa fahren, veranlassen, aber wir
können ganz sicher ein Anreizsystem auf unseren Strecken einführen, die natürlich auch von ausländischen
Güterwagen befahren werden. Es spielt dabei keine
Rolle, wer dort entlangfährt. Entscheidend ist, dass derjenige mit altem Wagenmaterial mehr zahlen muss als
jemand, der modernes Wagenmaterial verwendet. Deshalb gehen wir davon aus, dass damit eine spürbare Entlastung der Bevölkerung stattfinden wird.
Eine weitere Zusatzfrage von Frau Kollegin
Schwarzelühr-Sutter.
Herr Staatssekretär, gibt es Initiativen der Bundesregierung, den kombinierten Verkehr und den Einzelwagenverkehr im Schienengüterverkehr zu stärken und,
wenn ja, welche?
Wir haben schon in den letzten Jahren viele Millionen
Euro aus dem Bundeshaushalt aufgewandt, um den kombinierten Verkehr zu unterstützen. Auch hierzu muss ich
sagen, dass wir leider unter dem Druck der Haushaltskonsolidierung stehen und Kürzungen vornehmen mussten. Es bleibt aber richtig, dass wir in diesem Prozess
weiter vorangehen werden; denn wir werden keine substanzielle Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene erleben, wenn wir den kombinierten Verkehr nicht weiter
unterstützen. Es gibt eine Reihe von Neubaumaßnahmen, beispielsweise den Bau eines neuen Rangierbahnhofs in der Nähe von Halle durch die Deutsche Bahn. Ich
gehe davon aus, dass wir im Bereich des Güterverkehrs
eine ganz neue und wirtschaftlichere Struktur bekommen werden. Das wird insgesamt dazu beitragen, dass
die Verkehre pünktlicher und schneller erfolgen und der
Güterverkehr auf der Schiene insgesamt attraktiver wird.
Wir kommen zur Frage 32 der Frau Kollegin Elvira
Drobinski-Weiß:
Wie bewertet die Bundesregierung die Berechnungen der
IG BOHR, dass die 2008er-Variante mit vier Gleisen an der
Autobahn und der Belassung der Rheintalbahn für den Personennahverkehr 124 Millionen Euro weniger kosten würde als
die Bündelungstrasse, und welche Konsequenzen für die weitere Planung zieht sie aus diesem Ergebnis?
Sehr geehrte Frau Kollegin, der Bundesregierung sind
entsprechende Ergebnisse einer Berechnung der Interessengemeinschaft Bahnprotest an Ober- und Hoch-Rhein
nicht bekannt. Der Projektbeirat, in dem die IG BOHR
mit mehreren Personen vertreten ist, hat auf seiner fünften Sitzung am 8. Februar 2011 zu dieser sogenannten
Kernforderung Folgendes beschlossen:
Der Projektbeirat begrüßt die Bereitschaft der Deutschen Bahn AG, zum Vergleich mit der Antragstrasse vertiefende Untersuchungen für eine autobahnparallele Trassenführung von Offenburg bis
Riegel vorzunehmen. Er dankt der Bundesregierung
und der Landesregierung für ihre Zusage, die hierfür erforderlichen Mittel in Höhe von 550 000 Euro
zur Verfügung zu stellen.
({0})
Der Projektbeirat erwartet von der Deutschen Bahn
AG, dass sie die entsprechenden Untersuchungen
auf der Grundlage des von der Arbeitsgruppe Cluster 3 einvernehmlich erarbeiteten Pflichtenhefts in
der Fassung der Diskussion des heutigen Projektbeirats zeitnah und in enger Abstimmung mit dieser
Arbeitsgruppe durchführt. Bei der Prüfung der Belange des Emissionsschutzes soll auf der Grundlage
des Gutachtens von Herrn Dr. Wendler auch die
maximale Kapazität berücksichtigt werden.
({1})
Herr Staatssekretär, das „Glockenspiel“ ist aus bestimmten Gründen eingeführt worden.
({0})
Ich würde gerne vollständig antworten.
Wir machen keine Zeitbegrenzung. Es ist in Ordnung.
Herr Staatssekretär, fahren Sie fort. Alle Kolleginnen
und Kollegen sind froh, wenn sie umfassende Auskunft
erhalten. Bitte schön.
Dementsprechend ist die sogenannte Kernforderung 2
- also Bundesautobahntrasse - als Tagesordnungspunkt 7
auf der nächsten Sitzung des Projektbeirats am 26. September dieses Jahres im Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung, Berlin, eines der zu diskutierenden Themen. Dabei wird die Deutsche Bahn AG über
den in der Arbeitsgruppe bisher erreichten Sachstand berichten. Abschließende Beschlüsse oder Empfehlungen
in dieser Frage werden aber voraussichtlich nicht getroffen werden.
Erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Erst einmal vielen Dank, dass der Herr Staatssekretär
genügend Zeit bekam, so ausführlich zu antworten, auch
wenn uns diese Antwort nicht zufriedenstellt.
Ich möchte wissen, ob die Bundesregierung auch an
der Rheintalbahn die fahrplantechnische Zahl und die
Bahnhöfe für eventuelle Überholvorgänge hat feststellen
lassen, ob das gegebenenfalls in die Planungen eingeflossen ist und was das an Kosten verursachen würde.
Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben, weil das
eine Angelegenheit ist, die im Projektbeirat beraten werden müsste. Mir liegen dazu keine Untersuchungen vor.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen nach der Projektbeiratssitzung am 26. September eine Auskunft dazu gegeben
werden kann. Aber im Moment kann ich Ihnen in dieser
Frage nichts mitteilen.
Es gibt keine weitere Nachfrage, sodass wir zur Frage 33 unserer Kollegin Nicolette Kressl kommen:
Wie beurteilt die Bundesregierung die von der Deutschen
Bahn AG ermittelten Ergebnisse, dass als Alternative zur
Bündelungstrasse im Rheintal der Bau zweier Gütergleise an
der Autobahn plus die Ertüchtigung der Rheintalbahn auf
250 km/h rund 16 Millionen Euro mehr kosten würde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Der Bundesregierung sind entsprechende Ergebnisse
einer Untersuchung der Deutschen Bahn AG nicht be14818
kannt. Der Projektbeirat zur Rheintalbahn hat auf seiner
fünften Sitzung am 8. Februar 2011 zu der sogenannten
Kernforderung 2 das beschlossen, was ich vorhin schon
verlesen habe. Ich gehe davon aus, dass diese Kernforderung 2 Thema der nächsten Sitzung des Projektbeirats
am 26. September im BMVBS in Berlin sein wird und
die Deutsche Bahn AG dann über den bis dahin erreichten Sachstand berichten wird.
Erste Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, können wir aus
Ihrer Antwort schließen, dass die Bundesregierung die
verschiedenen Berechnungen nach eigenen Kriterien bewerten wird?
Wir haben zugesagt, dass wir gemeinsam mit der
Landesregierung 550 000 Euro zur Verfügung stellen,
um diese Frage untersuchen zu lassen. Zunächst einmal
ist das Ergebnis dieser Untersuchung abzuwarten. Dann
werden wir eine Bewertung vornehmen können. Vorher
macht eine Aussage über mögliche Bewertungen keinen
Sinn.
Weitere Nachfrage, Frau Kollegin.
Das war eine sehr vage Antwort. Mich würde interessieren, welchen Ablauf der einzelnen Schritte in der Zusammenarbeit und der Bewertung Sie jetzt vorsehen und
ob die Bundesregierung irgendwann zu einer eigenen
Bewertung kommen wird.
Frau Kollegin, der Sinn des Projektbeirats ist ja, gemeinsam mit den betroffenen Anwohnerinnen und Anwohnern, mit den Bürgerinitiativen eine Lösung zu finden, die alle tragen können. Deshalb macht es, glaube
ich, wenig Sinn, wenn die Bundesregierung mit eigenen
Positionen vorprescht. Sinn des Projektbeirats ist ja gerade, dass wir in einem iterativen Prozess zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Deshalb kann ich Sie nur
auf die nächste Sitzung des Projektbeirats verweisen.
Wir wollen hier gemeinsam mit der Region eine Lösung
finden, die für alle akzeptabel ist. Wenn diese Untersuchungen vorliegen, wird die Bundesregierung dazu Stellung nehmen. Gegenwärtig liegen uns die Untersuchungen noch nicht vor, und deshalb ist es schwierig, heute
dazu Stellung zu nehmen.
Es gibt eine weitere Zusatzfrage, nämlich unserer
Kollegin Schwarzelühr-Sutter.
Projektbeirat hin oder her - es gibt unterschiedliche
Berechnungen, nämlich die Berechnungen der Bahn und
die Berechnungen verschiedener Bürgerinitiativen. Die
Frage ist einfach: Wer überprüft die Berechnungen?
Rechnen Sie auch nach?
Als Anhang noch: Sie sagen, dass Sie auf das Ergebnis des runden Tisches warten. Heißt das, dass die Bundesregierung dieses Ergebnis dann auch akzeptiert und
die Umsetzung finanziert?
Es obliegt dem Eisenbahn-Bundesamt, letztendlich zu
überprüfen, ob die Kosten realistisch geschätzt worden
sind oder nicht. Deshalb ist es keine Angelegenheit des
Ministeriums an sich, dazu Stellung zu nehmen. Ich
glaube, dass wir am Ende eine verträgliche Lösung finden müssen, mit der alle leben können. Es macht ja keinen Sinn, eine besonders preiswerte Lösung zu realisieren, die in der Region aber keine Akzeptanz findet. Wir
sollten uns schon bemühen, im Projektbeirat zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen. Dann wird das Eisenbahn-Bundesamt als zuständige Behörde die notwendigen Berechnungen vornehmen. Es wäre aber viel zu
früh, heute schon dazu Stellung zu nehmen; denn zunächst einmal muss der Projektbeirat seine Position finden.
Wir kommen jetzt zur Frage 34 des Kollegen Erler sowie zur Frage 35 des Kollegen Paula. Sie werden schriftlich beantwortet.
Jetzt sind wir bei der Frage 36 unserer Kollegin
Dr. Marlies Volkmer:
Was sind die Gründe für die verschiedenen Medien zu entnehmenden Streichungen im Fünfjahresplan des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, nach
denen die gesamte zweite Ausbaustufe des Dresdner Hauptbahnhofs aus dem Finanzplan entfallen ist, und welche Konsequenzen hat dies für die Infrastruktur des Bahnhofs und die
Anbindung an den Schienenverkehr?
Frau Kollegin Volkmer, Sie hatten ebenfalls nach Inhalten aus dem Investitionsrahmenplan gefragt. Auch
hier muss ich Ihnen die Antwort geben, dass derzeit der
Entwurf für diesen Investitionsrahmenplan erarbeitet
wird. Der Entwurf befindet sich noch in der Abstimmung. Aussagen zu konkreten Projekten sind angesichts
des gegenwärtigen Arbeitsstandes noch nicht möglich.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Volkmer.
Für alle, die das jetzt nicht wissen: Es geht in meiner
Frage um die Ausbaustufen des Dresdner Hauptbahnhofs. Der Dresdner Hauptbahnhof hat vor fünf Jahren
ein neues Dach für über 90 Millionen Euro, geplant vom
britischen Stararchitekten Norman Foster, erhalten.
Meine Frage lautet jetzt, Herr Staatssekretär Mücke:
Halten Sie es für gerechtfertigt und für sinnvoll, wenn
ein Bahnhof mit einem solchen architektonischen
Kleinod als Dach nicht weiter gebaut und dann praktisch
als Dauerbaustelle bestehen würde?
Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie sind ja in demselben
Wahlkreis wie ich tätig. Deshalb kennen Sie den Dresdner Hauptbahnhof mindestens genauso gut wie ich
selbst. Die Behauptung, dass der Hauptbahnhof eine
Baustelle sei, ist nun definitiv falsch. Es sind ja schon
mehrere Baustufen am Hauptbahnhof umgesetzt worden. Er ist einer der schönsten erneuerten bzw. sanierten
Bahnhöfe in den neuen Bundesländern, vielleicht sogar
in Deutschland insgesamt geworden.
Bei der von Ihnen angesprochenen Baustufe geht es
um die verbleibende Sanierung einiger weniger Bahnsteige. Das ändert nichts an der guten Qualität des Bahnhofs insgesamt. Insofern möchte ich Sie auf meine schon
einmal gegebene Antwort verweisen: Bitte warten Sie
die Fertigstellung des Investitionsrahmenplans ab.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Volkmer.
Meine Nachfrage lautet: Wie würden Sie die Zustände auf einem Bahnhof bezeichnen, der in Teilen
weiträumig abgesperrt ist, auf dem Bauarbeiten stattfinden und von dem aus Durchbrüche zum Beispiel zur
Bayrischen Straße geschaffen werden, wenn Sie das
nicht als Baustelle bezeichnen wollen?
Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Es handelt sich um
die Erneuerung einiger weniger, noch nicht sanierter
Bahnsteige. Alle anderen sind schon saniert. Das Gebäude ist in einem hervorragenden Zustand. Ich bin sicher, dass wir auch diese zweite Baustufe noch umsetzen
werden. Die Frage ist nur, zu welchem Zeitpunkt das
passieren wird. Das ist eine Frage, die erst nach den noch
zu erfolgenden Abstimmungen über den Investitionsrahmenplan beantwortet werden kann.
Vielen Dank. - Ich komme jetzt zur Frage 37 unserer
Kollegin Kirsten Lühmann:
Wie positioniert sich die Bundesregierung zu Plänen der
Europäischen Kommission, im Oktober 2011 einen Entwurf
zur Neuformulierung der Richtlinie zur Marktöffnung der Abfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft im
Rahmen eines Flughafenpaketes vorlegen zu wollen, und wie
plant die Bundesregierung hierauf zu reagieren?
Auf Ihre Frage, Frau Lühmann, möchte ich antworten: Für eine öffentliche Positionsbestimmung der Bundesregierung zu Plänen der Europäischen Kommission
zur Neuformulierung der Richtlinie 96/67/EG zur Marktöffnung der Abfertigungsdienste auf den Flughäfen der
Gemeinschaft im Rahmen eines Flughafenpaketes ist es
mangels Kenntnis konkreter Vorstellungen der Europäischen Kommission noch zu früh. Bisher ist lediglich ein
inoffizieller Entwurf bekannt. Hier ist unklar, ob dieser
auch so an die Mitgliedstaaten gehen wird. Letztendlich
ausschlaggebend kann jedoch nur der offiziell übermittelte Entwurf der Europäischen Kommission sein. Die
Bundesregierung wird den offiziellen Vorschlag der
Europäischen Kommission nach Eingang eingehend prüfen und sodann ihre Vorstellungen der Europäischen
Kommission übermitteln.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Die Bundesregierung hat in der Drucksache 17/6622
festgestellt, dass aufgrund der letzten Liberalisierung die
Kosten im Bereich der Abfertigung gesunken sind. Herr
Kallas hat Anfang dieses Jahres, am 5. Januar, festgestellt, eine weitere Veränderung der Richtlinie könne nur
mit dem Ziel vorgenommen werden, dass Kosten gespart
werden und sich die Qualität erhöht.
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass wir, da die
Bundesregierung jetzt festgestellt hat, dass die Kosten
schon deutlich gesunken sind, eine weitere Liberalisierung gar nicht mehr benötigen?
Dieser Auffassung bin ich nicht. Ich kann Ihnen zu
möglichen Absichten der Kommission oder von Herrn
Kallas keine Auskunft geben. Das Prinzip, dass ständig
auch diese Fragen überprüft werden sollen, kann ich nur
bestätigen. Möglicherweise gibt es auch noch Wirtschaftlichkeitsreserven. Wir werden abwarten, welchen
Entwurf uns die Kommission vorlegen wird. Die Bundesregierung kann dazu noch keine Position beziehen,
weil wir den Entwurf noch nicht kennen.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin.
Eigentlich müsste die Bundesregierung eine Meinung
dazu haben, ob sie eine Veränderung für nötig befindet
oder nicht. Aber ich nehme zur Kenntnis, dass die Bundesregierung die nicht hat.
Dann versuche ich es einmal andersherum. Bei der offenen Konsultation - ich hoffe, dass die Bundesregierung die verfolgt hat - haben verschiedene Akteure festgestellt, dass es aufgrund der Liberalisierung angezeigt
ist, in der geänderten Richtlinie auch die Arbeitsbedin14820
gungen festzulegen. Wie steht die Bundesregierung zu
diesem Ansinnen, sollte sie das zur Kenntnis genommen
und sich da schon eine Meinung gebildet haben, was
schön wäre?
Wir kennen die Kritik, dass die Liberalisierung der
Bodenabfertigungsdienste zu Lohndumping und ähnlichen Schwierigkeiten geführt haben soll. Wir können
das nur eingeschränkt nachvollziehen. Ich glaube, dass
die Vereinbarung von Sozialstandards die Sozialpartner
klären sollten. Wir werden dennoch vorurteilsfrei und
offen prüfen, was uns die EU-Kommission zu dieser
Frage vorlegen wird.
Wir kommen zur Beantwortung der Frage 38 unserer
Kollegin Kirsten Lühmann:
Wie positioniert sich die Bundesregierung zu den Befürchtungen von Gewerkschaften und Betriebsräten, die die Interessen der Beschäftigten in Deutschland und Europa vertreten, wonach die Pläne der EU-Kommission bezüglich der
Marktöffnung der Abfertigungsdienste zu einem ruinösen
Preisverfall der Dienstleistung führen würden und dadurch
eine Abwälzung auf die Beschäftigten stattfinden würde, was
insbesondere zu einer Gefahr für die Sicherheit, aber auch
zum Verfall des Gehaltsgefüges und damit zu Lohndumping
führen würde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Es handelt sich bei der Richtlinie 96/67/EG um ein
Regelwerk für den Verkehrssektor. Die Bundesregierung
wird abwarten, inwiefern die Europäische Kommission
in das Regelwerk sozial- und arbeitsmarktpolitische Fragen einbindet, und sodann auch hier in eine eingehende
Prüfung eintreten.
In der Sache ist die Bundesregierung der Auffassung,
dass prioritär sichergestellt werden sollte, dass die bereits geltende Richtlinie in den europäischen Mitgliedstaaten gleichmäßig angewandt wird.
Nachfrage, Frau Kollegin.
Das höre ich gern. Kann ich das dahin gehend interpretieren, dass die Bundesregierung sich, insbesondere
im Zusammenhang mit der Sicherstellung von Arbeitsbedingungen, auch dafür einsetzen wird, dass es bei der
Beschränkung der Anzahl der Dienstleister bleiben
wird?
Wir haben noch keine Position dazu erarbeitet. Zunächst warten wir den Kommissionsvorschlag ab.
Noch eine Nachfrage? - Bitte.
Ich versuche es noch einmal; ich bin ja hartnäckig. Ist
die Regierung im Lichte der Feststellung der Gewerkschaften, dass es schon nach der letzten Liberalisierung
1996 zu einer deutlichen Verringerung der Sozialstandards gekommen ist, insbesondere zu einer Erhöhung des
Umfangs der Zeitarbeit und der Zahl befristeter Arbeitsverträge aufgrund von häufig wechselnden Anbietern, der
Meinung, dass man zum Beispiel die Möglichkeiten aus
Art. 18 und 19 der Richtlinie, nämlich innerstaatlich Vorschriften zum Schutz der Beschäftigten zu erlassen, nutzen sollte?
Ich glaube nicht, dass das in Deutschland im Moment
relevant ist. Ich glaube, dass die Verhandlung über diese
Standards den Tarifpartnern überlassen werden sollte. Im
Übrigen sind aus Sicht der Bundesregierung befristete
Arbeitsverträge oder Leiharbeitsverhältnisse nichts, was
wir zu kritisieren hätten; vielmehr gibt es diese Instrumente zu Recht auch im deutschen Arbeitsmarkt. Sie
sollen dazu beitragen, dass Arbeitgeber flexibler auf eine
bestimmte Nachfrage reagieren können. Wir können daran nichts Kritikwürdiges finden.
Ich habe noch die Nachfrage des Kollegen Martin
Burkert.
Herr Staatssekretär, im Verkehrsrecht sollen die Maßnahmen, was einen Notstand angeht, so weit aufgewertet
werden, dass das Streikrecht in Deutschland dadurch
massiv beeinflusst würde. Wird die Bundesregierung das
Streikrecht in Deutschland verteidigen?
Das Bundesverkehrsministerium ist nicht für die Beurteilung von Fragen des Streikrechts zuständig. Ich
möchte Sie bitten, sich mit Ihrer Frage an das zuständige
Ministerium zu wenden.
Noch eine Nachfrage?
In den Anhängen ist neben dem Streikrecht auch die
Rede davon, dass beispielsweise Lokführer Schadenersatz leisten sollen, wenn die Züge Verspätung haben.
Wird die Bundesregierung sich dagegenstellen?
Einen entsprechenden Vorschlag kenne ich nicht. Wir
werden das prüfen. Ich hielte es für sehr ungewöhnlich,
wenn das Usus werden sollte. Es kommt immer auf die
Ursache einer Verspätung an. Ich glaube nicht, dass dafür der Lokführer haftbar gemacht werden kann.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Sie werden es nicht
glauben, aber wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Ursula
Heinen-Esser steht zur Beantwortung der Fragen zur
Verfügung.
Frau Kollegin Vogt ist nicht anwesend. Mit ihren Fragen 39 und 40 wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 41 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
In welcher Form wird die Bundesregierung die im Rahmen der Waldkonferenz „Bonn Challenge“ am 2. September
2011 unter anderem vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, angekündigte Wälder-Weltinitiative, die in den Jahren 2011 bis 2020
weltweit 150 Millionen Hektar Wald wieder aufbauen will, finanziell und organisatorisch unterstützen?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Sie fragen nach der Konferenz „Bonn Challenge“, die
vor kurzer Zeit in Bonn stattgefunden hat. Es handelt
sich um einen Austausch verschiedener Akteure über
Möglichkeiten, Länder auf der Grundlage bestehender
Prozesse beim Wiederaufbau von Wäldern und Landschaften zu unterstützen und dadurch Synergien zwischen dem Erhalt der Biodiversität und dem Klimaschutz zu nutzen. „Bonn Challenge“ - vorher gab es eine
Konferenz in London, die mich persönlich sehr beeindruckt hat - soll ein Bindeglied zwischen dem Klimaschutzprozess und dem Biodiversitätsprozess sein, etwas, was dringend notwendig ist.
Im Rahmen unserer Internationalen Klimaschutzinitiative unterstützen wir viele Länder bei der Umsetzung
wichtiger Maßnahmen im Bereich Waldschutz und beim
Wiederaufbau von Waldökosystemen. Wie wir die
„Bonn Challenge“ weiterhin finanziell und organisatorisch unterstützen können, wird zurzeit geprüft. Das
kann beispielsweise auch im Rahmen der internationalen
Klimaschutzprojekte erfolgen. Wie das aussehen kann,
wollen wir in Kürze entscheiden.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Ich finde, es ist
eine hervorragende und auch wichtige Initiative, die
weltweit auf den Weg gebracht wurde. Die Rede ist davon, dass etwa 2 Milliarden Hektar Waldfläche aufgeforstet werden könnten. 150 Millionen Hektar hat sich
die Wälder-Weltinitiative vorgenommen. Es stellen sich
folgende Fragen: Weiß man, in welchem Eigentum sich
diese 2 Milliarden Hektar befinden? Wird es möglich
sein, den Zugang zu den 150 Millionen Hektar zu gewährleisten, um die Aufforstung durchzuführen?
Die Zahl 2 Milliarden Hektar hat man erst in jüngster
Zeit errechnet. Man konnte durch neue Methoden berechnen, wie viel Waldfläche tatsächlich zur Wiederaufforstung bzw. zur Wiederherstellung zur Verfügung steht. Die
150 Millionen Hektar sind teilweise in Landesbesitz. So
wird beispielsweise das Land Ruanda den Wiederaufbau
seiner Wälder auf insgesamt 2,6 Millionen Hektar unterstützen.
Eine weitere Nachfrage?
Man weiß also noch nicht im Detail, in welchem Eigentum diese Flächen sind.
Einige Fragen sind allerdings noch offen - wahrscheinlich sind sie noch im Diskussionsprozess -: Wie
wird die Aufforstung finanziert? Will die Wälder-Weltinitiative Unternehmen gewinnen, die das Vorhaben finanzieren? Wird die Wälder-Weltinitiative selber Mittel
zur Finanzierung aufbringen? Man hat errechnet, dass
die geplante Aufforstung weltweit Gewinne in Höhe von
85 Millionen Dollar pro Jahr abwerfen könnte. Wer wird
die Gewinne letzten Endes einstreichen?
Was das Gewinneeinstreichen angeht: So weit sind
wir noch lange nicht. Das ist ein sehr langer Prozess. Es
geht zunächst einmal darum, die ersten Schritte zu machen. Sie haben zu Recht angesprochen: Wie wird das
Ganze finanziert? Es gibt auch privatwirtschaftliche Initiativen, bei der „Bonn Challenge“ beispielsweise eine
Initiative eines Wirtschaftsverbandes. Das Unternehmen
Airbus hat sich engagiert. Es wollen sich also verschiedene private Initiativen am Wiederaufbau der Wälder
beteiligen. Darüber hinaus prüfen wir - das habe ich als
Antwort auf die erste Frage bereits gesagt -, inwieweit
wir solche Initiativen unterstützen können. Denn der
Wiederaufbau der Wälder ist Kernstück unserer gesamten Klimaschutzpolitik.
Vielen herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie sind
einverstanden, keinen neuen Fragenkomplex mehr aufzurufen, sodass wir jetzt am Ende dieser Fragestunde
sind. Alle weiteren Fragen werden schriftlich beantwortet.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Geordnete Insolvenz - Die Haltung der Bundesregierung
Erster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der
Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister der Finanzen hat letzte Woche eine zutreffende Feststellung gemacht:
Denkverbote sind zutiefst freiheitswidrig. Aber das
Gegenteil von Denkverboten sind nicht unbedingt
Redegebote.
({0})
Gemeint war Herr Rösler. Und in der Tat: Hätte er lieber
geschwiegen!
({1})
Es ist fahrlässig, angesichts des von der eigenen Regierung eingeleiteten Umtauschs von griechischen Staatsanleihen von einer geordneten Insolvenz zu reden und
somit diesen Umtausch auszubremsen und das Minimum
an Gläubigerbeteiligung, das Sie auf den Weg gebracht
haben, noch geringer ausfallen zu lassen. Damit haben
Sie nicht Schaden vom deutschen Volk abgewendet, sondern ihn gemehrt.
({2})
Wenn man die Möglichkeit einer geordneten Staatsinsolvenz in Betracht zieht, wie kann man dann - 25 von
Ihnen bei der letzten Probeabstimmung - gegen die erweiterte EFSF sein? Diese schafft doch erst die Voraussetzung dafür, dass so etwas wie eine Insolvenz überhaupt möglich wird.
({3})
Wenn man von geordneter Insolvenz redet, wie kann
man dann eine Urabstimmung in den eigenen Reihen dagegen organisieren, dass dieses Instrument zur Vermeidung von Krisen dauerhaft Bestandteil Europas wird?
Das ist doch organisierte Schizophrenie und nicht Liberalität, was Sie da praktizieren.
({4})
Es ging Ihnen ja auch gar nicht um Europa. Es ging
Ihnen darum, in Berlin über die 5-Prozent-Hürde zu
kommen. Diese Wette ist grausam danebengegangen.
Die Wählerinnen und Wähler haben Sie auf Ramschniveau runtergeratet.
({5})
Frau Bundeskanzlerin, Ihr Koalitionspartner befindet
sich in einer mittlerweile ungeordneten Insolvenz. In
Kreuzberg, meine Damen und Herren von der FDP, haben Sie sich ein heftiges Kopf-an-Kopf-Rennen mit der
Tierschutzpartei geliefert. Mit 0,7 Prozent haben Sie
noch nicht einmal halb so viele Stimmen bekommen wie
Die Partei von Ihrem Freund Martin Sonneborn, der mit
dem Plakat „Inhalte überwinden!“ Ihren Wahlkampf inhaltlich getoppt hat.
({6})
Sie sind mittlerweile der größte Leerverkauf in der
Politik. Wann haben wir das das letzte Mal gehabt, dass
sich eine Regierungspartei, eine liberale zumal, entschlossen hat, aus Gründen der Wählermaximierung auf
Haiders Spuren statt weiter auf den Wegen von HansDietrich Genscher zu laufen?
({7})
Die Bundeskanzlerin kann einem an dieser Stelle
schon fast leidtun. Herr Schäuble sagte in der Bild am
Sonntag: Eine Koalition mit einer euroskeptischen Partei
kann ich mir nicht vorstellen. - Ja, warum sitzt denn die
FDP noch am Kabinettstisch? Warum darf Herr
Dobrindt noch in den Koalitionsausschuss? Das müssen
Sie von der Union, die sich mal Europa-Partei genannt
haben, einmal beantworten.
({8})
Sagen Sie nicht, am Ende würden Sie sich als gute Europäer in der Union immer gegen die Euro-Skeptiker von
FDP und CSU durchsetzen.
({9})
Wir müssen darüber reden, was dieses Durchsetzen am
Ende kostet. Über ein Jahr haben Sie sich diesem erweiterten Rettungsschirm verweigert, weil Sie gegen den
Ankauf von Anleihen waren. Mittlerweile muss das die
EZB machen. Das ist es, wozu Ihre innere Blockade
führt. Das ist es, was die Krise verlängert und sie im Übrigen für die Steuerzahler verteuert.
Weil Sie sich nicht einig waren, weil Sie die EuroSkeptiker in den eigenen Reihen haben - wie ich weiß,
sehen das bei Ihnen viele haargenau so, der Finanzminister eingeschlossen -, weil Sie diese Skeptiker nicht auf
Linie bringen konnten, kommen die Instrumente für den
Rettungsfonds zu spät. Bis heute ist es nicht sicher, dass
Sie zu dieser Frage über eine eigene Mehrheit verfügen.
({10})
Heute Morgen habe ich in der Berliner Zeitung eine
interessante Überschrift gelesen. Sie lautet: Schäuble
vertraut auf Rot-Grün.
({11})
Es muss schon ziemlich schlimm in Ihren Reihen bestellt
sein, wenn es so weit kommt, dass der Bundesfinanzminister auf Rot-Grün vertrauen muss.
({12})
Meine Damen und Herren, wo sind Sie als überzeugte
Europäer eigentlich geblieben? Ich sage Ihnen: In der
nächsten Woche wird hier nicht nur über den europäischen Stabilisierungsfonds abgestimmt. In der nächsten
Woche wird hier auch über Ihre Zukunft abgestimmt. Ja,
Sie können sich darauf verlassen: Wir sind für die EFSF.
Aber wir sagen Ihnen auch: Wenn Sie keine eigene
Mehrheit haben, dann hat Schwarz-Gelb fertig.
({13})
Die geordnete Insolvenz Ihrer Traumkoalition - das
heißt Neuwahlen.
({14})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert
Barthle.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir nehmen zur Kenntnis, dass die
Grünen-Fraktion eine Aktuelle Stunde zu einem Thema
beantragt hat, das in der Öffentlichkeit nur schwer verständlich ist.
({0})
Denn erklären Sie einmal den Menschen, worin der Unterschied besteht zwischen einem Staat, der illiquide ist,
einem Staat, der insolvent ist, oder einem Staat, der zahlungsunfähig ist, und worin in dem Zusammenhang der
Unterschied besteht zwischen einer geordneten Insolvenz und einer ungeordneten Insolvenz. Das verstehen
die Bürger - von den Fachleuten einmal abgesehen nicht.
({1})
Wenn Sie aufgrund dieser terminologischen Differenziertheiten nun einen Keil in die Koalition treiben wollen,
({2})
dann ist das mehr als lächerlich. Verehrter Herr Trittin,
Ihr Auftritt soeben hat Sie für das Berliner Kabarett qualifiziert, nicht aber für dieses Haus.
({3})
Noch eines muss man Ihnen sagen: Herr Trittin, wenn
ich mich recht erinnere, ist doch Ihre Kollegin, Frau
Künast, angetreten, um in Berlin Regierende Bürgermeisterin zu werden. Was wir hier erleben, ist doch
nichts anderes als die Fortsetzung des Berliner Wahlkampfes. Wenn Sie darüber sprechen wollen, können wir
das gerne tun. Wo sind denn die Höhenflüge der Grünen
geblieben?
({4})
Ich wollte eigentlich die Grünen-Fraktion loben; denn
während der Beratungen zur EFSF und zur Frage der
parlamentarischen Beteiligung an Fragen dieses neuen
Rettungsinstruments hat sich die Grünen-Fraktion ausgesprochen konstruktiv verhalten.
({5})
Das ist sehr lobenswert.
Was Sie aber hier abliefern, konterkariert dieses Bild
total. Es tut mir leid, Ihnen das so sagen zu müssen. Eine
im Kern vernünftige Fraktion führt sich hier in unwürdiger Art und Weise auf.
({6})
Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Über die Frage, ob
ein Euro-Mitgliedsland in eine geordnete oder ungeordnete Insolvenz gerät, entscheidet weder die Bundeskanzlerin noch der Vizekanzler, darüber entscheidet nicht die
FDP-Fraktion, auch nicht die CDU/CSU-Fraktion
({7})
und auch nicht die Grünen oder die SPD oder gar die
Linken. Über diese Frage entscheidet einzig und allein
das betreffende Land. Darüber muss man sich immer im
Klaren sein.
Denn wenn ein Land sich so aufstellt, dass es wettbewerbsfähig und kreditwürdig ist, dann kann es sich auf
den Kreditmärkten bedienen. Andernfalls muss sich in
dem betreffenden Land etwas ändern. Dass sich in den
betreffenden Ländern etwas ändert, daran arbeiten wir,
insbesondere mit dem jetzt aufzustellenden neuen Rettungsschirm, mit den erweiterten Möglichkeiten der
EFSF, der neuen Finanzmarktstabilisierungsfazilität.
Diese soll in der Lage sein, vorausschauend helfen zu
können in den Fällen, in denen Ansteckungsgefahren
von einem Lande ausgehen, wovon womöglich die gesamte Europäische Union, insbesondere aber der Euro,
betroffen wäre.
Wir entwickeln jetzt gerade ein Programm, um in Fällen, in denen Ansteckungsgefahren drohen, prophylaktisch einwirken zu können. Wir machen ein Programm,
das dafür sorgt, dass die mit den Rettungsmaßnahmen
verbundene Konditionalität, also die Auflagen, die ein
Land erhält - ein Land, dem geholfen wird, muss selbst
tätig werden, sich verändern, sich neu aufstellen und
wettbewerbsfähig werden -, wirksam werden kann. Die
Konditionalität wird erst durch das Instrumentarium, das
wir jetzt entwickeln, wirksam. Es lohnt sich viel mehr,
darüber zu sprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem
Hause haben in dieser Woche eine wichtige Aufgabe zu
erfüllen: Wir haben zu regeln, wie der Rettungsmechanismus und die parlamentarischen Beteiligungsrechte
künftig ausgestaltet sein sollen. Diese Aufgaben betreffen das ganze Hohe Haus in besonderem Maße. Es lohnt
sich, dafür den Gehirnschmalz einzusetzen, sich zusammenzusetzen, miteinander zu streiten und zu ringen - das
tun wir gerade auch im Haushaltsausschuss intensiv -, um
eine Lösung zu finden. Da ist der Klamauk, den Sie hier
veranstalten, ausgesprochen kontraproduktiv; denn er
lenkt von den eigentlichen Themen ab.
({8})
Sie produzieren Klamauk dort, wo wir ihn nicht gebrauchen können. Das ist eine Tendenz, die dem Thema nicht
angemessen ist - im Gegenteil.
({9})
Sie machen aus einem wirklich ernsten europäischen
Thema, das man mit großer Seriosität behandeln muss,
ein Klamaukthema. Es tut mir leid, Ihnen das so sagen
zu müssen.
Danke.
({10})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Joachim Poß.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Barthle, Sie können einem nun wirklich
leidtun, weil hier Sie zum wiederholten Male Ausputzer
sein und eine Ablenkungsrede halten müssen. Denn machen wir uns nichts vor: Bei aller Leichtigkeit Ihrer Formulierungen ist das, was wir in der letzten Woche erlebt
haben, ein verdammt ernster Vorgang, der von Ihrer Regierung, vom Vizekanzler, ausgegangen ist. Es ist wirklich kein Grund, Witzchen zu machen; denn die europäischen und internationalen Reaktionen - Sie können es in
den internationalen Medien nachvollziehen - sind einfach erschreckend: Die Menschen sind entsetzt. Sie fragen: Was ist mit der Regierung des wirtschaftsstärksten
Landes Europas los, wo doch - so wurde es in einer Zeitung formuliert - die ganzen Hoffnungen sozusagen auf
den Schultern von Frau Merkel ruhen? Das ist der Vorgang, um den es hier geht. Sie werden Ihrer Verantwortung - Sie wurden gewählt, um sie wahrzunehmen - in
keiner Weise gerecht; das ist das Erschreckende.
({0})
Wir sehen eine total zerstrittene Bundesregierung mit
grenzenlosem Misstrauen untereinander, die offen gegeneinander arbeitet,
({1})
einen Vizekanzler, der zum wiederholten Male in einer
zentralen Frage der deutschen Politik offen eine andere
Position als die Bundeskanzlerin und der fachlich zuständige Bundesfinanzminister einnimmt. Frau Merkels
Appelle in Richtung Rösler und FDP verhallen ohne
Wirkung. Wolfgang Schäuble kann sich nur noch in Sarkasmus flüchten; ich kann das nachvollziehen. Wir sehen eine Bundesregierung und eine Regierungskoalition
in Chaos und Auflösung; das ist der Tatbestand, mit dem
wir es zu tun haben.
({2})
Nebenbei tritt Frau Merkels Machtverfall immer offener zutage. Das heißt, die Regierung des wirtschaftsstärksten europäischen Landes legt sich in der Staatsschuldenkrise selbst lahm. Gerade jetzt ist doch die volle
Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung gefragt.
Die Probleme sind so groß, dass sie schon bei voller
Handlungsfähigkeit kaum zu bewältigen sind. Es fehlt
an Überzeugungsarbeit. Wie will denn diese Regierung
bei dem Durcheinander, das sie produziert, Überzeugungsarbeit leisten? Wir alle, Vertreter aller Fraktionen,
wissen doch, wie schwer es ist, diese Überzeugungsarbeit zu leisten.
Wir alle wissen es: Die Befindlichkeiten der eigenen
Partei sollten mit den Äußerungen von Herrn Rösler bedient werden. Rösler ging es von Anfang an um die Stabilisierung der FDP. Das ist misslungen. Es ging ihm um
Signale in eine bestimmte Richtung, nicht um die Stabilisierung des Euro. Wie auch immer er seine Äußerungen begründen mag: Er nahm billigend die Verunsicherung der Märkte und derjenigen in Kauf, die sich aktuell
um Lösungen der Probleme bemühen; das ist der TatbeJoachim Poß
stand. Das ist nicht tolerabel bei jemandem, der in der
Regierungsverantwortung steht. Er gehört da gar nicht
hin. Herr Rösler hat sich als total überfordert gezeigt;
das muss man einmal sagen. Damit ist er nicht der Einzige in dieser Regierung.
({3})
Die Kanzlerin sagte zu Recht, jeder müsse seine Worte
„vorsichtig wägen“, richtet aber nichts aus, und im
Schatten von Herrn Rösler und der FDP schwimmt eine
immer nervöser werdende CSU.
({4})
Aus ihren Reihen kommen Äußerungen, die in ebensolcher Weise unverantwortlich sind. Das, was Herr
Seehofer abliefert, müssen Herr Waigel und andere, die
man nun wirklich als überzeugte Europäer bezeichnen
kann, voller Ingrimm betrachten. Das, was von der CSU
zu hören ist, hat nichts mehr mit europäischer Tradition
zu tun.
({5})
Unterm Strich - Herr Trittin hat das angedeutet -: Das
ganze Gerede über mögliche Alternativen zu den existierenden und erweiterten Rettungsschirmen und die Signale, die damit gesetzt wurden, können uns noch sehr
teuer zu stehen kommen. Wenn das ökonomisch wenigstens Sinn machen würde; das Gegenteil ist aber der Fall:
Auch ökonomisch schaden Sie.
({6})
Das war nicht nur an einem Tag zu beobachten. Herr
Rösler hat zum Beispiel nicht erklärt, was er mit seiner
Äußerung zur „geordneten Insolvenz“ gemeint hat. Die
Folgen, die mit einem solchen Vorgehen verbunden wären, müssten von ihm einmal beschrieben werden. In den
Medien werden solche Szenarien beschrieben. Das Ergebnis ist: Mit seinen Beiträgen macht sich der FDPVorsitzende und Vizekanzler mit jenen in der FDP, der
CDU und der CSU gemein, denen die ganze Richtung
der Euro-Stabilisierung nicht passt. Das gilt leider auch
für einige deutsche Ökonomen, die, wie Sie, viel zu
leichtfertig und abgehoben mit Begriffen wie „Insolvenz“ und „Austritt aus dem Euro“ umgehen, ohne deren
Implikationen und Konsequenzen auszuleuchten.
({7})
Im Unterschied zu Herrn Rösler tragen diese Ökonomen
aber keine politische Verantwortung.
Herr Rösler hat in den letzten Wochen wirklich eindrucksvoll bewiesen, wie überfordert er mit dieser Aufgabe ist. Er sollte sich überlegen, ob er sich selbst und
seiner Partei nicht möglicherweise einen Gefallen damit
tut, wenn er sich aus dieser Aufgabe zurückzieht.
({8})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Christian Lindner.
Bitte schön, Kollege Christian Lindner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der Bundeswirtschaftsminister hat vor der Berlin-Wahl
eine Position bezogen, und er wird auch nach der BerlinWahl diese Position weiter vertreten, weil er aus staatspolitischer Verantwortung heraus argumentiert hat und
nicht mit Rücksicht auf parteipolitischen Interessen.
({0})
Herr Poß, ausgerechnet Sie erheben den Vorwurf des
Populismus und der Parteitaktik. Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die die erfolgreiche Agenda 2010 aus
blankem Opportunismus rückabwickeln wollen,
({1})
ausgerechnet die SPD, deren Vorsitzender die fleischgewordene Pirouette ist,
({2})
ausgerechnet die SPD, die sich drei Tage vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl beim ersten Griechenland-Rettungspaket enthalten hat, ausgerechnet
diese SPD wirft uns Populismus vor. Von Ihnen brauchen wir uns den Vorwurf wirklich nicht gefallen zu lassen!
({3})
Im Übrigen ist das alles nur ein Trick - das gilt auch
für die Argumentation von Herrn Trittin -, um von der
Auseinandersetzung in der Sache abzulenken. Deshalb
erheben Sie den Vorwurf der Parteitaktik und des Populismus.
({4})
- Regen Sie sich doch nicht so auf.
({5})
Europa ist - das ist, glaube ich, unsere gemeinsame
Überzeugung - die Garantie für Frieden und Wohlstand
auf diesem Kontinent. Die Idee der europäischen Integration ist liberal; es ist die Idee der Freiheit des Arbeitens, des Lebens, des Handelns und des Wirtschaftens
auf unserem gemeinsamen Kontinent. Die Währungsunion ist eine Errungenschaft, von der Deutschland profitiert. Für uns Liberale ist die europäische Integration
im Übrigen auch das politische Erbe von Walter Scheel,
Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel. Deshalb
werden wir sie mit Entschiedenheit verteidigen.
({6})
Europa ist aber gegenwärtig in einer Krise, und nur
wenn man die Krise analysiert, kann man die richtigen
Schlüsse ziehen.
({7})
Die Ursachen bzw. Verursacher der Krise sitzen hier im
Raum;
({8})
sie sitzen in Ihren Reihen. Sie haben seinerzeit unter der
Regierung Schröder/Fischer die Maastricht-Kriterien gebrochen
({9})
und das dann auf europäischer Ebene auch noch zum
Programm erklärt.
({10})
Sie haben hier im Jahre 2004 einen Antrag verabschiedet, in dem zu lesen ist - ich zitiere -, der Stabilitätspakt
sei „zu starr auf die kurzfristige Einhaltung quantitativer
Vorgaben ausgerichtet“.
({11})
Das war die Einladung, Europa zu einer Schuldenunion
zu machen.
({12})
Nachdem Sie uns einen Scherbenhaufen hinterlassen
haben, stören Sie jetzt auch noch die Aufräumarbeiten.
({13})
Das Ergebnis ist heute zu sehen. Ihre Antworten auf die
Schuldenkrise sind neue Schulden, europäische Gemeinschaftsschulden.
({14})
Sie haben nichts gelernt. Sie haben im nationalstaatlichen Rahmen, in Deutschland, nichts gelernt; denn keine
Regierungskonstellation in den Ländern bekommt so
viele Ohrfeigen wegen zu hoher Verschuldung von Verfassungsgerichten und von Rechnungshöfen wie die Zusammenarbeit von Roten und Grünen. Sie haben auch
auf europäischer Ebene nichts gelernt; denn Sie setzen
sich für Euro-Bonds ein. Damit wollen Sie nichts anderes als die Vergemeinschaftung von Schulden. Eine
Schuldenkrise löst man aber nicht, indem man das Verschulden noch günstiger macht.
({15})
Was wir brauchen, ist eine Stabilitätskultur in Europa.
({16})
Zu einer Zeit, als die europäische Linke - klatschen Sie
nicht zu früh - in Europa noch schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme gefordert hat, haben wir auf Stabilität
gesetzt. Jetzt sehen wir, dass in Spanien eine nationale
Schuldenbremse in die Verfassung aufgenommen wird.
({17})
Auch das ist ein Erfolg der deutschen Außen- und Europapolitik. Sie wollen Schulden importieren, wir wollen
Stabilität exportieren.
({18})
Wir brauchen eine Wirtschaftsverfassung, die auf klaren Regeln basiert und Stabilität befördert. Lassen Sie es
uns klar sagen: Es geht auch um geordnete staatliche Insolvenzverfahren, wenn sie im Extremfall erforderlich
sind. Der Bundeswirtschaftsminister hat damit eine Notwendigkeit ausgesprochen. Er hat damit das klare Signal
an all diejenigen, die Nothilfe beanspruchen, gesendet,
dass das Prinzip von Leistung und Gegenleistung nicht
gebrochen werden kann. Er hat dafür von den 16 führenden Ökonomen in Deutschland Unterstützung erfahren,
({19})
unter ihnen die Chefberater von Wolfgang Schäuble,
ehemals von Peer Steinbrück. Er hat eine verantwortliche Position bezogen.
({20})
Das war eine Notwendigkeit. Der Bundeswirtschaftsminister hat damit einen Auftrag des Deutschen Bundestages vom Oktober 2010 angenommen. Ein Minister, der
sich an Beschlüsse des Deutschen Bundestages hält,
sollte von Ihnen nicht kritisiert, sondern unterstützt werden. Das ist zumindest unser Verständnis von Parlamentarismus.
({21})
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Sahra Wagenknecht. Bitte schön, Frau
Kollegin Sahra Wagenknecht.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Fangen wir einmal mit dem Positiven an. Ich denke, in
einem Punkt hat Herr Rösler tatsächlich recht: Griechenland ist pleite. Anderthalb Jahre nach Beginn der Rettung sind die Staatsschulden Griechenlands - trotz angeblicher Rettungsmilliarden - höher als zuvor,
({0})
während die Wirtschaft unter den drakonischen Sparprogrammen regelrecht kollabiert ist.
({1})
Das ist die Situation. Wenn man sich die Lage in Griechenland ansieht, dann wird völlig klar: Was diesem
Land diktiert wurde, war kein Hilfs-, sondern ein Killerprogramm. Das ist das Grundproblem.
({2})
Unter solchen Konditionen ist die Wahrscheinlichkeit,
dass Griechenland seine Schulden zurückzahlen kann,
natürlich noch geringer als vorher. Das weiß die Kanzlerin. Das weiß auch Herr Schäuble. Das weiß im Grunde
jeder, der sich mit dieser Materie einigermaßen intensiv
befasst hat. Mindestens so verantwortungslos wie wahltaktisch motiviertes Insolvenzgerede ist die offensichtliche Bereitschaft der Bundesregierung, die Kosten einer
absehbaren Griechenland-Pleite bis zum letzten Euro
dem Steuerzahler aufzubürden. Das ist der Kern, um den
es geht.
({3})
Die Frage ist doch längst nicht mehr, ob Griechenland
zahlungsunfähig wird. Die einzige Frage, um die es noch
geht, ist, wann Griechenland zahlungsunfähig wird. Das
ist die 100-Milliarden-Euro-Frage. Je später der Schuldenschnitt kommt, umso teurer wird er für die Steuerzahler und umso billiger wird er für die Banken, Hedgefonds und Spekulanten. Das ist der Kern des Problems.
({4})
Heute würde ein 50-prozentiger Schuldenschnitt den
deutschen Staat bzw. den Bund etwa 14 Milliarden Euro
kosten, die deutschen Banken und Versicherungen aber
nur 6 Milliarden Euro. Diese Relation hätte vor anderthalb Jahren noch ganz anders ausgesehen.
({5})
Es ist geplant, im Oktober dieses Jahres die nächste
Kredittranche freizugeben. Vor allem will man das
„großartige“ sogenannte Gläubigerbeteiligungsprogramm
starten,
({6})
das in Wirklichkeit eine Gläubigersanierung und keine
Gläubigerbeteiligung zur Folge haben wird.
({7})
Es ist doch kein Zufall, dass der Masterplan dafür aus
der Giftküche des internationalen Bankenverbandes unter Vorsitz von Herrn Ackermann stammt.
({8})
Wenn man dieses Programm ohne Rücksicht auf Verluste durchzieht, dann heißt das, dass die Kosten eines
künftigen Zahlungsausfalls Griechenlands vollständig
vom Steuerzahler in Europa zu tragen sind und dass die
Finanzmafia keinen Euro beisteuern muss.
({9})
Es gibt kein Rettungsprogramm für den Euro. Was es
gibt, ist ein Rettungsprogramm für die Finanzmafia. In
deren Taschen wird am Ende jeder einzelne Euro, der im
Rahmen der Hilfskredite freigegeben wird, landen. Das
ist das Problem.
Ich verstehe völlig, dass Leute wie Ackermann ein
großes Interesse daran haben, diese staatliche Milliardenpipeline flüssig zu halten; das ist völlig nachvollziehbar. Aber eine Bundesregierung, die sich zum willenlosen Erfüllungsgehilfen solcher Interessengruppen macht,
hat offensichtlich ihren Amtseid vergessen.
({10})
Man muss aber auch feststellen: Eine Opposition, die sie
dabei unterstützt, wie SPD und Grüne es tun, ist ein Armutszeugnis für die Demokratie.
Warum reden eigentlich alle immer nur über Schulden? Nicht nur die Schulden sind in den letzten Jahren
eskaliert, sondern auch die Vermögen, und zwar beides
aus dem gleichen Grunde: langfristig wegen des europaweiten Steuerdumpings und kurzfristig wegen der Bankenrettung. Die Schulden der Staaten sind die Vermögen
der reichen Leute. Die Linke fordert eine europaweite
kräftige Vermögensabgabe zur Reduzierung der Schulden. Das wäre der richtige Weg; drakonische Sparprogramme, die immer die Falschen treffen, sind es nicht.
({11})
Wer einer isolierten Insolvenz Griechenlands das
Wort redet, der muss natürlich auch die Konsequenzen
bedenken; der Dominoeffekt ist bereits angesprochen
worden. Das spricht nicht gegen einen Schuldenschnitt.
Das spricht gegen das heutige absurde System, in dem
eine Handvoll Investmentbanker und einige Quartalsirre
in den Ratingagenturen, die mit ihren chronisch falschen
Bewertungen schon für den letzten großen Finanzcrash
wesentlich mitverantwortlich waren,
({12})
darüber entscheiden, wie groß die Spielräume, die Staaten haben, sind. Das ist, wie gesagt, ein völlig absurdes
System.
({13})
Die gleiche Zockerbande, die die eskalierende Staatsverschuldung letztlich mit auf dem Gewissen hat,
schwingt sich jetzt zum Richter auf und diktiert den
Staaten die Konditionen. Ein solches System treibt nicht
nur immer mehr Länder in den Bankrott, sondern führt
auch - das ist schon geschehen - zum Bankrott der Demokratie in Europa. Wer Demokratie will, der muss die
Staaten endlich vom Diktat der Finanzmärkte befreien,
({14})
indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, sich über
eine öffentliche Bank direkt bei der EZB zu niedrigen
Zinsen Geld zu beschaffen. Wer Demokratie will, der
sollte sich endlich auch darauf besinnen, dass die Regierung nicht in erster Linie von Ackermännern gewählt
wurde, sondern von der großen Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land. Andernfalls - das muss ich Ihnen
sagen - verdienen Sie alle in Zukunft bundesweit solche
Wahlergebnisse, wie sie die FDP in Berlin gerade verdientermaßen eingefahren hat.
Ich danke Ihnen.
({15})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Steffen Kampeter.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die derzeitige Herausforderung, vor der Europa
steht, die währungs- und wirtschaftspolitische Integration dieses Kontinents, ist eigentlich viel zu groß und
viel zu wichtig, als dass sie im parteipolitischen Klamauk untergehen sollte.
({0})
Was wir heute von Herrn Trittin vorgetragen bekommen
haben, war eigentlich nur eine Illustration seines neuen
Selbstbewusstseins, nachdem er gegen Frau Künast obsiegt hat. Dies hat er uns hier mit dem ihm eigenen flegelhaften und machohaften Auftreten vorgeführt, das
manche an ihm schätzen. Daneben haben wir vulgärmarxistische Analysen derjenigen gehört, die gerade in
Berlin aus der Regierung geflogen sind. Europa ist aber
viel zu wichtig und die Aufgaben sind viel zu ernst, als
dass wir sie in parteipolitischer Polemik untergehen lassen sollten.
({1})
Was sind die Dinge, um die es geht? Es geht ganz
dringlich und vordergründig um die Lage in Griechenland, und übergeordnet stellt sich die Frage, wie wir die
Schuldenkrise in der Euro-Zone überwinden und die
Euro-Zone als Ganze stärken können.
Die letzten Tagen haben verdeutlicht: Die Lage an
den Märkten für Staatsanleihen ist nach wie vor angespannt. Dazu haben zuletzt und vor allem die Unsicherheiten bezüglich der Umsetzung des Anpassungsprogramms für Griechenland, die Diskussion um die
italienischen Sparbeschlüsse und die Herabstufung der
italienischen Bonität durch eine Ratingagentur beigetragen. Hinzu kommen - das muss uns ein bisschen aufrütteln - eine globale Abschwächung der Konjunkturdynamik und die damit verbundene Sorge um den Erfolg des
Konsolidierungskurses. In der vergangenen Woche hat
die EU-Kommission eine neue Schätzung für die wirtschaftliche Entwicklung vorgelegt. Danach wird in diesem Halbjahr eine deutliche Abschwächung der konjunkturellen Entwicklung zu beobachten sein. Natürlich
stellen wir uns vor diesem Hintergrund die Frage, ob es
Griechenland schaffen kann, die enormen Anpassungsanstrengungen zu erbringen, die dieses Land nach dem
strukturellen Umbruch wird leisten müssen.
Derzeit wird die Umsetzung der Programmvorgaben
durch die Troika in Griechenland geprüft. Das Ergebnis
der Prüfung ist die Grundlage, auf der die Fortsetzung
des Hilfsprogramms für Griechenland auch hier im
Deutschen Bundestag zu diskutieren sein wird. Die
Troika hatte ihre Überprüfung am 2. September unterbrochen. Ein wesentlicher Grund war, dass Griechenland
Zeit brauchte, um Maßnahmen vorzulegen, mit denen
Abweichungen bei der Realisierung der Programmziele
ausgeglichen werden können.
Ohne weitere Maßnahmen würde das Staatsdefizit in
Griechenland in diesem Jahr voraussichtlich bis zu 1,5 Prozentpunkte über den vereinbarten Zielwerten liegen.
Dies wollen und werden wir nicht akzeptieren. Die abermalige Verschlechterung der wirtschaftlichen Entwicklung ist aber nur ein Teil des Problems. Der größere Teil
resultiert offenbar aus der Wirkung der umgesetzten
Maßnahmen. Die fiskalischen Wirkungen wurden nicht
in dem Maße erreicht, wie man es sich versprochen
hatte. Auch die Privatisierungsfortschritte liegen deutlich unter den Erwartungen. Griechenland muss und will
daher im Rahmen der Aufstellung des Budgets für 2012
kompensierende Maßnahmen ergreifen.
Ein positives Ergebnis der Überprüfung durch die
Troika - es ist mir wichtig, das festzustellen - ist die unabweisbare Voraussetzung für die Auszahlung der sechsten Tranche in Höhe von 8 Milliarden Euro im Rahmen
des hier im Deutschen Bundestag schon mehrfach diskutierten ersten Hilfspakets. Deutschland wird darauf bestehen, dass Griechenland die Vereinbarungen und die
Auflagen des Anpassungsprogramms einhält. Das ist die
klare Botschaft, die heute von hier ausgehen muss.
({2})
Ich sage dies ganz bewusst vor dem Hintergrund von
Stimmen aus der SPD und von den Grünen, die offenbar
der Meinung sind, man müsse die Zügel lockern, um die
griechische Wirtschaft mit noch mehr Schulden wieder
ein Stück weit zu dopen. Schuldendoping hat ausgedient.
Griechenland hat erst einmal keine Konjunkturkrise.
Aber das System ist wirtschaftlich in Schwierigkeiten
und kann nur durch die Umsetzung massiver struktureller Konsolidierungsmaßnahmen wieder auf einen tragfähigen Wachstumskurs zurückgeführt werden.
({3})
Nur so ist es gegenüber den europäischen Steuerzahlern
verantwortbar, die Risiken für einen Ausfall eines Teils
der griechischen Staatsschulden auf die europäische
Ebene und damit auch auf uns zu verlagern, wie wir es in
dem aktuellen Hilfsprogramm getan haben.
Ich betone ebenso klar: Die eigentliche und letztliche
Entscheidung über Erfolg und Misserfolg liegt bei den
Griechen selbst. Mit dem Beitritt zum Euro sind große
wirtschaftliche Verbesserungen verbunden gewesen.
Aber ein stabiler Euro setzt eine solide und nachhaltige
Finanzpolitik voraus. Eine gemeinsame Währung setzt
alle Volkswirtschaften unter einen sehr viel strengeren,
auch internationalen Wettbewerb. Mit der Erhebung einer zusätzlichen Immobiliensteuer und weiteren Maßnahmen hat Griechenland deutlich gemacht, dass es wieder auf Kurs kommen will. Im Augenblick kommt es
also auf aktives Handeln in Griechenland an. Wir sollten
nicht über den weiteren Fortgang der Hilfe für Griechenland spekulieren, bevor die Daten und damit die Entscheidungsgrundlage für uns im Deutschen Bundestag
auf dem Tisch liegen.
Auch sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dass
wir in diesem Sommer ganz wesentliche Schritte zur Lösung der Staatsschuldenkrise getan haben; denn eines ist
klar: Den Vertrauensverlust, den wir in der Euro-Zone
und an den Märkten derzeit spüren, werden wir nicht allein mit Programmen für Griechenland, Irland und Portugal lösen. Im Übrigen geht schon fast verloren, dass
die Entwicklung in Irland und Portugal außerordentlich
erfreulich ist, weil Fortschritte über den geforderten
Konsolidierungs- und Programmbeitrag hinaus erzielt
werden.
({4})
Es ist schon erstaunlich, dass die Opposition heute
verschwiegen hat, wo sie anders als die Regierung handeln würde. Auch eine Vergemeinschaftung der Schulden, wie es in den Kreisen der Opposition gefordert wird
- beispielsweise durch Euro-Bonds -, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Beitrag zur Lösung der strukturellen Probleme in den Programmländern leisten und
würde den deutschen Bundeshaushalt durch explodierende Zinslasten vor unüberwindbare Herausforderungen stellen. Das kann doch nicht allen Ernstes verantwortbare nationale Politik für heute sein.
({5})
Das Vertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichen
Haushalte werden wir nur dann wiederherstellen können, wenn klar ist, dass die Euro-Zone handlungsfähig
bleibt und alle Mitgliedstaaten in der Euro-Zone verpflichtet sind, ihre Haushalte tragfähig zu gestalten. Dies
sind die beiden Konzeptelemente, die wichtig sind:
Handlungsfähigkeit auf der einen Seite und glaubwürdige Konsolidierungspolitik auf der anderen Seite.
Was die Handlungsfähigkeit angeht, beraten wir gerade in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages die
notwendige Ertüchtigung der Stabilisierungsfazilität. Ich
bin sicher und zuversichtlich, dass wir das in der nächsten Woche mit breiter parlamentarischer Mehrheit zu einem guten Abschluss führen werden.
({6})
- Um das einmal deutlich zu machen, weil gerade ein
Zwischenruf gemacht wurde: Wenn wir diese Fazilität
zum Europäischen Stabilitätsmechanismus ausbauen,
dann werden wir Ihnen auch eine Regelung vorlegen, die
die Beteiligung des privaten Sektors umfassend regelt.
Dazu gibt es klare Aussagen sowohl auf der Ebene der
Staats- und Regierungschefs als auch durch eine Festlegung innerhalb der Koalitionsfraktionen. Wir werden die
Lasten nicht nur bei den Steuerzahlern abladen, sondern
wir werden auch die private Gläubigerbeteiligung - gegen erhebliche Widerstände in ganz Europa - vorantreiben.
({7})
Das zweite Element ist ebenso wichtig. Wir müssen
in Europa wieder zu glaubwürdigen nationalen Konsolidierungspolitiken zurückkommen. Die Reform des Stabilitätspaktes ist am vergangenen Wochenende bei dem
Treffen der Finanzminister in Breslau einen guten Schritt
vorangekommen. Wir haben den Stabilitätspakt weiterentwickelt; wir haben ihn wieder verschärft und sind
über die eigenen Waigel’schen Vorgaben hinausgegangen. Diese Stabilitätskultur wollen wir von Deutschland
aus nach Europa exportieren. Auf diesem Weg sind wir
durch den Kompromiss von Breslau auch mit dem Europäischen Parlament einen Riesenschritt vorangekommen. Die Stabilitätskultur sollte sich nicht nur in Solidarität, sondern auch in nationaler glaubwürdiger und
nachhaltiger Finanzpolitik widerspiegeln. Ich glaube,
dass dies richtig und notwendig ist und dass dies weiterhin unsere Unterstützung haben sollte.
({8})
Dass es an dieser Stelle keinen Beifall der Opposition
gibt, ist mir klar; denn Sie waren es, Rot-Grün war es,
die den Stabilitätspakt schrottreif geschossen hat. Das
muss man an dieser Stelle vielleicht noch einmal erwähnen.
({9})
Wir als deutsche Bundesregierung, aber auch als
Deutscher Bundestag stehen jetzt in der Verantwortung,
die Fehler, an denen wir unter anderen Mehrheitsverhältnissen in der Vergangenheit mitgewirkt haben, ein Stück
weit zu korrigieren. Europa muss jetzt wieder Fahrt aufnehmen. Das bedeutet: Konsolidierung und Handlungs14830
fähigkeit müssen durchgesetzt werden. Das ist die Gestaltungsaufgabe, nicht Klamauk aus der Opposition.
({10})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Werner
Schieder.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich sage hier nichts Neues, wenn ich darauf verweise,
dass die deutsche Politik die jahrzehntelange Tradition
hat, Motor der europäischen Einigung zu sein. Sie verstand es klugerweise über Jahrzehnte hinweg, jedwede
chauvinistischen Ambitionen zu vermeiden.
({0})
Das ist jetzt offenbar Geschichte, das ist offenbar vorbei.
Es ist doch geradezu fatal, dass die gegenwärtige
deutsche Regierung nicht fähig ist, an diese Tradition anzuknüpfen und in dieser dramatischen Krise der Währungsunion zielführende Lösungen zu präsentieren.
Stattdessen ist diese Regierung ein Brandbeschleuniger
in der Krise.
({1})
Wenn die Währungsunion auseinanderbricht - diese Gefahr ist keineswegs gebannt -, dann wird diese Bundesregierung vor allen Europäern einen erheblichen Anteil
an Verantwortung dafür zu tragen haben.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, warum sage ich
das? Alle Vorschläge in den vergangenen anderthalb
Jahren, die einen Beitrag zur Stabilisierung der Währungsunion leisten können, kamen nicht von dieser Bundesregierung, sondern von anderen. Sie wurden nicht auf
Betreiben dieser Bundesregierung umgesetzt, sondern
sie wurden immer erst nach anhaltendem Widerstand
dieser Bundesregierung und dieser Koalition verwirklicht.
({3})
Diese Bundesregierung und die Koalition waren - das
wissen wir im Grunde genommen alle - monatelang gegen einen Rettungsschirm für Griechenland.
({4})
Dann waren sie endlich dafür, aber nur für den Fall Griechenlands. Eine Woche später waren sie dann auch für
einen allgemeinen Rettungsschirm, aber nur als befristete Maßnahme. Dann waren sie gegen die Finanztransaktionsteuer, um sie dann jetzt doch gewissermaßen mit
angezogener Handbremse zu fordern. Dann haben sie
gegen jede ökonomische Vernunft hohe Strafzinsen für
die Rettungskredite an die Krisenländer durchgedrückt.
Jetzt mussten sie doch wieder klein beigeben und den
Zinserleichterungen zustimmen. Der im Übrigen durchaus richtige Vorschlag, dass es der makroökonomischen
Anpassung sowohl der Defizit- als auch der Überschussländer bedarf, kommt natürlich nicht von ihnen. Auch
haben sie diesen Ansatz bis zur Stunde nicht begriffen,
obwohl der IWF in seinem gestern ganz aktuell vorgelegten Report genau das fordert; Sie können das im Original nachlesen. Schließlich haben sie vor Monaten ihren Widerstand gegen einen dauerhaften Rettungsfonds
aufgegeben, aber sie waren gegen die Aufstockung und
erweiterte Handlungsmöglichkeiten. Wir wissen alle,
dass das nun doch alles kommt. Aber die Ideen dazu
kommen nicht von ihnen. Diese Regierung ist in der europäischen Krisenbewältigung nicht Motor, sondern
Bremser.
({5})
Weil die Spekulationen hier eine entscheidende Rolle
spielen, ist es fatal, dass Bundesregierung und Koalition
mit diesem Hin und Her bzw., wie heute Wolfgang
Münchau in der Financial Times Deutschland schreibt,
dem ewigen deutschen Nein, genau diesen Spekulationen immer wieder neue Nahrung gibt und die Krise vertieft und beschleunigt. Anstatt Sicherheit für die EuroZone und verlässliche Garantien zu präsentieren, sind sie
selber - mit Verlaub - ein Haufen von Spekulanten.
({6})
Rösler, Seehofer und wie sie alle heißen haben kein
Konzept. Wenn sie eines hätten, dann würden wir es
kennen. Sie haben nicht den Hauch eines Konzepts; aber
sie gefallen sich darin, die Insolvenz oder den Austritt
Griechenlands aus der Währungsunion verbal politisch
herbeizuspekulieren und damit einem billigen Chauvinismus in die Hände zu spielen.
({7})
Wer das tut, ohne die Folgen zu bedenken, handelt verantwortungslos.
({8})
Ein Konkurs Griechenlands, was immer das sein mag,
oder ein Austritt aus der Währungsunion nähme den
Griechen - das sind 10 Millionen Europäer - für viele
Jahre jede vernünftige Lebensperspektive und riskierte
vielleicht sogar bürgerkriegsähnliche Zustände in Griechenland. Im Übrigen bin ich fest davon überzeugt: Einen Konkurs oder Austritt Griechenlands gibt es nicht
isoliert. Wenn Griechenland fällt, dann brennt das ganze
europäische Haus.
({9})
Werner Schieder ({10})
Das ist der Ernst der Lage. Deswegen habe ich eingangs
gesagt: Es ist mehr als fatal, dass diese deutsche Bundesregierung nicht fähig ist, an die guten Traditionen deutscher Europapolitik anzuknüpfen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Volker Wissing.
Bitte schön, Kollege Dr. Wissing.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass Sie, Herr Trittin, hier ein Oppositionstheater aufführen, sei Ihnen zugebilligt.
({0})
Aber dass Sie der Öffentlichkeit das Märchen von den
Grünen als der Partei der Finanzstabilität in Deutschland
und Europa erzählen, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({1})
Als es in Deutschland um die Frage ging, ob der Stabilitäts- und Wachstumspakt eingehalten oder eingerissen wird, waren es die Grünen, die zusammen mit den
Sozialdemokraten die Maastricht-Kriterien verletzt und
den Einstieg in die europäische Schuldenunion eröffnet
haben.
({2})
Als in diesem Hohen Hause darüber abgestimmt worden
ist, ob wir eine Schuldenbremse in unsere Verfassung
aufnehmen, waren es die Grünen, die dazu Nein gesagt
haben. Damit lagen Sie wieder falsch; denn die Schuldenbremse ist heute das Modell für ganz Europa.
({3})
Europa steht an einem Scheideweg. Die Stabilitätsarchitektur ist weitgehend eingestürzt, auch weil Sozialdemokraten und Grüne sie massiv verletzt haben. Vor uns
liegt kein leichter Weg. Die Welt blickt auf uns und wartet gespannt, wohin sich Europa entwickelt.
Herr Kollege, weil Sie sich darüber lustig gemacht
haben, dass Deutschland an bestimmten Stellen auf europäischer Ebene Nein sagt, sage ich Ihnen deutlich: Es
ist richtig und wichtig, dass Deutschland mit seiner starken Stimme verhindert, dass in Europa der falsche Weg
eingeschlagen wird. Weder Transferunion noch EuroBonds sind die Zukunft eines glücklichen Europas, sondern eine neue Stabilitätsarchitektur. Das ist der richtige
Weg.
({4})
Deswegen sagen wir an der richtigen Stelle Nein; wir sagen Ja zu Europa.
Was Sie den Menschen erzählen, sind alles Irrwege.
Es hilft nichts, den Menschen zu sagen, man könne die
Krise bewältigen, indem man Euro-Bonds einführt. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist doch jedem klar, dass diese Idee von SPD und
Grünen nicht viel wert ist.
Es hilft auch nichts, wenn man der Öffentlichkeit
sagt, man müsse jetzt über alles schweigen, was auf europäischer Ebene von der Politik entschieden wird. Wir
debattieren nicht über eine Kleinigkeit, sondern über die
fundamentale Frage: Was ist uns wichtiger, die Bedürfnisse der Finanzmärkte oder das offene und ehrliche
Wort in einer freiheitlichen Demokratie?
({5})
Sie glauben, man müsse die freie Rede den Finanzmärkten unterordnen. Wir glauben, das kommt in einer Demokratie nicht in Betracht. Es gibt viele ökonomische
Gründe, weshalb die Politik schnell handeln und öffentlich schweigen sollte. Aber es gibt in einer Demokratie
auch das Recht auf Transparenz. Die Menschen wollen
wissen, wie sich ihre Regierung die Entwicklung der
Euro-Zone vorstellt.
({6})
Wird es eine Transfergemeinschaft, wie es SPD und
Grüne wollen, oder wird es eine starke Stabilitätsgemeinschaft mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung,
wie es die Regierungsfraktionen wollen? Deshalb ist es
nicht nur richtig, sondern es war auch notwendig, dass
der Wirtschaftsminister in einer solchen Situation ordnungspolitisch klargestellt hat, wo wir stehen.
({7})
Wenn Sie das ernsthaft kritisieren, ordnen Sie die Demokratie den Bedürfnissen der Märkte unter. Wir tun das
nicht.
({8})
Sie wollen die Probleme lösen, indem Sie die Verantwortung für die Schulden anderer Länder auf unser Land
verlagern. Das haben Sie der Öffentlichkeit hinreichend
deutlich gemacht. Wir wollen das nicht. Deshalb unterstützen wir in der Krise den Weg der Hilfe zur Selbsthilfe. Deshalb sagt der Bundesfinanzminister deutlich,
dass Griechenland nur mit weiteren Hilfen rechnen
kann, wenn es seine Auflagen erfüllt. Deshalb sagt der
Bundeswirtschaftsminister ganz klar, dass künftig die
Möglichkeit einer geordneten Insolvenz geschaffen werden muss, weil nur dann die Erpressbarkeit der Politik
ein Ende hat.
({9})
Wer Euro-Bonds als Lösung anstrebt, braucht all das
nicht. Ich fände es nur ehrlich und fair, wenn Sie den
Menschen in Deutschland, den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, dann auch klar sagen würden, welche
Konsequenz das hat; denn höhere Zinsen für Deutschland führen zu weniger Geld in den Kassen des Sozialstaats.
({10})
Nicht alles, was seit Beginn der Finanzkrise von Politikern öffentlich gesagt worden ist, war klug. Weil aber
ausgerechnet die SPD glaubt, den Zeigefinger heben zu
müssen, möchte ich Ihnen die Äußerungen Ihres ehemaligen Finanzministers in Erinnerung rufen. Der angeblich so versierte Krisenmanager Peer Steinbrück hat als
Finanzminister im Februar 2009 - das war über ein Jahr
vor der Zuspitzung der Griechenland-Krise - öffentlich
gesagt: Es gibt zwar vertragliche Regelungen, nach denen sich die Euro-Länder in Schwierigkeiten nicht gegenseitig helfen. Wenn eines der Euro-Länder aber in
gravierende Schwierigkeiten gerät, wird die Gesamtheit
behilflich sein. - Übersetzt war das die Einladung von
Peer Steinbrück an die Finanzmärkte: Gebt Griechenland ruhig weiter Geld. Wenn es schiefgeht, hauen wir
euch mit Steuergeldern heraus.
({11})
Damit sollten Sie sich einmal auseinandersetzen. Das
hilft vielleicht auch bei der Beantwortung der Frage, ob
Peer Steinbrück ein geeigneter Kanzlerkandidat für Ihre
Partei ist. Philipp Rösler erinnert die Gläubiger an ihre
Verantwortung und fordert deren Haftung.
({12})
Peer Steinbrück hat die Finanzmärkte zum Spekulieren
eingeladen und Steuergelder versprochen.
Wer zu Europa steht und es zum Glück unseres Landes weiterentwickeln möchte, muss einen ehrlichen Weg
gehen. Ein solcher Weg setzt klare, gemeinsame Stabilitätsregeln, die konsequente Umsetzung und Achtung der
Verträge und die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten in einer marktwirtschaftlichen Ordnung voraus.
Dazu gehört ganz selbstverständlich - auch wenn Sie das
nicht hören wollen - die Regelung einer Insolvenz. Der
klare ordnungspolitische Zwischenruf des Bundeswirtschaftsministers war nicht nur richtig. Er war im Interesse eines starken Europas auch außerordentlich wichtig.
({13})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Manuel
Sarrazin. Bitte schön, Kollege Sarrazin.
Sehr geehrte Damen und Herren! Entschuldigung,
aber meinten Sie das, was Sie zum Stabilitätspakt gesagt
haben, wirklich ernst? Wir saßen vor ein paar Monaten
mit Vertretern aus dem BMF zusammen - ich weiß
nicht, ob von diesen jemand zufällig im Saal ist - und
haben gefragt, warum kein einziger Punkt von dem, was
2004 von Rot-Grün und den Franzosen eingebracht worden war, von ihrer Regierung in den laufenden Verhandlungen über die Reform rückgängig gemacht wird, warum es noch nicht einmal einen entsprechenden Antrag
gibt. Die Antwort lautete: weil die meisten sinnvoll sind.
({0})
Das ist Stand Ihrer Regierungskoalition. Sie reden seit
anderthalb Jahren über den Stabilitätspakt. Mir hängt das
fast schon zum Hals heraus.
Herr Kampeter, Sie haben das Treffen der Finanzminister in Breslau in der letzten Woche angesprochen.
Ich darf Sie daran erinnern: Seit anderthalb Jahren wurde
versucht, das Prinzip der umgekehrten Mehrheit durchzusetzen. Ihr Finanzministerium hat das Europäische
Parlament bei der Durchsetzung dieses Prinzips ausgebremst. Was ist als Kompromiss auf dem Treffen in
Breslau herausgekommen? Die einfache Mehrheit statt
der umgekehrten Mehrheit. Und Sie wollen uns etwas
vom Stabilitätspakt erzählen! Sie versündigen sich heute
am Stabilitäts- und Wachstumspakt.
({1})
Herr Lindner, Ihre Sonntagsreden haben wir satt. Zeigen Sie doch endlich, dass Sie Europäer sind! Helmut
Kohl hat gesagt: Was hinten herauskommt, ist entscheidend. - Es ist entscheidend, dass Sie liefern, um mit
Herrn Rösler zu sprechen.
({2})
Ich sage Ihnen eines: Wir Grüne wollen nicht, dass Sie
und die CSU in der Krise den proeuropäischen Grundkonsens aufgeben. Wir wollen weiterhin einen proeuropäischen Grundkonsens in diesem Parlament. Wir haben
kein Interesse daran, dass die CSU und die FDP in die
Ecke der Linkspartei gehen, in der man gegen Europa ist
und immer antieuropäisch hetzt.
({3})
Wir wissen um die Größe der Aufgabe, die vor uns
steht und die auf Europa zukommt. Die großen Fragen
der europäischen Integration stehen auf der Tagesordnung. Wir als Deutschland werden mit einem Streit von
pro- gegen antieuropäische Parteien dieser Verantwortung nicht gerecht werden. Darum: Schreiben Sie nicht
solche Artikel wie den, den Herr Rösler in der Welt geschrieben hat!
({4})
Es kommt gerade jetzt so sehr auf Deutschland an.
Das lässt mich so fassungslos vor dieser Regierung stehen. Sie werden der Verantwortung dieses Landes in Europa nicht gerecht. Sie spielen die populistische Karte,
und damit zerstören Sie das Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger, aber auch das unserer Partner in Deutschlands Ernsthaftigkeit in dieser Krise.
({5})
Sie schaden auch dem europapolitischen Grundkonsens in diesem Hause. Es ist ein Treppenwitz für mich,
dass das von der Regierungsbank kommt. Aber was ist
so unintelligent an Ihren Zwischenrufen? Herr Rösler
und Herr Seehofer sind unterkomplex und unehrlich. Sie
waren es doch, die monatelang genau die Maßnahmen
verhindert haben, die Ansteckungsgefahren vermeiden
und Gläuberbeteiligung ermöglichen können. Herr
Rösler und Herr Seehofer dürfen über alles nachdenken,
aber: Beschweren Sie sich nicht über Kritik an Vorschlägen, die schlichtweg nicht durchdacht sind
({6})
und gleichzeitig Spekulanten einladen, auf die EuroZone zu zocken, und damit die Steuergelder der Steuerzahler anderer Euro-Länder letztlich Kapitalisten in den
Hals werfen.
({7})
Europa steht mitten in der größten Krise seit seiner
Gründung. Genau zu diesem Zeitpunkt brauchen wir
eine starke Bundesregierung, die entscheidet, die Abgeordneten und die Bevölkerung mitzunehmen, die sich
entscheidet, die notwendigen Lehren aus der Krise zu
ziehen, und die sich entscheidet, das tägliche Krisenmanagement zu betreiben, aber darüber hinaus auch europäische Institutionen und Strukturen zu stärken. Wir
brauchen eine Bundesregierung, die deutsche Interessen
in Europa verteidigt, indem sie mitgestaltet, nicht eine,
die nur bremst.
Und welche Regierung haben wir? Sie haben keine
Haltung in dieser Krise. Das entzieht Ihnen die Legitimität Ihres Handelns in der Krise. Darum sind Sie nicht
glaubwürdig.
({8})
Wenn Herr Rösler von der Insolvenz Griechenlands
quatscht, aber dann drei Wochen später mit deutschen
Investoren, die ihre Euros dort investieren sollen, nach
Griechenland fahren will, um die Wirtschaftskraft zu
stärken, dann ist das unredlich, sonst nichts.
({9})
Eine schwache Regierung ohne eine Haltung zu Europa kann sich Deutschland in dieser Krise nicht leisten.
Sie können nicht weiterhin eigentlich dafür, aber doch irgendwie dagegen sein. Der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Europäischen Parlament sagt über Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Die FDP
muss sich entscheiden. - Recht hat er.
Danke.
({10})
Der nächste Redner in unserer Aktuellen Stunde ist
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Rüdiger
Kruse. Bitte schön, Kollege Kruse.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Manuel Sarrazin, das war zumindest eine engagierte Rede, aber zielführend in Sachen Europa war
sie nicht.
({0})
Du hast uns leider auch nicht gesagt, was deiner Meinung nach der richtige Weg wäre. Du hast gesagt, die
Gedanken seien frei; auch das ist richtig. Jeder Fraktion
steht es frei, Debatten oder Aktuelle Stunden zu beantragen. Dafür unterbrechen wir gerne die Beratungen des
Haushaltsausschusses, der sich genau um die europäischen Fragen kümmert. Angesichts der Debatte frage ich
mich aber: Warum haben Sie diese Debatte angemeldet?
Der Wahlkampf in Berlin ist vorbei. Es mag sein, dass
man sich freut, wenn sich der Vertreter einer gegnerischen Partei so äußert, dass man die Äußerung zumindest missverstehen kann.
({1})
Wenn man klug ist, überlässt man Kommentare der
Zeitung oder jemandem, der in der Talkshow auftritt,
und das war es. Aber nun extra hier eine Aktuelle Stunde
zu beantragen, um mäßige Witze aus dem Thüringer
Wald aufzuwärmen, Herr Trittin, finde ich nicht sinnvoll. Das fällt voll auf Sie zurück.
({2})
Herr Trittin, Sie haben uns hier Presseüberschriften
für Realität vorgeben wollen. Ich habe in der Presse auch
einiges gelesen. Vor wenigen Wochen war zu lesen:
Renate Künast wird Berliner Bürgermeisterin, und
Jürgen Trittin wird Kanzlerkandidat. - Ich fürchte, Sie
haben beides geglaubt.
({3})
Sie haben in einer der letzten Debatten sehr richtig gesagt: Deutschland geht es gut, dieser Regierung nicht. Das widerlegt den Vorwurf des Populismus, den eben
der Kollege Sarrazin gemacht hat.
({4})
Was ist an der Haltung dieser Regierung populistisch?
({5})
Gar nichts. Warum? Wenn wir den populistischen Weg
gehen würden, dann würden wir uns hier im Hause unter
Umständen Positionen annähern, die vielleicht am
Stammtisch mehrheitsfähig sind. Uns geht es aber darum, den europäischen Gedanken zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Sie haben gesagt, wir seien bei den vielen Maßnahmen, die vorgeschlagen worden sind, die Bremser gewesen. Ja. Weil es keine Gegenleistung gegeben hätte! Alles, was jetzt beschlossen worden ist, ist früher schon
einmal vorgeschlagen worden, aber als Hilfe ohne Gegenleistung - nach dem schönen alten sozialdemokratisch-sozialistischen Prinzip: Geht es jemandem
schlecht, gebe ich ihm Geld. - Das muss nicht unbedingt
helfen.
Wir haben jetzt sicherlich bewirkt, dass nicht alle in
Griechenland Freudentränen in den Augen haben, wenn
sie von Deutschland reden, aber wir haben induziert,
dass in Griechenland Maßnahmen ergriffen werden, wobei wir alle froh darüber sind, dass wir sie nicht ergreifen
müssen. Wir haben bewirkt, dass Nachbarländer eine
Schuldenbremse nach deutschem Vorbild einbauen, zum
Glück nach bundesdeutschem Vorbild, nach dem Vorbild, das Union und FDP gegeben haben und auch praktizieren, und nicht wie in Nordrhein-Westfalen.
Sie müssen doch auch einmal etwas eingestehen.
Wenn Euro-Bonds so eingeführt worden wären, wie Sie
sie wollten, und wenn es gut ausgegangen wäre, also
nicht so, wie die Ratingagenturen prognostizieren, dann
- damit haben Sie selbst gerechnet - wären die von
Deutschland zu zahlenden Zinssätze um 2 Prozentpunkte
gestiegen. Das macht 47 Milliarden Euro.
({6})
- Das können Sie ja einmal nachrechnen! - Haben Sie
schon einmal überlegt, wie Sie diese Zinsmehrkosten in
unserem Haushalt heraussparen wollen?
({7})
Sie können den Menschen doch nicht nur erzählen, Sie
hätten ein Allheilmittel, nämlich Euro-Bonds. Ich würde
gern über einen Vorschlag von Ihnen reden, wie Sie die
zusätzlichen Zinskosten aus dem Haushalt heraussparen
wollen. Sie haben natürlich keinen gemacht. Das ist,
finde ich, unehrlich.
({8})
Das geht in Richtung von Populismus, zu erzählen, man
habe etwas, was wirkt, und noch nicht einmal die offensichtlichen Nebenwirkungen einzuräumen.
({9})
Es ist ganz einfach: In Griechenland regnet es massiv
rein.
({10})
Wenn das so ist, dann fängt man an, das Haus abzudecken und den Dachstuhl zu erneuern. Es sieht einen Moment nicht hübsch aus, aber dann kann man die Substanz
wieder neu aufbauen. Das ist der nächste Schritt, den wir
gehen müssen. Wir müssen gemeinsam mit den anderen
europäischen Partnern Programme entwickeln, die,
wenn durch die Schritte der Haushaltskonsolidierung die
Grundlagen geschaffen worden sind, einem Land einen
Aufschwung ermöglichen. Wir haben selber gezeigt,
dass auch aus ganz schwierigen Situationen heraus ein
wirtschaftlicher Aufschwung für ein Land, das Kraft und
Willen hat, möglich ist. Das ist die neue europäische
Aufgabe, für die wir jetzt die Grundlage schaffen.
Wir sind in der günstigen Situation, dass wir die
Grundlage in der Mitte der Legislatur schaffen. Das
heißt, Sie können noch zwei Jahre herumblödeln, aber
Sie werden uns auf diesem Weg nicht aufhalten. In zwei
Jahren werden wir die Ernte einfahren.
Danke.
({11})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt
Duin. Bitte schön, Kollege Garrelt Duin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Eine kurze Vorbemerkung in
Richtung FDP. Herr Lindner und Herr Wissing, wenn
das, was Sie hier heute selbstgefällig aufgeführt haben,
Demut sein soll - davon haben Sie am Sonntagabend gesprochen -, dann ist Ihr Weg nach unten mit Berlin noch
lange nicht vorbei; dann geht es weiter, ich füge hinzu:
in die richtige Richtung.
({0})
Wie haben Zeitungsredakteure, wie haben Topökonomen auf das, was der Vizekanzler und Wirtschaftsminister in seinem Gastbeitrag geäußert hat, reagiert? Sie haben in Ihren Verteidigungsreden ja mehrfach darauf
hingewiesen, dass sich eine Reihe von Fachleuten positiv geäußert hätten. Ich will Ihnen einmal in Erinnerung
rufen, was Herr Hüther gesagt hat, immerhin Direktor
des Instituts der deutschen Wirtschaft:
In der gegenwärtigen Situation kann Politik nicht
öffentlich über alles philosophieren, was einem so
einfällt …
Er sagt zu dem Beitrag von Herrn Rösler, dieser sei unverantwortlich. Das ist genau der Punkt.
({1})
Es ist ja nicht das sozialdemokratische Organ Vorwärts gewesen, sondern es ist das Handelsblatt gewesen,
das diesen Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland,
das diesen deutschen Wirtschaftsminister als „Pinocchio
des Tages“ tituliert hat, weil er das Gegenteil von dem
erzählt, was er noch vor wenigen Wochen erzählt hat.
({2})
Das ist wirklich sehr dramatisch; denn Europa steht
am Scheideweg. Es steht deswegen am Scheideweg, weil
es um die Frage geht, ob wir auch in zehn Jahren noch
eine Wohlstandsregion sind, ob wir auch in zehn Jahren
noch Vorbild für andere Regionen in der Welt sein können. Vor allen Dingen stellt sich jetzt die Frage, ob die
Bürgerinnen und Bürger den Institutionen auf europäischer Ebene Vertrauen schenken. Dafür ist es aber notwendig, Folgendes zu beherzigen: Europa gelingt dann,
wenn man mit Klarheit und Glaubwürdigkeit die politischen Debatten führt. Dabei muss dann auch gesehen
werden, dass das deutsche Gewicht in der ganzen Europäischen Union von entscheidender Bedeutung ist. Aber
das, was wir hier seit anderthalb Jahren erleben, angeführt von der Bundeskanzlerin, begleitet von dem ehemaligen Vizekanzler, dem Außenminister Westerwelle,
und jetzt eben auch durch den Wirtschaftsminister und
den heutigen Vizekanzler Rösler, ist das Gegenteil von
Klarheit, ist das Gegenteil von Glaubwürdigkeit.
({3})
Deswegen, meine Damen und Herren, ist diese Krise in
der Euro-Zone auch eine Führungskrise und eine Glaubwürdigkeitskrise. Die Verantwortung dafür trägt diese
Regierung.
Wir haben in anderen Debatten hier schon mehrfach
festgestellt, dass wir besser durch die Krise gekommen
sind als andere usw. Aber Deutschland, also uns, geht es
nur dann in Europa gut, wenn es unseren Nachbarn gut
geht. Davon sind wir abhängig. Wir sind keine Insel der
Glückseligen, und es geht nicht an, dass wir uns nicht
um unsere Partnerinnen und Partner kümmern. Das gilt
insbesondere für Griechenland.
Herr Kampeter, Sie haben es immer noch nicht verstanden:
({4})
Natürlich sind die Sparmaßnahmen, die Griechenland im
Moment auferlegt werden, unglaubliche Zumutungen.
Wenn wir uns das Volumen anschauen, das dort gerade
zur Debatte steht oder schon verwirklicht wurde, können
wir uns nur eingestehen, dass wir darüber in Deutschland noch nicht einmal ansatzweise hätten reden können.
Wir müssen aber auch sehen, was dort real geschieht:
Die wirtschaftliche Entwicklung verzeichnet ein Minuswachstum, also eine Rezession. Es fing an bei minus
1 Prozent und beträgt mittlerweile minus 5 Prozent. Das,
was dort gemacht wird, ist sicherlich notwendig, aber
das alles verschlimmert die Lage und verbessert sie
nicht. Deswegen brauchen wir begleitende, intelligente
Maßnahmen.
({5})
Dazu haben Sie aber in Ihren neun Minuten hier kein
einziges Wort gesagt.
20 Milliarden Euro hat Griechenland bei der EU nicht
abgerufen, weil es die Kofinanzierung nicht hinbekam.
Viele Investitionen finden nicht statt, weil die entsprechende Begleitmusik fehlt. Da nützt es nichts, wenn Herr
Rösler im Sommer zu einem Gipfel einlädt und dann
einmal für 24 Stunden mit denen, die er zum Gipfel eingeladen hat, in der übernächsten Woche nach Griechenland fährt. Vielmehr muss man auf der europäischen
Ebene aufstehen und sich fragen, wie man diesen Ländern, insbesondere Griechenland, helfen kann, damit sie
wieder eine wirtschaftliche Wachstumsperspektive erhalten. Durch Sparen allein wird das nicht gelingen.
({6})
Deswegen ist die Diskussion so fatal, die der Wirtschaftsminister mit seinem Gastbeitrag angestoßen hat.
Ein letzter Punkt: Der Wirtschaftsminister hat dann ja
diesen Pappkameraden „Denkverbot“ aufgebaut. Es gibt
kein Denkverbot, aber es gibt ein Gebot für einen Vizekanzler und einen Wirtschaftsminister, nämlich die Sachen, die er sagt, zu Ende zu denken. Das hat er in dieser
Situation vermissen lassen.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege
Dr. Georg Nüßlein.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Darf
man offen über die Staatsinsolvenz Griechenlands nachdenken? Die Opposition sagt deutlich Nein. Ich frage
mich: Was haben Sie eigentlich dagegen? Gegen das Offensein können Sie ja vermutlich nicht sein, weil Sie ja
immer einfordern, man müsse Politik erklären.
({0})
Gegen das Nachdenken können Sie aus meiner Sicht
doch auch nicht sein; denn wir haben, als wir den EFSF
eingerichtet haben, klar gesagt, dass wir eine Insolvenzordnung für Staaten machen wollen. Damit ist doch
klipp und klar gesagt, dass man auch über diesen - aus
meiner Sicht gar nicht so unwahrscheinlichen - Fall
nachdenken muss.
Staatssekretär Kampeter hat vorhin ganz deutlich zu
verstehen gegeben, dass dann, wenn die Anforderungen,
die an Griechenland gestellt werden, nicht erfüllt werden
oder nicht erfüllbar sind, die sechste Tranche nicht ausgezahlt wird. Wenn zum Beispiel der IWF auf der
Grundlage seiner Richtlinien zu dem Ergebnis kommt,
dass er nicht mehr mitfinanziert, dann ist die sechste
Tranche nicht auszuzahlen. Dann haben wir den Fall einer staatlichen Insolvenz, mit dem wir dann umgehen
müssen.
Da ist es doch verantwortlich, meine Damen und Herren, auch einmal darüber nachzudenken: Wo ist die
Brandmauer? Wie sieht sie aus? Was kann der EFSF bei
dieser Gelegenheit leisten? Wie wollen wir mit der Frage
umgehen? Was heißt das denn - Kollege Barthle hat das
heute auch schon diskutiert -, „Insolvenzordnung für
Staaten“? Wie kann eine geordnete Insolvenz ablaufen?
Wie erreicht man, dass man die Gläubiger letztendlich in
einer angemessenen Art und Weise beteiligt? Das sind
alles Dinge, die ein Wirtschaftsminister aus meiner Sicht
auf der Agenda haben muss. Politik läuft nun einmal
nicht im Hinterzimmer, so wie Sie sich das vorstellen,
meine Damen und Herren, sondern Politik läuft mit großer Offenheit und Klarheit. Deshalb muss man das den
Leuten auch sagen. Ich sage Ihnen auch klipp und klar:
Die Märkte kalkulieren das ja auch ein.
({1})
Selbstverständlich kalkulieren sie auch einen solchen
Fall ein. Sonst hätten wir die Diskussion an dieser Stelle
überhaupt nicht.
Ich bin auch der Meinung, dass wir hier im Deutschen
Bundestag den deutschen Bürgern, insbesondere den
deutschen Steuerzahlern, verpflichtet sind und dass eine
solche Pauschalzusage - egal was passiert, egal was
kommt, der deutsche Michel zahlt immer - erstens nicht
gegeben werden kann. Zweitens würde es auch verdammt teuer, wenn man es so machen würde, wie Sie
uns das vorschlagen.
Die gesamtschuldnerische Haftung über Euro-Bonds,
wie Sie sie gerne hätten, ist nicht nur verfassungswidrig,
wie das Verfassungsgericht deutlich klargestellt hat, sondern auch ein nicht zu unterschätzendes Risiko für den
bundesdeutschen Haushalt. Wenn man in einer Situation,
in der man andere zum Sparen veranlassen will, auf Kosten der Bonität Dritter dafür Sorge trägt, dass sie in Zukunft niedrigere Zinsen haben, dann ist das sicher nicht
die Motivation, die wir an dieser Stelle brauchen.
Ich erinnere daran, dass genau in dem Jahr, als der
Euro eingeführt worden ist, der Realzinsvorteil, der den
Griechen plötzlich zugekommen ist, nicht dazu genutzt
worden ist, um die Wirtschaft in Griechenland zu ertüchtigen. Nein, meine Damen und Herren, der Staat hat in
einem großen Umfang Schulden gemacht. Das erinnert
mich an die Politik, die Sie ganz gerne vor sich hertragen
und betreiben würden; denn Sie sind diejenigen, die den
Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht haben.
({2})
- Ich sage das nicht, weil ich so viel Spaß daran habe,
immer zu wiederholen, dass Sie das infrage gestellt haben, sondern weil man auch sagen muss, was die Motivation dahinter war. Sie haben damals gemeint, Sie
könnten auch in einer nicht krisenbehafteten Zeit Konjunkturpolitik über staatliche Schulden machen.
({3})
Das haben Sie in dieser Art und Weise betrieben. Deshalb ist die Motivation das Entscheidende, was man unterstreichen muss.
({4})
Im Zusammenhang mit dem Vorwurf, der heute schon
mehrfach erhoben wurde, nämlich dass Sie dafür verantwortlich sind, dass Griechenland dem Euro beitreten
konnte, möchte ich noch einmal unterstreichen, dass das
auch wider besseres Wissen geschehen ist. Hören Sie auf
mit der Haltet-den-Dieb-Debatte und damit, zu sagen,
die Griechen hätten Sie mit falschen Zahlen betrogen.
Dass die Zahlen falsch waren, ist richtig. Aber dass Sie
es gewusst haben, meine Damen und Herren, ist auch
wahr.
Am 29. Juni 2000 hat der Kollege Eichel als damaliger Finanzminister eine Regierungserklärung abgegeben. Da hat er den Beitritt Griechenlands zum Euro gefeiert. Unser Kollege Gerd Müller hat damals für die
CSU ganz klipp und klar gesagt: Erstens. Das war ein
schwerer Fehler. Zweitens. Die Zahlen sind manipuliert. - Also, wenn ein einfacher Abgeordnetenkollege
übersehen konnte,
({5})
dass das, was die Griechen seinerzeit vorgelegt haben,
falsch war, dann gehe ich davon aus, dass Sie, die damalige Bundesregierung, das auch gewusst haben und dass
Sie ganz bewusst in Kauf genommen haben, dass man
mit falschen Zahlen dem Euro beitritt.
({6})
- Das ist kein Quatsch, Herr Kollege Poß.
({7})
Das steht im Protokoll des Deutschen Bundestages vom
29. Juni 2000. Lesen Sie es! Das sind manipulierte Zahlen. Sie haben es besser gewusst oder müssten es besser
gewusst haben. Es ist eine Schande, wenn Sie jetzt so
tun, als ob Sie das nicht gewusst hätten.
({8})
Ziehen Sie sich nicht aus der Affäre! Arbeiten Sie mit
uns an der Beseitigung bzw. Begrenzung eines Schadens, für den Sie massiv die Verantwortung tragen.
({9})
Ich meine, das sollte Sie veranlassen, an dieser Stelle
nicht so große Töne zu spucken.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Letzte Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Bettina
Kudla. Bitte schön, Frau Kollegin Bettina Kudla.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Als 13. und damit letzte Rednerin dieser
Aktuellen Stunde habe ich nun die Aufgabe, die ganze
Debatte etwas zusammenzufassen.
({0})
In der Diskussion über den Euro geht es vor allem um
zwei Themen. Das erste Thema. Wir sprechen über die
Verschuldung von Staaten. Wir haben es mit einer
Staatsschuldenkrise zu tun. Der Staat ist das, worauf sich
die Menschen verlassen können. Der Staat ist der Rahmen, der den Menschen die Freiheitsrechte garantiert.
Deswegen müssen die Staaten solide finanziert werden.
Das zweite Thema. Wir hantieren mit dem Geld der
Bürger. Wir stehen in der Pflicht, mit dem Geld der Bürger verantwortungsvoll umzugehen. Gleichzeitig haben
wir die Aufgabe, die Währung, nämlich das Geld der
Bürger, stabil zu halten. Deswegen ist die Stabilität des
Euro unser zentrales Thema.
({1})
Anlass der Aktuellen Stunde war der Vorwurf, dass
der Bundeswirtschaftsminister ausgesprochen hatte, es
dürfe keine Denkverbote geben. Es ist selbstverständlich, dass die Bundesregierung über gewisse Szenarien
nachdenken muss. Sie muss handlungsfähig sein,
({2})
und sie muss immer auf alles vorbereitet sein.
Meine Damen und Herren von der Opposition - ich
spreche besonders Sie an, Herr Trittin; seit Frau Künast
bei 18 Prozent gelandet ist, scheinen Sie um 18 Zentimeter gewachsen zu sein -, mich würde es freuen, wenn Sie
etwas mehr über die Problemlösungen nachdenken würden. Die Vorschläge, die Sie als vermeintliche Alternative machen, beispielsweise die Einführung von EuroBonds, hören sich vordergründig gut an, aber ich bitte
Sie: Sagen Sie unserer Bevölkerung, was die Konsequenzen sind!
({3})
Sagen Sie: Wir wollen, dass das Schuldenmachen in Europa erleichtert wird! Sagen Sie: Wir wollen, dass der
Bund und vor allem die Kommunen höhere Zinsen zahlen! Sagen Sie: Wir sollen für andere ohne Konditionen
haften! Das kann doch nicht die Lösung sein. So viel
Ehrlichkeit verlange ich Ihnen ab.
({4})
Sie haben ferner der Bundesregierung vorgeworfen,
({5})
sie wäre europafeindlich. Ich darf Sie daran erinnern,
wie Sie in den letzten Tagen die höchsten Einrichtungen
der Europäischen Union bezeichnet haben. Ich möchte
das nicht wiederholen. Ich möchte Sie aber an unseren
gemeinsamen Besuch des Europaausschusses in Frankfurt am Main erinnern.
({6})
Vonseiten der Linken wurde uns vorgeworfen, wir gingen mit den Exportüberschüssen nicht richtig um. Ich
bitte, zu bedenken, dass die Forderung, weniger zu exportieren, für unsere Wirtschaft völlig kontraproduktiv
ist.
({7})
Das löst die Probleme anderer Staaten nicht. Bedenken
Sie: Wenn nicht aus Deutschland importiert wird, dann
wird eben aus Asien oder aus anderen Ländern importiert. Das kann nicht die Lösung für unsere Wirtschaft
sein.
({8})
Der Euro ist ein zentrales Thema in den Medien und
in der Öffentlichkeit. Es ist verständlich, dass die Bürger
daran interessiert sind. Aber ich denke, wir sollten versuchen, das Thema wieder in verantwortungsvolle Bahnen
zu lenken. Denn uns muss bewusst sein, dass die Beschlüsse, die wir gefasst haben, erst langfristig Wirkung
zeigen werden. Die Schulden, die man über Jahrzehnte
angehäuft hat, und die Probleme, die daraus resultieren,
werden nicht kurzfristig verschwinden. Hierzu braucht
man Geduld.
Speziell zu Griechenland wurde im Mai 2010 ein
Hilfspaket beschlossen. Jetzt gilt es, den Fahrplan dieses
Programms unaufgeregt umzusetzen. Wir sollten uns
- das wurde mehrfach erwähnt - auf die Experten der
Troika verlassen. Wir dürfen nicht leichtfertig zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das Ergebnis der
Experten in den nächsten Wochen muss abgewartet und
angehört werden. Dann muss Schritt für Schritt nach
dem ESM-Vertrag verfahren werden.
Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam verantwortungsvoll mit diesem schwierigen Thema umgehen, und zwar
im Interesse der Stabilität des Euro und im Interesse des
Vertrauens der Bürger in ihre Währung.
({9})
Vielen Dank. - Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Diana Golze, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fachkräfteprogramm - Bildung und Erziehung - unverzüglich auf den Weg bringen
- Drucksachen 17/2019, 17/7007 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg ({1})
Marianne Schieder ({2})
Dr. Rosemarie Hein
Priska Hinz ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Sie
sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Marcus Weinberg. - Bitte
schön, Kollege Marcus Weinberg.
({4})
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich mache es zwar selten und ungerne, aber
für einen Punkt muss man die Fraktion Die Linke einmal
loben: Sie hat für die Kernzeit ein bildungspolitisches
Thema angemeldet. Das verschafft auch uns zum Ersten
die Möglichkeit, die Themen zu besprechen, die aktuell
wichtig sind, zum Beispiel das Thema der pädagogischen Fachkräfte. Zum Zweiten können wir bei dieser
Gelegenheit allgemein über die Bildungsrepublik sprechen und den einen oder anderen Punkt im Hinblick auf
den OECD-Bildungsbericht etwas ausführlicher darstellen. Zum Dritten - damit komme ich zum wichtigsten
Punkt - gilt es, sich gerade unter dem Gesichtspunkt der
Zukunft der pädagogischen Fachkräfte einmal bei den
Menschen zu bedanken, die in den letzten Jahren sehr
viel für die Bildung geleistet haben: die pädagogischen
Fachkräfte. Es ist richtig und wichtig, diesen Menschen
zu signalisieren, dass ihre Arbeit für unser Land wertvoll
und gut ist.
({0})
Lassen Sie mich auch einige Sätze zu den aktuellen
Debatten über den Stand der Bildungsrepublik Deutschland vor dem Hintergrund der OECD-Berichterstattung
in der letzten Woche sagen. Ich sage es ganz offen: Ich
und viele von uns waren wieder einmal massiv verärgert.
Natürlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland im
Bildungsbereich weiterhin Herausforderungen. Natürlich müssen wir diese Herausforderungen - jeder in seiner Verantwortung und Kompetenz - angehen. Trotzdem
ist es ärgerlich, wenn in Berichterstattungen über den
OECD-Bildungsbericht lediglich Äpfel mit Birnen verglichen werden, gesamte Ausbildungsteile wie die hervorragende duale Ausbildung in Deutschland nahezu
ausgeblendet werden, die Erfolge seit 2001 und insbesondere seit 2005 völlig unbeachtet bleiben und der politischen und wissenschaftlichen Verantwortung nicht
nachgekommen wird.
({1})
Empirisch nachweisbar und belegt ist, dass sich das
Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland verändert hat. Ich möchte in der Kürze der Zeit nur zwei
Überschriften als Beispiel für die falsche Berichterstattung über den OECD-Bericht zitieren. Da schreibt das
Hamburger Abendblatt:
Schlechte Noten fürs Bildungssystem - Deutschland hat zu wenig Uniabsolventen und gerät international ins Abseits …
Die Rheinische Post schreibt:
Deutschland bildet zu wenig kluge Köpfe aus Eine neue internationale Bildungsstudie der OECD
kommt zu einem miserablen Ergebnis für Deutschland: Demnach hat sich hierzulande bei der Ausbildung von Top-Leuten in den vergangenen 50 Jahren
kaum etwas getan.
Der Kollege Gehring, den ich ansonsten sehr schätze,
geht gleich auf solche Behauptungen ein und sagt, das
OECD-Zeugnis enthülle die Bildungsrepublik als
Schönfärberei und Wunschdenken. Deshalb muss man
hier einmal zwei oder drei Dinge klarstellen.
({2})
- Zu dem Antrag komme ich gleich; meine Ausführungen stehen in einem engen Zusammenhang damit. Eine
solche Berichterstattung bedeutet nämlich eine Fehlinterpretation der Ergebnisse der Bildungsberichte, und
das betrifft besonders die pädagogischen Fachkräfte.
Es ist tatsächlich so - das hat der OECD-Bericht bewiesen -, dass wir in den letzten Jahren im Bildungsbereich deutlich zugelegt haben. Die Zahl der Studienanfänger ist von 26 Prozent auf 46 Prozent gestiegen.
Marcus Weinberg ({3})
Viel wichtiger: Die Zahl der Hochschulabsolventen eines Altersjahrgangs ist von 14 Prozent auf 28 Prozent
gestiegen.
Bei der Frage nach der Beliebtheit des deutschen Systems - möglicherweise interessant für junge Menschen,
die überlegen, einen Lehrer- oder Erzieherberuf anzustreben - ist Deutschland bei den Studierenden aus dem
Ausland das viertbeliebteste Land und belegt Platz fünf
im Bereich der Promotionsvorhaben.
({4})
Ich möchte noch ein Wort zum Thema Jugendarbeitslosigkeit sagen - dann beende ich das gerne, Frau Kollegin -:
({5})
Deutschland liegt mit einer Quote von 9,5 Prozent deutlich unter den OECD-Werten mit 20 Prozent und deutlich hinter den USA mit 17 Prozent. Das sind Erfolge der
letzten Jahre, auf die man einmal stolz zurückblicken
kann,
({6})
bei allen Herausforderungen, die Sie in Ihrem Antrag
entsprechend aufgegriffen haben.
Lassen Sie mich hierzu einige Bemerkungen machen.
Hier ist zunächst die Bildungsbeteiligung zu nennen, die
gerade in diesem Bereich massiv zugenommen hat. So
gibt es bei der Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen eine Zunahme von 7 Prozent; hier wurden in den
letzten drei Jahren 100 000 Plätze geschaffen.
Richtig ist, dass es in den nächsten Jahren einen verstärkten Bedarf an pädagogischen Fachkräften - Lehrer,
Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Erzieher - geben wird. Richtig ist aber auch - und das hat der Bildungsbericht 2010 bewiesen -, dass in diesem Bereich
42 000 Personen mehr tätig sind. Man muss erneut daran
erinnern - ich weiß, Sie hören es nicht gerne -: Das ist
eine Frage der Kompetenzverteilung in diesem Land.
Es ist so, dass weiterhin in allererster Linie die Länder
für die Ausbildung von Erziehern und Lehrern zuständig
sind.
({7})
Da muss man einmal schauen, liebe Kollegen von den
Linken, wer wo welche Verantwortung hat. Ich als Hamburger erinnere mich gerne daran - das sage ich ganz offen -, dass es vor etwa zwei Jahren eine Riesendiskussion über junge Lehrer gab, die Berlin, wo sie
ausgebildet worden waren, verlassen haben, um nach
Hamburg zu gehen. Denn ein schwarz regiertes Hamburg hat diesen jungen Menschen eine vernünftige Perspektive sowie eine vernünftige Bezahlung und vernünftige Verträge geboten, während man sie in Berlin nicht
angestellt hat. Hier müssen Sie sich als Linke fragen:
Was haben Sie in der damaligen Regierungsverantwortung dazu beigetragen, dass junge Lehrer in Berlin bleiben? Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob und wie
Sie Ihrer eigenen Verantwortung gerecht geworden sind.
({8})
Was der Bund aber macht und was er machen kann,
ist, die Länder zu unterstützen. Ich erinnere an den
Hochschulpakt I und II, und ich erinnere insbesondere
an den Qualitätspakt für Lehre: Das sind 200 Millionen
Euro, die den Ländern jährlich zukommen. Über diese
Maßnahmen des Bundes werden die Länder entlastet.
Sie werden insbesondere deshalb entlastet, weil der
Bund Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen
anbietet und finanziert, die gerade in diesem Bereich
wichtig sind.
In dem Zusammenhang nenne ich beispielsweise das
„Haus der kleinen Forscher“ mit dem Schwerpunkt
Naturwissenschaften, die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, die mit 5,3 Millionen Euro
unterstützt wird, die Medienerziehung, BIBER - das
Netzwerk Frühkindliche Bildung - oder auch die Ausweitungen im Rahmen von WiFF im Forschungsbereich.
Das heißt: Der Bund gibt viele Millionen Euro stetig
aufwachsend aus, um Verantwortungsbereiche der Länder abzudecken. Das macht er, weil er sich in der Verantwortung der Bildungsrepublik sieht. Er macht es auch,
um die Länder zu entlasten.
Ich sage aber auch ganz deutlich - die Kolleginnen
und Kollegen aus den Ländern mögen das im Protokoll
nachlesen -: Es gibt eine klar geregelte Kompetenzverteilung. Es ist gut, dass sie klar geregelt ist. Der Bund hat
in seiner Verantwortung mehr übernommen, aber letztlich bleibt die Verantwortung bei den Ländern.
({9})
Das, was wir sagen können -
Kollege Weinberg, Sie können leider gar nichts mehr
sagen. Sie sind eine Minute über der Zeit.
({0})
Frau Präsidentin, ein letzter Satz: Das, was wir in
Bundesverantwortung übernommen haben, haben wir
gerne übernommen, und wir tragen auch in den nächsten
Jahren dazu bei, dass dieses Thema weiter entsprechend
bearbeitet wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Auch das Abdecken der Uhr schützt Sie nicht davor,
dass die Uhr weiter vorrückt.
({0})
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat die Kollegin Marianne Schieder für die
SPD-Fraktion.
({1})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass der Fachkräftemangel in Deutschland, der in den nächsten Jahren
nahezu alle Arbeitsbereiche treffen wird, auch vor Kitas
und Schulen nicht haltmachen wird. Wir alle wissen
auch, dass jetzt wirklich rechtzeitig gegengesteuert werden muss, wenn wir auch in Zukunft genügend und gut
ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher in unseren Kitas sowie genügend und gut ausgebildete Lehrerinnen
und Lehrer an unseren Schulen haben wollen. Insofern
ist der vorliegende Antrag wirklich zu begrüßen; er
greift ein wichtiges Anliegen auf.
Allerdings halten wir den Weg, den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, beschreiten wollen,
nicht für geeignet. Denn selbst wenn das Kooperationsverbot, das all Ihren Vorschlägen zunächst einmal entgegensteht, fallen sollte - ich darf Ihnen versprechen, dass
auch wir, die sozialdemokratischen Bildungspolitikerinnen und -politiker, dafür kämpfen -,
({0})
wird die Lehrerbildung und Lehreranstellung immer Sache der Länder bleiben; dasselbe gilt für die Ausbildung
von Erzieherinnen und Erziehern.
Ich bin mir auch sicher, dass die Länder keine Modellberechnungen brauchen, um ihren jetzigen und zukünftigen Lehrerbedarf zu kennen. Es fehlt da nicht am
Wissen, schon eher am Wollen oder an Finanzierungsmöglichkeiten. In meinem Heimatland Bayern - wenn
ich davon einmal berichten darf - kenne ich den Grund
dafür, dass zu wenig Lehrer in den Schulen sind und
stattdessen viele junge und gut ausgebildete Lehrerinnen
und Lehrer auf der Straße stehen.
({1})
Der Grund liegt nicht in der mangelnden Kenntnis der
Zahlen, sondern im Desaster um die Landesbank. Denn
wer das Geld der Steuerzahler in Österreich oder sonst
wo versenkt, hat später keines mehr, um zu Hause ausreichend Lehrerinnen und Lehrer einstellen zu können.
({2})
Selbstverständlich gibt es trotz der Länderhoheit ein
weites Feld von Möglichkeiten, um als Bund im Kampf
gegen den Fachkräftemangel im Bereich der Bildung
sinnvoll tätig zu werden. Es wäre an der Zeit, dringend
nötige Diskussionen anzustoßen und längst überfällige
Annäherungen und Angleichungen bei den Länderaktivitäten auf den Weg zu bringen. Aber außer vollmundigen Ankündigungen ist hier seitens der Bundesregierung
noch nicht viel passiert. So kündigt die Ministerin seit
langer Zeit einen Vorschlag zur Abschaffung des Kooperationsverbotes an. Die Abschaffung wäre ein richtiger
und wichtiger Schritt, um in der Sache einmal grundsätzlich etwas voranzubringen; doch eine konkrete Gesetzesinitiative gibt es nicht. Es gibt aber Initiativen der Oppositionsfraktionen.
Seit Monaten kündigt die Ministerin eine Exzellenzinitiative für die Lehrerbildung an. Das ist ein wirklich
begrüßenswerter Ansatz; denn wir alle wissen doch, dass
es der Lehrerbildung insgesamt guttäte, grundsätzlich in
den Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussionen
gerückt zu werden.
Kollegin Schieder, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kretschmer?
Gerne.
Frau Kollegin, Sie haben jetzt mehrfach über die Länder und die Frage der Vereinbarkeit gesprochen. Können
Sie uns ein Beispiel für ein SPD-geführtes Bundesland
nennen, in dem es eine Initiative für mehr Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern im Bereich der Bildung gibt? Können Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass
es die Länder Bayern und Sachsen waren, die die Initiative für einen Staatsvertrag zu einem gemeinsamen
Deutschland-Abitur ergriffen haben? Sie stellen es hier
so dar, als würde es das nicht geben. Mir ist aber keine
SPD-Initiative dazu bekannt.
({0})
Herr Kollege, falls es Ihnen entgangen sein sollte: Ich
spreche hier über einen drohenden Fachkräftemangel im
Kita- und Schulbereich.
({0})
Da gibt es keine Initiativen seitens des Bundes, um nötige Diskussionen anzustoßen und rechtzeitig gegenzusteuern.
Ich sprach vom begrüßenswerten Ansatz einer Initiative seitens des Bundes zur Lehrerbildung. Ich glaube,
dass eine solche Initiative vor allen Dingen deswegen
notwendig wäre, weil die Lehrerbildung an vielen Universitäten - wir alle wissen das - eine eher nachrangige
Bedeutung hat und aus diesem Grunde alles getan werden muss, damit ihr ein höherer Stellenwert beigemessen
wird.
({1})
Wir können nicht darauf warten, dass sich die Kultusministerkonferenz dieses Themas annimmt; denn man
Marianne Schieder ({2})
gewinnt den Eindruck, dass die Unterschiede in der Kultusministerkonferenz von Jahr zu Jahr größer und nicht
kleiner werden. Deshalb brauchen wir eine Initiative des
Bundes.
Heute muss aber auch erneut festgestellt werden, dass
Schwarz-Gelb den Kommunen und den Ländern zunehmend die finanzielle Basis entzieht, die sie brauchen, um
ausreichend Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher beschäftigen und angemessen entlohnen zu können.
Wir Sozialdemokraten wollen Bildungspolitik aus einem Guss, von der Kita bis zur Universität. Wir wollen
Bildung von möglichst hoher Qualität. Wir wollen gute
Bildung für alle Kinder und jungen Menschen, und zwar
unabhängig von der Herkunft und unabhängig vom
Geldbeutel ihrer Eltern.
({3})
Dazu gehört für uns nicht nur, dass Kinder und junge
Menschen kostenlos teilnehmen können, sondern auch,
dass sie von qualifizierten Fachkräften möglichst gut
und möglichst individuell gefördert werden. Laut einer
Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der SPD
werden bis 2013 bis zu 40 000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. Trotz dieser Erkenntnis wird nahezu nichts
getan.
Wir wissen auch, dass die Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzieher in Bezug auf Ausbildung und
Praxis ständig steigen. Wir wissen, dass mittlerweile ein
Drittel aller Kinder im Vorschulalter einen Migrationshintergrund hat. Wir wissen, dass wir gerade im Bereich
der Sprachförderung vor großen Herausforderungen stehen, und zwar sowohl, was die Kinder mit Migrationshintergrund betrifft, als auch, was die Kinder betrifft, deren Muttersprache Deutsch ist. Insgesamt stellt sich
zunehmend die Frage, ob die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern nicht als Hochschulausbildung angelegt werden sollte und das bisherige Ausbildungssystem umgebaut werden muss, um den steigenden Anforderungen gerecht werden zu können.
Ein weiteres Problem, das bewältigt werden muss, ist
das niedrige Einkommensniveau der Fachkräfte in den
Kitas und in den anderen erzieherischen Einrichtungen.
Nicht nur Männer werden dadurch davon abgehalten,
sich für entsprechende Berufe zu entscheiden. In beiden
Fällen vermisse ich das Engagement der Bundesregierung.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir dringend
tragfähige Konzepte brauchen, um den zukünftigen Fachkräftebedarf in Kitas und Schulen decken zu können.
Dazu muss der Bund endlich einen konkreten Beitrag
leisten.
Was den Antrag der Fraktion Die Linke betrifft: Wir
werden uns aufgrund der bereits dargelegten Bedenken
enthalten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
liebe Kollegen! Frühkindliche Bildung ist heute unser
Thema. Ich kann nur sagen: Endlich ist das wieder
Thema. Wir sprechen viel zu wenig darüber. Dieses
Thema ist viel zu wenig in den Köpfen verankert, und
wir haben es viel zu selten in den Mittelpunkt unseres
politischen Arbeitens gestellt.
({0})
Warum machen wir das eigentlich so? Hier wird doch
der Grundstein für die individuelle Bildungsbiografie
gelegt. Hier, wo individuelle Förderung, Integration und
sozialer Ausgleich am allerbesten gelingen, müssen die
Besten unterrichten und die besten Rahmenbedingungen
herrschen. Trotzdem haben wir alle es bisher nicht geschafft, dafür zu sorgen.
Defizite bei der Qualität der Kindertagesstätten, Stundenausfälle in den Grundschulen, Probleme bei der Lehrergewinnung und der Lehrerversorgung sind alltägliche
Probleme. Alle, die hier sitzen, können ein Lied davon
singen; denn alle haben das selber erlebt. Diese Situation
führt dazu, dass die Eltern unzufrieden, die Kinder zum
Teil frustriert und die Lehrer überlastet sind. Der Fachkräftebedarf in den Kindertagesstätten ist nicht von der
Hand zu weisen; er ist tatsächlich sehr hoch. Die Situationsbeschreibung und die Bedarfsprognose in dem Antrag, über den wir heute hier beraten, ist stichhaltig. Aber
leider - das sage ich auch aus persönlichen Gründen sind die Schlüsse die völlig falschen; denn die Länder
sind für die Ausbildung der Pädagogen zuständig. Das
heißt, die Länder stehen in der Pflicht. Sie müssen das,
was vom Grundgesetz als Kernaufgabe formuliert wird,
verantwortungsvoll wahrnehmen. Sie müssen ganz offensichtlich genau in diesem Gebiet, das uns so wichtig
ist, nachlegen. Investitionen sind möglich, sie müssen
nur gewollt sein.
({1})
Anders ist die Spannbreite von mehreren Tausend
Euro zwischen den Investitionen der Bundesländer für
unter sechsjährige Kinder überhaupt nicht zu erklären.
Schleswig-Holstein investierte 2007 nicht einmal 2 000
Euro pro Kind, ein Drittel weniger als Hamburg mit
3 400 Euro. Ähnlich ist der Unterschied zwischen Brandenburg mit 2 800 Euro und Berlin mit fast 4 200 Euro.
Laut Ländermonitor investieren die alten Bundesländer
durchschnittlich viel weniger als die neuen Bundesländer. Die Spannbreite der Nettoausgaben für frühkindliche Bildung und Betreuung in den gesamten Ausgaben
öffentlicher Haushalte reicht von 3,1 Prozent in Bremen
bis zu 7 Prozent in Sachsen. Mehr ist möglich. Die Länder haben die Verantwortung, in frühkindliche Bildung
zu investieren. Aus dieser Verantwortung können wir sie
nicht entlassen.
({2})
Die in der vergangenen Woche vorgestellte OECDStudie „Bildung auf einen Blick“, die hier schon viel zitiert wurde, bestätigt, dass ausgerechnet in den wichtigsten Bildungsbereich, die Zeit vor der Schule und in der
Grundschule, am wenigsten investiert wird. Ich habe mir
einmal herausgesucht, was in der Studie zu den Drei- bis
Sechsjährigen in Deutschland steht. Laut Studie werden
in Deutschland 6 887 Dollar pro Kind pro Jahr investiert.
Italien - auch aufgrund einer anderen Debatte zurzeit in
den Köpfen - investiert hingegen 8 187 Dollar. Das
möchte ich nur am Rande bemerken.
Insgesamt ist es beschämend niedrig. Die Länder verzetteln sich in ihren Aufgaben. Wir können es nicht weiter dulden, dass nachrangige Politikfelder hochgepäppelt
werden und dass der Bund genau da, wo Länder versagen, ergänzen und nachsteuern soll. Wo ein Wille ist, ist
auch ein Weg. Es kann nicht sein, dass die Länder jetzt
vom Bund die Mittel einfordern, die sie selber nicht einzusetzen bereit sind.
({3})
Bundesmittel sind keine Kompensationsmittel. Bundesmittel sollen Investitionen und Bildungsausgaben der
Länder sinnvoll ergänzen. Genau das tun wir vom Bund
her. Der Bund investiert schon jetzt tatkräftig. Wir haben
bis 2013 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung
vorgesehen. Das ist eine bislang unerreichte Summe. Sie
zeigt deutlich, dass diese Koalition eine eindeutige Priorität in genau diesem Gebiet gesetzt hat.
({4})
Ich denke, wenn wir das im Bund schaffen, schaffen die
Bundesländer das auch.
Mit der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische
Fachkräfte unterstützt der Bund die Länder beim Aufbau
einer Qualifizierungsinitiative für Erzieherinnen und Erzieher. Sie haben hier schon gehört, dass sie nicht gut
ausgebildet sind; aber Sie haben vielleicht noch nicht gehört, dass manche so wenig verdienen, dass sie verheiratet sein müssen, weil sie auf das Einkommen des Ehepartners angewiesen sind. Das muss sich ändern; denn es
geht um den wichtigsten Bildungsabschnitt eines jeden
Menschen.
({5})
Der Hochschulpakt läuft weiter und sichert den Ausbau von Studienplatzkapazitäten. Bis zum Jahresende
2010 wurden statt 90 000 180 000 Studienplätze geschaffen. Der Qualitätspakt Lehre führt zu einer Verbesserung der Studienbedingungen; dort haben wir 2 Milliarden Euro vorgesehen.
({6})
Das BAföG wurde erhöht und das Stipendienprogramm
eingeführt. Ich weiß, dass Sie das sehr kritisieren, aber
bedenken Sie, dass das vor allem für Lehrer ganz wichtige Mechanismen sind; denn Lehrer sind meist die ersten Akademiker in ihren Familien.
({7})
Diese einmalige und zuvor noch nie unternommene
Kraftanstrengung darf jedoch nicht dazu führen, dass wir
dies in den Ländern immer wieder vernachlässigen. Das
gilt insbesondere mit Blick auf die Kitas. Es muss dort
investiert werden, wo es am wichtigsten ist.
Die Länder müssen auch besser kooperieren. Es kann
doch nicht sein, dass die Lehrerausbildung so zersplittert
ist, dass in dem einen Bundesland die Lehrerausbildung
aus dem anderen Bundesland nicht anerkennt wird. Genauso wie ein ausgebildeter Jurist oder Arzt in jedem
Bundesland arbeiten kann, muss auch ein Lehrer in jedem Land arbeiten dürfen. Er darf daran in Zukunft nicht
mehr aufgrund von Bildungsmauern und -barrieren gehindert werden.
({8})
Gute, verlässliche Rahmenbedingungen sind für erfolgreiche Lernprozesse erforderlich. Damit geben wir
den Einrichtungen auch größere Freiheiten, Entscheidungen vor Ort treffen zu können. Wir brauchen einen
gemeinsamen und national abgestimmten Rahmen für
die Bildung, eine regionale Qualitätssicherung und
selbstständige Bildungseinrichtungen, die gute Ergebnisse erzielen können. Wir behindern uns doch selbst,
wenn die Ländergrenzen weiterhin Bildungsbarrieren
darstellen und wenn die Länder ihre größten Konkurrenten in den anderen Bundesländern statt in anderen Industrienationen sehen. Aufgrund der vorhandenen Bildungsbürokratie erzielen wir in Deutschland im Moment
nicht so gute Ergebnisse, dass wir mit Indien und China
konkurrieren könnten.
Kollegin Canel, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, gern.
Das Licht, das vor Ihnen aufleuchtet, ist ernst gemeint.
Meine Damen und Herren, berücksichtigen Sie: Dies
ist das wichtigste Themenfeld in diesem Bereich. In den
Bundesländern, in denen Sie an der Regierung beteiligt
sind, können Sie sich selbst dafür einsetzen, dass genau
hier investiert und das getan wird, was im vorliegenden
Antrag gefordert ist.
Danke sehr.
({0})
Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Hein für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Canel, es hilft nichts, wenn wir hier „Schraps hat den
Hut verloren“ spielen.
({0})
Wir müssen überlegen, welche Verantwortung der Bund
tatsächlich hat.
({1})
- Das kennt man dort nicht? Ich erkläre es Ihnen nachher.
({2})
Der Bund hat zu Recht im Gesetz festgeschrieben,
dass ab 2013 jedes Kind vom ersten Lebensjahr an einen
Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindereinrichtung oder in der Kindertagespflege hat. Bundesweit sollen insgesamt 750 000 Plätze zur Verfügung gestellt
werden. Zwei Drittel davon hat man bereits geschaffen.
Wir bezweifeln allerdings, dass 750 000 Plätze ausreichen werden. Für eine gute Qualität in Bildung und Betreuung, sowohl in Kindereinrichtungen als auch in der
Tagespflege, bedarf es - das ist unstrittig - gut ausgebildeter pädagogischer Fachkräfte. Das sehen alle in diesem Haus so, auch die Bundesregierung.
Die Bundesregierung und dieses Haus haben zwar
den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geschaffen, ein Investitionsprogramm aufgelegt und sogar Hilfen bezüglich der Betriebskosten der Einrichtungen auf
den Weg gebracht. Dass man in solchen Einrichtungen
auch Personal braucht, hat die Koalition, haben die Regierenden aber jedes Mal übersehen.
({3})
Deswegen haben wir nun dieses Dilemma.
Der Fachkräftebedarf ist groß. Die Standards bei der
Kinderbetreuung in den Einrichtungen der Länder sind
schon heute unbefriedigend. Insbesondere im Osten ist
das leider so. In Sachsen-Anhalt mussten wir den Betreuungsschlüssel in den letzten 20 Jahren, meistens übrigens aufgrund von Druck aus dem Westen und aufgrund von Geldmangel, permanent verschlechtern, sodass die Bundesregierung ihn heute zu Recht als bedenklich einstuft. Zudem werden im Bundesland SachsenAnhalt in den nächsten Jahren Tausende Erzieherinnen
in den Ruhestand gehen. Für ausreichend Nachwuchs ist
nicht gesorgt. Das liegt auch daran, dass die in SachsenAnhalt ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher gern in
Bayern und Hessen aufgenommen werden, wo es ebenfalls nicht genügend Fachkräfte, aber mehr Geld gibt.
({4})
Den jüngsten Zahlen zufolge hatten im Jahre 2009
bundesweit etwa 20 Prozent des pädagogischen Personals in Kindereinrichtungen keine pädagogische Ausbildung. Bei den Tagespflegepersonen sah es noch schlechter aus: Nur etwa 36 Prozent von ihnen hatten überhaupt
eine entsprechende Ausbildung. 160-Stunden-Programme,
Orientierungskurse und Schnellkurse reichen nicht aus,
um in den Kindereinrichtungen die Qualität, die wir erreichen wollen, zu sichern. Meine Damen und Herren,
der Erziehungsberuf ist doch kein Anlernberuf!
({5})
Auch für die noch fehlenden etwa 250 000 Plätze sind
die nötigen Fachkräfte nicht in Sicht. Allein dafür würden bis 2013 wenigstens 50 000 Erzieherinnen und Erzieher gebraucht. Wenn wir hier nicht etwas tun, dann
läuft dieser gut gemeinte Rechtsanspruch ins Leere, weil
sich niemand dafür interessiert, wenn er es nicht beispielsweise wegen der Aufnahme einer Arbeit muss. Wir
wollen, dass diese Kindereinrichtungen auch Bildungsprogramme anbieten. Davon müssen auch die Eltern
überzeugt werden.
({6})
Bei der Behandlung unseres Antrages hat man uns
auch hier wieder zugestanden, wir hätten gut recherchiert, aber man könne ihm aus grundsätzlichen Erwägungen nicht folgen. Das ist zwar richtig, aber es gibt einen Ausweg. In § 83 SGB VIII, einem Bundesgesetz, ist
festgelegt, dass der Bund „die Tätigkeit der Jugendhilfe
anregen und fördern“ soll, soweit sie von überregionaler
Bedeutung ist und die Länder das allein nicht schaffen
können. Ich finde, diesen Passus könnte man auch nutzen, um ein Bund-Länder-Programm zu entwickeln.
({7})
Ich will auch noch etwas zum zweiten Teil unseres
Antrages sagen. Damit beziehen wir uns auf die Lehrkräftesituation an den Schulen. Auch das ist hier schon
gesagt worden. Hier droht nach unserer Auffassung trotz
des Schülerrückgangs - im Osten wieder deutlich stärker
als im Westen - ein dramatischer Lehrermangel. Eigentlich gibt es ihn schon, aber er wird sich in allen Ländern
noch wesentlich verstärken, weil derzeit fast die Hälfte
der Lehrinnen und Lehrer in den Schulen über 50 Jahre
alt ist.
Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat vor einiger
Zeit vorgerechnet, dass mittelfristig ein Bedarf von etwa
35 000 Lehrerinnen und Lehrern pro Jahr besteht. Nun
hat die Kultusministerkonferenz im Sommer eine neue
Berechnung vorgelegt. Danach soll es angeblich nur
kurzzeitig und punktuell zu Engpässen kommen. Ich
habe mich gefragt, warum das plötzlich so ist. Die sinkende Schülerzahl allein kann der Grund nicht sein. Ich
bin dann darauf gekommen: Im Westen ist der Übergang
zum berühmten G 8, also zum verkürzten Abitur, natürlich auch ein Sparmodell gewesen, wodurch Stunden
eingespart wurden. Das hat zu einer Veränderung des
Lehrkräftebedarfs geführt.
({8})
Selbst wenn alle Berechnungen stimmen würden, was
wir bezweifeln, sage ich: Wir wollten die Schule doch
besser machen! Das wird aber, wenn man auf diese Berechnungen aufbaut, nicht zu erreichen sein. Mit den
neuen Berechnungen macht die KMK nur darauf aufmerksam, dass man eigentlich gar nicht genau sagen
kann, wie viele Lehrerinnen und Lehrer am Ende tatsächlich in den Schulen ankommen. Das hat mit dem
Übergang zum Bachelor-Master-System im Studium zu
tun. Deshalb müssten wir als Bund eigentlich etwas tun.
Das entsprechende Instrument, das es ja schon gibt, ist
heute hier schon genannt worden, nämlich der Hochschulpakt. Warum kann man in diesen Hochschulpakt
nicht die Säule „Studienplätze für Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter für die Schulen in den Ländern“ einbauen? Das könnte man von hier genauso finanzieren, wie man die anderen Studienplätze mitfinanziert.
({9})
Es hilft eben nicht, nur bildungspolitische Sonntagsreden zu halten - das Gleiche gilt für die Presseerklärung
von Herrn Weinberg und Herrn Rupprecht - und deutlich zu machen, dass die Lehrerinnen und Lehrer das
wichtigste Potenzial in der Bildungslandschaft sind, sondern wir müssen auch etwas dafür tun. Wir sind als Bund
zwar nicht zuständig,
({10})
aber verantwortlich, und diese Verantwortung müssen
wir wahrnehmen.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, können hier so
schöne Reden halten, wie Sie wollen, es hilft aber nichts:
Wir haben einen Fachkräftemangel, und zwar in den
Kindergärten, in den Kinderkrippen und in den Schulen.
Wir können die Zahlen drehen, wenden, interpretieren
und noch einmal neu berechnen: Es ist so, und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Die Linke hat schlicht
und einfach recht, wenn sie dies hier feststellt. Es hilft
nichts, darum herumzuschwadronieren.
Das ist übrigens überhaupt nicht neu und war lange
vorhersehbar. Die Argumente dafür liegen offen auf der
Hand: Es gibt immer mehr Lehrerinnen und Lehrer, aber
auch viele Erzieherinnen und Erzieher, die aus Altersgründen ausscheiden werden. Wir brauchen weitere Angebotsausweitungen in den Kindergärten und Krippen,
wir wollen Ganztagsschulen bzw. Ganztagseinrichtungen,
({0})
wir wollen aber natürlich auch mehr Qualität - genau so,
wie Sie das in Ihrem Zwischenruf gesagt haben. Das
geht aber nicht ohne mehr Fachpersonal. Das ist ein zentrales Qualitätskriterium.
Das Kinderförderungsgesetz legt fest: Im Jahr 2013
soll eine bestimmte Quote verbindlich erfüllt werden.
Dafür brauchen wir das entsprechende Personal, das bis
dahin schon ausgebildet worden sein müsste. Es reicht
nicht, wenn wir erst dann konstatieren, dass wir Personal
brauchen. Die Regierung handelt im Moment ein bisschen nach dem Prinzip Hoffnung und setzt darauf, dass
alles funktionieren wird und dass alles so kommt, wie
man es sich vorstellt. Aber bekanntlich kommt es anders,
als man denkt. Daher ist es richtig, das jetzt auf der Tagesordnung zu haben.
Der Antrag der Linken hat zwei Schwachpunkte, über
die man reden muss. Der erste Schwachpunkt ist, dass
unberücksichtigt ist, dass es bei der Personalausbildung
eine Länderzuständigkeit gibt. Da kommen wir nicht
drum herum; das ist richtig. Im ganzen Bereich der Bildung haben wir vielfältige Aufträge. Ich finde es allerdings ein bisschen schwierig, dass Sie versuchen - das
ist der zweite Schwachpunkt -, eine solche große Aufgabe mit Kleinstlösungen und vereinzelten Programmen
zu meistern; denn auf diese Weise verzetteln Sie sich.
Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Sie haben gerade im
Zusammenhang mit dem KJHG vorgeschlagen, ein
Bund-Länder-Programm aufzulegen. Wenn Sie aber
schon das KJHG dazu nutzen wollen, dann machen Sie
bitte kein Klein-Klein-Programm, dessen Wirkung nach
ein, zwei Jahren verflogen ist, sondern dann müssen Sie
das machen, was die Grünen vorschlagen, nämlich Qualitätskriterien rechtsverbindlich hineinschreiben, sodass
sich tatsächlich etwas ändern muss. Aber mit einem Programm wird sich das Ganze in Schall und Rauch auflösen und folglich keine Wirkung haben.
({1})
Als zweites Beispiel nenne ich Ihre Forderung, im
Hochschulpakt ein Sonderprogramm für mehr Lehramtsstudienplätze aufzulegen. Der Hochschulpakt bedarf
aber bereits schon der Nachbesserung. Wenn wir ihn
jetzt mit neuen spezifischen Aufgaben beladen, dann
wird das weder die Gesamtsituation an den Hochschulen
in irgendeiner Form verbessern, noch wird es eine Wirkung entfalten.
({2})
Denn ein Programm, das nur schwer umzusetzen ist,
wird nicht besser, indem man es verschlimmbessert.
Die Knackpunkte, die genannt worden sind, müssen
wir in der Tat angehen. Ich nenne zum Beispiel das Kooperationsverbot. Ich fand es heute im Bildungsausschuss wirklich dramatisch, dass wir auf die Frage, was
getan wird, um ein Kooperationsverbot zu verhindern,
von der Ministerin lediglich die Antwort erhalten haben:
Ich muss erst einmal meine eigene Partei von der Abschaffung der Hauptschule überzeugen.
({3})
Wir wollen das Bildungssystem in Deutschland verändern, und die Ministerin ist damit beschäftigt, ihre Partei
von etwas Selbstverständlichem zu überzeugen. Das
kann doch nicht die Aufgabe einer Bildungsministerin
für ganz Deutschland sein. Ich bitte Sie! Eigentlich ist es
peinlich, so eine Antwort in einer Ausschusssitzung zu
bekommen.
({4})
Jetzt komme ich noch zu einem anderen Punkt. Wir
haben eine ganz klare Kompetenz im Bereich der Weiterbildung. Hier können wir wirklich etwas machen, angefangen beim Erwachsenen-BAföG bis hin zu vernünftigen Weiterbildungsmöglichkeiten zum Beispiel für
Seiteneinsteiger. Warum tun Sie da nichts? Da haben wir
eine ganz klare Verantwortung, um tatsächlich etwas zu
verändern. Aber Sie drücken sich ein wenig davor. Das
betrifft übrigens nicht nur diesen Bereich, sondern auch
den Bereich der Fachkräfte.
Vor kurzem wurde durch eine Kleine Anfrage der
Grünen der Blick auf ein großes Handlungsfeld gelenkt,
nämlich auf die Qualifizierung von Tagespflegepersonen, den sogenannten Tagesmüttern. Wir wissen: Die
Menschen, die dort arbeiten, sind oft nicht nur unterbezahlt, sondern auch fehlqualifiziert. Wenn wir wirklich
Bildung und Förderung wollen, wenn wir Tagespflege in
Deutschland tatsächlich etablieren wollen, dann haben
wir die Verantwortung, in diesem Bereich für Qualität zu
sorgen. Da gibt es Defizite. Auch da hat der Bund eine
Zuständigkeit. Teile Ihres Konzepts und Ihrer Gesetze
beruhen auf den Tagesmüttern, aber Sie schauen weg.
Das Einzige, was Sie von der Regierung getan haben,
war, die Tagesmütter durch eine steuerrechtliche Regelung noch mehr zu belasten. Damit haben Sie auch die
letzte Tagesmutter vergrault. Das ist Ihre Antwort. Aber
das wird nicht reichen.
({5})
Also: Lassen Sie uns das Problem anpacken, bevor es
uns überholt. Wenn Sie wirklich das Beste für unsere
Kinder tun wollen, dann müssen Sie mehr tun, als nur
schönen Reden halten, dann müssen Sie handeln. Auch
die besten Sätze helfen nicht, wenn Ihr Handeln am tatsächlichen Bedarf vorbeigeht.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ewa Klamt für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben einen Fachkräftemangel. - Die Kollegin müsste jetzt eigentlich zuhören, aber sie hat auch
schon bei der Ministerin nicht zugehört, sonst hätte sie
sie richtig zitiert.
({0})
Frau Kollegin, diese Koalition tut hier etwas, was
man von Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 nicht gerade behaupten kann.
({1})
Es macht aber Sinn, einmal genau hinzuschauen, wer in
unserem föderalen System was in diesem Bereich geleistet hat und wer noch eine Bringschuld hat.
Allein beim Ausbau der Kindertagesbetreuung hat der
Bund einen Finanzierungsbeitrag von 4 Milliarden Euro
geleistet. Offen bleibt die Finanzierung in den Ländern.
Hier besteht erheblicher Nachholbedarf. Das stelle nicht
nur ich fest. Auch der Deutsche Städtetag fordert von
den Ländern größere finanzielle Anstrengungen, um den
Rechtsanspruch auf Betreuung bis 2013 umzusetzen.
({2})
Rund 6 Milliarden Euro an Investitionskosten sind hier
von den Ländern noch nicht finanziert.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, ich
gebe Ihnen recht: Bei der Kinderbetreuung geht es nicht
allein um Quantität, sondern auch um Qualität. Doch Ihr
Ansatz geht in die falsche Richtung. Sie verwechseln die
Zuständigkeiten. Anders als im sozialistischen Einheitsstaat
({3})
ist es im föderalistischen System der Bundesrepublik
Deutschland - man muss Sie ja immer wieder aufklären,
weil Sie es anscheinend nicht wissen - aus gutem Grund
Aufgabe der Länder, mit konkreten Maßnahmen auf den
regionalen Bedarf zu reagieren.
({4})
Anstatt jedoch in den Ländern, in denen Sie bis vor kurzem noch mitregieren konnten - ich nenne nur einmal
Berlin -, diese Probleme zu beheben, rufen Sie jetzt den
Bund auf, Ihre bildungspolitischen Negativhinterlassenschaften - schauen wir nur einmal in den Grundschulbereich - aufzuräumen. Das ist nicht Aufgabe des Bundes.
({5})
Wir, die Koalition, haben mit einer Vielzahl von Programmen und einem immensen finanziellen Aufwand
verbesserte Rahmenbedingungen in den Bereichen Bildung und Erziehung geschaffen. Etliche Initiativen wurden bereits genannt. Wichtig ist für mich die Initiative
„Offensive Frühe Chancen“. Frau Schieder, Sie sind
doch auch im Ausschuss. Sie wissen doch ganz genau,
was wir da beschlossen haben.
({6})
Wir haben bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um in Deutschland 4 000 Kitas mit dem
Schwerpunkt Sprache und Integration zu fördern. Ich
sage das, weil Sie die Migrationskinder und die Kinder
von deutschen Eltern, die der deutschen Sprache nicht
richtig mächtig sind, ansprachen.
Kollegin Klamt, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Golze?
Nein. - Nehmen wir das Aktionsprogramm Kindertagespflege. Hier konnte der Anteil der Tagespflegepersonen ohne absolvierten Qualifikationskurs auf 14 Prozent
gesenkt und der Anteil der erfolgreichen Abschlüsse im
Jahr 2009 um 16 Prozent gesteigert werden.
({0})
Im Übrigen wird auch die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse einen wichtigen Beitrag dazu
leisten, dass auch pädagogische Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung tätig werden können. Auch hier ist
der Bund für die bundesgesetzlich geregelten Berufe bereits aktiv geworden. Es liegt erneut an den Ländern,
Anerkennungsverfahren und berufsrechtliche Regelungen, wie zum Beispiel für Lehrer und Erzieher, in ihrem
Zuständigkeitsbereich zu ändern.
Richtigerweise stellen Sie in Ihrem Antrag fest, dass
wir in Zukunft eine große Anzahl von Lehrerinnen und
Lehrern benötigen. Deshalb haben Bundesregierung und
Länder, und zwar nicht erst seit heute, mit dem Hochschulpakt die Voraussetzung für die Aufnahme neuer
Studierender an den Hochschulen geschaffen.
({1})
- In der ersten Programmphase - die Zahl lese ich Ihnen
gerne vor; wir haben sie hier schon einmal gehört - wurden von 2007 bis 2010 rund 182 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten geschaffen - zusätzliche Studienmöglichkeiten! Das heißt doppelt so viele wie ursprünglich
vereinbart.
({2})
- Bei diesem Thema sind wir jetzt gerade. Frau
Schieder, hören Sie doch einfach einmal zu, auch wenn
es für Sie schwierig ist. Ich habe Ihnen auch zugehört.
Bis zum Jahr 2015 - das ist die zweite Programmphase - hat die Bundesregierung 320 000 bis 335 000
zusätzliche Studienmöglichkeiten zugesichert. Wenn es
einen größeren Bedarf geben sollte, dann wird auch dieser vom Bund finanziert. Um es noch einmal in aller
Deutlichkeit zu sagen: 600 Millionen Euro erhielten die
Länder 2011 vom Bund für den Ausbau der Studienangebote. 2012 werden es 1,14 Milliarden Euro sein.
({3})
- Ja, Sie haben recht. 25 Prozent all dieser Kosten finanziert der Bund schon, aber Sie fordern immer noch ein
bisschen mehr. Sie müssen aber auch einmal da liefern,
wo Sie in der Verantwortung sind. Da passiert nämlich
überhaupt nichts.
({4})
Uns ist aber auch die Qualität der Ausbildung wichtig. Der Qualitätspakt Lehre ist schon angesprochen
worden. Auch hierbei gilt - das kann nicht oft genug
klargestellt werden -: Länder und Hochschulen müssen
ihren Beitrag zur Verbesserung von Studium und Lehre
leisten. Auch die Zuständigkeit für die Erzieherinnen
und Erzieher liegt bei Ländern und Kommunen. Darum,
liebe Linke, können wir Ihrem Antrag sicher nicht zustimmen.
Danke schön.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Sönke
Rix.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In fast jeder Rede,
zumindest vonseiten der Regierungskoalition, ist bisher
angeklungen: Wir sind eigentlich gar nicht zuständig
sind. Dafür sind die Länder zuständig. Wir können nur
ein paar kleine Programme machen. Was soll das ganze
Gerede? - Wenn wir mit dieser Einstellung an den Ausbau der Ganztagsschulen oder der Krippenplätze herangegangen wären, dann hätten wir uns in diesem Bereich
nicht bewegt.
({0})
Ich finde - das sage ich insbesondere an die Adresse der
Kollegen der Unionsfraktion -, das hat dieses Thema
nicht verdient. Man kann auch mit den Ländern gemeinsam Großes bewegen. Das haben Sie bisher versäumt.
({1})
Wir haben nicht nur unter Rot-Grün das Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht, sondern wir haben auch in der Großen Koalition das 4-MilliardenEuro-Programm zum Ausbau der Krippenplätze vorangebracht, obwohl wir auf Bundesebene eigentlich nicht
die Zuständigkeit dafür hatten. Wir haben uns aber mit
den Ländern zusammengesetzt und gemeinsam in einem
ausgetüftelten Verfahren dafür gesorgt, dass wir Geld für
den Ausbau der Krippenplätze in die Hand nehmen
konnten. Sie aber sagen nun, da die nächsten Schritte
folgen sollen: Damit haben wir nichts zu tun; das müssen die Länder alleine machen. - So geht es nicht.
({2})
Dass wir in den Bereich Kindertagesstätten investiert
haben, war wahrscheinlich schon ein zäher Akt von Frau
von der Leyen mit Blick auf die CDU/CSU-Fraktion und
insbesondere die CSU-Landesgruppe. Aber wir haben es
geschafft. Nun fehlen, wie gesagt, die weiteren Schritte.
Der Ausbau stockt quantitativ und qualitativ. Wir brauchen vor allem mehr und besser ausgebildetes Personal.
Deshalb brauchen wir eine andere Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Denn die Ansprüche und Anforderungen an frühkindliche Bildung - das haben die letzten Jahre deutlich gezeigt - sind zu Recht gestiegen.
Der Kindergarten ist nicht mehr das, was er vor 20
oder 30 Jahren in einer rein konservativen Ära war, nämlich ein Aufbewahrungsort für Kinder, deren Eltern gerade nicht auf sie aufpassen konnten. Die Kindertagesstätte ist inzwischen ein Ort der frühkindlichen Bildung.
Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir die Erzieherausbildung reformieren und vorantreiben und den Erzieherberuf aufwerten.
({3})
Ein Blick auf andere europäische Staaten wie die Beneluxstaaten und Skandinavien - Norwegen ist ein gutes
Beispiel - zeigt, welchen Stand der Erzieher oder die Erzieherin dort hat: Er steht ungefähr auf derselben Ebene
der beruflichen Hierarchie - wenn man es so sagen
kann - wie die Lehrerin oder der Lehrer. In SchleswigHolstein verdient ein Erzieher mit einer Ganztagsstelle
etwa 1 800 Euro netto. Im Vergleich zum Lehrergehalt
ist das eine Katastrophe; denn wir erwarten von den Erzieherinnen und Erziehern mindestens genauso viel wie
von den Lehrerinnen und Lehrern.
({4})
Es bedarf nicht nur einer Initiative der Länder, sondern einer Bund-Länder-Initiative, um den Erzieherberuf
aufzuwerten, und zwar durch eine bessere Bezahlung,
mehr Aufstiegschancen und eventuell durch eine stärkere Akademisierung dieses Berufsstands.
Ich habe mich lange gefragt, woran es liegt, dass das
aufseiten der Regierungskoalition nicht erkannt wird.
Wenn ich mir Ihre Vorschläge genau anschaue - leider
ist niemand vom Familienministerium anwesend, obwohl Fachkräfte im Krippenbereich ein Thema für dieses Ministerium wäre; offenbar hat man dort anderes zu
tun -, dann vermute ich, dass das am Rollenbild liegt.
Nehmen wir als Beispiel das Programm für mehr männliche Erzieher in Kindertagesstätten. Ihrer Ansicht nach
brauchen männliche Arbeitslose - von denen gibt es
genügend - offenbar noch nicht einmal eine volle Ausbildung, sondern nur eine Umschulung bzw. Weiterqualifizierung, um anschließend als Erzieher in Kindertagesstätten arbeiten zu können. Dieses Rollenbild führt
dazu, dass der Erzieherberuf noch immer nicht den Stellenwert hat, den er eigentlich verdient.
In diesem Zusammenhang muss man sich auch Ihr Familienbild anschauen. Die bayerische Familienministerin
hat gerade ein Betreuungsgeld in Höhe von 500 Euro gefordert. Das Geld, das dafür ausgegeben werden soll,
sollte lieber in den Ausbau von Krippenplätzen und in die
Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern investiert werden. Wenn Sie Ihre Rollenbilder nicht verändern,
dann verändern Sie auch nichts an der Qualität von Erziehung und Bildung. Daran sollten Sie als Erstes arbeiten.
Herzlichen Dank.
({5})
Nun hat der Kollege Florian Hahn für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der vorliegende Antrag spricht das Problem
der Überalterung der Gesellschaft und - damit einhergehend - auch des Lehrkörpers an. Dieses Problem haben
wir schon längst erkannt.
Die Bundesregierung scheut keinen finanziellen Aufwand, um verbesserte Rahmenbedingungen in den Bereichen Bildung und Erziehung zu schaffen. Das haben
meine Vorredner Ewa Klamt, Marcus Weinberg und andere bereits ausführlich dargestellt. Der in der letzten
Sitzungswoche präsentierte Haushalt des BMBF ist Zeichen genug, dass der Bund seine durch den Föderalismus vorgegebene Verantwortung für die Bildungspolitik
wahrnimmt. Aber auch für den Bildungsbereich gilt,
dass all diese finanziellen Leistungen immer im Kontext
mit dem finanziell Machbaren gesehen werden müssen.
Damit haben die Antragsteller traditionell ein Problem.
Das wissen wir alle, spätestens wenn wir auf die Haushalte schauen, die Sie in den von Ihnen mitregierten
Ländern verantworten.
({0})
Frühkindliche Bildung, Qualifizierung der Erzieherinnen und Erzieher, Schulen stärken, gehaltvolles Stu14848
dium sichern - das sind unsere Ziele. Genau so steht es
im Koalitionsvertrag. Trotz rückläufiger Kinderzahlen
wird nicht weniger, sondern mehr Geld in Bildung gesteckt. Mit Blick auf den vorliegenden Antrag ist festzuhalten, dass gerade die Bildungshoheit eine der wesentlichen Gestaltungsräume der Länder ist. Der Bund wird
daher die Länder nicht aus ihrer - auch finanziellen Verantwortung für das Bildungssystem entlassen.
({1})
Sie müssen selbst entscheiden, welche konkreten Maßnahmen sie für ihre Region, für ihr Land brauchen.
Ich komme genauso wie Frau Schieder aus Bayern,
und wir in Bayern stehen hinter dem Föderalismusgedanken und dem Wettbewerb um die besten Konzepte
und Ergebnisse unter den Ländern. Das ist Kern unseres
erfolgreichen föderalen Systems; das wollen wir auch
nicht antasten.
({2})
- Zu den Lehrern komme ich gleich, Frau Schieder. Auffällig ist aber, dass im Vergleich immer wieder die
CDU/CSU-geführten Länder in den Rankings, bei PISA
oder im Bildungsmonitor, besser abschneiden als die übrigen. Bayern hat derzeit - ich komme jetzt zu Ihrem
Einwand, Frau Schieder - die höchste Lehrerzahl seit
über 60 Jahren. Noch nie haben in Bayern so viele Lehrkräfte - hören Sie zu, Frau Schieder! - an staatlichen
Schulen unterrichtet wie heute.
({3})
Trotz weiter rückläufiger Schülerzahlen - allein vom
letzten auf dieses Jahr waren es 50 000 Schüler weniger investiert Bayern in Lehrerstellen. Allein mit dem Doppelhaushalt 2011/2012 schafft die Landesregierung
schulartübergreifend 3 873 neue Lehrerstellen. Das sind
im Übrigen netto mehr als 2 000. Schaut man auf das bis
letzten Sonntag rot-rot regierte Berlin, so stellt man fest,
dass Berlins Schulen in den PISA-Studien immer zielsicher auf den unteren Plätzen landen.
Dass in Berlin „arm, aber sexy“ das generelle Motto
von Rot-Rot unter Wowereit war und daraus resultierend
die Lehrer mit wesentlich weniger Geld nach Hause gehen als in anderen Bundesländern
({4})
- hören Sie einmal zu! -, wirkt sich natürlich auf die
Motivation der Lehrer aus. Hier muss eine neue Regierung in Berlin aufräumen, am besten unter CDU-Beteiligung,
({5})
und richtige Anreize setzen, bevor Sie diese vom Bund
fordern.
Für uns zählen Qualität und individuelle Förderung.
Deshalb halten wir von einem Bildungseinerlei nichts. Jedes Talent muss bestmöglich gefördert werden. Wichtig
dabei ist die Durchlässigkeit des Systems. In Bayern
schaffen wir übrigens zwei Dinge gleichzeitig: einen ausgeglichenen Haushalt - das schon seit sieben Jahren - und
steigende Investitionen in die Bildung unserer Kinder.
({6})
Natürlich werden zukünftig mehr Lehrerinnen und
Lehrer gebraucht. Die Zahlen der anstehenden Pensionierungen in den nächsten Jahren sind uns bekannt.
({7})
Die Hochschulen in Deutschland sind derzeit mit mehr
als 2 Millionen Studienanfängern so attraktiv wie nie zuvor. Deshalb ist es umso wichtiger für den Beruf des
Lehrers, des Pädagogen oder des Erziehers, die dafür befähigten Studenten zu finden und entsprechend auszubilden. Ein Pädagogikstudium muss aus Berufung ergriffen
werden und darf nicht nur eine Notlösung darstellen,
weil sonstige Karrierewege nicht eingeschlagen werden
können.
({8})
Hier geht Qualität über Quantität. Daher geht die Forderung der Linken, 10 000 Lehrerinnen und Lehrer zusätzlich pro Jahr zur Verfügung zu stellen, völlig an der
Realität vorbei. Wir brauchen kein neues Fachkräfteprogramm, sondern eine konsequente Umsetzung der bestehenden Programme, Bildungsbündnisse, Bildungsketten
und die Weiterentwicklung des Ausbildungspakts.
({9})
Die Länder erhalten für den Ausbau des Lehramts bereits Unterstützung vom Bund aus dem Hochschulpakt.
Ebenfalls bekommen sie Mittel vom Bund für die Erzieherausbildung an Hochschulen.
Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung mit
ihren Programmen von der frühkindlichen Erziehung
über die Betreuung in Kindergärten bis hin zu einer mit
den Ländern abgestimmten Bildungspolitik die richtigen
Weichenstellungen vorgenommen hat. Die Umsetzung
liegt allerdings bei den Ländern. Der vorliegende Antrag
ist daher abzulehnen.
Vielen Dank.
({10})
Bei aller Kontroverse - eine Übereinstimmung hat
das Präsidium festgestellt: Die Redezeiten wurden von
allen Fraktionen ausgeschöpft.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Fachkräfteprogramm - Bildung und Erziehung - unverzüglich auf den Weg bringen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7007,
Vizepräsidentin Petra Pau
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/2019 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Bericht des Petitionsausschusses ({0})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2010
- Drucksache 17/6250 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, die dem Petitionsausschuss das ganze Jahr über zur
Seite stehen, aus diesem Anlass herzlich hier begrüßen.
({1})
Die fraktionsübergreifende Begrüßung gibt uns die
Gelegenheit, die notwendigen Umgruppierungen hier im
Saal so vorzunehmen, dass wir der ersten Rednerin zuhören können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsitzende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten
Steinke.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Meine Damen und Herren! In § 48 der
„Geschäftsordnung für die constituirende Nationalversammlung“ in der Paulskirche 1848 hieß es - ich zitiere -:
Dem Petitions-Ausschusse ist ein bestimmter Tag
in jeder Woche zur Vorlegung seiner Berichte einzuräumen. Erst nach völliger Erledigung dieser Berichte kann zur anderweitigen Tagesordnung übergegangen werden.
Stellen Sie sich nur einmal einen Moment vor, dieser
Paragraf wäre in die Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages aufgenommen worden!
({0})
Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen?
({1})
Aber keine Angst! Ich will bei weitem keine Eins-zueins-Übernahme fordern. Aber würde es wirklich schaden, wenn wir uns in jeder Sitzungswoche eine Stunde
Zeit nähmen, Petitionen im Plenum inhaltlich zu diskutieren? Diese eine Stunde könnte manche nachfolgende
Plenardebatte anders und nachdenklicher verlaufen lassen.
({2})
Heutzutage stimmen wir im Parlament über sogenannte Sammelübersichten ab, die die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses enthalten. Für rund
16 000 bis 18 000 Petitionen im Jahr ist das sicher eine
zeitsparende Lösung. Aber werden wir damit dem Herzstück des Parlamentarismus, dem Art. 17 des Grundgesetzes, wirklich gerecht?
({3})
Immer wieder stellen wir fest, dass unsere Bürgerinnen und Bürger sehr sensibel auf politische Maßnahmen
und Reformen reagieren und sich an das Parlament wenden. Die zahlreichen Briefe und Mails beweisen: Von
Politikverdrossenheit und Vertrauensverlust ist da wenig
zu spüren. Diesem Vertrauensvorschuss könnten wir
noch besser gerecht werden, wenn wir Petitionen auch
im Plenum diskutieren würden.
Doch zurück zum Jahresbericht 2010. Im Durchschnitt gingen 66 Zuschriften und Mails pro Werktag
beim Petitionsausschuss ein. Insgesamt waren es 16 849
Petitionen. 5 780 davon, also mehr als ein Drittel, kamen
auf elektronischem Weg - und das mit steigender Tendenz. 15 993 Petitionen hat der Ausschuss im vergangenen Jahr abschließend behandelt, inklusive einiger Überhänge aus dem Vorjahr.
Seit der Eröffnung der Internetplattform des Petitionsausschusses im Jahr 2005 finden unsere Seiten einen
ständigen Zuspruch. Täglich wird auf diese rund
150 000-mal zugegriffen, was einer monatlichen Klickrate von über 4 Millionen entspricht. Das größte Interesse bei den Nutzerinnen und Nutzern der Internetseiten
gilt natürlich den öffentlichen Petitionen. Davon gab es
einige im vergangenen Jahr. Erinnern möchte ich an so
erfolgreiche Petitionen wie die gegen die Einführung der
ambulanten Kodierrichtlinien mit fast 500 000 Unterstützerinnen und Unterstützern oder die gegen die unzureichende Vergütung der Hebammen mit über 190 000
Unterzeichnungen. Besonders im Herbst 2010 erhielten
wir viele Petitionen und Unterschriften gegen die Laufzeitverlängerung der AKW.
Im Jahr 2010 haben sich 380 831 neue Nutzerinnen
und Nutzer angemeldet. Sie haben sich aktiv in die Diskussion der verschiedenen Themen eingebracht, haben
Petitionen mitgezeichnet oder kommentiert oder aber eigene Bitten und Beschwerden eingereicht. So weist die
Statistik die unglaubliche Zahl von 1 754 579 Mitzeichnungen auf. Das ist mehr als eine Verdreifachung im
Vergleich zum Vorjahr und, ich denke, sehr beachtlich.
Im Jahr 2010 tagte der Petitionsausschuss viermal öffentlich. Diese Sitzungen wurden im Parlamentskanal
und im Internet live übertragen. In den vier Sitzungen
wurden zehn Petitionen beraten. Die Themen waren unter anderem die Sperrung von Internetseiten, das bedingungslose Grundeinkommen, der Verzicht auf weitere
Privatisierung von Gewässern, eine Reform der GEMA
und die unzureichende Vergütung sowie die hohen Haftpflichtprämien für Hebammen. Großen Zuspruch erhielt
auch die Petition, welche die Verankerung eines Grundrechts auf berufliche Ausbildung im Grundgesetz zum
Ziel hatte. Ihr haben sich 77 946 Unterzeichnerinnen und
Unterzeichner angeschlossen.
Doch wie so oft im Leben finden sich gegenteilige
Meinungen zu einem Thema auch in Petitionen. Hier ein
Beispiel: Eine Sammelpetition zur Verschärfung des
Waffenrechts fand 15 584 Unterstützerinnen und Unterstützer. Andererseits schlossen sich der Forderung nach
einer Liberalisierung des Waffenrechts 7 386 Mitzeichnerinnen und Mitzeichner an.
Meine Damen und Herren, kommen wir nun zu den
einzelnen Ressorts und den Themenschwerpunkten:
Obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den größten Rückgang im Vergleich zum Vorjahr zu
verzeichnen hatte, nahm es dennoch mit 3 344 Petitionen
weiterhin den ersten Platz ein. Erneut war die Grundsicherung für Arbeitsuchende das Hauptthema, gefolgt
von Eingaben zum Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung.
({4})
Das Justizministerium steht mit 2 067 Eingaben an
zweiter Stelle. Themen waren hier beispielsweise das
Unterhalts- und Scheidungsrecht, das Sorgerecht bei
nichtehelichen Kindern und das Recht bei Vertragsabschlüssen über das Internet. Gerade zu diesem Bereich
gehen auch immer wieder Schreiben ein, in denen die
Revision von gerichtlichen Entscheidungen gefordert
wird. Hier sind dem Ausschuss allerdings die Hände gebunden; denn Art. 97 des Grundgesetzes garantiert die
richterliche Unabhängigkeit. Somit liegen gewisse Entscheidungen außerhalb des Einflussbereiches des Petitionsausschusses.
Beim Bundesministerium der Finanzen führen traditionell die Eingaben zum Steuerrecht die Liste an. Das
Thema der Einkommensteuer steht nach wie vor an erster Stelle. Es gab allerdings weniger Eingaben zur Kraftfahrzeugsteuer, zum Bereich des Kredit- und Bankenwesens und zum Bereich des Wertpapierhandels.
Beim Gesundheitsministerium dominiert das Thema
„Beiträge zu den gesetzlichen Krankenkassen“, gefolgt
von Einwänden zu Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Gestiegen ist die Zahl der Eingaben zum Bereich des Arzneimittelwesens.
Auch das Bundesministerium des Innern verzeichnete
einen Rückgang bei den Eingaben, und zwar von 1 952
im Jahr 2009 auf 1 606 im vergangenen Jahr. Das Aufenthalts- und Asylrecht mit rund 280 Eingaben bleibt
aber weiterhin das Schwerpunktthema, gefolgt von Fragen zur Versorgung der Beamten oder zu dem neu eingeführten elektronischen Personalausweis.
Ein großer Anteil entfiel auf Vorschläge zur Änderung des Wahlrechts und zur Einführung von Volksentscheiden. Eine Reihe von Petitionen gab es auch zur Änderung des Grundgesetzes, zum Beispiel die Forderungen
nach Einführung eines Grundrechtes auf Arbeit oder
nach Verankerung der Rechte von Kindern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitglieder des Ausschusses machen ihre Entscheidungen nicht
nur von den ihnen vorliegenden Akten abhängig, sondern sie verschaffen sich auch vor Ort einen persönlichen Eindruck. So ging es bei zwei Ortsterminen um den
Lärmschutz an Schienenwegen und in einem weiteren
Fall um die Forderung nach Schließung eines Luft- und
Bodenschießplatzes der Bundeswehr.
Ich möchte die heutige Debatte dazu nutzen, mich bei
allen Ausschussmitgliedern zu bedanken, die sich mit
viel Engagement in die immer wieder neue und sehr differenzierte Materie der einzelnen Anliegen einarbeiten
müssen. Es sind teilweise sehr tragische Einzelschicksale, die die Ausschussmitglieder - das darf ich hier sicherlich für alle Mitglieder des Petitionsausschusses sagen - vor schwerwiegende Entscheidungen stellen.
Wenn wir dann gemeinsam den Petenten helfen können,
sind wir auch gemeinsam froh. Wenn wir allerdings trotz
Ausschöpfens aller Möglichkeiten nicht helfen können,
ist es für alle eine bittere Erfahrung. Die oft sehr angeregten Diskussionen über die einzelnen Eingaben und
die Entscheidungen bezüglich des weiteren Vorgehens
führen nicht immer zu einstimmigen Entscheidungen,
aber sie sind dennoch ausschließlich von dem Ziel bestimmt, das Beste für die Petentinnen und Petenten zu
erreichen.
Darüber hinaus möchte ich die Gelegenheit nutzen,
mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Petitionsausschussdienstes für ihre fleißige Arbeit zu bedanken.
({5})
Sie sorgen dafür, dass mit einer dünnen Personaldecke
bei stetiger Fluktuation auf der Sachbearbeiter- wie auch
Referatsleiterebene kontinuierlich die vielen Eingaben
und Akten bearbeitet, Stellungnahmen bewertet, Berichterstattergespräche, Ortsbesichtigungen und Obleutegespräche vor- und nachbereitet werden. Das ist nicht
immer einfach, aber sie machen es fast ausnahmslos mit
Bravour. Dafür unseren herzlichen Dank.
({6})
Diesem Dank muss ich aber auch eine kritische Anmerkung anschließen. Daran, dass ich in meiner nunmehr sechsjährigen Amtszeit bereits den dritten Unterabteilungsleiter verabschieden musste, habe ich mich
fast gewöhnt. Nicht gewöhnen kann und will ich mich
allerdings daran, dass wir als Petitionsausschuss binnen
eines Tages des Unterabteilungsleiters beraubt wurden,
der für 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich ist, nach einer Woche dann eine Ausschreibung mit
einer Frist von zwei Wochen erfolgte und wir im günstigsten Fall nach vier Wochen die Stelle neu besetzt bekommen. Dieses Verfahren zeugt in meinen Augen von
wenig Achtung gegenüber der Arbeit des PetitionsausKersten Steinke
schusses und macht mich genauso unzufrieden wie die
jährliche Platzierung der Debatte zum Jahresbericht auf
der Tagesordnung des Deutschen Bundestages.
Danke schön.
({7})
Der Kollege Günter Baumann hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auf die soeben gestellte Frage unserer Vorsitzenden, ob wir mit unserem jetzigen Verfahren
Art. 17 Grundgesetz gerecht werden, möchte ich sehr
gern antworten, und zwar mit einem ganz klaren Ja. Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir unserem Auftrag
gerecht werden.
({0})
Stellen Sie sich einmal vor, wir antworteten auf individuelle Probleme und persönliche Anliegen, mit denen
sich die Bürger an uns wenden, im Rahmen einer Plenardebatte. Bei den Sonntagsreden, die hier manchmal gehalten werden, wäre das auf keinen Fall möglich, wobei
wir vom Thema Datenschutz überhaupt nicht reden wollen. Ich glaube also, dass man das so nicht machen kann.
Nicht umsonst tagen auch unsere Fachausschüsse in der
Regel nichtöffentlich.
Worum es bei der Arbeit im Petitionsausschuss geht
und welche Erfolge wir erreichen können, lässt sich am
besten anhand eines Beispiels darstellen. Eine Petentin
hat sich 2005 an den Deutschen Bundestag gewandt und
begehrt, dass bei der Anrechnung einer Verletztenrente
aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente
aus der gesetzlichen Rentenversicherung keine unterschiedlichen Freibeträge in Ost und West mehr angerechnet werden sollen - ein durchaus vernünftiges Anliegen. In der Stellungnahme hat das Ministerium für
Arbeit und Soziales dem 2006 zunächst nicht Rechnung
tragen können. Wir haben als Petitionsausschuss den Beschluss gefasst, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen. Das ist das höchste Votum, das es gibt. Wir haben die Petition weiter intensiv
verfolgt, haben Schreiben verfasst und Gespräche geführt. Seit dem 1. Juli 2011 ist das Thema erledigt. Das
Bundesversorgungsgesetz und andere Vorschriften wurden geändert. Das heißt, die Freibeträge sind nunmehr in
Ost und West gleich.
Dieses positive Beispiel zeigt, dass Petitionsarbeit erfolgreich sein kann, dass es manchmal aber viel Zeit und
auch Hartnäckigkeit braucht. Wir müssen einfach dranbleiben. Dann können wir für die Petentinnen und Petenten ein gutes Ergebnis erreichen. Als Abgeordneter aus
den neuen Bundesländern freue ich mich natürlich über
diese Petition ganz besonders, weil es auf einem weiteren Gebiet gelungen ist, den Unterschied zwischen Ost
und West abzubauen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag ist für jedermann auf direktem Wege zugänglich.
Nach Art. 17 Grundgesetz hat jedermann das Recht, sich
mit Bitten und Beschwerden an den Petitionsausschuss
des Deutschen Bundestages zu wenden. Neben dem
Wahlrecht und dem individuellen politischen Engagement, zum Beispiel in Parteien, bietet das Petitionsrecht
die Möglichkeit, sich direkt in die Politik einzubringen.
Politische Beteiligung - darauf möchte ich besonderen
Wert legen - ist damit für die Menschen leicht erreichbar. Wenige Mausklicks oder ein einfacher Brief reichen
aus, um sich zu beteiligen.
Von dieser Beteiligungsmöglichkeit haben 2010
knapp 17 000 Bürgerinnen und Bürger Gebrauch gemacht. Rechnet man Massenpetitionen, übergebene Unterschriftenlisten und die elektronische Unterstützung im
Internet hinzu, stellt man fest, dass sich etwa 1,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger an unserem Petitionswesen
beteiligt haben. Ich denke, das ist ein sehr gutes Ergebnis.
Die Zahlen belegen aus meiner Sicht eindrucksvoll:
Erstens. Das Petitionswesen ist in unserem Land bekannt und wird von den Bürgerinnen und Bürgern genutzt.
Zweitens. Die Menschen vertrauen uns, wenn es um
die Unterstützung bei individuellen Bitten und Beschwerden und um die Lösung persönlicher Fragen geht.
Drittens. Wir sind ständig aufgefordert, noch nicht gelöste Probleme in der Politik anzupacken und zu bearbeiten.
Nach wie vor kommen, prozentual auf die Einwohnerzahl bezogen, die meisten Petitionen aus den neuen
Bundesländern. Auch wenn die Zahlen abnehmen, muss
man sagen: Das Bild des „meckernden Ossis“ ist noch
nicht ganz verblasst, aber es wird zumindest schwächer.
Das Petitionswesen ist im vereinten Deutschland inzwischen auf beiden Seiten angekommen.
({2})
Es gibt bei Petitionen aber immer noch ganz spezielle
Ostthemen, zum Beispiel Rentenprobleme oder auch offene Vermögensfragen.
Oft wird gefragt, wie erfolgreich wir sind. Auf diese
Frage möchte ich klipp und klar antworten: 2010 sind
43 Prozent der eingegangenen Petitionen positiv für den
Petenten ausgegangen. Das ist ein großer Erfolg, auf den
wir stolz sein können.
({3})
An dieser Stelle möchte ich mich, genau wie die Vorsitzende, im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes ganz herzlich für ihre Arbeit bedanken.
({4})
Ohne ihre sachliche Vorarbeit wäre eine Bearbeitung
durch uns nicht möglich. In manchen Fällen muss der
Ausschussdienst zwar aushalten, dass die Abgeordneten
dann doch eine andere Meinung haben als der Ausschussdienst; das gehört aber nun einmal dazu.
Ich möchte mich auch bei meinen Kollegen in der Arbeitsgruppe der CDU/CSU ganz herzlich bedanken. Wir
sind eine dufte Truppe. Man merkt: Jedem macht es
Spaß, jeder bringt sich ein. Das Anliegen, den Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, ist jedem eine Herzenssache.
Mein herzlicher Dank gilt auch allen Mitgliedern im
Ausschuss, über Fraktionsgrenzen hinweg. Leider musste
ich in den letzten Monaten jedoch feststellen, dass die
Opposition das Petitionsrecht zunehmend als politische
Plattform nutzt. Das sollte so nicht sein.
({5})
- Kollege Lemme, das muss man schon einmal sagen. Ich habe kein Verständnis für die teilweise eklatant hohen Voten der Opposition. Durch diese hohen Voten werden den Petenten falsche Hoffnungen gemacht. Ich habe
kein Verständnis dafür, dass Sie sehr oft Anträge auf
Darlegung des Votierverhaltens stellen. Das ist nicht
Sinn der Sache. Bei über 90 Prozent der allein heute früh
im Ausschuss behandelten Petitionen wurden von den
Oppositionsfraktionen Anträge auf Einzelausweisung
nach 8.2.2 unserer Verfahrensregeln gestellt. Unsere
Verfahrensgrundsätze sagen eigentlich etwas anderes
aus.
({6})
- Bringen Sie es ein; dann reden wir darüber. - Das Petitionsrecht ist nicht für Populismus oder politische Profilierung da; das muss man eindeutig sagen.
({7})
Für uns in der CDU/CSU-Arbeitsgruppe ist ganz klar:
Das Problem des Petenten steht im Mittelpunkt. Wir
möchten uns um die ganz konkreten Fälle kümmern und
sie realistisch bewerten. Wir wollen dem Bürger helfen,
soweit dies möglich ist. Der Petitionsausschuss ist kein
Fachausschuss, das muss deutlich gesagt werden.
Ich möchte zum Schluss ein Beispiel aus unserer Arbeit nennen. Wir hatten vor kurzem einen Ortstermin an
einer Bahnstrecke in Boizenburg. Dort stand das Thema
Lärmschutz im Mittelpunkt. Es ging um Wohnhäuser, die
direkt an einer Bahntrasse mit 179 Zugfahrten pro Tag
stehen. Das führte natürlich zu einer enormen Lärmbelästigung. Wir haben dort erreicht, dass die Priorisierungskennziffer auf 3,198 erhöht wurde. Das Umsetzungszeitfenster der Lärmschutzmaßnahme wurde außerdem
wesentlich verkürzt. Wir haben also konkret geholfen,
wenn auch nicht sofort gebaut wird.
Der größte Lohn für unsere Arbeit war ein Schreiben
der Petenten, in dem zu lesen war - ich darf zitieren -:
Vielen Dank für Ihren Einsatz und Ihre Bemühungen,
dass sich unsere Lage in Bezug auf den Bahnlärm verbessert, vor allen Dingen, dass Sie sich persönlich von
der Wichtigkeit einer Schallschutzmaßnahmen überzeugt haben.
Fazit: Wir haben Vertrauen gewonnen, Politikverdrossenheit abgebaut und sind der Lösung des Problems näher gekommen. Diesen erfolgreichen Weg möchten wir
weiter beschreiten.
Herzlichen Dank.
({8})
Die Kollegin Sonja Steffen hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Ausschussdienstes! Sehr geehrte Damen und Herren! Die meisten von uns Mitgliedern des Petitionsausschusses können inzwischen auf zwei Jahre Tätigkeit zurückblicken. Vermutlich geht es Ihnen so wie mir: Die
Arbeit in diesem Ausschuss macht viel Freude, weil sie
konkrete Einzelfälle und Lebensschicksale betrifft. Es
geht um Themen, die mitten aus dem Leben unserer Bürgerinnen und Bürger kommen. Uns Parlamentariern wird
über die Petitionen der Unmut über bestimmte politische
Entscheidungen vor Augen geführt. Wir werden auf
Missstände in der Verwaltungspraxis und auf Fehler und
Lücken in Gesetzen aufmerksam gemacht. Diese Rückkoppelung ist für uns als Kontrollinstanz gegenüber der
Bundesregierung und als Gesetzgeber von großer Bedeutung.
Heute Morgen haben wir im Petitionsausschuss darüber debattiert, ob wir bei Gesetzentwürfen mitberatend
tätig werden sollten. In diesem Zusammenhang lag uns
eine Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vor. Leider haben Sie sich, meine Kolleginnen und Kollegen von
der Regierungskoalition, geweigert, ein mitberatendes
Votum abzugeben, mit der Begründung, Herr Baumann
- ich zitiere -: Das hat der Petitionsausschuss noch nie
gemacht.
({0})
Ich muss Ihnen hier deutlich widersprechen. Gerade
durch die Einsicht in konkrete Einzelfälle können wir in
bestimmten Bereichen einen wichtigen und kompetenten
Beitrag leisten.
({1})
Das Wissen, das wir durch Petitionen gewinnen, die
Rückkoppelung zur Bevölkerung darf im parlamentarischen Verfahren nicht unberücksichtigt bleiben.
({2})
Kollegin Steffen, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kauder?
Ja.
Bitte.
Frau Kollegin Steffen, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass wir uns nicht verweigert haben, sondern
dass wir prüfen lassen werden, ob wir in diesem Fall zuständig sind? Wenn Sie es besser gewusst hätten, hätten
wir gerne mit abgestimmt. Aber wir wussten es alle
nicht.
({0})
Herr Kollege Kauder, ich gebe Ihnen darin recht.
({0})
So war es. Wir lassen die Zuständigkeit prüfen. Aber Sie
werden mir recht geben, dass Ihr Kollege Baumann
vorab gesagt hat, dass es im Petitionsausschuss nicht üblich sei, dass wir bei Gesetzentwürfen mitberatend tätig
werden können.
({1})
Das Petitionsrecht ist das einzige Mittel der direkten
Beteiligung des Volkes auf der Bundesebene. Wir müssen diesem Recht auch an dieser Stelle die ihm zukommende Bedeutung beimessen.
Wir haben heute Morgen außerdem über eine öffentliche Petition mit 1 400 Unterstützerunterschriften beraten, die sich erneut gegen Niedriglöhne und sittenwidrige Gehälter wendete; Sie werden sich erinnern. Uns
erreichen sehr viele Petitionen, die einen gesetzlichen
und flächendeckenden Mindestlohn fordern. Sie sehen,
meine Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition, auch diese Forderung kommt mitten aus dem
Volk. Wir hoffen, dass sie in absehbarer Zeit auch in Ihren Köpfen ankommt,
({2})
damit endlich eine gesetzliche Umsetzung erfolgen
kann.
Auch dieser Jahresbericht zeigt wieder, dass die verhältnismäßig meisten Petitionen aus den neuen Bundesländern kommen. Brandenburg steht hinsichtlich der
Zahl der eingereichten Petitionen auf Platz eins, gefolgt
von allen anderen neuen Bundesländern auf den Rängen
zwei bis sechs. Den letzten Platz unter den Bundesländern nimmt übrigens Baden-Württemberg ein. Spiegelt
sich in der Zahl der Eingaben aus den einzelnen Bundesländern vielleicht auch die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger wider? Ich denke, Herr Baumann, wir
sind uns einig: Es liegt nicht am meckernden Ossi. Aber
ich glaube, dass wir im Osten besondere, spezifische
Probleme haben, die bisher nicht gelöst werden konnten.
({3})
Gerade im Bereich der Ostrenten erreicht uns eine
große Zahl von Petitionen. Sie haben vorhin auf ein Beispiel hingewiesen, das wir lösen konnten. Aber die Probleme sind immer noch vielfältig und die gefühlte Ungerechtigkeit ist hier besonders groß.
({4})
Ich denke, viele von uns sind sich darin einig, dass wir
das nicht einfach so stehen lassen können.
({5})
20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen
Einheit ist ein Unterschied zwischen Ost- und
Westrenten nicht mehr erklärbar und auch nicht mehr
hinnehmbar. Ich möchte Sie, meine Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, wieder einmal an Ihren Koalitionsvertrag erinnern. Sie haben dort vereinbart, sich
des Themas anzunehmen. Es muss eine gerechte Angleichung der Renten noch in dieser Legislaturperiode angestoßen werden; das haben Sie formuliert. Im Petitionsausschuss können wir mit unseren Voten in dieser
Hinsicht einen ersten Schritt tun.
({6})
Ich muss leider ein bisschen auf die Uhr schauen. Ich
hatte vor, noch einige Ausführungen zum Bereich Visavergabepraxis, Aufenthaltsrecht und Asylrecht zu machen. Aber ich denke, Herr Dr. Ott, Sie werden sich dieses Themas annehmen. Ich meine, dass wir auf diesem
Gebiet noch eine Menge tun könnten und tun sollten,
und glaube, dass wir gerade in diesem Bereich mit unserer Hartnäckigkeit einen wichtigen Teil zu guten Entscheidungen beigetragen haben.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich uns alle loben. Es gab Petitionen, bei denen wir alle gemeinsam
und fraktionsübergreifend auf Einzelfälle erfolgreich
Einfluss nehmen konnten. Ich möchte mich deshalb an
dieser Stelle bei allen Ausschusskollegen ausdrücklich
für die kooperative Zusammenarbeit bedanken.
({7})
Es sind auch und gerade solche schwierigen Einzelfälle
- darauf haben Sie schon hingewiesen, Frau Vorsitzende -, die uns durch einen erfolgreichen Abschluss für die
intensive und sehr zeitaufwendige Arbeit im Petitionsausschuss belohnen.
Mein besonderer Dank - wir haben das vorhin schon
gehört; die Vorsitzende hat es bereits ausgesprochen, Sie
auch, Herr Baumann, und ich möchte mich anschließen - gilt an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes. Durch ihre hervorragende und gründliche Arbeit können sie viele Eingaben
der Bürgerinnen und Bürger bereits im Vorfeld lösen. Sie
nehmen uns eine Menge Arbeit ab und stehen uns immer
zur Verfügung, wenn es Rückfragen gibt und eine genauere Aufklärung erforderlich ist.
Der konkrete Einsatz für die Menschen und ihre Anliegen macht den Petitionsausschuss so bedeutend. Ich
hoffe auch weiterhin auf eine gute Zusammenarbeit und
danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({8})
Als Nächster spricht nun der Kollege Dr. Peter
Röhlinger für die FDP-Fraktion.
({0})
Ich bin es als früherer OB gewohnt, nach einem Konsens zu suchen. Ich freue mich jedes Mal, wenn wir - so
wie auch heute - einen ganzen Teil der Beschlussvorlagen sehr schnell einstimmig beschließen können. Im
Bundestag ist das sonst durchaus nicht üblich; aber in
unserem Ausschuss kommt es mehrheitlich vor.
Im Übrigen werden einige Petitionen an die zuständigen Ministerien weitergeleitet, und zwar, wenn wir den
Inhalt für so wichtig halten, dass er weiter bearbeitet
werden sollte, wir jedoch keine Abhilfe leisten können.
Petitionen machen uns Abgeordnete darauf aufmerksam, mit welchen Problemen Bürgerinnen und Bürger
manchmal zu kämpfen haben, wo sie Ungerechtigkeiten
erfahren, wo Gesetze unzulänglich sind, wo sie sich über
wuchernde Bürokratie ärgern oder sich von Behörden im
Stich gelassen fühlen. In vielen Fällen - auch das muss
gesagt werden - können wir allerdings nicht helfen. Zum
Beispiel entscheidet natürlich nicht der Bundestag darüber, welche Medikamente von der Krankenversicherung bezahlt werden und welche nicht. Die Fristen, die
die Bundesagentur für Arbeit setzt, wenn es zum Beispiel um den Leistungsbezug geht, kann der Deutsche
Bundestag nicht in jedem Einzelfall individuell anpassen.
Wichtig ist mir aber, dass jeder Beschluss so gut wie
möglich erklärt und so verständlich wie möglich begründet wird.
({0})
Jeder Petent soll merken, dass sein Anliegen verstanden
worden ist. Auch wenn wir dem Anliegen nicht abhelfen
können, soll er zumindest verstehen, warum wir nicht
helfen können. Ich bin von Beruf Tierarzt und damit einer der wenigen Nichtjuristen im hochheiligen Petitionsausschuss. Ich verstehe die vielen Zuschriften von Menschen, die ein Papier sehen und das Gefühl haben, sie
bräuchten jemanden, der ihnen das übersetzt.
({1})
Ich gebe mir also Mühe. Wenn ich es verstehe, gehe ich
davon aus, dass es auch der Empfänger versteht.
Mir fällt aber auf, dass das Wissen darüber, wie unser
demokratischer Rechtsstaat, zum Beispiel die Gewaltenteilung, funktioniert, manchmal etwas lückenhaft ist. Es
ist Petenten manchmal nicht bewusst, dass der Petitionsausschuss weder Gerichtsurteile beeinflussen noch Behörden Anweisungen geben kann. Hier gibt es noch viel
Aufklärungsbedarf. Wir sind dabei, die Öffentlichkeitsarbeit des Ausschusses weiter zu verbessern.
Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass wir 2010
zehn Petitionen in öffentlicher Sitzung beraten haben.
Auch dadurch erhalten wir eine gewisse Aufmerksamkeit. Etliche Petitionen haben über einen längeren Zeitraum mehr als 50 000 Unterstützer gefunden. Der Petitionsausschuss ist dadurch bekannter geworden. Wir
sollten diese Möglichkeiten also durchaus nutzen.
Ich sehe, dass mich die Präsidentin mahnen will, mich
kurz zu fassen.
Die Präsidentin ist schon ganz glücklich, dass die
Rednerinnen und Redner das bei diesem Tagesordnungspunkt zur Kenntnis nehmen; das ist ein Fortschritt.
({0})
Ich will noch zwei Gedanken äußern:
Erstens. Ich freue mich, dass sich nicht nur Bundesbürger an uns wenden können, sondern alle, die in der
Bundesrepublik Deutschland zu Hause sind und in unserem Lande leben.
Zweitens. Das deutliche Wachstum bei den Onlinepetitionen zeigt, dass wir eine neue Generation erreichen.
Wir brauchen nicht zu fürchten, dass eine Facebook-Generation die Regierung stürzt. Denn sie kann sich voller
Vertrauen an uns wenden. Dadurch können wir ein Stück
weit Frust abbauen.
({0})
Ich bedanke mich bei Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit, aber zuvörderst bei Ihnen, Frau Steinke, der
Vorsitzenden des Petitionsausschusses, für die nach meiner Ansicht wohltuende Atmosphäre - ich hoffe, wir
können das so fortsetzen ({1})
und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die
fleißige Unterstützung.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Hermann Ott das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Geehrte Mitglieder des Ausschussdienstes! Heute Morgen erst hatten wir unsere Sitzung.
So sehr ich mich auch freue, Sie alle hier wiederzusehen,
muss ich doch sagen: Eigentlich würde ich hier gerne ein
paar Leute mehr sehen. Eigentlich müsste das Plenum
jetzt rappelvoll sein,
({0})
wenn auch nicht so voll wie bei der Elefantenrunde - das
ist klar -; denn natürlich können wir bei der Debatte über
den Jahresbericht des Petitionsausschusses keine imposanten Großtiere aufbieten, keine Merkels, Steinmeiers,
Gysis oder Trittins, die mit viel Getöse aufeinander losgehen. Die Bude müsste aber trotzdem voll sein, weil alle
Mitglieder des Bundestages an unserer Debatte interessiert sein müssten; denn der Petitionsausschuss deckt den
gesamten Bereich, das gesamte Spektrum des Bundestages und der Politik ab. Wir, die wenigen Mitglieder des
Ausschusses, vertreten die fachlichen Interessen all unserer mehr als 600 Kolleginnen und Kollegen.
Die doch recht überschaubare Zahl unserer Zuhörer
im Plenum versinnbildlicht deshalb ein kleines Problem:
Unserem Ausschuss fehlt es an Glanz; er gilt nicht als
cool. Umso wichtiger ist es, Ihnen zuallererst für die
gute Zusammenarbeit zu danken. Dazu gehört natürlich
auch der Dank an diejenigen, ohne die wir überhaupt
nicht arbeitsfähig wären, an die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschussdienstes, in den Fraktionen
und in unseren Büros. Danke für Ihren hervorragenden
Einsatz im letzten Jahr!
({1})
Dadurch konnten wir die nicht unbeträchtliche Arbeit
des Ausschusses bewältigen. Ich bin ja im „Nebenberuf“
auch klimapolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion und
freue mich deshalb, dass sich der Bereich der Umweltpolitik so gut entwickelt hat: Die Anzahl der umweltrelevanten Petitionen ist um 15 Prozent gestiegen. Die Anzahl der Petitionen, die sich auf den Bereich des
Verbraucherschutzes und der Landwirtschaft beziehen,
ist sogar um 45 Prozent gestiegen. Das zeigt, dass die
Menschen Umwelt- und Verbraucherschutz ernst nehmen, und das ist auch gut so.
Aber es gibt natürlich viel Raum für Verbesserungen,
viel Raum, um dem Petitionsausschuss mehr Glanz und
Bedeutung zu verleihen, um an die Anfangsbemerkung
anzuschließen, zum Beispiel durch Verbesserungen in
Bezug auf die öffentlichen Petitionen. Eine der wichtigsten Fragen ist natürlich: Wie lang sollte die Zeichnungsfrist für die 50 000 Unterschriften sein, die man braucht,
damit eine Petition öffentlich im Ausschuss beraten wird?
Im Moment stehen dafür gerade einmal drei Wochen zur
Verfügung. Das ist zu schaffen, wie die Petition zur Internetsperre und vor ein paar Tagen die Petition zur Vorratsdatenspeicherung gezeigt haben, aber nur mit einem sehr
gut organisierten Netzwerk im Hintergrund; denn es ist
doch so, dass die Menschen auch im Zeitalter der elektronischen Kommunikation eine gewisse Zeit brauchen, um
auf öffentliche Anliegen zu reagieren. Es macht deshalb
Sinn, diesen Zeitraum zu verlängern. Wir haben acht Wochen vorgeschlagen. Die Kolleginnen und Kollegen von
der FDP können sich anscheinend einen ähnlichen Zeitraum vorstellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen
Sie uns das zusammen machen. Verbessern wir die demokratische Mitwirkung für alle Menschen in Deutschland.
({2})
Dieser Aufruf richtet sich natürlich vor allem an die
Kolleginnen und Kollegen von der Union. Ja, Sie hören
richtig. Diesmal ist es nicht Ihr Koalitionspartner, der
eine sachgerechte Politik erschwert, sondern Sie selbst.
Arbeiten Sie mit an der Schaffung eines demokratischen
Petitionsrechts.
({3})
Auf Ihrer Webseite klingt das anders - ich zitiere -:
Allerdings ist immer wieder darauf hinzuweisen,
dass der Petitionsausschuss … kein Instrument zur
direkten Demokratie ist.
({4})
Zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man
die Entwicklung des Petitionsrechts nicht wahrhaben
will. Es stimmt: Im Mittelalter war dieses Recht als Gnadenrecht ausgestaltet. Aber - meine Damen und Herren
von der Union, Sie wissen, was jetzt kommt - wir leben
nicht mehr im Mittelalter.
({5})
Vielmehr haben wir durch die öffentlichen Petitionen
die Möglichkeit geschaffen, dass Einzelne, aber auch
Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern Gesetzesinitiati14856
ven anstoßen können. Dieses Instrument nutzen sie in
Scharen.
Kollege Ott, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Kauder?
Nein, danke.
({0})
Das Volk setzt sich über das Instrument der elektronischen Petition direkt für eine bessere Politik ein - erinnern Sie sich an einige unserer Beratungen -: Sie setzen
sich zum Beispiel für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein und dafür, den Klimaschutz ins Grundgesetz aufzunehmen. Wenn das kein Instrument der direkten Demokratie ist, dann weiß ich nicht, was das sein
soll. Wir geben den Menschen die Möglichkeit, ihre Anliegen mit öffentlicher Unterstützung direkt hier im Bundestag vorzutragen. Wir fördern das Interesse und die
Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger an der Politik
und an der Demokratie. So soll es sein.
({1})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, werbe ich für etwas mehr Mannesmut und natürlich auch Frauenmut vor Königsthronen. Helfen Sie mit,
alle Fraktionen vom Wert dieses demokratischen Instruments zu überzeugen und es zu verbessern. Damit tun
wir einen großen Dienst an der Demokratie und an den
Menschen, und nebenbei verleihen wir dem Petitionsausschuss und seinen Mitgliedern etwas mehr Lametta,
wie der Berliner sagt. Das ist, so meine ich, unser aller
Anstrengung wert.
Herzlichen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kauder das
Wort.
Herr Kollege Ott, wenn Sie es uns nicht gesagt hätten,
wären wir fast geneigt gewesen, zu meinen, wir seien im
Mittelalter. Sie haben so argumentiert. Für uns ist die
Verfassung maßgeblich. Wenn Sie Art. 17 des Grundgesetzes lesen, wissen Sie, warum wir damit keine direkte
Demokratie einführen, sondern ein Beschwerderecht:
Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die
Volksvertretung zu wenden.
Es geht nicht um Volksbefragung, sondern um ein Beschwerderecht. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
({0})
Sie haben das Wort zur Erwiderung, Kollege Ott.
Lieber Herr Kollege Kauder, Sie zitieren natürlich
ganz richtig, aber dort steht nicht, dass die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes nicht Anregungen zur Gesetzgebung geben dürfen. Um nichts anderes geht es in diesem Fall. Man wendet sich mit Anliegen an den Petitionsausschuss und weist auf eine Lücke in der Gesetzgebung
hin oder auf etwas, das falsch geregelt ist und verbessert
werden sollte. Der Petitionsausschuss kann sich dies anhören und dann sagen: Ja, das finden wir auch, wir schlagen vor, dass eine entsprechende Gesetzesregelung im
Bundestag getroffen wird. Es kann auch sein, dass er es
nicht so sieht wie der Petent. Auch das ist das gute Recht
des Petitionsausschusses. Es geht hier nicht um direkte
Entscheidungen des Volkes, sondern um Anregungen,
was - das möchte ich betonen - nicht wenig ist. Ich
denke, wir sind in diesem Lande auf diesem Gebiet ein
gutes Stück vorangekommen.
Vielen Dank.
({0})
Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Paul Lehrieder für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Dr. Ott, am Schluss Ihrer Ausführungen, als Sie sich den Petitionsausschuss mit Lametta
vorgestellt haben, musste man schmunzeln. Der Bürger
erwartet von uns aber kein Lametta, keinen vordergründigen Glanz, er erwartet die Lösung seiner Probleme. Ich
glaube, wir sollten uns nicht mit Lametta behängen, sondern wir sollten Probleme lösen.
({0})
Die Mitglieder des Petitionsausschusses mögen zwar
weniger im Rampenlicht stehen als die Mitglieder anderer Ausschüsse, jedoch kann ich aus meiner nunmehr
fast sechsjährigen Tätigkeit im Petitionsausschuss bestätigen, dass es keinen anderen Ausschuss gibt, in dem
man als Volksvertreter eine so unmittelbare Berührung
mit den Anliegen der Wählerinnen und Wähler erfährt.
Getreu unserem Grundsatz „Näher am Menschen“ verPaul Lehrieder
stehen wir uns als Anwälte der Menschen. Im verfassungsrechtlich verankerten Petitionsausschuss, dem
Seismografen des Parlaments, erfahren wir als Erstes,
wo den Wählerinnen und Wählern der Schuh drückt und
was sie beschäftigt, und erhalten so das notwendige
Feedback und Antworten auf die Frage, wo Korrekturbedarf besteht.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass
sich immer mehr Bürger dieses grundlegenden Rechts
bewusst werden, es anwenden und sich von uns Hilfe
versprechen. Wie Sie sich sicherlich denken können, ist
dies besonders im Bereich „Arbeit und Soziales“ der
Fall, für den ich im Petitionsausschuss schwerpunktmäßig Bericht erstatten darf. Das Ressort „Arbeit und Soziales“ ist, wie auch in den letzten Jahren, mit etwa
20 Prozent der Eingaben - im letzten Jahr waren es
3 344 - das Ressort mit den meisten Zuschriften. Zum
Aufschrei von einigen Kollegen aus der Linkspartei, lieber Kollege Birkwald, liebe Kollegin Kipping, das seien
so viele, muss ich sagen: Dies indiziert nicht, dass es ein
Anwachsen gibt bzw. dass die Probleme in diesem Bereich zugenommen haben. Diese Regierungskoalition
hat eine gute Arbeit gemacht. Deshalb gibt es hier einen
Rückgang um 20 Prozent.
({1})
Von den Themen her bildet mit etwa 1 000 Petitionen
erneut die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem
SGB II das Schwergewicht der Eingaben. Erlauben Sie
mir ein konkretes Beispiel. In einer Petition im Berichtsjahr 2010 kritisierte der Petent, dass die ALG-II-Empfänger im Rahmen der ihnen zustehenden Geldleistungen einen Zuschuss zur Krankenversicherung erhielten,
der jedoch nicht den Tarif der privaten Krankenversicherung abdeckte. Aufgrund der für den Leistungsempfänger weiterhin bestehenden Pflicht, Beiträge für die Krankenversicherung zu zahlen, sammelten sich für die
Dauer der Hilfsbedürftigkeit in zunehmender Höhe
Schulden an, die er in keiner Weise vermeiden könne.
Der Petitionsausschuss war hier bereits lange vor dem
entsprechenden Urteil des Bundessozialgerichtes der
Auffassung, dass diese Rechtslage unhaltbar ist, und sah
die Petition als begründet an, und zwar parteiübergreifend; einige Redner haben bereits darauf hingewiesen.
Wir sind ja an vernünftigen Ergebnissen orientiert. Es ist
wirklich wohltuend - auch das kann ich bestätigen -,
dass die offizielle Parteidoktrin hier in der Regel keine
große Rolle spielt, sondern dass man wirklich um sachorientierte Lösungen bemüht ist.
({2})
Wie gesagt: Der Petitionsausschuss sah die Petition
als begründet an. Auf Empfehlung des Ausschusses
überwies der Deutsche Bundestag die Eingabe der Bundesregierung zur Berücksichtigung und verband hiermit
die Aufforderung, Abhilfe zu schaffen. Dies bestätigte
auch das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom
18. Januar 2011, wonach ein privat krankenversicherter
Bezieher von ALG-II-Leistungen die Übernahme seiner
unterhalb des hälftigen Höchstbetrages zur gesetzlichen
Krankenversicherung liegenden Beiträge zur privaten
Krankenversicherung im Wege einer analogen Anwendung der für freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Personen geltenden Regelung von
dem SGB-II-Träger beanspruchen kann. Damit ist das
Bundessozialgericht konsequenterweise dem Votum des
Petitionsausschusses gefolgt.
({3})
An diesem Beispiel können Sie sehen, dass der Petitionsausschuss in konkreten Fällen Probleme zu lösen
und Abhilfe zu schaffen vermag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie am vorangegangenen Beispiel deutlich wurde, münden die Anliegen, die die Bürger gegenüber dem Bundestag vortragen,
häufig in konkrete Entscheidungen und Korrekturen. Für
den Petenten ist wichtig, zu sehen, dass das Petitionsrecht nicht, wie so oft behauptet, ein stumpfes Schwert
in der Hand des Bürgers ist, sondern durch die Befassung des Petitionsausschusses direkt zu einem öffentlichen Anliegen wird.
Ich darf Ihnen, Frau Kollegin Steinke, bestätigen: Sie
haben sich auch im vergangenen Jahr redlich bemüht,
den Ausschuss sachlich sowie fachlich korrekt und neutral zu führen. Dafür ein herzliches Wort des Dankes!
({4})
Ebenfalls darf ich mich sehr herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschusses bedanken. Wir machen es Ihnen nicht immer leicht; aber ich
glaube, im Großen und Ganzen können Sie mit uns Abgeordneten ganz gut leben. Ich darf mich auch bei den
Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion bedanken.
Auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit und darauf,
dass wir den Bürgern als ihre Anwälte auch in den
nächsten Jahren helfen können!
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Remmers für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Ausschussdienstes! Sehr geehrte Damen und Herren! Dies ist nun meine zweite Rede zu einem Jahresbericht des Petitionsausschusses. Ich kann sagen: Dieser
Ausschuss ist nach wie vor so lebendig wie kein anderer.
Wir sind schließlich diejenigen, die anhand der oft sehr
umfangreichen Akten einen Eindruck davon bekommen,
welche tatsächlichen Auswirkungen Bundesgesetze in
der Umsetzung haben und welche daraus entstehenden
Zustände unhaltbar sind. Ich freue mich immer dann besonders, wenn auch die Regierungskoalition ein Einsehen hat und bereit ist, ihren Ministerien mal auf die Füße
zu treten. Anerkennen möchte ich, dass in unseren Berichterstattergesprächen fast immer eine sehr konstruktive Atmosphäre herrscht und oft Lösungen für die Petentinnen und Petenten gefunden werden können.
Ganz im Gegensatz dazu habe ich mich in der Vergangenheit sehr darüber geärgert, wie in den öffentlichen
Ausschusssitzungen manchmal mit den anwesenden Petentinnen und Petenten umgegangen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem Ausschuss sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Petentinnen und
Petenten hier ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrnehmen und einen Anspruch darauf haben, dass über ihre
Anliegen sachlich diskutiert wird.
({0})
Den Bürgerinnen und Bürgern ist mit reinen Absichtserklärungen nicht geholfen. Solange die Forderungen im Kern nicht erfüllt sind, ist dem Anliegen nicht
entsprochen worden. Ein Beispiel dafür ist die Forderung nach Einführung einer Finanztransaktionsteuer
- dafür wurden mehrere Zehntausend Unterschriften gesammelt -, auch wenn inzwischen erfreulicherweise etwas Bewegung in die Diskussion über diese so wichtige
Frage gekommen ist. Es zeigt sich, dass öffentliche Petitionen tatsächlich wichtige Anstöße geben und eine
wichtige Unterstützung darstellen können.
Ein weiteres Beispiel ist die öffentliche Petition der
Hebammen, über die ich bereits im letzten Jahr gesprochen habe; sie hatte über 190 000 Unterstützerinnen und
Unterstützer.
Die freiberuflichen Hebammen wehren sich noch immer gegen die astronomisch gestiegenen Prämien für die
Berufshaftpflichtversicherung und gegen die viel zu
niedrige Vergütung ihrer Arbeit durch die Krankenkassen. Sowohl im Ausschuss als auch durch die anwesenden Vertreter des Ministeriums wurde Verständnis geheuchelt. Passiert ist nichts!
({1})
Immer mehr freiberuflich tätige Hebammen müssen
die Betreuung von Hausgeburten aufgeben, ganze Geburtshäuser müssen schließen. Wenn wir hier nicht endlich etwas tun, dann ist die Wahlfreiheit für die werdenden Mütter künftig eben nicht mehr gewährleistet.
({2})
Der zu der öffentlichen Ausschusssitzung geladene
damalige Staatssekretär Bahr hat diese Problematik im
Zuge seiner Beförderung offensichtlich erfolgreich verdrängt.
({3})
Er kann sich aber sicher sein, dass wir ihn auch in seiner
neuen Aufgabe als Gesundheitsminister an die Hebammen erinnern werden.
({4})
Besonders hervorheben möchte ich noch eine Petition, die ich im letzten Jahr als Berichterstatterin vorliegen hatte und die mich sehr berührt hat. Die Petentinnen
und Petenten aus NRW sind sogenannte Kontingentflüchtlinge, also ehemals sowjetische Staatsbürger jüdischen Glaubens. Sie erhalten in Deutschland die Grundsicherung im Alter.
Diese Petenten, die noch die Schrecken des Krieges,
unter anderem im belagerten Leningrad, erleben mussten, bekommen von der russischen Regierung eine
kleine Entschädigungsrente von rund 80 Euro im Monat.
Diese Kriegsentschädigung wird ihnen von deutschen
Sozialämtern nun plötzlich auf die Grundsicherung angerechnet. Mit der fadenscheinigen Begründung, man
könne im Bescheid ja nicht erkennen, ob es sich tatsächlich um eine Entschädigungszahlung handelt, kürzen Sozialämter die Grundsicherung um 80 Euro. Menschen
jüdischen Glaubens, die unter dem deutschen Angriffskrieg gelitten haben, werden von deutschen Sozialämtern um ihre Kriegsentschädigung gebracht. Dass diese
Unterschlagung nicht überall angewandt wird, sondern
überwiegend in besonders armen Kommunen, macht die
Sache nicht wirklich besser. Sie ist und bleibt ein Skandal!
({5})
Neben diesen Einzelpetitionen erfreuen sich die öffentlichen Petitionen im Internet - wir haben es eben
mehrfach gehört - mittlerweile einer derartigen Beliebtheit, dass der Ausschuss beschlossen hat, seine Verfahrensgrundsätze anzupassen und entsprechend zu verbessern.
Wir als Linke begrüßen dabei ganz besonders den
Vorschlag der FDP-Fraktion - wem Lob gebührt, der
soll Lob haben -, ab 100 000 Unterstützungsunterschriften innerhalb von zwei Monaten das Anliegen zum
Thema einer Bürgerstunde im Plenum zu machen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mit
diesem Vorgehen würde bewiesen, dass die Politik eben
nicht taub und blind für die Anliegen von großer gesellschaftlicher Relevanz ist.
Auch wenn hier eben die Diskussion darüber entstanden ist, ob das im Petitionsrecht ursprünglich vorgesehen war: Wir haben diese Regelung geschaffen, und wir
müssen der Realität, dass die Menschen dieses Instrument nutzen, jetzt auch ins Auge sehen. Deswegen unIngrid Remmers
terstützen wir als Linke auch den Vorschlag, diese Anliegen anschließend in die Fachausschüsse zu überweisen
und daraus konkrete Anträge und Gesetzentwürfe zu entwickeln. Ich hoffe sehr, dass diese hervorragende Initiative - ehrlich: die Linke hätte es kaum besser machen
können - von allen Regierungsparteien mitgetragen
wird. Sie wäre ein echter Schritt zu mehr Demokratie in
unserem Land.
({7})
Zu guter Letzt möchte auch ich mich im Namen meiner Fraktion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Ausschussdienstes für ihre engagierte, kompetente
und zuverlässige Arbeit bedanken.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Andreas Mattfeldt spricht nun für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
Parlamentarische Rat hat das Petitionsrecht 1949 richtigerweise in die Verfassung geschrieben. Seit 1975 hat
der Petitionsausschuss sogar einen festen Platz im
Grundgesetz. Nicht viele Ausschüsse in diesem Hohen
Haus haben Verfassungsrang. Deshalb sage ich deutlich:
Der Petitionsausschuss ist etwas ganz Besonderes.
({0})
Trotz dieser Vorbemerkung muss ich allerdings zugeben, dass ich am Anfang skeptisch war, als mir gesagt
wurde, ich solle nicht nur Mitglied im Haushaltsausschuss, sondern auch noch Mitglied im Petitionsausschuss sein. Viele dienstältere Kolleginnen und Kollegen
sagten mir: Herrje, du Armer. Na ja, Mattfeldt, da musst
du durch, das mussten andere neue Abgeordnete auch.
({1})
Ich wusste nicht, was mich erwartet. Aber prinzipiell
war ich schon davon überzeugt, dass das Petitionsrecht
ein richtiges, vor allem aber auch ein wichtiges Recht für
unsere Bürger ist.
Gerade in meiner vorangegangenen Tätigkeit als Bürgermeister habe ich vielen Menschen dort, wo mir persönlich in meiner Tätigkeit die Hände gebunden waren,
geraten, sich an den Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages zu wenden.
({2})
Ich habe ihm also Arbeit beschert.
Auch ich würde mir wünschen, Herr Ott, dass die Arbeit des Ausschusses sowohl nach außen als auch nach
innen, also innerhalb des Parlaments, mehr Gehör findet.
Ihre Vorschläge werden dazu allerdings nicht beitragen.
({3})
Ich denke, gerade mit der Arbeit, die wir im Petitionsausschuss leisten, können wir die Politikverdrossenheit
in der Bevölkerung ein Stück weit mildern.
({4})
So können wir in diesem Ausschuss doch direkt und unmittelbar den Bürgern helfen, die ungerecht behandelt
wurden oder uns auf eine Gesetzeslücke aufmerksam
machen.
Von den knapp 17 000 im letzten Jahr eingereichten
Petitionen klang so manche Petition, um es vorsichtig zu
formulieren, etwas seltsam. Zahlreiche waren - lassen
Sie mich das durchaus kritisch formulieren - parteipolitisch ambitioniert und betrafen reine Fachpolitik, die
durch die Fraktionen in den Fachausschüssen abgearbeitet gehört und nicht in den Petitionsausschuss, der ohnehin schon mit großer Arbeit belastet ist.
({5})
Ich sage das deshalb, weil eine Vielzahl der Petitionen es
mehr als wert ist, viel Arbeit in sie zu investieren. Diese
Zeit darf nicht geklaut werden.
So haben wir beispielsweise vor einigen Wochen im
Ausschuss eine Petition beraten, die gefordert hat, dass
unsere Soldaten, die im Auslandseinsatz für unser aller
Sicherheit sorgen, kostenlos mit ihren Familien telefonieren können und das Internet kostenfrei benutzen dürfen. Nach meinem Dafürhalten sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten das schuldig. Ich hoffe sehr, dass
unser in diesem Fall sehr hohes Votum umgesetzt wird;
denn das Geld, das wir hier mehr ausgeben, kommt
wirklich bei den Menschen an. So können wir unseren
Soldatinnen und Soldaten sowie deren Familien ein Signal geben, dass wir ihr Engagement im Auslandseinsatz, insbesondere in Afghanistan, würdigen und ihnen
den notwendigen Kontakt in die Heimat ermöglichen.
({6})
Dieser Fall steht stellvertretend für viele andere Fälle.
Er lässt uns eine positive Bilanz unserer gemeinsamen
Arbeit im Petitionsausschuss im Jahr 2010 ziehen und
zeigt, dass wir konkret den Menschen helfen können.
Lassen Sie mich als ehemaligen Hauptverwaltungsbeamten aber ein wenig Wasser in den Wein gießen; denn
für mich wird die Bilanz ein wenig dadurch getrübt, dass
einige Kolleginnen und Kollegen der Opposition unsere
Verwaltungen auf kommunaler, landes- oder auch bundespolitischer Ebene bei Petitionen von Bürgern nahezu
unter Generalverdacht stellen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ein wenig mehr gesunde Kritik gegenüber einigen Petenten und ein wenig
mehr Vertrauen in unsere Verwaltungsmitarbeiter wären
für mich wünschenswert und angebracht.
({7})
Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Masse
der Verwaltungsmitarbeiter oder Vollzugsbeamten in
diesem Land eine hervorragende Arbeit leistet und die
vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmenbedingungen
umsetzt.
Es gibt kaum Nationen, die über eine derart fachlich
gute wie effektive Mitarbeiterschaft verfügen - das trifft
auch auf die Mitarbeiter des Ausschussdienstes zu - wie
wir in Deutschland. Ich denke, das darf und sollte bei allem Wohlwollen gegenüber Petenten gesagt werden.
Deshalb mein Rat, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition: Bitte benutzen Sie die Petitionen
nicht als parteipolitische Spielbälle! Ich denke, dann
wird es uns auch weiterhin sehr viel Spaß machen, in
diesem Ausschuss gemeinsam für die Menschen etwas
zu bewegen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Steffen-Claudio Lemme für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte die Debatte dazu nutzen, um auf
der Grundlage meiner Erfahrungen der letzten zwei
Jahre als Mitglied im Petitionsausschuss zu sagen, wie
ich diese Arbeit empfinde.
Ich kann sagen, dass der Petitionsausschuss eine Art
Seismograf meiner politischen Arbeit geworden ist, dass
die Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger
direkt in mein politisches Handeln einfließen. Dies trifft
insbesondere natürlich auf die fachpolitische Arbeit im
Gesundheitsausschuss zu.
In den Fachausschüssen bestimmt in der Regel das
große Ganze unser politisches Handeln. Wir richten unsere Positionen und Entscheidungen sehr sachorientiert
aus. Symbolisch ist hierfür die Verwendung des Prädikats „alternativlos“ anzuführen, das im vergangenen Jahr
zum Unwort des Jahres gekürt wurde. Seien wir doch
einmal ehrlich: Jeder von uns hat dieses Wort sicherlich
mehr als einmal in den Mund genommen.
Hier eben droht Gefahr. Immer wieder ist von Politikverdrossenheit und von der Realitätsferne der Politik die
Rede, wird der Vorwurf der Distanz zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Abgeordneten erhoben. Uns, liebe
Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses, die
wir das tägliche Klein-Klein der Menschen beim Lesen
jeder einzelnen Petitionsakte vor uns haben, kommt in
dieser Frage eine besondere Verantwortung zu. Wir haben die unmittelbare Aufgabe, die Anliegen der Menschen in die fachpolitischen Debatten einzubringen und
letztlich auch in konkretes politisches Handeln münden
zu lassen.
({0})
Jüngst hat mir gegenüber die Vertreterin eines Betroffenenverbandes ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich die Fraktionen bei vielen Themen im Großen und Ganzen einig seien, es aber zu
keinem gemeinsamen politischen Handeln komme.
Auch hier gehen wir im Petitionsausschuss mit gutem
Beispiel voran. Es freut mich jedes Mal, wenn ein Votum
zu einer Petition über die Fraktionsgrenzen hinweg Zustimmung findet.
({1})
- Das liegt auch im Besonderen an den Koalitionsfraktionen, Herr Baumann.
({2})
Lassen Sie uns doch an der guten Praxis festhalten.
Sorgen wir gemeinsam für ein höheres Maß an Öffentlichkeit unserer gemeinsamen Entscheidungen. Das kann
sich nur positiv auf die Arbeit des Parlaments auswirken.
Gerade weil Petitionen nach wie vor das einzige Instrument direkter Mitgestaltung auf Bundesebene sind, schlagen wir Sozialdemokraten vor, den Weg der Modernisierung des Petitionsrechts konsequent fortzusetzen.
({3})
Ziel muss es sein, die Transparenz der Petitionsverfahren weiter zu erhöhen und erweiterte Mitwirkungsrechte, insbesondere mit Blick auf die Beteiligung im
Internet, zu schaffen. Ich bekräftige vor diesem Hintergrund die Forderung meiner Fraktion nach deutlich mehr
öffentlichen Beratungen des Petitionsausschusses sowie
einer Verlängerung der Zeichnungsfrist von Petitionen
auf acht Wochen.
({4})
Darüber hinaus sollten wir die Möglichkeit schaffen,
dass Petitionen künftig einfach per E-Mail eingereicht
werden können, und das Recht zur Mitzeichnung von
Petitionen sollte auch ohne Registrierung im Onlineportal des Deutschen Bundestages möglich sein.
Ein weiterer Punkt ist uns wichtig. Die Diskussionen
von Bürgerinnen und Bürgern im Petitionsforum sollten
in den Empfehlungen des Ausschussdienstes zwingend
Berücksichtigung finden. Letztlich liegt es an den KoaliSteffen-Claudio Lemme
tionsfraktionen, gemeinsam mit uns das Petitionsrecht
bürgernäher zu gestalten.
({5})
Mir bleibt nur noch, mich für die gute Zusammenarbeit zu bedanken, insbesondere bei Ihnen, Frau Steinke,
weil Sie als Vorsitzende Ihre Arbeit unparteiisch erledigen. Herzlichen Dank auch an den Ausschussdienst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf
Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts
- Drucksache 17/6343 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf unserer
Fraktion zur Einführung des Rechts auf Eheschließung
für Personen gleichen Geschlechts. Warum tun wir das?
Allen Menschen steht die gleiche Würde und der gleiche Respekt vor ihren Rechten zu: Homosexuellen wie
Heterosexuellen. Wenn diese Grundannahme richtig ist,
die auch in Art. 3 unserer Verfassung verankert ist, der
die Gleichheit vor dem Gesetz vorsieht, dann gibt es keinen Grund, für Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierung verschiedene Rechtsinstitute bereitzuhalten.
Wir haben mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft
damals unter Rot-Grün Neuland betreten. Wir waren das
erste große Land in Europa, das etwas für die rechtliche
Anerkennung und Gleichstellung homosexueller Partnerschaften getan hat. Wir sind bis heute noch nicht bei
der vollständigen Gleichstellung angekommen, aber es
war damals ein großer Schritt. Wir waren Vorreiter in
dieser Entwicklung. Heute haben wir die rote Laterne.
Inzwischen ist die Zeit vorangegangen, und es gibt
keinen Grund und keine Akzeptanz mehr in der Gesellschaft für die Benachteiligung und Diskriminierung homosexueller Partnerschaften.
({0})
Deshalb schlagen wir vor, bei dem Sonderweg der Lebenspartnerschaft, der ein historischer Kompromiss mit
einer Sozialdemokratie war, die damals noch nicht so
weit gehen und denken wollte, die Konsequenzen zu ziehen und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Denn es gibt keinen Grund für eine weitere Unterscheidung. Das würde uns von all den quälenden
Diskussionen entbinden, die auch Sie als FDP in der Koalition leidvoll mit Ihrem Koalitionspartner führen müssen: Wie machen wir es beim Adoptionsrecht und beim
Steuerrecht? Nächste Woche reden wir über das Vertriebenengesetz. Es wäre ein Beitrag zur Entbürokratisierung und ein massiver Beitrag zur Gleichstellung der
Schwulen und Lesben in unserer Gesellschaft.
({1})
Die Frage, ob die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
geöffnet werden muss, hat bereits 1993 aufgrund der
Aktion Standesamt des Lesben- und Schwulenverbands
das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Das Bundesverfassungsgericht hat damals gesagt, der Gesetzgeber
sei nicht gezwungen, die Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare zu öffnen, weil die Beschwerdeführer noch keine
hinreichenden Anhaltspunkte für einen grundlegenden
Wandel des Eheverständnisses in dem Sinne vorgetragen
hätten, dass der Geschlechtsverschiedenheit keine prägende Bedeutung mehr zukäme. Sie haben diesen Wandel aber ausdrücklich für möglich gehalten. Ich meine,
dass einige Argumente darauf hindeuten, dass dieser
Wandel inzwischen stattgefunden hat.
({2})
Die Menschen draußen im Lande sagen: „Was wollt
ihr denn? Die Homosexuellen können doch heiraten. Ich
kenne welche, die auf dem Standesamt geheiratet haben.“ Sie unterscheiden nicht zwischen Verpartnerung
und Verheiratung, zwischen Lebenspartnerschaft und
Ehe, obwohl die Rechte noch unterschiedlich sind, was
unfair ist und vom Bundesverfassungsgericht hinreichend gerügt wurde.
Die Menschen in unserem Land sind inzwischen
überwiegend für die Öffnung der Ehe. Eine Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung ist zu dem Ergebnis gekommen,
dass 60,3 Prozent der Bevölkerung der Aussage zustimmen: Es ist gut, Ehen zwischen zwei Frauen bzw. zwei
Männern zu erlauben. Das heißt, der Einstellungswandel
in unserer Gesellschaft ist durch die Lebenspartnerschaft
erheblich vorangeschritten.
Volker Beck ({3})
Das Bundesverfassungsgericht selbst und der Gesetzgeber, dieses Hohe Haus, messen der Geschlechtsverschiedenheit bei der Ehe keine entscheidende Bedeutung
mehr zu. Im Transsexuellenurteil hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass sich jemand nicht scheiden lassen darf, bevor er eine Geschlechtsumwandlung vornimmt, und dem Gesetzgeber die Möglichkeit gegeben,
die Geschlechtsverschiedenheit zu verteidigen. Davon
haben wir keinen Gebrauch gemacht. Wir lassen die
Leute verheiratet und transponieren sie nicht in ein
gleichwertiges Ersatzinstitut. Das zeigt: Wir glauben selber nicht mehr an die Geschlechtsverschiedenheit der
Ehe. Ihr kommt inzwischen weder verfassungsrechtlich
noch einfachrechtlich eine prägende Bedeutung zu.
Zahlreiche Länder haben sich auf den Weg gemacht und
haben - das ist die internationale Entwicklung im Familienrecht - die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Erst diese Woche hat die britische Regierung erklärt, bis 2015 diesen Weg zu gehen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Andere Länder wie die Niederlande, Belgien, Spanien, Kanada, Südafrika, Norwegen, Schweden, sechs
Bundesstaaten der USA, Mexiko-Stadt
Herr Kollege!
- ich komme zum Schluss; so viele Länder sind es
dann doch nicht -,
({0})
Portugal, Island und Argentinien haben diesen Weg beschritten. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass sich
Deutschland ebenfalls auf den Weg macht und sagt:
Gleiche Rechte für Lesben und Schwule! - Das sind wir
den Bürgerinnen und Bürgern aus Respekt schuldig. Öffnen wir die Ehe! Nach zehn Jahren Lebenspartnerschaft
ist die Gesellschaft reif für die Ehe von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern.
({1})
Das Wort hat nun Ute Granold für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
könnte jetzt die Liste der Länder in Europa, die überhaupt keine Regelungen zu Lebenspartnerschaften oder
die gleiche Rechtslage wie wir in Deutschland, also eingetragene Lebenspartnerschaften, haben, beliebig ergänzen. Herr Kollege Beck, eines sollten Sie zur Kenntnis
nehmen. Das materielle Recht ist noch immer Angelegenheit der Nationalstaaten.
({0})
Zur Sache. Wir haben in den letzten zehn Jahren immer wieder diese Thematik besprochen, zuletzt vor rund
drei Monaten. Sie haben erwähnt, dass die eingetragene
Lebenspartnerschaft 2001 eingeführt wurde. In der Folgezeit gab es immer wieder Anpassungen, zum Beispiel
bei den unterhaltsrechtlichen Vorschriften. Wo Pflichten
begründet werden, müssen auch Rechte dahinterstehen.
Wir haben alle Änderungen sukzessive vorgenommen.
Der letzte Antrag der SPD auf eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Dienstrechts hatte sich überholt, weil es auf Bundesebene bereits angepasst wurde.
Auch die Rechtslage bei der Schenkungsteuer und der
Erbschaftsteuer wurde entsprechend angepasst. Sie haben gesagt, dass die ewige Diskussion über eine Anpassung des Adoptionsrechts beendet sei, wenn gleichgeschlechtliche Lebenspartner die Ehe eingehen könnten.
In dieser Wahlperiode wird es weder die Ehe noch ein
Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partner geben.
({1})
- Seien Sie tolerant, und lassen Sie mich ausreden! - Zumindest in dieser Wahlperiode wird es das alles nicht geben.
Da Sie das Bundesverfassungsgericht bemüht haben,
Herr Kollege Beck, möchte ich aus der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema aus dem
Jahr 2002 zitieren:
Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung
bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem
Entschluss unter Mitwirkung des Staates …
({2})
Das hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick
auf Art. 6 des Grundgesetzes klar und deutlich beschrieben. Auch die Entscheidung vom Januar 2011 zum Transsexuellenrecht besagt nichts anderes. Das Bundesverfassungsgericht hat noch bis vor wenigen Monaten mit
keinem Wort beanstandet, dass die Ehe Heterosexuellen
vorbehalten ist. Gleichgeschlechtliche Lebenspartner erleiden dadurch keinerlei Nachteile und werden auch
nicht diskriminiert. Für sie gibt es die eingetragene Lebenspartnerschaft. Sie haben weiter die Ungleichbehandlung beim Einkommensteuerrecht angesprochen.
Sie reklamieren, dass das Ehegattensplitting auf die Lebenspartnerschaften nicht angewendet wird. Gleichzeitig
kritisieren Sie aber in jeder Debatte das Ehegattensplitting. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie möchten.
({3})
Des Weiteren geht es um das Adoptionsrecht. Für
mich ist die Volladoption ein wichtiges Anliegen. Die
Stiefkindadoption wurde inzwischen gesetzlich geregelt.
Das haben wir als Union mittlerweile akzeptiert. Aber
die Fremdkindadoption ist ein Thema, über das wir nicht
debattieren werden.
({4})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Die Kollegin lässt keine Zwischenfrage zu.
Es geht hier nämlich nicht darum, dass Rechte für Erwachsene begründet werden, um irgendwelche politischen Ziele durchzusetzen, sondern es geht um das Wohl
der Kinder.
({0})
Die Kinder sind zu schützen; denn die Kinder haben
keine Lobby. Kinder, die keine Mutter und keinen Vater
mehr haben und die zur Adoption freigegeben werden,
haben schon eine Vorbelastung. Wenn sie dann noch in
eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft gegeben werden, gegen die es Vorurteile gibt, dann kann es zu weiteren Belastungen für die Kinder kommen. Im Zweifel
muss sich der Gesetzgeber schützend vor die Kinder
stellen.
({1})
Es gab eine Anhörung im Rechtsausschuss zu diesem
Thema. Wenn man im Protokoll der Sitzung die Äußerungen der Sachverständigen nachliest, dann stellt man
fest
({2})
- ich war bei der Anhörung dabei; viele von Ihnen hier
waren nicht da -, dass gerade bei der Fremdkindadoption das Kindeswohl absolut im Vordergrund stehen
muss.
({3})
Deshalb wird es mit uns eine solche Adoption nicht geben, auch nicht über den Umweg einer Änderung des
§ 1353 BGB.
Die eingetragene Lebenspartnerschaft hat nahezu alle
Rechte, die auch Ehepaare haben. Es gibt also für Ihr Begehren keinen sachlichen Grund. Der Verfassungsgeber
hat seinerzeit in der Verfassung festgeschrieben, dass die
Ehe privilegiert ist. Es geht um die Verbindung zwischen
Mann und Frau und die Gründung einer Familie. Die
Privilegierung soll den Müttern und Vätern vorbehalten
bleiben; sachliche Gründe, das zu ändern, gibt es nicht
und sind auch nicht vorgetragen worden. Wir haben uns
in den letzten zehn Jahren mit keinem Thema so oft und
so intensiv wie mit diesem Thema befasst, zuletzt vor
drei Monaten. Es gibt keinen Grund, dass wir die
Rechtslage zur Adoption nun über den Umweg der Ehe
ändern. Das birgt verfassungsrechtliche Probleme, das
bedarf nämlich einer Verfassungsänderung. Sie kennen
die Mehrheitsverhältnisse.
({4})
Mit uns wird es diese Änderung nicht geben, auch
wenn Sie in drei Monaten erneut einen entsprechenden
Antrag stellen. Es wird dabei bleiben, dass die Ehe, also
die Verbindung von Mann und Frau, für die Union privilegiert ist und bleibt. Es wird auch keine Fremdkindadoption geben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2001 das Rechtsinstitut der
eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich eingeführt. Damit haben gleichgeschlechtliche Paare erhebliche Verbesserungen ihrer rechtlichen Situation erhalten.
Die Entscheidung eines Menschen für eine Ehe oder eine
Lebenspartnerschaft ist kaum trennbar von seiner sexuellen Identität. Frauen und Männer müssen Wahlmöglichkeiten bezüglich ihrer Lebensbegleitpersonen haben.
Eine daraus resultierende Ungleichbehandlung ist nicht
gerechtfertigt.
({0})
Gleichstellung muss jedoch in vielen Bereichen auch
nach der Einführung der Lebenspartnerschaften noch gerichtlich erkämpft werden. Es bestehen nach wie vor
zwischen der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der
Ehe Unterschiede, die die Lebenspartner erheblich
schlechter stellen. Dies betrifft in erster Linie das Steuerrecht und das Adoptionsrecht. Wir haben vorhin schon
gehört: Es ist bis zum heutigen Tag nicht möglich, dass
gleichgeschlechtliche Paare gemeinsam ein Kind adoptieren. Im Rahmen der öffentlichen Anhörung des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am
6. Juni 2011 vertrat die Mehrzahl der Sachverständigen
- Frau Granold, da haben Sie wahrscheinlich nicht zugehört, oder Sie haben das Protokoll nicht gelesen ({1})
die Auffassung, dass die derzeitige Ungleichbehandlung
von Lebenspartnern und Eheleuten gerade aus Gründen
des Kindeswohls nicht gerechtfertigt ist.
({2})
Dennoch ist eine Änderung des Gesetzes bislang nicht
erfolgt. Auch steuerlich ist eine Gleichstellung der Lebenspartnerschaft bislang nicht vorhanden.
Vielleicht können sich einige von Ihnen noch erinnern: Bereits bei der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Jahr 2001 bedurfte es eines politischen Schachzuges. Es wurden damals nämlich zwei
Teile beschlossen. Der eine Teil war das nicht zustimmungsbedürftige Lebenspartnerschaftsgesetz, und der
andere Teil war ein von der Zustimmung des Bundesrates abhängiges Ergänzungsgesetz. Das erste regelt das
Zusammenleben der Partner in zivilrechtlicher Hinsicht.
Das zweite sah damals schon Gleichstellungen im
Steuer- und Beamtenrecht vor. Dieses Ergänzungsgesetz
ist seinerzeit im Bundesrat letztlich am Widerspruch
Bayerns gescheitert.
Seitdem sind viele gerichtliche Entscheidungen in
diesem Zusammenhang ergangen. Herr Beck hat vorhin
schon einige genannt. Ich will das gern ergänzen. 2009
hat das Bundesverfassungsgericht die Benachteiligung
der Lebenspartnerschaft bei Betriebsrenten im öffentlichen Dienst für verfassungswidrig erklärt. 2010 hat das
Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung auch
auf das Erbschaftsteuerrecht ausgeweitet. Schließlich
haben wir alle im Jahressteuergesetz 2010 die Gleichstellung von Ehegatten und Lebenspartnern im Erbschaftsteuerrecht, im Schenkungsteuerrecht und im
Grunderwerbsteuerrecht eingeführt. Sie sehen: Die
Rechtsprechung hat uns gezeigt, dass es so, wie es im
Augenblick ist, verfassungsrechtlich schwierig ist.
Die einkommensteuerrechtliche Gleichstellung von
Ehe und Lebenspartnerschaft steht immer noch aus. Ehegatten können ihr Einkommen zusammen veranlagen.
Sie können ihre Steuerklasse wählen. Das ermöglicht ihnen niedrige Steuersätze. Aber Lebenspartner haben dieses Recht nicht. Sie können nur nach Steuerklasse I besteuert werden. Damit werden sie genauso besteuert wie
Ledige oder Menschen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Begründet wird diese unterschiedliche Behandlung von den Finanzgerichten bis zum heutigen
Tage stets mit dem Verweis auf Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz - Sie haben es vorhin erwähnt -; sie argumentieren,
diese Vorschrift vom besonderen Schutz der Ehe und Familie erlaube es dem Gesetzgeber, die Ehe gegenüber
anderen Formen des Zusammenlebens steuerlich zu privilegieren. Aber das Grundgesetz gibt das nicht her.
Auch ist das Vorhandensein gemeinsamer Kinder nicht
erforderlich, um als Ehepaar den Splittingvorteil in Anspruch nehmen zu können.
Meine Damen und Herren, diese Ungerechtigkeit ist
in der heutigen Zeit nicht mehr tragbar.
({3})
Es steht zu erwarten, Frau Granold, dass diese überholte
Auffassung beim Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. Dort sind einige Verfassungsklagen
anhängig. Wir werden sehen, was bei der Einkommensteuer geschieht.
Ehe und Lebenspartnerschaft sind beide auf Dauer
angelegt. Sie begründen eine gegenseitige Einstandspflicht. Die gesetzlichen Unterhaltspflichten von Eheleuten und Lebenspartnern sind vergleichbar. Die Öffnung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts wird
weitere langwierige Prozesse verhindern und zu einer
endgültigen Gleichstellung führen. Die gegenwärtige
Praxis diskriminiert immer noch Homosexuelle und ist
aus rechts- und gesellschaftspolitischer Sicht nicht mehr
zeitgemäß.
({4})
Herr Kollege Beck, Sie haben schon die Länder genannt, in denen die Eheschließung von Homosexuellen
bereits Normalität ist.
({5})
- Genau! Ich hätte Ihnen vielleicht die Zeitnot ersparen
können. Ich belasse es dabei, will an dieser Stelle aber
noch einmal auf Großbritannien hinweisen. Dort gibt es
eine konservative Regierung. Selbst diese Regierung hat
angekündigt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
noch in der laufenden Legislaturperiode zu öffnen. Damit entscheidet sich übrigens das zwölfte Land Europas
für die Öffnung der Ehe.
Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dass Deutschland damals beim Lebenspartnerschaftsgesetz Vorreiter
war. Ich denke, wir laufen jetzt Gefahr, dass wir bei diesem wichtigen Schritt für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung hinterherhinken.
({6})
Unsere Fraktion begrüßt daher den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ziel der Öffnung der Ehe für Homosexuelle.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten einen Gesetzentwurf der Grünen zur
Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen
gleichen Geschlechts. In der Gesetzesbegründung ist zu
lesen, dass ein gewandeltes Verständnis von Ehe und Familie in der Gesellschaft mit tragend für diesen Gesetzentwurf ist.
({0})
Das sehen auch wir so. Wie soeben zu hören war, zeichnet auch die Rechtsprechung diesen Weg nach.
Ich will einmal wiederholen, was in dieser Legislaturperiode von dieser Regierung in der Sache bereits getan
und erreicht worden ist. Zum einen haben wir beim
Thema Grunderwerbsteuer erreicht, dass die Übertragung von Grundstücken unter Lebenspartnern steuerfrei
geschieht, so wie das auch unter Eheleuten der Fall ist.
Das ist ein Punkt, bei dem Sie zugestehen werden, dass
er in dieser Legislaturperiode umgesetzt worden ist.
({1})
- Ja, das wüssten Sie gern, wie wir das gemacht haben.
Ein zweiter Punkt ist das Thema Erbschaftsteuer. Da
gelten seit dieser Legislaturperiode für Lebenspartner
wie für Eheleute gleiche Freibeträge. Auch das ist ein
Punkt, von dem wir sagen können: Das haben wir in dieser bürgerlichen Regierung umgesetzt.
({2})
Ein dritter Punkt - Herr Kollege Lischka, ich komme
gleich dazu, wie es weitergeht - ist das Thema Beamtenrecht. Da haben wir zwei Punkte umgesetzt. Der eine betrifft die Beamtenbesoldung. Für verheiratete und verpartnerte Beamte gilt die gleiche Besoldung. Wir haben
bei der Hinterbliebenenversorgung und den Krankenkosten für Lebenspartner von Beamten eine Verbesserung
erreichen können. Das sind drei Punkte, bei denen wir in
dieser bürgerlichen Regierung Verbesserungen durchgesetzt haben.
Jetzt fehlen noch ein paar Dinge; da haben Sie völlig
Recht. Man kommt in solchen Dingen eben nur Schritt
für Schritt voran. Das ist einmal das Thema Einkommensteuer. Hier wollen wir darauf hinarbeiten, dass
Splittingregeln, die für Ehepartner gelten, auch auf Lebenspartner Anwendung finden. Da ist zum anderen das
Thema, das gerade schon unentspannt diskutiert worden
ist, nämlich das Thema Adoptionsrecht. Wie bereits gesagt wurde, ist die Adoption von Stiefkindern möglich.
Aber es gibt kein Adoptionsrecht für Paare. Nun, das sehen wir in der FDP etwas entspannter als vielleicht unser
Koalitionspartner. Aber ich sagte schon: Man muss in
solchen Dingen Schritt für Schritt vorangehen. Steter
Tropfen höhlt den Stein.
({3})
- Wir wollen das. Aber, wie gesagt, man muss sich da
auch ein bisschen Zeit geben.
Wir haben in dieser Angelegenheit also bereits Fortschritte erzielt. Wir haben uns für die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare erkennbar eingesetzt, haben Erfolge
erzielen können. Das sollten Sie auch einräumen. Wir
werden beharrlich weiter daran arbeiten. Ich wiederhole:
Gutta cavat lapidem, sagt der Allgäuer: Steter Tropfen
höhlt den Stein. Wir arbeiten weiter an der völligen
Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Irgendwann wird man sagen - vertrauen Sie darauf -: Die
Sache riecht wie eine Ehe. Sie schmeckt wie eine Ehe.
Sie hört sich an wie eine Ehe. Sie schaut aus wie eine
Ehe. Warum soll man nicht auch Ehe dazu sagen?
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Debatte geht es nicht nur um die Öffnung der Ehe
für Lesben und Schwule. Es geht darum, ob alle Menschen die gleichen Rechte haben - unabhängig von ihrer
sexuellen Orientierung.
({0})
Kardinal Ratzinger sagte 2003, dass die römisch-katholische Kirche standfest sein müsse und nicht der
Mode individueller Bedürfnisse nachgeben solle. Dies
führe zu einer Diktatur des Relativismus. - Kurz gesagt:
Die Kirche verharrt in ihren Dogmen.
({1})
Der Kardinal bezeichnete die Homosexualität als
schwere Verirrung. Politiker - er nannte nur die männliche Form -, die Gesetzen zu homosexuellen Lebensgemeinschaften zustimmten, würden an einer Legalisierung des Bösen mitwirken. - Diese Haltung ist völlig
inakzeptabel. Ich weiß nicht, warum die CDU das heute
noch so vertritt.
({2})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabe
des Staates ist es, die Grundrechte der Bürgerinnen und
Bürger zu garantieren. Auch in Deutschland war es ein
langer Weg bis zur Beseitigung der Strafbarkeit der Homosexualität und ihrer Entdiskriminierung. Von der völligen Gleichstellung sind wir aber noch immer weit entfernt, sowohl was die Gesetzeslage als auch was das
tägliche Leben betrifft.
({3})
Der § 175 richtete sich gegen schwule Männer. In der
Bundesrepublik galt dieser Paragraf in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung bis 1969. Infolge14866
dessen wurden 100 000 Männer strafrechtlich verfolgt;
50 000 wurden verurteilt. Die katholische Kirche übte in
den 50er-Jahren enormen Einfluss auf die Strafrechtsdiskussion um den § 175 aus. So verfasste der katholische
Volkswartbund in dieser Zeit im Auftrag der Bischofskonferenz Schriften gegen die Entkriminalisierung der
männlichen Homosexualität. Ich zitiere aus einer dieser
Schriften:
Was soll man mit einem Baum tun, dem die Fruchtbarkeit versagt ist?
Diese Metapher stammt aus der Bibel, die die darauf folgende Antwort gibt: den Feuertod.
({4})
Wir haben erst 1994 in einem gemeinsamen Deutschland
den sogenannten Schandparagrafen 175 überwunden.
Trotz alledem tritt die katholische Kirche auch heute
noch gegen die Rechte von Schwulen und Lesben auf.
({5})
Erzbischof Tomasi, der Ständige Vertreter des Heiligen
Stuhls beim Büro der Vereinten Nationen in Genf, betonte im März dieses Jahres in einer Aussprache zur sexuellen Orientierung, dass die menschliche Sexualität
ein Geschenk sei, bestimmt für eine lebenslange Ehe
zwischen Mann und Frau.
({6})
Dies widerspricht meiner Auffassung von der Würde des
Menschen, zu der die sexuelle Identität untrennbar gehört.
Sieben Jahre nach der Abschaffung des § 175 wurde
die eingetragene Lebenspartnerschaft für Lesben und
Schwule ermöglicht. Der deutsche Gesetzgeber öffnete
damit eine Tür für die Gleichbehandlung lesbischer und
schwuler Lebensweisen. Damals war Deutschland, wie
schon mehrfach unterstrichen, ein Vorreiter in Europa.
Doch seitdem tut sich in der rechtlichen Gleichstellung
zu wenig. Herr Thomae, die entscheidenden Impulse,
überhaupt noch etwas zu ändern, kamen danach immer
vom Bundesverfassungsgericht, und erst dann haben Sie
gehandelt.
({7})
Inzwischen haben sieben Staaten in Europa die Ehe
für Lesben und Schwule geöffnet, unter anderem die katholisch geprägten Länder Spanien und Portugal. Wir als
Linke haben bereits im vergangenen Jahr einen Antrag
zur Öffnung der Ehe in den Bundestag eingebracht. Er
wurde damals mit den Mehrheiten von CDU/CSU und
FDP abgelehnt.
Die Grünen unternehmen einen neuen Versuch, der
unsere Unterstützung findet, weil er der richtige Schritt
zur Legalisierung bzw. zur Beendigung der Diskriminierung und zur tatsächlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen ist. Es ist an uns, die Diskriminierung zu beenden.
({8})
Die Ehe für Lesben und Schwule ist eben keine Legalisierung des Bösen, wie der heutige Papst 2003 betonte,
sondern ein notwendiger Schritt zur Akzeptanz unterschiedlichster Lebensformen, unabhängig von sexueller
Orientierung. Alle Menschen müssen gleiche Rechte haben, so auch das Recht auf Eheschließung. Dogmatismus
steht nicht über den Grundrechten.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich möchte vorausschicken: Es geht
nicht um die Angleichung der Lebensform gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften an die Ehe,
({0})
sondern im vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die
Frage der Identifizierung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe. Das ist etwas anderes.
Das ist ein viel weiter gefasstes Thema.
({1})
Hier wird ständig über Gleichstellung gesprochen. Das
ist eine andere Frage. Man kann sich über sie streiten,
aber sie steht heute nicht zur Debatte.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Frau
Steffen, Sie haben eben aus der Anhörung des Rechtsausschusses zitiert. Für diesen Rechtsausschuss wurden
von der CDU/CSU drei Sachverständige benannt: ein
Sachverständiger für öffentliches Recht, ein Verfassungsrechtler und ein Psychologe bzw. Kinderarzt. Alle
drei haben gesagt, dass es nicht dem Wohl des Kindes
dient, wenn wir die Volladoption einführen. Ich bitte Sie,
das zu respektieren. Es gibt auch andere Meinungen, und
Sie dürfen es uns nicht übelnehmen, wenn wir uns nach
diesen Meinungen richten.
({2})
Ich komme zum eigentlichen Thema. - Herr Beck,
lassen Sie mich einige Sätze sagen; Sie nehmen mir
sonst nur die Zeit weg. - Ich bin der Auffassung, dass es
um die Identifizierung geht. Es kann keinerlei Zweifel
geben: Wenn wir die Regelungen des Römischen Rechts
zu Ehe und Familie mit einbeziehen, worauf ja unser
Recht basiert - das weiß jeder Jurist -, dann sehen wir:
Wir haben seit über 2 000 Jahren in unserer Kultur die
Vorstellung, dass eine Ehe aus Mann und Frau besteht.
({3})
Das ist Fakt. Wer sich dagegen wehrt, dem kann ich
nicht helfen, der kennt die Geschichte nicht.
({4})
Wenn das so ist, stellt sich natürlich die Frage - die auch
Herr Beck gestellt hat; Sie behaupten das auch in Ihrem
Gesetzentwurf -,
({5})
ob sich ein Wandel vollzogen hat, sodass man sagen
müsste: Ehe ist sowohl die Verbindung von Mann und
Frau als auch die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft.
({6})
Daran möchte ich doch Zweifel anmelden. Erstens, sagen Sie, sei dies grundgelegt durch die Einführung der
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft durch das
Gesetz aus dem Jahr 2001 und die Folgegesetze. Ich
gebe zu, dass durch die Folgegesetze eine weitgehende
Angleichung an die Ehe erfolgt ist.
({7})
Das kann auch niemand leugnen. Aber trotz aller Gesetzesakrobatik wird in keinem der Gesetze die Ehe sowohl
für beide Geschlechter,
({8})
Mann und Frau, als auch für die gleichgeschlechtliche
Partnerschaft vorgesehen. Aus allen Gesetzen geht klar
hervor, dass die Ehe allein Mann und Frau vorbehalten
ist.
({9})
Das können Sie nachlesen. Genau das Gleiche finden Sie
in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Wir haben zwei entscheidende Urteile des Bundesverfassungsgerichts, einmal das Urteil vom 17. Juli 2002.
Frau Granold hat es schon zitiert. Ich darf einen weiteren
Satz zitieren:
Die Ehe ist im Verhältnis zur gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft ein Aliud.
Es ist etwas ganz anderes. Die Juristen wissen, was man
unter einem Aliud versteht.
({10})
Das zweite maßgebliche Urteil zu diesem Thema ist
das Urteil vom 7. Juli 2009. Hier wird die Gleichstellung
der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft mit der
Ehe angemahnt, aber nicht aufgrund des Art. 6 des
Grundgesetzes, sondern aufgrund des Art. 3. Das ist etwas anderes. Für beide Institute besteht jetzt schon nahezu der gleiche Rechtsrahmen, aber beide Institute sind
sowohl für die Rechtsprechung als auch für die Gesetze
zwei voneinander unterschiedene Institute. Das muss
man einfach so sehen. Das muss man anerkennen. Wer
das nicht tut, geht an der Wirklichkeit vorbei.
({11})
Nun stellt sich die entscheidende Frage, die Herr
Beck gestellt hat: Ist denn im Bewusstsein der Menschen
ein Wandel vollzogen worden?
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muss
Sie enttäuschen: Genau das Gegenteil ist richtig.
({13})
Kein Ehepaar wird sich mit einer gleichgeschlechtlichen
Lebensgemeinschaft gleichsetzen lassen.
({14})
Sie werden ihre Lebensform immer deutlich von der anderen Lebensform unterschieden wissen wollen, ohne
die andere Lebensform zu diskriminieren.
({15})
Es ist einfach ein Unterschied. Wer das nicht sieht, kann
einem nur noch leidtun.
({16})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dörner?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Es wird mir
hier zu laut geschrien.
({0})
Ein weiterer Punkt, den ich Ihnen noch nennen
wollte: Die Shell-Studie sagt ganz eindeutig, dass drei
Viertel der Jugendlichen sich eine Zukunft wünschen
({1})
in einer Ehe von Mann und Frau und in einer Familie mit
Kindern. Das ist eine ganz klare Aussage der Shell-Studie. Drei Viertel der Jugendlichen sagen dies. Wenn dies
aber so ist, meine sehr verehrten Damen und Herren,
kann man nicht behaupten, dass im Bewusstsein der Bevölkerung eine Identität zwischen Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft entstanden sei.
({2})
Der entscheidende Unterschied zwischen Ehe und
gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft besteht nun
einmal darin, dass die Ehe für Kinder offen sein muss
und damit die Generationenfolge sichert und dass sie das
Humanvermögen - darunter ist die Daseinskompetenz,
die Sozialkompetenz zu verstehen, die eine Gesellschaft
zusammenhält - am ehesten weitergeben kann, nämlich
nur durch Vater und Mutter im Verhältnis zum Kind.
({3})
Dort werden die Regeln weitergegeben, die sich in unserer Kultur entwickelt haben. Deswegen kann die Ehe mit
einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft nie
gleichgesetzt werden, nie identifiziert werden.
({4})
Deswegen wird die Ehe vom Grundgesetz geschützt, aus
keinem anderen Grund. Deswegen kann die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft jedenfalls nicht im
Sinne des Art. 6 des Grundgesetzes ebenso geschützt
werden.
Danke schön.
({5})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Volker Beck.
Ich weiß nicht, Herr Kollege Geis, in welcher Welt
Sie leben.
({0})
In meiner realen Welt - das war lange, bevor wir das
Gesetz gemacht haben; das war im Jahr 1992, als wir die
Aktion Standesamt gemacht haben - haben bei uns in
Köln vor dem Rathaus die Leute zusammen mit den
Schwulen und Lesben gefeiert, die nicht ins Standesamt
gehen konnten, um zu heiraten. Die Ehepaare haben gesagt: Wir feiern heute unsere Hochzeit, wir trauen uns;
wir wünschen euch, dass ihr das auch bald dürft. - Das
ist reale Liberalität in der deutschen Gesellschaft, und
das ist nicht die Enge, die Sie gerade predigen.
({1})
Sie haben den Ansatz dieser parlamentarischen Initiative
nicht verstanden. Natürlich ist heute die Lebenspartnerschaft ein Aliud gegenüber der Ehe. Das hat auch das
Bundesverfassungsgericht 2001 in seiner Entscheidung
gesagt. Dort heißt es: Alle Prüffragen - etwa: Verstößt
das gegen Art. 6? - fallen weg, weil es einen anderen
Normadressatenkreis gibt. Das wollen wir mit dieser Initiative ändern.
({2})
Wir wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen und Schluss machen mit den Extrawürsten.
Herr Geis, Sie sind ja ein geschickter Rhetoriker. Sie
haben auch gegen jeden Schritt der rechtlichen Anerkennung der Lebenspartnerschaft gekämpft. Das haben Sie
heute verschwiegen! Seit den 90er-Jahren waren wir in
jeder Fernsehsendung zu diesem Thema. Sie haben stets
gesagt: Diese rechtliche Anerkennung soll den Homosexuellen nicht zustehen. In diesem Punkt sind Sie ein
Erzkatholik. Sie behaupten, Sie wollten nicht diskriminieren; Sie diskriminieren aber ständig.
Ich habe den Verdacht, dass Sie inhaltlich gar nicht so
weit weg sind von dem Schreiben der Kongregation für
die Glaubenslehre. Ich nenne nur die „Anmerkungen bezüglich der Gesetzesvorschläge zur Nichtdiskriminierung homosexueller Personen“. Dort heißt es, dass
„keine Gesetzgebung eingeführt werden dürfe, welche
ein Verhalten schützt, für das niemand ein irgendwie geartetes Recht in Anspruch nehmen kann“. - Das haben
Sie an jedem Punkt so gehalten. Sie haben bei jedem
Schritt verhindert, dass Schwule und Lesben zu ihrem
Recht kommen, genau so, wie diese Schreiben es Ihnen
aufgeben.
Das steckt letztendlich dahinter. Deshalb sind Sie
auch in diesem Fall dagegen. Wenn Sie ernsthaft sagen,
Sie wollten die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht, dann stellen Sie aber wenigstens - zusammen mit Herrn Kauch und mit dieser christlich-liberalen Koalition, die ja so wunderbar funktioniert
({3})
und sozusagen die Traumvorstellung einer Ehe darstellt beim Steuerrecht und beim Adoptionsrecht die Lebenspartnerschaft gleich. Gönnen Sie doch der FDP mal einen kleinen politischen Erfolg!
({4})
Volker Beck ({5})
Das wäre gut für die Schwulen und Lesben im Lande.
Das mit der Ehe machen wir nach der nächsten Bundestagswahl zusammen mit den Sozialdemokraten.
({6})
Dann wäre das Ganze glaubwürdig. Ansonsten zeigt es
nur, dass Sie es nicht wirklich ernst meinen.
({7})
Kollege Geis, bitte schön.
Lieber Herr Beck! Sehr verehrter Herr Präsident! Ich
habe lediglich versucht, darzulegen, weshalb Art. 6
Grundgesetz nach der heutigen Fassung und nach dem
heutigen Verständnis - auch des Verfassungsgerichts und
der gesamten Gesetzgebung - nicht die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft der Ehe gleichstellt.
Das kann man so nicht machen.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass man das allmählich durch die Gesetzgebung bewirken kann.
({0})
Dann würde eine Verfassungsänderung durch ein einfaches Gesetz erfolgen. Wenn Sie wollen, lieber Herr Beck
und meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Opposition, dass die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft in Art. 6 Grundgesetz hineingeschrieben
wird, dann müssen Sie eine Verfassungsänderung vornehmen. Die ist nach Art. 79 Abs. 2 Grundgesetz nur
möglich mit einer Zweidrittelmehrheit. Die werden Sie
nicht hinbekommen.
({1})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Wir können sicherlich
trefflich über die juristischen Fragestellungen streiten.
Ich glaube aber, dass in der Bevölkerung eine deutlich
entspanntere Situation vorherrscht, als es diese Debatte
suggeriert.
Ich bin verpartnert; aber alle meine Freunde sagen:
Ihr seid ja verheiratet, und das ist dein Mann; das ist
nicht dein Lebenspartnerschaftsring, sondern es ist der
Ehering. - Das ist die Herangehensweise, wie die Bürgerinnen und Bürger inzwischen mit diesem Thema umgehen. Deshalb müssen wir uns Gedanken machen über
angemessene Regelungen angesichts der Pflichten, die
eingetragene Lebenspartner füreinander eingehen - mit
denen sie im Übrigen auch den Sozialstaat und die Sozialkassen entlasten, indem sie füreinander einstehen.
({0})
Diese Koalition hat die eingetragene Lebenspartnerschaft in wesentlichen Punkten vorangebracht - Herr
Thomae hat das angesprochen -: bei Erbschaftsteuer,
Grunderwerbsteuer, BAföG, Beamtenrecht, Richterrecht
und Soldatenrecht. In diesen Bereichen hat die Koalition
eine Gleichstellung vorgenommen. Wir sind nicht bei allen Punkten von den Gerichten dazu gezwungen gewesen. Im Gegenteil: Wir hatten im Koalitionsvertrag die
entsprechende Vereinbarung zu Änderungen im Beamtenrecht bereits festgelegt, bevor das entsprechende Urteil gefällt wurde. Das Lebenspartnerschaftsrecht ist für
uns Teil der Bürgerrechtspolitik. Da gibt es Punkte, die
Sie nicht auf die Reihe bekommen haben. Zum Beispiel
hat das Kabinett im letzten Monat die Einrichtung der
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld beschlossen. Sie haben es zehn Jahre lang versprochen; wir haben es gemacht. Auch das ist ein Erfolg der christlich-liberalen
Koalition.
({1})
Meine Damen und Herren, es gibt Bewegung: Frau
Winkelmeier-Becker - sie ist hier - hat Anfang August
zusammen mit Frau Fischbach für die Unionsfraktion
eine Presseerklärung im Zusammenhang mit dieser Debatte veröffentlicht, in der sehr deutlich gemacht wurde,
dass die Union beim Adoptionsrecht zwar nicht bereit
ist, unseren Vorstellungen zu folgen, es aber angesichts
gleicher Einstandspflichten sehr wohl gute Gründe gibt,
beim Splitting bei der Einkommensteuer für eingetragene Lebenspartnerschaften voranzukommen. Deshalb
bin ich zuversichtlich, dass es noch in dieser Legislaturperiode gelingen wird, an dieser Stelle zu einem guten
Ergebnis zu kommen.
({2})
- Frau Fischbach ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Ich denke, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion macht Presseerklärungen nicht
ins Blaue hinein, sondern weil die Union an dieser Stelle
eine entsprechende Haltung hat.
Wir werden den Weg der Gleichstellung konsequent
weitergehen, weil wir uns hier auf sicherem, verfassungsgemäßem Terrain bewegen. Niemand bestreitet,
dass der Staat die Lebenspartnerschaft gleichstellen
kann; das zeigen alle Urteile. Deswegen sind wir hier auf
einem sicheren Weg; wir sollten ihn weitergehen.
Wenn die Lebenspartnerschaft am Ende anders heißt,
dann werde ich mich als Erster freuen. Denn dann muss
man nicht bei jeder Personenstandsangabe offenbaren,
welche sexuelle Orientierung man hat; man will das
nicht jedem offenbaren, weil es auch mit Nachteilen verbunden sein kann. Insofern ist es durchaus ein Ziel, das
zu ändern. Der wesentliche Weg, über den wir dahin
kommen, ist die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft;
wir müssen ihn bis zum Ende gehen.
({3})
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/6343 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Faire Teilhabechancen von Anfang an Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks,
Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern - Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an
- zu dem Antrag der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Katja Dörner, Fritz Kuhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung realisieren - Kostenkalkulation für Kinderbetreuung überprüfen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr
2009 ({2})
- Drucksachen 17/3663, 17/1973, 17/1778,
16/12268, 17/591 Nr. 1.7, 17/2621, 17/4249 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg ({3})
Florian Bernschneider
Heidrun Dittrich
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
drei Jahren für das Berichtsjahr 2010 ({4})
- Drucksache 17/5900 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben die
Überweisung des Zweiten Zwischenberichts zur Evaluation des KiföG an den Deutschen Bundestag zum Anlass
genommen, heute erneut über unseren Antrag zu einem
gesellschaftspolitisch wichtigen Thema zu debattieren,
nämlich über die frühkindliche Bildung im Elternhaus
und in Kindertagesstätten als entscheidenden Faktor für
mehr Chancengerechtigkeit. Wir sind uns in der Koalition einig - wir haben das in unserem Antrag festgeschrieben -, dass der Grundstein für die Entwicklung
und Teilhabe an unserer Gesellschaft in der Familie gelegt wird.
In der Familie erfahren Kinder Zuwendung, Vertrauen
und Geborgenheit und erlernen vor allem ein soziales
Miteinander und - das ist ganz entscheidend - bauen
Bindungen auf. Auch in der Wissenschaft ist es unbestritten, dass Bindung der Bildung vorausgeht. Die erste
Bindung eines Kindes ist nun einmal in der Regel die an
seine Eltern. Deswegen ist für Kinder die familiäre BeDorothee Bär
treuung der institutionellen mindestens gleichwertig; ich
glaube sogar, sie ist ihr überlegen.
Natürlich verschließen wir unsere Augen nicht davor,
dass manche Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Aber wir wollen als Konsequenz daraus
nicht dem Staat die Elternrolle zuweisen, sondern mit
unserem Antrag klarmachen, dass Eltern in dieser Situation niederschwellige Begleitung und Unterstützung
brauchen; wir wollen sie ihnen gewähren.
Kindertagesstätten können eine wichtige Ergänzung
zum Bildungsort Familie sein. Damit sie das tatsächlich
sein können, brauchen wir aber nicht nur einen Ausbau
in quantitativer, sondern vor allem auch in qualitativer
Hinsicht. Deswegen muss meines Erachtens die Gruppengröße in den deutschen Kitas teilweise drastisch reduziert werden.
({0})
- Kollegin Gruß sagt gerade zu Recht: „Wie wir es in
Bayern gemacht haben!“ Daran können sich andere Bundesländer ein Beispiel nehmen. - Qualität hat aber nicht
nur etwas mit der Gruppengröße zu tun. Ein anderer
Qualitätsaspekt ist, dass feste Bezugspersonen vorhanden sind. Oft ist es so, dass ein Kind, nachdem es eingewöhnt wurde, aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen in der Kindertagesstätte wechselnde Bezugspersonen hat. Das liegt zum Teil auch daran, dass
Erzieherinnen vielleicht nur halbtags arbeiten. So muss
sich das Kind ständig dem Stress aussetzen, dass es eine
neue Bezugsperson hat. Das ist für die unter Dreijährigen natürlich wesentlich schwieriger als für die Kindergartenkinder über drei Jahren. Der Kitabesuch soll natürlich kein Stress sein; denn sonst wäre er kontraproduktiv.
Neben den Kindertageseinrichtungen haben wir die
Kindertagespflege. Das ist der erste Bildungsort außerhalb der Familie und die zweite prägende Station für
eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Als wir vor ziemlich genau drei Jahren das Kinderförderungsgesetz im
Deutschen Bundestag verabschiedet haben, war das der
Startschuss für den Aus- bzw. Aufbau eines bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsangebots für die unter Dreijährigen. Bei dieser großen Zukunftsaufgabe unterstützt der
Bund die eigentlich zuständigen Länder und Kommunen
sehr großzügig. Wir beteiligen uns mit 4 Milliarden Euro
an den Kosten in der Ausbauphase und ab 2014 mit jährlichen Zuschüssen in Höhe von 770 Millionen Euro an
den Betriebskosten. Das Ganze trägt Früchte. Nachdem
der Bund seinen zugesagten Beitrag zum Ausbau der Betreuungsplätze geleistet hat, brauchen wir jetzt aber eine
verlässliche Anschlussfinanzierung durch die Länder.
Diese ist dringend erforderlich, um den Ausbau weiter
voranzubringen.
Über diese finanzielle Unterstützung des Krippenausbaus hinaus investiert der Bund weiteres Geld in die
frühkindliche Bildung. Wir haben ein ganz großartiges
Programm aufgelegt, das Programm Offensive „Frühe
Chancen: Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“.
({1})
Der Bund stellt dafür bis 2014 400 Millionen Euro zur
Verfügung, um in bis zu 4 000 Einrichtungen, insbesondere in Brennpunkten, zusätzliche Sprachförderung zu
ermöglichen. Wer von uns sich das schon einmal in seinem Wahlkreis angeschaut hat, weiß, dass das ein tolles
Programm ist und es hervorragend angenommen wird.
Wir können gar nicht oft genug darüber sprechen. Wenn
wir uns die entsprechenden Einrichtungen anschauen,
müssen wir sagen: Das war eine ganz wichtige und sinnvolle Investition.
Wir haben auch noch das Programm „Elternchance ist
Kinderchance“. Es bietet in örtlicher Nähe zu diesen Kitas haupt- und ehrenamtliche Elternbegleiter. Wenn Eltern Hilfe suchen, finden sie hier einen Stützpunkt, an
den sie sich wenden können. Da es leider so ist, dass es
die Großfamilie, die man von früher kennt, nicht mehr
gibt, dass die Familie nicht mehr unbedingt an einem Ort
zusammenlebt, dass oft keine Großeltern oder Urgroßeltern mehr vorhanden sind, vielleicht nicht einmal Tanten
oder Onkel, haben viele niemanden, dem sie eine einfache Frage stellen können. Sie benötigen daher ein niederschwelliges Angebot. Deshalb haben wir dieses Programm „Elternchance ist Kinderchance“ aufgelegt. Jede
Familie, die auf der Suche nach Hilfe ist, soll diese bekommen.
Wir haben ein Aktionsprogramm „Kindertagespflege“, in dem Bund, Länder und Kommunen gemeinsam daran arbeiten, die Qualität der Kindertagespflege
zu sichern und zu verbessern, das Personalangebot zu erweitern und mehr Transparenz zu gewährleisten. Die Eltern sind heutzutage extrem kritisch, und zwar zu Recht.
Sie schauen sich genau an, wer sich um die Kinder kümmert, wer für einen Teil des Tages Verantwortung übernimmt. Natürlich möchte man nicht nur wissen, dass das
Kind sauber gehalten wird und etwas zu essen bekommt,
sondern man möchte auch wissen, dass eine Förderung
stattfindet und eine Bindung entsteht, ohne die die spätere Bildung gar nicht möglich ist.
Das sind nur einige wenige Beispiele für das große
Engagement des Bundes und für das große Engagement,
das die christlich-liberale Koalition in dieser Frage an
den Tag legt. Es gibt noch weitere Forderungen an die
Bundesregierung. Die wird mein Kollege Weinberg vorstellen.
Wir sind auf einem guten Weg. Ich warne aber davor,
nur auf die Quantität zu achten. Ich sage das, weil ich
mir sicher bin, dass heute noch einige Kolleginnen und
Kollegen mit Zahlen um sich schmeißen werden. Für
uns ist die Qualität von allergrößter Bedeutung.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst
einmal: Frau Ministerin, schön, dass Sie wieder da sind.
Wir von der SPD-Fraktion wünschen Ihnen gutes Gelingen für eine partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das ist ja für alle nie einfach.
({0})
Die aktuelle bildungspolitische Studie der OECD hat
erneut deutlich gemacht, dass Deutschland mehr in Bildung investieren muss. Im deutschen Bildungssystem
werden immer noch Kinder aussortiert. Damit muss
Schluss sein.
({1})
Ist es hinnehmbar, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund oder aus armen Familien schlechtere
Chancen haben? Die Ausgaben für Bildung liegen mit
4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weit unter dem
Durchschnitt der OECD-Länder; er liegt bei 5,9 Prozent.
Das macht eine riesige Summe in unserem Haushalt aus.
Deutschland hat ganz besonders bei der frühkindlichen Bildung großen Nachholbedarf; auch das wird in
Studien immer wieder deutlich. Kann man die Kanzlerin
noch ernst nehmen, wenn sie von der „Bildungsrepublik
Deutschland“ spricht? Gute Angebote der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung, das machen
wir als SPD-Fraktion in unserem Antrag deutlich, sind
das Fundament für Chancengleichheit, für Teilhabe von
Kindern in unserer Gesellschaft. Wir alle wissen, dass
Versäumnisse im frühkindlichen Alter zu einem späteren
Zeitpunkt gar nicht mehr bzw. nur ganz schlecht aufgeholt werden können.
({2})
Gute Krippen und gute Kitas fördern Kinder - ich
nenne die Stichworte: Sprache, Ernährung, Bewegung
und natürlich auch Sozialverhalten - und geben ihnen
neben dem Elternhaus wichtige Erfahrungen mit auf den
Weg. Hier lernen Kinder im wahrsten Sinne des Wortes
spielend, und zwar umfassend. Nach wie vor gibt es in
Deutschland zu wenig Krippenplätze, das heißt, zu wenig Bildungsangebote für Kleinkinder und zu wenig Betreuungsangebote für berufstätige Eltern, die diese dringend brauchen und häufig händeringend danach suchen.
Rot-Grün hat vor Jahren den Ausbau der frühkindlichen Bildung - damals noch unter Protest von
Schwarz-Gelb - auf den Weg gebracht. Da sind wir jetzt
schon durchaus weiter. Der Krippengipfel 2007 hat unter
Mitwirkung des damaligen Bundesfinanzministers Peer
Steinbrück dazu geführt, dass der Bund die Länder mit
Bundesmitteln dauerhaft unterstützt. Diese Politik, die
wir damals gemeinsam in der Großen Koalition auf den
Weg gebracht haben, zeigt Erfolge; gar keine Frage. Jahr
für Jahr werden Tausende Plätze neu geschaffen. Das ist
gut; das brauchen Kinder und Eltern.
Vor allem in den alten Bundesländern, wo der Nachholbedarf besonders groß ist, ist die Betreuungsquote
kontinuierlich gestiegen. Dennoch ist der Abstand zwischen den alten und den neuen Bundesländern immer
noch sehr groß; es gibt einige ganz besonders gravierende regionale Unterschiede. Eine bundesdurchschnittliche Betreuungsquote von circa 23 Prozent, wie wir sie
jetzt haben, ist nicht ausreichend. Das macht auch der
jüngste Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes sehr deutlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, vor
diesem Hintergrund und auch angesichts des aktuellen
Zwischenberichts zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes ist es unseres Erachtens fatal und in keiner
Weise nachvollziehbar, dass die Regierungskoalition immer noch an dem unsinnigen Betreuungsgeld festhält.
({3})
Vorgestern kam eine Meldung über den Ticker, dass Frau
Haderthauer statt der bisher diskutierten 150 Euro sogar
500 Euro Betreuungsgeld fordert.
({4})
Heute ist sie bereits ein Stück weit zurückgerudert und
sagte, das solle nicht jetzt sofort so sein, sondern sei eine
Zukunftsvision.
({5})
Für uns ist das keine Zukunftsvision. Es würde ungefähr
6 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Dieses Geld würde
beim weiteren Ausbau der frühkindlichen Bildung dringend fehlen.
({6})
Vielleicht erinnern Sie sich, Frau Bär, noch an die
jüngste Mahnung der OECD, die ich eingangs erwähnte.
({7})
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den wir in unserem
Antrag „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern - Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang
an“ ansprechen, ist der enorme Bedarf an Erzieherinnen
und Erziehern. Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts fehlen allein in Niedersachsen - das ist das
Bundesland, aus dem ich komme - mehr als 5 000 Fachkräfte. In anderen Bundesländern ist die Situation vergleichbar. Fachkräfte fehlen überall. Weil der Erziehermangel den Ausbau zu bremsen droht, müssen wir
handeln. Die Gewerkschaften weisen zu Recht darauf
hin, dass dieser Beruf aufgewertet und besser bezahlt
werden muss. Darüber herrscht grundsätzlich Einigkeit;
das war auch heute im Ausschuss der Fall. Nur: Wir dürfen es nicht beim Benennen der Problematik belassen.
Wir müssen auch handeln.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert seit über einem
Jahr, dass Sie, Frau Schröder, als zuständige Ministerin
den Ausbau der frühkindlichen Bildung auf die Agenda
setzen und einen neuen Krippengipfel einberufen, zumal
auch zahlreiche Expertinnen und Experten davon ausgehen, dass der Bedarf an Krippenplätzen deutlich höher
ausfällt als bislang angenommen. Insbesondere in städtischen Regionen wächst der Bedarf kontinuierlich. Die
angestrebte 35-Prozent-Quote für 2013 wird nicht ausreichen. Auch dies haben das Deutsche Jugendinstitut
und andere Expertinnen und Experten immer wieder
deutlich gemacht.
Wir brauchen ganz dringend eine aktuelle und regional differenzierte Analyse des tatsächlichen Bedarfs an
Krippenplätzen. Hier brauchen wir endlich Klarheit und
Transparenz. Erst dann können wir, was die angestrebten
Zahlen im Hinblick auf Plätze, Fachkräfte und Finanzierung angeht, gezielt nachsteuern. In einem nächsten
Schritt brauchen wir einen nationalen Bildungspakt.
Bund und Länder müssen gemeinsam Vereinbarungen
treffen, wie sie beispielsweise die Zahl der Ganztagsplätze erhöhen und - auch dies ist angesprochen worden - die Qualität in Krippen und Kitas steigern wollen;
das ist ganz dringend erforderlich. Wir brauchen eine
Fachkräfteoffensive, die ihren Namen wirklich verdient.
Das alles sind keine Kleinigkeiten. Das alles braucht
Kraft und Mut aller Beteiligten, und zwar auf allen politischen Ebenen.
Wer Familien heute und in Zukunft besser fördern
will, kommt am Ausbau der frühkindlichen Bildung
nicht vorbei. Es ist deshalb unerlässlich, auch die Ausgaben für frühkindliche Bildung zu steigern. Das Vorhaben, ein Betreuungsgeld einzuführen, sollte die Bundesregierung endlich begraben.
({8})
Ich kann nicht verstehen, warum sich die Bundesfamilienministerin unseren Forderungen nicht anschließt.
Diese Woche haben Sie, Frau Ministerin, ein neues Serviceprogramm zur frühkindlichen Entwicklung von Kindern gestartet. Ich sage Ihnen: Solche befristeten Initiativen, die in ein paar Jahren wieder eingestampft werden,
reichen nicht aus. Ein nationaler Bildungspakt, wie wir
ihn fordern, wäre hingegen eine nachhaltige und notwendige Strategie.
Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Frau Schröder, es
wäre gut, wenn Sie bei diesem wichtigen Thema mit der
Arbeit beginnen würden. Es hilft den Kindern und den
Familien in unserem Land nicht, wenn in Reden die Bedeutung der frühkindlichen Bildung und der besseren
Vereinbarkeit von Familie und Beruf betont wird. Sie
müssen entsprechend handeln. Ich hoffe, dass dies demnächst passieren wird.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich darf Wilhelm von Humboldt zitieren. Er hat einst gesagt:
So wichtig und auf das ganze Leben einwirkend
auch der Einfluß der Erziehung sein mag, so sind
doch noch immer wichtiger die Umstände, welche
den Menschen durch das ganze Leben begleiten.
Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermag
diese Erziehung allein nicht durchzudringen.
Ja, es ist Aufgabe der Politik, die bestmöglichen Umstände für Familien zu gewährleisten. In diesem Punkt
ist Humboldt ganz aktuell.
({0})
Wir wurden vorwurfsvoll gefragt, welche Umstände
wir schaffen. Diese schwarz-gelbe Koalition investiert
insgesamt 12 Milliarden Euro mehr in die Bildung. Das
fängt bei der frühkindlichen Bildung an und geht bis zur
Hochschulfinanzierung. In diesem Punkt lassen wir uns
nichts vorwerfen.
({1})
Welche Umstände schaffen wir noch? Klar, im europäischen Vergleich könnten wir beim quantitativen und
auch beim qualitativen Ausbau besser sein. Dafür haben
wir im europäischen Vergleich die geringste Jugendarbeitslosigkeit und eine der geringsten Arbeitslosigkeiten
insgesamt. Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation der Familien schaffen wir Umstände, die für ein gutes und gesundes Aufwachsen von Kindern notwendig
sind.
({2})
Die Maßnahmen, die wir hier ergriffen haben, sind eben
nicht befristet.
Ich habe es gesagt: Andere Länder sind uns voraus.
Der Monitor Familienleben 2011 bestätigt: 72 Prozent
der Deutschen wünschen sich, dass wir in der Familienpolitik vor allen Dingen die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie verbessern. Ja, wir müssen die Quantität steigern, aber hier sind auch die Länder gefordert, ihren Teil
beizutragen; das habe ich in der letzten Rede hier im Plenum schon gesagt. Baden-Württemberg ist mit nur 57 Prozent an abgerufenen Mitteln Schlusslicht; bei Bremen
sind es 65 Prozent und bei Brandenburg und Sachsen 66 Prozent. Wir von Bundesseite tragen unseren Teil bei und
stehen auch in schwierigen Haushaltszeiten dazu, aber
auch die Länder müssen hier ihren Beitrag leisten.
Wir investieren auch in die Qualität der Betreuung.
Das ist äußerst wichtig; Frau Bär hat das bereits angesprochen. Dies gilt aufgrund der Herausforderung durch
die vielen Kinder mit Migrationshintergrund gerade für
die Sprachförderung. Deswegen ist es ein richtiger Ansatz, mit der Offensive Frühe Chancen insgesamt 4 000
Kitas zu unterstützen und Kinder von klein auf sozial
und sprachlich zu fördern. Diese 400 Millionen Euro
sind bestens investiertes Geld; denn wir alle wissen: Was
wir in den frühen Jahren investieren, zahlt sich später
tausendfach aus.
Unser Ziel ist ganz klar: Wir möchten es den Familien
in den unterschiedlichsten Lebensmodellen ermöglichen, sich zu entfalten und ihren Weg zu gehen. Dafür
stellen wir die Infrastruktur und die Qualität zur Verfügung - ganz im Sinne Humboldts.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! „Millionenloch bei Kinderbetreuung“, „Ganztagsbetreuung mit Hindernissen“, „Der Krippenplatz als
Lottogewinn“, das sind Schlagzeilen aus Tageszeitungen
der letzten 14 Tage. Sie beschreiben knallhart die Situation knapp zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des Rechtsanspruches auf einen Kindertagesbetreuungsplatz ab
dem ersten Lebensjahr. Das ist Alltag, vor allem im Westen der Bundesrepublik.
Vor diesem Hintergrund kann man sich bei der Lektüre der drei vorliegenden Berichte zum Stand des Ausbaus der Kindertagesbetreuung nur verwundert die Augen reiben; denn bei aller positiven Entwicklung beim
Ausbau der Betreuungslandschaft scheint die Bundesregierung die Realität der Familien mit kleinen Kindern
noch immer nicht ernst genug zu nehmen.
({0})
Sicher, im letzten Bericht der Bundesregierung wurde
der Bedarf auf 38 Prozent nach oben korrigiert und sogar
als erreichbares Ziel beschrieben. Ob das aber für alle
jungen Eltern ausreicht, die in den ersten Lebensjahren
ihrer Kinder ein Betreuungsangebot brauchen, ist mehr
als zweifelhaft.
Das Familienministerium zieht seit Jahren statistische
Hochrechnungen zurate, die die Bevölkerungsentwicklung der nächsten Jahrzehnte abbilden. Mich interessieren aber die Familien vor Ort und ihre Probleme, die Familien, die es direkt betrifft. Wenn laut einer ForsaUmfrage fast 66 Prozent der Frauen zwischen 18 und
40 Jahren ihr Kleinkind außer Haus betreuen lassen wollen, kann man die Zielstellung des Ministeriums wohl
nicht zu Unrecht infrage stellen. Sie planen an den realen
Bedarfen vorbei. Dabei besagt selbst die Statistik, die
Sie, Frau Dr. Schröder, heranziehen, dass es Ende 2013
circa 1,97 Millionen Kinder unter drei Jahren geben
wird. Bei angestrebten 750 000 Kitaplätzen dann noch
von einem garantierten Rechtsanspruch zu sprechen, hält
meine Fraktion weiterhin für Etikettenschwindel.
({1})
Dies geht zulasten der Kommunen, weil genau dort im
Sommer 2013 die Klagewellen der Eltern aufschlagen
werden. Nicht im Kanzleramt oder im Familienministerium, sondern an den Rathaustüren und bei den Kitaleiterinnen wird sich der Frust der Eltern entladen. Das ist
ein Skandal. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
({2})
Auf ein weiteres Problem hat das Deutsche Jugendinstitut im August dieses Jahres in sehr nachdrücklicher
Weise hingewiesen: Die Bundesregierung verabschiedet
ein Gesetz zum Ausbau der Kindertagesbetreuung, ohne
dabei zu bedenken, dass man für mehr Kitaplätze natürlich auch mehr Erzieherinnen und Erzieher braucht. Ja,
wir haben zur Kenntnis genommen, dass das Familienministerium hier seit dem vergangenen Jahr investiert.
Aber auch Ihr Modellprojekt - wie sollte es anders
sein - „Mehr Männer in Kitas“ wird die Probleme, die
Sie seit Jahren vor sich herschieben, nicht lösen. Das
Geld für dieses Projekt wird in den nächsten Jahren genauso tröpfchenweise verdampfen, wie Sie es auszahlen,
weil Sie die Hinweise der Wissenschaft, der Gewerkschaften und der Opposition seit Jahren ignorieren. Bereits 2007 fragte meine Fraktion die Bundesregierung,
ob sie die Einschätzung der GEW teile, dass der Personalbedarf ab 2013 die Zahl der vorhandenen und in Ausbildung befindlichen Fachkräfte weit übersteige. Die
Antwort der Bundesregierung damals:
Der Bedarf an Fachkräften wäre damit rein rechnerisch gedeckt.
Das Deutsche Jugendinstitut belegt nun das Gegenteil.
Die Einlösung des Rechtsanspruches droht auch daran
zu scheitern, dass es nicht genügend qualifiziertes Personal in den Kindertagesstätten geben wird und dass darüber hinaus Tagespflegepersonen in großem Umfang
fehlen.
Die Bundesregierung treibt hier ein ganz geschmackloses Spiel auf dem Rücken vor allem der Frauen, die
seit Jahren in Kindertagesstätten und in der Tagespflege
für einen Jammerlohn arbeiten. Vielleicht sollte und
muss man das Ministerium und die Ministerin noch öfter
daran erinnern, dass eines der Fs im Titel des Ministeriums für „Frauen“ steht.
Wir wiederholen unsere Forderungen: Erhöhen Sie
den Anteil des Bundes an den Kosten für den Ausbau
der Kindertagesbetreuung! Verständigen Sie sich mit den
Ländern auf ein tragfähiges Konzept zur Aus- und Weiterbildung von pädagogischem Fachpersonal für die
frühkindliche Bildung! Helfen Sie den Kommunen dabei, den Beschäftigten in diesem extrem wichtigen Bereich endlich gerechte Löhne zu zahlen! Lassen Sie die
Eltern und die Kinder nicht länger im Regen stehen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Katja Dörner für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Ich komme mir heute Abend ein bisschen vor wie bei Dinner for One, wenn der Butler sagt:
„The same procedure as last year, Miss Sophie.“ Wir diskutieren den diesjährigen KiföG-Bericht. Die Problemlagen, die wir schon in den vergangenen Jahren identifiziert haben, haben sich faktisch nicht verändert. Die
Bundesregierung hat sich ihrer nicht angenommen, und
das, obwohl der Termin des Rechtsanspruchs immer näher rückt und der Handlungsbedarf immer dringlicher
wird.
Der Knackpunkt ist die Festlegung auf einen Ausbau
für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren. Es ist glasklar, dass 35 Prozent nicht ausreichen werden. Es ist
schon gesagt worden - dies kann ich nur unterstreichen -, dass die Kommunen im Regen stehen bleiben,
wenn der Bedarf über die 35 Prozent hinausgeht. Die
Bundesregierung lenkt im KiföG-Bericht mit dem Hinweis auf die demografische Entwicklung von diesem
Problem ab. Dazu kann man nur sagen: Achtung, ganz
böse Falle! Das DJI belegt nämlich sehr eindrücklich,
dass der Bedarf jährlich um 1 Prozent steigt. Das heißt,
wir müssen davon ausgehen, dass 2013 ein Bedarf von
rund 42 Prozent besteht. Auf diese Dynamik müssen wir
uns endlich einstellen. Hier ist aus unserer Sicht der
Bund in der Pflicht, seine finanzielle Beteiligung endlich
den realistischen Bedarfszahlen anzupassen.
({0})
Auch der Qualitätsaspekt bleibt weiterhin unterbelichtet. Wir brauchen dringend einen besseren Personalschlüssel. Wir stellen an die Kitas hohe Anforderungen,
was die frühkindliche Bildung angeht. Damit die Einrichtungen diese hohen Anforderungen und auch die
Hoffnungen, die man zu Recht in sie setzt, überhaupt erfüllen können, brauchen wir einen besseren Personalschlüssel. Auch hier bleibt die Bundesregierung jede
Antwort schuldig.
({1})
Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktionen mit einem langen Katalog wichtiger und, wie ich
finde, auch richtiger Forderungen, aber man muss darauf
hinweisen, dass alles unter Finanzierungsvorbehalt gestellt ist. Im Haushalt werden dafür keine Mittel zur Verfügung gestellt; das ist auch nicht angedacht. Ich möchte
es ein bisschen härter formulieren: Ich ärgere mich darüber, dass ein solcher Antrag gestellt wird. Dieser Antrag ist aus meiner Sicht reine Makulatur. Damit wird
den Leuten Sand in die Augen gestreut, weil Aktivitäten
suggeriert werden, die nicht stattfinden. Bei den Kindern, den Familien und den Einrichtungen kommt nichts
an.
Ich möchte den Blick noch auf die Kindertagespflege
richten. Hier sind die Herausforderungen riesig: nicht
nur, dass rund 30 000 Tagespflegepersonen fehlen, um
2013 die Betreuungsquote von 35 Prozent erfüllen zu
können. Vielmehr ist im Gesetz auch fixiert, dass die Kitabetreuung und die Tagespflege gleichwertig nebeneinander stehen sollen, und zwar gleichwertig mit Blick
auf Bildung, Betreuung und Erziehung. Nun ist es aber
Fakt, dass rund 35 Prozent der heutigen Tagespflegepersonen keinerlei pädagogische Qualifikation oder eine
Qualifikation haben, die unter dem liegt, was eigentlich
als Standard gelten sollte, nämlich der 160-StundenKurs nach dem DJI-Standard. Das ist auf Dauer überhaupt nicht akzeptabel. Ich finde es unfair, wenn die
Bundesregierung, wie in der Antwort auf unsere Kleine
Anfrage, die Verantwortung dafür komplett den Kommunen zuweist.
({2})
„The same procedure as last year“ ist an Silvester
ganz lustig. Angesichts der Herausforderungen im Bereich der Kinderbetreuung ist es beim KiföG-Bericht
und bei den Anträgen, die wir heute behandeln, absolut
unangemessen und nicht zu verantworten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vorweg zwei Bemerkungen.
Erste Vorbemerkung. Frau Marks, Sie haben aus dem
OECD-Bericht richtig zitiert. Es ist tatsächlich so, dass
wir in Deutschland für die Primarschulbildung und die
vorschulische frühkindliche Bildung im internationalen
Vergleich der OECD zu wenig Geld ausgeben. Sie müssen aber auch betonen, was ein Parlament, eine Bundesregierung machen sollte. Wir als Fraktion, die die Bundesregierung stützt, haben den Etat im Bereich Bildung
um 54 Prozent im Vergleich zum letzten rot-grünen Etat
gesteigert. Das ist eine hervorragende Leistung und
zeigt, dass wir richtigerweise in Bildung investieren.
({0})
Zweite Vorbemerkung. Es geht um die ewige Debatte
darüber, wo man ideologisch steht, wenn man für oder
gegen den Kitaausbau ist. Unsere Position ist klar: Wir
wollen den Familien Entscheidungs- und Wahlfreiheit
ermöglichen. Ihre Position ist eine andere. Bei Ihnen ist
es schon so, dass man Ihrem politischen Ansatz der Familienpolitik deutlich ein ideologiebehaftetes Gesellschaftsbild anmerkt.
({1})
Marcus Weinberg ({2})
- Moment, ich habe Sie schon verstanden.
({3})
Noch einmal: Sie haben einen Absolutheitsanspruch,
wie Familien ihre Lebensplanungen in den ersten Jahren
des Kindes zu gestalten haben.
({4})
Das machen wir nicht mit. Wir setzen auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir sind für den Ausbau der
Kindertagesbetreuung. Sie brauchen mir nicht zu erklären, wie frühkindliche und vorschulische Bildung und
deren Ausgestaltung auszusehen hat. Aber bitte lassen
Sie die Familien entscheiden,
({5})
wie ihre Kinder in den ersten Jahren aufwachsen sollen.
({6})
Ich finde Ihre Haltung diffamierend und despektierlich
den Familien gegenüber, die sich in den ersten Jahren ihres Kindes entschieden haben, sich selbst um die Betreuung und Bildung der Kinder zu kümmern. Diesen Anspruch auf Absolutheit können Sie nicht erheben; das
sollten Sie den jeweiligen Familien überlassen.
({7})
- Nein, ich bin nicht stehen geblieben. Aber es gibt bestimmte Forschungsergebnisse, die sich auch einmal die
Kolleginnen und Kollegen der SPD vertieft anschauen
sollten, gerade im Bereich der Bindungsforschung, die
dazu führen, dass man durchaus zu anderen Überlegungen kommen kann. Trotzdem sagen wir als Regierung
- da sind wir im Kern einer Meinung -:
({8})
Wir sind für den Ausbau der Kindestagesbetreuung, weil
wir Respekt vor den persönlichen und familiären Entscheidungen haben. Sie müssen den Familien, denen Sie
in der Frage des Betreuungsgeldes kritisch gegenüberstehen, aber auch Antworten darauf geben, wie Sie die
Leistung dieser Eltern entsprechend würdigen wollen.
Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist völlig richtig.
({9})
Dazu gab es damals auch das Übereinkommen mit den
Ländern und Kommunen. Was die Vorgabe von 33 Prozent angeht, die auf dem Barcelona-Gipfel im Jahr 2002
verabredet wurde, glaube ich, dass eine Diskussion, ob
es 45 oder 55 Prozent sein sollen, uns derzeit sicherlich
nicht weiterbringt. Wir sollten uns vielmehr mit der
Frage befassen, wo wir zum jetzigen Zeitpunkt stehen.
Die aktuellen Daten des zweiten KiföG-Berichts belegen im Vergleich der Jahre 2008 und 2010, dass wir in
weiten Teilen gut vorangekommen sind. Im März 2008
wurde in den westlichen Ländern noch jedes achte Kind
und in den ostdeutschen Ländern jedes fünfte Kind in einer Kindertageseinrichtung oder in Tagespflege betreut;
wir hatten eine Betreuungsquote von 17,8 Prozent. Im
Jahr 2010 lag die Quote bundesweit bereits bei 23 Prozent. Das heißt, es wurde mehr als jedes fünfte Kind betreut; es waren 55 000 Kinder mehr als im Jahr 2009.
({10})
An dieser Stelle sei auch daran erinnert, wer mindestens Mitverantwortung für den Ausbau der Kindertagesbetreuung hat: Das sind die Kommunen, die seit 1992
- das ist im KJHG verankert - Kitaplätze nach Bedarf
schaffen sollen. Man muss den Blick auf jedes einzelne
Bundesland richten: Was hat das Bundesland geleistet?
Ich komme aus Hamburg und sage gerne, dass wir als
CDU den Etat für den Ausbau der Kindertagesbetreuung
nach der Regierungsübernahme 2001 um 60 Prozent erhöht haben, und zwar auch mit der Verwirklichung von
Rechtsansprüchen. Ich glaube, dass man genau prüfen
muss, wo die Länder und Kommunen innerhalb ihrer
Verantwortung entsprechende Ergebnisse erzielen.
Mit der derzeitigen Ausbaudynamik und aufgrund des
demografischen Wandels wäre eine Quote von 38 Prozent zu erreichen. Ich will aber nicht die Frage vertiefen,
ob es 38, 35 oder 45 Prozent sein sollen.
({11})
Es geht vielmehr darum, dass das, was Eltern brauchen,
vom Staat abgedeckt werden muss. Wenn Eltern ihr
Kind in einer Kindertagesstätte betreuen und bilden lassen wollen, dann muss der Staat dies leisten. Die Frage
ist, ob dieser quantitative Ausbau tatsächlich gewährleistet ist. Wir werden das in den nächsten Jahren weiter vertieft überprüfen und Druck erzeugen, dass dies zu passieren hat.
Dann kommt ein Punkt, der für uns von entscheidender Bedeutung ist. Frau Dörner hat unseren Antrag nicht
richtig interpretiert. Es geht nicht nur um die Quantität,
sondern um die Qualität von frühkindlicher und vorschulischer Bildung.
({12})
Das bedeutet zum Beispiel auch den qualitativen Ausbau
der Kindertagespflege. Seit dem Start des Aktionsprogramms Kindertagespflege ist das Qualifikationsniveau
in der Kindertagespflege bereits von 8 auf 22 Prozent angestiegen. Der Anteil des Personals ohne Qualifizierung
hat sich dagegen auf rund 14 Prozent reduziert. Der Anstieg ist noch zu niedrig und der Anteil des Personals
ohne Qualifizierung noch zu hoch, aber die Bundesregierung ist dabei, auch hier die richtigen Maßnahmen zu
treffen.
Ein Programm wurde bereits erwähnt, nämlich die
Offensive „Frühe Chancen zur Sprachförderung an Kitas“, für die 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt
werden. Ich kann das, was Kollegin Bär bereits gesagt
Marcus Weinberg ({13})
hat, nur bestätigen. Schauen Sie sich in den Wahlkreisen
an, wie Sprachförderung auch anders entwickelt werden
kann!
({14})
Wir haben heute Morgen im Ausschuss auch sehr intensiv über die Frage diskutiert und gestritten, welche
Verantwortung Männern und Jungen zukommt. Ich
glaube, die Initiative „Mehr Männer in Kitas“ ist vor diesem Hintergrund richtig.
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zur Bildungsimplikation. Nicht nur das Familienministerium,
sondern auch das Bildungsministerium ist dafür zuständig. Ich will im Stakkato nur einige Maßnahmen nennen:
„Haus der kleinen Forscher“, die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, die Medienqualifizierung für Erzieherinnen und Erzieher oder das BIBERNetzwerk frühkindliche Bildung. Ich glaube, dass die
Maßnahmen nur in Abstimmung zwischen Familienministerium und Bildungsministerium gestaltet werden
können.
Wir haben in unserem Antrag deutlich die Frage nach
der Qualität gestellt, Frau Dörner. Aber das können wir
in Teilen nicht alleine machen. Wenn wir Standards für
Kitas einführen wollen, dann brauchen wir die Länder.
({15})
Wenn wir Zertifizierungsmaßnahmen wollen, dann brauchen wir die Länder. Wenn wir Eckpunkte oder einen
Strategiekreis schaffen wollen, um die Qualität zu überprüfen, dann müssen wir das gemeinsam mit Kommunen
und Ländern entwickeln.
({16})
Das haben wir in unserem Antrag definiert. Denn es
macht keinen Sinn, nur über den quantitativen Ausbau
von Kindertagesbetreuung zu diskutieren; es muss verlässlich und verbindlich - damit komme ich wieder zum
OECD-Bericht - auch ein qualitativer Ausbau damit einhergehen.
Was die Bundesregierung leisten kann, hat sie geleistet. In den nächsten Wochen und Monaten gilt es, diesen
Ausbauprozess intensiv zu begleiten und möglicherweise auch Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.
Ich denke insbesondere an die, die in den Kommunen
und Ländern Verantwortung übernommen haben. Ich
glaube, dann haben wir den richtigen Weg eingeschlagen.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung
entscheidet über die Zukunft eines jeden Menschen.
Frühkindliche Bildung ist deshalb für mich eine soziale
Frage. In dem Ziel, frühkindliche Bildung zu stärken,
sind sich alle Fraktionen hier einig. Es gibt allerdings auf
dem Weg dorthin Unterschiede. Die SPD hat vorrangig
Kitas im Blick. Auf die Tagespflege gehen Sie in Ihrem
Antrag gar nicht ein. Dabei hat die Tagespflege in den
letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Deshalb gehört sie unbedingt dazu.
({0})
Ohnehin geht es in allen Ihren Forderungen um Geld.
Frühkindliche Bildung ist für mich nicht nur eine Sache
des Geldes und schon gar nicht ausschließlich Sache des
Staates, sondern immer sind auch die Eltern gefordert.
Die FDP-Fraktion setzt grundsätzlich darauf, Vielfalt zu
fördern - ich betone: Vielfalt -, aber auch auf Eigenverantwortung von Kindern und Eltern. Im SPD-Antrag ist
zum Beispiel von einem Bildungssoli die Rede. Noch
ein Soli? Da machen wir auf keinen Fall mit.
Bei der frühkindlichen Bildung hat es seit der Regierungsübernahme durch die christlich-liberale Koalition
deutliche Fortschritte gegeben. Allein in diesem Jahr investiert das Bundesbildungsministerium gemeinsam mit
dem Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie
und Jugend zusätzlich 100 Millionen Euro in die frühkindliche Bildung. Der Ausbau der Kinderbetreuung in
Deutschland macht gute Fortschritte. Allein bei mir vor
Ort haben wir mittlerweile beim Krippenbau einen Anteil von 42 Prozent. Seit dem Inkrafttreten des Kinderförderungsgesetzes ist das Betreuungsangebot in den Tageskindereinrichtungen und in der Kindertagespflege
deutlich größer geworden. Der Bund unterstützt den
qualitätsorientierten Ausbau der Betreuung maßgeblich,
und zwar freiwillig; denn für die Kinderbetreuungsinfrastruktur sind bekanntlich die Länder zuständig.
Die Koalition setzt aus zwei Gründen neue Maßstäbe
bei der frühkindlichen Bildung. Erstens. Wir wollen
Chancengleichheit für alle Kinder von Anfang an, also
allen Kindern gute Startchancen verschaffen. Zweitens.
Wir wollen Väter und Mütter unterstützen, sich ihren
Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu
erfüllen. Da ist es ganz wichtig, dass die Eltern sich darauf verlassen können, dass ihr Kind nicht nur verwahrt,
sondern gut betreut wird. Das Kinderförderungsgesetz
legt deshalb einen Schwerpunkt auf die Verbesserung
der Betreuungsqualität. Frühkindliche Bildung bedeutet
auf der einen Seite Sprach- und Wissensvermittlung.
Allein in Berlin sind in diesem Sommer 4 500 Kinder
eingeschult worden, die unzureichende Sprachkenntnisse haben. Viele von ihnen sind Migrantenkinder.
Deutschlandweit hat mittlerweile ein Drittel aller Kinder
im Vorschulalter einen Migrationshintergrund. Das ist
nicht das Problem, wohl aber die Tatsache, dass bei einem Drittel dieser Kinder zu Hause und da, wo gespielt
wird, kein Deutsch gesprochen wird. Aber auch die Zahl
der Kinder aus sozialen Brennpunkten mit nur geringem
Wortschatz nimmt ständig zu. Ein Kind, das bei uns auf14878
wächst, muss bei der Einschulung die deutsche Sprache
beherrschen. Mit der Offensive „Frühe Chancen:
Schwerpunkt-Kitas & Integration“ setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass jedes Kind von Anfang an faire
Chancen hat. 4 000 Schwerpunkt-Kitas fördert die Bundesregierung seit März dieses Jahres bis zum Ende 2014.
Dafür stellt der Bund die beträchtliche Summe von
400 Millionen Euro zur Verfügung.
Frühkindliche Bildung umfasst aber nicht nur Sprache und Integration, sondern auch die Vermittlung von
sozialen Kompetenzen. Hinter diesem hochtrabenden
Wort stehen Werte, die heute leider nicht mehr selbstverständlich sind: Respekt, Toleranz, aber auch Verantwortungsbewusstsein und Verlässlichkeit. Das ist mir ein
wichtiges Anliegen.
Die meisten Eltern ermöglichen ihren Kindern gute
Startbedingungen. Wir dürfen aber nicht ignorieren, dass
es immer mehr verunsicherte Eltern gibt, die in der Erziehung und bei der Betreuung überfordert sind. Auch
hier hat die Koalition vieles auf den Weg gebracht.
Stichworte sind Elternkurse, Familienhebammen, Projekte von Stadtteilmüttern, Familienzentren usw.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Unser Antrag hat zum Ziel, bei der frühkindlichen
Bildung weiter voranzukommen. Dazu gehört zum Beispiel die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung der
Frühpädagogen. Bei allen Zielen setzen wir auf verstärkte Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und
Kommunen in Form des Qualitätsprogramms für frühkindliche Bildung,
Frau Kollegin, das war ernst gemeint. Sie müssen
zum Schluss kommen.
({0})
- sofort -, unter Mitwirkung der Kommunen, Kirchen, freien Wohlfahrtsverbände und anderer Anbieter in
freier Trägerschaft.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 17/4249 zu den Unterrichtungen durch die
Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für
Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2008 sowie
für das Berichtsjahr 2009 und zu weiteren Vorlagen zur
Kinderbetreuung. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis der
genannten Unterrichtungen die Annahme des Antrags
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/3663 mit dem Titel „Faire Teilhabechancen von Anfang an - Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1973 mit dem Titel
„Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern - Für
Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung
der Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/1778 mit dem Titel „Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung realisieren - Kostenkalkulation für Kinderbetreuung überprüfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken
und Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6 b. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5900 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist diese Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Für eine bessere Bildungssituation weltweit
- Drucksache 17/6484 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist vom Zeitpunkt her sehr passend, dass wir uns nach
der Debatte über Defizite und Versäumnisse in der innerdeutschen Bildungspolitik mit der Bildung weltweit auseinandersetzen. Wir als SPD-Fraktion haben einen Antrag mit dem Titel „Für eine bessere Bildungssituation
weltweit“ vorgelegt, mit dem wir die Bedeutung des
Themas in den Mittelpunkt stellen und die Notwendigkeit des Handelns unterstreichen möchten.
Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinaus in einigen Punkten einig. Diese betreffen die Situationsbeschreibung. Fast 70 Millionen Kinder weltweit haben
keinen Zugang zu Schulbildung und keine Möglichkeit,
ihr verbrieftes Menschenrecht auf Bildung wahrzunehmen. Das ist ein Skandal und eine Schande. Ich glaube,
diese Einschätzung teilen wir über die Fraktionsgrenzen
hinaus. Wir sind uns vielleicht auch in einigen anderen
Punkten einig. Handlungsbedarf besteht auf zwei Ebenen. Ich habe gerade gesagt, dass knapp 70 Millionen
Kinder noch keinen Zugang zu Schulbildung haben.
Deshalb muss, was die Einschulungszahlen betrifft, verstärkt auf der quantitativen Ebene gehandelt werden. Es
muss aber auch in Qualität investiert werden. Die
UNESCO legt uns dazu ganz eindeutige Zahlen vor.
Wenn wir nur die universelle Grundbildung sicherstellen
wollen - wir sprechen noch gar nicht von großen Qualitätssprüngen -, sind 1,9 Millionen Lehrer nötig. Nur
dann haben alle Kinder die Möglichkeit auf einen Zugang zu Schulbildung. Wir müssen gemeinsam mit unseren Partnerländern in die Lehrerausbildung, aber auch in
die Bezahlung der Lehrer investieren. Nur dann, wenn
die Bezahlung der Lehrer stimmt, werden wir erreichen,
dass die Unterrichtszeiten, die in vielen Ländern auf dem
Papier stehen, tatsächlich eingehalten werden.
Es geht um den Zugang zu Lehrmitteln, um Qualität,
um Ausstattung, um Klassenräume. Das sind Punkte, die
viele Kollegen teilen. Wenn man in den verschiedenen
Ländern unterwegs ist, sieht man sich oft der Situation
gegenüber, dass Schüler zu Hundert in einer Klasse sitzen, dass sich drei Schüler eine Schulbank teilen, dass
Schüler am Boden sitzen. Dabei geht es auch darum, ob
das, was unterrichtet wird, überhaupt aufgenommen
werden kann. Das hat viel mit Qualität zu tun.
Ein entscheidender Punkt für uns ist, den Fokus stärker auf die Frage zu richten: Was verhindert eigentlich,
dass viele Kinder in die Schule gehen können? Einen
Punkt möchte ich noch einmal ganz deutlich unterstreichen: Kinderarbeit ist eines der größten Hemmnisse für
den Schulzugang von Jungen und Mädchen, insbesondere aber - wir haben es heute im Ausschuss gelernt von Mädchen. 100 Millionen mehr Mädchen als Jungen
müssen Kinderarbeit leisten und werden deshalb noch
einmal explizit benachteiligt, wenn es um den Schulzugang geht. Das Verbot der Kinderarbeit und damit auch
die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen sind ganz
entscheidend, wenn wir an dieser Stelle vorankommen
wollen.
({0})
Weil es bei diesen Themen manchmal harmonisch zugeht und wir gemeinsame Ansätze haben, möchte ich
zwei Punkte herausgreifen, bei denen ich deutliche Unterschiede sehe oder das Ministerium sehr dringend auffordern möchte, bei seiner Strategie nachzubessern.
Der erste entscheidende Punkt ist das Thema „Mädchen und Frauen“. Ich finde es traurig, dass in der Bildungsstrategie, die vom Ministerium vorgelegt wurde,
dem Thema „Mädchen und Frauen“ in keiner Weise adäquat Rechnung getragen wird. Unter den zehn Punkten,
die Sie explizit als Handlungsfelder definieren, gibt es
keinen einzigen, der sich mit Frauen und Mädchen beschäftigt.
({1})
Das kann so nicht bleiben.
({2})
Sie hätten heute die Gelegenheit, das zu heilen, indem
Sie einfach unserem Antrag zustimmen; denn wir legen
den Fokus explizit auf das Thema Mädchenbildung, auf
das Thema Frauenbildung.
Uns ist heute im Ausschuss von Expertinnen noch
einmal sehr deutlich vorgetragen worden: Es gehen weltweit weniger Mädchen als Jungen zur Schule. Wenn sie
zur Schule gehen, gehen sie kürzere Zeit zur Schule, absolvieren also weniger Schuljahre. 100 Millionen mehr
Mädchen als Jungen - ich habe es schon erwähnt - sind
von Kinderarbeit betroffen. Die Folge davon ist: Die Armut weltweit ist weiblich. Zu 70 Prozent sind von extremer Armut Frauen betroffen.
Wenn wir hier mit unserer Bildungsstrategie eingreifen würden, dann - auch das ist uns heute vom Kinderhilfswerk Plan noch einmal sehr deutlich gemacht worden - hätte das positive Auswirkungen auf die gesamte
Entwicklung der Länder, der Menschen und insbesondere der Frauen, aber auch auf die ökonomische Situation der Länder. Wir haben gelernt: Sieben Jahre und
mehr Schulbesuch für Mädchen hätte positive Effekte
auf die Geburtenrate; sie würde sinken. Die Kindersterblichkeit würde abnehmen. Das Einkommen der Frauen
würde sich ganz deutlich erhöhen. Das Wirtschaftswachstum - darauf legt die FDP immer so großen Wert würde um bis zu 3 Prozent steigen, wenn nur 10 Prozent
der Mädchen in den Entwicklungsländern eine Sekundarschule besuchen würden. Diese Zahlen muss man
sich einmal vor Augen halten und in den Mittelpunkt
stellen. Ich verstehe nicht, dass diesem wesentlichen und
zentralen Punkt in der Strategie keine Aufmerksamkeit
geschenkt wird.
({3})
Manchmal würden einfache Maßnahmen dazu beitragen, dass mehr Mädchen auch die höheren Klassen besuchen. Ich denke etwa an getrennte Schultoiletten für Jun14880
gen und Mädchen. Mit ganz einfachen Maßnahmen
könnte man manchmal große Erfolge erzielen.
Einen zweiten Punkt wollen wir im Zusammenhang
mit der Bildungsstrategie ganz deutlich anmahnen. Es
geht um die Frage: Was ist eigentlich die Rolle des Staates in der Bildung, und was ist die Rolle der Privaten in
der Bildung? Wir haben im letzten Jahr in einer Anhörung des Ausschusses zum Thema Millenniumsziele von
der Vorsitzenden der Global Campaign for Education,
Frau Assibi Napoe, gehört: Bildung muss öffentlich und
kostenlos sein. - Es geht also darum, staatliche Akteure
in ihrer Verantwortung zu begleiten, zu unterstützen und
zu stärken, damit in den Partnerländern Bildungssysteme
aufgebaut werden können, die für alle zugänglich sind.
Es geht auch darum, das Schulangebot für die Kinder
kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Wenn ich mir die Punkte der Strategie des BMZ anschaue, stelle ich fest: Zwar wird an der einen oder anderen Stelle auf die Verantwortung der staatlichen Akteure
verwiesen, aber dass wirklich in einen Kontext gestellt
wird, wie wir gemeinsam mit den Ländern eine Strategie, auch eine finanzielle Strategie, dazu entwickeln, wie
wir vorankommen, sodass die staatliche Kernaufgabe
Bildung ernst genommen wird, sehe ich in diesem Papier
leider nicht. Ich denke, auch da besteht dringender
Handlungsbedarf, dringender Nachbesserungsbedarf.
({4})
Dieser besteht auch deshalb, weil wir damit Signale in
die Partnerländer aussenden. Wenn in einem Punkt explizit die Privatindustrie und die privaten Träger als Akteure angesprochen werden, die staatlichen aber nicht
zumindest in demselben Maße, dann, denke ich, senden
wir falsche Signale in die Partnerländer.
Das hat natürlich auch etwas mit der Frage zu tun:
Wie gehen wir mit einer gemeinsamen Bildungsfinanzierung nicht nur in Deutschland, sondern auch mit anderen Partnerländern um? Wenn man sich anschaut, dass
in der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Bedarf und die Finanzanforderungen für den Bereich Bildung explizit gestiegen sind, dann wird auch hieran
deutlich, dass hier nachgelegt werden muss. Seit 2002
hat sich die internationale Unterstützung für Grundbildung verdoppelt. Es gibt auch Erfolge in diesem Bereich, wenn es um Einschulungen geht. Aber seit 2008
stagnieren diese Zahlen international auf einem Niveau
von 4,7 Milliarden Dollar. Im südlichen Afrika sanken
die Ausgaben für Bildung in den letzten Jahren um
4 Prozent. Das ist, glaube ich, etwas, was wir gemeinsam so nicht hinnehmen können; denn genau in diesen
Regionen ist der erhöhte Bedarf, wenn es um einen Zugang zu Bildung für alle geht, ganz evident.
({5})
Ich habe daher die dringende Bitte auch an die Bundesregierung, bei der Wiederauffüllung des sogenannten
Catalytic Funds im Herbst oder Winter dieses Jahres, bei
dem es gerade um die Initiative „Education for All“,
„Bildung für alle“, geht, eine klare Zusage seitens
Deutschlands zu machen und sich ordentlich zu beteiligen, wie es unseren Möglichkeiten als Staat entspricht,
um wirklich Bildung für die Ärmsten der Armen in dieser Welt organisieren zu können.
Ich glaube, Bildung international ist ein Bereich, in
dem wir viele Gemeinsamkeiten haben. Aber ich bitte
Sie noch einmal dringend: Denken Sie an die Mädchen!
Denken Sie an die staatlichen Akteure! Das ist ein ganz
zentraler Punkt. Stellen Sie sich auch der Herausforderung der Bildungsfinanzierung! Das wären die ganz wesentlichen Punkte.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Anette Hübinger für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Kolleginnen von der SPD, ich
habe mich eigentlich gefreut, als Ihr Antrag auf meinen
Schreibtisch kam. Ich habe gedacht: Nun kämpfen wir
einmal wieder gemeinsam in der Entwicklungszusammenarbeit für die Bildung. Aber leider musste ich feststellen, dass nichts Neues drinstand. Ich muss sagen, irgendwie scheint Ihnen in der Opposition der Biss
verloren gegangen zu sein; denn all das haben wir in unserem Antrag schon aufgeführt. Frau Kofler, wenn ich
Sie daran erinnern darf: All das, was Sie jetzt schreiben,
steht in unserem Antrag drin,
({0})
- doch! -, und den wollten Sie eigentlich in die Tonne
treten.
({1})
Sie haben auch die Gelegenheit verpasst, öffentlich zu
den vorgelegten Eckpunkten der neuen Bildungsstrategie des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Stellung zu nehmen und - was
noch viel wichtiger ist - durch Ideen den Prozess zur
Findung einer neuen Bildungsstrategie, den das Ministerium angestoßen hat, zu unterstützen und zu befruchten.
Stattdessen listen Sie davon losgelöst bekannte Probleme und Herausforderungen im Bildungsbereich von
Entwicklungsländern auf. Dazu gehört auch die Mädchenfrage. Aber in dem Weltbankbericht, über den gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtet
wurde, wird aufgeführt, dass in 45 Entwicklungsländern
heute mehr Mädchen die Sekundarschule besuchen als
Jungen und dass in 60 Entwicklungsländern mehr
Frauen die Universität besuchen als Männer. Ich selbst
habe auf meiner Reise gemeinsam mit Hartwig Fischer
in Lesotho feststellen können: In den Schulklassen, die
uns mit Gesang erfreuten, waren fast nur Mädchen. Warum? Weil die Jungen die Schafe hüten mussten.
Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit ist ein
zentrales Thema der christlich-liberalen Koalition. Deshalb haben wir bereits im Herbst des vergangenen Jahres
- ich habe es schon erwähnt - einen Antrag mit Vorschlägen und Kritikpunkten eingebracht.
Bildung ist für uns das zentrale Thema, damit die
Menschen ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen
können. Bildung und Wissen sind Nahrung für den Aufbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen. Das haben wir nicht zuletzt in Nordafrika und in der
arabischen Welt in diesem Frühjahr und Frühsommer erlebt. Viele der jungen Männer und Frauen, die dort auf
die Straße gegangen sind und für Veränderungen und
Reformen kämpfen und eintreten, gehören zur Bildungselite dieser Länder. Auch deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir den Bildungsbereich in der Entwicklungszusammenarbeit zu einem Schwerpunkt machen. Dabei
müssen wir passgenaue Bildungskonzepte für und mit
unseren Partnerländern entwickeln und umsetzen, wobei
eine Fokussierung auf bestimmte Bereiche - sei es auf
frühkindliche Bildung, Grund- und Sekundarbildung bis
hin zur beruflichen Bildung und dem lebenslangen Lernen - in den einzelnen Partnerländern sicherlich zu mehr
Effizienz führt.
Gerade weil im Bereich Bildung ein umfassender Ansatz erforderlich ist, ist das Thema Arbeitsteilung umso
bedeutender. Frau Kofler hat darauf zu Recht hingewiesen. Eine bessere internationale Arbeitsteilung unter den
Gebern muss endlich angegangen werden, und Befindlichkeiten müssen zugunsten einer höheren Wirksamkeit
von Entwicklungszusammenarbeit zurückstehen.
({2})
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden internationale
Arbeitsteilung, den sogenannten Code of Conduct, weiter vorantreiben. Für unsere Entwicklungszusammenarbeit wird das letztendlich auch heißen, dass wir uns aus
einigen Bereichen zugunsten anderer Geber zurückziehen und zu mehr Kooperation mit anderen Gebern bereit
sein müssen.
Ich hoffe sehr, dass wir dabei auf dem High Level Forum IV zur Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit in Busan Ende November ein großes Stück vorankommen werden. Die Verringerung der Fragmentierung
der Entwicklungszusammenarbeit wird für unseren Erfolg entscheidend sein. Gerade wir als Europäer stehen
in einer besonderen Pflicht. Liebe Kollegen der SPDFraktion, da Sie das in Ihrem Antrag auch so sehen,
hoffe ich, dass wir gemeinsam weiterkommen und Sie
uns unterstützen.
Des Weiteren müssen wir im Bildungsbereich unsere
Fähigkeiten und Kapazitäten, in denen wir am erfolgreichsten sind, ausbauen und so andere Geber ergänzen.
Es muss letztendlich darum gehen, den Menschen in unseren Partnerländern durch gute und erreichbare Bildungsangebote neue Lebensperspektiven zu eröffnen.
Deshalb war es auch der richtige Schritt, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung unter Minister Niebel sich dafür entschieden hat, den Bildungssektor allgemein zu stärken und
die Investitionen für den Bildungsbereich in Afrika - ein
Kontinent mit vielen Defiziten - bis 2013 zu verdoppeln.
({3})
Die vorgelegten Eckpunkte für eine neue Bildungsstrategie des Bundesministeriums gehen aus unserer
Sicht in die richtige Richtung, nämlich einen stärkeren
Fokus auf die Qualität der Bildungsangebote zu legen
sowie eine bedarfsgerechte Ausrichtung und die Berücksichtigung eines ganzheitlichen Bildungsansatzes zu verfolgen.
Ein Hauptaugenmerk der neuen Bildungsstrategie mit
dem Namen „Mehr Bildung. Mehr Wachstum. Mehr Gerechtigkeit.“ ist es, die Qualität von Schulen, Ausbildungsstätten und Bildungsangeboten in unseren 58 Partnerländern zu verbessern. Darüber waren sich auch die
Teilnehmer der Auftaktveranstaltung im März, als der
Entwurf der Bildungsstrategie vorgestellt wurde, einig.
Denn leider stellen wir immer wieder fest, dass Mädchen
und Jungen trotz Schulbesuch oft weniger lernen, als sie
eigentlich könnten. Einer Studie von 2009 zufolge waren
in Indien nur 38 Prozent der Viertklässler auf dem Land
in der Lage, einen Text auf dem Lernniveau der zweiten
Klasse zu lesen. In Malawi und Sambia konnten mehr
als ein Drittel im sechsten Schuljahr nicht flüssig lesen.
Oft fehlt es an einfachem Lernmaterial; und überfüllte
Schulen - Frau Kofler hat es erwähnt - bieten keine gute
Lernatmosphäre. Hinzu kommt, dass die Qualität der
Lehrerausbildung oft nicht ausreichend ist. Abhilfe ist
hier dringend geboten und erforderlich. Die ersten Projekte wurden bereits gestartet. So wurde beispielsweise
die GIZ in Kabul damit beauftragt, das dortige Kabul
Mechanical Institute, eine Berufsschule mit 100 Lehrern
und 1 200 Auszubildenden, zu unterstützen. Die dortigen
Lehrer erhalten nun ein fundiertes und regelmäßiges
Fort- und Weiterbildungsangebot.
Erschreckend ist auch, dass Schulen in vielen Bürgerkriegsländern in Afrika und Asien häufig Ziel von Angriffen sind. Die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation registrierte im Jahr
2009 in Afghanistan 613 Attacken auf Schulen. Im
Nordjemen wurden 220 Schulen bei Kämpfen zerstört.
Im Kongo gehen viele Mädchen nicht zum Unterricht,
aus Angst, dass sie auf dem Weg zur Schule oder in den
Klassenräumen von Milizionären überfallen und vergewaltigt werden könnten.
Vielen Regierungen in den armen Staaten, in den Entwicklungsländern, sind Soldaten wichtiger als Lehrer
und Schulen nicht so wichtig wie Panzer. 21 Entwicklungsländer geben mehr für Rüstung aus als für die Bildung und für die Schulen. Deshalb muss von den Regierungen der Entwicklungsländer immer wieder eingefordert werden, für die Bildung ihrer Bürger zu sorgen. Solange dies von staatlicher Seite und von staatlichen Stellen ungenügend wahrgenommen wird, müssen private
Träger als Alternative im Bildungsbereich unterstützt
werden. Gerade Kirchen schließen in ganz besonderer
Weise diese Lücke.
({4})
Zum Schluss möchte ich auf ein weiteres Erfordernis
hinweisen. Wir brauchen eine stärkere Analyse der Probleme, aber auch von Ergebnissen und Erfolgen, um in
der Entwicklungspolitik im Allgemeinen wie auch im
Bildungsbereich im Besonderen voranzukommen. Auch
das hat die Regierung aufgegriffen. Die vom BMZ gewählte Form, gemeinsam mit Hilfsorganisationen, Universitäten, Stiftungen, unabhängigen Experten und allen
an der Thematik Interessierten eine Strategie zu erarbeiten, ist innovativ und bündelt das gesamte Fachwissen.
Ich hoffe, dass viele ihre Ansichten und Meinungen im
Bereich Bildung eingebracht haben, und bin auf die Vorstellung der Ergebnisse durch das Ministerium gespannt.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben die Chance meines Erachtens nicht so genutzt, wie
sie hätte genutzt werden können. Ich hoffe aber, dass wir
in der Bildung auch zukünftig auf einen guten Konsens
kommen, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nunmehr Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nelson Mandela, der ehemalige
Das größte Problem in der Welt ist Armut in Verbindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafür
sorgen, dass Bildung alle erreicht.
Wo Bildung fehlt, fehlt auch der Ausweg aus Armut,
Hunger und Krankheit. Wie man sich etwa vor HIV
schützen kann, müssen Menschen lernen. Bildung ist dafür existenziell. Deshalb ist Bildung ein Menschenrecht.
Nur ein Kind, das Bildung erhält, hat als Erwachsener
die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Nur durch
Bildung kann es seine Rechte kennenlernen und geltend
machen. 72 Millionen Kinder in den Entwicklungsländern, die heute nicht lesen und schreiben lernen, werden
um diese Chancen betrogen. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
({0})
Entscheidend für die Bildungschancen von Kindern
sind aus meiner Sicht vier Punkte.
Erstens brauchen wir Kostenfreiheit. Der vorliegende
Antrag der SPD hat den Kern getroffen: gebührenfreier
Schulbesuch, kostenlose Lernmittel. Ich möchte hinzufügen: keine Studiengebühren. Die große Mehrheit der
Eltern in den Entwicklungsländern kann es sich schlicht
nicht leisten, für den Schulbesuch ihrer Kinder zu bezahlen. Wer sagt, er möchte allen Kindern weltweit die
Chance auf Bildung geben, muss deshalb Ja zur Gebührenfreiheit sagen.
({1})
Das muss auch Herr Niebel endlich zur Kenntnis nehmen. Denn der Entwurf einer Bildungsstrategie des Entwicklungsministeriums spricht das Problem von Schulund Studiengebühren nicht einmal an.
({2})
Ich hoffe nicht, dass dies aus irgendwelchen niederen
ideologischen Motiven heraus so ist, nach dem Motto:
Als Koalition sind wir in Deutschland für Studiengebühren; deshalb erteilen wir auch international Gebühren
keine klare Absage. Das wäre verantwortungslos Millionen Kindern gegenüber, die ohne Zugang zu Bildung
sind.
({3})
Zweitens. Wir brauchen ein hochwertiges staatliches
Schulsystem. In vielen Entwicklungsländern ist das Bildungssystem stark privatisiert. Es gibt eine fast schon
unüberschaubare Anzahl von privaten Trägern. Die Bundesregierung will aber laut dem Konzeptentwurf noch
mehr nichtstaatliche Kräfte ins Boot holen. So soll die
Kooperation mit der deutschen Privatwirtschaft ausgebaut werden.
Ich sage Ihnen noch einmal: Bildung ist ein Menschenrecht. Das Profitinteresse, das Unternehmen naturgemäß haben, deckt sich nicht mit dem Erfordernis, allen
Menschen Zugang zu Bildung zu bieten. Bildung darf
nicht von wirtschaftlichen Interessen abhängen.
({4})
Bildung ist eine öffentliche Aufgabe. Darauf sollte sich
die Bundesregierung auch international konzentrieren.
Drittens. Wir brauchen echte Bildungspartnerschaften
mit den Entwicklungsländern statt westlicher Arroganz.
Die Bildungsstrategie des Ministeriums zeugt leider
nicht von der vielbeschworenen Kommunikation auf
Augenhöhe. Sie unterstellt, dass viele Länder schlicht
nicht ernsthaft gewillt sind, ihren Bildungssektor selbst
ausreichend zu finanzieren. Das ist nicht nur eine Unverschämtheit, sondern in dieser Absolutheit auch einfach
falsch.
({5})
Viertens. Falsch ist es insbesondere deswegen, weil
spätestens seit dem UNESCO-Weltbildungsbericht bekannt ist, dass mehr Geld gebraucht wird. Rund 16 Milliarden US-Dollar fehlen, um das Ziel „Bildung für alle“
durchzusetzen. Für diesen Geldmangel sind auch Sie
von der Bundesregierung verantwortlich. Sie haben das
Ziel aufgegeben, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit
auszugeben, und dies, obwohl Sie für Bankenrettungen
ohne Weiteres jederzeit Milliarden zur Verfügung stellen. Das ist ein Armutszeugnis für Ihre Entwicklungszusammenarbeit.
({6})
Partnerschaft auf Augenhöhe im Bildungssektor bedeutet nicht, den Partnerländern westliche Lernkonzepte
überzustülpen. Stattdessen müssen wir die Experten aus
den Ländern selbst befähigen, eigene Konzepte auf
Grundlage ihrer Bildungstradition zu entwickeln. Dazu
braucht es mehr Budgethilfe im Bildungssektor. Wir haben das Vertrauen, dass die Partnerländer am besten wissen, wie man das Geld erfolgreich einsetzt. Partnerschaft
auf Augenhöhe funktioniert nur durch Vertrauen und
nicht durch Unterstellung.
Danke.
({7})
Das Wort hat nun Christiane Ratjen-Damerau für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass die SPD-Fraktion sich unseren
Koalitionsvertrag, die Arbeit des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
und die Arbeit der Regierungskoalition zum Vorbild genommen hat. Mit Ihrem Antrag für eine bessere Bildung
weltweit wiederholen Sie die Arbeit, die wir bereits in
den letzten zwei Jahren geleistet haben.
({0})
Die christlich-liberale Koalition hat die Forderung
nach einer weltweit besseren Bildungssituation ausdrücklich als einen der Schlüsselsektoren der Entwicklungszusammenarbeit im Koalitionsvertrag festgeschrieben.
({1})
Ausformuliert haben wir in der Regierungskoalition
diese Forderung des Koalitionsvertrages im Juni letzten
Jahres in dem Antrag „Bildung in Entwicklungs- und
Schwellenländern stärken - Bildungsmaßnahmen anpassen und wirksamer gestalten“. Verabschiedet wurde der
Antrag im November letzten Jahres. Sie hätten bereits zu
diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, unseren Forderungen zuzustimmen. Die Grünen haben sich der
Stimmen enthalten; SPD und Linke stimmten dagegen.
({2})
Mädchenförderung, Förderung der beruflichen Bildung, Ausbau der Sekundarschulen und der weiterführenden Bildungsangebote, Verbesserung der Qualität der
Bildung, Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation etc.: All diese Forderungen
finden Sie in unserem Antrag ausgeführt.
Sie haben der Grund- und Sekundarbildung eine zentrale Stellung in Ihrem Antrag eingeräumt. Damit sind
Sie genau auf der Linie der christlich-liberalen Koalition. Grundbildung ist und bleibt ein fundamentales Anliegen für uns. Eine zentrale Frage in den Entwicklungsländern ist jedoch: Was wird den Grundschulabgängern
als Perspektive geboten? Deshalb haben wir schon vor
einem Jahr zusätzlich zur Grundbildung vor allem Anstrengungen in der Sekundarbildung gefordert.
Eine große Herausforderung bleibt das Erreichen einer Grundschulbildung für alle Kinder weltweit. Aber
Sie müssen anerkennen, dass sieben Staaten in Subsahara-Afrika das zweite Millennium-Entwicklungsziel
beinahe erreicht haben. Die Förderung von Sekundarschulen ist deshalb unerlässlich. Hier wird noch einiges
zu tun sein.
In den nächsten zwei Monaten wird der Bundesminister die Bildungsstrategie seines Ministeriums vorstellen.
({3})
Der erste Entwurf dieses Strategiepapieres wurde bereits
im März dieses Jahres veröffentlicht. Alle von Ihnen im
vorliegenden Antrag gestellten Forderungen finden Sie
im Wesentlichen bereits in diesem Entwurf. An einigen
Stellen geht der Entwurf des Bundesministeriums über
Ihre Forderungen hinaus. So erkennt der Minister, dass
es in den Entwicklungsländern einer stärkeren Förderung der Hochschulbildung bedarf. Außerdem soll die
Wirksamkeit der eingesetzten Mittel überprüft und erhöht werden. Beides ist richtig.
In der rot-grünen Regierung hatte man bewusst entschieden, keine Mittel für Projekte in der Hochschulbildung bereitzustellen. Wir unterstützen bereits jetzt die
Panafrikanische Universität als ein Leuchtturmprojekt;
andere werden folgen.
({4})
Trotz des Sparzwangs aller Bundesetats sollen die
Bildungsausgaben für Afrika im Vergleich zum Jahre
2009 bis zum Jahre 2013 verdoppelt werden. Ebenso
wird die Zahl der Partnerländer mit dem Schwerpunkt
Bildung erhöht. Dies zeigt, welche Bedeutung die christlich-liberale Koalition der weltweiten Bildung zumisst.
Der Minister hat seit Veröffentlichung des Strategiepapieres in einem transparenten und umfangreichen Prozess Konsultationen mit allen beteiligten Akteuren
geführt. Es gab darüber hinaus sechs Dialogveranstaltungen zur Diskussion des Entwurfes der neuen BMZBildungsstrategie.
In unserem Ausschuss waren sich die Vertreter aller
Fraktionen mit den Nichtregierungsorganisationen darüber einig, dass die Mädchenförderung ein größeres
Gewicht und eine stärkere Betonung erhalten muss. Wir
haben dies immer wieder und nachhaltig in unseren Stellungnahmen zum Entwurf der Bildungsstrategie deutlich
gemacht. Das Ministerium hat bereits Zustimmung dazu
signalisiert, die Mädchenförderung in der Bildungsstrategie deutlicher hervorzuheben.
({5})
Auch wir bekennen uns dazu, dass in erster Linie der
Staat Bildung zur Verfügung stellen muss. Angesichts
stark unterfinanzierter Bildungshaushalte in den Entwicklungsländern und generell knapper Mittel spielen
die Leistungen der Nichtregierungsorganisationen, Kir14884
chen und Stiftungen jedoch eine wichtige Rolle; diese
soll ausgebaut werden.
({6})
Die von der Koalition geforderte Verstärkung der Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft sollte nicht aus
ideologischen Gründen abgelehnt werden. Besonders im
Bereich der beruflichen Bildung können Unternehmen
einen bedeutenden Beitrag leisten.
Bildung ist nicht nur ein entscheidendes Feld in der
Entwicklungspolitik, sondern auch ein Menschenrecht.
Unser Antrag aus dem letzten Jahr und die kommende
Bildungsstrategie aus dem Ministerium bilden den besten Weg, um Bildung als Menschenrecht durchzusetzen.
Es freut mich außerordentlich, dass Sie das nach so langer Regierungszeit, in der Sie das BMZ geführt haben,
nun genauso sehen wie wir. Sie stimmen sogar bei der
Frage der Umsetzung der Ziele im Großen und Ganzen
mit Union und FDP überein. Lassen Sie uns daher gemeinsam an einer Verbesserung der Zukunftschancen
von Menschen in Entwicklungsländern arbeiten.
({7})
Wir können Ihrem Antrag jedoch nicht zustimmen;
denn wir haben vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag
fordern, bereits erreicht.
({8})
Danke schön.
({9})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Ute Koczy vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Warum muss man eigentlich immer noch auf
die Bedeutung der Bildung hinweisen? Ist das nicht
längst ein Selbstläufer? Wir kennen die Antwort: Nein,
Bildung ist kein Selbstläufer; sie ist und bleibt ein Politikum. Wir vom Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit wissen: Wenn wir die Bildungsziele wirklich bis
2015 erreichen wollen, dann müssen massiv Mittel nachgelegt werden. Frau Kollegin Ratjen-Damerau, das ist
- anders als Sie es ganz am Ende Ihrer Rede gesagt haben - noch nicht erreicht. Da muss noch viel mehr kommen; deswegen diskutieren wir heute darüber.
({0})
Das BMZ hat im März dieses Jahres eine Bildungsstrategie vorgelegt, doch sie verdient den Namen „Strategie“ nicht wirklich; denn es bleibt unklar, durch
welche Maßnahmen die Ziele erreicht und wie diese finanziert werden sollen. Es gibt keine Indikatoren und
keine konkreten Zahlen. Auch im Hinblick auf die Ziele
der Strategie stellen wir fest, dass wesentliche Elemente
fehlen. Jetzt haben wir gehört, dass nachgebessert wird;
denn - man höre und staune - das Ministerium hat vergessen, das Gender Gap zu thematisieren. Mädchen- und
Frauenförderung ist - das wird wahrscheinlich noch bis
zum Herbst so sein - kein eigenständiges Ziel der BMZBildungsstrategie. Deswegen hat die SPD recht, wenn
sie das kritisiert.
({1})
Ich frage: Wie will das Ministerium ohne ein solches Bekenntnis dafür sorgen, dass Mädchen und Frauen gefördert werden? Diese Chance ist vertan worden. Es freut
mich natürlich, zu hören, dass das BMZ an dieser Stelle
nachbessern will; denn wir brauchen eine klare Genderperspektive im Bildungssektor.
Dieses Problem besteht nicht nur in der Grundbildung, sondern setzt sich in der Sekundarbildung fort.
Wir sehen, dass das BMZ Wert auf die Grundbildung
legt. Es legt auch Wert auf Hochschulbildung und Wissenschaft. Der Fokus wird aber nicht auf die Sekundarbildung gerichtet. Das heißt, dass auch hier massiv nachgebessert werden muss. Ich erwarte vom Ministerium,
dass auch diese eklatanten Mängel ausgebessert werden.
Ein weiterer Punkt: Es fehlt der Bezug zur FastTrack-Initiative. In der Bildungsstrategie des BMZ wird
angekündigt, dass Deutschland diese Reform vorantreiben will. Das ist angesichts der strukturellen Schwächen
und Verschleißerscheinungen der Fast-Track-Initiative
natürlich zu begrüßen. Klar ist aber auch, dass es finanzielle Engpässe gibt. In der Strategie findet man aber
nichts darüber, wie man im Rahmen des Haushaltsentwurfs diese Lücken schließen will. Das kritisieren wir.
Anfang September, anlässlich des Weltbildungstages,
konnten wir von Minister Niebel hören, Deutschland sei
der zweitgrößte Geber im Bildungsbereich. Gucken wir
doch einmal genauer hin: Kommt die Bundesregierung
ihren internationalen Verpflichtungen tatsächlich nach?
Wir stellen fest, dass ein großer Teil der deutschen
ODA-Quote aus Studienplatzkosten für Studierende aus
Entwicklungsländern besteht. Das begrüßen wir zwar
grundsätzlich; das heißt aber auch, dass dieses Geld
nicht in die eigentliche Bildungsförderung geht. Das ist
falsch. Das ist verkehrt.
({2})
Zum Antrag der SPD: Sie hätten aus den zuvor genannten Gründen in Ihrem Antrag deutlicher Kritik an
der Bildungsstrategie des BMZ üben können. Das ist
aber kein Grund, den Antrag jetzt abzulehnen. Weil wir
hinsichtlich Analyse und Forderungen übereinstimmen,
werden wir zustimmen.
Der Zugang zu Bildung weltweit und insbesondere
die Qualität der Bildung müssen verbessert werden. Da
sind wir uns, glaube ich, einig. Sie müssen aber mehr für
die Mädchen und die Frauen tun. Im Ausschuss wurden
heute Morgen einige Beispiele aus der Praxis genannt,
zum Beispiel getrennte Schultoiletten. Es wurde auch
darauf hingewiesen, dass - es war erschreckend, das
festzustellen - die Menstruation ein Hindernis für die
Mädchen darstellt, die Sekundarschule zu besuchen,
weil sie keine Möglichkeit haben, in diesem Zustand in
die Schule zu gehen. Es gibt Vorschläge, wie man dieses
Problem lösen kann.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie sehen: Es gibt viele Chancen, mehr zu tun. Fakt
ist: Wir müssen sie nutzen. Packen Sie es an! An das
BMZ gerichtet, sage ich: Im Herbst haben Sie noch eine
Chance. Setzen Sie das, was Sie versprochen haben,
auch um.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6484 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/7021 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sabine Weiss von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am Wochenende bin ich in meinem Freundeskreis gefragt worden,
welche Initiativen aus meinem Bereich, der Entwicklungspolitik, als Nächstes anstehen. Ich habe dann von
unserem gemeinsamen Antrag zur Einrichtung eines
Weltmädchentages der Vereinten Nationen berichtet. Ich
habe geschildert, wie desolat und schlimm die Lebensbedingungen vieler Mädchen und junger Frauen in Teilen dieser Welt sind, wie sie benachteiligt werden und
wie groß die Gewalt ihnen gegenüber ist. Ich habe von
Zwangsverheiratung, von fast 15 Millionen Teenagerschwangerschaften, von mangelndem Zugang zu Bildung und zu Gesundheitsversorgung berichtet. Ich habe
auch davon berichtet, dass 150 Millionen Mädchen unter
18 Jahren ihre ersten sexuellen Kontakte unter Anwendung von Gewalt erleben müssen.
Meine Schilderungen der Situation von Mädchen
wurden mit Entsetzen und der Aufforderung „Da muss
aber dringend etwas getan werden“ aufgenommen. Dann
wurde mir aber die Frage gestellt: Was wird sich an der
Lebenssituation von Mädchen ändern, wenn es nun - neben all den anderen Tagen - auch noch einen UN-Mädchentag gibt? Wir können uns nicht vorstellen, dass auch
nur ein Mädchen mehr aufgrund eines solchen Tages zur
Schule geht. Das ist doch wieder alles nur Symbolpolitik. - Bei dieser Bemerkung habe ich angesichts der Offenheit erst einmal geschluckt. Im Kern ist etwas Wahres
daran. Ein UN-Tag für die Rechte von Mädchen darf
nicht zu reiner Symbolik verkommen. Wir brauchen
ohne Zweifel einen UN-Mädchentag, aber als ersten
Schritt. Seine bloße Existenz allein wird nicht das Ende
des Leidens von vielen jungen Frauen und Mädchen
markieren.
Ich hoffe sehr, dass es gelingt, den 22. September zum
UN-Mädchentag zu deklarieren.
({0})
Es wäre ein erster und wichtiger Sieg im Sinne von mehr
Aufmerksamkeit für die sehr schwierige Lebenssituation
vieler Mädchen. Aber nur wenn wir es schaffen, diesen
Tag mit Leben zu füllen, wird er sein eigentliches Ziel
erreichen. Das Bewusstsein weltweit muss geschärft
werden, damit sich im Leben vieler Mädchen etwas zum
Guten verändern kann. Wir können hier im Deutschen
Bundestag keine Gesetze erlassen, die Genitalverstümmelung weltweit verbieten oder Zwangsverheiratung
von Mädchen in anderen Ländern unter Strafe stellen.
Aber wir können dafür sorgen, dass die Rechtlosigkeit
und die Unterdrückung von Mädchen ein Stück mehr ins
Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Das tun wir heute
und hier mit unserer Debatte und der Forderung nach einem UN-Mädchentag.
Ich habe leider nicht die Zeit, auf alle im Antrag geschilderten Missstände und Benachteiligungen von Mädchen weltweit einzugehen. Damit würde ich wohl - sehr
zum Missfallen des Präsidenten - meine Redezeit um ein
Vielfaches überschreiten. Daher möchte ich heute Abend
einen Punkt herauspicken. Weltweit sind schätzungsweise 150 Millionen Frauen genitalverstümmelt. Jedes
Jahr kommen 3 Millionen Mädchen hinzu. Genitalverstümmelung ist eine furchtbare Menschenrechtsverletzung, unter der die Opfer physisch und psychisch ihr
Leben lang leiden. Viele Mädchen überleben diese Prozedur erst gar nicht.
Ich habe vor einiger Zeit einen Aufklärungsfilm über
Genitalverstümmelung gesehen. Der Film zeigt dieses
tagtäglich an Mädchen begangene Verbrechen mit scho14886
Sabine Weiss ({1})
nungsloser Offenheit. In einer Szene wird ein Mädchen
von seiner eigenen Mutter festgehalten, damit eine Frau,
bewaffnet mit einer schmutzigen Rasierklinge, ihr blutiges Geschäft vollenden kann. Danach näht diese Frau
das Mädchen wie ein Stück gerissenen Stoff zu. Die ins
Mark gehenden Schreie dieses Mädchens verfolgen
mich noch heute. Diese barbarische Tortur müssen jedes
Jahr 3 Millionen Mädchen erleiden. Wenn ich mir das
vorstelle, dann finde ich, dass es höchste Zeit ist, durch
einen UN-Mädchentag mehr Aufmerksamkeit auf diese
furchtbare Praxis zu richten.
({2})
Da muss der Finger in die Wunde gelegt werden, und
zwar permanent, damit das Bewusstsein für das, was
man Töchtern und Ehefrauen durch Genitalverstümmelung antut, wächst. Es gibt noch viel zu viele Länder, in
denen diese grausame Menschenrechtsverletzung aufgrund irgendwelcher Traditionen an der Tagesordnung
ist. Wenn ein UN-Mädchentag helfen kann, dieses Bewusstsein zu schärfen, dann brauchen wir diesen Tag
eher heute als morgen.
Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an die
Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für Bevölkerung und Entwicklung der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung. Dieser Beirat beschäftigt sich mit Themen
wie der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und den
Rechten von Frauen und Mädchen. In diesem überfraktionellen Beirat wurde auch die Idee zu diesem Antrag
geboren. Meine geschätzte Kollegin Frau Roth hat dann
einen ersten Entwurf erarbeitet. Auch dafür meinen
herzlicher Dank!
Dass es dieser Antrag hier und heute ins Plenum des
Deutschen Bundestages geschafft hat, freut mich sehr.
Es wundert mich aber auch nicht; denn in dem Beirat arbeiten wir überfraktionell sehr gut und konstruktiv zusammen. Die unterschiedlichen Fraktionen sind ja sonst
in manchen bis vielen Dingen unterschiedlicher Meinung; das zeigt sich auch in entsprechend kontroversen
Diskussionen hier im Plenum. Aber unser gemeinsamer
Antrag zeigt, dass wir auch an einem Strang ziehen und
gemeinsam für eine Sache eintreten können.
Die Einrichtung eines UN-Mädchentages ist ein erstrebenswerter erster und wichtiger Schritt und damit
keine Symbolpolitik. Es ist an uns allen, diesen Tag,
sollte er - hoffentlich - kommen, mit Leben und Aufmerksamkeit zu füllen; denn nur so kann er sein Ziel erreichen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Karin Roth von der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute einen gemeinsamen Antrag zur Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen.
Kollegin Weiss hat gerade sehr eindrücklich geschildert,
wie wichtig es ist, dass wir hierzu eine gemeinsame Verabredung treffen. Wir müssen in der Welt deutlich machen, dass wir die unterschiedlichen Initiativen, die es
bereits gibt, unterstützen. Ich bin sehr froh, dass es zwischen uns - bei allen Unterschieden - viele Gemeinsamkeiten gibt und dass wir dies auch zum Ausdruck bringen. Die vorangegangene Debatte, in der deutlich wurde,
dass wir das Thema Bildung in den Mittelpunkt rücken
und die damit verbundenen Herausforderungen bewältigen müssen, war ein Beweis dafür, dass wir noch viele
Initiativen ergreifen müssen, um auf diesem Gebiet voranzukommen.
Im Hinblick auf die Frage „Handelt es sich hierbei um
Symbolik oder ist das ein notwendiger Schritt?“ sollten
wir Frauen uns unsere eigene Situation bewusst machen.
Auch wir Frauen haben unsere Erfolge nicht von heute
auf morgen erzielt. Es bedurfte eines Frauentages und einer Frauenbewegung, um erfolgreich zu sein. Wir alle
haben uns zusammengeschlossen und gemeinsam gekämpft.
({0})
Es geht darum, das Bewusstsein der Frauen in den betreffenden Ländern zu schärfen, Aufklärung zu organisieren und den Frauen Mut zu machen, aus ihrem Teufelskreis herauszukommen. Das gilt nicht nur für das
Thema Genitalverstümmelung - hier bin ich voll und
ganz Ihrer Meinung -, sondern auch auf anderen Gebieten. Mit der Einrichtung eines Weltmädchentages ist die
große Aufgabe verbunden, Aufklärung zu organisieren,
den Mädchen Mut zu machen, für ihre Rechte zu kämpfen und überall dort, wo es brennt, den Finger in die
Wunde zu legen.
Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, dass
dieses Thema viele Facetten hat. In Nepal gibt es Mädchen aus dem Stamm der Kamalari, die schon mit sechs
Jahren verkauft werden. Eines dieser Mädchen schrieb
- das möchte ich zitieren -:
Meine Kindheit war zu Ende, als ich sechs Jahre alt
war. Da verkauften mich meine Eltern per Handschlag für 120 Euro nach Kathmandu. Man hatte
mir versprochen, dass ich zur Schule gehen würde.
Aber ich wurde als Dienerin verkauft und nicht als
Schülerin.
Mein Arbeitstag beginnt morgens um vier - Putzen,
Kochen, Waschen -, und oft werde ich geschlagen.
In Nepal ist Kinderhandel verboten - theoretisch.
Praktisch findet er dort aber jeden Tag statt. Ich selbst
habe mit Mädchen in Kathmandu gesprochen, die das alles erlebt haben.
Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den Gesetzen
und deren Einhaltung. Das kennen wir auch von unserer
Karin Roth ({1})
Republik. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Mädchen sind Sklavinnen. Sie
sind diejenigen, die dienen und die misshandelt und sexuell missbraucht werden - millionenfach. Allein das ist
ein Grund dafür, einen UN-Tag für Mädchen einzuführen; denn Menschenrechte gelten für alle, für Männer
und Frauen gleichermaßen. Die Ausbeutung und Benachteiligung von Mädchen geschieht aber, ohne dass es
einen großen Protest gibt.
Die Geringschätzung von Mädchen und Frauen hat
tiefe Wurzeln. Das haben wir heute Morgen auch diskutiert. Grund dafür sind die kulturellen Denkweisen, die
Traditionen und die religiösen Überzeugungen, nach denen Mädchen und Frauen gegenüber Jungen minderwertig sind. Diese Schranke zu durchbrechen, diese kulturelle Barriere zu überwinden, die mehr oder weniger
dazu führt, dass Mädchen in diesen Gesellschaften so
behandelt werden, ist das Komplizierteste, was wir uns
mit diesem Weltmädchentag der Vereinten Nationen vornehmen.
Deshalb verlangen wir nichts weniger als den Versuch, das Miteinander in diesen Gesellschaften zu verändern. Dazu können wir nicht in allen, aber in vielen
Bereichen beitragen. Es gibt wirklich Dinge, die gleichzeitig angepackt werden müssen - eben nicht nur die
Bildung, sondern vieles zusammen -, und zwar mit vereinten Kräften.
Wir wissen - das haben wir schon gehört -, dass gebildete Mädchen später gebären und vor allen Dingen
weniger Kinder haben. Wenn sie ausgebildet sind, sind
sie produktiver und auch selbstbewusster. Meine Kollegin Kofler hat es schon gesagt: Die besser Ausgebildeten
tragen stärker zum Bruttosozialprodukt bei. Auch aufgrund des Berichtes der Weltbank ist klar: Bildung lohnt
sich auf jeden Fall - nicht nur für die Mädchen, sondern
auch für die Gesellschaft.
Wir wissen, dass 70 Prozent der mehr als 1 Milliarde
Menschen, die heute hungern, weiblich sind. Auch das
zeigt, dass Mädchen besonders betroffen sind.
Frau Kollegin Kofler, Sie haben es gesagt: 100 Millionen Mädchen sind von Kinderarbeit betroffen, weshalb sie gar nicht zur Schule gehen können. Auch das
muss gesehen werden. Deshalb brauchen wir auch Maßnahmen dafür, dass Mädchen lernen können und nicht
arbeiten müssen.
Nicht zu vergessen sind auch die HIV-Infektionen, die
Frauen und insbesondere junge Mädchen betreffen, die
Müttersterblichkeit und die 6 Millionen ungewollten
Teenagerschwangerschaften jedes Jahr, von denen viele
mit Abtreibungen und erheblichen gesundheitlichen Folgen verbunden sind.
Es geht also darum, große Tabus in diesen Ländern zu
brechen. Hier müssen wir mithelfen. Wenn Mädchen
zum Beispiel nicht aufgeklärt werden, dann führt das
dazu, dass sie keine entsprechende Prävention betreiben
können.
Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es herrscht eine
große Doppelmoral, wenn man einerseits die Millionen
Opfer von HIV/Aids und der Müttersterblichkeit beklagt, aber andererseits nicht das Notwendige dagegen
tut. Das Notwendige zu tun, heißt aus meiner Sicht, dass
wir im Rahmen unserer Entwicklungspolitik dafür sorgen müssen, dass die Mädchen trotz der päpstlichen Anweisung einen kostenlosen Zugang zur Aufklärung und
zu Verhütungsmitteln haben.
({2})
Das ist eine entscheidende Maßnahme; denn es geht darum, dass man nicht nur die Zustände beschreibt, sondern auch die Wege öffnet, statt sie zu verschließen.
Deshalb wundert es mich doch schon sehr, Frau Kollegin Kopp, dass die Bundesregierung die Mittel für den
Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, UNFPA,
dessen Schwerpunkt das Thema Familienplanung ist, um
9 Prozent reduziert, anstatt wenigstens das zu erhalten,
was im vergangenen Jahr in diesem Bereich ausgegeben
worden ist.
Aber heute geht es um Gemeinsamkeiten. Meine Kollegin Weiss hat das Thema Genitalverstümmelung angesprochen, und es gibt weitere Themen.
Ich denke, es kommt darauf an, dass die Würde der
Mädchen, die Unversehrtheit des Körpers und die Frage
der Vergewaltigung von Mädchen genauso in den Blick
genommen werden wie alle anderen Dinge auch. Wir
wollen mit diesem Mädchentag dazu beitragen, dass sich
am Ende der Blickwinkel in den Ländern verändert.
Ich wünsche mir, dass wir uns gemeinsam dafür engagieren, dass kein Mädchen auf der Welt mehr ausgebeutet, ignoriert, verletzt, unterdrückt, gegen ihren Willen
verheiratet, zwangsprostituiert oder verkauft wird. Wenn
es uns mit diesem Mädchentag gelingt, hier eine stärkere
Aufmerksamkeit zu erreichen und die Welt ein Stück
weit zu verändern, dann lohnt es sich, für diesen Tag
nicht nur zu kämpfen, sondern ihn in allen Bereichen mit
unserem Geld, unserem Engagement, unserem Wissen
und unserer Kompetenz anständig zu unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Für die FDP hat jetzt die Kollegin Helga Daub das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Ein Weltmädchentag der Vereinten
Nationen? Ja, wir halten dies für eine wichtige und gute
Initiative - so gut, dass wir einen fraktionsübergreifenden gemeinsamen Antrag formuliert haben. An dieser
Stelle möchte ich allen ganz herzlich danken, die daran
mitgewirkt haben.
Einige werden sich natürlich fragen, warum wir einen
Weltmädchentag fordern. Es gibt doch schon zu vielen
Themen und Anlässen, die Kinder betreffen, besondere
Tage, entsprechende UN-Konventionen und Resolutionen. Wir haben in Deutschland auch eine Kinderkommission, was begrüßenswert und sinnvoll ist.
Obwohl wir uns Gott sei Dank mittlerweile viel intensiver mit den Rechten und dem Wohlergehen von Kindern beschäftigen, zeigt die Wirklichkeit, dass gerade
Mädchen und junge Frauen noch stärkerer Beachtung
bedürfen.
Zwar sind wir in der sogenannten entwickelten Welt
in den letzten Dezennien schon ein ganzes Stück vorangekommen. Frau Roth, Sie haben gesagt, dass noch viel
zu tun sei. Das ist richtig. Auch wissen wir, welch wertvolles und letztlich unverzichtbares Potenzial Mädchen
und junge Frauen haben und dass sie eine Bereicherung
für die Gesellschaft sind.
Bei uns ist es noch gar nicht so lange her, dass es
hieß: Mädchen brauchen doch keine höhere Bildung. Sie
heiraten am Ende ja doch. - In der Regel führte das dann
geradewegs allenfalls in eine Hauswirtschaftsschule.
Nicht, dass ich das herabwürdigen möchte, aber die höhere Bildung blieb den Mädchen dann verschlossen. Ich
denke, dass es auch hier Kolleginnen gibt, die diese Geisteshaltung wie ich noch miterlebt haben. Heute müssen
wir - jedenfalls bei uns - viel eher aufpassen, dass nicht
kleine Jungen die Bildungsverlierer sind; das aber nur
am Rande. Unser Antrag bezieht sich auf Mädchen, die
in Gesellschaften leben, die ein völlig anderes Verständnis von der Rolle von Mädchen und jungen Frauen haben. In aller Regel ist dieses Verständnis traditionell bedingt.
Häufig genug finden wir dieses Verhaltensmuster in
weniger entwickelten, armen Ländern. Bildung, wenn
überhaupt, kommt in diesen Ländern oft genug nur den
Jungen zugute. Im Bildungsbereich haben wir in einigen
Ländern schon gute Fortschritte erzielt. Auch bei dem
anderen Antrag - dies haben meine Vorrednerinnen
schon gesagt - ist noch viel zu tun. Das werden wir machen.
Bildung bedeutet Aufklärung, Wissen und Bewusstsein, damit die nächsten Generationen von Mädchen mit
mehr Rechten und unter größerem Schutz vor alltäglicher Unterdrückung und Gräueltaten aufwachsen können.
Es darf nicht einfach hingenommen werden, dass
Mädchen zum Beispiel zwangsverheiratet werden, zur
Prostitution gezwungen werden oder sogar - auch davon
haben wir eben gehört - verkauft werden. Mädchen haben genau wie Jungen Rechte und Würde. Sie sind keine
Ware.
({0})
Traditionen sind durchaus oft etwas Gutes, Bewahrenswertes. Es gibt aber Traditionen, die mit unserem
Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten
völlig unvereinbar sind. Genitalverstümmelungen sind
ein furchtbares Beispiel für eine solche Tradition, die
Ächtung verdient, Ächtung in aller Konsequenz. Es darf
nicht reichen, dass Staaten dieses grausame Ritual zwar
gesetzlich verbieten, eine Mehrheit der Gesellschaft in
diesen Staaten es aber duldet, weil es eben Tradition ist.
Um dieses und um weitere wichtige Grundlagen wie
Gesundheit und Familienplanung ins Bewusstsein der
Menschen zu bringen, fordern wir die Einrichtung eines
Weltmädchentages der Vereinten Nationen am 22. September.
Wir alle wissen um die gesundheitlichen Probleme
von Mädchen und Frauen in vielen Ländern. Sie bekommen zum Beispiel schon sehr früh Kinder, zu einer Zeit,
in der sie selber noch Kinder sind. Neben allen gesundheitlichen Problemen, die sich daraus ergeben, kommt
häufig hinzu, dass sie noch nicht einmal ausreichend
Nahrung für diese Kinder haben. Die Zahl der HIV-Infektionen bei Mädchen und jungen Frauen ist sehr viel
höher als bei Jungen und jungen Männern. Deshalb ist
hier Aufklärung sehr wichtig. Will man den Teufelskreis
von Armut durchbrechen, sind Aufklärung, Bildung und
das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen unabdingbar.
Die Weltbank hat am Montag in Washington ihren
diesjährigen Weltentwicklungsbericht veröffentlicht.
Der Bericht der Weltbank fasst diese Problematik sehr
gut und konkret zusammen, zeigt aber auch Beispiele
und Wege auf, wie sich die Landschaft der Entwicklungsländer verändern könnte, wenn es mehr Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit gäbe.
In den Entwicklungsländern „fehlen“ demnach geschätzte 3,9 Millionen Frauen in jedem Jahr, weil Mädchen eine höhere Sterblichkeitsrate aufweisen, weil sie
wegen einer Präferenz für Söhne nie geboren werden
oder später als Mütter im Kindbett sterben. Der Bericht
nennt noch weitere konkrete Beispiele. Ich möchte nur
zwei aus der Landwirtschaft ausführen.
Wenn Bäuerinnen dieselben Voraussetzungen und
Möglichkeiten wie Bauern hätten, könnte die Maisernte
in Malawi um 11 Prozent und in Ghana sogar um 17 Prozent gesteigert werden. Oder: Die UN-Organisation für
Ernährung und Landwirtschaft schätzt, dass die landwirtschaftlichen Erträge in Entwicklungsländern um 2,5
bis 4 Prozent wachsen würden, wenn Bäuerinnen denselben Zugang zu Ressourcen wie Bauern hätten. Diese Zusammenhänge gilt es, bewusst zu machen. Auch deshalb
fordern wir den Weltmädchentag der Vereinten Nationen.
Natürlich wäre es mit der Ausrufung eines solchen
Tages allein nicht getan. Wir brauchen Aktionen, und
zwar nicht nur bei uns, sondern gerade auch in den Ländern, in denen wir diese Traditionen aufbrechen wollen.
Das ist auf jeden Fall eine schwere Aufgabe. Aber ein
chinesisches Sprichwort lautet: Auch der längste Weg
beginnt mit einem kleinen Schritt. - Ein Schritt wäre die
Einführung eines Weltmädchentages am 22. September.
Danke.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
möchte aus aktuellem Anlass hier erst einmal meinen
Protest äußern. Ich komme gerade von einer Demonstration am Brandenburger Tor, wo sich viele Menschen versammelt haben, die gegen die anstehende Hinrichtung
von Troy Davis demonstrieren. Dieser US-Amerikaner
wird, wenn nichts mehr passiert, in wenigen Stunden,
um 1 Uhr unserer Zeit, mit einer Giftspritze hingerichtet
werden. Ich finde es einen Skandal, dass es dazu vom
Bundestag leider keinen Protest gab.
Ich frage auch die Bundesregierung, was sie gemacht
hat, um sich für das Leben von Troy Davis einzusetzen.
Ich fordere für unsere Fraktion die sofortige Aussetzung
der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy Davis.
({0})
Für uns ist die Todesstrafe inakzeptabel, egal in welchem Land. Sie ist für uns staatlicher Mord. Wenn wir
hier von Menschenrechten sprechen - es war gerade viel
von Menschenrechten die Rede -, dann ist es unsere
Aufgabe als Bundestag, ein starkes Signal zu geben und
uns dafür einzusetzen, dass diese Hinrichtung nicht stattfindet. Der Antrag unserer Fraktion, in dem wir die Aussetzung der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy
Davis gefordert haben, ist leider von allen anderen Fraktionen abgelehnt worden ist.
({1})
Weil nur noch wenige Stunden bleiben und momentan
viele Menschen in vielen Ländern weltweit auf die
Straße gehen, um ein letztes Signal gegen die Hinrichtung zu setzen, möchte ich aus diesem aktuellen Anlass
auch vom Bundestag ein Signal aussenden: Wir fordern
die Begnadigung und Freilassung von Troy Davis, der
seit mehr als 20 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt.
({2})
Auch Amnesty International hat den Prozess kritisiert.
Ich bitte Sie aber, jetzt zum Tagesordnungspunkt zu
sprechen.
Herr Präsident, ich denke, Menschenrechte müssen
im Bundestag einen breiten Raum einnehmen.
({0})
Ich komme jetzt zum Weltmädchentag.
({1})
Prinzipiell unterstützen wir eine solche Initiative. Ich
muss dazusagen: Es wurde von keiner Fraktion erwähnt,
dass wir nicht angesprochen wurden, an diesem Antrag
mitzuarbeiten. Wir halten auch das für ein völlig undemokratisches Vorgehen. Ich finde, es ist kein Aushängeschild für die Grünen und die SPD, dass sie ständig bei
einer solchen Ausgrenzung mitmachen.
({2})
Das ist der erste Punkt.
Zweitens. Wir unterstützen im Prinzip die Initiative
für einen Weltmädchentag, aber es steht auch sehr viel
Symbolpolitik dahinter. Ich finde diese Kritik berechtigt.
Wir haben zum Beispiel heute den Internationalen
Tag des Friedens, den Weltfriedenstag der Vereinten Nationen. Wer hat ihn erwähnt, oder wer hat irgendeine Initiative entwickelt? Das heißt, es handelt sich um Symbolpolitik, wenn Politik nicht konkret gestaltet wird, um
die Rechte von Mädchen durchzusetzen. Das sind grundlegende Menschenrechte.
({3})
An diesem Antrag kritisieren wir genau das, was auch
Sie, Frau Roth und Frau Daub, gemacht haben: Sie heben sehr stark auf die kulturellen und religiösen Traditionen ab, die zur Verletzung von Mädchen- und Frauenrechten führen. Das stimmt, aber der zugrunde liegende
Hauptfaktor ist die extreme Armut.
({4})
Meinen Sie allen Ernstes, Eltern verkaufen gerne ihre
Kinder? Die extreme Armut zwingt sie dazu. Deswegen
müssen wir eine Politik entwickeln, die Armut bekämpft, statt noch mehr Armut zu produzieren.
({5})
Für uns sind die sozialen Rechte und ihre Durchsetzung elementar, weil sie den Zugang zu Bildung und Gesundheit ermöglichen und dadurch viele progressive
Prozesse entstehen, die zur Aufklärung und Emanzipation führen. Diese sozialen Rechte können nur dann umgesetzt werden, wenn es zum Beispiel soziale Sicherungssysteme gibt, sowohl in den Entwicklungsländern
als auch in Europa.
Um diesen Kampf geht es. Wir brauchen den Kampf
um die sozialen Rechte weltweit. Sie sind der beste Beitrag zur Umsetzung von Frauen- und Mädchenrechten.
({6})
Das Wort hat jetzt Uwe Kekeritz für Bündnis 90/Die
Grünen.
Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Ich
möchte kurz auf Frau Hänsel eingehen, die uns gerade
vorgeworfen hat, dass ihre Fraktion nicht involviert war.
Der Vorwurf ist auch speziell gegen die Grünen und die
SPD gerichtet worden. Ich möchte ganz klar betonen,
dass ich sehr wohl einige Mitglieder der Fraktion Die
Linke angesprochen und vorgeschlagen habe, den Antrag gemeinsam zu machen: Wenn wir das machen, dann
finden wir auch einen Weg und eine Lösung. - Darauf
kam aber keine Reaktion. Deswegen haben wir das dann
anders gemacht.
({0})
- Von euch wurde noch nicht einmal ein entsprechender
Versuch unternommen. Das ist natürlich nicht nur Sache
der Grünen oder der Sozialdemokraten, sondern auch
der Linken. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
({1})
- Darüber reden wir nachher.
Der Antrag auf Einrichtung eines Weltmädchentages
geht auf eine gemeinsame Initiative zurück. Das macht
mich so entspannt. Es ist schön, einen Antrag vorliegen
zu haben, dem alle zustimmen können. Frau Weiss hat
die Frage gestellt: Bringt denn ein weiterer Tag noch etwas? Es gibt schon so viele Tage, die wir nicht kennen.
Ist das nicht reine Symbolpolitik? - Ich denke, dass ein
Weltmädchentag durchaus das Potenzial hat, irgendwann
einmal mit dem Internationalen Frauentag verglichen zu
werden. Das wird nicht von heute auf morgen gehen.
Aber zwischen Mädchen- und Frauenpolitik ist ohnehin
nicht zu trennen.
Ein Weltmädchentag hat auf jeden Fall enormes
Potenzial, gefeiert und zelebriert zu werden. Es wird die
Möglichkeit bestehen, an einem solchen Tag bestimmte
Mädchenthemen anzusprechen. Solche Themen haben
Frau Roth, Frau Weiss und Frau Daub ausreichend angesprochen. Ich möchte nicht noch mehr zum Thema Genitalverstümmelung sagen. Dieses Thema kann und wird
aufgegriffen werden. Es wird die Köpfe der Menschen
erreichen und in das Bewusstsein dringen.
Der Fokus muss in Zukunft ganz klar darauf gerichtet
sein, dass Frauen- und Mädchenpolitik zusammengehören. Die Mädchen müssen schon von klein auf gefördert
werden; denn die Frauen sind - das ist mein Lieblingszitat - die Trägerinnen der Entwicklung.
({2})
Das ist schon längst statistisch belegt; noch heute Morgen haben wir darüber diskutiert. Es ist klar belegt, dass
Bildung auf den demografischen Faktor und den Lebensstandard von Familien Einfluss hat, sogar volkswirtschaftlich positiv wirkt und die Voraussetzung für die
Zukunftsfähigkeit ist.
Eine junge Frau, die eine grundlegende Schulausbildung hat, wird wesentlich später Kinder bekommen. Sie
wird im Durchschnitt 2,2 Kinder weniger bekommen.
Sie trägt zudem durch ein höheres Einkommen und größere berufliche Freiheiten zum volkswirtschaftlichen
Wachstum bei. Dieses Wachstum ist anders zu bewerten
als das Wachstum, welches üblicherweise zugrunde gelegt wird. Wenn ein Land Öl verkauft, schießt das
Wachstum natürlich in die Höhe. Aber in der Regel hat
die Bevölkerung nichts davon. Wenn Bildungspolitik bei
Mädchen und Frauen ansetzt, dann verteilt sich das
Wachstum gleichmäßiger; das ist sehr positiv.
Warum Frauen Trägerinnen der Politik sind, ist klar.
Es ist aber absolut negativ zu bewerten, dass die Weltgemeinschaft zwischen 1960 und 2000 dies im Prinzip
nicht erkannt hat. Das ist der eigentliche Skandal in der
gesamten Entwicklungspolitik. Das ist nicht nur meine
These, sondern auch die der Weltgemeinschaft. Mit den
Millenniumszielen wurde dieses Manko im Prinzip beseitigt; denn dort steht die Frauenförderung ganz oben
auf der Agenda. Beim Millenniumsziel 2 geht es um die
besondere Berücksichtigung der Situation der Frauen.
Die Millenniumsziele 4, 5 und 6, bei denen es um die
Gesundheit geht, beinhalten auch Frauenthemen.
Ich möchte zum Schluss noch etwas Positives sagen.
Herrn Niebel stimme ich grundsätzlich nicht zu. Aber
jetzt muss ich ihn loben; Frau Kopp, teilen Sie ihm das
bitte mit. Er hat nämlich inzwischen schriftlich zugesagt,
dass er sich auf UN-Ebene für die Einrichtung eines
Weltmädchentages verwenden wird. Herzlichen Dank.
Ich hoffe, dass er wirklich aktiv dabei ist.
Danke schön.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Niema Movassat von der Fraktion Die Linke.
Danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Richtigstellung sei mir an dieser Stelle gestattet; denn das, was Sie gesagt haben, lieber Herr Kollege Kekeritz, kann man so nicht stehenlassen. Es ist
richtig, dass Sie uns den Vorschlag gemacht haben, einen
eigenen wortgleichen Antrag einzubringen und so CDU/
CSU und FDP dazu zu bringen, für diesen Antrag zu
stimmen. Aber das sind Kinderspiele, an denen wir uns
nicht beteiligen wollen. Entweder wir werden in ein solches Verfahren vernünftig einbezogen oder gar nicht,
aber es gibt kein Zwischending.
({0})
Es ist allen hier im Hause bekannt, dass CDU und
CSU aus einer ideologischen Verbohrtheit heraus es
selbst bei solchen Themen ablehnen, gemeinsame AnNiema Movassat
träge zu stellen. Das ist doch die Realität. Solange das so
ist und Sie von den Grünen und von der SPD sich auf
diese Spiele einlassen, wird es keine gemeinsamen Initiativen des ganzen Hauses geben. Das zeugt letztlich
von Ihrem mangelnden Selbstbewusstsein.
Danke schön.
({1})
Möchten Sie erwidern, Herr Kekeritz? - Bitte schön.
Ich bin davon überzeugt - jetzt wisst ihr, mit wem ich
gesprochen habe -, dass wir bei diesem Thema durchaus
gemeinsam hätten aktiv werden können. Ich hatte ganz
klar den Eindruck, dass vonseiten der Linken diesbezüglich nichts kommt.
Ich teile grundsätzlich deine Kritik und verstehe deinen Wunsch, dass ihr vernünftig einbezogen werden
wollt, wenn es dafür gute Argumente gibt. Ich teile die
Kritik auch aufgrund der Erfahrung der Grünen. Ich
weiß genau, wie mit den Grünen vor 20, 25 Jahren in
den Parlamenten umgegangen wurde. Wir haben das damals kritisiert, und ich finde, dass auch heute eine Kritik
an dieser Vorgehensweise durchaus berechtigt ist.
({0})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Frühjahr hatte ich die Gelegenheit, nach
Afghanistan zu reisen, dort mit der Zivilbevölkerung in
Kontakt zu kommen und mit vielen Menschen zu sprechen. Was mich dort am meisten beeindruckt hat, waren
die Mädchen. Die Erinnerungen an den Besuch einer
Schule in Masar-i-Scharif sind das Erste, was mir einfällt, wenn ich an die Begegnungen vor Ort zurückdenke. Die Begeisterung, mit der die Mädchen dort in
den über 40 Grad heißen Zelten saßen, die als Schulraum
dienten, die Art und Weise, wie sie von ihren Zukunftsplänen berichteten, war überwältigend. Ihre Botschaft
war: Wir wollen lernen, wir wollen unser Leben selbst in
die Hand nehmen, und wir wollen eines: Wir wollen unser von Kriegen zerfressenes Land gemeinsam aufbauen,
in Freundschaft mit anderen Völkern und Nationen. Wir,
die Mädchen und Frauen, sind dabei ganz entscheidend.
An diese Mädchen wollen wir heute mit unserer Debatte zum Weltmädchentag der Vereinten Nationen denken. Ich freue mich sehr, dass wir dieses in großer Geschlossenheit mit einem gemeinsamen Antrag tun. Heute
plädiert zumindest der größte Teil des Hauses für einen
Weltmädchentag.
Was versprechen wir uns davon? Es sind zwei Dinge.
Zum einen: Wir wollen auf globaler wie auf nationaler
Ebene das Bewusstsein für die Situation von Mädchen,
für ihre Rechte und Anliegen, die in vielen Gesellschaften keine ausreichende Berücksichtigung finden, schärfen. Wir wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dass
Mädchen in vielen Ländern ausschließlich aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, dass sie unter Gewalt und Unterdrückung leiden. Die Beispiele dafür sind
endlos. Gerade gestern wurde in der Nachrichtensendung Tagesthemen über die Abtreibungspraxis bei weiblichen Föten in Indien berichtet. Auch in unserem Land
gibt es viel Leid unter Mädchen und Frauen. Auch das
dürfen wir nicht vergessen. An all diese Mädchen wollen
wir heute denken.
Der Weltmädchentag sollte sich aber in meinen Augen nicht nur darauf beschränken, auf die Situation der
Mädchen als Opfer aufmerksam zu machen. Nein, genauso wichtig erscheint mir, dass wir uns an einem solchen Tag ebenfalls vergegenwärtigen, dass Mädchen
auch Hoffnung in vielen Ländern sind. Wir sollten uns
vergegenwärtigen, dass sie Gestalterinnen und Stütze
sind, gerade im gesellschaftlich schwierigen Umfeld, gerade in von Krisen, Kriegen und Katastrophen heimgesuchten Ländern. Die Mädchen und jungen Frauen in
Afghanistan sind die besten Beispiele dafür, dass der
Weltmädchentag auch zum Mutmachertag für viele werden kann. Damit uns das gelingt, muss dieser neue Tag
auch mit Leben erfüllt werden. Dafür tragen viele Verantwortung.
Deutschland kann dabei schon viele Erfolge vorweisen. Wir betrachten Mädchenpolitik weltweit - das gilt
auch für die Gleichstellungspolitik - aus der Lebensverlaufsperspektive, und mit diesem Ansatz setzen wir
Standards. Was heißt das? Gleichstellungspolitik aus der
Lebensverlaufsperspektive heißt, dass staatliche und private Akteure sich bei allen Maßnahmen, die sie ergreifen, die Frage stellen, welche Auswirkungen diese auf
Frauen und Männer in ihrem jeweiligen Lebensabschnitt
und in den Übergängen zwischen den einzelnen Lebensphasen haben. Das ist ein ganz moderner Ansatz der
Gleichstellungspolitik, der seinen Weg mittlerweile in
die Dokumente und Strategien der Vereinten Nationen
gefunden hat.
Über diesen Rahmen hinaus sind wir anerkanntermaßen auf internationaler Ebene sehr aktiv, wenn es um die
Rechte von Frauen und Mädchen geht. Beispielgebend
ist etwa das deutsche Engagement bei der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen. Deutschland nimmt
hier traditionell eine führende Rolle ein. Wir sind Vorbild und anerkannter Partner für viele Staaten. Wir bringen uns ein mit Inhalten, mit Veranstaltungen, mit Dialog und Beratung. Viele von Ihnen, liebe Kolleginnen,
waren auch schon selbst dabei.
Zu erwähnen ist auch der Ostseerat, dessen Vorsitz
Deutschland seit wenigen Wochen hat. Hier soll in den
kommenden Monaten das Thema Menschenhandel eines
der Schwerpunktthemen sein. Die Reihe der Beispiele
deutschen Engagements in der Welt ließe sich fortsetzen.
Auch auf nationaler Ebene können wir Erfolge vorweisen. Nur beispielhaft will ich nennen die Verbesse14892
Nadine Schön ({0})
rungen beim Schutz von Mädchen und Frauen vor Gewalt, zum Beispiel durch das Bundeskinderschutzgesetz,
das wir gerade beraten, oder auch durch das 2. Opferrechtsreformgesetz von 2009. Ein Meilenstein wird die
bundesweite Notrufnummer sein, an der wir gerade arbeiten.
Nicht zuletzt unterstützen wir Nichtregierungsorganisationen. So fördert das Bundesfamilienministerium beispielsweise - das ist gerade aktuell - den im Oktober
stattfindenden internationalen Kongress von Terre des
Femmes zur Stärkung von Mädchenrechten. Wissenschaftlern und Praktikern wird hier die Möglichkeit geboten, sich zu vernetzen und auch mit Politikern und
Journalisten zu reden. Es geht darum, Erfahrungen auszutauschen und darüber zu diskutieren, wie die Rechte
von Mädchen trotz schwieriger Rahmenbedingungen in
verschiedenen Ländern der Welt am besten umgesetzt
werden können. Bundespräsident Christian Wulff wird
den Kongress eröffnen. Ich finde, das ist ein gutes, ein
tolles Zeichen für die Solidarität Deutschlands mit den
Mädchen und Frauen in aller Welt.
({1})
Genau dieses Zeichen der Solidarität wollen wir auch
heute mit unserem Antrag zum Weltmädchentag setzen.
Auch das wird uns wieder ein Stück voranbringen - im
Sinne der Mädchen in Afghanistan, in Deutschland, in
der ganzen Welt.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7021 mit dem Titel „Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rüdiger
Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende
und Geduldete
- Drucksache 17/5912 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
1) Anlage 87
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5912 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist ebenfalls der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 2 auf:
10 Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten
Nationen geführten Friedensmission in Südsudan ({1}) auf Grundlage der Resolution
1996 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 8. Juli 2011
- Drucksache 17/6987 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme
der Bundeswehr an der Friedensmission der
Vereinten Nationen in Sudan ({4})
- Drucksache 17/7000 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
9. Juli wurde Südsudan ein unabhängiger Staat, allerdings ein Staat noch ohne ausreichende staatliche Verwaltung, wirtschaftliche und soziale Infrastruktur. Deren
Aufbau wird intensive und langjährige Anstrengungen
Südsudans erfordern, aber auch aktive Unterstützung
durch die internationale Gemeinschaft.
Zudem finden in Teilen Südsudans weiterhin bewaffnete innerstaatliche Auseinandersetzungen statt, die
politische, ethnische und wirtschaftliche Hintergründe
haben. Südsudan ist somit auf seinem Weg zu einer geStaatsminister Dr. Werner Hoyer
ordneten und stabilen Staatlichkeit gleich mit mehreren
Bürden belastet.
Um Südsudan auf diesem Weg zu unterstützen, haben
die Vereinten Nationen auf Bitten der Regierung in Juba
am 8. Juli 2011 ihre Mission im Südsudan, UNMISS, beschlossen. Kernaufgaben von UNMISS sind die Unterstützung der Regierung bei der Friedenskonsolidierung
und damit längerfristig bei der Absicherung des Staatsaufbaus und der wirtschaftlichen Entwicklung. UNMISS
leistet Unterstützung bei der Gewährleistung von Sicherheit, der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und der
Stärkung des Sicherheits- und Justizsektors.
Die Mission hat ein robustes Mandat. Das heißt, ihre
Kräfte sind autorisiert, zum Eigenschutz, zur Gewährleistung der Sicherheit der humanitären Helfer und zum
Schutz der Zivilbevölkerung gegebenenfalls auch Gewalt anzuwenden.
Deutschland ist seit Mandatsbeginn an UNMISS beteiligt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, nochmals herzlich dafür zu
danken, dass wir mit Flexibilität und gutem Willen in der
Lage waren, dieses Mandat am 8. Juli, also unmittelbar
vor der parlamentarischen Sommerpause, mit einer sehr
breiten Mehrheit zu beschließen. Die Bundesregierung
hat ihren Mandatsantrag wegen der besonderen Entscheidungssituation auf drei Monate beschränkt. Jetzt
bitten wir Sie dann um ein Mandat bis zum 15. November 2012, auch um im Gleichklang mit den anderen einschlägigen Mandaten zu stehen.
Vier Fraktionen dieses Hohen Hauses stehen geschlossen hinter diesem Mandat. Das ist bemerkenswert.
Einzig die Fraktion Die Linke war der Meinung,
Deutschland solle sich nicht daran beteiligen, diesen jungen, leidgeprüften und immer noch fragilen Staat zu unterstützen. Auch das ist bemerkenswert.
({0})
Das deutsche Engagement bei UNMISS ist Teil der
langjährigen Bemühungen der Bundesregierung um eine
dauerhafte Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung im Sudan und Südsudan im Rahmen ihres Sudankonzeptes. Es ist eingebettet in ein starkes entwicklungspolitisches und diplomatisches Engagement und
verdeutlicht erneut, was wir unter dem Begriff „vernetzte
Sicherheit“ verstehen.
Sicherheit und Stabilität, zivile und wirtschaftliche
Entwicklung - all dies muss gemeinsam gedacht und
ganzheitlich angestrebt werden. Es kann keine Entwicklung geben, wenn diese nicht abgesichert wird. Es kann
keine Stabilität geben, die nicht auf einer positiven Entwicklung der Lebensverhältnisse basiert. Hierfür setzen
wir uns ein. Daher haben wir ein starkes Interesse an einer fortgesetzten Präsenz der Vereinten Nationen im
Südsudan.
({1})
Derzeit sind 13 deutsche Soldaten vor Ort im Hauptquartier in Juba und als Verbindungsoffiziere in der Fläche. Sie leisten damit unter schwierigsten Bedingungen
einen wertvollen Dienst. Dafür möchte ich ihnen auch an
dieser Stelle unseren Dank aussprechen.
({2})
Es sollen weiter bis zu 50 deutsche Soldatinnen und
Soldaten auf der völkerrechtlichen Grundlage der Resolution des Weltsicherheitsrates eingesetzt werden können. Da UNMISS jedoch - anders als ursprünglich vorgesehen - auf absehbare Zeit keine Rolle bei der
Grenzüberwachung zwischen Sudan und Südsudan spielen wird, besteht kein Bedarf mehr für die bislang mandatierte Militärbeobachterkomponente. Diese entfällt daher im vorliegenden Antrag.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
wollen einen stabilen Südsudan und konfliktfreie Beziehungen zwischen Juba und Khartoum. Wir sind bereit,
einen konkreten Beitrag dazu zu leisten. Wir tun dies,
weil uns bewusst ist, wie wichtig der Bestand und das
Gelingen des jungen Staates Südsudan sind.
Es ist dies die erste Staatsneugründung in Afrika seit
1993, als sich Eritrea von Äthiopien trennte. Wir erinnern uns, dass das, was damals zunächst friedlich begann, schließlich in einem bitter geführten Krieg endete,
der Tausende, ja Zehntausende Menschenleben gekostet
hat. Bis heute wird der Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten nicht anerkannt, und bis heute stehen sich
Zehntausende Soldaten schwerbewaffnet an der Grenze
gegenüber. Das soll nicht, das darf nicht das Schicksal
Sudans und Südsudans werden.
({3})
Doch trotz der friedlich verlaufenden Trennung dieser
beiden Staaten gibt es immer noch etliche offene Fragen,
die hohes Konfliktpotenzial bergen. Der Grenzverlauf
und damit auch der Zugang zu Rohstoffen und deren
Nutzung sind noch immer nicht abschließend geklärt.
Die besorgniserregenden Zusammenstöße in den südlichen Provinzen Sudans ebenso wie das weiterhin schwelende Problem Darfur und die Stammeskämpfe im
Südsudan, die in diesem Jahr bereits über 2 000 Todesopfer gefordert haben - all dies sind Feuer, die es einzudämmen und zu löschen gilt, bevor sie übergreifen.
Bei allen Problemen, vor denen der junge Staat
Südsudan steht, gilt: Der Süden Sudans hat zu Beginn
dieses Jahres sein Referendum friedlich und geordnet
durchgeführt. Die Loslösung vom Norden wurde ohne
größere Verwerfungen vollzogen. Der Präsident der Republik Sudan war bei der Proklamation der Republik
Südsudan als Gast anwesend. Das ist mehr, als viele Beobachter noch vor einem Jahr angenommen hätten.
Die Verhandlungen über die offenen Fragen werden
unter der Beobachtung der internationalen Gemeinschaft
in Addis Abeba weitergeführt. Dies wird, so ist zu hoffen, den Verantwortlichen in Juba ein Ansporn sein, auf
dem Erreichten aufzubauen. Dies sollte der internationalen Gemeinschaft Grund genug sein, ihrer Verantwor14894
tung gegenüber dem Südsudan weiter gerecht zu werden.
Deutschland wird sich weiter aktiv daran beteiligen.
Die Mission ist dabei ein wichtiger Baustein für Frieden
und Stabilität in der Region. Deswegen soll das Bundestagsmandat hierfür weitgehend unverändert verlängert
werden. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie
hierfür um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Fraktion, die SPD, unterstützt den Antrag der Bundesregierung zur fortgesetzten Beteiligung an UNMISS
auf der Grundlage der Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 8. Juli 2011, den sie am 14. September 2011 beschlossen hat. Wir haben schon damals darüber beraten.
Zurzeit sind für UNMISS insgesamt bis zu 7 000 Militärs und 900 Zivilkräfte vorgesehen. Im Kontext der Beratung dieser Mission geht es auch um die Frage, welche
politische Rolle UNMISS aus unserer Sicht spielen
sollte.
Es geht um zwei Aufgaben, die diese Mission zu erfüllen hat und die in einem interessanten Spannungsverhältnis liegen. Zum einen geht es um die Unterstützung
der Regierung des Südsudan beim Aufbau eines funktionierenden demokratischen und pluralistischen Staatswesens. Zum anderen soll sie - sozusagen als Watchdog für die Sicherung der Menschenrechte aller Bürger und
Bürgerinnen sowie aller unterschiedlichen Gruppen und
Ethnien im neuen 193. Staat sorgen.
Leider - das ist eben erwähnt worden - gibt es wegen
einer Weigerung des Nordsudan keine Zuständigkeit von
UNMISS für die Überwachung der Grenze zwischen
Nord und Süd, was wir ausdrücklich bedauern.
Wir freuen uns über die Ernennung von Hilde
Frafjord Johnson zur Sondergesandten des UN-Generalsekretärs, die auch die Zivilleiterin der UN-Mission ist
und der der sogenannte Force Commander - das ist vielleicht auch mit Blick auf die Linksfraktion interessant unterstellt ist. Wir wünschen Hilde Johnson bei der
schweren Aufgabe, die sie übernommen hat, allen Erfolg. Sie ist ausgezeichnet auf diese Aufgabe vorbereitet.
Sie war die norwegische Entwicklungsministerin und hat
lange Jahre in der Leitung von UNICEF gearbeitet. Wir
wünschen ihr viel Erfolg für die Aufgabe, die vor ihr
steht.
({0})
Wir haben uns alle gefreut, dass das Referendum
ohne den befürchteten Ausbruch massiver Gewalt stattgefunden hat. Jetzt haben wir den Ernstfall. Die Bundesregierung und die Europäische Union dürfen deshalb
nach der Unabhängigkeitserklärung des Südsudan in der
weitreichenden Begleitung und Unterstützung der Prozesse nicht nachlassen. Es geht schließlich um die Hilfe
bei einem Staatsaufbau in einem Land, das sich gewaltigen Herausforderungen gegenübersieht: der Notwendigkeit des Aufbaus einer wachsenden, diversifizierenden
Wirtschaft, der Frage der Arbeitsplätze, der Verbesserung der Ernährungssituation der Menschen; viele
Südsudanesen haben jahrzehntelang nur Bürgerkrieg erlebt. Auch der Zugang zu Bildung muss verbessert werden. Drei Viertel der Kinder zwischen 7 und 14 Jahren
im Südsudan haben keinen Zugang zu Bildung. Im
Südsudan ist die höchste Müttersterblichkeitsrate weltweit zu verzeichnen.
Das sind die Aufgaben, die in dem großen Kontext
der Unterstützung des Südsudan geleistet werden müssen. Es geht natürlich auch um den Aufbau staatlicher
Strukturen, zum Beispiel durch die Schaffung eines flächendeckenden Apparats der Verwaltung, der dezentral
organisiert werden muss. Es geht um die Überwindung
von Klientelstrukturen. Es geht darum, einen Teil der
Streitkräfte zu entwaffnen, zu demobilisieren und wieder
in die Zivilgesellschaft einzugliedern, und es geht darum, sicherzustellen, dass Menschenrechte und rechtsstaatliche Standards durch die Sicherheitskräfte tatsächlich respektiert und gewahrt werden.
Das sind schon an sich Riesenherausforderungen und das angesichts immer noch ungelöster Fragen des
Friedensprozesses.
Der erste Punkt betrifft den Grenzverlauf. Er ist noch
immer nicht demarkiert. Es ist allerdings gut - das begrüßen wir -, dass vereinbart worden ist, dass diesseits
und jenseits der Grenze eine 10 Kilometer breite Demilitarisierungszone zwischen Nord und Süd geschaffen
werden soll, die gemeinsamer Überwachung unterliegen
soll. Auch soll die Möglichkeit der internationalen Beteiligung vorgesehen werden.
Der zweite Punkt betrifft die Aufteilung der Erdölvorkommen und der Einnahmen. Es hat zwar gewisse Fortschritte bei der Frage gegeben, wer welche Pipelines
nutzen kann. Aber die Grundfrage ist, wie Vorkommen
und Einnahmen aufgeteilt werden. Wenn dies geklärt ist,
ist es wichtig, dass die Mittel so in den Haushalt fließen,
dass sie für den Aufbau des Staates und für die Hilfe für
die Menschen genutzt werden und nicht neue Rentenökonomien entstehen lassen, die die Korruption massiv
befördern würden.
({1})
Der dritte Punkt. Immer noch ungeklärt ist der Status
der mehr als 100 000 Südsudanesen im Nordsudan. Das
gilt natürlich auch für Nordsudanesen im Südsudan.
Der vierte Punkt betrifft die Stabilisierung der Situation in Abyei. Dort soll nach dem Beschluss des UN-Sicherheitsrats eine weitere UN-Mission mit einem Umfang von 4 200 Soldaten und 50 Polizisten ihre Aufgabe
aufnehmen. In dem Friedensabkommen zwischen Nord
und Süd ist ein Referendum über die Frage vorgesehen,
wohin die Region zugeordnet werden soll.
Allein diese vier Punkte, die immer noch ungeklärt
sind, bedürfen der massiven Unterstützung durch internationale Verhandlungen. Wir hoffen auch, dass die Vermittlungsarbeit, die der ehemalige südafrikanische
Staatspräsident Thabo Mbeki leistet, Erfolg haben wird.
Es bedarf aber auch immer wieder der Unterstützung
und Begleitung durch den UN-Sicherheitsrat und infolgedessen auch eines besonderen Engagements der Bundesregierung als Mitglied des UN-Sicherheitsrats.
Wie hat sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
politische Situation nach der Erklärung der Unabhängigkeit entwickelt? Seit dem 1. September gibt es eine neue
Regierung, die vor Präsident Salva Kiir ihren Amtseid
abgelegt hat. Wir werden sehr genau darauf achten, dass
sein Versprechen, dass Kompetenz und nicht ethnische
oder Gruppenzugehörigkeit entscheidende Bedeutung
hat, eingelöst wird und dass sich dies auch in der Praxis
des Regierungshandelns widerspiegeln wird. Vor allem
muss verhindert werden, dass Korruption um sich greifen kann.
Sorgenvoll stimmen uns die Kämpfe der Regierungstruppen mit oppositionellen Milizen und eine Verschärfung der humanitären Situation zum Beispiel in Jonglei.
Seit dem Referendum über die Unabhängigkeit - auch
das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird in der öffentlichen Debatte vergessen - und seit Juli 2011 gab es
mehr als 2 300 Opfer. Auch das fordert unser aller Engagement. Es macht vor allen Dingen aber auch die Verpflichtung der südsudanesischen Regierung deutlich, die
Zivilbevölkerung zu schützen.
Ein weiterer Punkt, den ich mit UNMISS verbinde
und den auch Hilde Frafjord Johnson betont: UNMISS
soll im Rahmen des Kapitel-VII-Mandats dazu beitragen, dass durch tägliche Überwachung und militärische
Präsenz in den betroffenen Regionen weitere Gewalt
verhindert wird. Das kann unter Umständen sogar höhere Zahlen an Soldaten und Polizisten erfordern. Aber
es ist diese Anstrengung wert; denn wir alle können
nicht zulassen, dass Tausende von Opfern die Folge wären.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erwartungen
der Menschen im Südsudan sind an eine Friedens- und
an eine Unabhängigkeitsdividende gerichtet. Diese Erwartungen sind hoch. Wir müssen nun mithelfen, dass in
allen Regionen des Südsudan die Entwicklung vorankommt, dass es Zugang zu Gesundheitsstationen und zu
Schulen gibt und dass die Infrastruktur ausgebaut wird.
Deshalb: Der Ernstfall ist jetzt. Tragen wir mit dazu
bei, dass die Aufmerksamkeit auf diese Situation gerichtet ist und dass der 193. Staat eine glückliche Entwicklung für die Menschen nimmt, die so lange auf ihn gehofft haben.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Kossendey.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Unabhängigkeitserklärung des Südsudan hat der Prozess der friedlichen Trennung von Nord und Süd ein
ganz wichtiges Zwischenziel erreicht. Wenige Tage später ist der Südsudan - übrigens unter deutschem Vorsitz
im VN-Sicherheitsrat - als 193. Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen worden.
In den letzten Jahren hat die internationale Gemeinschaft diesen Unabhängigkeitsprozess kontinuierlich unterstützt. Das kam in vielen Einzelmaßnahmen zum Ausdruck: in vielen entwicklungspolitischen Projekten bis
hin zur Verifizierung von Waffenstillstandsvereinbarungen. Deutschland hat sich, neben vielen anderen wichtigen Beiträgen, in den vergangenen Jahren auch an der
VN-geführten Friedensmission UNMIS beteiligt, zuletzt mit etwa 30 Offizieren. Die Mission war damals
hauptsächlich deshalb mandatiert, um den Nord-SüdFriedensprozess zu begleiten bzw. seine Entgleisung zu
verhindern. Rückblickend können wir feststellen: Das ist
- bei allen Schwierigkeiten und dem einen oder anderen
Mangel - im Wesentlichen gut gelungen.
Ich möchte an dieser Stelle das Engagement unserer
Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich würdigen. Beim
Wort „Einsatz“ denken viele unwillkürlich an Afghanistan oder vielleicht noch an das Kosovo. Darüber hinaus
dürfen wir aber die Soldatinnen und Soldaten nicht vergessen, die in den kleinen Kontingenten arbeiten, unter
anderem im Sudan und im Südsudan, und dort unter sehr
herausfordernden Bedingungen ihren wichtigen Dienst
verrichten.
Wer mit Soldatinnen und Soldaten gesprochen hat,
die dort ihren Dienst getan haben, wird festgestellt haben, dass es sich dabei um eine ganz besondere Situation
handelt. Das beginnt beim Klima und geht bis hin zur Infrastruktur, in der die Soldatinnen und Soldaten dort leben. Dazu gehört übrigens auch - weil die Gruppe dort
relativ klein ist - der mangelnde Kontakt zu einem größeren Kameradenkreis und der oftmals sehr schwierige
Kontakt nach Hause, der schwieriger ist als in anderen
Einsatzgebieten.
Dennoch arbeiten unsere Soldatinnen und Soldaten
im Sudan hochmotiviert. Ihr Engagement, ihre Professionalität, ihre Improvisationsgabe - auch das muss man
deutlich sagen -, aber auch ihre sehr hohe Motivation
verdienen höchste Anerkennung.
({0})
Ich spreche den Soldatinnen und Soldaten an dieser
Stelle meine Hochachtung aus. Da wir eben im Zusammenhang mit der Einrichtung eines Weltmädchentages
der Vereinten Nationen von Frauen und Mädchen gere14896
det haben, will ich hinzufügen: Politisch korrekt müsste
man sagen, dass bei der alten UNMIS-Mission 445 Soldaten und eine Soldatin beteiligt waren. Das sollten wir
besonders würdigen.
Mit der Unabhängigkeit sind die Herausforderungen
an den jungen Staat Südsudan natürlich nicht verschwunden. Tatsächlich geht es für das Land jetzt darum, die kritische Phase einer extremen Fragilität gut zu
überstehen. Das ist eine Mammutaufgabe in einem Staat,
den es erst seit wenigen Wochen gibt, der praktisch über
gar keine Infrastruktur verfügt und der sich zahlreichen
Risiken im Bereich der Sicherheit und der Stabilität
- übrigens auch im Innern und nicht nur von außen - gegenübersieht.
Gerade in den vergangenen Wochen haben uns immer
wieder Informationen aus dem Südsudan erreicht, dass
an der Grenze bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden. Das ist ein Anlass zur Besorgnis. Wir können
vom Parlament aus nur an die Beteiligten appellieren,
diese Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen und
sich darauf zu konzentrieren, Auseinandersetzungen auf
dem Verhandlungswege zu regeln.
Die Präsenz der Vereinten Nationen - meine Vorrednerin hat das eben deutlich gemacht - ist deswegen weiterhin notwendig. Die Präsenz der Sicherheitskräfte, der
Soldatinnen und Soldaten, ist notwendig, um dort einigermaßen friedliche Verhältnisse zu gewährleisten. Deswegen hat der VN-Sicherheitsrat die Folgemission
UNMISS für den Südsudan mandatiert.
Wir werden auch zu dieser Mission unseren konstruktiven Beitrag leisten. Deswegen haben wir am 8. Juli
eine Obergrenze von 50 Soldaten vorgesehen. Das ist zugegebenermaßen eine Verringerung gegenüber den
75 Soldatinnen und Soldaten, die das alte Mandat vorgesehen hat. Die geringere Zahl trägt dem Umstand Rechnung, dass bei dem neuen VN-Mandat die Militärbeobachter außen vor sind.
Wir wollen, wie in der Vergangenheit, unsere Expertise vor allem in Spezialbereiche einbringen, etwa bei
den Aufgaben der Planung, der Logistik und der Auswertung dieser VN-Mission. Damit entsprechen wir
letztendlich dem Bedarf der Vereinten Nationen und leisten trotz der geringen Größe der Gruppe, die wir dorthin
schicken, einen wertvollen Beitrag. Genau das entspricht
unserem Verständnis von internationaler Arbeitsteilung
und Kooperation.
Wir sollten begrüßen, dass die neue Mission UNMISS relativ zügig nach der Mandatserteilung mit der
Wahrnehmung ihrer Aufgaben begonnen hat. Die unvermeidlichen Schwierigkeiten beim Übergang von der alten Mission UNMIS zur neuen Mission UNMISS waren
insgesamt nicht so groß, dass die Arbeit beeinträchtigt
worden wäre.
Wenn wir „internationale Verantwortung“ nicht zu einer Worthülse verkommen lassen wollen, dann muss
sich diese Verantwortung in greifbaren Maßnahmen im
internationalen Bereich ausdrücken. Die Teilnahme an
dieser VN-Friedensmission ist ein sichtbares Zeichen
dafür, dass wir in Deutschland unsere Verantwortung
ernst nehmen. Diejenigen, für die dieses Mandat tatsächlich am konkretesten wird, nämlich für unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort, brauchen eine breite Unterstützung des Parlaments. Deswegen bitte ich Sie ganz
herzlich darum, dem Antrag der Bundesregierung mit
breiter Mehrheit zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Niema
Movassat das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist,
vorweggesagt, wirklich ein Unding, dass wir erst zu dieser späten Uhrzeit und dadurch mit geringer öffentlicher
Wahrnehmung über die Fortsetzung des Militäreinsatzes
deutscher Soldaten im Rahmen der UN-Mission im
Südsudan, UNMISS, debattieren.
({0})
Das zeigt, wie wichtig der Regierung die Debatte über
Krieg und Frieden ist bzw. nicht ist.
Alle hier, außer der Fraktion Die Linke, haben die Beteiligung der Bundeswehr am Militäreinsatz im Südsudan befürwortet. Dabei müssten Sie, werte Kolleginnen
und Kollegen, selbst nach Ihrer Logik gegen diesen Einsatz sein.
({1})
Ihr Argument für den Einsatz ist, dass die Zivilbevölkerung im Südsudan geschützt werden muss. Fakt ist, dass
275 000 Frauen, Männer und Kinder aufgrund von Kämpfen auf der Flucht sind und seit Januar über 3 000 Menschen getötet wurden. 2011 ist das verlustreichste Jahr
seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2005. Diese
Entwicklungen sind dramatisch. Die Lage ist aber trotz
der Stationierung von UN-Soldaten im Rahmen von UNMISS nicht besser geworden; die Gewalt geht weiter.
Das zeigt, dass Militär auch im Südsudan keinen Frieden
schafft und sein Einsatz deshalb der falsche Weg ist.
({2})
Die UN-Truppen sind schon deshalb unfähig, die Zivilbevölkerung zu schützen, weil sie an der Seite der
südsudanesischen Armee SPLA agieren. Dabei ist diese
selbst Konfliktauslöser. Dies haben mir Entwicklungshelfer sowie Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und der UN, mit denen ich im November vor Ort gesprochen habe, bestätigt; dies geht sogar aus dem UNMandat hervor. Die SPLA ist an Morden, Vertreibungen
und Übergriffen auf Oppositionelle beteiligt. Es gibt niemanden, der sie dafür anklagt. Allein in der Provinz
Jonglei wurden im Juli 1 700 Menschen von der SPLA
ermordet. Da frage ich Sie, meine Damen und Herren,
die Sie diesem Einsatz im Juli zugestimmt haben, wie
die Bundeswehr zusammen mit diesen MenschenrechtsNiema Movassat
verletzern Demokratie aufbauen und Zivilisten schützen
soll. Das ist doch völlig abstrus.
({3})
Bei den meisten Konflikten im Südsudan geht es um
Weideland und Vieh. Allein im August sind bei Kämpfen wegen Viehdiebstählen in der Provinz Jonglei mindestens 600 Menschen umgekommen, rund 27 000
mussten fliehen. Solche Landkonflikte können nicht militärisch gelöst werden. Das zeigt auch die Erfahrung in
anderen Ländern.
({4})
Genau deswegen sagt die Linke, dass wir zivile Aufbauhilfe und Konfliktbearbeitung und nicht Militär brauchen. Es gab bei den Gesprächen im Südsudan, an denen
ich teilgenommen habe, viel Zustimmung dafür.
Die Bundesregierung aber wählt die falschen Mittel.
Deutschland hätte das Programm des zivilen Friedensdienstes zur Konfliktbewältigung - das ist eine wirklich
gute Sache - nicht einstellen dürfen.
({5})
Richtig wäre es gewesen, unseren Vorschlägen, die wir
hier im Juli eingebracht haben, zu folgen. Vier davon
möchte ich nennen:
Erstens muss die Zivilgesellschaft gestärkt und müssen Dialogprozesse zwischen den gegnerischen Gruppen
im Südsudan geschaffen werden. Ein Staat kann nur unter Beteiligung der Zivilbevölkerung aufgebaut werden
und nicht von oben nach unten, wie dies jetzt mithilfe
von UNMISS geschieht.
({6})
Zweitens müssen sich die staatlichen Strukturen an
den sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung orientieren. Es ist doch paradox, dass es heute
bereits 30 Ministerien im Südsudan gibt - teils ohne
Aufgabenbereich. Da geht es wohl mehr darum, Pöstchen zu schaffen.
Drittens muss der ländliche Raum entwickelt werden.
Im Südsudan, einem Land so groß wie Frankreich, gibt
es keine hundert Kilometer asphaltierte Straßen.
Viertens - das ist wirklich entscheidend - muss das
Land entmilitarisiert werden.
({7})
Von den 8 Millionen Einwohnern des Südsudan ist rund
eine halbe Million militärisch organisiert. Auf Deutschland übertragen wären das 5 Millionen Militärs. Abgesehen davon, dass wir Rüstungsexporte grundsätzlich ablehnen, ist es höchste Zeit, die vielen Waffen einzusammeln und den bisherigen Waffenträgern zivile Perspektiven aufzuzeigen.
({8})
Bei UNMISS steht das Militärische und nicht das Zivile im Vordergrund. Das ist der falsche Weg. Daher
wird die Fraktion Die Linke dieser Mandatsverlängerung
nicht zustimmen.
Danke.
({9})
Für die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Agnes
Malczak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach zwei
langen Kriegen und der sechsjährigen Umsetzungsphase
des Comprehensive Peace Agreements hat der Süden
Sudans am 9. Juli 2011 seine Unabhängigkeit erklärt.
Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur
Beilegung eines Jahrzehnte währenden Konflikts, aus
dem einer der brutalsten und längsten Kriege Afrikas
hervorging. Die internationale Gemeinschaft, wir alle
sind aufgefordert, diese positive Entwicklung zu unterstützen.
({0})
Die Anerkennung der Unabhängigkeit durch Khartoum war keine Selbstverständlichkeit und ist eine wichtige Voraussetzung für die künftig nötige Kooperation
der beiden Staaten, die stark voneinander abhängig sind.
Eine Konfliktlösung durch Dissoziation, durch eine
Trennung aller Verbindungen, ist unter den gegebenen
Bedingungen keine Option. Es gibt keine Alternative zur
Zusammenarbeit. Davon sind beide Nachbarn aber noch
sehr weit entfernt. Dennoch: Das neue Grenzabkommen
bietet eine Chance, die Spannungen zwischen Nord- und
Südsudan abzubauen. Die Einrichtung von Grenzübergängen und die Durchführung gemeinsamer Patrouillen
können künftig dabei helfen, die Gewalt entlang der
Grenze einzudämmen. Wir dürfen diese Fortschritte,
diese Schritte in die richtige Richtung nicht verkennen.
Es stimmt aber auch, dass wir die Augen vor den
Grenzen und Schwierigkeiten dieser UN-Mission nicht
verschließen dürfen. In den vergangenen Wochen entfachten immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen in verschiedenen Regionen beider Länder. In den
zum Norden gehörenden Grenzregionen Süd-Kurdufan
und Blue Nile State kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen den Regierungskräften und den Kämpfern
der SPLM-N. Auch die erdölreiche und territorial umstrittene Region Abyei kommt nicht zur Ruhe. Frauen
und Kinder sind die Hauptleidtragenden dieser Auseinandersetzungen.
Dass die Regierung in Khartoum vergangene Woche
17 Parteien verboten hat, die angeblich unter ausländischem Einfluss stehen, sorgt für weitere Spannungen.
Wir verurteilen die zunehmende Repression durch das
Regime im Nordsudan aufs Schärfste. Sie heizt die Gewaltkonflikte an und versperrt den Weg für eine friedli14898
che Regelung der noch zahlreichen Streitfragen, insbesondere in den Grenzregionen.
Nach seiner Unabhängigkeitserklärung steht der
Südsudan vor kolossalen Herausforderungen. Es besteht
die Gefahr, dass zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Süden neue Konflikte ausbrechen.
Große Gruppen werden politisch und ökonomisch von
der Regierung marginalisiert. Zudem verbreiten sich
Kleinwaffen völlig unkontrolliert. Es muss deshalb dringend eine Entwaffnung und Demobilisierung durchgeführt werden.
({1})
Der Entwicklungsstand des Landes ist extrem niedrig,
die Armut riesengroß. Gleichzeitig gibt es aktuell keine
institutionelle Infrastruktur, die für ein einigermaßen
funktionierendes Staatswesen, mit dem man diese Probleme angehen könnte, notwendig ist. Es wäre völlig unverantwortlich und höchst gefährlich, diesen neuen Staat
bei all diesen Herausforderungen alleine zu lassen.
Die Mission der Vereinten Nationen im Südsudan hat
daher den Auftrag, die südsudanesische Regierung bei
der Friedenskonsolidierung zu unterstützen und Hilfe
beim Staatsaufbau und bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen begrüßt, dass sich Deutschland von Anfang
an an dieser Mission beteiligt.
({2})
Ich möchte allen Menschen, ob zivil oder in Uniform,
ob im staatlichen Auftrag oder im Rahmen einer Nichtregierungsorganisation, danken, die sich für Stabilität
und Frieden in dieser schwierigen Situation in dieser Region einsetzen.
({3})
Um einen günstigen Rahmen für Versöhnung zu
schaffen, bedarf es eines breiten Ansatzes, der alle Bereiche umfasst: Politik, Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteuren. Die militärische Komponente ist angesichts der immer wieder aufflammenden Kämpfe für den
Schutz der Zivilbevölkerung ein notwendiger Bestandteil. Der Schlüssel für eine nachhaltige Stabilisierung
liegt aber im zivilen Engagement.
Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass
Deutschland alle zur Verfügung stehenden Kapazitäten
nutzt, um die nötige technische, konzeptionelle und finanzielle Unterstützung für die Friedenskonsolidierung
sicherzustellen.
Ja, es sind große Aufgaben zu bewältigen. Dabei
müssen wir bescheiden sein und realistische Ziele setzen. Wir dürfen nicht immer gleich morgen ein Wunder
erwarten, aber wir müssen unser Bestes dafür tun, einen
Beitrag zur Stabilisierung des Sudan und der von jahrelangen Kriegen und andauernden schweren Gewaltausbrüchen geprägten Region zu leisten.
Wenn ich mir noch eine Schlussbemerkung - mit einem Blick zurück - erlauben darf: Heute liegt auch der
Abschlussbericht zur alten UN-Mission UNMIS vor.
Dieser basiert auf einer Regelung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes; sie wird hier zum ersten Mal angewandt.
Das ist gut; das wollen wir loben. Gleichzeitig hätten wir
uns ein bisschen mehr selbstkritische Evaluierung gewünscht. Wir erinnern die Bundesregierung an dieser
Stelle gerne daran, dass wir ebenso auf einen gründlichen Abschlussbericht zur Operation Enduring Freedom
warten.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Hartwig Fischer von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung wähle mit diesem Mandat den falschen
Weg, hat Kollege Movassat gesagt.
({0})
Die Bundesregierung hat nicht einen eigenen Weg gewählt, sondern wir beteiligen uns an einer Mission, die
auf einem UN-Mandat nach Kap. VII der UN-Charta basiert. Diese Mission soll nach der alten UNMIS-Mission
dazu beitragen, dass im 193. Staat Rechtsstaatlichkeit
hergestellt wird und den Menschen dort, die in den vergangenen 25 Jahren keine Perspektive hatten, wieder
eine Perspektive gegeben wird.
({1})
Deshalb ist es gut, dass die Kollegin Malczak eben
noch einmal darauf hingewiesen hat, dass der Abschlussbericht zu UNMIS vorliegt. Wer diesen Bericht
gelesen hat, weiß, dass 445 Soldaten und Soldatinnen
eingesetzt waren, dass Polizisten eingesetzt waren, dass
wir ein Programm zur Demobilisierung, zur Entwaffnung und zur Reintegration aufgelegt haben. Genau das
sind Friedensmissionen, die den Menschen wieder eine
Perspektive geben.
Wir haben den Menschen Zugang gegeben und das
UNDP, das OCHA und den UNHCR bei ihren Maßnahmen für die Menschen unterstützt. Wir haben mit dazu
beigetragen, dass 300 000 Menschen aus dem Norden in
den Süden zurückkehren konnten. Wir haben in den vergangenen Jahren mit dazu beigetragen, dass über
400 000 Flüchtlinge, die für über 20 Jahre aus dem
Hartwig Fischer ({2})
Südsudan nach Uganda und nach Kenia gegangen waren, zurückgeführt werden konnten. Wir haben in den
vergangenen Jahren gemeinsam mit einer breiten Basis
für das gesorgt, was Sie eben vermisst haben, Herr
Movassat. Wir haben mit dafür gesorgt, dass zivile
Strukturen geschaffen wurden, dass Straßen, Wasserversorgung und Ähnliches aufgebaut wurden. Das alles verschweigen Sie.
Ich finde es unerträglich, wenn man sich hier als Pazifist aufspielt und versucht, aus ideologischen Gründen
zu ignorieren, dass dort noch mehr Menschen sterben
würden, wenn es keinen Militäreinsatz geben würde.
({3})
Wenn es im Südsudan, wenn es in Darfur nicht diese
Missionen gegeben hätte, wären Hundertausende von
Menschen mehr gestorben.
({4})
Wir haben kürzlich erlebt, wie Herr Baschir mit seiner Ignoranz verhindert hat, dass im Rahmen von UNMISS auch eine Grenzsicherung vorgenommen wird.
Wenn diese Grenzsicherung möglich wäre, dann wären
wir heute in Süd-Kurdufan in einer anderen Situation.
Sie haben eben gesagt, dass dort in den letzten Tagen
600 und in den letzten Monaten bereits 3 000 Menschen
gestorben sind.
Im Rahmen von UNMISS können wir jetzt dafür sorgen, dass dort wieder staatliche Strukturen aufgebaut
werden. Wir wollen auch mit dazu beitragen, einen Dialog mit dem ehemaligen Zentralstaat Sudan aufzubauen.
Die Aufgaben nach Kap. VII der Charta der Vereinten
Nationen bestehen darin, Sicherheit und Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, für die Erlangung der Unabhängigkeit zu sorgen und den Schutz der eigenen Bevölkerung sicherzustellen. Wir helfen außerdem bei der
Herstellung rechtsstaatlicher Strukturen.
Präsident Salva Kiir hat gegenüber der internationalen Gemeinschaft angekündigt, nicht nur staatliche Institutionen aufbauen, sondern auch die Menschenrechte
respektieren und rechtsstaatliche Strukturen implementieren zu wollen. Mit diesem Mandat und vor dem Hintergrund des Einsatzes in der Vergangenheit haben wir
die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, die Entwicklung gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft
zu überwachen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass
die Menschen eine neue Chance bekommen. Nach einem furchtbaren, langen Krieg, der einer ganzen Generation die Zukunftschancen genommen hat, müssen wir
neue Zukunftschancen schaffen. Sie sind aufgefordert,
daran mitzuwirken. Dabei sollten Sie allerdings bedenken, welche Konsequenzen Ihr Handeln für die Menschen hat.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6987 und 17/7000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 3 auf:
11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Den Staat Palästina anerkennen
- Drucksachen 17/6150, 17/7056 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Kerstin Müller ({1})
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
- Drucksachen 17/6298, 17/7057 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Kerstin Müller ({3})
Als Debattenzeit war eine halbe Stunde vereinbart. Es
hat sich aber nur ein Kollege zu Wort gemeldet. Die üb-
rigen Reden nehmen wir zu Protokoll.1)
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke das Wort.
({4})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ungefähr zur gleichen Zeit, zu der wir hier zu diesem
Thema hätten debattieren sollen, haben sehr viele Men-
schen in Tel Aviv, einige Tausend, und sehr viele Men-
schen in Ramallah, auch einige Tausend, für die Auf-
nahme Palästinas als Vollmitglied der Vereinten
Nationen demonstriert. Ich habe ihnen versprochen, dass
ich das, was sie auf ihren Kundgebungen ansprechen,
1) Anlage 88
auch hier im Deutschen Bundestag vortragen werde. Ich
finde, es ist ein ganz tolles Zeichen, dass Menschen in
Israel und Menschen in Palästina für die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied der Vereinten Nationen auf die
Straßen und auf die Plätze gegangen sind.
({0})
Das ist genau das, was ich möchte: dass in dieser Art und
Weise Verständigung entsteht.
Die Linke will, dass Deutschland in der UNO dafür
stimmt, dass Palästina als Vollmitglied aufgenommen
wird. Wir sind der Auffassung, das ist deutsche Verantwortung gegenüber Israel und Palästina. In dieser Frage
sind die Differenzen zwischen den Fraktionen des Bundestages aus meiner Sicht nicht unüberbrückbar.
Ich will einige Stichworte nennen: Es geht um zwei
Staaten, Israel und Palästina, die friedlich nebeneinander
in Sicherheit und Gerechtigkeit existieren, zwei Staaten
auf der Grundlage der Grenze von 1967, Ostjerusalem
als Hauptstadt des palästinensischen Staates und eine gerechte, einvernehmliche Lösung der Flüchtlingsfrage.
Dazu gehört ein Sicherheitsabkommen, das die palästinensische Souveränität respektiert und die Besatzung beendet. Ein solcher Weg kann dem Terrorismus den Boden entziehen.
({1})
All die gemeinsamen Positionen, die Sie vorgetragen
haben - die Linke teilt sie -, findet man auch in der Erklärung, die der britische UN-Vertreter im Weltsicherheitsrat im Namen des Vereinigten Königreiches, Frankreichs und Deutschlands abgegeben hat. Am Schluss
dieser Erklärung heißt es - das zitiere ich wörtlich -:
Unser Ziel bleibt eine Vereinbarung über alle Fragen des endgültigen Status und die Begrüßung von
Palästina als Vollmitglied der Vereinten Nationen
im September 2011.
Dieser Text der Abstimmungserklärung ist im Februar
dieses Jahres auch von der Bundesregierung unterschrieben worden. Ich möchte, dass das eingelöst wird,
({2})
dass mit den doppelten Standards Schluss gemacht wird
und dass man die Menschen nicht immer wieder enttäuscht, indem man über die Probleme hinweggeht.
Wenn ich mir die Gegenargumente anschaue - ich
kann nicht alle nennen -, dann erkenne ich: Das sind weniger Einreden als vielmehr Ausreden. Ich nenne zwei
Gegenargumente, die ich für besonders bedeutsam halte:
Es wird gesagt, der Gang zur UNO sei eine einseitige
Handlung der Palästinenser. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu und sein Außenminister haben gesagt:
Das könnte dazu führen, dass alle Verträge - einschließlich des Vertrages von Oslo - hinfällig werden.
Ich frage Sie, wieso der Gang zu den Vereinten Nationen, dem Weltforum, eine einseitige Handlung ist, obwohl sich mittlerweile über 150 Staaten bereit erklärt haben, die Palästinenserinnen und Palästinenser zu
unterstützen. Für mich ist es ein Riesenfortschritt, dass
die unbefriedigende Situation nicht mit dem Griff zur
Waffe, nicht mit neuer Gewalt, sondern mit dem Gang
zur UNO beantwortet worden ist. Das muss man hier
doch auch einmal politisch klarstellen, und die Regierung muss sich entsprechend verhalten.
({3})
Daneben wird gesagt, dass ein Scheitern der Verhandlungen zu neuem Aufruhr im Nahen Osten führen kann.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie das verhindern wollen, dann
muss man den Palästinensern zeigen, dass sie nicht alleine sind, sondern dass Menschen in aller Welt auf ihrer
Seite sind. Man muss ihnen zeigen, dass es eine Möglichkeit gibt, zu einem eigenen Staat zu kommen, der ihnen moralisch und politisch zusteht, und man muss ihnen zeigen, dass wir nicht wegschauen
({4})
und dass wir nicht wollen, dass neue Gewalt gegen sie
angewandt wird.
({5})
Die Bundesregierung muss sich entsprechend verhalten. Ich denke, die Bundesregierung muss in der Vollversammlung der Vereinten Nationen und im Weltsicherheitsrat für die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied
eintreten. Ich sehe die Gespräche des Nahostquartetts,
die ja auch in New York stattfinden, nicht als konkurrierend dazu an. Ich frage mich immer, warum nicht beides
möglich ist und warum Deutschland nicht endlich mit
anderen europäischen Staaten die Initiative dazu ergreift.
Ich wollte, dass das hier ausgesprochen wird, und ich
wollte die Kolleginnen und Kollegen, die in Tel Aviv
und in Ramallah demonstriert haben, nicht enttäuschen.
Deswegen habe ich hier von meinem Rederecht Gebrauch gemacht.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-
kannt, dass eine persönliche Erklärung nach § 31 unserer
Geschäftsordnung der Kollegin Marieluise Beck vor-
liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Den Staat Palästina anerkennen“.
1) Anlage 92
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7056, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/6150 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Stimmen
der SPD bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
der Grünen und von Frau Wieczorek-Zeul von der SPD
angenommen.
Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7057, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/6298 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Linken
und der Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung
des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/6643 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Hierzu ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu neh-
men.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6643 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Marieluise Beck ({1}),
Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Militärischen Abschirmdienst einsparen
- Drucksache 17/6501 Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden.
Unnötige Doppelstrukturen, zu teure oder fehlende
Kontrolle durch das Parlament sind Vorwürfe, die den
MAD treffen sollen. Nichts anderes ist dem vorliegenden
1) Anlage 89
Antrag der Grünen zu entnehmen. Ich kann zwar jede
Bemühung zur Zusammenlegung von Aufgaben in Zeiten
der Haushaltskonsolidierung verstehen, dieser Vorschlag der Grünen-Fraktion hat damit jedoch nichts zu
tun. Keine der Begründungen verfängt bei näherer Betrachtung der Materie.
Der MAD ist kein gewöhnlicher Geheimdienst, der
ohne weiteres in anderen Strukturen aufgehen könnte. Er
hat spezielle Aufgaben, die für den Auftrag der Bundeswehr maßgeschneidert sind. Er sorgt für die Sicherheit
unserer Soldaten im In- und Ausland. Ich muss niemandem in diesem Hohen Hause erklären, dass die Gefährdungslage unserer Soldaten im Einsatz alles andere als
abstrakt ist. Der MAD ist auf die interne Absicherung
der Bundeswehr, und zwar nur der Bundeswehr, spezialisiert. Andere Dienste wie der BND haben sicher herausragende Fähigkeiten, hier jedoch keine Kompetenzen.
Den MAD jetzt zur Auflösung herauszugreifen, halte
ich für unsinnig, ja sogar gefährlich für unsere Soldaten.
Unsere Soldaten verlassen sich auf die Arbeit des MAD,
der mittels personenbezogener Sicherheitsüberprüfungen dafür sorgt, dass eine Unterwanderung der Bundeswehr verhindert wird. Eine Einsparung des MAD würde
die Wahrnehmung dieser Aufgabe ernsthaft gefährden.
Es ist zwar richtig, dass aufgrund des Wegfalls der
Wehrpflicht dieser Teilauftrag des MAD seit Juli dieses
Jahres weggefallen ist, die wesentlichen und zentralen
Aufgaben bestehen jedoch unverändert fort. Zum einen
müssen die freiwilligen Bewerber für die Bundeswehr
auf Extremismusverdacht überprüft werden. Wir wollen
schließlich auch in der Freiwilligenarmee Bundeswehr
nicht, dass politische Extremisten Dienst an der Waffe
leisten. Zum anderen bekommt die Abschirmung unserer
Soldaten im Einsatz eine tendenziell größere Bedeutung.
Die jetzige Reform trägt nicht umsonst den Untertitel
„Vom Einsatz her denken“.
Ich kann keine sachliche Begründung erkennen, die
es erfordern würde, den MAD in anderen Diensten aufgehen zu lassen. Der Wille zum Sparen alleine ist kein
hinreichender Grund; denn wir können keine Sicherheitspolitik nach Kassenlage betreiben. Auch würde eine
Integration in andere Geheimdienste keine großen Einsparungen herbeiführen, da die speziellen Fähigkeiten
des MAD erhalten werden müssten. Synergieeffekte wären nach unserer Einschätzung so kaum zu realisieren.
Es macht aus meiner Sicht daher wenig Sinn, dieses
Einzelthema herauszugreifen, um sich als angeblicher
Anwalt des Steuerzahlers zu profilieren. Vielmehr muss
ein stimmiges Gesamtkonzept erarbeitet werden, wie die
zersplitterten Zuständigkeiten auf dem Feld der inneren
Sicherheit sinnvoll zusammengeführt werden können.
Der Wildwuchs im Bereich von unterschiedlichen Landes- und Bundesbehörden muss grundsätzlich angegangen werden. Solange hier keine Fortschritte gemacht
werden, gibt es mit der CDU/CSU keine einseitige Auflösung eines erfolgreichen Dienstes, der für die Sicherheit unserer Soldaten sorgt.
Ich habe ohnehin den Eindruck, dass es der Opposition bei der gesamten Debatte weniger um eine effiziente
Struktur bei den Geheimdiensten, sondern mehr um das
Schüren von Ressentiments gegen Geheimdienste im Allgemeinen geht. Es ist meiner Meinung nach unverantwortlich, gegen die Geheimdienste als solche zu agitieren. Sie erfüllen eine wichtige Aufgabe für die Sicherheit
unserer Bürgerinnen und Bürger. Sie sind keine Gefahr
für die Bürgerrechte, im Gegenteil.
Auch die von interessierten Kreisen immer wieder
verbreiteten Verschwörungstheorien im Zusammenhang
mit dem Kunduz-Untersuchungsausschuss wurden nachhaltig widerlegt. Es gab keine geheime Operation der
Nachrichtendienste in Kunduz. Wenn die Grünen meinen, dieses Thema einmal mehr mit ihrem Antrag hochziehen zu wollen, ist das sehr durchsichtig. Es gibt keine
nebulösen Operationen losgelöst von Kontrolle. Es ist
deswegen schlicht nicht notwendig, den MAD zur angeblich besseren Kontrolle von Verwaltungshandeln aufzugeben.
Der vielleicht wichtigste Grund, die Kompetenzen des
MAD zu erhalten, sind unsere Bundeswehrangehörigen
im Auslandseinsatz. Die Bedrohung in Afghanistan geht
häufig von Tätern aus, die gezielt Attentate und Selbstmordanschläge auf Einzelpersonen verüben. Die Bundeswehr ist aufgrund der bereits umgesetzten Partnering-Strategie besonders gefährdet. Der Angriff, bei dem
General Kneip verwundet wurde und zwei Bundeswehrsoldaten gefallen sind, beweist das Potenzial solcher
Aktionen. Auch der folgenschwere Angriff eines afghanischen Soldaten auf die Bundeswehr bei Baghlan ist Ausdruck dieser neuartigen Bedrohung. Für die Abwehr
dieser speziellen und besonders perfiden Gefahr benötigt die Bundeswehr die Fähigkeiten und Erfahrungen
des MAD mehr denn je. Sicherheit im Einsatz ist mehr
als gut geschützte Fahrzeuge und moderne Waffensysteme; sie ist elementar abhängig vom frühzeitigen Erkennen und Aufklären von Gefahren. Dabei leistet der
MAD einen unschätzbaren Beitrag.
Auch die scheinbar zum Kalten Krieg gehörende Bedrohung der Spionage ist keineswegs Geschichte. Bis
heute gibt es immer wieder Versuche, die Bundeswehr
auszuspähen, und zwar sowohl von innen wie von außen.
In der heutigen Zeit, die mit Vernetzung und Digitalisierung neue Möglichkeiten eröffnet, dürfen die Gefahren
der technischen Revolution für die militärische Geheimhaltung einfach nicht unterschätzt werden. Andere Staaten haben erst jüngst Erfahrungen mit dem Ausspähen
von sensibler Militärtechnik gemacht. Ihr Beispiel sollte
uns eine Warnung sein. Die Bundeswehr als Hochtechnologiearmee, die mit neuestem Gerät ausgestattet ist,
ist besonders interessant für Ausspähversuche aller Art.
Der MAD soll und muss hier agieren können, mit dem
speziellen Wissen um Bundeswehrinterna und streitkräftespezifische Gepflogenheiten.
Es geht auch um das Thema Verantwortung. Militärische Führer bis hin zum Minister brauchen Berater, die
aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Organisation die notwendige Sachkenntnis mitbringen. Verantwortung kann
aber nur übernehmen, wer auch die entsprechenden
Mittel zur eigenen Verfügung hat. Dies ist nur dann der
Fall, wenn der MAD als bundeswehreigene Institution
bestehen bleibt.
Daran knüpft sich unmittelbar das Argument der
schnellen Verfügbarkeit. Zeitlicher Vorsprung ist in unserer schnelllebigen Welt eine besonders kritische Ressource. Es ist eben doch ein Unterschied, ob ich Fähigkeiten in meinem eigenen Bereich habe oder ob ich sie
von außen erbitten muss. Der unmittelbare Zugriff und
die Weisungsgebundenheit sorgen dafür, dass der MAD
unverzüglich handeln kann. Bei einer Vergabe an Dritte
wird es immer Koordinierungsbedarf geben; im schlechtesten Fall sind Kapazitäten nicht oder nicht schnell genug verfügbar. Diese Transaktionskosten müssen bei allen Überlegungen zu Einsparungen stets mitbedacht
werden. Sie sind umso schwerwiegender, je sicherheitsrelevanter eine Dienstleistung ist. Für mich spricht das
deutlich gegen eine unüberlegte Auflösung des MAD.
Unzweifelhaft ist, dass im Zuge der Neuausrichtung
der Bundeswehr der MAD nicht völlig unangetastet bleiben wird. Die Einschnitte beim militärischen wie beim
zivilen Personal sind derart signifikant, dass sie auch
beim MAD zu spüren sein werden. Niemand bezweifelt,
dass eine deutlich kleinere Bundeswehr auch die eine
oder andere Stelle beim MAD kostet. Das heißt aber keinesfalls, dass der MAD generell überflüssig wäre.
Ich bleibe dabei: Eine neue Architektur im Bereich
der inneren Sicherheit muss koordiniert errichtet werden. Überstürzte Einzelmaßnahmen richten unnötigen
Schaden an und haben zu unterbleiben. Deswegen ist
meine Empfehlung eindeutig: Dieser Antrag der Grünen
ist abzulehnen.
Eine der ethischen Grundstützen innerhalb unserer
Armee ist das Bewusstsein der Verantwortung gegenüber der Geschichte. Über ihre Spiegelbildfunktion repräsentiert sie unsere mündige und freie Gesellschaft.
Diese Denkweise innerhalb unserer Armee zu sichern, ist eine Hauptaufgabe des MAD. Die Sammlung
von Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Bundeswehr fällt somit darunter,
ebenso wie die Aufklärung von sicherheitsgefährdenden
Aktivitäten gegen die Bundeswehr.
Der MAD bringt darüber hinaus sein technisches
Know-How bei der Sicherung von Bundeswehrliegenschaften ein und wirkt mit bei der Ausarbeitung und
Durchführung von Maßnahmen zum Geheimschutz.
Um es noch deutlicher zu machen: Der MAD ist es,
der dafür sorgt, dass sich keine Extremisten in der Bundeswehr ansiedeln, keine Nazis, Islamisten oder sonstige Verfassungsfeinde.
Diese Aufgaben hat der MAD stets mit großem Erfolg
wahrgenommen und hat sich auch in seiner Organisationsform bewährt. Dass er seine Aufgaben stets unauffällig für die Öffentlichkeit wahrgenommen hat, ist keine
Rechtfertigung für eine Auflösung, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Grünen-Fraktion.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die anstehende Überführung und Reform unserer
Bundeswehr verändert das Anforderungsprofil unserer
Streitkräfte. Wir führen diese zu einer flexiblen, mobilen
und effektiven Armee im Einsatz.
Diese angesprochenen Aufgaben des MAD haben vor
dem Hintergrund der sich allgemein, insbesondere im
Rahmen unserer Auslandseinsätze verschärften Sicherheitslage enorm an Bedeutung zugenommen. Der Schutz
der Angehörigen der deutschen Einsatzkontingente und
die Überprüfung dort tätiger Ortskräfte sind Beispiele
für die zunehmende Auslastung des MAD innerhalb der
Auslandseinsätze.
Die Bundeswehrreform und die damit verbundene
Personalreduzierung wird anteilig alle Ebenen der
Streitkräfte berühren. Folglich kann die genaue Betrachtung des MAD erst erfolgen, wenn die Struktur der
reformierten Bundeswehr festgelegt wurde.
Ich möchte auch betonen, dass eine Zusammenlegung
oder Integration des MAD in den BND aus Kostengründen oder zur Vermeidung von angeblichen Mehrfachzuständigkeiten ebenso wenig Sinn machen würde wie eine
Überführung der Aufgaben auf das Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Aufgaben des MAD beziehen sich
immer konkret auf die Bundeswehr und ihre Angehörigen. Sie erfordern spezifische Sachkenntnisse und Erfahrungen mit den inneren Angelegenheiten der Bundeswehr. Um diese Aufgaben weiterhin zu gewährleisten,
wäre es für die neu geschaffene Institution notwendig,
neues Personal anzuwerben oder das alte zu überführen.
Beides wäre sicherlich mit mehr und nicht weniger Kosten verbunden.
Wenn Sie in diesem Zusammenhang von „Mehrfachzuständigkeiten“ und „Parallelstrukturen“ sprechen,
weise ich nachdrücklich daraufhin, dass es solche nicht
gibt. Die Nachrichtendienstegesetze sehen zwar die Zusammenarbeit in vielen Fällen vor, Zuständigkeiten bestehen jedoch für jeden der drei Bundesdienste jeweils
exklusiv.
Schlicht falsch ist im Übrigen Ihre Annahme, die zivilen Verfassungsschutzbehörden wären zuständig, „sobald zum Beispiel ein der Spionage oder als Neonazi
verdächtiger Soldat die Kaserne verlässt“. Der MAD ist
zuständig, sobald ein Angehöriger der Bundeswehr in
einem solchen Verdacht steht - und er bleibt es, solange
diese Person Angehöriger der Bundeswehr ist, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort.
Die Sicherheitsüberprüfung des Personals und der
Schutz der Truppe vor extremistischen und nachrichtendienstlichen Angriffen sind unverzichtbare Fähigkeiten
der Bundeswehr. Autorität und Zugriff auf diese Felder
müssen allein schon aufgrund der Ressortautonomie
und der effektiven Handlungsfähigkeit beim Bundesministerium der Verteidigung verbleiben.
Die Auflösung des Militärischen Abschirmdienstes
wie hier in dem Antrag der Grünen gefordert, wäre eine
Gefährdung der Substanz unserer Ziele, die durch die
Umstrukturierung der Bundeswehr erreicht werden sollen. Daher lehne ich einen solchen Antrag entschieden
ab.
Der Militärische Abschirmdienst, MAD, ist neben
dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst der dritte deutsche Nachrichtendienst
auf Bundesebene. Er nimmt dabei seine im MAD-Gesetz
fixierten Aufgaben eingeschränkt auf Personen und Einrichtungen im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung wahr. Sein Auftrag besteht im
Kern darin, zur Sicherung der Einsatzbereitschaft der
Bundeswehr beizutragen.
Nun nimmt der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
eine seit Ende letzten Jahres mehr oder weniger öffentliche Diskussion in der Regierungskoalition auf, und
fordert die sofortige Auflösung des MAD und die Übertragung der noch notwendigen Aufgaben auf Verfassungsschutz und BND. Auf den ersten Blick ist dies angesichts der anstehenden Veränderungen innerhalb der
Bundeswehr eine durchaus nachvollziehbare Forderung. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt. Damit entfällt die
bisherige Aufgabe, extremismusverdächtige Wehrpflichtige zu überprüfen. Die Bundeswehr wird verkleinert,
Standorte werden aufgegeben werden. Damit gibt es weniger zu tun für den MAD. Auch bei seiner jüngsten
Kompetenz, der Sicherung von Auslandseinsätzen der
Bundeswehr, ist der MAD anscheinend überflüssig,
übernimmt doch der Bundesnachrichtendienst zum Beispiel in Afghanistan die militärische Aufklärung. Die
Arbeit des MAD beschränkt sich dort sowie im Kosovo
und in Dschibuti auf die Binnensicherung der Stützpunkte, womit insbesondere die Sicherheitsüberprüfung
ausländischer Dienstleister gemeint ist. Aber könnte
dies nicht auch von der Militärpolizei oder dem Verfassungsschutz übernommen werden?
Lassen Sie uns doch etwas genauer hinschauen. Können die Aufgaben, die jetzt noch vom MAD wahrgenommen werden, tatsächlich ohne große Schwierigkeiten auf
andere Sicherheitsbehörden übertragen werden? Ich
rate da zur Vorsicht und zu einer Erweiterung der Sichtweise. Es geht um eine Überprüfung der militärischen
Nachrichtengewinnung überhaupt.
Das „Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr“ agiert aus meiner Sicht zurzeit in einer rechtlichen Grauzone. Der Kunduz-Untersuchungsausschuss
hat hier aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion einen
notwendigen Handlungs- und Regelungsbedarf aufgezeigt. Vieles spricht dafür, diesen Bereich und vor allem
dessen parlamentarische Kontrolle gesetzlich zu regeln.
Dies könnte aus unserer Sicht im Rahmen einer Gesamtreform der nachrichtendienstlichen Architektur in
Deutschland geschehen.
Insoweit lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf sofortige Auflösung des MAD ab. Die von mir angesprochene
notwendige Neuregelung im Bereich des militärischen
Nachrichtenwesens sollte aber nicht auf die lange Bank
geschoben werden. Ich rate zu einer umfassenden Diskussion in geordneten Bahnen und fordere die Bundesregierung auf, dem Bundestag möglichst zeitnah Vorschläge zu unterbreiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Militärische Abschirmdienst, abgekürzt: MAD,
ist einer von drei Geheimdiensten unserer Bundesrepublik. Das parlamentarische Kontrollgremium ist das Organ, das diesen Nachrichtendienst kontrolliert. Doch es
ist meiner Meinung die Aufgabe des gesamten Parlamentes, sich Gedanken über die Sicherheitsarchitektur
des Bundes zu machen. Das haben wir als FDP-Bundestagsfraktion schon seit längerem intensiv gemacht, und
wir haben unser Positionspapier zur Überführung des
MAD in das Bundesamt für Verfassungsschutz und die
Bundeswehr im Mai dieses Jahres verabschiedet. Die
Grünen fordern dies nun auch in ihrem sehr verkürzten
Antrag, den wir heute hier behandeln.
Jede Regierung tut nicht nur gut daran, sondern sie
ist es auch den Bürgern schuldig, die Sicherheitsorgane
kontinuierlich zu überprüfen. In diesem Fall wollen wir
als Koalition die Prüfung bezüglich der Möglichkeit einer Aufgabenübertragung vom MAD auf BfV, BND und
Bundeswehr. Diesen Auftrag hat die Bundesregierung
vom Vertrauensgremium erhalten. Auf den Bericht warten die Kollegen des Vertrauensgremiums sehr gespannt.
Auch der Verteidigungsausschuss befasst sich mit der
Materie, weil der MAD zum Geschäftsbereich des BMVg
gehört. Doch auch wir warten die Feinausplanung der
Neuausrichtung der Bundeswehr zunächst ab.
Wir wollen uns einen Gesamtüberblick verschaffen.
Wir wollen uns eine ganz nüchterne Betrachtung leisten;
denn die Umverteilung der Aufgaben und Fähigkeiten
des MAD kann man nicht Hals über Kopf mit einem Antrag bis Ende des Jahres machen, wie es die Grünen fordern.
Der Bericht unseres Prüfauftrages liegt gegenwärtig
noch nicht vor - geschweige denn, dass über diesen in
den Ausschüssen beraten wurde. Die FDP-Fraktion
lehnt diesen Antrag daher ab.
Medien bezeichnen den Militärischen Abschirmdienst, MAD, immer wieder als den „geheimsten aller
Geheimdienste“. Öffentlichkeit und Transparenz sind
für diesen Geheimdienst völlige Fremdworte. Auch beim
Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst
werden diese Tugenden nicht großgeschrieben; aber die
Öffentlichkeit hat wenigstens eine vage Ahnung über
ihre Aufgaben. Der MAD ist mit seinen 1 280 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der kleinste deutsche Geheimdienst und ist sowohl im Inland als auch im Ausland
aktiv - eben überall dort, wo auch die Bundeswehr ist.
In seiner bisherigen Geschichte war der MAD immer
wieder in Skandale verwickelt. Am bekanntesten war die
Kießling-Affäre 1983. Es gab aber auch andere Abhöraffären. Weil dubiose Quellen den Bundeswehrgeneral Günter Kießling verdächtigten, schwul zu sein, und
weil sie dies für ein Sicherheitsrisiko hielten, wurde er
überwacht und ohne Anhörung sowie ohne Prüfung der
Vorwürfe in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Dieser
Skandal ist symptomatisch für die Gefahren, die von Geheimdiensten für eine demokratische Gesellschaft ausgehen.
Die Fraktion Die Linke hat deswegen bereits in ihrem
Bundestagswahlprogramm erklärt, dass sie für eine Auflösung der Geheimdienste ist. Folglich begrüßen wir
den Vorstoß der Grünen, den MAD aufzulösen. Die Abschaffung des MAD kann ein wichtiger Schritt zur Auflösung aller Geheimdienste sein. Dies wäre ein bedeutender Sieg für die Demokratie in diesem Land. Wenn
zusätzlich in diesem Bereich Steuergelder eingespart
werden, dann ist dies auf jeden Fall sinnvoll. Leider
schlagen die Grünen jedoch nicht vor, ersatzlos auf den
MAD zu verzichten, sondern sie wollen seine Aufgaben
„anderen Sicherheitsbehörden“ zuordnen. Das bedeutet
konkret, dass im Inland die Verfassungsschutzbehörden
des Bundes und der Länder noch enger mit dem Militär
kooperieren werden. Im Ausland wird dann der Bundesnachrichtendienst noch enger in die Aktionen des Militärs involviert sein. Dies wäre eine bedenkliche Entwicklung.
Gerade bei Auslandseinsätzen mussten wir in den
letzten Jahren feststellen, dass in der Zusammenarbeit
zwischen Militär und BND immer mehr unkontrollierbare Grauzonen entstanden. Dieses Thema hat uns nun
schon in mehreren Untersuchungsausschüssen beschäftigt. Ich will an dieser Stelle nur auf die Rolle des BND
bei dem Bombardement eines Tanklastzuges am KunduzFluss vor etwas mehr als zwei Jahren erinnern. Eine
Entscheidung, die ganz wesentlich von der Task Force 47
getragen wurde, in der Bundeswehr und BND eng zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit muss beendet
werden und darf nicht noch institutionell gefestigt werden - was zumindest eine Folge des grünen Antrages
sein könnte.
Die Trennung der Aufgaben von Militär und Polizei,
aber auch von Militär und Geheimdiensten sind wichtige Lehren aus dem Dritten Reich. Damit soll die Demokratie vor möglichen Entwicklungen hin zu einer Diktatur geschützt werden. Wenn nun die Bundeswehr, der
Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst
eine institutionell zementierte Zusammenarbeit haben,
dann besteht die Gefahr, dass noch weitere unkontrollierbare Grauzonen entstehen. Der Antrag der Grünen
ist leider nicht mutig genug. Sie schlagen zwar vor, das
„Problem MAD“ zu lösen, aber durch die von ihnen vorgeschlagenen halbherzigen Alternativen schaffen sie
neue Probleme. Die Linke wird sich deswegen bei der
Abstimmung enthalten und wirbt dafür, zukünftig mutig
das gesamte Problemfeld Geheimdienste anzugehen.
Brauchen wir einen dritten, extra für die Bundeswehr
zuständigen Geheimdienst, also den Bundesnachrichtendienst, wirklich? Das ist schon lange fraglich. Für
die Aufklärung und Informationsbeschaffung im Inland
zur Abwehr von Spionage, Terrorgefahren oder verfassungsfeindlichen Bestrebungen war und ist das Bundesamt für Verfassungsschutz zuständig. Für Aufklärung
und Informationsbeschaffung im Ausland ist es der Bundesnachrichtendienst. Nur die Bundeswehr solle von
den Bemühungen dieser beiden Geheimdienste weitgeZu Protokoll gegebene Reden
hend ausgenommen bleiben. Dafür ist der MAD zuständig.
Aber lässt sich Aufklärung und Informationsbeschaffung für diese Ausnahme so einfach von der sonstigen
trennen? Gab es da nicht schon immer zwangsläufig
Reibungsverluste durch Doppelarbeit, Parallelbefassung und gar Konkurrenz, wenn zum Beispiel Agentennetze ausländischer Mächte von den Inlandsgeheimdiensten in Deutschland aufgeklärt werden?
Mit den ersten Auslandseinsätzen der Bundeswehr
kam die neue Konkurrenz zum BND hinzu. Wer sollte zuständig sein für die Aufklärung des Umfeldes der Truppe
im feindlichen Ausland? Den sich anbahnenden Wildwuchs der Zuständigkeiten hatte das Parlament mit der
rot-grünen Mehrheit beschnitten und die Tätigkeit des
MAD bei Auslandseinsätzen auf die Unterkünfte und
Feldlager der Bundeswehr im Ausland gesetzlich eingeschränkt. Alle Aufklärung und Informationsbeschaffung
außerhalb blieb wie bisher dem BND überlassen. Aber
auch diese Trennung bringt Abgrenzungs- und Zuständigkeitsprobleme.
Wir haben deshalb immer wieder gefordert, den Militärischen Abschirmdienst der Bundeswehr sobald wie
möglich aufzulösen. Soweit noch Aufgaben bleiben, die
der MAD bisher wahrnahm, sollen diese künftig durch
andere Sicherheitsbehörden wahrgenommen werden: im
Inland vom Bundesamt für Verfassungsschutz, im Ausland vom Bundesnachrichtendienst. Das bisherige MADPersonal soll - soweit personalrechtlich zulässig - dorthin übergeleitet werden oder im allgemeinen Bundeswehrdienst tätig bleiben. Wegen Effizienzgewinnen können viele dieser Stellen vermutlich in Zukunft mit
Ausscheiden des Stelleninhabers wegfallen. Die Bundesregierung soll dem Bundestag laufend über den Vollzug
dieser Reform berichten.
Gründe für unseren Antrag ergeben sich auch aus
Veränderungen der Sicherheitslage. Sie hat zur faktischen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in
Deutschland geführt. Die Mannschaftsstärke der Bundeswehr wird stark verringert. Ihre Aufgaben sind
andere. Gerade Auslandseinsätze finden unter sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen statt, die jeweils gesondert nicht ausreichend
aufgeklärt und verstanden werden können. Gefahren
und Spionageangriffe auf die Bundeswehr können meist
nur aus dem Gesamtzusammenhang wie etwa des internationalen islamistischen Terrorismus erkannt werden.
Dazu ist aber allenfalls der BND, nicht aber der MAD in
der Lage, zumal der MAD der kleinste der drei deutschen Geheimdienste ist, der circa 1 250 Mitarbeiter,
12 Regionaldienststellen und einen jährlichen Etat von
circa 73 Millionen Euro hat.
Derzeit werden die Neuausrichtung der Bundeswehr
diskutiert, die Verschlankung ihrer Strukturen sowie die
Einsparung von Einrichtungen und Dienststellen. Weil
die Wehrpflicht ab dem 1. Juli 2011 ausgesetzt ist, entfällt auch die bisherige Aufgabe des MAD, laufend extremismusverdächtige Wehrpflichtige zu überprüfen.
Auch zu den Sparbemühungen kann die Abschaffung des
MAD beitragen.
Viele deutsche Sicherheitsbehörden, nicht nur die Geheimdienste, befassen sich heute im In- und Ausland mit
ähnlichen Aufgaben. Dabei kommt es zu teuren Mehrfachzuständigkeiten, Parallelstrukturen und Doppelarbeit. Abgrenzungsbemühungen sind bisher unzureichend. Solche Überschneidungen der Zuständigkeiten
des MAD gibt es nicht nur mit dem Bundesamt und den
Landesämtern für Verfassungsschutz sowie mit dem
Bundesnachrichtendienst, sondern auch mit dem Bundeskriminalamt und dem Zollkriminalamt im In- und
Ausland.
In Deutschland nimmt der MAD in der Bundeswehr
bisher Aufgaben des Verfassungsschutzes wahr: Er erforscht zum Beispiel Extremismus und wehrt Spionage
ab. Umgekehrt sind die Ämter für Verfassungsschutz mit
derlei befasst: zum Beispiel wenn ein der Spionage oder
als Neonazi verdächtigter Soldat außerhalb der Kaserne
überprüft werden soll.
Auch im Ausland bestehen Überschneidungen: Der
MAD wirkt während dortiger Bundeswehreinsätze an
personellen sowie technischen Sicherheitsüberprüfungen mit und analysiert Gefährdungen durch Nachrichtengewinnung. Das Gleiche tut innerhalb der deutschen
Auslandsstützpunkte und in deren Umfeld der BND. So
war es zum Beispiel im afghanischen Bundeswehrstandort Kunduz. Dort sind MAD-Mitarbeiter tätig.
Doch seit 2007 operierte dort parallel die geheime
„Taskforce 47“ mit BND-Angehörigen in einem gesonderten Teil des Stützpunktes, die von dort gleichfalls
afghanische Aufklärer dirigierte. Das wurde erst Ende
2009 durch Zufall bekannt.
Besonders dieses Beispiel zeigt nochmals anschaulich, dass solche Parallelstrukturen und Mehrfachzuständigkeiten die Kontrollierbarkeit der dienstlichen Tätigkeit verringern. Auch die zuständigen Ausschüsse und
Gremien des Bundestages können ihre Kontrollaufgaben
nur schwer wahrnehmen. Auch deshalb sind Parallelorganisationen wie die des MAD aufzulösen.
Bisweilen wird gegen unseren Vorschlag eingewendet, dass allein der MAD seine bisherigen Aufgaben
wahrnehmen könne und niemand sonst. Das jedoch ist
nicht nur unwahrscheinlich und nicht nachvollziehbar.
Vielmehr haben die weit größeren Behörden BfV und
BND, denen die Aufgaben des MAD übertragen werden
sollen, weit größere Erfahrungen mit den entsprechenden Tätigkeiten.
Hinzu kommt, dass schon heute gerade auch im BND
viele ehemalige oder derzeitige Angehörige der Bundeswehr Dienst tun, nicht nur weil der Geheimdienst unter
Angehörigen der Bundeswehr Mitarbeiter wirbt, sondern weil zudem solche zeitweise für besondere Aufgaben und beschränkte Zeit dorthin abgestellt werden.
Schon bisher findet somit ein personeller Austausch der
Bundeswehr mit den Nachrichtendiensten statt.
Auch andere fordern, den MAD abzuschaffen. Dies
tun etwa schon seit langem auch mehrere Ämter für Verfassungsschutz unter Verweis auf die genannten Aufgabenüberschneidungen. Auch die Haushaltsexperten von
Union und FDP haben sich im zuständigen Teil des
Zu Protokoll gegebene Reden
Haushaltsausschusses des Bundestages 2010 für die
Einsparung des MAD ausgesprochen. Und im Mai 2011
hat sogar die Bundesjustizministerin zutreffend festgestellt: „Die Verteilung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes auf drei verschiedene Dienste führt zu
überflüssigen Doppelstrukturen, darauf beruhender Intransparenz und zu der Gefahr doppelter Grundrechtseingriffe“. Treffender hätte ich es kaum formulieren können.
Daher fordere ich Sie auf, den Stimmen auch aus Regierung und Koalition zu folgen und den MAD abzuschaffen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6501
mit dem Titel „Militärischen Abschirmdienst einsparen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung
von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen
- Drucksache 17/6644 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Reden sollen ebenfalls zu Protokoll genommen
werden.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6644 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 17/7020 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die Reden gehen zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/7020 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
1) Anlage 90
2) Anlage 91
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Erforderliche Bewilligungen von Mutter-/VaterKind-Maßnahmen gewährleisten
- Drucksache 17/6493 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Die Reden gehen zu Protokoll.
Eltern-Kind-Maßnahmen sind ein sinnvolles und
wichtiges Element für eine erfolgreiche gesundheitliche
Prävention und Rehabilitation von Müttern und Vätern,
die aufgrund hoher Mehrfachbelastungen physisch und
psychisch beeinträchtigt sind.
Kindererziehung, Beruf und Haushalt managen, das
ist das Alltagsgeschäft vieler Eltern/Alleinerziehender.
Erschwert wird die familiäre Situation, wenn finanzielle
Sorgen, Partnerschaftsprobleme oder die Pflege eines
Angehörigen hinzukommen. Die steigenden Belastungen
und Erwartungen werden zu Belastungen, die die Gesundheit beeinträchtigen können und krank machen. Erschöpfungszustände, Unruhe, Nervosität, Angst, Schlafstörungen, Allergien, Magen-Darm-Störungen, HerzKreislauf-Störungen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen
sind typische Beispiele für Gesundheitsprobleme von
Müttern und Vätern in derartigen Situationen. Wenn die
ersten Signale von Körper und Seele ignoriert werden,
weil Eltern weiter für die Familie funktionieren wollen,
können aus Störungen Krankheiten werden, die intensiver Behandlung bedürfen. Um diesen Kreislauf möglichst früh zu unterbrechen und den betroffenen Familien zu helfen, sind Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen seit
2007 Pflichtleistungen der GKV.
Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde
festgelegt, dass von den gesetzlichen Krankenkassen neben den bereits erfassten Daten zu Fallzahlen und Ausgaben erstmals für das Jahr 2008 auch Daten zur Antrags- und Bewilligungspraxis von Vorsorge- und
Rehabilitationsmaßnahmen zu erheben sind. Die Ermittlung des Antrags- und Bewilligungsgeschehens der gesetzlichen Krankenkassen von Mutter-/Vater-Kind-Kuren hat ergeben, dass in den Jahren 2007 und 2008
sowohl die Zahl der Kuren als auch die Ausgaben der
gesetzlichen Krankenkassen angestiegen sind. In den
Folgejahren waren die Ausgaben hingegen rückläufig.
Sie gingen im Jahr 2009 um 6,01 Prozent gegenüber
dem Vorjahr zurück, im Jahr 2010 sanken sie wiederum
um 9,22 Prozent jeweils im Vergleich zum Vorjahr.
Auch der Bericht des Bundesrechnungshofes hat dazu
beigetragen, dass die Ungereimtheiten in der BewilliRudolf Henke
gungspraxis der Leistungsträger zutage gefördert wurden. In diesem Bericht wird unter anderem eine fehlende
Transparenz in der Bewilligungs- und Ablehnungspraxis
der Anträge von Mutter-/Vater-Kind-Kuren bemängelt.
Obwohl für alle gesetzlichen Krankenkassen die gleichen rechtlichen Voraussetzungen gelten, weichen die
Entscheidungen der einzelnen Kassen bisweilen sehr
deutlich voneinander ab.
Darüber hinaus wird vom Bundesrechnungshof darauf verwiesen, dass Krankenkassen in der Praxis Kuranträge mit dem Hinweis auf ambulante Angebote ablehnen. Der Gesetzgeber hat im Falle der Eltern-KindKuren festgelegt, dass nicht alle ambulanten Maßnahmen ausgeschöpft sein müssen, um einen entsprechenden Kurantrag zu bewilligen. Diese Entwicklung ist
nicht nachvollziehbar und unbefriedigend. Daher hat
der Ausschuss für Gesundheit als Konsequenz einen
Entschließungsantrag beschlossen, der mit Ausnahme
der Linken von allen Fraktionen mitgetragen wird. Mit
dem Beschluss setzen wir uns dafür ein, dass der GKVSpitzenverband und der Medizinische Dienst des GKVSpitzenverbandes bis spätestens Ende 2011 folgende
Vorkehrungen zu treffen haben:
Die Begutachtungsrichtlinie Vorsorge und Rehabilitation ist zu überarbeiten. Die Antragsvordrucke sind zu
verbessern und zu vereinheitlichen.
Es sind verständliche Arbeitshilfen zum Grundsatz zu
erstellen, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme
nicht voraussetzt, dass zuvor ambulante Maßnahmen
ausgeschöpft wurden.
Die Entscheidungen der Krankenkassen müssen
transparent und mit aussagekräftigen und nachvollziehbaren Begründungen getroffen werden. Die Krankenkassen haben sicherzustellen, dass die Bescheide mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden.
Außerdem dürfen Krankenkassen nicht den Eindruck
vermitteln, dass Widerspruchsverfahren ohne Widerspruchsbegründung oder Äußerung der Versicherten
nicht fortgeführt oder eingestellt würden.
Der Beschluss des Gesundheitsausschusses gilt und
muss jetzt wirken. Daher dient der Antrag der Linken
nur noch der eigenen Positionierung. Wir lehnen ihn ab.
In einem weiteren Punkt fand der Bundesrechnungshof Mängel. Die Frage der Zuständigkeit des Leistungsträgers ist nach wie vor problematisch in der Klärung. Im Falle der Mutter-/Vater-Kind-Kuren lehnen
Krankenkassen Anträge mit der Begründung ab, der
Rentenversicherer sei zuständig, da es sich nicht um
eine Präventionsmaßnahme handele, sondern um eine
Rehabilitationsmaßnahme.
Anstatt - wie gesetzlich im § 14 SGB IX oder § 40
Abs. 4 SGBV geregelt - die Anträge nach Prüfung und
Feststellung der Nichtzuständigkeit weiter an den vermutlich zuständigen Leistungsträger zu leiten, weisen
einige Kassen die Antragsteller lediglich darauf hin,
dass sie die Maßnahme beim Rentenversicherungsträger beantragen können.
Im Bereich Prävention und Rehabilitation gibt es eine
Vielzahl von Maßnahmen, die erkrankte Menschen und
Menschen mit Behinderungen dabei unterstützen sollen,
ihren Alltag besser bewältigen zu können, in das Berufsleben wieder eingegliedert zu werden oder etwa die
Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die Union hat sich in
den letzten Jahren für viele dieser Maßnahmen und gesetzlichen Regelungen eingesetzt.
In der Praxis zeigt sich jedoch, dass oftmals diese Ansprüche zu spät, nur zum Teil oder gar nicht umgesetzt
werden. Noch immer werden Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranke bei der Suche nach den zuständigen Kostenträgern entgegen geltender Rechtslage
von einer Stelle zur anderen weitergereicht, ohne die für
sie erforderlichen Leistungen zu bekommen. Fristen für
die Bearbeitung eines Antrags werden nicht eingehalten,
unterschiedliche Leistungen nicht koordiniert. Die sogenannten Gemeinsamen Servicestellen, deren Aufgabe
die Beratung und Unterstützung bei der Antragsstellung
ist, sind häufig nicht oder nur wenig bekannt. Zudem
können sie in vielen Fällen ihre Aufgaben aufgrund fehlender Ressourcen und Kompetenz nicht zweckmäßig erfüllen.
Unsere Aufgabe ist es, auch über die Mutter-/VaterKind-Maßnahmen hinaus darauf zu achten, dass diese
Missstände behoben werden.
Die christlich-liberale Koalition unterstützt die Mütter und Väter in unserem Land, die aus gesundheitlichen
Gründen eine Kur mit ihren Kindern benötigen. Ich
treffe diese Feststellung gleich zu Beginn und ohne jedes
Wenn und Aber; denn es handelt sich bei diesen Kuren
um wichtige Maßnahmen zur Prävention und Rehabilitation, an denen wir keine Abstriche zulassen werden.
Als Vertreter meiner Fraktion im Gesundheitsausschuss und im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend hatte ich Gelegenheit, an allen diesbezüglichen Beratungen teilzunehmen. Die Haltung der CDU/
CSU-Fraktion ist ganz klar: Wir werden keine Ruhe geben, bis die Krankenkassen ihren gesetzlichen Verpflichtungen in Sachen Mutter-/Vater-Kind-Kuren zweifelsfrei
nachkommen.
Der Wille des Gesetzgebers ist doch ganz eindeutig:
Weil immer mehr Erziehungsberechtigte sich in unserem
Land Mehrfachbelastungen ausgesetzt sehen, die ihrer
Gesundheit abträglich sind, wollen wir dem mit der
Stärkung und besseren Durchsetzung von Mutter-/VaterKind-Kuren entgegenwirken. Um dies sicherzustellen,
sind die entsprechenden Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung durch das zum 1. April 2007 in
Kraft getretene GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, GKVWSG, von Ermessens- in Pflichtleistungen umgewandelt
worden.
Zunächst, in den Jahren 2007 und 2008, haben dann
ja auch die Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen deutlich zugenommen; das Gleiche galt für die diesbezüglichen
Aufwendungen der GKV. Seit 2009 beobachten wir hingegen einen spürbaren Rückgang der entsprechenden
Zu Protokoll gegebene Reden
Ausgaben der GKV, der sich im Jahr 2010 sogar noch
verstärkt hat.
Das ist eine Entwicklung, die uns mit Blick auf die
Bedeutung der Mutter-/Vater-Kind-Kuren Sorgen macht,
zumal es deutliche Hinweise darauf gibt, dass dieser
Rückgang ursächlich mit der Bewilligungspraxis der gesetzlichen Krankenkassen zusammenhängt.
Tatsache ist jedenfalls, dass uns aus allen Himmelsrichtungen Klagen und Beschwerden über die Genehmigungspraxis erreichen. Das Müttergenesungswerk und
die Caritas berichten beispielsweise von stetig steigenden Ablehnungsquoten, von fadenscheinigen Begründungen und groben Verfahrensmängeln; von Müttern,
denen schon drei-, vier-, fünfmal die Kur verweigert
wurde, wobei oftmals nur falsche Formulierungen in
den Anträgen als Begründung für abschlägige Bescheide dienen mussten.
In einigen Regionen ist zuletzt fast jeder dritte Antrag
abgelehnt worden, anderswo lehnen manche Kassen
über 50 Prozent der Anträge ab. Der Verdacht drängt
sich förmlich auf, dass hier eine willkürliche Praxis am
Werke ist, die nichts mit dem Buchstaben des Gesetzes zu
tun hat - eine Praxis, die leider das Prädikat „familienfeindlich“ verdient.
Dabei sollten sich doch alle Beteiligten über den
Grundsatz einig sein, dass Vorsorge besser ist als Nachsorge. Es kann daher nicht angehen, dass Mütter und
Väter zu Bittstellern werden müssen, wenn es um den Erhalt ihrer Gesundheit geht. Auch der Bericht, den der
Bundesrechnungshof in dieser Angelegenheit zwischenzeitlich dem Haushaltsausschuss vorgelegt hat, spricht
eine deutliche Sprache. Wir haben uns in den zuständigen Ausschüssen wiederholt mit diesen Erkenntnissen
beschäftigen müssen.
Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass sich sowohl das federführende Bundesministerium für Gesundheit wie auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Problematik angenommen haben und gegenüber den Krankenkassen, dem
GKV-Spitzenverband sowie seinem Medizinischen Dienst
auf eine angemessene Entwicklung der Mutter-/VaterKind-Maßnahmen drängen.
Wir alle erwarten nunmehr von den Krankenkassen,
dass diese ihre Bewilligungspraxis überprüfen und insbesondere für transparente Begutachtungen und nachvollziehbare Entscheidungen sorgen. Missverständliche
Antragsvordrucke und fehlende Rechtshilfebelehrungen
müssen der Vergangenheit angehören. Menschen, die
nach dem Willen des Gesetzgebers Ansprüche auf
Pflichtleistungen haben, dürfen nicht länger leer ausgehen. Die Kassen sind verpflichtet, in jedem Einzelfall
und bei jeder Untersuchung eine individuell nachvollziehbare und begründete Entscheidung vorzulegen. Wir
erwarten, dass jetzt möglichst umgehend die richtigen
Konsequenzen aus den umfangreichen Beratungen hier
im Hause gezogen werden und dass dem Gesundheitsausschuss alsbald ein entsprechender Bericht erstattet
wird.
Mit unserem vorliegenden Antrag stärken wir die
Rechte von Müttern und Vätern, die einen Anspruch haben auf die vom Gesetz gewollte Gesundheitsversorgung. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aufgefordert, ihre bisherige Praxis zügig zu überprüfen, damit
die notwendigen Maßnahmen künftig zeitnah und unbürokratisch bearbeitet und bewilligt werden können.
Mit einem Wort: Wir erwarten, dass dem Willen des Gesetzgebers Genüge getan wird.
Die Sachlage in dieser Debatte zum Antrag der Fraktion Die Linke ist für uns Sozialdemokraten eindeutig.
Denn wir waren es, die im Rahmen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes im Jahr 2007 unter Federführung von Ulla Schmidt dafür gesorgt haben, dass Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen von Ermessensleistungen
zu Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wurden, und das aus gutem Grund. Wir sind
schließlich grundsätzlich der Überzeugung, dass besonders jene in der Gesellschaft unseres Schutzes und unserer besonderen Förderung bedürfen, die Großes leisten.
Die Erziehung von Kindern gehört zu eben jenen anzuerkennenden und herausragenden Lebensleistungen.
Halten wir fest: Es geht hier in erster Linie um die betroffenen Mütter und Väter. Sie können im Rahmen besagter Maßnahmen die notwendige Energie, Kraft und
Ausgeglichenheit wiederfinden, damit ein harmonisches
Zusammenleben in der Familie auch in Zukunft weiter
bzw. wieder möglich ist. Deshalb haben wir als SPD
während unserer Regierungsverantwortung auch die
Bedeutung von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen als ein
überaus wichtiges Teilelement einer umfassenden Strategie von Prävention und Rehabilitation unterstrichen.
Es ist uns wichtig, dass diese Leistungen die Menschen erreichen, die sie benötigen. Um die Entwicklungen des Leistungsgeschehens beobachten zu können, haben wir die Krankenkassen mit der Umwandlung der
Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen in Pflichtleistungen
auch zur jährlichen Erhebung von Daten über die Antragsentwicklung und die Bewilligungspraxis gesetzlich
verpflichtet. Nach Auswertung der aktuellen Zahlen
können wir alles andere als zufrieden sein. Die Bewilligungspraxis der Krankenkassen weist erhebliche Defizite auf.
Die Entscheidungsgrundlagen für die Bewilligung
von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen sind für die Krankenkassen nicht einheitlich geregelt. Es gibt keine einheitlichen Antragsvordrucke und die Entscheidungen
sind oft nicht oder nur schwer nachvollziehbar begründet. Auch der Bundesrechnungshof hat diese Defizite in
seinem Prüfbericht deutlich aufgezeigt. Hier muss sich
schnellstens etwas ändern.
Wir haben deshalb - gemeinsam mit den Unionsfraktionen, den Liberalen und Bündnis 90/Die Grünen - den
GKV-Spitzenverband und den Medizinischen Dienst des
GKV-Spitzenverbandes aufgefordert, bis spätestens zum
Jahresende für ein transparentes Bewilligungsverfahren
bei Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen zu sorgen. Das
schließt die Überarbeitung der „Begutachtungs-RichtZu Protokoll gegebene Reden
linie Vorsorge und Rehabilitation“ ebenso ein wie die
Erstellung von verständlichen Arbeitshilfen zum Grundsatz, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme nicht das
vorherige Ausschöpfen ambulanter Maßnahmen voraussetzt.
Ich stelle für meine Fraktion erneut klar, dass wir dieses fraktionsübergreifende Vorgehen auch weiterhin für
den richtigen Weg halten. Ich erwarte jedoch vom Bundesgesundheitsminister und auch von Ihnen, Herr Kollege Zöller - in Ihrer Funktion als Patientenbeauftragter -, das Geschehen sehr genau im Auge zu behalten.
Appellschreiben an uns Abgeordnete reichen da nicht.
Vielmehr müssen Sie und das Gesundheitsministerium
jetzt umso mehr ihrer Verantwortung nachkommen und
für eine verstärkte Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit Sorge tragen.
Nach meiner Auffassung können Sie in diesem Fall
nicht warten, bis sich die betroffenen Mütter und Väter
an Sie wenden. Vielmehr müssen Sie jetzt in die Öffentlichkeit gehen, um die Betroffenen über ihre Rechte aktiv
zu informieren, bis letztendlich die notwendigen Anpassungen in der Begutachtungspraxis vollzogen sind.
Noch ein Hinweis, Herr Kollege Zöller: Das hilft im
Übrigen nicht nur den Betroffenen, es stärkt auch das
Amt und das Ansehen des Beauftragten für Patientinnen
und Patienten in Deutschland. Unsere Forderungen
gegenüber dem GKV-Spitzenverband und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen sind unmissverständlich. Wir erwarten mehr Transparenz beim Antragsverfahren und eine korrekte Bewilligungspraxis.
Die Betroffenen müssen zu ihrem gesetzlichen Recht
kommen.
Ich will an dieser Stelle noch einige Worte zum eigentlichen Gegenstand dieser Debatte verlieren, dem
Antrag der Fraktion Die Linke. Ich für meinen Teil bedauere ausdrücklich, dass trotz der Tatsache, dass man
sich scheinbar im Kern der Sache zu Mutter-/VaterKind-Maßnahmen einig ist, von ihnen weitere Forderungen erhoben werden. Ich will auf Punkt eins ihres Forderungskatalogs zu sprechen kommen. Sicher, mir ist Ihre
Form des Wirtschaftens wohl bekannt. Nur ist es unsere
Überzeugung, dass insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V vor dem Hintergrund der
Finanzierungssituation in der GKV unerlässlich ist. Ich
will Ihnen auch nochmals kurz begründen, warum. Diesem Gebot müssen insbesondere die Leistungserbringer
und auch die Kassen bei der Verordnung und der Bewilligung Folge leisten. Dies steht jedoch nicht - wie von
Ihnen suggeriert - im Widerspruch zum Leistungsgedanken der GKV. Im Gegenteil: Diese Regelung kommt im
Endeffekt der gesamten Gemeinschaft der Versicherten
zugute.
Wieder einmal entsteht angesichts eines Antrags der
Opposition der Eindruck, dass trotz eines erkennbar guten Willens die Realität ignoriert und das Kind mit dem
Bade ausgeschüttet wird.
In der Tat lässt die derzeitige Praxis im Bereich der
Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen viele Fragen entstehen. Diese Präventionsmaßnahmen sind von ganz erheblicher Bedeutung, um überlasteten Eltern und gestressten Kindern eine therapeutisch begleitete „Auszeit“
einzuräumen und so dafür zu sorgen, dass physische und
psychische Krankheiten vermieden werden können. Insoweit verwundert es, dass die Krankenkassen etwa ein
Viertel der gestellten Anträge ablehnen und die Ausgaben für Mutter-/Vater-Kind-Kuren rückläufig sind.
Dieser Missstand ist aber allen Beteiligten schon
längst bekannt und hat sich auch im Handeln der Politik
niedergeschlagen. Der Bundesgesundheitsminister hat
schon vor mehreren Monaten den GKV-Spitzenverband
und dessen Medizinischen Dienst nachdrücklich zum zügigen Handeln aufgefordert. Sowohl das BMG als auch
das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend stehen im Kontakt mit allen Beteiligten, um
eine angemessene Entwicklung der Maßnahmen zu forcieren.
Im Mai 2011 fanden im BMG Gespräche mit Krankenkassen, dem GKV-Spitzenverband, dem Müttergenesungswerk und dem Bundesverband Deutscher Privatkliniken statt. In den Gesprächen wurden genau diejenigen Punkte bereits thematisiert, um die es in dem Antrag geht, insbesondere eine bessere Transparenz und
Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen der Krankenkassen.
Nicht zuletzt haben sich am 6. Juli im Gesundheitsausschuss alle Fraktionen - außer der Linken - auf einen Entschließungsantrag geeinigt, in dem der GKVSpitzenverband und sein Medizinischer Dienst aufgefordert werden, konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Dazu
gehören: die Verbesserung der Transparenz der Entscheidungsgrundlagen in den Bewilligungsverfahren,
die Überarbeitung der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation; die Erstellung von Arbeitshilfen zum Grundsatz, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme keine Ausschöpfung ambulanter Maßnahmen
voraussetzt; die Pflicht, bei der Entscheidung über eine
solche Maßnahme aussagekräftige und nachvollziehbare Begründungen zu liefern; die Pflicht, Bescheide mit
einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen; eine Berichtspflicht an den Deutschen Bundestag bis 31. März
2012.
All diese Maßnahmen sollen bis spätestens Ende 2011
erfolgen - das sind nurmehr etwa drei Monate. Bis dahin haben betroffene Patientinnen und Patienten die
Möglichkeit, von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch zu
machen oder sich an die Unabhängige Patientenberatung zu wenden.
Man muss sich doch fragen, warum dieses Bündel
sinnvoller Maßnahmen in der Ausschusssitzung vom
6. Juli von der Linken nicht mitgetragen wurde und sich
jetzt, zweieinhalb Monate später, in einem Gesetzesantrag fast wortwörtlich wiederfindet. Leiden die Kolleginnen und Kollegen von der Linken an kollektivem Gedächtnisverlust? Wohl kaum. Vielmehr geht es ihnen
offensichtlich darum, wieder einmal eine gesetzliche Regelung in einem Bereich zu erlassen, in dem eine solche
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht nötig ist. Wir sollten die Maßnahmen des GKVSpitzenverbandes abwarten, statt für alles und jedes
nach einem Gesetz zu schreien.
Es ist typisch, dass die Fraktion der Linken sich trotz
inhaltlicher Übereinstimmungen hiermit von allen anderen Fraktionen abgrenzt - um der Abgrenzung willen. Es
ist typisch für Ihre Regelungswut, meine Damen und
Herren von der Linken. Und wenn Sie in Ihrem Antrag
versuchen, den Schwarzen Peter für die derzeit missliche Situation dem Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zuzuschieben, so zeigt dies nichts anderes als Ihr
grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Wettbewerb
als solchem. Dass dieser letztlich im wohlverstandenen
Interesse der Patientinnen und Patienten liegt, entzieht
sich der Verständniswelt Ihrer Fraktion.
Ich finde es bedauerlich, dass sich die Linke nicht bereits im Juli dem gemeinsamen Entschließungsantrag
angeschlossen hat. Das Ergebnis ist diese völlig überflüssige Debatte. Aber so etwas kennen wir ja bereits.
Das Bundesgesundheitsministerium, das Bundesfamilienministerium und die Gesundheitspolitiker im
Deutschen Bundestag werden sich weiterhin wachen Auges um eine transparente und positive Entwicklung im
Bereich der Mutter-/Vater-Kind-Kuren kümmern. Wenn
die Linke meint, sich auf diesem Feld mit untauglichen
Vorschlägen profilieren zu müssen, so möge sie dies tun.
Nützen wird es ihr mit Sicherheit nicht.
Es geht heute um einen Antrag meiner Fraktion zu
Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen. Schon vor einiger Zeit
haben viele Kur- und Rehabilitationseinrichtungen darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Bewilligungspraxis der Krankenkassen geändert habe. Daraufhin haben wir im Gesundheitsausschuss einen Bericht des
GKV-Spitzenverbandes mit Daten der Krankenkassen
über die Bewilligungen erhalten: Diese Daten waren
vollkommen inkonsistent. Der Bericht zeigte aber zumindest an, dass die Bewilligungen von Mutter-/VaterKind-Maßnahmen rückläufig sind. Der Bundesrechnungshof hat dann zum 7. Juni 2011 einen Untersuchungsbericht zur Bewilligungspraxis bei Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen vorgelegt. Dieser Bericht zeigt
deutliche Mängel bei der Bewilligungspraxis der Krankenkassen auf und macht in einer Würdigung Vorschläge, wie diesen Mängeln abgeholfen werden kann.
In einem Entschließungsantrag haben die Fraktionen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
den Ball zum Spitzenverband der Krankenkassen und
zum Medizinischen Dienst zurückgespielt, obwohl der
Bericht des Bundesrechnungshofes neben einer Reihe
von weiteren Maßnahmen auch eine gesetzliche Klarstellung für notwendig hält. Der Bundesrechnungshof
schreibt eindeutig: „Obwohl ambulante Maßnahmen
vor einer Mutter-/Vater-Kind-Kur nicht ausgeschöpft
sein müssen, können Krankenkassen unter Hinweis auf
das Wirtschaftlichkeitsgebot auf ambulante Maßnahmen
verweisen. Damit entsteht ein Zielkonflikt zu der vom
Gesetzgeber beabsichtigten Stärkung der Mutter-/VaterKind-Kuren, der nur durch eine gesetzliche Klarstellung
beseitigt werden kann.“ Wir wollen nicht vergessen,
dass es Ziel der Gesetzesänderung im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz war, den Rechtsanspruch von
Müttern und Vätern auf medizinische Vorsorge und Rehabilitation in eine Pflichtleistung zu überführen und
gerade hier den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu
beenden.
Der Antrag der Fraktion Die Linke enthält neben
weiteren Forderungen diese notwendige Aufforderung
zu einer gesetzlichen Klarstellung, während alle anderen Fraktionen meinen, das Problem auf kurzem Dienstweg lösen zu können. Leider bleiben diese Fraktionen
damit hinter der vernünftigen Forderung des Bundesrechnungshofes zurück.
Nicht außer Acht lassen möchte ich allerdings, wo die
eigentliche Ursache für den Rückgang der Bewilligungen zu suchen ist: bei der Unterfinanzierung des
Gesundheitsfonds, insbesondere bei der Kopfpauschale
- durch die Hintertür - mit Einführung der Zusatzbeiträge und beim damit einhergehenden Wettbewerbsdruck im Gesundheitswesen. Die Krankenkassen versuchen um jeden Preis, Zusatzbeiträge zu vermeiden und
damit ihre finanzielle Situation zu stabilisieren. Sie handeln letztlich wie privatwirtschaftliche Versicherungsunternehmen, minimieren Kosten, schreiben möglichst
viel in Kleingedrucktes, vermeiden Kostenrisiken. Die
Pleite der City BKK mit Versicherten, die bangen mussten, von anderen Kassen aufgenommen zu werden, zeigt
die Auswüchse einer Politik, die meint, im Gesundheitssystem auf knallharten Wettbewerb setzen zu müssen.
Verlierer solcher Politik sind immer die Versicherten
und Kranken, besonders die sozial benachteiligten und
weniger gebildeten Versicherten und Kranken. Wenn wir
solche Verhältnisse wie bei den Mutter-/Vater-KindMaßnahmen nicht überall haben wollen, müssen wir
endlich eine stabile und zukunftsfähige Finanzierung
der Krankenversicherung herstellen. Die solidarische
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wäre ein mehr
als gangbarer Weg.
Mit den Problemen bei der Bewilligung von Mutter-/
Vater-Kind-Maßnahmen beschäftigt sich in regelmäßigen Abständen immer wieder der zuständige Gesundheitsausschuss, und es gibt in den Debatten dazu eine
sehr große inhaltliche Übereinstimmung aller Fraktionen. Dies trifft auch auf den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu, der sich immer wieder
mit der Thematik befasst.
Der im Antrag zitierte Bericht des Bundesrechnungshofs zu den Vorsorgemaßnahmen im Bereich MutterVater-Kind, den § 23 SGB V betreffend, zeigt die bestehenden Probleme deutlich auf. Es wird die hohe Ablehnungsrate kritisiert. Beanstandet wird, dass die Krankenkassen mit Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot
oft auf ambulante Angebote verwiesen, obwohl dies hier
nicht zulässig ist. Der Bundesrechnungshof sieht Gleichbehandlungsprobleme bei der Genehmigung von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen und stellt fest, dass die EntZu Protokoll gegebene Reden
scheidungspraxis den Versicherten den Eindruck von
Willkür vermitteln kann.
Im Juli 2011 haben die Fraktionen CDU/CSU, FDP,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen in einem Ausschussantrag kritisch zur aktuellen Situation Stellung bezogen
und die Selbstverwaltung zum Handeln aufgefordert.
GKV-Spitzenverband und MDK sollen zeitnah das Bewilligungsverfahren verbessern sowie für transparente,
nachvollziehbare und belastbare Entscheidungen sorgen. Die „Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation“ soll überarbeitet, Antragsvordrucke verbessert und vereinheitlicht werden sowie Arbeitshilfen
für die Begutachtungs- und Leistungspraxis erstellt werden. Bescheide sollen mit Rechtshilfebelehrungen versehen werden und anderes mehr. Die Umsetzung soll Ende
2012 überprüft werden.
Da es ein gemeinsames Anliegen aller im Bundestag
vertretenen Fraktionen ist, dass sich die konkrete Praxis
bei der Bewilligung von Mutter-/Vater-Kind-Kuren ändert, kann das Bundesgesundheitsministerium guten
Gewissens „sanften Druck“ auf die Kassen ausüben.
Gleichzeitig darf man sich aber nicht erhoffen, dass alle
Rehabilitationsmaßnahmen nach § 41 SGB V und die
Vorsorgemaßnahmen nach § 23 SGB V in Zukunft bewilligt werden. Auch bei Pflichtleistungen der Kassen muss
für die Bewilligung eine medizinische Indikation vorliegen.
Auch wir kritisieren, dass einige Krankenkassen mit
Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12
SGB V auf ambulante Angebote verweisen. Es ist eindeutig geregelt, dass für Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen der Grundsatz „ambulant vor stationär“ nicht gilt.
Hier muss durch die Kassen eine rechtskonforme Umsetzung erfolgen. Der Vorschlag der Linken, als Konsequenz das Wirtschaftlichkeitsgebot bei Mutter-/VaterKind-Kuren einzugrenzen, überzeugt mich nicht. Auch
hier sollte der Grundsatz „ausreichend, zweckmäßig
und notwendig“ gelten.
Wir alle gehen davon aus, dass Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen nach den §§ 24 und 41 SGB wichtige Elemente für eine erfolgreiche Prävention und Rehabilitation sind. Wenn man diese Annahme belegen will
und sich auf die Suche nach unabhängigen Studien
macht, wird man kaum fündig. Der Forschungsverbund
Familiengesundheit - ein Zusammenschluss von Mutter-/
Vater-Kind-Kliniken und einem wissenschaftlichen Team
der Medizinischen Hochschule Hannover - forscht seit
einigen Jahren praxisbezogen. Diese Ergebnisse lassen
auf Verbesserungen des Gesundheitszustandes und der
Erziehungskompetenz schließen. Gleichzeitig weist
dieser Zusammenschluss auf das weite Feld offener Forschungsfragen hin. Genannt werden: aktuelle Daten in
Bezug auf Belastungen, Beschwerden und Langzeiteffekte bei Müttern und Kindern, die gesundheitliche Situation der Väter in Vater-Kind-Maßnahmen, indikationsspezifische Effektmessung, Unterscheidung zwischen
Vorsorge und Rehabilitation, zielgruppenspezifischer
Bedarf, zum Beispiel Mütter mit Migrationshintergrund,
sowie die Effizienz von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen.
Hier gibt es viel zu tun und hier könnte, wenn sie es
wollte, die Bundesregierung kurz- und langfristig tätig
werden. Gelder für die Versorgungsforschung stehen sowohl im Haushalt des Gesundheits- als auch des Forschungsministeriums zur Verfügung. Mit etwas politischem Willen würde man hier das Thema Vorsorge und
Reha von Eltern und Kindern gut verorten können.
In der politischen Debatte steht die Bewilligung von
Eltern-Kind-Maßnahmen im Vordergrund. Das Thema
Wirksamkeit und Qualität der Angebote habe ich bereits
angeschnitten. Auf eine weitere offene Baustelle möchte
ich noch hinweisen: Um Erfolge stationärer Maßnahmen langfristig zu sichern, sind Angebote hilfreich, die
Eltern und Kinder nach Ende der Kur zu Hause zur Verfügung stehen, um das neu Angeeignete in den Alltag zu
integrieren. Auch hier lohnt es sich, Gelder für die Forschung in die Hand zu nehmen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 17/6764 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Reden sollen zu Protokoll gehen.
Bei der Mehrheit der Änderungen durch das vorliegende Gesetzesvorhaben handelt es sich um technische
Aspekte und um Vorgaben aus dem Europarecht. In den
Sozialgesetzbüchern und im Sozialgerichtsgesetz wird
eine Vielzahl von Regelungen geändert oder angepasst,
um die Verfahren effizienter zu gestalten. Zusätzlich
wird eine Reihe von Einzelfragen der Sozialversicherung geklärt. Ich will die entscheidenden Punkte herausgreifen.
Für Ehrenbeamte - zum Beispiel ehrenamtliche Bürgermeister, Ortsvorsteher -, die eine Aufwandsentschädigung und eine vor der Regelaltersgrenze beginnende
Rente der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten und
von der bisherigen Auslegung des Rechts begünstigt waren, wird bei der Berücksichtigung der Aufwandsentschädigung als Hinzuverdienst eine fünfjährige Übergangsregelung geschaffen.
Rentenbezieher erhalten bisher jährlich eine Mitteilung über die Anpassung der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies ist bei Änderungen der
Höhe des aktuellen Rentenwerts notwendig, da sich
diese Änderung individuell unterschiedlich auf die Rentenhöhe auswirkt. Die Anpassungsmitteilung gibt Auskunft über den künftig an Rentnerinnen und Rentner
auszuzahlenden Betrag. Entspricht hingegen der aufgrund der Anpassungsformel ermittelte neue aktuelle
Rentenwert betragsmäßig dem bisherigen aktuellen
Rentenwert, verändert sich die Rentenhöhe nicht und
eine Anpassungsmitteilung ist entbehrlich. Deshalb wird
in diesem Fall künftig auf den Versand verzichtet. Das
hat zuletzt Kosten von 10 Millionen Euro verursacht, obwohl die Rentnerinnen und Rentner über die Medien informiert sind.
Die Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen
Studiengängen soll einheitlich für alle dualen Studiengänge und für die gesamte Dauer des Studiengangs geregelt werden.
Im Beitrags- und Meldeverfahren zur Sozialversicherung sollen weitere Vereinfachungen für die Arbeitgeber
eingeführt werden. Die Verfahrensvereinfachungen gehen auf Vorschläge aus der Praxis sowohl vonseiten der
Arbeitgeber als auch vonseiten der Sozialversicherungsträger zurück.
Es wird klargestellt, dass eine Erstattungspflicht des
Bundes für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger
der Einrichtungen nur für die im Arbeitsbereich einer
anerkannten Werkstatt tätigen behinderten Menschen
besteht. Im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer
anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen besteht
grundsätzlich keine Erstattungspflicht des Bundes. Mit
der beabsichtigten Änderung der Regelung über die Erstattungspflicht des Bundes für Rentenversicherungsbeiträge behinderter Menschen in anerkannten Werkstätten
für behinderte Menschen sollen die Kosten für die rentenrechtliche Absicherung der im Eingangs- und Berufsbildungsbereich tätigen behinderten Menschen rückwirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozialversicherungsträger übergehen.
Diese Änderung betrifft weder die behinderten Menschen selbst noch die Werkstätten für behinderte Menschen. Es geht allein um einen Erstattungsmodus zwischen den betroffenen Sozialversicherungsträgern und
dem Bund. Auch wenn bis 2007 anders verfahren wurde,
gibt es keinen Grund, diese seinerzeitige fehlerhafte
Praxis beizubehalten.
Etwa 4,4 Prozent der schwerbehinderten Menschen
sind von Geburt an behindert. Sofern diese Behinderung
dazu führt, dass sie nur in einer WfbM tätig sein können,
ist im Regelfall die Bundesagentur für Arbeit
zuständiger Leistungserbringer. Sie hat einzutreten,
wenn kein anderer Träger der Rehabilitation zuständig
ist, also in der Hauptsache dann, wenn der behinderte
Mensch nach Beendigung der Schulzeit zur beruflichen
Ersteingliederung in das Arbeitsleben in die Werkstatt
eintritt.
Für die Zeit im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich ist die Berufsfindung und Berufsausbildung auch bei von Geburt an behinderten Menschen
Aufgabe der BA. Dies ist nicht anders als bei anderen
Rehabilitanten, unabhängig davon, ob diese von Geburt
an oder später behinderte Menschen werden. Bleiben
diese Personen in der Werkstatt für behinderte Menschen, so übernimmt wieder der Bund die Erstattung der
Beiträge, soweit sie nicht als Arbeitsentgelt beitragspflichtig sind. Im Jahr 2008 und 2009 gab es je etwa 24 000
Förderfälle im Zuständigkeitsbereich der BA, circa
6 000 Förderfälle bei der Deutschen Rentenversicherung Bund.
Abschließend will ich auf die zwischen Bundesgesundheitsministerium und Verband der privaten Krankenversicherung getroffene Vereinbarung eingehen,
nach der privat versicherten Empfängern von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Beitragsschulden erlassen werden sollen. Die Regelung soll
in den Änderungsantrag zu diesem Gesetzentwurf mit
aufgenommen werden.
Zum Hintergrund kurz Folgendes: Seit 2009 gilt auch
für die PKV Versicherungspflicht. Für privat versicherte
Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zahlten die Jobcenter seither den im Vergleich zum Basistarif geringeren Satz für gesetzlich Versicherte. Zu Beginn dieses Jahres entschied das
Bundessozialgericht, dass der PKV-Beitrag voll finanziert werden muss. Die Frage, wer die bis dahin aufgelaufenen Beitragsschulden säumiger Bedürftiger übernimmt, war bislang offen.
Ich begrüße die nunmehr gefundene Lösung außerordentlich, nach der die privaten Krankenkassen säumigen Bedürftigen im Basistarif ihre Beitragsschulden erlassen wollen. Ein langwieriger politischer Streit ist
endlich beigelegt. Mehrere Tausend bedürftige privat
Versicherte können endlich aufatmen; sie sind nicht
mehr mit Beitragszahlungsforderungen konfrontiert. Es
wird sichergestellt, dass privat krankenversicherte Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II von
den Kosten für eine angemessene Kranken- und Pflegeversicherung entlastet werden.
Die lautgewordene Kritik an der künftigen Direktüberweisung der Beiträge durch die Jobcenter ist nicht
nachvollziehbar: Es geht nicht darum, Arbeitsuchende
gegenüber der Versicherung bloßzustellen. Vielmehr
werden die fristgerechte Beitragszahlung und damit die
dauerhafte Aufrechterhaltung des vollen Versicherungsschutzes gewährleistet. Auch die Beitragszahlung von
gesetzlich krankenversicherten Arbeitsuchenden wird
unmittelbar mit dem Versicherer abgewickelt.
Der Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch birgt sozial- und arbeitsmarktpolitischen Sprengstoff. So harmlos der Titel klingt, so schwerwiegend sind zum Teil die
geplanten Änderungen darin.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bereits im letzten Jahr hat die Bundesregierung das
größte Sparpaket in der bundesdeutschen Geschichte
mit einem Volumen von über 82 Milliarden Euro geschnürt, das eindeutig zulasten der sozial Schwachen
geht. Die Konsolidierung des Bundeshaushalts wurde
und wird hauptsächlich durch Kürzungen im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich getragen: Mehr als ein Drittel
der Einsparmaßnahmen beziehen sich mit insgesamt
30,3 Milliarden Euro auf den Sozialbereich. Rund
98 Prozent der Sozialkürzungen betreffen den Bereich
Arbeitsmarkt. Das Sparpaket bürdet die Lasten überwiegend den Arbeitslosen und sozial Benachteiligten auf
und verschont gleichzeitig die Wirtschaft. Im Rahmen
dieses Kahlschlags wurde unter anderem der Rentenversicherungszuschuss bei Empfängern von Arbeitslosengeld II abgeschafft. Wer langzeitarbeitslos ist, erzielt ab
2011 keine Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung mehr.
Aber damit nicht genug! Die Kürzungsorgie im Sozialbereich wird fortgeführt. Im Haushaltsentwurf 2012
werden im Haushaltsposten Arbeit und Soziales die finanziellen Mittel in den kommenden Jahren stark zurückgefahren werden. Die, die sich in den letzten Jahren
bereichert haben, bleiben wieder verschont. Die Bundesregierung führt mit dem Haushaltsentwurf 2012 also
die sozialpolitische Umverteilung von unten nach oben
fort. Die vermeintliche Konsolidierung des Bundeshaushalts wird damit hauptsächlich durch Kürzungen im Arbeits- und Sozialbereich getragen.
Die Serie der Kürzungen führt sich mit dem vorliegenden Änderungsgesetz fort. Technisch gut verpackt
finden sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf Verschlechterungen der Einnahmebasis der Sozialversicherungen. Dort heißt es in der Begründung zu der Änderung des § 179 SGB VI: „Es wird nunmehr ausdrücklich
gesetzlich klarstellend geregelt, dass eine Erstattungspflicht des Bundes für Beiträge an die Träger der Einrichtungen im Wesentlichen nur für die im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt tätigen behinderten
Menschen ({0}) besteht. Im Eingangsverfahren
oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt ist eine Erstattungspflicht des Bundes nur vorgesehen, soweit nicht die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der Unfallversicherung oder die Träger der
Rentenversicherung zuständige Träger der Leistungen
zur Teilhabe sind. Diese Kostenträger haben den Trägern der Einrichtung die für die dort tätigen behinderten
Menschen entrichteten Beiträge nach § 179 Abs. 1
Satz 2 zu erstatten. Die Änderung ist sachgerecht. Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen sind solche Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, bei denen
die zuständigen Rehabilitationsträger, also die Bundesagentur für Arbeit und die Rentenversicherungsträger,
daneben auch die Unfallversicherungsträger, Ausbildungsgeld oder Übergangsgeld zahlen. Bei diesen Leistungen sind die Rehabilitationsträger grundsätzlich immer verpflichtet, die darauf entfallenden Beiträge zur
Rentenversicherung zu erstatten. Für das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt
für behinderte Menschen wird deshalb ausdrücklich
klargestellt, dass die Rehabilitationsträger die gesamten
Beiträge zu erstatten haben.“
Worum geht es hier? Die Bundesregierung will die
sozialpolitisch unumstrittene rentenrechtliche Regelung
für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen, wonach diese Anwartschaften auf Grundlage von
80 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten erwerben, in der Finanzierung ändern: Für Personen im sogenannten Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt soll die Erstattungspflicht der höheren Rentenversicherungsbeiträge nicht durch den Bund erfolgen, sondern durch die
Rehabilitationsträger, also die Bundesagentur für Arbeit
oder die Rentenversicherungsträger. Dabei versucht die
Bundesregierung diese Regelung rückwirkend auf den
1. Januar 2008 zu korrigieren.
Dass die Bundesregierung hier vor Jahren ihre
Rechtsinterpretation geändert hat, ist schlimm genug.
Dass sie nun versucht, durch eine Rückwirkung zum
1. Januar 2008 ein Urteil des Bayerischen Landessozialgerichtes, das diese Praxis für rechtswidrig erklärt hat, zu korrigieren, ist nicht nur peinlich, sondern
- so steht es in einer Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung Bund - auch „verfassungswidrig, da
hier in abgeschlossene, der Vergangenheit angehörende
Sachverhalte eingegriffen wird“.
Durch die Rückwirkung entstehen der Bundesagentur
für Arbeit Mehrausgaben in Höhe von 400 Millionen
Euro. Zukünftig muss die Bundesagentur für Arbeit mit
jährlichen Mehrausgaben in Höhe von 120 Millionen
Euro rechnen. Auch die Rentenversicherung wäre mit
130 Millionen Euro rückwirkend und zukünftig mit circa
32,5 Millionen Euro jährlich erheblich belastet.
Die Bundesregierung will sich also aus der finanziellen Verantwortung für behinderte Menschen herausziehen. Da die Bundesagentur für Arbeit durch die Sparmaßnahmen im Arbeits- und Sozialbereich schon massiv
belastet sowie strukturell unterfinanziert ist, halte ich
dieses Vorgehen für verantwortungslos. Es überrascht
daher nicht, dass sich der ansonsten sehr moderate Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, FrankJürgen Weise, im zuständigen Bundestagsausschuss
über diese Regelung empörte, da sie nicht in der Haushaltsplanung eingespeist sei. Den Rentenversicherungsträgern geht es nicht anders. Ihnen diese Kosten aufzubürden, ist genauso fahrlässig.
Mit der Änderung in der Finanzierung bei der Erstattungspflicht der Beiträge zur Rentenversicherung verabschiedet sich die Bundesregierung von einem tragenden
Prinzip bundesdeutscher Sozialpolitik, nach der gesamtgesellschaftliche Aufgaben systematisch korrekt durch
Steuern zu finanzieren sind. Die Änderung in der Finanzierung würde allein die Beschäftigten und die Arbeitgeber durch ihre Sozialversicherungsbeiträge belasten.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird dies nicht mittragen. Wir sind der Meinung, dass aus verteilungs- und
beschäftigungspolitischen Gründen die Erstattung der
Beiträge an die Rentenversicherung durch Steuern zu finanzieren ist. Nur so werden alle Mitglieder einer GeZu Protokoll gegebene Reden
sellschaft zur Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben herangezogen.
Die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland ist
sehr positiv. Wir sind besser als jedes andere Land in
Europa durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen. Die jetzige starke Konjunktur wollen wir durch
weitere Entlastungen unterstützen. Angesichts des Ziels
der Bundesregierung und der Koalitionspartner, die
Haushaltskonsolidierung weiter voranzutreiben, bietet
sich hier eine gute Möglichkeit, diese Ziele zu verbinden: durch Bürokratieabbau, durch Effizienzsteigerung,
durch praxisnahe Erleichterungen.
Unter dem Titel „Fünf Jahre Bürokratieabbau - Der
Weg nach vorn“ wurde gestern der Jahresbericht 2011
des Nationalen Normenkontrollrats ({0}) vorgestellt.
Diese Bundesregierung hat den Bürokratieabbau zu
einem eigenständigen Politikziel erklärt; denn Bürokratie soll die wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstum
und den Aufschwung nicht bremsen. Der Nationale Normenkontrollrat ist ein wichtiger Partner beim Bürokratieabbau. Er nahm vor rund fünf Jahren seine Arbeit auf.
Der NKR hat die gesetzliche Aufgabe, den Gesetzgeber
auf den Gebieten des Bürokratieabbaus und der besseren Rechtssetzung zu unterstützen. Schwerpunkte sind
die Vermeidung neuer und die Reduzierung bestehender
Bürokratiekosten. Schon wenn neue Gesetze vorbereitet
werden, überprüft der NKR, wie viel Aufwand und Arbeit bei denen, die die Vorschriften befolgen müssen,
entsteht.
Das schwarz-gelbe Regierungsprogramm „Bürokratieabbau und bessere Rechtssetzung“ hat sich für die
deutsche Wirtschaft bereits jetzt ausgezahlt. Dank reduzierter bürokratischer Vorschriften haben vor allem mittelständische Unternehmen in den vergangenen fünf
Jahren 10,5 Milliarden Euro pro Jahr eingespart.
Keine vergleichbare Initiative war bisher so erfolgreich wie dieses Programm. Mehr als 400 bereits auf
den Weg gebrachte Maßnahmen haben insbesondere im
Mittelstand und bei selbstständigen Freiberuflern gezielt Bremsen gelöst und die selbstbestimmte Lebensführung jedes Einzelnen gestärkt. Dies ist der klugen und
mittelstandsfreundlichen Politik von FDP und CDU/
CSU geschuldet.
Die Regierungskoalition hat den Normenkontrollrat
als zentrale Institution für Bürokratieabbau und bessere
Rechtssetzung gestärkt. Der enge Begriff der Bürokratiekosten wurde ausgeweitet auf den gesamten messbaren Zeitaufwand und die Kosten, die bei Bürgern, in der
Wirtschaft und in der Verwaltung entstehen. Mit der Novellierung des Normenkontrollrates haben wir die Interessen des Mittelstandes maßgeblich gestärkt.
Noch vor fünf Jahren mussten Unternehmen in
Deutschland jährlich rund 50 Milliarden Euro für amtliche Nachweise, Antragsformulare, das Ablegen von
Rechnungen und andere bürokratische Arbeiten aufwenden. Schon bis Mitte 2011 war die jährliche Bürokratiebelastung der Wirtschaft um 22 Prozent deutlich geringer als noch 2006. Die Bundesregierung arbeitet mit
Hochdruck daran, das Ziel zu erreichen, die Bürokratiekosten bis Ende dieses Jahres um ein Viertel zu verringern. Dazu werden weitere Maßnahmen zur Entlastung
der Wirtschaft von Bürokratiekosten verwirklicht.
Einen Beitrag leistet der vorliegende Gesetzentwurf.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält Regelungen, die zum Bürokratieabbau, zu mehr Praxisnähe
und zu mehr Effizienz in der Sozialpolitik beitragen.
Dazu gehören die Entlastung von Kleinst- und Kleinunternehmen durch die freiwillige Teilnahme an der elektronischen Betriebsprüfung, die Reduzierung von Meldekopien für Unfallversicherungsmeldungen, die
Korrekturen bei der Gewährung von Zuschlägen zur
Witwenrente und der Vorschriften zum Rentensplitting
sowie die Befreiung der sogenannten „BIWAQ“-Beschäftigungen von der Versicherungspflicht zur Arbeitsförderung. Diese vorgeschlagenen Gesetzesänderungen
entlasten die Sozialversicherungen und erleichtern die
Betriebspraxis. Dies begrüßen wir sehr.
Dazu gehört aber auch, dass wir Vorschläge der Justiz-, Arbeits- und Sozialminister der Länder aufgreifen,
um der stetig steigenden Zahl von Verfahren vor den Sozialgerichten besser begegnen zu können. Eine funktionierende Sozialgerichtsbarkeit ist der Grundstein des
Vertrauens der Bürger in unseren Rechts- und Sozialstaat. Deshalb ist es auch hier wichtig, effizient zu arbeiten, ohne das Gerichtssystem durch Kürzungen zu belasten.
Praxisnähe zeigt auch die Klarstellung des Zuschusscharakters der Arbeitgeberzahlung an berufsständische
Versorgungswerke, damit die bewährte Beitragseinzugspraxis der Versorgungswerke beibehalten werden kann.
Die FDP-Bundestagsfraktion sieht an der einen oder
anderen Stelle noch Klärungsbedarf, aber genau dazu
diskutieren wir das Gesetz und mögliche Änderungen ja
hier im Plenum und im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Etwa bei der Erstattungspflicht für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger für anerkannte Werkstätten
für behinderte Menschen bevorzugt unsere Fraktion
eine andere Regelung als der hier vorliegende Gesetzentwurf. Hier sehen wir uns im Einklang unter anderem
mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und Bundesländern.
Auch bei der Schaffung einer einheitlichen Regelung
der Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen
Studiengängen und der Verlängerung des Moratoriums
über die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger
für rechtlich selbstständige Unternehmen der öffentlichen Hand sehen wir Liberale noch Diskussionsbedarf.
Auch diese Fragen werden wir in Rücksprache mit den
Betroffenen klären.
So oder so beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf
eine Summe von Einzelregelungen, die eine klare Tendenz aufweisen und unter dem Strich einen spürbaren
Beitrag zur Reformpolitik dieser Bundesregierung und
der sie tragenden Fraktionen sind. Daher freue ich mich
auf spannende Debatten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dem vorliegen Gesetzentwurf will die Bundesregierung eine ganze Reihe von Änderungen verschiedener Gesetze durchsetzen. Wir haben es hier mit einem
sogenannten Omnibus-Gesetz zu tun: Aus nahezu jedem
Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts ist etwas dabei.
Deswegen muss und will ich mich nur auf einige wenige
Aspekte konzentrieren.
Der politisch und finanziell bedeutsamste Aspekt des
Gesetzentwurfs ist die Verlagerung von Kosten des Bundes auf die Bundesagentur für Arbeit und auf die Deutsche Rentenversicherung - also letztendlich auf all jene,
die die Bundesagentur und die Rentenversicherung
durch ihre Beiträge finanzieren. Bereits im Mai dieses
Jahres war in den Zeitungen zu lesen - „FAZ“ vom
22. Mai 2011 -, dass die Bundesregierung plane, die
Beiträge für die Rentenversicherung für Menschen mit
Behinderung, die im Eingangsverfahren oder im Berufsbildungsbereich von Werkstätten für behinderte Menschen tätig sind, nicht mehr vom Bund, sondern von den
Rehabilitationsträgern DRV und BA an die Träger der
Werkstätten erstatten zu lassen. Diese Neuregelung solle
sogar rückwirkend geltend, hieß es.
Das Bayerische Landessozialgericht hat hingegen
mit Urteil vom 25. Februar 2010 entschieden, dass es
für die Abwälzung der Beitragserstattung vom Bund auf
die Deutsche Rentenversicherung und die BA, also genau genommen auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, rechtlich keinen Raum gebe. Der Chef der
BA hat sich - auch gegenüber dem Ausschuss für Arbeit
und Soziales - empört über diese Planung gezeigt. Ganz
zu Recht - findet die Linke. Denn hier werden die Kosten
gesamtgesellschaftlicher Aufgaben einfach auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler abgewälzt.
Um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu
lassen: Uns Linken geht es gar nicht darum, dass hier
Beiträge geleistet werden sollen. Ganz unbedingt soll das
geschehen. Es handelt sich hier insofern um einen weiteren Griff in die Kassen der Sozialversicherungen - insbesondere der BA -, um den Bundeshaushalt zu entlasten.
Uns Linken geht es darum, klarzumachen, dass gesamtgesellschaftliche Aufgaben auch von der gesamten Gesellschaft bezahlt werden müssen.
Im Zusammenhang mit der Rente gibt es einen weiteren, auf den ersten Blick unscheinbaren, aber bei genauer Betrachtung bemerkenswerten Aspekt: Immer im
Juli eines jeden Jahres wird die Rente angepasst. In den
vergangenen Jahren ist da nicht viel hinzugekommen im Gegenteil: Die Rentnerinnen und Rentner haben
Nullrunden hinnehmen müssen, die in ihren Geldbörsen
als Minusrunden ankamen. Denn wenn die Preise steigen, aber kein Geld hinzukommt, haben die Betroffenen
weniger zum Leben. Die Rentenversicherung soll künftig auf den Versand einer Anpassungsmitteilung verzichten, wenn sich der aktuelle Rentenwert nicht verändert hat. Offenbar ist die Mitteilung über die Anpassung
der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung um null Euro der Regierung zu peinlich. Vordergründig argumentiert Schwarz-Gelb mit den Verwaltungskosten von 10 Millionen Euro. Tatsächlich will
Schwarz-Gelb aber nur eines: Die Wahrheit verschweigen. Das nenne ich feige.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen dritten
Aspekt herausgreifen. Die Bundesregierung nimmt mit
ihrem Gesetzentwurf verschiedene Vorschläge zur Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit auf. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Aber auch hier müssen wir genauer hinsehen. Denn die eigentlich
entscheidenden Punkte für die zahlreichen Verfahren liegen nicht in den Bestimmungen des Sozialgerichtsgesetzes, sondern in einem Gesetz, das Armut und soziale
Ausgrenzung verursacht, nicht verfassungskonform und
außerdem handwerklicher Pfusch ist. Darüber hinaus
werden massenhaft rechtswidrige Bescheide ausgestellt.
Wer die Sozialgerichte und ganz besonders auch die
Hartz-IV-Betroffenen entlasten will, muss dafür sorgen,
dass Hartz IV grundlegend überwunden wird. Erste notwendige Schritte wären insbesondere die Streichung von
Sanktionen in der Grundsicherung. Das entlastet die
Gerichte und schützt die Leistungsberechtigten vor existenziellen Gefährdungen.
Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält vieles, aber
nicht unbedingt das Richtige. Die Bundesregierung
greift selbst bescheidene Reformvorschläge wie den der
gemeinsamen Kommission der Justizministerkonferenz
und Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur materiellen Reform des SGB II nicht auf. Dazu zählt zum Beispiel
die Einschränkung der Sanktionsregeln bei den unter
25-Jährigen. Vielmehr verschärfen Union und FDP die
Sanktionspraxis durch die aktuelle Gesetzgebung sogar
noch. Das ist typisch Schwarz-Gelb - das muss weg.
Das IV. Buch Sozialgesetzbuch beschreibt die
gemeinsamen Vorschriften aller Zweige der Sozialversicherung. Hierzu gehören die Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V -, die Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII -, die Gesetzliche Rentenversicherung
- SGB VI -, einschließlich der Alterssicherung der
Landwirte, und die Soziale Pflegeversicherung
- SGB XI. - Eingeschränkt gelten die Regelungen auch
für den Bereich der Arbeitsförderung, SGB III, teilweise
auch für die Grundsicherung für Arbeitssuchende
- SGB II -, sowie die Sozialhilfe, SGB XII.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung verbindet mit
dem vorgelegten Gesetzentwurf unter anderem das Ziel,
die Sozialverwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren effizienter zu gestalten, Vereinfachungen für Arbeitgeber
einzuführen sowie die Kosten des Bundeshaushaltes zulasten einiger Sozialversicherungsträger zu entlasten.
Während viele Änderungen durchaus sinnvoll sind, gilt
es, im nun folgenden parlamentarischen Beratungsprozess einige Punkte kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Schon im Vorfeld ging der Gesetzentwurf mit der Bitte
um eine Stellungnahme in den Bundesrat. Sowohl die
Ausschüsse für Arbeit und Sozialpolitik, der Ausschuss
für Innere Angelegenheiten und der Rechtsausschuss,
als auch der Deutsche Richterbund, DRB, sowie der
Deutsche Gewerkschaftsbund, DGB, zusammen mit der
Bundesvereinigung der Deutschen ArbeitgeberverZu Protokoll gegebene Reden
bände, BDA, haben ihre teils kritischen Stellungnahmen
abgegeben.
Das Gesetz regelt als sogenanntes Omnibusgesetz
verschiedene Gesetzesänderungen, angefangen beim
SGB IV, SGB III, SGB V, SGB VI, SGB VII über Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes, des Gesetzes über
die Alterssicherung der Landwirte, des Entschädigungsrentengesetzes, der Bundesmeldedatenübermittlungsverordnung bis hin zu Änderungen der Renten Service
Verordnung und Änderungen der Datenabgleichsverordnung.
Im Folgenden möchte ich auf einige Punkte näher
eingehen:
Art. 2, Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch: Die Bundesregierung möchte künftig Teilnehmer
von dualen Studiengängen einheitlich sozialversichern,
Nr. 2. Es ist nicht richtig, dass es sich bei diesem Vorhaben um eine Klarstellung im Sinne einer Rechtssicherheit handelt. Vielmehr haben die Spitzenorganisationen
der Sozialversicherung im Nachgang eines Urteils des
Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2009 zur Sozialversicherungsfreiheit „praxisintegrierter dualer Studiengänge“ im Sommer 2010 Gegenteiliges vollzogen. In einem mühsamen Prozess mit hohem Aufwand haben die
Betriebe nach Angaben der BDA diese Umstellung vorgenommen. Eine erneute Änderung würde zu einem hohen bürokratischen Aufwand führen. Im Beratungsverfahren sollten wir gemeinsam prüfen, wie wir hier zu
einer für alle Seiten akzeptablen Lösung kommen.
Art. 4, Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch: Die Bundesregierung beabsichtigt, die Kosten für
die rentenrechtliche Absicherung der im Eingangs- und
Berufsbildungsbereich tätigen Menschen mit Behinderungen rückwirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozialversicherungsträger zu übertragen, Nr. 11, 12 und 14.
Dies würde eine jährliche Mehrbelastung der Beitragszahler von 120 Millionen Euro - Bundesagentur für Arbeit - bzw. 32,5 Millionen Euro - Rentenversicherung bedeuten. Wir finden, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, behinderte Menschen gegen Altersarmut abzusichern. Anstatt die Beschäftigungschancen
von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, kommt
es lediglich zu einer Kostenverschiebung. Menschen mit
Behinderung werden so erneut in die Rolle des Kostenfaktors gedrängt. Der Haushalt der Bundesagentur für
Arbeit ist ohnehin stark belastet. Die Übernahme der
Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund
geht zulasten der BA; ihre Einnahmen werden ab 2014
um mehr als 4 Milliarden Euro pro Jahr gesenkt.
Die Bundesregierung plant darüber hinaus, Aufwandsentschädigungen für kommunale Ehrenbeamte
sowie für ehrenamtlich in kommunalen Vertretungskörperschaften Tätige oder für Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Versichertenälteste oder Vertrauenspersonen der Sozialversicherungsträger nach einem
Bestandsschutz bis zum 30. September 2015 als rentenschädlichen Zuverdienst anzusehen, Art. 4 Nr. 27 und 38
des Gesetzentwurfes. Dies gilt zumindest für den steuerpflichtigen Anteil der gezahlten Aufwandsentschädigung
über 2 100 Euro im Jahr. Mit diesem Schritt folgt die
Bundesregierung ihrer Logik aus dem Rechtskreis des
SGB II. Auch dort werden pauschale Aufwandsentschädigungen oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euro
als Einkommen berücksichtigt. Wir halten eine solche
Rechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Politisches
und ehrenamtliches Engagement ist grundgesetzlich geschützt und muss, ob pauschal oder nach tatsächlichem,
nachgewiesenem Aufwand, anrechnungsfrei entschädigt
werden.
Art. 8, Änderung des Sozialgerichtsgesetzes: Mit dem
Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des
Arbeitsgerichtsgesetzes wurde zum 1. April 2008 eine sogenannte Fiktion einer Klagerücknahme für das erstinstanzliche Verfahren eingeführt. Diese Regelung gemäß § 102 Abs. 2 SGG besagt, dass eine Klage als
zurückgenommen gilt, „wenn der Kläger das Verfahren
trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate
nicht betreibt“. Der Gesetzentwurf erweitert die Klagerücknahmefiktion auf Berufungen. Das Gesetz ersetzt
mit dieser fiktiven Klagerücknahme nicht nur die Prozesserklärung, wonach ansonsten der Kläger selbst oder
sein Verfahrensbevollmächtigter die Klage zurücknehmen kann. Das Gesetz unterstellt mit seiner gesetzlichen
Rücknahmefiktion zudem einen Wegfall des Interesses
des Klägers an der Fortsetzung des Verfahrens. Sozialverbände machen bei ihren Beratungen hingegen die Erfahrung, dass es schwierig sein kann, zu vermitteln. Die
richterliche Praxis sieht aufgrund des strengen Ausnahmecharakters beider Regelungen hingegen wenig Bedenken. Im Gegenteil: Sie hebt auf die verfahrensbeschleunigende Wirkung der Instrumente ab. Bevor es zu
einer Erstreckung der Klagerücknahmefiktion auf Berufungen kommt - Art. 8 Nr. 7 des Gesetzentwurfes -,
sollte die Regelung einer Rechtstatsachenuntersuchung
unterzogen werden.
Die Bundesregierung kann ihren Ansprüchen nach einer effizienteren Verwaltungs- und Sozialgerichtspraxis
mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht nachkommen.
Problematisch bleibt, dass es immer wieder Sozialleistungsträger gibt, die, anstatt im Interesse der anspruchsberechtigten Personen zusammenzuarbeiten und
ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, offenbar
vorrangig darauf bedacht sind, ihren jeweils eigenen
Haushalt möglichst nicht zu belasten. In der Folge kommen Anspruchsberechtigte nicht zu ihren Rechten und
müssen unweigerlich den Widerspruchs- und Klageweg
beschreiten. Neben zwingend notwendigen Änderungen
des materiellen Rechts in den jeweiligen Büchern des Sozialgesetzbuches - siehe hierzu etwa Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache
17/3207 oder 17/3435 - sowie der lang anstehenden
Notwendigkeit, ein modernes Patientenrechtegesetz zu
erlassen, das die weit verstreuten Rechtspositionen von
Patientinnen und -patienten, Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Heilbehandlerinnen und -behandlern zusammenführt - siehe Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/6348 -, gilt es gleichzeitig, die Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechte
der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen sozialgesetzbuchübergreifend zu stärken. Bündnis 90/Die
Grünen werden hierzu in Kürze einen Aufschlag maZu Protokoll gegebene Reden
chen, der die individuellen und kollektiven Rechte von
Nutzerinnen und Nutzern sozialer Leistungen stärkt und
mithin zu weniger Streitverfahren führt.
Ebenfalls für nicht sinnvoll erachten wir die im Gesetzentwurf vorgesehene Zuordnung bestimmter Klagen
gegen Entscheidungen und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Vertragsarztrecht, Art. 8
Nr. 1 des Gesetzentwurfes. Zwar ist es richtig, die umstrittenen Abgrenzungen und Unsicherheiten zwischen
den Zuständigkeiten der Kammern für Angelegenheiten
der Sozialversicherung und der Kammern für Angelegenheiten des Vertragsarztrechts klären zu wollen. Die
hierfür im Gesetzentwurf genannten drei Fallgruppen
führen nicht zu einer eindeutigen Abgrenzung. Vielmehr
sollte, wie es der Deutsche Richterbund vorschlägt, die
Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts abgewartet werden.
Die Bundesregierung nimmt regelmäßig aktuelle Anpassungen der Regelungen des Sozialgesetzbuches vor,
um den Anforderungen, die die ständigen Veränderungen der Lebenswirklichkeit an die Systeme der Sozialversicherung stellen, schnell und praxisnah gerecht zu
werden. Der Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze enthält eine Vielzahl derartiger Anpassungen,
deren Ziel es ist, größere Rechtssicherheit in den betroffenen Rechtsbereichen zu schaffen.
Lassen Sie mich dafür beispielhaft einige dieser Regelungen darstellen.
Durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichtes
Ende des Jahres 2009 kam es für einen Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem dualen Studiengang
zur Versicherungsfreiheit. Diese Entscheidung war und
ist in der Praxis hoch umstritten. Nun wird klar geregelt,
dass in allen Formen der dualen Studiengänge die Studentinnen und Studenten in der Kranken-, Pflege- und
Rentenversicherung sowie in der Arbeitsförderung für
die gesamte Dauer des Studiengangs versichert sind. Sie
werden damit den zur Berufsausbildung Beschäftigten
gleichgestellt.
Das Gesetz enthält auch eine Reihe kleinerer Anpassungen im Beitrags- und Meldeverfahren für die Arbeitgeber zur Sozialversicherung. Wir setzen hier Verfahrensvereinfachungen um, die auf Vorschläge aus der
Praxis sowohl vonseiten der Arbeitgeber als auch der
Sozialversicherungsträger zurückgehen. Diese Vorschläge führen zu einem weiteren Bürokratiekostenabbau für die deutsche Wirtschaft von rund 9,3 Millionen
Euro pro Jahr.
Weiterer Regelungsbedarf ergab sich aus der neueren
Rechtsprechung und einem entsprechenden Beschluss
der Deutschen Rentenversicherung Bund. Danach sind
Aufwandsentschädigungen von Ehrenbeamten - zum
Beispiel ehrenamtlichen Bürgermeistern oder Ortsvorstehern - in bestimmtem Umfang als Hinzuverdienst bei
Renten der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Hier müssen wir das Vertrauen der aktuell Betroffenen schützen: Wir schlagen eine fünfjährige Übergangsregelung vor, nach der Aufwandsentschädigungen
von Ehrenbeamten, die von der bisherigen Auslegung
des Rechts begünstigt waren, weiterhin nicht als Hinzuverdienst berücksichtigt werden.
Des Weiteren wird klargestellt, dass eine Erstattungspflicht des Bundes für Rentenversicherungsbeiträge an
die Träger der Werkstätten für behinderte Menschen nur
für die im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt
tätigen behinderten Menschen besteht. Die Änderung
des § 179 SGB VI und die zugehörigen Folgeänderungen stellen den Grundsatz, dass zu den Rehabilitationsleistungen auch die Beiträge zu den Sozialversicherungszweigen gehören, für den Bereich der Erstattung
von Rentenversicherungsbeiträgen nun auch für die
Maßnahmen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte
Menschen gesetzlich klar.
Die vorgeschlagene Änderung des § 179 SGB VI betrifft weder die behinderten Menschen selbst noch die
Werkstätten für behinderte Menschen. Es geht allein um
einen Erstattungsmodus zwischen den betroffenen Sozialversicherungsträgern und dem Bund.
Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren stetig
gestiegenen Zahl sozialgerichtlicher Verfahren sehen
wir außerdem Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes
vor. Verfahren sollen beschleunigt und effizienter durchgeführt werden. Damit wird die Sozialgerichtsbarkeit
entlastet. Grundlage für die Änderungen sind Vorschläge der Länder-Arbeitsgruppe der Justizministerkonferenz aus dem Herbst 2009 und der Gemeinsamen
Kommission der Justizministerkonferenz sowie der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder vom
Oktober 2010.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6764 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Dr. Valerie Wilms, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abkommen zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen - Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis
- Drucksache 17/6499 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden gehen zu Protokoll.
Die Arktis ist ein sensibles Ökosystem - durch den
Klimawandel schmelzen die Polkappen langsam. Dadurch wird der Zugang zu den begehrten Rohstoffen wie
Öl und Gas einfacher. Dadurch entwickelt sich aber
auch eine vielfältige Problemkulisse. Der Antrag der
Grünen beschreibt diese Probleme weitgehend korrekt.
Der politische Eindruck, den die Grünen jedoch zu
erwecken versuchen, die Bundesregierung vernachlässige die Arktis und müsse erst zu konkretem Handeln
aufgefordert werden, ist falsch. Die Bundesregierung
widmet sich diesem Thema, und zwar sehr verantwortungsbewusst: sowohl mit Blick auf ökonomische Chancen als auch, und zwar vorrangig, mit Blick auf den
Schutz dieses sensiblen Ökosystems.
Wir kommen aber an einer Tatsache nicht vorbei:
Deutschland ist kein Arktis-Anrainerstaat. Das reduziert
unsere Einflussmöglichkeiten. Auch auf europäischer
Ebene ist gemeinsames Handeln schwer, da sich Dänemark/Grönland von der EU das Handeln auf eigenem
Territorium nicht vorschreiben lässt, und Russland lässt
sich schon gar nichts sagen.
Dennoch nimmt Deutschland Einfluss, im Interesse
der Arktis und ihres Schutzes: Deutschland ist beobachtendes Mitglied im Arktischen Rat, der das gemeinsame
Konsultationsgremium aller acht Staaten mit Gebieten,
Land und Wasser, nördlich des Polarkreises ist. Hier
geht es um die Themen Umweltschutz und nachhaltige
Entwicklung der Polarregion. An den Sitzungen des Rates nehmen auch regelmäßig Vertreter der indigenen
Völker teil. Gerade Kanada und die USA haben ein hohes Interesse, die einheimische Bevölkerung in die Entwicklung der Polarregion einzubeziehen.
Die fünf Anrainerstaaten - Dänemark/Grönland,
Russische Föderation, Kanada, Norwegen, USA - vertreten ihre souveränen Rechte über ihre arktischen Gebiete. Obwohl Deutschland international führend ist in
der Polarforschung, verfügt es leider über wenig Mitspracherechte in der Polarregion. Der Rechtsrahmen
hierfür ist das Seerechtsübereinkommen der VN von
1982. Daher ist das Ansinnen der Grünen auch überaus
schwierig, hier die Staaten zu zwingen, auf ihrem Territorium gewisse Umweltstandards einzuhalten. Wir müssen anerkennen, dass sich Deutschland auf sehr dünnem
Eis bewegt, wenn es in die Staatenpolitik anderer Ländern eingreifen soll.
Viele Forderungen der Grünen zeugen auch von Unkenntnis der rechtlichen Situation. Wir in Deutschland
müssen die internationalen Prozesse verstehen und uns
zunächst mit der Beobachterfunktion zufriedengeben.
Die Anrainerstaaten machen in der Arktis ihre Hoheitsansprüche geltend; daher ist die Forderung der Grünen
in ihrem Antrag, einen „Arktisvertrag“ ähnlich dem
„Antarktisvertrag“ aus dem Jahr 1959 auszuhandeln,
nicht so einfach per Bundestagsbeschluss zu vollziehen.
Im Gegensatz zur Antarkis, wo kein Staat direkte Ansprüche angemeldet hat, es keine nennenswerten auszubeutenden Rohstoffe gibt und es auch kein Ansinnen auf
Durchfahrten der Schifffahrt und anderer Transportverkehre gibt, ist die Arktis bereits jetzt zur Zielscheibe
weitreichender wirtschaftlicher wie auch verkehrspolitischer Interessen geworden.
Dies wurde bereits im März dieses Jahres bei der
Zweiten Internationalen Arktiskonferenz des Auswärtigen Amtes deutlich. Hier hielt Außenminister Guido
Westerwelle ein Plädoyer für den freien Zugang aller
Nationen zur Polarregion - nicht nur der Arktisanrainer. Er erklärte, der Arktische Ozean müsse als gemeinsames Erbe der Menschheit erhalten und die Forschung
dürfe durch eine künftige wirtschaftliche Nutzung der
Arktis nicht eingeschränkt werden. Auch die Probleme
des Klimawandels beträfen alle Staaten. Die Bundesregierung versucht, das Optimum an Schutz der Arktis zu
erzielen.
Das Bundesumweltministerium hat ein Gutachten
zum Thema „Identifizierung deutscher Umweltschutzinteressen und Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die deutsche Umweltpolitik in der Arktis“ öffentlich ausgeschrieben. Das konkrete Ziel dieser Ausschreibung besteht darin, eine eingehende Analyse der
Umweltsituation in der Arktis sowie deutsche Umweltschutzinteressen - über den Forschungsbereich hinaus systematisch zu erfassen. Auf dieser Basis sowie vor dem
Hintergrund der bestehenden Rechtslage sollen die für
Deutschland relevanten Handlungsfelder für den Umweltschutz in der Arktis analysiert werden.
Das Bundesumweltministerium will der zunehmenden
politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis
mit einer gesonderten deutschen „Arktisstrategie“ gerecht werden. Hierbei stehen die Bereiche Forschung,
Wirtschaft, vor allem auch Umwelt und Sicherheit im
Vordergrund. Eine deutsche Position ist hinsichtlich der
Kernziele Klima- und Umweltschutz der EU-ArktisPolitik erforderlich. Die ausgeschriebene Studie wird
dafür eine Basis liefern.
Der Schutz der Arktis ist ein wichtiges Thema, mit
dem auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir
ernst nehmen. Nach Überweisung des Antrages in die
entsprechenden Ausschüsse werden wir hierüber in aller
gebotenen Sorgfältigkeit noch einmal beraten können,
und wir werden die Bundesregierung und das Bundesumweltministerium in ihren Bemühungen zum Schutz
der Arktis unterstützen.
Das Thema Arktis steht gelegentlich im Schatten anderer politischer Themen, es ist allerdings ein Thema,
das langfristig für die Menschheit von entscheidender
Bedeutung ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns heute
im Deutschen Bundestag mit der Arktis, den sich ändernden klimatischen Verhältnissen und deren Konsequenzen beschäftigen. Das letzte Mal, dass wir in diesem Raum über die Arktis diskutiert haben, war
anlässlich der Debatte um Tiefseeölbohrungen, die auch
in arktischen Gewässern geplant sind.
Leider war die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko im
letzten Jahr eine Katastrophe ohne Konsequenzen. Aus
„Deepwater Horizon“ hätten Konsequenzen gezogen
werden müssen. Das wäre in erster Linie ein Moratorium für Ölbohrungen in tiefer See gewesen, solange die
Zu Protokoll gegebene Reden
Technologien noch nicht verfügbar sind, um auftretende
Unfälle zu beherrschen. Doch nichts dergleichen geschah. Dabei hätte ein Unfall wie „Deepwater Horizon“
in der Arktis gravierendere Auswirkungen als im Golf
von Mexiko. Der arktische Winter, dickes Eis und die
kalte Temperatur lassen jegliche Versuche, einen Ölunfall schnell einzudämmen, scheitern. Deshalb ist ein sofortiges Moratorium für neue Tiefseeölbohrungen im
OSPAR-Raum notwendig.
Umweltminister Röttgen hatte versprochen, dass sich
Deutschland für „ein Moratorium, eine Pause für neue
Bohrungen einsetzen“ wird. Doch der deutsche Antrag
auf der OSPAR-Konferenz im Jahr 2010 hatte diese Forderung gar nicht mehr enthalten. Röttgen hat sich abermals als Meister der schönen Worte erwiesen - Worte,
die aber ohne Konsequenzen bleiben. Die Ölkatastrophe
im Golf von Mexiko zeigt aber auch, dass es richtig war,
dass sich die SPD schon vor einigen Jahren für eine
Strategie „weg vom Öl“ entschieden hat. Und das nicht
nur aus Gründen des Klimaschutzes, sondern weil das
„schwarze Gold“ auf der ganzen Welt dreckige Spuren
hinterlässt.
Dass es derzeit nicht gut um den Schutz der Arktis
steht, zeigt die Entscheidung des Europäischen Parlaments von letzter Woche. Die Abgeordneten im Europaparlament haben sich mehrheitlich dagegen ausgesprochen, Tiefseebohrungen in ökologisch sensiblen
Gebieten wie der Arktis zu verbieten. Sie lehnten auch
die Einrichtung eines Moratoriums auf Tiefseebohrungen bis zur Verabschiedung von schärferen EU-Sicherheitsstandards ab. Diese Entscheidung wird hoffentlich
von den Europaabgeordneten noch einmal überdacht.
Wir können nach „Deepwater Horizon“ nicht einfach
weitermachen, als sei nichts geschehen. Hinzu kommt,
dass das Ölleck diesen Sommer vor der schottischen
Küste gezeigt hat, dass auch in der Nordsee Ölunfälle
möglich sind. Da Ölverschmutzungen sich nicht an vom
Menschen gezogene Grenzen halten, ist ein gemeinsames Vorgehen wichtig. Solange Unfälle bei Tiefseebohrungen nicht beherrscht werden können, ist es absurd,
diese Bohrungen zukünftig auch noch auf so sensible
Gebiete wie denen in der Arktis auszuweiten.
Dennoch hatte die Entscheidung des Europaparlaments auch positive Seiten. Die verabschiedete Resolution sieht vor, dass neue Öl- und Gasfelder in europäischen Meeren künftig nur dann erlaubt werden, wenn
die Firma einen dem Bohrort angemessenen Notfallplan
vorgelegt hat. Außerdem sprachen sich die Abgeordneten erneut dafür aus, dass das Verursacherprinzip und
die Haftung für Schäden auf Meeregewässer und -artenvielfalt ausgedehnt wird.
Der Antrag der Grünen, über den wir heute sprechen,
geht jedoch nicht nur auf die Probleme der Ölförderung
ein. Er beleuchtet die Rolle der Arktis, die sich durch die
Klimaerwärmung wandelt. Durch die fortschreitende
Erwärmung und die damit verbundene Schmelze des Eises entstehen Möglichkeiten des Zugangs zum Meeresgrund und zu den dort vorhandenen Rohstoffen. Der
Rückgang des Eises ermöglicht neue Schifffahrtsrouten,
die neuen Zugänge zum Festland werfen sicherheitspolitische Fragen auf, und die Politik muss handeln, damit
aus dem Streit um die Ressourcen in der Arktis keine
Spannungen zwischen den Staaten entstehen.
Es mutet schon skurril an, dass der Mensch durch den
Klimawandel zunächst den Lebensraum massiv verändert und das Eis schmelzen lässt und jetzt nicht mit
höchster Kraft dem entgegenwirkt, sondern mehr Engagement darin investiert, wie die Ressourcen verteilt werden, die jetzt erschlossen werden können. Das ist ein
Beispiel dafür, wie der Klimawandel Konflikte schüren
kann und wie auch für die deutsche Politik die Verzahnung von Klimapolitik und Außen- und Sicherheitspolitik immer wichtiger wird.
Wie stark der Klimawandel heute schon die Arktis
schädigt, zeigen die dieses Sommers Forschungsergebnisse. Das Meereis der Arktis ist in diesem Sommer auf
die kleinste Fläche zusammengeschmolzen, die jemals
gemessen wurde. Es wurde eine Negativmarke mit einer
Fläche von 4,24 Millionen Quadratkilometern erreicht.
Das ist die bisher geringste Eisausdehnung im Nordpolarmeer und hat sogar noch die Ausdehnung des Jahres 2007 unterboten. Es ist geradezu erschütternd, dass
der Klimawandel immer erschreckendere Ausmaße annimmt, die internationale Politik zum Schutz des Klimas
jedoch auf der Stelle tritt. Auch wenn wir im Dezember
auf der Klimakonferenz in Durban wichtige Schritte weiterkommen sollten, die uns zu einem internationalen Klimaschutzabkommen führen können, so sind doch die Zusagen, die die Staaten über ihre Anstrengungen zur
Minderung ihrer Treibhausgasemissionen gegeben haben, viel zu gering. Mit den jetzigen Zusagen sind wir
weit vom Erreichen des 2-Grad-Ziels entfernt. Die
schmelzende Arktis und die zukünftigen Spannungen
oder Konflikte über ihre Ressourcen ermahnen uns, endlich konsequent im Klimaschutz zu handeln.
Doch nicht nur die immer kleiner werdende Eisschicht ist besorgniserregend, sondern auch das seit langem zu beobachtende Tauwetter in der Arktis. Es hat inzwischen ein Wettrennen um die Ressourcen in der
Arktis ausgelöst, in der große Vorräte an Erdöl und Erdgas vermutet werden. Russland, Norwegen, Dänemark/
Grönland und Kanada haben eine Ausweitung ihres jeweiligen Hoheitsgebietes um 200 Seemeilen auf Grundlage der United Nations Convention on the Law of Sea
angemeldet. Der Arktisschutz bleibt in der Warteschleife, solange die Fragen nach wirtschaftlicher Ausbeutung im Vordergrund stehen. Um dem profitorientierten Treiben der Anrainerstaaten ein Ende zu setzen,
bedarf es internationaler Verhandlungen. Solange es
keinen rechtlich verankerten Schutz für die Arktis gibt,
muss ein Moratorium verhängt werden. Verhandlungen
für einen Arktisvertrag nach dem Vorbild des Antarktisvertrags sind ein Gebot wirksamen Klimaschutzes. Deshalb haben wir in unserem Antrag „Unsere Meere brauchen Schutz“ die Bundesregierung aufgefordert, sich für
den Abschluss eines internationalen Vertrages zum
Schutz der Arktis nach dem Vorbild des Antarktisvertrages einzusetzen.
Um die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, muss sich die Bundesregierung nachdrücklich und
unverzüglich für ein Moratorium einsetzen, mit dem
Ziel, sämtliche Gebietsansprüche oder sonstige AnsprüZu Protokoll gegebene Reden
che im Hinblick auf die arktischen Ressourcen bis zu einem endgültigen Schutzabkommen zurückzustellen.
Diese Forderung stellen in ihrem Antrag auch die Grünen auf, was ich sehr begrüße.
Die Grünen sprechen in ihrem Antrag auch die deutsche Polarforschung an und betonen die traditionsreiche und renommierte Arbeit des Alfred-Wegener-Instituts. Aber auch der Wissenschaftsrat hat sich in seinem
aktuellen Gutachten „Empfehlungen zur zukünftigen
Entwicklung der deutschen marinen Forschungsflotte“
mit der deutschen Polarforschung und ihrer Infrastruktur auseinandergesetzt und stellt zu Recht fest, dass sich
die deutsche Polarforschung international auf einem
sehr hohen Niveau befindet. Dabei spielt die „Polarstern“ eine maßgebliche Rolle. Mit der „Polarstern“
haben wir ein Forschungsschiff, auf das wir stolz sein
können. Für den Zeitraum von 2005 bis 2009 konnten
allein 530 Fachpublikationen den Forschungsarbeiten
von Expeditionen mit der „Polarstern“ zugeordnet werden. Weltweit ist das Forschungsschiff „Polarstern“ darüber hinaus der einzige moderne Forschungseisbrecher, der dezidiert die Arktis befährt. Die im Einsatz
befindlichen Schiffe anderer Staaten weisen hingegen
nicht durchgängig die notwendigen Spezifikationen auf,
um arktisweit und ganzjährig eingesetzt werden zu können. Die Bedeutung der deutschen Arktisforschung sprechen wir mit unserem Antrag „Polarregionen schützen Polarforschung stärken“ an.
Auch in diesem Antrag fordern wir Vereinbarungen,
die eine Analogie zum Antarktisvertrag aufweisen. Die
Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in der Arktisregion muss dabei sichergestellt werden. Um aktuelle
Fragen der Meeresforschung geht es auch in einem
Workshop der SPD-Fraktion, der morgen stattfindet.
Dabei werden wir mit Expertinnen und Experten diskutieren, wie inhaltliche und strukturpolitische Schwerpunkte einer neuen Strategie zur Meeresforschung aussehen können.
Ich möchte noch einmal betonen: Als Erstes brauchen
wir ein Moratorium, das sicherstellt, dass keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden, solange es noch
kein endgültiges Schutzabkommen gibt. Die Arktis darf
kein Selbstbedienungsladen sein, sie ist das gemeinsame
Erbe der Menschheit. Der Arktis kommt auch eine
Schlüsselrolle für das Klimasystem der Erde zu. Die
Ausbeutung der arktischen Ressourcen würde jede Maßnahme zum Schutz der Arktis und die Anerkennung ihrer
Schlüsselrolle für das Klimasystem der Erde konterkarieren. Sei es auf nationaler Ebene, sei es in europäischen oder internationalen Verhandlungen - Ziel muss
sein, den Schutz der Arktis sicherzustellen. Ansonsten
verspielen wir leichtfertigt dieses gemeinsame Erbe der
Menschheit.
Ein Blick auf ein aktuelles Satellitenbild belegt: Die
Eisdecke der Arktis nimmt ab. Der Eisrückgang ist ähnlich drastisch wie in 2007. Damals schrumpfte die Eisfläche auf eine Fläche von 4,3 Millionen Quadratkilometern. 2007 war bislang der Negativrekord. Aktuelle
Untersuchungen des Alfred-Wegener-Instituts für Polarund Meeresforschung zeigen, dass in den vergangenen
Monaten ein ähnlicher Rückgang zu beobachten ist. Die
eisfreien Flächen innerhalb der Packeiszone schmolzen
im Sommer deutlich ab. Inzwischen hat die eisfreie Fläche die Größe der Niederlande erreicht. Die Experten
des AWI sehen vor allem die sehr geringe Dicke des
Meereises und den steten Transport von Meereis in eisfreie Regionen des Nordpolarmeeres hierfür verantwortlich. So ist derzeit das Eis im Schnitt 90 Zentimeter
stark. 2001 betrug die Meereisdicke im Durchschnitt
noch zwei Meter.
Je zerklüfteter das Eis, desto mehr steigen die Wassertemperaturen. Je wärmer das Meer, umso schneller
schmelzen die darin schwimmenden Eisschollen.
In diesem Sommer konnten sowohl die Nordostpassage als auch die Nordwestpassage befahren werden.
Dies bedeutet, dass die Hemmnisse einer kommerziellen
Nutzung der Arktis weiter sinken. Die Region wird damit
vor allem für die Bereiche Schifffahrt, Tourismus, Fischerei oder Rohstoffgewinnung interessant.
Die Arktis lag bislang im Dornröschenschlaf und war
wenig durch den Menschen beeinflusst. In den vergangenen Jahrtausenden bildeten sich so eine einmalige Flora
und Fauna. Viele dieser Tier- und Pflanzenarten sind
nur dort beheimatet und deshalb besonders schützenswert. Dieses Paradies aus Eis ist jedoch gefährdet. Der
Klimawandel zeigt zunehmend seine Auswirkungen und
bedroht dieses sensible Ökosystem. Nun drohen die verstärkten Nutzungsinteressen durch den Menschen als
weitere Belastung hinzuzukommen. Ein vernünftiger und
nachhaltiger Umgang mit der Arktis ist deshalb erforderlich.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Abkommen
zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis“
hat eine lobenswerte Absicht. Er umfasst ein Bündel äußerst unterschiedlicher Bereiche. Diese reichen vom
Umweltschutz über Rohstoff- und Schifffahrtsfragen bis
hin zu territorialen Ansprüchen. Vieles davon ist gut gemeint, jedoch jenseits des Umsetzbaren. An einem zentralen Punkt möchte ich dies verdeutlichen. Der im Antrag geforderte Arktisvertrag - welcher nach gleichem
Muster wie der Antarktisvertrag entwickelt werden soll wird Wunschdenken bleiben. Die Antarktis ist unbewohnt, rohstoffarm und kein Hoheitsgebiet eines Staates
berührt die Region, wohingegen in der Arktis fünf Staaten um rohstoffreiche Gebietsansprüche buhlen. Es ist
nur eine Frage der Zeit, bis die fünf Arktisanrainer ihr
Interesse an den Schätzen im Meeresboden anmelden
werden. Eine internationale Aufsicht über die Arktis
wäre hier sicherlich die beste Lösung. Dass sie kommt,
ist - trotz allen guten Willens - unwahrscheinlich.
1996 wurde der Arktische Rat ins Leben gerufen. Er
ist die von Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und den USA gegründete
Dachorganisation für zwischenstaatliche Vorhaben in
der Nordpolregion.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Arktische Rat soll den Umweltschutz, die Durchführung von Forschungs- und Verkehrsprojekten sowie
die Nutzung von Rohstoffvorkommen koordinieren. Die
Ureinwohner der Arktis haben darin ein Mitspracherecht.
Der Arktische Rat ist das Forum, in dem sich die
Anrainer auf nachhaltige Schutzbestimmungen einigen
können. Vor dem Hintergrund immer knapper werdender
Rohstoffe werden sich die USA, Kanada, Norwegen,
Russland, Dänemark/Grönland und Deutschland keine
vertraglichen Fesseln anlegen lassen. Es liegt in den
Händen des Quintetts der Anrainer, die Schutzwürdigkeit anzuerkennen und eine umweltverträgliche Nutzung
der Region zu regeln.
Mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, AWI, bietet Deutschland seit mehr als
20 Jahren ein zentrales und führendes Zentrum der
Polarforschung, das auch international Gehör findet.
Diese Expertise wollen wir weiterhin fördern. Die Liberalen stehen für einen Schutz der Arktis. Wir wollen keinen „wilden Westen“ am Nordpol. Wir setzen uns dafür
ein, dass die Nutzung der Ressourcen im Einklang mit
der Natur stattfindet. Unrealistische Forderungen, wie
sie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gefordert
werden, können wir jedoch nicht mittragen. Deshalb
lehnen wir den Antrag ab.
Seit die Temperaturen im hohen Norden weiter ansteigen und das Eis in einem unvorstellbaren Tempo
schrumpft, zieht die Arktis immer mehr begehrliche Blicke auf sich. Denn sie ist eine Schatzkammer, die lange
vom Eis fest verriegelt blieb; aber das Eisschloss bricht.
Die vermuteten Erdöl- und Erdgasvorkommen werden auf etwa 25 Prozent der weltweit noch vorhandenen
Menge geschätzt. Das ist nicht unumstritten; denn solche Schätzungen fallen gern besonders zweckoptimistisch zugunsten der Rohstoffausbeutung aus, und die
ökologische Bedeutung der Arktis als Lebensraum und
Klimaregulator wird dabei möglichst ignoriert. Ungeachtet der schon bestehenden ökologischen Schäden und
der weiteren Risiken drängen die Ölfirmen nach Norden.
Der künftig leichtere Zugang zu den Bodenschätzen
durch den Eisrückgang ermöglicht ein gewinnbringendes Geschäft. Neben Öl und Gas in der Barentssee vor
Russland, vor Norwegen und Grönland sind in den kanadischen Arktisanteilen auch wertvolle Basismetalle,
wie Gold, Kupfer, Silber und Zink herauszuholen.
Die Anrainerstaaten stecken seit Jahren ihre Claims
ab. Nach der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen können die Länder bis zu 200 Seemeilen vor ihren
Küsten die natürlichen Ressourcen nutzen. Dort, wo der
Festlandsockel noch weiter in die Tiefsee reicht, erstreckt sich der Anspruch der Küstenstaaten auf Ausbeutung der Ressourcen auf bis zu 350 Seemeilen. Genau
darum geht es jetzt. Aber es ist Nutzungsrecht und kein
Anrecht auf Zerstörung, wie wir es jetzt gerade bei den
Meeresfischbeständen erleben.
Neben dem neuen Wirtschaftspotenzial eröffnen sich
auch neue Seewege. Zum ersten Mal in der Geschichte
der Menschheit war im Sommer 2007 die Nordostpassage eisfrei. Vor 100 Jahren bedeutete das für Roald
Amundsen eine mühsame Expedition von zwei Jahren.
Was für Möglichkeiten dagegen heute für die Schifffahrt
- ein Wachstumsmarkt. In den Werften sind bereits eisgängige Schiffstypen geordert, und sie sind im Bau.
Doch wie hoch wird der Preis sein? Unabhängig von
den globalen Klimaauswirkungen durch den Eisrückgang sind an die extremen Bedingungen des Lebensraums Arktis nur spezielle Arten angepasst. Dazu gehören Meeressäuger genauso wie Gänsearten, die sehr
sensibel auf die Geschwindigkeit der Klimaveränderungen reagieren. Schon heute ist die Biodiversität der Arktis erheblich gefährdet.
Was bewirkt nun die Eisschmelze? Sie kann die globale Zirkulation in den Weltmeeren verändern, sie verdünnt das Wasser und führt zu einer veränderten Wasserzusammensetzung, was sich auf den globalen
Wassertransport auswirkt; sie führt zu geringerer Reflexion des Sonnenlichts, damit zur Erwärmung und so zum
weiteren Rückgang des Eises auf dem Meer; sie zerstört
den Lebensraum für die an arktische Extrembedingungen angepassten Arten von Flora und Fauna genauso
wie die traditionelle Lebensweise der Inuitbevölkerung.
Beide Perspektiven - Abbau der Bodenschätze und intensiverer Schiffsverkehr - werden mit weiteren Eingriffen in die arktische Umwelt verbunden sein. Die rasante
Zunahme des Energiebedarfs und der internationalen
Handelsströme lassen wenig Hoffnung auf einen maßvollen Umgang mit den arktischen Ressourcen und auf
eine Begrenzung des Schiffsverkehrs.
Die Spirale der Zerstörung hat längst Fahrt aufgenommen; denn das Geschäft will sich niemand entgehen
lassen. Auch hier treiben Wirtschaftsinteressen die Politik vor sich her. Die internationale Politik muss die gegenwärtige Entwicklung, die in ihrer Geschwindigkeit
dem Tempo der Eisschmelze folgt, fest in den Blick nehmen und handeln; denn die bisherigen Bemühungen zum
Schutz der Arktis gehen über Umweltbeobachtung und
Informationsaustausch nicht hinaus. Der 1996 gegründete „Arktische Rat“, dem acht Arktisstaaten und zehn
Beobachterstaaten angehören, ist ein politischer Zusammenschluss, dessen Beschlüsse in keiner Weise
rechtsverbindlich sind. Das zu ändern, ist das Gebot der
Stunde, und dafür soll sich die Bundesregierung konsequent einsetzen. Genau so verstehe ich den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den wir als Die Linke
voll und ganz unterstützen
Die Welt braucht die Arktis, und die Arktis braucht
ein rechtsverbindliches Regime. Nur so - da bleibe ich
ganz bescheiden und realistisch - können wir die schädlichen Umweltauswirkungen der kommenden Wirtschaftaktivitäten zwar nicht vermeiden, aber auf ein Minimum begrenzen.
Die sommerliche Eisbedeckung der Arktisregion ist
seit 1972 um 50 Prozent geschrumpft und hat im Jahr
Zu Protokoll gegebene Reden
2011 die geringste Ausdehnung erreicht, wie Forscher
der Universität Bremen in diesen Tagen bekannt gegeben haben. Die Zugangsmöglichkeiten zu bisher unzugänglichen Regionen wecken Begehrlichkeiten, neue
Schifffahrtsrouten werden möglich, neue Zugänge zum
Festland werfen auch sicherheitspolitische Fragen auf.
Russlands Präsident Putin sagte Ende August anlässlich der Unterzeichnung eines milliardenschweren Abkommens zwischen russischen und amerikanischen Firmen zur Erschließung der Öl- und Erdgasvorkommen in
der Arktis, es täten sich neue Horizonte auf. Angesichts
des fortschreitenden Klimawandels und der Notwendigkeit einer massiven Begrenzung der CO2-Emissionen
darf man das getrost als Drohung verstehen, zumindest
aus klimapolitischer Sicht. Denn der Verlust an Meereisfläche beschleunigt den Klimawandel gleich doppelt.
Die kleiner werdende Eisfläche kann weniger Sonnenstrahlen in die Atmosphäre zurückreflektieren, die größer werdende Wasseroberfläche dagegen absorbiert die
Sonnenstrahlen, wärmt sich dadurch auf und beschleunigt wiederum die Eisschmelze. Und nun ist zur befürchten, dass die verstärkte Ausbeute fossiler Ressourcen
aus der Arktis ebenso den Klimawandel weiter verstärkt.
Man muss sich das einmal vorstellen: Ressourcen die
überhaupt erst durch den Klimawandel verfügbar werden, sollen ausgebeutet werden, was wiederum den Klimawandel verstärkt. Das ist absurd. Es ist, als führe
man wissentlich auf einen Abgrund zu und drückte mehr
und mehr aufs Gas, je schneller man wird.
Aber nicht nur aus klimapolitischer Sicht ist die Ausbeutung der Arktis eine Bedrohung. Die Arktis ist einer
der sensibelsten Lebensräume der Erde, mit hervorragend an die Lebensbedingungen angepassten Bewohnern. Aber es ist auch gerade diese Anpassung, die die
Bewohner dieses Ökosystems so anfällig für Störungen
macht. Die Biodiversität der Polarregion ist bereits
heute ernsthaft gefährdet.
Wir haben in Deutschland eine gute Tradition der Polarforschung und exzellente Wissenschaftler. Diese muss
weiter gestärkt werden, und allein daraus ergibt sich
auch schon die Verantwortung, eine Arktispolitik zu verfolgen, die sich nicht von Handels- und Ressourceninteressen leiten lässt, sondern den Umwelt- und Klimaschutz in den Mittelpunkt stellt. Die vorhandenen
Vereinbarungen und Institutionen zum Schutz der Arktis
reichen dafür nicht aus. Wir brauchen einen Arktisvertrag, der den Herausforderungen des fortschreitenden
Klimawandels und des Schwundes der Biodiversität
Rechnung trägt. Dabei kommt auch der indigenen Bevölkerung eine tragende Rolle zu, und die Wahrung ihrer
Rechte muss ein zentraler Bestandteil der Arktispolitik
sein.
Will man das 2-Grad-Ziel, also die Begrenzung des
globalen Klimawandels auf maximal 2 Grad Celsius, erreichen - dazu hat sich die Weltgemeinschaft verpflichtet -, so kann dies sicherlich nicht dadurch geschehen,
dass die gewaltigen fossilen Ressourcen, die in der Arktis vermutet werden, nun auch ausgebeutet werden. Ein
Arktisvertrag, der diese wirtschaftliche Ausbeutung verhindert, ist für eine erfolgreiche Klimapolitik absolut
notwendig und zum Schutz der arktischen Biodiversität
unabdingbar. Eine Positionierung der Bundesregierung
in diesem Sinne gehört nicht zuletzt auch zu einer glaubwürdigen internationalen Klimapolitik. Die Bundeskanzlerin hat sich vor einigen Jahren vor den Eisbergen
Grönlands als „Klimakanzlerin“ fotografieren lassen.
Es ist endlich an der Zeit, konkret etwas für die Polarregion zu tun.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6499 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung
- Drucksache 17/6905 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auch diese Reden gehen zu Protokoll.
Am 11. Januar 1993 wurde mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege in § 76 Abs. 2 GVG für die
Großen Strafkammern die Möglichkeit eingeführt, in der
Hauptverhandlung in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen zu verhandeln. Dieses Gesetz
verfolgte ursprünglich das Ziel, die Justiz während des
Aufbaus einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit in den
neuen Bundesländern zu entlasten.
Diese Regelung wurde bisher im Zweijahresrhythmus
verlängert. Nach derzeitiger Gesetzeslage läuft sie am
31. Dezember 2011 aus. Die bisherige Regelung, die die
Möglichkeit eröffnet, mit einer auf zwei Richter reduzierten Besetzung zu verhandeln, hat sich bewährt. In
der Praxis hat sich diese Regelung schon seit langem
durchgesetzt. So waren im Jahre 2009 fast 80 Prozent
- in einigen Bundesländern fast 90 Prozent - der Hauptverhandlungen vor den Großen Straf- und Jugendkammern mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt.
Durch diese Regelung wurde eine praxistaugliche
und sachgerechte Handhabung eingeführt. Die Möglichkeit der Besetzungsreduktion ist angesichts der sehr
knappen Personalausstattung unerlässliche Voraussetzung für eine funktionierende Strafrechtspflege. So loben
auch die Landesjustizverwaltungen „die Besetzungsreduktion durch die flexible Reaktionsmöglichkeit der
Strafkammern auf unterschiedliche Verfahrenskonstellationen und Effektivierungspotentiale …“, wie die Große
Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in
ihrem Gutachten zur Besetzungsreduktion feststellt. In
dem Zielkonflikt zwischen Sicherung der Qualität der
Rechtsprechung und Prozessökonomie muss jedoch eine
Regelung geschaffen werden, die beide Ziele angemessen abwägt und Verhältnismäßigkeit schafft.
Die bisherige befristete Regelung muss folglich durch
eine dauerhafte Regelung ersetzt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ausdrücklich zu begrüßen.
Durch die Schaffung und gesetzliche Normierung von
Ausnahmen, in denen eine Besetzungsreduktion unmöglich ist, wird eine stabile Rechtslage geschaffen, die den
Anforderungen an ein faires Verfahren Rechnung trägt.
Diese Ausnahmen sind nach wie vor dann gegeben,
wenn Umfang und Schwierigkeit der Strafsache eine
Verhandlung mit drei Richtern fordern oder das Gericht
als Schwurgericht verhandelt. Bei Zweifel bzw. Unklarheit ist die Dreierbesetzung der Zweierbesetzung immer
vorzuziehen. Regelbeispiele der Verhandlung vor drei
Richtern sind sowohl eine erwartete Verhandlungsdauer
von über zehn Tagen als auch die Funktion der Wirtschaftskammer als Große Strafkammer.
Letztlich kann eine Reduktion nicht erfolgen, wenn
die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Bei
solchen Entscheidungen der Großen Strafkammern, die
als einzige Tatsacheninstanz mit umfassender Strafgewalt etwa über die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu entscheiden haben, können so das Wissen
und die Erfahrung eines vollbesetzten Richterkollegiums
genutzt werden.
Zu prüfen ist, ob es nicht ausreichend ist, nur die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in § 76 Abs. 2
Nr. 2 GVG zu regeln. Für den bloßen Vorbehalt der Sicherungsverwahrung und die Unterbringung nach § 63
StGB scheint die Regelung nicht zwingend geboten. An
dieser Stelle besteht noch Beratungsbedarf; ich bin aber
sicher, dass wir auch hier bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens zu einer guten Lösung finden werden. Dies gilt vor allem, da im Hinblick auf § 74 f Abs. 4
GVG. Einigkeit besteht, dass in Verfahren, in denen über
die im Urteil vorbehaltene oder nachträgliche Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, keine Reduktionsmöglichkeit besteht.
Zusammenfassend kann man Folgendes festhalten:
Die neue Regelung des § 76 Abs. 2 bis 5 GVG verbessert
den Verfahrensablauf, da er eine unbefristet gültige Regelung statuiert. Dies führt zu einer Erhöhung der
Rechtssicherheit und gerade nicht zu einem Entzug des
gesetzlichen Richters, da der Angeklagte jederzeit mit
Rechtssicherheit seinen gesetzlichen Richter bestimmt
weiß.
Denjenigen Rechtspolitikern von Bündnis 90/Die
Grünen, die unsinnigerweise meinen, es liege in der
Festschreibung der bisher befristeten Regelung ein Verstoß des Rechts auf den gesetzlichen Richter vor, empfehle ich einen Blick in die einschlägigen Kommentierungen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Ein Entzug des gesetzlichen Richters liegt nur dann
vor, wenn der gesetzlich bestimmte Richter nicht der entscheidende Richter ist - zum Beispiel durch einen nachträglichen Eingriff der Exekutive. Mit der angestrebten
Regelung wird aber gerade im Vorhinein der entscheidende Richter klar bestimmt und unter Beibehaltung eines hohen Qualitätsstandards schließlich Rechtsklarheit
geschaffen.
Die Vorteile der unbefristeten Regelung der Besetzung der Großen Straf- und Jugendkammern liegen auf
der Hand. Auch an diesem Gesetzgebungsvorhaben
zeigt sich die stringente Rechtspolitik der christlich-liberalen Koalition im Hinblick auf die Gewährleistung
von Rechtssicherheit und Effektivität der Justiz.
Bei dem Entwurf eines Gesetzes über die Besetzung
der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung haben wir darüber zu entscheiden, ob eine gesetzliche Regelung, die bereits 1993 zunächst befristet
eingeführt und dann immer wieder verlängert wurde,
nunmehr dauerhaft bestehen oder aber wieder abgeschafft werden soll. Eine weitere Befristung ist nach diesem Vorlauf in der Tat nicht mehr zu vertreten.
Gegenstand der Beratung ist die Frage, ob große
Strafkammern und große Jugendkammern an den Landgerichten auch zukünftig die Gelegenheit eröffnet werden soll, in bestimmten Fall- und Verfahrenskonstellationen mit zwei statt mit drei Berufsrichtern plus jeweils
zwei Schöffen zu verhandeln und zu entscheiden. Von
zentraler Bedeutung für die Entscheidung dieser Frage
sind die Ergebnisse der Evaluation, die 2009 in Auftrag
gegeben wurde. Deren Auswertung wie auch die Gründe
aus dem Beschluss des BGH vom 7. Juli 2010 - 5 StR
555/09 - bieten eine gute Grundlage für die jetzt anstehenden Debatten im Rechtsausschuss, um eine Regelung
zu finden, die weiterhin eine effiziente und qualitativ
hochwertige Rechtsprechung möglich macht.
Im Zuge dieser Evaluation wurden rechtstatsächliche
Erkenntnisse erhoben und ermittelt, in welchem Umfang
von der Besetzungsreduktion Gebrauch gemacht wurde.
Ziel waren eine Analyse der Besetzungsreduktion in der
Praxis und die Erkenntnis, welche Auswirkung sie auf
die Dauer und Qualität des Verfahrens hat. Diese Untersuchung der Qualität der Rechtsprechung verdanken wir
unserem früheren rechtspolitischen Sprecher Joachim
Stünker, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin dieser
Punkt in die Befragungen mit aufgenommen wurde. Nur
auf der Basis dieser Evaluation kann also eine sachgerechte Entscheidung getroffen werden.
Die Gutachter sind zu dem Schluss gelangt, dass eine
komplette Rückführung zu einer Dreierbesetzung in einigen Fällen nicht notwendig ist und mit der aktuellen
Haushaltslage auch nicht vereinbar ist, auch wenn ich
hinzufügen will, dass im Vordergrund ausdrücklich
rechtspolitische Erwägungen zu stehen haben und erst
in zweiter Linie fiskalische. Justiz ist keine Unterabteilung des Finanzministeriums; ihr Funktionieren ist Bestandteil unserer rechtsstaatlichen Grundordnung.
Betrachtet man aber die Zahlen, wie oft die Besetzungsreduktion in den letzten Jahren der Dreierbesetzung vorgezogen wurde, so lässt sich feststellen, dass
diese bei vielen Gerichten überwiegt. Der Trend geht
Zu Protokoll gegebene Reden
demnach zur Zweierbesetzung. Der Schluss, der sich daraus ziehen lässt, ist, dass die §§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG
und 33 b Abs. 2 JGG zu viele Spielräume lassen. Dieses
Defizit wird auch in den Gutachten herausgestellt. Der
Versuch der Bundesregierung, des Problems der
unbestimmten Tatbestandsmerkmale „Umfang“ und
„Schwierigkeit der Sache“ durch einen Absatz 3 Herr zu
werden, erweist sich jedoch als unzureichend. Indem lediglich beschrieben wird, unter welchen Voraussetzungen eine Dreierbesetzung erfolgen muss, kommt es de
facto in allen anderen Fällen zu einer Zweierbesetzung.
Das Gesetz zur Besetzungsreduktion, das im Dezember 2011 ausläuft, war jedoch nur dazu gedacht, dass
geeignete Fälle in reduzierter Besetzung verhandelt werden. Die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesformulierung führt jedoch dazu, dass die Besetzungsreduktion
nicht mehr nur die Ausnahme sein wird, sondern die
Regel. Aus diesem Grund sollten § 76 II, III GVG und
§ 33 b II, III JGG keine Aufzählung für Fälle enthalten,
die einen dritten Richter erfordern, sondern die Fälle
konkretisieren, die nur zwei Richter erfordern. Nur auf
diese Weise können eine Aushöhlung der §§ 76 VG, 33
JGG vermieden und eine Besetzung mit drei Richtern
dort garantiert werden, wo sie erforderlich ist.
Der BGH hat in seinem bereits zitierten Beschluss
vom Juli 2010 deutliche Worte gefunden: Die Rechtspraxis gehe unsensibel mit der Besetzungsreduktion um. Bei
einzelnen Landgerichten werde ausschließlich in Zweierbesetzung entschieden. Es sei angezeigt, den Begriff
des „Umfangs der Sache“ gesetzgeberisch zu konturieren.
Es ist also Zeit, dass wir als Gesetzgeber handeln.
Der Entwurf der Bundesregierung zeigt in die richtige
Richtung. Ob er auch in den einzelnen Regelungen und
gesetzestechnisch so gelungen ist, werden wir uns genau
ansehen. Wir werden uns auch kritisch mit den Anregungen auseinandersetzen müssen, die vom Bundesrat kommen. Dort ist im Rechtsausschuss beschlossen worden,
dass auch in Verfahren, bei denen die Anordnung der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
zu erwarten ist, die Zweierbesetzung möglich sein soll.
In Berufungshauptverhandlungen soll Zweierbesetzung
möglich sein, auch wenn erstinstanzlich auf eine Jugendstrafe von mehr als vier Jahren erkannt wurde.
Diese Anregungen gehen meines Erachtens in die falsche Richtung. Je größer der zu erwartende Grundrechtseingriff, desto wichtiger ist eine gut besetzte Richterbank.
Eines ist klar: Sowohl die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes als auch der Bundesgerichtshof gehen davon aus, dass die Dreierbesetzung
wegen ihrer strukturellen Überlegenheit der reduzierten
Besetzung vorzuziehen ist. Das ist auch meine Ansicht.
Zum Schutz der Betroffenen und auch der Richter sollte
es deshalb bei der Dreierbesetzung bleiben, wenn der
Grundrechtseingriff besonders groß ist.
Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen und
sage für meine Fraktion eine konstruktive Beteiligung
zu.
Das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und
Jugendkammern in der Hauptverhandlung hat das Ziel,
eine seit der Wiedervereinigung immer wieder befristet
verlängerte Regelung nunmehr ohne zeitliche Begrenzung festzuschreiben. Ausgangspunkt war die damals
geschaffene Möglichkeit, nach der Strafkammern unter
Umständen auch nur mit zwei statt drei Berufsrichtern
verhandeln durften. Anlass dafür war der seinerzeit bestehende Mangel an ausreichend qualifizierten Richtern. Ein solcher liegt heute zwar nicht mehr vor, jedoch
hat sich die Verhandlung mit lediglich zwei Berufsrichtern in vielen Fällen bewährt.
Insbesondere in - rechtlich und tatsächlich - einfach
gelagerten Fällen soll auch in Zukunft in dieser Besetzung verhandelt werden können. Dies spart Personal,
was anderen Verfahren zugutekommt, und trägt dennoch
den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren
ohne Qualitätseinbußen Rechnung. Dies belegt nicht zuletzt die von den Professoren Dölling und Feltes erarbeitete Studie, nach der sich kein Anhaltspunkt dafür finden
lässt, dass Verfahren in der Besetzung mit zwei Richtern
häufiger als andere die Einlegung von Rechtsmitteln zur
Folge gehabt hätten. Insofern ist es durchaus sachgerecht, diese Möglichkeit auch weiterhin beizubehalten,
was im Übrigen auch von der Bundesrechtsanwaltskammer grundsätzlich anerkannt wird.
Andererseits gibt es selbstverständlich Verfahren, bei
denen die klassische Besetzung mit drei Berufsrichtern
zwingend ist. Grundsätzlich gilt dies im Umkehrschluss
für alle Prozesse, die besondere Schwierigkeiten in
rechtlicher, tatsächlicher oder beider Hinsicht aufweisen. Dem trägt der Gesetzentwurf durch die ausdrückliche Normierung solcher Fälle hinreichend Rechnung.
An erster Stelle sind dabei diejenigen Fälle zu nennen, in
denen das Gericht als Schwurgericht besonders schwere
Straftaten verhandelt, die in der Regel auch mit einer besonders langen Freiheitsstrafe geahndet werden. Hier
verlangt die einer solchen Straftat immanente Komplexität ebenso wie die mit der hohen Strafandrohung verbundene besondere Eingriffsintensität nach dem juristischen Sachverstand dreier Richter.
Gleiches gilt für Verfahren, die für den Angeklagten
mit einer über die Strafe hinausgehenden Rechtsfolge
verbunden sein können - namentlich die Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder die
Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus. Da hier unter Umständen eine tatsächlich
lebenslange Verwahrung ausgesprochen werden kann,
muss diese Entscheidung besonders sorgsam abgewogen und getroffen werden.
Schließlich stellt der Gesetzentwurf den Gerichten
durch eine relativ offen gestaltete Regelung in § 76 Abs. 2
Nr. 3 GVG-E frei, auch in darüber hinausgehenden weiteren komplizierten Verfahren eine Besetzung mit drei
Richtern zu wählen. Davon wird im Regelfall bei Verfahren mit einer Dauer von mindestens zehn Verhandlungstagen ebenso auszugehen sein wie bei Verfahren der großen Wirtschaftsstrafkammer, denen naturgemäß ein
vielschichtiger Sachverhalt zugrunde liegt. Diese BeiZu Protokoll gegebene Reden
spiele sind jedoch keinesfalls abschließend, sodass den
Gerichten genügend Spielraum bleibt, auch in anderen
sensiblen Bereichen mit drei Richtern zu verhandeln.
Wie bereits eingangs erwähnt, nimmt der Gesetzentwurf somit die guten Erfahrungen der letzten 20 Jahre
auf und statuiert die Verhandlung mit zwei Richtern als
Grundfall. Alle Verfahren, die eine höhere Entscheidungskompetenz erfordern, können auch in Zukunft mit
drei Richtern durchgeführt werden. Für einen Großteil
wird dies sogar zwingend. Damit werden Prozessökonomie und Rechtsstaatlichkeit in einen angemessenen Ausgleich gebracht. Ich weiß, dass durchaus auch Bedenken
gegen den jetzt vorgelegten Gesetzentwurf vorgebracht
werden, und bin mir sicher, dass es uns gelingen wird,
diese bei unseren Beratungen auszuräumen.
Wir begrüßen den Versuch, die Notlösung in § 76
Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz nicht nochmals zu
verlängern. Im Detail können wir dem Einbringer aber
zum wiederholten Mal kritische Hinweise nicht ersparen.
Worum geht es genau? Nach Herstellung der deutschen Einheit wuchs der Bedarf an Richtern und Staatsanwälten im Beitrittsgebiet kurzfristig stark an. Deshalb
entschied sich der Gesetzgeber im Jahre 1993 für eine
vorübergehende Notlösung. Er erlaubte den Großen
Strafkammern an den Landgerichten, selbst über ihre
Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern zu entscheiden. Die Rechtsgrundlage bildete § 76 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz und war bis zum 28. Februar 1998
befristet. Danach sollte die Regelung auslaufen. Man
ging davon aus, dass nach fünf Jahren genügend geeignete Juristinnen und Juristen zur Verfügung stehen. Tatsächlich war diese Vermutung bereits im Jahre 1998
auch eingetreten.
Eine völlig andere Lage besteht aktuell. Die Zahl der
offenen Stellen in der Justiz bleibt weit hinter der Zahl
bestens geeigneter Juristinnen und Juristen zurück. Die
Geschäftsgrundlage für die damalige Sonderregelung,
nämlich der Mangel an geeigneten Fachkräften, ist also
längst entfallen. Dennoch hat die Regierung die Ausnahmeregelung ohne Not mehrfach, meist im Zweijahresrhythmus verlängert. Die letzte Frist läuft am 31. Dezember 2011 ab.
Es drängt sich damit die Frage auf, aus welchen Motiven bei der Besetzung der Großen Strafkammern weiterhin Sonderrecht gelten soll. Eine Antwort könnte lauten: Kosteneinsparung in der Justiz. Durch die Regelung
des § 76 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz wurden in jedem Bundesland - also nicht nur in den neuen Bundesländern - mindestens fünf bis zehn Richterstellen eingespart. Das hat die Finanzminister der einzelnen Länder
offenbar so sehr gefreut, dass dieser Einspareffekt nun
festgeschrieben werden soll. Damit wird nicht nur die
viele Arbeit auf weniger Köpfe verteilt, es wird auch
leichtfertig mit der Qualität des Strafprozesses gespielt.
Dieser Einspareffekt muss die Bundesregierung bewogen haben, den heute zu debattierenden Gesetzentwurf vorzulegen und die Regelung nicht einfach am
31. Dezember 2011 auslaufen zu lassen. Auch der Justizminister der schwarz-gelben Regierung in SchleswigHolstein fordert für die Großen Jugendkammern eine
Besetzung mit drei Berufsrichtern. In einem Antrag für
die Bundesratssitzung plädiert er für eine Streichung der
Besetzungsreduktion bei den Großen Jugendkammern.
Er argumentiert mit Qualitätssicherung, der großen Bedeutung von Jugendverfahren und fordert einen hohen
Standard in Strafverfahren vor einer Jugendkammer. Ich
hoffe, viele Landesjustizminister werden seinem Beispiel
folgen.
Daneben bietet die Dreierbesetzung der Großen Jugendkammern laut Deutschem Richterbund die Möglichkeit der besseren Befassung mit dem Tatgeschehen,
der Person des jungen Angeklagten und der erzieherisch
gebotenen Sanktion. Damit können Rückfälle vermieden
werden, deren volkswirtschaftliche Kosten die Mehrbelastung der Justizhaushalte bei weitem überwiegen.
Mit dem vorliegenden Entwurf wollen Sie neben einer
Vielzahl von Präzisierungen in den Zuständigkeitsregelungen den § 76 Gerichtsverfassungsgesetz und analog
auch das Jugendgerichtsgesetz ändern. Zwar hat die
Bundesregierung mehrere Regelbeispiele aufgenommen,
die das Ermessen der Kammern bei der Selbstbestimmung ihrer Besetzung reduzieren. Es kann dennoch nicht
hingenommen werden, dass ein Gericht selbst entscheidet, in welcher Besetzung es tätig sein will. Damit besteht die Gefahr der Ungleichbehandlung verschiedener
Angeschuldigter vor den Großen Straf- und Jugendkammern und somit die Verfestigung unterschiedlicher Standards. Eine derartige Ungleichbehandlung würde gegen
den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verstoßen.
Die Bundesregierung wiederholt hier den Fehler wie bei
der Änderung des § 522 Abs. 2 und 3 Zivilprozessordnung. Beide Gesetze öffnen Tür und Tor für eine willkürliche und ungleiche Behandlung der Beteiligten in den
Verfahren.
Dass die Bedenken zutreffend sind, ergibt sich aus der
unterschiedlichen Anwendungshäufigkeit in den Gerichten. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in einem Gutachten: In verminderter Besetzung wurden zum
Beispiel im Saarland 9 Prozent der Verfahren verhandelt
und in Bayern und Sachsen 90 Prozent. Das heißt, in
neun von zehn Verfahren wird im Saarland mit drei Richtern verhandelt und in neun von zehn Verfahren wird in
Bayern nur mit zwei Richtern verhandelt, und das, obwohl der angeblich in allen Belangen vorbildliche Freistaat Bayern bekanntermaßen nicht zu den neuen Bundesländern mit angeblichem Richtermangel gehört.
Dieses Ungleichgewicht vermag auch der vorgelegte
Entwurf nicht zu beseitigen, sodass es besser wäre, die
befristete Regelung einfach auslaufen zu lassen und zu
dem über Jahrzehnte bewährten Rechtszustand vor 1993
zurückzukehren.
Dem offensichtlichen Versuch, die Rechtspflege fiskalischen Interessen der Länder unterzuordnen, erteilen
wir eine klare Absage.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Thema, über das wir heute reden, beschäftigt die
Rechtspolitik schon seit 1993. Es geht um die Frage, ob
eine große Straf- oder Jugendkammer mit nur zwei statt
drei Berufsrichterinnen und -richtern auskommt und,
gegebenenfalls, für welche Strafverfahren dies festgelegt
werden sollte. Mit anderen Worten: Es geht um die sogenannte Besetzungsreduktion. In diesem Zusammenhang
wurde zu Recht bereits von einer „fast unendlichen Geschichte“ gesprochen; denn die zugrunde liegende Sonderregelung zur Besetzungsreduktion - Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 - stammt
ja bereits aus dem Jahre 1993 und wurde seitdem immer
wieder verlängert.
Nach § 76 Abs. 1 GVG sind die großen Strafkammern
mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und
zwei Schöffen zu besetzen. Zum 31. Dezember 2011 läuft
nun die Regelung aus, wonach die großen Straf- und Jugendkammern auch beschließen können, in reduzierter
Besetzung von nur zwei Berufsrichtern zu entscheiden.
Der Gesetzgeber heute hat verschiedene rechtspolitische Optionen. Wenn sich die Regelung zur Besetzungsreduktion bewährt hat, kann sie noch einmal verlängert
oder sogar entfristet werden. Wenn sich die Regelung
aber nicht bewährt hat, kann sie auslaufen, mit der
Folge, dass die Kammern wieder - wie vor 1993 - in der
Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen
verhandeln. Schließlich kann der Sachverhalt auch
gänzlich neu geregelt werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht die Koalition einen Mittelweg zwischen Entfristung und Neuregelung. Die Koalition legt drei Beispiele für die Besetzung
mit drei Berufsrichtern in der Großen Strafkammer fest,
die überwiegend an die bisherige Formulierung anknüpfen. Sie belässt es aber „im Übrigen“ bei der Möglichkeit, mit zwei statt drei Berufsrichtern zu verhandeln. Sie
hält also an der Möglichkeit der Besetzungsreduktion
für große Strafkammern und Jugendkammern fest.
Dabei ist eine Besetzung mit drei Berufsrichterinnen
und -richtern künftig zu beschließen, wenn das Gericht
„als Schwurgericht“ entscheidet, die Mitwirkung eines
Dritten „nach Umfang und Schwierigkeit der Sache“ erforderlich ist oder - und das ist neu und greift insoweit
eine Anregung der Großen Strafrechtskommission auf die „Anordnung der Unterbringung in Sicherungsverwahrung oder einem psychiatrischen Krankenhaus“ zu
erwarten ist.
Für eine Besetzungsreduktion gab es in der mehr als
130-jährigen Entwicklungsgeschichte der Strafprozessordnung bis 1993 kein Beispiel. Der historische Gesetzgeber hatte damals ursprünglich beabsichtigt, damit nur
auf die „Notsituation der Justiz in den neuen Ländern“
zu reagieren. Hierzu stellt der vorliegende Gesetzentwurf zu Recht fest, dass diese wiedervereinigungsbedingten Gründe heute nicht mehr gegeben sind.
Der Gesetzgeber ist ursprünglich davon ausgegangen, dass die Besetzung mit drei Richtern die Ausnahme
und die mit zwei Richtern die Regel sein sollte, im Zweifelsfalle sollte die Dreierbesetzung aber den Vorzug verdienen. In der Praxis ist die Besetzungsreduktion immer
mehr zu Regel geworden. Wir Grüne finden diese rechtspolitische Entwicklung - Anstieg der Besetzungsreduktion von durchschnittlich 43 Prozent im Jahre 1994 bis
auf 78 Prozent im Jahre 2009 - bedenklich.
So wünschenswert es auch ist, dass man wieder zur
ursprünglichen Dreierbesetzung zurückkehrt, so unwahrscheinlich und unrealistisch ist dies angesichts der
Haushaltslage in den Ländern. Tatsächlich befürchten
die Justizminister mit dem Auslaufen der bisherigen Regelung eine erhebliche zusätzliche Belastung für die
Justiz und wollen deshalb - das haben sie auf ihrer
Frühjahrskonferenz 2011 auch so festgehalten - zügig
eine gesetzliche Grundlage schaffen, die dauerhaft eine
Besetzungsreduktion ermöglicht.
Sicher ist: Die Zahl der beteiligten Richterinnen und
Richter allein bietet noch keine Gewähr für die Qualität
der Entscheidungen. Aber sie erhöht die Wahrscheinlichkeit richtiger Urteile und damit auch die Rechtssicherheit. Die Vorteile einer Dreierbesetzung liegen dabei auf der Hand: Die Überzeugungskraft von drei
Berufsrichtern und das Wissen des Angeklagten darum,
dass der Sachverhalt von drei Berufsrichtern und den
Schöffen überprüft worden ist, können zur Akzeptanz der
Entscheidung und damit auch zum Rechtsfrieden beitragen.
Der Gesetzgeber darf in Justizangelegenheiten Finanzierungsfragen nicht zum alleinigen Maßstab machen. Gleichwohl gibt es auch in der Justiz, mit einem
übrigens vergleichsweise bescheidenen Haushaltsposten, einen Finanzierungsvorbehalt und die Justizhoheit
der Länder. Der Gesetzgeber muss daher einen Ausgleich der betroffenen Interessen schaffen. Der vorliegende Entwurf wirft eine Reihe von Fragen auf:
Zum einen sollten statt der ungenauen und auch immer wieder zur Aufhebung von Urteilen durch den BGH
führenden Möglichkeit, durch das Gericht selbst eine
Besetzungsreduktion vorzunehmen, klare gesetzliche Regelungen getroffen werden, wann in Zweier- und wann
in Dreierbesetzung zu entscheiden ist. Künftig gibt es
zwar gesetzliche Beispiele, aber das Gericht hat nicht
mehr nur darüber zu beschließen, dass die Besetzung reduziert wird, sondern über jede Besetzung. Welche Vorteile dies gegenüber einer gesetzlichen Anordnung haben soll, lässt die Begründung offen.
Zum anderen wird im Gesetzentwurf behauptet, dass
künftig Reduktionsbesetzungen vorgenommen werden,
ohne dass „Qualitätseinbußen“ in den Urteilen zu erwarten sind. Die mit der Besetzungsreduktion verbundene Gefahr, dass die Qualität der Entscheidungen leidet, hat der Gesetzgeber schon 1993 gesehen, glaubte
aber, sie im Hinblick auf die besondere Lage für eine vorübergehende Zeit in Kauf nehmen zu können. Im aktuellen Gesetzentwurf wird dieser Sorge nun nicht einmal
mehr Ausdruck verliehen.
Nach Ansicht der Bundesrechtsanwaltskammer wird
die vorgeschlagene Regelung der Bedeutung der Besetzung der großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern
nicht gerecht. Die Voraussetzungen für eine VerhandZu Protokoll gegebene Reden
lung mit nur zwei Richtern seien zu vage. Der BRAK-Alternativvorschlag geht den umgekehrten Weg: Er definiert anhand von Beispielen die Voraussetzungen, unter
denen eine Besetzung mit nur zwei Richtern möglich ist.
Dahinter steht wohl die unausgesprochene Annahme,
dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung das RegelAusnahme-Verhältnis zulasten der Dreierbesetzung zu
stark ausweitet.
Immerhin ist die bisherige Regelung nunmehr seit
über 18 Jahren in Kraft, und es gibt ausreichend Forschungsergebnisse und Rechtspraxis, die zu einer umfassenden Bewertung und Evaluierung der Regelung
herangezogen werden können. Das Bundesjustizministerium stützt sich dabei für den aktuellen Gesetzentwurf
insbesondere auf zwei eigens in Auftrag gegebene Gutachten.
Das Forschungsprojekt Dölling und Feltes vom
15. März 2011 bestätigt tatsächlich den Eindruck, dass
die Zweierbesetzung in der Praxis stark zunimmt, insbesondere wenn man die Entscheidung den Gerichten
durch unbestimmte Rechtsbegriffe weitgehend selbst
überlässt. Interessanterweise gaben drei Viertel der befragten Richterinnen und Richter an, dass sie seltener
von der Besetzungsreduktion Gebrauch machen würden,
wenn ihr Landgericht personell so gut ausgestattet
wäre, dass ihre Kammer problemlos in Dreierbesetzung
entscheiden könnte.
Das Gutachten der großen Strafrechtskommission des
Deutschen Richterbundes, an deren Vorschläge der Gesetzentwurf ja weitgehend anknüpft, hält zu Recht daran
fest, dass die Dreierbesetzung von der Struktur grundsätzlich Vorteile gegenüber der Zweierbesetzung hat. Allerdings verschließt auch sie sich den haushaltspolitischen Zwängen nicht. Die Kommission geht davon aus,
dass eine Rückkehr zur ausschließlichen Dreierbesetzung mit der gegenwärtigen Haushaltslage unvereinbar
und auch rechtsstaatlich nicht in allen Fällen geboten
sei, weil eine Vielzahl von Verfahren ohne durchgreifende Bedenken in der Zweierbesetzung bearbeitet werden können.
Der Gesetzentwurf übernimmt zwar eine Reihe dieser
Kommissionsvorschläge - zu begrüßen sind insbesondere die Beispiele der Unterbringung in Sicherungsverwahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus -,
sieht jedoch davon ab, auch ein bestimmtes Maß an zu
erwartender Freiheitsstrafe als Beispiel für eine Dreierbesetzung aufzunehmen. Der Entwurf lässt offen, warum. Eine hohe Freiheitsstrafe, beispielsweise die von
der Kommission vorgeschlagene Freiheitsstrafe von
acht Jahren, stellt für den Angeklagten eine vergleichbare erhebliche freiheitsentziehende Maßnahme dar wie
in den genannten Beispielen. Das allein rechtfertigt es,
dass sie in der Regel von drei Berufsrichtern verhängt
werden muss.
In vergleichbarer Weise sind ja bereits nach geltendem Recht Prognosen des mit der Sache befassten
Gerichtes bei der Eröffnung des Hauptverfahrens vorgesehen, beispielsweise die Zuständigkeit des Schöffengerichtes bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von
mehr als zwei Jahren, § 28 in Verbindung mit § 25 Nr. 2
GVG, und die Zuständigkeit des Landgerichts bei zu erwartender Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren, § 74
Abs. 1 Satz 2 GVG. Die Prognose zur Zuständigkeit der
Jugendkammern bei bestimmten Verbrechen und gleichzeitiger Straferwartung von mehr als fünf Jahren Jugendstrafe, § 41 Abs. 1 Nr. 5 1. Alt. JGG, hat der Gesetzentwurf ja ebenfalls aufgegriffen und sie zu einem
zwingenden Grund für die künftige Dreierbesetzung der
Jugendkammer erhoben, § 33 b Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 JGG-E.
Hier greift der Entwurf etwas zu kurz.
Wir Grünen sind der Auffassung, dass es hinzunehmen ist, wenn es auch künftig zu Besetzungsreduktionen
kommt. Wir werden aber in den weiteren Beratungen darauf dringen, dass der Ausnahmecharakter der Besetzungsreduktion noch stärker im Gesetz zur Geltung
kommt. Zumindest in allen Fällen, in denen es zu erheblichen freiheitsentziehenden Maßnahmen kommen kann,
sollte auch eine Dreierbesetzung gewährleistet sein. Nur
dann werden wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben können.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6905 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz
erweitern
- Drucksache 17/3747 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden.
Menschen sind keine Ware! Das sollte nicht nur unsere Grundüberzeugung, sondern auch Tatsache sein.
Offiziell ist Sklaverei weltweit abgeschafft.
Die Realität jedoch sieht erschreckend anders aus.
Sklaverei und Menschenhandel florieren heute mehr
denn je! Diese Verbrechen sind nicht weit zurückliegenden historischen Zusammenhängen zuzuordnen. Sie gehören zu den drängendsten Problemen unserer Zeit. Sie
spielen sich auch nicht nur in fernen Regionen dieser
Erde ab. Auf und zwischen allen Kontinenten werden
Menschen gehandelt. Auch Europas Staaten sind Herkunfts-, Transit- und Zielländer dieses modernen Sklavenhandels. Auch Deutschland ist Zielland.
Die Zahl der Opfer des Menschenhandels im Bereich
der sexuellen Ausbeutung steigt jährlich. Vorwiegend
sind Frauen und Mädchen betroffen. Aber auch als
Zwangsarbeiter, als lebende „Ersatzteillager“ für
menschliche Organe, als Zwangsverheiratete und
Zwangsadoptierte werden Menschen ihrer Rechte und
ihrer Würde beraubt. Die „Ware“, von der hier die Rede
ist, ist immer wieder verwendbar und mit geringem Aufwand zu beschaffen. Dieser Gedankengang zeigt, wie
abgrundtief menschenverachtend das Geschäft mit Menschen weltweit betrieben wird.
Laut einer Studie der International Labour Organisation werden jährlich 2,4 Millionen Menschen über Grenzen hinweg verkauft, gekauft und gegen ihren Willen in
sklavereiähnlichen Verhältnissen gehalten. Die Vereinten Nationen sprechen sogar von bis zu 4 Millionen
Menschen pro Jahr. Nichtregierungsorganisationen, wie
„Anti-Slavery International“, schätzen die Anzahl gehandelter Menschen sogar auf 27 Millionen.
Verlässliche Zahlen über das Ausmaß des modernen
Menschenhandels gibt es nicht. Statistiken sind rar, und
die Dunkelziffer ist hoch. Eines aber ist sicher: Niemals
zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es mehr
Sklaven als heute. Interpol spricht vom drittgrößten
grenzüberschreitendem Verbrechen nach Drogen- und
Waffenhandel.
Jedes einzelne dieser Schicksale ist eines zu viel! Es
geht um Menschen, die durch Verführung, Betrug, Täuschung oder Zwang in Abhängigkeitsverhältnisse gebracht wurden, die sie brutaler Gewalt aussetzen. Sie
werden eingesperrt, eingeschüchtert und ausgebeutet.
Ihre Rechte auf persönliche Freiheit, auf körperliche
Unversehrtheit, auf ein Leben frei von Sklaverei,
Zwangsarbeit und unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung werden in höchstem Maße verletzt.
Wir müssen Mittel und Wege finden, um den barbarischen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Wir
haben es mit einem sehr komplexen Verbrechen zu tun,
dessen Bekämpfung aus drei Dimensionen bestehen
muss: Vorbeugung, Schutz der Opfer sowie Strafverfolgung der Täter. Deshalb greift der Antrag, den wir hier
beraten, auch zu kurz. Opferschutz ist einer der drei eng
miteinander verbundenen und wichtigen Ansätze zur Bekämpfung des Menschenhandels. Ohne die Verfolgung
der beiden anderen Ziele ist er geradezu wertlos, weil er
die Täter unbehelligt lässt und die potenziellen Opfer
nicht warnt.
Auch über dieses Problem müssen wir dringend nachdenken. Männer, die als Freier zu Prostituierten gehen,
müssen wissen, dass sie ihr Geld vielleicht mitten hinein
ins organisierte Verbrechen tragen, dass sie möglicherweise schwersten Menschenhandel mitfinanzieren, dass
sie das Leid von Menschen mit verursachen. Die Strafverfolgung nicht nur der Menschenhändler, sondern
auch dieser Freier ist nötig. Denn ohne Nachfrage gäbe
es kein Angebot!
Staatliche Maßnahmen in den drei Bereichen Prävention, Schutz der Opfer und Strafverfolgung der Täter haben jüngst Wissenschaftler der Universität Göttingen in
Zusammenarbeit mit Forschern der London School of
Economics and Political Science für 177 Staaten im
Zeitraum von 2000 bis 2009 untersucht. Deutschland erreichte die höchstmögliche Punktzahl in allen drei Bereichen. Das ist ein Grund zur Freude. Nur sechs weitere
Staaten konnten die gleiche Bewertung erreichen. Eines
der wichtigen Forschungsergebnisse ist, dass positive
„Ansteckungseffekte“ zwischen Nachbarländern zu verzeichnen sind. Staaten verbessern ihre Maßnahmen zur
Bekämpfung des Menschenhandels, wenn ihr Umfeld
mit positivem Beispiel vorangeht. Bei aller Anpassungsfähigkeit der transnational organisierten Kriminalität
besteht so Hoffnung, diesen menschenverachtenden
Sumpf doch trockenlegen zu können.
Durch eine offensive Öffentlichkeitsarbeit müssen die
Menschen für das Thema sensibilisiert werden. Auch
Wissen über das Verbrechen Menschenhandel und die
Empörung darüber können treibende Kräfte für Veränderungen sein. Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung der Täter - ein Trio, kein Duo, kein Solo.
Wir beraten heute über einen Antrag der Faktion Die
Linke, der sich mit der Bekämpfung des internationalen
Menschenhandels und der Stärkung des Opferschutzes
beschäftigt.
Menschenhandel stellt eine der schlimmsten und
menschenverachtendsten Formen internationaler Kriminalität dar. Die sogenannten Beschaffungsmärkte dieses globalen Phänomens liegen in der Dritten Welt, in
Entwicklungsländern und in osteuropäischen Staaten.
Bei den Zielländern handelt es sich aber ganz überwiegend um Länder der sogenannten Ersten Welt. Das trifft
leider auch auf Deutschland zu, das als Ziel- und Transitland eine ganz zentrale Rolle im internationalen Menschenhandel spielt.
Die konkreten Zahlen zu Umfang und Profit des Menschenhandels sind größtenteils ungesichert, da es insofern an belastbaren Daten bzw. statistischen Erhebungen fehlt. Bei allen Zahlen ist zudem nicht eindeutig, ob
und inwieweit zwischen freiwilliger Sexarbeitsmigration
und Zwang unterschieden wird. Seriöse Schätzungen
zeigen jedoch, dass diese Form der organisierten Kriminalität gigantische Ausmaße angenommen hat. Das geringe Aufdeckungsrisiko und die - auch im Vergleich zu
anderen kriminellen Geschäftsfeldern - enormen Gewinnmargen lassen den Schluss zu, dass die Dunkelziffer
sehr hoch ist und der Menschenhandel im Kontext der
Globalisierung stetig weiter zunimmt.
Im Februar 2008 fand im Rahmen der United Nations
Global Initiative to Fight Human Trafficking das Wiener
Forum gegen Menschenhandel statt, bei dem mehr als
1 200 Experten teilgenommen haben, um Strategien gegen den internationalen Menschenhandel zu suchen.
Nach Schätzung der Experten und der UN wurden im
Jahr 2008 weltweit 2,5 Millionen Menschen ausgebeutet, wovon die große Mehrheit junge Frauen und Kinder
waren. Es wird zudem geschätzt, dass weltweit jedes
Jahr weitere fast 700 000 Frauen und Mädchen verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Die
Internationale Organisation für Migration geht davon
aus, dass jährlich allein bis zu 500 000 Frauen und KinZu Protokoll gegebene Reden
http://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Organisation_f%C3%BCr_Migration
der aus Mittel- und Osteuropa nach Westeuropa gehandelt werden. Ebenso gehen der Bericht der Parlamentarischen Versammlung vom Januar 2002 und der Bericht
des United Nations Development Programmes aus dem
Jahr 1999 davon aus, dass die Zahl der Menschenhandelsopfer in Europa bei bis zu 500 000 jährlich liegt.
Der Profit, der im Bereich des internationalen Menschenhandels weltweit erzielt wird, liegt nach Erkenntnissen der UN und der Experten des Wiener Forums gegen Menschenhandel bei jährlich 32 Milliarden Dollar.
Mit Blick auf Europa geht man davon aus, dass allein
hier zwischen 7 und 13 Milliarden Dollar pro Jahr durch
Frauenhandel und Zwangsprostitution verdient werden.
Die Profite sollen nach Angabe des Europarates in den
vergangenen zehn Jahren um 400 Prozent gestiegen
sein.
Das unendliche Leid, das die Opfer dieser Taten erfahren müssen, wird allerdings in keiner dieser Statistiken erfasst. Gespräche mit Beratungsstellen und Opferhilfen lassen aber ansatzweise erahnen, was den Opfern
und hier insbesondere den Frauen in Deutschland und
anderswo auf dieser Welt täglich widerfährt. Auf uns als
Gesetzgeber lastet eine große Verantwortung, den Opfern zu helfen und Menschenhandel künftig effektiver zu
bekämpfen. Dies erfordert gleichermaßen die Forcierung von Repression mit Blick auf die Täter und Prävention, Hilfe und Unterstützung mit Blick auf die Opfer.
Nur der Vollständigkeit halber möchte ich an dieser
Stelle darauf hinweisen, dass der deutsche Gesetzgeber
in den vergangenen Jahren bereits eine Reihe von Maßnahmen im Kampf gegen Menschenhandel und zum
Schutz der Opfer ergriffen hat: Dazu zählt beispielsweise die umfassende Neuregelung der Strafvorschriften
gegen Menschenhandel. Demzufolge sind nunmehr der
Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung
oder der Ausbeutung der Arbeitskraft, aber auch die
Förderung des Menschenhandels explizit unter Strafe
gestellt. Des Weiteren haben wir im Jahr 2007 die Richtlinie über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Menschenhandelsopfer aus Drittstaaten, die sogenannte Opferschutzrichtlinie, in nationales Recht umgesetzt. Sie
dient der Bekämpfung des Menschenhandels und verpflichtet die Mitgliedstaaten zu einer Reihe von Maßnahmen zugunsten jener Opfer, die bereit sind, mit den
Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten zusammenzuarbeiten und sich als Zeugen zur Aufklärung und
Verfolgung entsprechender Straftaten zur Verfügung zu
stellen. Hierzu zählen insbesondere die Einräumung eines Aufenthaltsrechts zumindest für die Dauer des Strafverfahrens, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten sowie die medizinische Versorgung, Beratung
und Betreuung.
Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben zeitnah
eins zu eins umgesetzt. Nach geltendem Recht steht den
Opfern aus Drittstaaten ein Recht zum vorübergehenden
Aufenthalt für die Zeitdauer der Mitwirkung im Strafverfahren unter Befreiung von allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu. Zudem wurde im Aufenthaltsgesetz
eine Ausreisefrist von mindestens vier Wochen als Bedenkzeit für eine Kooperation mit den zuständigen Behörden festgelegt. Darüber hinaus wird den Betroffenen
für die Dauer des Aufenthaltstitels der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten eröffnet. Schließlich gewährleistet das Asylbewerberleistungsgesetz eine
hinreichende medizinische Versorgung sowie Betreuung
und Beratung.
Keineswegs werden wir uns aber mit der Erfüllung
der europarechtlichen Vorgaben zufriedengeben. So stehen wir im regelmäßigen Austausch mit Opferhilfen, Beratungsstellen und internationalen Hilfsorganisationen.
Darüber hinaus koordinieren wir uns mit anderen Staaten und beobachten aufmerksam, welche Ansätze unsere
internationalen Partner wählen. Dabei suchen wir ständig nach Wegen, wie sich der Kampf gegen Menschenhandel noch effektiver gestalten lässt. So prüfen wir beispielsweise, ob Elemente des sogenannten T-Visums, das
in den USA Menschenhandelsopfern ein sehr großzügiges Aufenthaltsrecht einräumt, auch auf Deutschland
übertragen werden können. Zugleich müssen wir jedoch
auch etwaige Missbrauchsgefahren im Blick haben, die
solche Regelungen naturgemäß in sich bergen. Hier gilt
es, eine ausgewogene Regelung zu finden.
Aus Sicht der Union kann Menschenhandel nur dann
wirksam bekämpft werden, wenn es gelingt, auch die
Nachfrage spürbar und nachhaltig zu senken. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion hat sich daher in der Vergangenheit wiederholt für einen Straftatbestand gegen den
sexuellen Missbrauch von Menschenhandelsopfern ausgesprochen. Dieser präventive Ansatz fehlt in dem heute
zur Beratung stehenden Antrag leider gänzlich.
Darüber hinaus gibt es auch unter repressiven Gesichtspunkten durchaus strafrechtliche Ansatzpunkte,
die es im weiteren Verfahren noch im Einzelnen zu prüfen gilt. Da Menschenhandel bekanntlich ein reines
Kontrolldelikt ist, müssen wir Polizei, Ordnungs- und
Strafverfolgungsbehörden geeignete Instrumente an die
Hand geben, um an den Orten, an denen die Opfer sich
aufhalten, auch Kontrollen durchführen zu können.
Das Bundeskabinett hat zudem am 22. Juni 2011 den
Entwurf des Gesetzes zum Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels verabschiedet. Damit wird das erforderliche
Gesetzgebungsverfahren für den Beitritt zu diesem
Übereinkommen eingeleitet. Mit dem Gesetzentwurf
setzt die Bundesregierung einen weiteren Meilenstein
für die internationale Bekämpfung des Menschenhandels.
Mit dem Übereinkommen wird der Grundsatz der
Nichtabschiebung bei Verdacht von Menschenhandel
völkerrechtlich etabliert, und es wird eine Erholungsund Bedenkzeit für die Opfer von mindestens 30 Tagen
eingeführt. Geregelt werden außerdem die Gewährung
von Aufenthaltstiteln für Opfer des Menschenhandels
sowie soziale Rechte und das Recht auf Entschädigung.
Das Übereinkommen zeichnet sich neben den Opferschutzregelungen durch einen effektiven und unabhängigen Kontrollmechanismus aus. Der Geltungsbereich
umfasst alle Fälle von Menschenhandel und Ausbeutung
und beschränkt sich nicht auf Fälle mit grenzüberschreiZu Protokoll gegebene Reden
tendem Charakter. Die Regelungen sind zudem Grundlage für die Fortentwicklung des EU-Rechts, zuletzt der
Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner
Opfer.
Ich gehe davon aus, dass Bundesrat und Bundestag
das Gesetz zügig verabschieden, sodass Deutschland
dem Übereinkommen noch in diesem Jahr beitreten
kann. Insofern hat sich dieser Punkt ihres Antrages bereits erledigt.
Unsere Anstrengungen werden damit aber nicht enden. Während des deutschen Vorsitzes im Ostseerat, der
am 1. Juli beginnt, werden wir auch die Zusammenarbeit der Ostseeanrainerstaaten zur Bekämpfung von
Menschenhandel weiter intensivieren.
Wie Sie sehen, befassen gerade wir als Union uns intensiv mit diesem Thema. In den vergangenen Jahren
konnten wir bereits wesentliche Verbesserungen bewirken. Diesen Weg wollen wir auch in Zukunft konsequent
fortschreiten. Belehrungen und Vorhaltungen, wie sie im
vorliegenden Antrag leider auch zu finden sind, sind daher völlig fehl am Platz. Im Interesse der Opfer sollten
wir stattdessen sachlich und fraktionsübergreifend an
geeigneten Lösungsansätzen arbeiten, mit denen wir
diese widerwärtige Form der Kriminalität noch wirkungsvoller bekämpfen können. Für entsprechende konstruktive Gespräche stehen wir selbstverständlich zur
Verfügung. So werden wir beispielsweise in Kürze im
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
eine öffentliche Expertenanhörung durchführen, von der
ich mir noch einmal wichtige Impulse erhoffe. Parteipolitische Spielchen, die nur der eigenen Profilierung dienen, führen uns jedoch nicht weiter.
Mit dem Menschenhandel lässt sich richtig viel Geld
verdienen, mehr noch als mit Drogen und Waffen. Die
ILO schätzt, es sind weltweit circa 32 Milliarden
US-Dollar pro Jahr, bei 270 000 betroffen Menschen, allein in den Industriestaaten. Erzwungene Prostitution,
Sklaverei und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse sind
die häufigsten Hintergründe für Menschenhandel, und
am häufigsten sind Frauen und Mädchen betroffen.
Ein Blick in die Praxis und die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen von Menschenhandel: Neben dem
Menschenhandel über Landesgrenzen hinweg gibt es in
schwachen Staaten häufig auch Binnenverschleppung.
Beispielsweise werden in Mexiko mexikanische Mädchen und Frauen in hoher Anzahl organisiert in die Prostitution gezwungen. Allein in diesem Land arbeiten
mehr als 16 000 Kinder - Mädchen und Jungen - in der
Prostitution. Dem Staat fehlt es an Rechtsstaatlichkeit
und Erzwingungskompetenzen, um etwas dagegen auszurichten.
In Ländern, die von Katastrophen heimgesucht werden, folgt in der Regel die nächste Katastrophe auf dem
Fuß. Gibt es irgendwo einen Tsunami, Hurrikan oder ein
Erdbeben, dann sind die Menschenhändler nicht weit.
Im Chaos nach der Katastrophe sind sie gut organisiert.
Menschenhändler sprechen Waisenkinder oder obdachlose Frauen an, bieten die Dinge, die sie am meisten
brauchen: Wasser, Nahrung, die Suche nach Verwandten
und Obdach. Organisationen wie Terre des Hommes und
die Kindernothilfe berichteten darüber, dass in Haiti
nach dem Erdbeben 2010 wohl Tausende Kinder - häufig ohne Identitätsprüfung - zu angeblichen Adoptionen
ausgeflogen wurden. Ungezählt sind diejenigen, die
nicht durch das Beben, sondern in dem Chaos danach
verschwunden sind.
Menschenhandel gibt es auch bei uns in Deutschland.
750 Fälle wurden 2009 vom Bundeskriminalamt registriert, und die Dunkelziffer liegt sicher weit höher. Erst
am 9. September wurde eine 13-jährige in einem Bordell
in Oberhausen aufgefunden. Das türkischstämmige
Mädchen wurde vor der Einschleusung in das Bordell
auch von Ihren Entführern missbraucht und dann regelmäßig im Bordell vergewaltigt.
Wie kommen solche Vorfälle zur Strafverfolgung? Die
Anzeige- und Aussagebereitschaft von Menschen, die in
die Prostitution oder sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse gezwungen werden, ist sehr gering. Das wissen wir
seit Jahren. Ohne die Aussagebereitschaft der Opfer besteht aber nur eine geringe Chance, die Täter dingfest zu
machen. Das BKA hat 2010 eine wissenschaftliche Studie erstellt, in der deutlich gemacht wird, welche Faktoren die Aussagebereitschaft der Opfer beeinflussen. Herausgekommen ist wenig Überraschendes: Während der
Zwangsprostitution befinden sich die Opfer in einer akuten Zwangssituation. Sie und oft auch ihre Familien
werden bedroht, ihnen werden „Schulden“ für ihren
Transport und Handel zum „Abarbeiten“ auferlegt.
Werden sie dann durch die Polizei aufgegriffen, bleibt
die Angst vor den Täternetzwerken. Die Angst und Unwissenheit um Aufenthaltsstatus und Opferrechte kommen hinzu. Generell wurde die Polizei von den Betroffenen sehr negativ bewertet. Welche Erfahrungen wurden
da außerhalb Deutschlands wohl mit der Polizei gemacht? Hinzu kommen falsche und enttäuschte Hoffnungen, fehlende Sprachkenntnisse und die Scham über das
Erlittene. Wen wundert es, dass man darüber nicht sprechen will!
Ganz zu schweigen ist von den Fällen, in denen
Frauen in den Verfahren auch heute noch nicht als
Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution erkannt, sondern als Mittäterinnen behandelt oder wegen
Passvergehen angeklagt werden. Ein Beispiel aus der
Studie des BKA: Eine Frau aus Osteuropa wird unter
Täuschung nach Deutschland gebracht. Sie hat hier einen irregulären Aufenthaltsstatus, kann aber mithilfe ihrer Familie die Polizei verständigen. Sie erhält dann jedoch keine Sprachmittlung und versteht nicht, was die
Polizei von ihr will. Am Ende wird sie wegen Passvergehens angeklagt - niemand hatte sie als mögliches Opfer
von Menschenhandel gesehen, man hat sie nicht verhört
oder berücksichtigt, dass sie es war, die die Polizei rief.
Diese Probleme aus der Praxis sind in der EU und in
Deutschland bekannt. Deshalb gibt es eine neue EURichtlinie vom März 2011. In dieser wird EU-weit eine
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
gemeinsame Definition des Straftatbestands festgelegt,
eine EU-Initiative, die ich wegen der Grenzenlosigkeit
des Phänomens sehr begrüße. Darin wird außerdem geregelt, wie Menschenhändler wirksam bestraft werden,
welche Verfolgungsmöglichkeiten es außerhalb der EU
geben wird, welche besonderen Ansprüche auf Sonderbehandlung schutzbedürftige Betroffene haben und wie
der Opferschutz und die Prävention ausgestaltet sein
sollen. Zudem sollen die Implementierung überwacht
und der Fortschritt regelmäßig geprüft werden. Wir
brauchen nun die Ratifizierung der Richtlinie in
Deutschland.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu der EURichtline liegt bereits vor, und hat nach meiner Meinung
und nach Meinung vieler Opferverbände und NGOs einige Lücken. Die Bundesregierung ist leider der Ansicht,
dass bei Ratifizierung der Richtlinie keine Änderungen
im nationalen Recht notwendig seien. Das sehen wir anders.
Ganz konkret ist aus den vorherigen Schilderungen
abzuleiten:
Erstens. Opfer, die als Zeuginnen aussagen, brauchen
unmittelbar kompetente und zielgerichtete Beratung zur
Minderung ihrer Offenbarungsangst. Die Polizei muss
bei Feststellung eines Opfers von Menschenhandel sofort Beratungsstellen in den Prozess integrieren und in
jedem Fall eine Sprachmittlerin oder einen Sprachmittler hinzuziehen, auch wenn das Opfer sich im Alltag auf
Deutsch verständigen kann.
Zweitens. Die Opfer brauchen umgehend eine Unterkunft, die ihrer Traumatisierung gerecht wird, medizinische Versorgung und Bildungsmöglichkeiten.
Drittens. Bei Aussagebereitschaft muss ein sicherer
Aufenthaltsstatus ermöglicht werden, über den auch
eventuelle Kinder aus den Herkunftsländern nach
Deutschland geführt werden können. Dies gilt in abgewandelter Form auch für Opfer aus Nicht-EU-Ländern:
Sie müssen zumindest für einen gewissen Zeitraum einen
Aufenthaltstitel und Unterstützungsleistungen erhalten,
unabhängig von ihrer Aussagebereitschaft; § 25 Abs. 4 a.
Viertens. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die
Opferberatung und -hilfe anbieten, müssen finanziell
abgesichert werden.
Fünftes. Den Mitarbeiterinnen von Beratungsorganisationen muss endlich ein Zeugnisverweigerungsrecht
zubilligt werden. Zudem muss die Bundesregierung bei
Katastropheneinsätzen einen Schwerpunkt ihrer Arbeit
darauf richten, Menschenhandel vorzubeugen.
Kurzum: Opfer von Menschenhandel brauchen mehr
Schutz, mehr Perspektive und mehr Betreuung und Beratung. Deshalb: Wir, die SPD-Fraktion, fordern die
Bundesregierung auf, diese Lücken zu schließen und die
Implementierung der EU-Richtlinie mit den notwendigen Änderungen im nationalen Recht zu begleiten.
Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag vorgelegt,
mit dem sie den Menschenhandel bekämpfen und die
Opfer dieser Verbrechen besser schützen möchte. Dieses
Anliegen - nicht die Ausgestaltung ihres Antrages finde ich richtig; denn im Zuge der europäischen Einigung ist vor allem der innereuropäische Menschenhandel aufgrund des Wegfalls der Grenzkontrollen gewachsen. Wir haben es hier mit einer Schattenseite
europäischer Integration und internationaler Mobilität
zu tun, der wir entschieden entgegentreten müssen. Dass
sich auch die Opposition an der Suche nach Maßnahmen und Lösungen beteiligen will, begrüße ich.
Nur kurz werde ich etwas zu den erschreckenden Fakten sagen. Zu Deutschland speziell ist zu sagen: Das
Bundeslagebild Menschenhandel für das Jahr 2009 gibt
an, dass 710 Opfer des Menschenhandels zum Zweck
der sexuellen Ausbeutung ermittelt werden konnten, was
ungefähr einer Zunahme von 5 Prozent gegenüber dem
Vorjahr entspricht. 87 Prozent der Opfer sind weiblich,
und rund die Hälfte aller Opfer stammte aus osteuropäischen Staaten, größtenteils aus Rumänien und Bulgarien, also aus Ländern, für die die Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsbestimmungen in der EU während der
letzten Jahre wesentlich erleichtert wurden. Hinsichtlich
des Ausmaßes des Menschenhandels zum Zweck der
Ausbeutung der Arbeitskraft kommt das Bundeslagebild
zu dem Schluss, dass die vorliegenden Zahlen nicht belastbar sind. Es ist aber davon auszugehen, dass es an
dieser Stelle eine hohe Dunkelziffer gibt.
Fest steht hingegen, dass weltweit noch immer unvorstellbare Profite mit Menschenhandel, Ausbeutung von
Arbeitskraft und Sklaverei erzielt werden. Expertenschätzungen zufolge beliefen sich im Jahr 2010 die weltweiten Einnahmen aus diesen Verbrechen auf 34 Milliarden Dollar. Dazu gehören beispielsweise der
Menschen-, Frauen-, und Kinderhandel, die Zwangsprostitution oder auch das Rekrutieren von Kindersoldaten.
Der Kinderhandel floriert vor allem in Zentral- und
Westafrika, Jungen werden häufig als Kindersoldaten
zwangsrekrutiert, Mädchen zu Prostitution und Pornografie gezwungen. Menschenhandel, Prostitution und
Zwangsarbeit sind eng miteinander verbunden. Wo die
individuelle Freiheit der Betroffenen dergestalt eingeschränkt wird, dürfen wir nicht wegsehen. Für die FDP
ist klar, dass wir sowohl den Handel mit Menschen bekämpfen als auch die Opfer schützen müssen.
Dass wir es mit dem Opferschutz ernst meinen, kann
man daran sehen, dass wir bereits ein Gesetz zum Schutz
der Opfer von Zwangsheirat auf den Weg gebracht haben. Dadurch werden einerseits die Täter bestraft, andererseits geben wir den Opfern hierzulande eine Perspektive. In diesem Zusammenhang möchte ich daran
erinnern, dass die christlich-liberale Koalition mit dem
Gesetzespaket zur Bekämpfung der Zwangsheirat, zum
besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur
Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften eine neue Integrationspolitik auf den Weg gebracht hat. Dadurch ist uns der Einstieg in eine dauerhafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung gelungen,
indem erstmals für minderjährige und heranwachsende
geduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz
geschaffen wurde.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wie Sie sehen, teilt die FDP-Fraktion das Anliegen
der Kolleginnen und Kollegen der Linken, den Menschenhandel einzudämmen und dem Opferschutz mehr
Aufmerksamkeit zu widmen. Dennoch muss ich Ihren
Antrag, den ich in der Sache unterstütze, ablehnen.
Zwar betont er zu Recht die Notwendigkeit, Opfer von
Menschenhandel besser zu schützen, umfassender zu betreuen und ihnen mehr Rechte zu geben, Ihr Antrag enthält allerdings auch einige Forderungen, die ich nicht
unterstützen kann. Dafür bleiben andere wichtige Maßnahmen außen vor, die jedoch dringend geboten sind.
Ich möchte hier nur einige Beispiele aus Ihrem Antrag herausgreifen. Anscheinend haben Sie sich, wie so
häufig, über die Finanzierung Ihrer Forderungen keine
Gedanken gemacht. Etwas wolkig verweisen Sie auf
staatlich abgeschöpfte Gewinne aus dem Menschenhandel, die zur finanziellen Entschädigung der Opfer einzusetzen seien, ohne jedoch zu präzisieren, welche Gewinne Sie eigentlich meinen oder wie hoch Sie diese
einschätzen. Weiter fordern Sie eine nationale Berichterstatterstelle, von der jedoch die tatsächlichen Opfer
nur sehr indirekt profitieren würden. Dieser Vorschlag
dürfte wohl eher Symbolpolitik sein. Auch halte ich Ihre
Liste an Einzelforderungen, mit denen Sie die Opfer unterstützen wollen, für unausgegoren und nicht durchdacht. Statt das bestehende Netzwerk an Fachberatungsstellen konsequent in Hinblick auf die kommenden
Herausforderungen auszubauen, listen Sie etwas willkürlich anmutende einzelne Maßnahmen auf. Schließlich gehen Sie mit keinem Wort darauf ein, wie Sie denn
gegen die international agierenden organisierten Menschenhändler vorgehen wollen.
Bei aller Notwendigkeit europäischen und innenpolitischen Handelns dürfen wir aber nicht die Hauptursachen von Menschenhandel aus dem Blick verlieren. Neben der kriminellen Energie der Täter sind es vor allem
die großen Wohlstandsunterschiede zwischen den Ländern, die absolute Armut in den Herkunftsländern der
Opfer, die mangelnde Bildung der Betroffenen und häufig das zum Teil auch berechtigte mangelnde Vertrauen
der Opfer in die staatlichen Systeme. Denn wer die Erfahrung macht, dass den Strafverfolgungsbehörden in
seiner Heimat kein Vertrauen entgegengebracht werden
kann, der wird sich auch nur schwerlich in unserem
Land an die Polizei wenden. Ich begrüße daher an dieser Stelle ausdrücklich das engagierte Eintreten des
Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Dirk Niebel, für Wohlstandentwicklung, Bildung und Rechtsstaatsbildung auf der Welt.
Vorsorge ist immer besser als Nachsorge.
Kriege und Konflikte, wo immer sie stattfinden, führen zu einem unerträglich hohen Ausmaß an Gewalt gegen Mädchen und Frauen - so der jüngste Bericht von
Amnesty International. Im Irak zum Beispiel sind
Frauen von den Folgen des Krieges doppelt betroffen:
durch ihren Status in einem Kriegsgebiet und durch ihr
Geschlecht. Früher konnten im Irak viel mehr Frauen
schreiben und lesen als in anderen Ländern der Region.
Heute sind viele Frauen mittellos und leiden besonders
an den Folgen des Krieges und der katastrophalen Sicherheitslage. Auch wenn es keine verlässlichen Zahlen
gibt, wissen Organisationen und Expertinnen, dass der
Handel mit Frauen zunimmt. Immer mehr Frauen werden Opfer von Zwangsprostitution und auch über die
Grenze verschoben. So werden sie in die immer stärker
globalisierte Sexindustrie hineingezogen.
Irakische Frauenorganisationen, die dieses Tabu brechen und die Involvierung irakischer Politiker im Frauenhandel an die Öffentlichkeit bringen, kommen selbst
in Gefahr. Anwältinnen, die die Rechte der Opfer vertreten wollen, sind zunehmend Opfer von Anschlägen.
Zurzeit liegt bei der Regierung in Bagdad ein Gesetz
gegen Menschenhandel in der Schublade. Eine Vertreterin von Norwegian Church Aid beklagt, dass es viel zu
oft nur um Strafen für die Täter gehe. Die Stimmen der
Opfer werden nicht gehört, oder sie werden sogar kriminalisiert.
Dieses Problem kennen wir aus Deutschland. Laut
polizeilichen Ermittlungsstellen sind auch in Deutschland im Rotlichtmilieu Menschenhandel, Nötigung, Erpressung und Gewalt an der Tagesordnung. Die Dunkelziffer ist hoch. Gerade erst vor wenigen Tagen wurden in
Bielefeld zahlreiche Wohnungen und Bordelle mit dem
Verdacht auf Menschenhandel durchsucht. Opfer sind
heute meist Frauen aus osteuropäischen Ländern wie
Bulgarien oder Rumänien. Vor allem junge RomaFrauen aus diesen Ländern werden mit falschen Versprechungen eingeschleust. Manchmal werden sie auch
von ihren Familien verkauft, wenn diese darin ihre einzige Überlebenschance sehen. Menschenhandel ist leider ein überaus profitables Geschäft, ungefähr so einträglich wie der Drogen- und Waffenhandel. Wenn wir
den Menschenhandel bekämpfen wollen, müssen wir uns
auch mit seinen Ursachen auseinandersetzen. Rassismus, Sexismus und nicht zuletzt globale wirtschaftliche
Ausbeutung sind hier zu nennen.
Was den Schutz der Opfer angeht, kann Deutschland
es nicht einmal mit anderen europäischen Ländern wie
zum Beispiel Italien aufnehmen. Es ist eine Schande,
dass in Deutschland noch immer die Täter geschützt und
die Opfer bestraft werden: Nach nur vier Wochen droht
den Opfern von Menschenhandel in unserem Rechtsstaat die Abschiebung. Eine Reihe von Gesetzen fällt
weit hinter europäische Rechtsstandards zurück.
Viele Frauen sind schwer traumatisiert und benötigen
angemessene Beratung und Rechtsbeistand. Daher fordert die Linke, den Opferschutz zu verbessern. Das heißt
auch, die Rolle und Kompetenzen von Beratungsstellen
zu stärken, auf die diese Frauen so dringend angewiesen
sind.
Um gegen den organisierten Menschenhandel anzugehen, müssen wir den Opfern einen sicheren Aufenthaltstitel gewähren. Bislang können in Deutschland die
Opfer von Menschenhandel schon nach vier Wochen abgeschoben werden, wenn sie nicht bereit sind, gegen die
Täter auszusagen. So wird mit der Angst der Opfer Politik gemacht. Das ist ein Skandal! Der Aufenthaltsstatus
Zu Protokoll gegebene Reden
der Opfer darf nicht von der Bereitschaft, im Strafverfahren auszusagen, abhängig gemacht werden.
Noch immer hat die Bundesregierung nicht die Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifiziert. Diese Ratifizierung ist dringend geboten,
um den Zusammenhang zwischen Aussagebereitschaft
der Opfer gegen die Täter und der Erteilung von sicheren Aufenthaltstiteln zu entkoppeln. Die Linke fordert
für die Opfer von Menschenhandel einen verlängerbaren Aufenthaltstitel von mindestens sechs Monaten.
Die Opfer von Menschenhandel benötigen psychische
und soziale Beratung, Rechtshilfebeistand, kurz: Unterstützung, um sich wieder im Leben zurechtzufinden. Ihre
Versorgung muss gewährleistet sein. All das kostet Geld.
Daher begrüßt die Linke den Vorschlag des Instituts für
Menschenrechte, einen Rechtshilfefonds für Opfer von
Menschenhandel einzurichten.
Bislang ist auch die Versorgung der Opfer in
Deutschland mehr als mangelhaft geregelt. Mit einem
Aufenthaltstitel haben die Opfer von Menschenhandel
Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbeweberleistungsgesetz. Diese Leistungen liegen aber sogar noch
30 Prozent unter dem normalen Sozialhilfesatz. Sie berücksichtigen in keiner Weise die besondere Schutzbedürftigkeit der Opfer. Ein Vergleich mit Italien: Opfer
von Menschenhandel erhalten dort einen Aufenthaltstitel für sechs Monate, mit der Aussicht der Verlängerung
um ein Jahr. Mit dem Aufenthaltstitel haben sie Zugang
zu sozialen Leistungen und können auch eine Arbeitserlaubnis erhalten.
Es wird Zeit, dass Deutschland sein Bekenntnis zu
den Menschenrechten in die Tat umsetzt und insbesondere diejenigen schützt, die vollkommen schutzlos sind.
Wie viele Menschen in Deutschland Opfer von Menschenhandel sind, wissen wir nicht. Die meisten von ihnen sind Frauen, oft sogar minderjährige, die unter
Zwang sexuell ausgebeutet werden. Es werden jedoch
auch immer mehr Fälle bekannt, in denen Menschen wie
Ware verkauft werden, um ihre Arbeitskraft auszubeuten. Menschen, deren Arbeitsbedingungen in einem auffälligen Missverhältnis im Vergleich zu den Bedingungen anderer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
stehen, arbeiten in den unterschiedlichsten Branchen
der Wirtschaft. Von der Fleischverarbeitungsindustrie
über das Baugewerbe bis hin zum künstlerischen Gewerbe ist alles dabei. Alle Betroffenen stehen unter vielfältigen Formen von Druck, Zwang und körperlicher, sexueller sowie psychischer Gewalt.
Dass etwas unternommen werden muss, um den Menschenhandel in Deutschland zu bekämpfen, sollte allen
klar sein. Dafür reicht es nicht aus, die Konvention des
Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels zu
ratifizieren. Es gilt, den Fokus auch durch gesetzliche
Anpassungen auf die betroffenen Menschen zu legen.
Es sollte nicht erst seit der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 2010 klar sein,
dass bei der Bekämpfung von Menschenhandel in
Deutschland ein opferzentrierter Ansatz nottut. Die Betroffenen von Menschenhandel sind nicht ausschließlich, aber überwiegend Migrantinnen und Migranten. In
Deutschland ist eine Aufenthaltserlaubnis für Betroffene
von Menschenhandel immer noch an deren Bereitschaft
zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden gekoppelt. Dabei gilt es immer, zu bedenken, dass es sich
bei den Betroffenen oftmals um psychisch schwer beeinträchtigte Menschen handelt. Sie befinden sich in einem
fremden Land, dessen Sprache sie nur mangelhaft oder
gar nicht beherrschen. Oft fühlen sie sich von den Täterinnen oder Tätern bedroht oder sind schlicht zu verängstigt im Umgang mit staatlichen Behörden, um auszusagen. Selbst wenn sie sich dazu entschließen,
auszusagen, droht ihnen noch die Abschiebung: Sollten
die Behörden ihre Aussagen als nicht gerichtsverwertbar betrachten, sind von Menschenhandel betroffene
Migrantinnen und Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung nach einer Frist von vier Wochen verpflichtet, auszureisen. Sollte ihre Zeugenaussage verwertbar sein, ist
die Aufenthaltsgenehmigung an die Dauer des Strafverfahrens gegen die Täter gebunden. Ist es abgeschlossen,
sind Betroffene erneut ausreisepflichtig. Dies stellt in
keiner Weise den von Europarat und -parlament geforderten opferzentrierten Umgang mit der Problematik
des Menschenhandels dar und ist ein unhaltbarer Zustand.
Zahlreiche Länder in der EU, wie Italien, haben die
Richtlinie des Europarats schon heute besser umgesetzt
als Deutschland. Ohne sofort gegen ihre Peiniger aussagen zu müssen, haben Betroffene dort die Möglichkeit,
sich mit den Informationen über die Tat zunächst an
Nichtregierungsorganisationen zu wenden und eine
sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung mit Aussicht
auf Verlängerung zu erhalten. Parallel durchlaufen sie
ein Integrationsprogramm, in dem sie geschützt, begleitet, psychosozial unterstützt und für den Arbeitsmarkt
qualifiziert werden. Nach erfolgreichem Abschluss des
Programms und Integration in den Arbeitsmarkt erhalten sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland haben Opfer von Menschenhandel zahlreiche Rechte. Dazu gehören unter anderem der einklagbare Anspruch auf Schadenersatz, Schmerzensgeld, Entschädigung sowie auf
Lohnauszahlung. Das ist gut und richtig, nur leider greifen diese Möglichkeiten nicht. Laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte nehmen die Betroffenen diese
Rechte kaum wahr, weil sie sie entweder gar nicht kennen oder Angst um ihre Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten haben. Zu Recht: Aufgrund bestehender Meldepflichten droht ihnen die Ausweisung, wenn sie nicht
als Betroffene von Menschenhandel anerkannt werden;
das passiert derzeit leider nur selten. Auch im Falle einer Anerkennung haben sie oftmals aufgrund ihrer Ausreiseverpflichtung spätestens nach Ablauf des Strafverfahrens gar keine Möglichkeit mehr, zivilrechtlich
Schadenersatz oder Arbeitslohn geltend zu machen.
Aus all diesen Gründen fordern wir die Bundesregierung ein weiteres Mal auf, die EU-Richtlinie und die
Entschließung des Europaparlaments angemessen umzusetzen und von Menschenhandel betroffenen MigranZu Protokoll gegebene Reden
ten endlich die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte wahrzunehmen. Meldepflichten der Behörden für Migranten
ohne Aufenthaltstitel sind, wo sie Migrantinnen und Migranten daran hindern, zu ihren Rechten zu kommen, zu
lockern, vergleiche Gesetzentwurf zur Verbesserung der
sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, Bundestagsdrucksache 17/
6167.
Jedem Opfer von Menschenhandel muss außerdem unabhängig von der Bereitschaft, in einem Strafprozess auszusagen, mindestens eine Aufenthaltsgenehmigung gewährt werden, die es zeitlich zulässt, Entschädigungs-,
Schadenersatz- und Lohnansprüche geltend zu machen,
Bundestagsdrucksache 17/6167.
Ein menschenzentrierter Ansatz bedeutet auch, dass
die Betroffenen die Möglichkeit bekommen, eine neue
soziale Perspektive zu entwickeln. Laut Art. 12 EU-Opferschutzrichtlinie haben die Opfer von Menschenhandel einen Anspruch auf Zugang zu Maßnahmen, die ihnen die Rückkehr in ein normales soziales Leben
erleichtern. Das schließt Lehrgänge zur Verbesserung
der beruflichen Fähigkeiten ebenso ein wie Sprach- und
Orientierungskurse des Aufenthaltslandes. Besonders
für Minderjährige ist der Zugang zum öffentlichen Bildungssystem elementar.
Besondere Bedeutung bei der Unterstützung der Opfer von Menschenhandel kommt den nichtstaatlichen
Organisationen zu. Damit sie ihre wichtigen Aufgaben
ausüben können, muss die Bundesregierung sicherstellen, dass die Organisationen auf eine sichere und verbindliche Finanzierung zurückgreifen können. Diese
und weitere Forderungen haben wir bereits in der letzten Wahlperiode in unserem Antrag „Menschenhandel
bekämpfen - Opferrechte weiter ausbauen“, Bundestagsdrucksache 16/1125, vorgelegt.
Die Bundesregierung muss sich, was die Menschenrechte betrifft, unter anderem am Umgang mit den Opfern von Menschenhandel messen lassen. Europa hat auf
diesem Gebiet viel geleistet. Jetzt ist es an der Bundesregierung, die guten Vorgaben zu erfüllen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3747 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderung des Abkommens vom
11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/6257 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
30. März 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Irland zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/6258 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Zypern zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/6259 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/6565 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({1})
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden.
Dem Deutschen Bundestag liegen heute drei Gesetzesentwürfe zur Ratifikation von überarbeiteten Doppelbesteuerungsabkommen vor.
Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen
dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten
für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden. Damit können die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verbessert und Investitionshemmnisse aufgrund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden. Mit
den Ländern Schweiz, Irland und Zypern wird nach dem
heutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch
besser die Doppelbesteuerung nach OECD-Standard
vermieden. Gleichzeitig ist mit besagten Ländern ein
verbesserter Austausch in Steuersachen vereinbart, sodass wir mit der heutigen Ratifizierung dieser Abkommen Steuerhinterziehung noch wirksamer und effektiver
bekämpfen können.
Zunächst möchte ich aber auf die einzelnen Doppelbesteuerungsabkommen jeweils eingehen. Schweiz: Die
steuervertraglichen Beziehungen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik
Deutschland reichen bis in das Jahr 1931 zurück; das
bislang geltende Doppelbesteuerungsabkommen, DBA,
wurde 1971 in Bonn unterzeichnet. Dieses wurde seit
seinem Inkrafttreten im Jahr 1972 dreimal, zuletzt mit
Protokoll vom 12. März 2002, revidiert. Es enthält jedoch eine Informationsaustauschklausel, welche erheblich hinter dem weltweit anerkannten OECD-Standard
zurückbleibt: Informationen zur Durchführung des innerstaatlichen Rechts werden derzeit nur bei beiderseits
mit Freiheitsstrafe bedrohten Betrugsdelikten, das heißt
in Fällen von Steuerbetrug oder Abgabenbetrug nach
Schweizer Recht, nicht jedoch bei Steuerhinterziehung
erteilt.
Wesentlicher Gegenstand des am 27. Oktober 2010
unterzeichneten Änderungsprotokolls ist deshalb die gegenseitige - nun verbesserte - behördliche Unterstützung in Steuersachen und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch auf Ersuchen im Einzelfall auf der
Grundlage der Informationsaustauschklausel in der aktuellen Fassung des Art. 26 des OECD-Musterabkommens für Doppelbesteuerungsabkommen.
Das Änderungsprotokoll umfasst darüber hinaus vier
weitere Komponenten, die zusammen eine ausgewogene
Kompromisslösung bilden. Hierzu gehören eine umfassende verbindliche Schiedsklausel, die Senkung der
Mindestbeteiligungsschwelle für die Gewährung einer
Quellensteuerbefreiung für zwischengesellschaftliche
Dividendenzahlungen, ein Diskriminierungsverbot hinsichtlich der Abziehbarkeit von grenzüberschreitenden
Zins- und Lizenzzahlungen bei Unternehmen entsprechend Art. 24 Abs. 4 des OECD-Musterabkommens für
Doppelbesteuerungsabkommen sowie der temporäre
Verzicht Deutschlands - bis einschließlich Veranlagungszeitraum 2016 - auf die Ausübung des Besteuerungsrechts für Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit von Mitgliedern des Bordpersonals von im
internationalen Verkehr eingesetzten Luftfahrzeugen,
die bereits vor dem 1. Januar 2007 in der Schweiz ansässig und bei einer deutschen Fluggesellschaft angestellt waren und seitdem noch sind.
Irland: Das Abkommen vom 30. März 2011 orientiert
sich am OECD-Musterabkommen in seiner aktuellen
Fassung. Das bisherige Abkommen entspricht nicht
mehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten, da sich insbesondere die gesetzlichen Vorschriften in beiden Staaten geändert haben.
Deutschland hat im Jahr 2007 die Initiative ergriffen,
das bisherige Abkommen durch ein modernes und den
Anforderungen der gegenwärtigen Verhältnisse besser
angepasstes Abkommen zu ersetzen.
Der Quellensteuersatz bei Dividenden in Höhe von
15 Prozent bei zwischengesellschaftlichen Beteiligungen wurde auf 5 Prozent herabgesetzt.
Der Kassenstaat hat nunmehr ein Besteuerungsrecht
für Sozialversicherungsrenten. Hat ein Vertragsstaat
über einen Zeitraum von mehr als zwölf Jahren den Aufbau anderer Renten gefördert, hat er künftig das alleinige Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten verbleibt
es bei dem ausschließlichen Besteuerungsrecht des
Wohnsitzstaats des Rentenempfängers.
Für Tätigkeiten vor der Küste, zum Beispiel OffshoreÖlförderung und -erforschung, wurde eine 90-TageFrist für Erforschungstätigkeiten und eine 30-Tage-Frist
für Fördertätigkeiten vereinbart, ab der ein Besteuerungsrecht des Küstenstaats besteht.
Der bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftig
den umfassenden Informationsaustausch und erstreckt
sich nicht nur auf Bankenauskünfte, sondern auch auf
Sachverhalte wie zum Beispiel die Bekämpfung von
Geldwäschedelikten, Korruption und Terrorismusfinanzierung.
Zypern: Das in Nikosia am 18. Februar 2011 unterzeichnete Abkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen löst das bisherige Abkommen
vom 9. Mai 1974 ab. Da das bisherige Abkommen nicht
mehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten entspricht, hat Deutschland im
Jahr 2004 die Initiative ergriffen, es durch ein modernes
und den Anforderungen der gegenwärtigen Verhältnisse
besser angepasstes Abkommen zu ersetzen.
Strukturell und inhaltlich orientiert sich das neue Abkommen am OECD-Musterabkommen von 2003. Als Investitionsanreiz sind insbesondere die Absenkung des
Quellensteuersatzes bei Dividenden aus zwischengesellschaftlichen Beteiligungen von bisher 10 vom Hundert
auf 5 vom Hundert und die Minderung der Mindestbeteiligungshöhe von bisher 25 vom Hundert auf 10 vom
Hundert zu nennen.
Für Sozialversicherungsrenten haben nach dem
neuen Abkommen Wohnsitz- und Kassenstaat ein geteiltes Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten, Ruhegehälter und ähnliche Vergütungen - mit Ausnahme von Wiedergutmachungsleistungen und Unterhaltsleistungen verbleibt es bei dem ausschließlichen Besteuerungsrecht
des Wohnsitzstaats des Empfängers.
Der Methodenartikel sieht für die Bundesrepublik
Deutschland nur die Anrechnungsmethode vor.
Der bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftig
den umfassenden Informationsaustausch nach dem
Standard, den die OECD im Rahmen ihres Programms
zur Eindämmung des schädlichen Steuerwettbewerbs
entwickelt hat, und erstreckt sich nunmehr sowohl auf
Bankenauskünfte als auch auf Sachverhalte wie die Bekämpfung von Geldwäschedelikten, Korruption und Terrorismusfinanzierung.
Bewertung: Die heute vorliegenden Abkommen sind
ein Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung
und zur Eindämmung eines schädlichen Steuerwettbewerbs allgemein. Sie dienen weiterhin der Verbesserung
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen
Deutschland und den jeweiligen Vertragspartnern. Insbesondere hervorzuheben sei die große Bedeutung des
Protokolls zur Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens mit der Schweiz. Auch wenn es sich hierbei
nur um eine Teilrevision des Abkommens aus dem Jahr
1972 handele, sei die Bedeutung immens. Es ändere den
im bisherigen Verhältnis mit der Schweiz sehr schwierigen Aspekt des Informationsaustausches. Dies stelle einen großen Erfolg dieser und der vorherigen Bundesregierung dar.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zusammenfassend kann ich feststellen, dass die Verhandlungsvertreter der Bundesrepublik sehr gute Ergebnisse und Regelungen im Sinne unser Steuer- und Wirtschaftspolitik ausgehandelt haben.
Trotz alledem müssen wir in diesem Hause darüber
diskutieren, wie zukünftig Doppelbesteuerungsabkommen ausgestaltet werden sollen. Die Diskussion in dieser Woche im Finanzausschuss hat dabei gezeigt, dass
die Methodik - Anrechnungs- oder Freistellungsmethode - von Land zu Land unterschiedliche Auswirkungen auf die Steuereinnahmen und/oder auf die wirtschaftliche Situation unserer Unternehmen haben kann.
Hier gilt es künftig, zwischen den globalen Entwicklungsmöglichkeiten unserer Unternehmen, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und der Verbesserung der
Einnahmesituation des Fiskus abzuwägen.
Heute aber haben wir zunächst über die drei vorliegenden ausgehandelten Abkommen abzustimmen. Die
Unionsfraktion begrüßt die vorliegenden Gesetzesentwürfe und wird ihnen aus den von mir erläuterten Gründen zustimmen.
Wir behandeln heute drei Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz, Irland und Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Steuerverkürzung, wenn wir das Abkommen mit der
Schweiz überhaupt so nennen wollen.
Die Doppelbesteuerungsabkommen setzen den aktuellen OECD-Standard zu Transparenz und effektivem
Informationsaustausch für Besteuerungszwecke um.
Deutschland sowie die Schweiz, Irland und Zypern verpflichten sich in den jeweiligen bilateralen Abkommen
dazu, auf Ersuchen Informationen, die für das Besteuerungsverfahren voraussichtlich erheblich sein werden,
an die anfragende Stelle zu übermitteln. Zu diesen Informationen gehören auch Bankinformationen und Informationen über Anteilseigner an juristischen Personen.
Angesichts der engen wirtschaftlichen Beziehungen mit
den genannten Staaten, insbesondere mit der Schweiz,
werden die zuständigen Steuerverwaltungen davon profitieren, wenn ihnen künftig bessere Instrumente für die
zwischenstaatliche Amts- und Rechtshilfe zur Sachverhaltsaufklärung als erstem Schritt eines ordnungsgemäßen Besteuerungsverfahrens zur Verfügung stehen.
Im Austausch mit der Schweiz stellt die Revision des
Doppelbesteuerungsabkommens einen Paradigmenwechsel dar. Bislang war die Schweiz nur zur Leistung
von Amtshilfe bei Betrugsdelikten, die beiderseits mit
Freiheitsstrafe bedroht waren, verpflichtet. Diese Klausel stellte eine wirksame Abschirmung des Geschäftsmodells vieler Schweizer Banken dar; denn Amtshilfe
musste nur in Fällen des Steuerbetrugs und des Abgabenbetrugs nach Schweizer Recht geleistet werden.
Steuerhinterziehung hingegen ist nach Schweizer
Rechtsverständnis nur eine Ordnungswidrigkeit. Mit der
Neuregelung verpflichtet sich die Schweiz, auf Ersuchen
die Informationen zu übermitteln, die im ersuchenden
Staat für die Besteuerung „voraussichtlich erheblich“
sind.
Diese Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit in Steuerangelegenheiten ist ein wichtiger Schritt, um die rechtliche Gleichstellung und -behandlung aller Steuerpflichtigen zu erreichen, egal, ob
sie ihre Einkünfte aus dem In- oder Ausland beziehen.
Wir können das Abkommen mit der Schweiz allerdings
erst dann angemessen bewerten, wenn wir auch die Regelung der sogenannten Altfälle, das heißt der unversteuerten Altvermögen, in die Überlegungen einbeziehen.
Die Bundesregierung hat das zwischenstaatliche Abkommen über die Besteuerung bislang unversteuerter
Kapitalerträge von Deutschen in der Schweiz heute unterzeichnet. Über den Inhalt dieses Abkommens ist bislang kaum etwas an die Öffentlichkeit oder das Parlament gedrungen. Die Bundesregierung hat unsere
Anfragen stets mit dem Hinweis auf die angeblich erforderliche Geheimhaltung abgeblockt, um den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der Schweiz
nicht zu gefährden.
Die Vorsitzende von Transparency International
nannte diese Art von „Geheimdiplomatie“ am vergangenen Dienstag „aus demokratischer Perspektive beschämend“. Es ist in der Tat eine peinliche Missachtung
des Bundestags, des Bundesrats und der gesamten deutschen Öffentlichkeit, dass die einzig relevanten Informationen ausgerechnet auf der Internetseite der Schweizer
Bankiersvereinigung zu finden waren. Ein merkwürdiges
Verständnis von Transparenz!
Schweizer Banken verweisen gerne darauf, dass ihr
Geschäftsmodell auf Vertrauen und Vertraulichkeit,
Seriosität und Schutz der Privatsphäre basiert. Mich ärgern diese wohlklingenden, meist in vornehmem Tonfall
vorgetragenen Formulierungen, weil sie verschweigen,
dass dieses System der Geheimkonten und Steuerschlupflöcher nur funktioniert, wenn anderen Staaten
Steuereinnahmen verloren gehen. Um es in den Worten
der Schweizer Bankiersvereinigung zu sagen: „In
Deutschland steuerpflichtige Kunden von Banken in der
Schweiz erhalten eine Brücke zur Steuerehrlichkeit bei
gleichzeitiger Wahrung ihrer Privatsphäre.“ Hier wird
deutlich, dass das Gerede vom Schutz des Bankgeheimnisses in einem Staat meist Hand in Hand mit der Verstetigung von Steuerungerechtigkeit und Mindereinnahmen
in einem anderen Staat geht. Wer Peer Steinbrücks klare
und etwas ironisch gemeinten Worte für irritierend hält,
der sollte sich ernsthaft darüber Gedanken machen, ob
die eigentliche politische Geschmacklosigkeit nicht in
diesem Geschäftsmodell auf Kosten Dritter beruht.
Wenn man sich an den bislang verfügbaren Informationen orientiert, wundert man sich, woran genau die
Bundesregierung denn nun genau den angeblichen Erfolg des Abkommens erkennen will und wer von den vorgesehenen Regelungen profitieren soll. Die weit überwiegende Zahl der ehrlichen Steuerpflichtigen in
Deutschland können es nicht sein; denn für sie sind die
angeblichen Verhandlungserfolge ein Schlag ins Gesicht. Reiche Privatpersonen dagegen, die in vielen Fällen über Jahre und Jahrzehnte hinweg ihr Vermögen im
Ausland versteckt und die fälligen Steuern auf ihre KapiZu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
talerträge hinterzogen haben, können sich zu sehr vorteilhaften Bedingungen der Nachstellung durch die Steuerverwaltung entziehen und bleiben weiterhin anonym.
Auch die deutsche Steuerverwaltung wird das Verhandlungsergebnis kaum als Erfolg bezeichnen. Steuerfahnder dürfen künftig keine angekauften Steuer-CDs
mit Daten über Steuerhinterzieher mehr nutzen, die ihr
Vermögen dem Schutz des Schweizer Bankgeheimnisses
anvertraut hatten. Mitarbeiter Schweizer Banken haben
künftig keine Strafverfolgung mehr zu befürchten. Die
Bundesregierung tut einfach so, als gäbe es diese Informationen nicht, als hätten Schweizer Banken nicht aktiv
und in großem Stil „Lösungsmöglichkeiten“ für Steuerpflichtige angeboten, die nicht bereit waren, ihren Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens zu erbringen. Aber vielleicht vertrauen CDU, CSU und FDP auch
darauf, dass schon ihre bloße Ankündigung von Steuersenkungen die Steuerhinterzieher in Scharen zurück
nach Deutschland lockt. Wer braucht dann noch die Kavallerie der Steuerfahnder?
Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden angesichts einer vorab zu leistenden Abschlagszahlung der Schweizer Banken von gerade einmal 2 Milliarden Schweizer
Franken sonderlich profitieren werden. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass deutsche Steuerzahler
Vermögenswerte zwischen 150 und 200 Milliarden Euro
in der Schweiz verstecken. Bund, Länder und Gemeinden sollen also auf hohe Steuereinnahmen verzichten im
Gegenzug für - ja, für was eigentlich?
Vielleicht kann ein genauerer Blick auf einige der bislang bekannt gewordenen Regelungen hier zur Aufklärung beitragen:
Für die Besteuerung künftiger Kapitalerträge gilt
eine anonyme Abgeltungsteuer auf Erträge aus Vermögen deutscher Kunden in Höhe von 26,375 Prozent. Dieser Steuersatz gilt auch für Einkünfte, die bislang dem
Steuersatz der EU-Zinsbesteuerungsrichtlinie in Höhe
von 35 Prozent unterliegen.
Der deutschen Steuerverwaltung wird das Recht zu
„Kontrollmaßnahmen“ über die Umsetzung der Abgeltungsteuer eingeräumt. Unsere Steuerbehörden dürfen
innerhalb von zwei Jahren etwa 1 000 stichprobenartige
Auskunftsersuchen an Schweizer Behörden richten. Darin muss der Name des Steuerpflichtigen, nicht allerdings der Bank enthalten sein. Gemeldet werden von
Schweizer Banken die Kontoverbindungen, nicht allerdings die Kontobestände. Wenn die deutsche Seite weitere Informationen zu gemeldeten Kontodaten erhalten
möchte, muss sie ein normales Amtshilfegesuch nach
Art. 26 OECD-MA stellen. Die stichprobenartige Abfragemöglichkeit erinnert etwas an den Versuch, einen
U-Bahnschacht mit einer Taschenlampe auszuleuchten.
Wir werden dadurch über die Steuerhinterzieher, die
schon vor Jahren ihr Vermögen in Schweizer Depots
versteckten, nichts erfahren; denn die Aufklärungsmöglichkeit bezieht sich lediglich auf Vermögenswerte, die
neu, das heißt nach Abschluss des Abkommens, in die
Schweiz transferiert wurden. Und Vermögen, die mittels
der Pauschalzahlung abgeltend erfasst wurden, können
nicht mehr Gegenstand der Kontrollabfrage sein. Die im
Dunkeln sieht man also weiterhin nicht.
Der Strahl der Steuerfahndertaschenlampe wird auch
diejenigen nicht erfassen, die den langen zeitlichen Vorlauf bis zum Inkrafttreten des Abkommens nutzen, ihr
dunkles Vermögen unerkannt in andere Länder zu transferieren. Schweizer Banken werden gegenüber deutschen Behörden lediglich eine saldierte, anonyme Meldung über aufgelöste Konten und Depots abgeben, die in
eine andere Steueroase weiterwandern. Die Schweizer
nennen das „Abschleich“; diese Formulierung trifft es
wohl ganz gut. Denn bei einem Steuerschlupfloch groß
wie ein Scheunentor wird man sich nicht wundern dürfen, wenn die Simulation entschlossener Steuerbeitreibung in einen leeren Anwendungsbereich verweist, weil
sich die meisten Steuerhinterzieher schon längst vom
Hof geschlichen haben. Jeder Steuerfahnder kann über
diese Regelung nur den Kopf schütteln.
Für unversteuerte „Altvermögen“, die schon vor Inkrafttreten des Vertrags in die Schweiz gewandert waren, sieht das Abkommen eine „Regularisierung“ vor.
Bei diesem Begriff denke ich an Regeln, Vorschriften
und Gesetze - Normen, an die sich alle halten und die
alle gleich behandeln. Aber vielleicht habe ich hier ja etwas nicht richtig verstanden; denn von Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen, gar von Gerechtigkeit
konnte ich in diesem „Ablasshandel“ nichts erkennen.
Das Abkommen sieht ein Wahlrecht zwischen der einmaligen Abführung einer anonymen, rückwirkenden Abgeltungsteuer für bislang unversteuerte Kapitaleinkünfte
und einer strafbefreienden Selbstanzeige nach deutschem Recht vor.
Bei der ersten Möglichkeit zur Regularisierung von
„Altvermögen“, der pauschalen, anonymen Abgeltungsteuer, liegt der Steuersatz zwischen 19 Prozent und
34 Prozent in Abhängigkeit von der Dauer der Kundenbeziehung mit dem Institut und dem Anfangs- und Endbetrag des Kapitalvermögens. Individuelle Besteuerungsmerkmale des Steuerpflichtigen spielen keine
Rolle. Wie dieses Verfahren genau funktioniert, wie Bemessungsgrundlage und Steuersätze ermittelt werden,
wissen wir nicht. Die Schweizer Bankiersvereinigung
schätzt die durchschnittliche steuerliche Belastung unter
Berücksichtigung von Verjährungsregeln allerdings
deutlich geringer ein, nämlich auf etwa 20 bis 25 Prozent. Bei der pauschalen Besteuerung wird allerdings
nur ein Zeitraum von zehn Jahren berücksichtigt. Das
heißt, wenn man davon ausgeht, dass viele unversteuerte
Altvermögen schon deutlich länger bestehen, vielleicht
sogar schon vererbt wurden, wird die Bemessungsgrundlage künstlich begrenzt. Im Ergebnis werden erhebliche Kapitalerträge steuerfrei gestellt. Viele Steuerhinterzieher bleiben straffrei.
Die Anonymität der Steuerhinterzieher bleibt
gewahrt. Die Bundesregierung ignoriert dabei die
schlechten Erfahrungen der USA - auch mit Blick auf
das Steueraufkommen - mit einem anonymen Quellensteuerverfahren unter dem Qualified Intermediary
Agreement mit der Schweiz. Die USA gehen in ihren Verhandlungen mit der Schweiz daher den umgekehrten
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({1})
Weg und streben die Übermittlung persönlicher Steuerdaten durch die Schweiz an. Aber angeblich ist die Wahrung der Privatsphäre ihrer Kunden eine nicht verhandelbare Position der Schweizer Bankiers, wenn man den
Worten von Bundesfinanzminister Schäuble glaubt. Mit
Blick auf die laufenden amerikanisch-schweizerischen
und die britisch-schweizerischen Verhandlungen frage
ich mich, ob die deutsche Seite ihre Karten geschickt
und entschlossen genug ausgespielt hat.
Ich würde die Bundesregierung auch gerne fragen, ob
die pauschale Besteuerungsregelung insofern „abgeltend“ wirkt, als länger als zehn Jahre zurückliegende
Vermögensbestände für den deutschen Fiskus endgültig
außer Reichweite der Finanzämter geraten. Wir würden
nichts über die Herkunft der unversteuerten Vermögen
erfahren: Wurden sie legal erworben oder stammen sie
aus illegalen Geschäften? Wir würden nichts über die
Identität der Begünstigten erfahren: Woher stammen die
Steuerhinterzieher, wie viele sind es, um welche Summen
geht es? Und wir würden nichts über die Beteiligten in
den Banken erfahren, die bei der Steuerhinterziehung
mit Rat und Tat zur Verfügung standen: Wie arbeiten sie,
welche Schleichwege bieten sie ihren Kundinnen und
Kunden an, wie hoch sind die Provisionen?
Die Wirkung der pauschalen Besteuerung zielt anscheinend auch darauf ab, dass damit auch Forderungen aus anderen Steuerarten abgegolten sind, etwa aus
der vermögensbezogenen Besteuerung von Erbschaften
und Schenkungen oder den ertragsabhängigen Unternehmensteuern. Wenn man den tatsächlichen Steuersatz,
der nach Einschätzung der Schweizer Bankiersvereinigung bei nur 20 bis 25 Prozent der Kapitalerträge liegt,
beispielsweise mit dem Steuersatz von 50 Prozent für
sehr hohe Vermögen in Steuerklasse II vergleicht, wird
schnell deutlich, wie sehr steuerehrliche Bürgerinnen
und Bürger erneut benachteiligt werden, wie stark unser
Gerechtigkeitsempfinden ins Lächerliche gezogen wird.
Die zweite Option für unversteuerte Altvermögen besteht in der steuerlichen Nacherklärung im Rahmen einer strafbefreienden Selbstanzeige. Hinsichtlich des
Steuersatzes werden dabei die persönlichen Steuermerkmale des Steuerpflichtigen berücksichtigt; je nachdem
liegt der Steuersatz also höher oder niedriger als der
pauschale Abgeltungsteuersatz der Option 1. Für den
Steuerhinterzieher beginnt mit Blick auf die Rendite und
die absolute Höhe seiner Kapitalerträge in den vergangenen Jahren das Rechnen, ob eine Selbstanzeige mit
Nachversteuerung zu jährlichen Hinterziehungszinsen
von 6 Prozent oder eine pauschale Abgeltungsteuer
günstiger ist. Es ist allerdings fraglich, ob diese Art der
„Mitwirkung“ dazu beitragen kann, die Steuerehrlichkeit zu stärken und die Aufklärungsmöglichkeiten der
deutschen Steuerverwaltung zu verbessern.
Die deutsche Steuerverwaltung ist am Prozess der Erhebung und Abführung der Abgeltungsteuer nicht beteiligt. Vielmehr übernehmen Schweizer Banken die Ermittlung und Abführung der Kapitalertragsteuer,
angeblich um die Anonymität des Verfahrens zu gewährleisten. Ich kann nicht erkennen, dass die Privatsphäre
des Steuerhinterziehers besonders schützenswert ist
oder Vorrang vor den Transparenz- und Aufklärungsgeboten der Steuerbehörden genießt. Umso schlimmer ist
es, dass sich die Bundesregierung auf diese Aufgabenteilung einlässt. Aber offensichtlich verursacht es keine
Bauchschmerzen bei Schwarz-Gelb, wenn ausgerechnet
diejenigen Banken bei der Ermittlung und Abführung
der Abgeltungsteuerbeträge mithelfen sollen, die zuvor
Anleitungen zur Steuerhinterziehung gegeben haben.
Mit einer belastbaren „Brücke in die Steuerehrlichkeit“
hat das wenig zu tun.
Welche Steuereinnahmen können wir von der Regularisierung hinterzogener Vermögen aus der Schweiz erwarten? Schweizer Banken haben sich bereit erklärt, bei
Inkrafttreten des Abkommens Anfang 2013 eine Abschlagszahlung als „Zeichen des guten Willens zur Umsetzung des Abkommens“ - so die offizielle Erklärung in Höhe von 2 Milliarden Schweizer Franken zu leisten.
Überschreitende Überweisungen werden verrechnet, bei
unterschreitenden Beträgen haften die Banken für den
Differenzbetrag. Ich wäre nicht überrascht, wenn es im
Ergebnis schließlich auf einen Überweisungsbetrag hinauslaufen würde, der recht nahe an die Abschlagszahlung heranreicht - rein zufällig natürlich.
Insgesamt ist das Verhandlungsergebnis mit der
Schweiz ein schlagender Beleg für eine Bundesregierung, deren Kräfte vom internen Streit zwischen FDP
und CSU, zwischen CDU und FDP und zwischen CSU
und CDU aufgezehrt werden. Deshalb hat Deutschland
auch ein Verhandlungsproblem in Europa, einen Schwächeanfall in den Verhandlungen über die European
Financial Stability Facility, EFSF, und den Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM. Wie lange können
wir uns diese Regierung noch leisten?
Der FDP hat die Steuergerechtigkeit schon immer
sehr am Herzen gelegen. Dies trifft aber nicht nur auf
das eigene Land zu, sondern behält auch im internationalen Geldverkehr nach wie vor seine Gültigkeit. Darum
ist es unabdingbar, dass wir mit anderen Staaten zusammenarbeiten, Vereinbarungen treffen und Abkommen
schließen, um durch transparenten Informationsaustausch Bürger und Unternehmen, welche Wirtschaftsleistungen nicht in ihren Heimatländern erbringen, weiterhin gerecht und ordnungsgemäß besteuern zu können.
Hierbei werden sowohl die Interessen der beteiligten
Länder als auch die des Steuerpflichtigen geachtet und
einbezogen.
Es ist absolut inakzeptabel, dass Straftäter in Einzelfällen immer noch die Möglichkeit haben, Steuern zu
hinterziehen und dabei von anderen Staaten Unterstützung erfahren. Wir haben in den letzten Jahren durch
eine konsequente Politik der internationalen Zusammenarbeit zahlreiche Abkommen treffen und Lücken
schließen können. Diesen erfolgreichen Weg wollen wir
weiterhin gehen.
Heute stehen hierzu drei Gesetzesvorschläge auf der
Tagesordnung. Zwei davon, nämlich die zu den Abkommen mit Irland und Zypern, orientieren sich dabei soZu Protokoll gegebene Reden
wohl inhaltlich als auch strukturell weitestgehend an
den Vorgaben des OECD-Standards.
Der dritte Vorschlag jedoch, welcher das Abkommen
mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft betrifft, beinhaltet einige wichtige Modifikationen zum bisher gültigen Abkommen. Allerdings drohten wir nicht mit der
Kavallerie, sondern haben stets auf eine konstruktive
Zusammenarbeit mit unseren Partnern gesetzt. Denn der
Erfolg in der Sache steht vor dem billigen Medieneffekt.
Wer aus der Opposition heraus Maximalforderungen
stellt, muss sich fragen lassen, was er aus seiner eigenen
Regierungszeit außer dem Austausch von Verbalattacken vorzuweisen hat und ob ihm der Umgang zwischen
souveränen, mitteleuropäischen Demokratien wirklich
geläufig ist.
Wir haben bei unseren Verhandlungen zwei wichtige
Anliegen ins Gleichgewicht gebracht: Zum einen
werden berechtigte Steueransprüche konsequent durchgesetzt, zum anderen wird die Privatsphäre der Kapitalanleger jedoch weiterhin geschützt, da Informationsanfragen nicht blind erfolgen dürfen und stets für den
ersuchenden Staat „voraussichtlich erheblich“ sein
müssen. Zudem können nun auch sämtliche Delikte weitergemeldet werden. Bisher galt das Abkommen nur für
Betrugsfälle, und da unsere schweizerischen Freunde
Steuerhinterziehung lediglich als Ordnungswidrigkeit
mit Geldstrafen ahnden, war in vielen Fällen kein Informationsaustausch möglich. Diesen Missstand haben wir
mit diesem Gesetz behoben und die Schweiz hat den hier
gültigen OECD-Standard anerkannt. Künftig werden
Erträge und Gewinne aus Vermögenswerten deutscher
Steuerpflichtiger in der Schweiz mit grundsätzlicher Abgeltungswirkung besteuert anfallen. Da das Abkommen
jedoch auch in die Vergangenheit wirkt, wird auch bisher unversteuertes Vermögen erfasst und auf Basis des
Abkommens nachbesteuert.
Wir haben zudem die Basis unserer Wirtschaftsbeziehungen gestärkt, indem wir schweizerischen Kreditinstituten den Marktzugang in Deutschland erleichtert haben. Es wird in Zukunft weniger administrative und
bürokratische Hürden in der internationalen Zusammenarbeit von deutschen und schweizerischen Banken
geben. Dies gilt insbesondere für die Durchführung des
Freistellungsverfahrens für schweizerische Institute in
Deutschland, welches enorm vereinfacht wurde. Die
Pflicht zur Anbahnung von Kundenbeziehungen über ein
Institut vor Ort wurde ebenfalls aufgehoben.
Mit diesen Maßnahmen stärken wir den Markt und
sorgen für mehr Wettbewerb, wirtschaftliche Möglichkeiten und Entwicklung. Vor allem aber wird es aus
Deutschland heraus immer schwerer, Steuern durch die
Flucht ins Ausland zu hinterziehen. Das sorgt für Gerechtigkeit und Mehreinnahmen für unseren Staat, nachdem internationale Abkommen viel zu lange vernachlässigt wurden.
Schongang bei Doppelbesteuerungsabkommen und
roter Teppich für Steuerbetrüger durch das Schweizer
Zusatzabkommen! Die Bundesregierung sagt, sie werde
die Bemühungen im Kampf gegen die internationale Steuerhinterziehung weiter vorantreiben. Ja, sie wollte auch
für Steuerentlastungen sowie ein gerechteres Steuersystem
sorgen. So steht es in ihrem Koalitionsvertrag. Doch
Fehlanzeige! Keine Steuerentlastungen und auch von
Steuergerechtigkeit kann keine Rede sein, betrachtet
man aktuelle Verteilungsstatistiken zur Entwicklung von
Einkommen und Vermögen.
Ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Steuerbetrug sind Doppelbesteuerungsabkommen. Um die
geht es heute, genau gesagt, um die mit der Schweiz,
Irland sowie Zypern. Mit diesen Doppelbesteuerungsabkommen soll eine Doppelbesteuerung
von Steuerpflichtigen vermieden werden. Da sich die
Welt in einem ständigen wirtschaftlichen wie technologischen Wandel befindet, müssen diese zwischenstaatlichen Verträge ab und zu an die aktuelle wirtschaftliche
Lage angepasst werden. Sie sind aber auch nötig, um
bisher vor dem Fiskus verstecktes Geld sowie Vermögen
offenzulegen, und es der Besteuerung zu unterziehen.
Wir, die Linken, werden uns bei den vorliegenden
Doppelbesteuerungsabkommen enthalten, weil wir der
Ansicht sind, das Steuerhinterziehung nicht wirklich
bekämpft wird, dass weitreichendere Änderungen nötig
sind und auch möglich gewesen wären. Das heute von
der Bundesregierung unterzeichnete Zusatzabkommen
mit der Schweiz lehnen wir hingegen strikt ab; denn
dieses ist ein Affront gegen die Steuergerechtigkeit.
Bei den uns hier vorliegenden Doppelbesteuerungsabkommen begrüßen wir, dass bei Zypern durchgängig
die Anrechnungsmethode - von uns seit langem
gefordert - Anwendung finden soll. Allerdings
kritisieren wir, dass ein veralteter OECD-Standard für
den Informationsaustausch gelten soll. Auch beim Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz sollen Auskünfte nur auf Ersuchen hin möglich sein. Prinzipiell
halten wir den OECD-Standard nicht mehr für ausreichend, um Steuerbetrug wirksam zu bekämpfen. Nötig ist
endlich ein automatischer Informationsaustausch, den
die Bundesregierung unabhängig vom OECD-Standard
vorantreiben könnte. Solange es aber bei Auskunft auf
Ersuchen bleibt, können sich Steuerbetrüger wohl weiterhin sicher wähnen.
Das Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz
wird noch durch das heute unterzeichnete Zusatzabkommen ergänzt und soll Altfälle sowie zukünftige
Fälle regeln. Die Bundesregierung heftet sich den
vermeintlichen Verhandlungserfolg mit der Schweiz an
die Brust. Dabei muss man das Zusatzabkommen
genauer ansehen. Es ist ein Affront gegen die
Steuergerechtigkeit. Steuerbetrüger können sich mit diesem Abkommen mehrfach freuen und sich wie auf Rosen
gebettet fühlen.
Die Altfälleregelung gleicht einem Ablasshandel. Für
Altfälle ist geplant, auf bislang unversteuertes Geld in
der Schweiz - Schätzungen gehen von bis zu
300 Milliarden Euro aus - für die vergangenen zehn
Jahre eine pauschale Steuer zwischen 19 und 34 Prozent
zu erheben, je nach Dauer der Kundenbeziehung sowie
des Anfangs- und Endbetrages des Kapitalbestandes.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dabei sollte das doch egal sein, Steuerbetrug bleibt
Steuerbetrug, und dieser ist eben eine Straftat. Mit
der Pauschalnachversteuerung profitieren Steuerflüchtlinge; denn vor Einführung der Abgeltungsteuer
hätte für sie wohl eher der Einkommenspitzensteuersatz
Anwendung gefunden. Zudem dürfen sie straffrei
ausgehen und anonym bleiben. Das ist nicht
nachvollziehbar und gehört dringend geändert. Für zukünftige Fälle ist vorgesehen, auf kassierte Zinsen und
Dividenden eine Quellensteuer von 26,375 Prozent,
inklusive Soli, zu erheben. Aber ob das so alles
funktioniert, wenn allein die Schweizer Banken
zuständig sind, muss erst einmal abgewartet werden.
Skandalös ist auch die vertragliche Verpflichtung seitens der Bundesregierung, keine weiteren Steuer-CDs
mehr aus der Schweiz zu kaufen. Da wundert es nicht,
dass die Schweizer Bankiervereinigung von einem
Meilenstein für den Finanzplatz Schweiz spricht; so
auch nachzulesen in einem 21-seitigen Papier von Swiss
Banking. Auch heißt es dort, dass die Lösung, wie es sie
mit Deutschland gab, ebenfalls mit anderen
europäischen Ländern angestrebt wird. Das hat nichts
mit Steuergerechtigkeit zu tun, sondern dient nur den
Interessen der Banken.
Es wird Zeit, dass die Bundesregierung nachbessert
und das Zusatzabkommen mit der Schweiz nachverhandelt, zum Wohle aller ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler.
„Kapital ist ein flüchtiges Reh“, heißt es. So wichtig
offene Grenzen für den internationalen Warenaustausch
gerade für die starke Exportnation Deutschland sind, so
wichtig ist aber auch Transparenz der Geldströme.
Denn vor allem „schwarzes“ Kapital flüchtet vor den
deutschen Steuerbehörden, obwohl Einkünfte aus Kapitalzinsen in Deutschland nur mit einer pauschalen Abgeltungsteuer von 25 Prozent belegt sind. Von Experten
wird vermutet, dass allein in der Schweiz nicht deklariertes Schwarzgeld von deutschen Steuerbürgern in der
Höhe von 150 bis 200 Milliarden Euro liegt - Kapital,
das am deutschen Fiskus vorbei ins Ausland transferiert
wurde. Deshalb kämpfen wir Grüne seit langem für eine
Verbesserung des Informationsaustausches in den Doppelbesteuerungsabkommen. Daher begrüßen wir die
vorgelegte Abkommensänderung und die Erklärung der
Schweiz, sich zum Informationsaustausch und zu den
OECD-Standards zu bekennen.
Diese Änderung ist als Schritt in die richtige Richtung zu werten, geht jedoch nicht weit genug. Um echte
Transparenz herstellen zu können, brauchen wir einen
automatischen Informationsaustausch ohne Begrenzung
der Menge der Informationsanfragen. Denn für effektive
Bekämpfung der Steuerflucht reicht das OECD-Musterabkommen nicht aus: Nur in einem konkreten Verdachtsfall wird ein Informationsgesuch an den Vertragsstaat
übersandt, und nach entsprechender Prüfung durch die
Behörden des Landes soll Auskunft über den konkreten
Fall gegeben werden. Es ist jedoch sehr schwierig, genug Indizien für Steuerhinterziehung zu sammeln, bevor
die Behörden des anderen Landes Auskunft geben. Genau aus diesem Grund wurde mehr als zehn Jahre in der
Europäischen Union die sogenannte Zinsrichtlinie verhandelt. Im Rahmen dieser Zinsrichtlinie ist ein automatischer Informationsaustausch vereinbart worden. Wir
sind fast am Ziel. Die letzten Widerstände in Österreich,
Luxemburg und Belgien dürften bald überwunden werden.
Wenn in dieser Situation aber eine Regelung zwischen Deutschland und der Schweiz eingeführt wird, die
unterhalb der in Europa verhandelten Linie bleibt, ist
abzusehen, was passiert: Länder wie Österreich,
Luxemburg und möglicherweise weitere Länder werden
die in Europa verabredeten Transparenzregeln nun doch
nicht umsetzen. Die Zinsrichtlinie muss unser Maßstab
bleiben und darf durch ein bilaterales Amnestie- und
Abgeltungsteuerabkommen mit der Schweiz nicht unterlaufen werden.
Die USA haben in ihren Verhandlungen mit der
Schweiz gezeigt, dass das Bestehen auf einem Informationsaustausch nicht nur möglich, sondern auch erfolgreich sein kann. Die Bundesregierung hat dagegen einen
schlechten Deal gemacht, der von den vereinbarten Ablasszahlungen nur notdürftig überdeckt werden kann.
Der öffentlich vorgetragenen Argumentation, zum Beispiel von Herrn Wissing von der FDP, kann ich gar nicht
folgen: Mit Hinweis auf die 1,6 Milliarden Euro, die die
Schweiz verpflichtend als Ablass bezahlen will, fordert
er die Zustimmung zum Steuerabkommen mit der
Schweiz. Diese Summe beträgt gerade einmal 1 Prozent
der vermuteten Schwarzgelder in der Schweiz. Deutschland wird diese Summe aber nie nachprüfen können;
denn in dem Abkommen mit der Schweiz sind Nachforschungen explizit ausgeschlossen.
Das Abkommen würde bei einer Ratifizierung mehr
steuerliche Ungerechtigkeit bringen und würde die Verfolgung von Steuerhinterziehung praktisch unmöglich
machen. Die anonyme Abgeltungsteuer führt zu einer
Amnestie für Steuersünder. Der ehrliche Steuerzahler
wird so der Dumme. Auch Vergehen wie Erbschaftsteuerbetrug und Geldwäsche bleiben durch die Anonymität
im Dunkeln. Zukünftige Steueränderungen in Deutschland, mit denen eine gerechtere Besteuerung von Kapitaleinkünften umgesetzt werden soll, würden erschwert.
Zudem muss die deutsche Finanzverwaltung Kompetenzen ohne weitere Prüfmöglichkeit an die Schweizer Banken abgeben und hat viel zu beschränkte Möglichkeiten
für die Verfolgung von Steuerhinterziehung.
Abschließend zu den Doppelbesteuerungsabkommen
mit Zypern und Irland. Wir begrüßen im Grundsatz das
Abkommen mit Zypern, da dieses, wie von uns Grünen
gefordert, die Anrechnungsmethode vorsieht. Beim Abkommen mit Irland befürworten wir ausdrücklich die
Aktivitätsklausel. Allerdings wäre gerade bei einem
Niedrigsteuerland wie Irland die Anrechnungsmethode
und nicht die Freistellungsmethode dringend erforderlich. Bei der Anrechnungsmethode würde eine steuerlich
motivierte Verlagerung von Steuersubstrat verhindert,
Zu Protokoll gegebene Reden
weil in diesem Fall die Einkünfte trotzdem der höheren
deutschen Steuer unterliegen würden.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderung des Abkommens vom 11. August 1971 mit der Schweizerischen
Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6257
anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
30. März 2011 mit Irland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6258
unverändert anzunehmen. Die Denkschrift zu dem Abkommen soll mit der vom Finanzausschuss beschlossenen Maßgabe geändert werden. Zweite Beratung und
Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
18. Februar 2011 mit der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache
17/6259 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte wiederum diejenigen, die dem zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Tom
Koenigs, Marieluise Beck ({2}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Menschenrechtslage in Westsahara
- Drucksachen 17/4440, 17/4994 Berichterstattung:
Abgeordnete Sibylle Pfeiffer
Marina Schuster
Tom Koenigs
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll.
Von der Weltöffentlichkeit weithin unbemerkt schwelt
in der Westsahara seit nunmehr 36 Jahren eine Situation, die völkerrechtlich und menschenrechtlich höchst
problematisch ist. Als Leiter einer Delegation des Menschenrechtsausschusses habe ich mir im Juni ein eigenes
Bild vor Ort machen können. Es war, gelinde gesagt, bedrückend. Neben den Besuchen in den Flüchtlingslagern
selbst und den Gesprächen mit Sahraui sowie Vertretern
der Polisario sprachen wir mit marokkanischen Politikern, darunter der Menschenrechtsbeauftragte Marokkos, über die Situation. Es gab einige überraschend positive Eindrücke, etwa die erstaunlich hohe Bildung der
Sahraui oder die hohe Quote von Frauen in leitenden
Funktionen und politischen Ämtern. Und doch überwog
das erwähnte Gefühl der Bedrückung. In den Flüchtlingslagern wächst eine Generation heran, die noch niemals in Freiheit gelebt hat. Gut ausgebildete junge Menschen haben keine Perspektive: weder auf Arbeit oder
Wohlstand, noch auf freie demokratische Gestaltungsmöglichkeiten in ihrem Land - ja, sie wissen nicht einmal, ob der völkerrechtliche Status der Westsahara zu
ihren eigenen Lebzeiten geklärt werden wird.
Dass hier ein Nährboden für extremistisches Gedankengut zumindest entstehen kann, liegt auf der Hand.
Bedrückend war ferner die spürbare Gängelung
selbst einer offiziellen Delegation wie der unseren durch
die marokkanische Seite. Medien und Gesprächspartner
wurden vorausgewählt, unsere selbstentworfene Agenda
durcheinandergewirbelt, politischer Druck wurde auf
uns ausgeübt. Der marokkanische Botschafter war ausgesprochen bemüht, die diplomatischen Wogen zu glätten. Doch es bleibt zu bemerken: wir haben etwas von
der Unfreiheit der Sahraui am eigenen Leib zu spüren
bekommen.
Auch deshalb begrüße ich die heutige Debatte im
Bundestag. Die menschenrechtliche Lage in der Westsahara braucht Öffentlichkeit.
Nicht umsonst verabschiedete der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen am 28. April 2011 einstimmig die
Resolution 1979 zur Lage in der Westsahara und zur
Verlängerung des Mandats der VN-Mission MINURSO.
Diese Resolution bringt in der Präambel erstmals die
Notwendigkeit der Verbesserung der Menschenrechte in
der Westsahara und den Lagern in Tindouf zur Sprache.
Ich zitiere aus der Erklärung des Sicherheitsrates
vom 27. April 2011:
The Council stressed the importance of improving
the human rights situation in Western Sahara and
the Tindouf camps and encouraged the parties to
work with the international community to develop
and implement independent and credible measures
to ensure full respect for human rights.
Eine wesentliche Forderung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, nämlich „sich selbst und im Rahmen
der EU stärker als bislang bei den Vereinten Nationen
für eine dauerhafte Lösung des Konflikts einzusetzen
und sich für die Durchführung des 1991 in der VN-Resolution 690 avisierten Referendums stark zu machen oder
aber sich im VN-Sicherheitsrat für eine neue Resolution
einzusetzen“ - Quelle: Drucksache 17/4440 -, ist damit,
zumindest für den Moment, erfüllt.
Das begrüße ich ausdrücklich!
Dem Antrag, wie er uns vorliegt, kann ich dennoch
nicht zustimmen. In einigen Punkten muss ich widersprechen, in anderen gehen mir die Forderungen nicht
weit genug.
Lassen Sie mich zur Erläuterung zunächst noch etwas
ausholen und auf die Entstehungsgeschichte des Konflikts eingehen. Das Auswärtige Amt beschreibt den umstrittenen völkerrechtliche Status der Westsahara:
Das Gebiet war nie eine staatliche Einheit, sondern
durch Stammesverbindungen, Handelsstraßen und
Lehnsabhängigkeiten lange an Marokko gebunden,
ohne historisch zum Territorium Marokkos zu gehören. Hieraus leitet Marokko seinen Territorialanspruch ab. Seit 1884 spanische Kolonie, wurde die
Westsahara 1963 von den Vereinten Nationen in die
Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung aufgenommen ... Laut Gutachten des Internationalen
Gerichtshofes ({0}) aus dem Jahr 1975 handelte
es sich bei dem Gebiet weder um eine sogenannte
terra nullius, noch bestanden zum Zeitpunkt der
Kolonisierung des Gebiets durch Spanien territoriale Souveränitätsbeziehungen zu Marokko oder
Mauretanien. Nach Veröffentlichung des IGH-Gutachtens ließ König Hassan II am 06.11.1975 einen
„Grünen Marsch“ von 350 000 unbewaffneten Zivilisten in die Westsahara organisieren. 1976 rief
die Polisario die „Demokratisch-Arabische Republik Sahara“ aus. Nach dem Rückzug Mauretaniens
1979 blieb Marokko einzige „Verwaltungsmacht“
in der Westsahara.
Nachdem 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung
zwischen Marokko und der Polisario getroffen wurde,
beschlossen die VN am 29. April 1991 die Resolution 690, in der ein Referendum über den völkerrechtlichen Status der Westsahara gefordert wird. Diese begründet die MINURSO-Mission der VN.
Bis heute ist es nicht zur Durchführung des Referendums gekommen, vor allem weil die Parteien unterschiedliche Optionen für eine Fragestellung des Referendums vertreten: Die Frage nach der Unabhängigkeit
der Westsahara wird von der Polisario gefordert, aber
von Marokko abgelehnt. Weitere Möglichkeiten wären:
eine Autonomie innerhalb Marokkos oder ein Bundesstaat „Westsahara“ in Marokko.
Die Afrikanische Union hat die Polisario als Vertretung der Sahraui anerkannt, woraufhin Marokko ausgetreten ist. Folglich ist die Frage nach der Unabhängigkeit der Westsahara von größter Bedeutung und muss
zuerst geklärt werden. Bei den Gesprächen vor Ort kamen wir immer wieder auf diese grundlegende Frage zurück. Unsere Gegenfrage: „Why not ({1})? Warum keine Unabhängigkeit möglich sei?“ blieb unbeantwortet.
Zur menschenrechtlichen Lage ist zu sagen: Bis heute
leben, je nach Schätzung, zwischen 100 000 und 200 000
Sahraui in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf in
der algerischen Sahara. Das Gebiet der Westsahara ist
aktuell durch eine befestigte und verminte Grenzanlage
geteilt, die von Marokko entlang der Waffenstillstandslinie errichtet wurde. Die gewaltsame Räumung eines
Lagers in der Westsahara Anfang November 2010 hat
die Situation noch einmal verschärft. Es kam unter marokkanischen Sicherheitskräften und unter Sahrauis zu
Toten und Verletzten. Anfang März 2011 kam es in den
Lagern von Tindouf zu einer Demonstration gegen die
Polisario-Führung. Menschenrechtsverletzungen werden sowohl vonseiten der Marokkaner als auch vonseiten der Polisario berichtet.
Nun konkret zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Die Forderung, sich innerhalb der EU für eine
einheitliche Position zu Marokko und Westsahara einzusetzen, ist richtig; sie muss meines Erachtens nach aber
flankiert sein von besonderen Gesprächen mit Spanien,
zur postkolonialen Verantwortung, und mit Frankreich,
zum Umgang mit Marokko und zum Fischereiabkommen.
Das Fischereiabkommen mit Marokko ist am 29. Juni
2011 verlängert worden. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit Slowenien und Irland eine Erklärung zur
Verpflichtung Marokkos, die Partizipation der Bevölkerung der Westsahara an den Rückflüssen aus dem Abkommen darzulegen, abgegeben. Die Zustimmung erfolgte auf Grundlage von Analysen der Europäischen
Kommission über Rückflüsse aus dem Abkommen an die
Bevölkerung der Westsahara sowie der erstmaligen Verpflichtung Marokkos, hierüber Bericht zu erstatten.
Die Forderung des Antrags ist insofern obsolet. Eine
notwendige Klärung des Rechtsstatus der Meeresgewässer der Westsahara hingegen sollte im Zuge des Referendums schnellstens erfolgen.
Über diese Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen
hinaus werbe ich für folgende Anliegen:
Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland eine diplomatische Vermittlerrolle zwischen Marokko und Algerien einnimmt, und für die politische Option eines Autonomiestatus der Westsahara
innerhalb Marokkos werben, bei der keiner der Partner
Zu Protokoll gegebene Reden
sein Gesicht verlieren würde. Insbesondere die Rolle des
Sondergesandten der Vereinten Nationen für die Westsahara, Christopher Ross, gilt es zu stärken. Im Rahmen
dieser Rolle sollen auch Hinweise auf die Gefahr einer
Radikalisierung der sahrauischen Bevölkerung und eine
Eskalation von Gewalt gegeben werden, und es soll dem
durch menschenrechtliche Fortschritte, Bildung, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit unter anderem, weiterhin
entgegengewirkt werden.
Die bereits bestehenden guten Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere der GIZ und privatwirtschaftlicher
Unternehmen im Rahmen des Projektes Desertec, der
Bundesrepublik zu den Konfliktparteien gilt es zu vertiefen, und es gilt, in diesem Zusammenhang die Menschenrechtsproblematik anzusprechen bzw. auf sie aufmerksam zu machen. Hier wäre es wichtig, sich dafür
einzusetzen, dass bei der nächsten Mandatsverlängerung die Beobachtung der Menschenrechtssituation in
Westsahara Teil des Mandats der MINURSO, United
Nations Mission for the Referendum in Western Sahara,
wird, wie es ein Punkt der Forderungen des Antrags der
Grünen zum Ziel hat. Nicht enthalten ist dieser Passus
bislang nur, weil das Mandat schon vor so langer Zeit
entstand. Aber: Lieber spät als nie.
Künftig ist es mein Anliegen, dass die EU-Flüchtlingshilfe vermehrt finanzielle Unterstützung erhält und
dass über das Programm der Deutschen Akademischen
Flüchtlingsinitiative beim UNHCR weiterhin Stipendien
für sahrauische Studierende sowie internationale Begegnungen ermöglicht werden.
Meines Erachtens nach muss das Ziel all unserer Bemühungen die schnellstmögliche Durchführung des Referendums sein, wobei es im Vorfeld wichtig ist, bei der
Formulierung der darin gestellten Fragen einen Konsens zu erzielen.
Ich behalte mir vor, diese Anliegen über Anfragen
oder Anträge an die Bundesregierung auszudrücken
oder zu verstärken.
Im Juni dieses Jahres besuchte eine Delegation des
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
die Westsahara. Wir waren sowohl auf der algerischen
als auch auf der marokkanischen Seite, und ich muss sagen: Dies war eine Reise, die einen tiefen Eindruck bei
mir hinterlassen hat.
Die Situation der 308 000 Sahrauis in den Flüchtlingslagern von Tindouf in Algerien ist erschreckend,
selbst wenn der UNHCR sie den Umständen entsprechend gut versorgt. Auch die Polisario kümmert sich um
die Lebenssituation vor Ort. So gibt es Schulen, Behinderteneinrichtungen, Krankenhäuser und Sommerferienreisen für Kinder. Aber die Bedingungen für die
Flüchtlinge bleiben schwierig: Es gibt wenig Schatten
oder Schutz vor dem Wüstensand. Wie ist es um die Perspektive auf ein freies Leben unter gesicherten Bedingungen bestellt?
In der Westsahara sieht man, was passiert, wenn politisch nichts passiert: Dieser Konflikt, diese nicht vorhandene Lösung des Grenzproblems - ein fatales Erbe
des Kolonialismus in Nordafrika - schränken direkt die
Rechte auf persönliche Entwicklung, politische Mitbestimmung und persönliche Sicherheit ein. Lebensverläufe sind unter diesen Bedingungen nicht frei wählbar.
Dort als Flüchtling geboren zu sein, bestimmt maßgeblich den weiteren Lebenslauf. Die Sahrauis sind politische Opfer.
Unvorstellbar ist, wie lang sich dieser Konflikt bereits hinzieht. Von dem Zeitpunkt, als die spanischen
Truppen 1976 das Land verlassen hatten, Mauretanien
den Südteil und Marokko den Nordteil annektierte und
100 000 Menschen in die Westsahara und 200 000 sahraurische Flüchtlinge ins Ausland flohen, bis zu dem Waffenstillstand 1991 - kontinuierlich wurde eine politische
Lösung des Konfliktes verhindert.
Die letzten informellen Gespräche zwischen der marokkanischen Regierung und der Frente Polisario zu
dem in einer UN-Resolution von 1991 beschlossenen
Referendum zur Beilegung der Grenzstreitigkeiten und
der damit verbundenen Probleme sind im Juli dieses
Jahres wieder einmal gescheitert. Marokko will nichts
akzeptieren, was über die derzeitige Lage hinausgeht.
Dabei ist der Prozess eigentlich schon relativ weit.
Fällig zur Durchführung des Referendums ist lediglich
noch die Aktualisierung der Wählerlisten. Hier zeigen
Marokko und insbesondere der marokkanische König
Mohammed VI. wieder einmal, dass es kein Interesse an
einer einvernehmlichen Lösung gibt. Die Reise und die
Gespräche, die wir führen konnten, haben sehr klar gezeigt: Es ist ein doppeltes Spiel Marokkos: Einerseits die
Zusicherung der Achtung des internationalen Völkerrechts, andererseits eine absolute politische Inflexibilität und Missachtung der Menschenrechte, die sich
durchaus auch auf die in Marokko lebenden Sahrauis
auswirken.
Wir mussten feststellen: Die Lebensbedingungen der
Menschen haben nichts mit der Gewährleistung der
Menschenrechte zu tun. Schlimmer noch: Wir haben mit
Menschen gesprochen, welche darüber klagten, dass
Befürworter des Referendums in Marokko gefoltert werden und im schlimmsten Fall ungeklärt „verschwinden“. Die jüngsten Proteste - inspiriert von dem Arabischen Frühling - wurden blutig niedergeschlagen.
Journalisten werden drangsaliert.
Menschenrechtlich sind wir in der Pflicht, uns international für die Lösung des Konfliktes zu engagieren
und gegebenenfalls Druck auf die Beteiligten auszuüben. Die Menschen in der Westsahara müssen endlich
die Wahl bekommen: Wollen sie ein Teil Marokkos sein,
oder davon unabhängig?
Teil des derzeitigen Problems ist auch die deutsche
„Fähnchen-im-Wind-Dreherei“ bezüglich des marokkanisch-europäischen Fischereiabkommens. Es ist mir unverständlich, warum sich Deutschland im Juni nun doch
für dessen Verlängerung ausgesprochen hat. Die Fischgründe der Westsahara sollten angesichts des ewigen
Konfliktes und der ungeklärten Zugehörigkeit für europäische Fischer tabu sein. Die Sahrauis hatten in dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
Prozess keine Vertretung und konnten sich zu dem Abkommen folglich nicht offiziell äußern. Dies kommt Räuberei gleich - und das sollten wir wahrlich nicht unterstützen.
Nun sind im August auch noch reichhaltige Bodenschätze, darunter wertvolle Kimberlit-Diamanten, Gold,
Uran, Kupfer, Kobalt und andere Rohstoffe vom kanadischen Bergbauunternehmen Metalex Ventures in der
Westsahara entdeckt worden. Der überwiegende Teil
soll auf dem von der Frente Polisario kontrollierten Gebiet nahe Mauretanien liegen. Dies könnte eigentlich ein
Anlass zur Freude sein, könnten die armen Menschen
der Westsahara denn davon profitieren. Dies zeichnet
sich jedoch nicht ab, denn der Staat Marokko hat die kanadische Firma mit den magnetischen und radiologischen Messungen beauftragt. Marokko hat wohl einen
weiteren Grund gefunden, die Sahrauis nicht über das
Referendum befinden zu lassen. Ich hoffe sehr, dass in
Marokko nicht über Abschöpfung nachgedacht wird.
Dies könnte die friedliche Lösung des Grenzstreites
schwer belasten.
Im September gibt es wieder eine UN-Vollversammlung in New York, bei der auch dieses Fischereiabkommen noch einmal besprochen werden soll. So wie ich es
sehe, spitzt sich die Situation in der Westsahara immer
weiter zu. Dies ist keine gute Aussicht in einer Region,
die von Unruhe geprägt und von gewaltsamen Konflikten bedroht ist. Deutschland sollte sich hier vernünftig
und verantwortlich zeigen.
Das Parlament beschäftigt sich heute mit der Menschenrechtslage in der Westsahara. Wir begrüßen dies
als FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich.
Vom 13. bis 17. Juni 2011 habe ich mit einer Delegation des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe neben Algerien und Marokko auch die Westsahara besucht. Diese sehr wichtige Reise stand im
Zusammenhang mit der Auflösung des Protestlagers in
der Westsahara am 8. November 2010, als marokkanische Sicherheitskräfte das Lager außerhalb der Stadt
Laayoune räumen ließen, wobei es zu Toten und Verletzten kam. Neben allgemeinen Fragen der Menschenrechte wurde vor allem die Situation der Sahraui in der
Westsahara und in Algerien in dem Flüchtlingslager in
Tindouf thematisiert. In den Gesprächen mit Regierungs- und Parlamentsvertretern Marokkos, der Frente
Polisario in Algerien, den Vertretern des UNHCR und
von MINURSO sowie den Vertretern von Menschenrechtsorganisationen der Sahrauis ging es zum einen um
die humanitäre Situation der Betroffenen sowohl in dem
Lager in Tindouf als auch in der Westsahara und zum
anderen um die politische Frage eines Referendums und
einer möglichen Unabhängigkeit der Westsahara. Insgesamt wurde deutlich, wie kompliziert der WestsaharaKonflikt ist. Der Einfluss Deutschlands darf nicht überbewertet werden.
Auch wurde bei der Reise eines sehr offensichtlich:
Innerhalb der Delegation sowie zwischen den Koalitions- und Oppositionsfraktionen des Deutschen Bundestages gibt es unterschiedliche politische Positionen zu
der Referendumsfrage in der Westsahara. In einem sind
wir uns aber alle einig: Eine Lösung des Konflikts in der
Westsahara ist dringend notwendig. Als christlich-liberale Koalition fordern wir: Repressionen gegen Personen, die das Referendum einfordern, müssen aufhören.
Es ist nicht glaubwürdig, wenn der marokkanische Menschenrechtsrat bislang keiner Beschwerde nachgegangen ist. Marokko muss einsehen: Auch den Sahrauis
steht das hohe Gut der Selbstbestimmung zu. Mehrfach
habe ich daher in den Gesprächen mit marokkanischen
Repräsentanten auf die mögliche Isolierung der marokkanischen Regierung mit ihrer Position zum Westsahara-Konflikt hingewiesen. Auch Marokko muss aus
Eigeninteresse an einer schnellen Konfliktlösung interessiert sein. Insgesamt bleibt für uns als FDP-Bundestagsfraktion festzuhalten: Die Westsahara-Problematik
ist eine zentrale Frage für die Zukunft Marokkos und der
gesamten Region von Algerien bis Mauretanien. Sie bindet große militärische Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien und steht der
Kooperation und Entwicklung im Maghreb entgegen.
Der Konflikt existiert schon seit vielen Jahrzehnten.
Seit Mitte der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts
wurde Spanien wiederholt von der UN aufgefordert, die
Westsahara in die Unabhängigkeit zu entlassen. Parallel
dazu gründete sich die sahrauische Befreiungsfront
Frente Polisario, die für eine politische Unabhängigkeit
der Westsahara kämpfte. Nach dem Tod Francos 1975
zogen die Spanier ab, und Mauretanien und Marokko
besetzte den Großteil des Gebiets der Westsahara. 1976
erklärte Marokko die Annexion der nördlichen zwei
Drittel des Westsahara-Gebietes und 1979 des restlichen
Territoriums, nachdem sich Mauretanien aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Diese Annexionen wurden von
den Vereinten Nationen nicht anerkannt. Ebenso wenig
wurden ohne die Abhaltung des von den Vereinten Nationen geforderten Referendums die Ansprüche der Demokratischen Arabischen Republik Sahara auf das Gebiet
der Westsahara anerkannt.
Zwar wurde 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung
zwischen Marokko und der Polisario geschlossen, aber
auch dies reichte nicht, um das geforderte Referendum
abzuhalten. Daher leben bis heute etwa 100 000 Sahrauis
in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf in der algerischen Sahara. Hinzu kommt, dass das Gebiet von
Westsahara aktuell durch eine befestigte und verminte
Grenzanlage geteilt ist, die von Marokko entlang der
Waffenstillstandslinie errichtet wurde. Vor diesem Hintergrund scheint eine kurzfristige Lösung des Westsahara-Konflikts kaum realistisch. Trotz aller Bemühungen sowohl der Bundesregierung als auch der
internationalen Gemeinschaft war es bislang nicht möglich, die Konfliktparteien zu einer einvernehmlichen und
friedlichen Lösung zu bewegen.
Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion liegt
der Schlüssel zur Lösung dieses Konflikts in einer erfolgreichen politischen Vermittlung durch die Vereinten
Nationen. Als christlich-liberale Koalition setzen wir
daher weiterhin auf Bemühungen der Vereinten Nationen, im Einverständnis zwischen den Beteiligten und auf
Zu Protokoll gegebene Reden
der Grundlage bestehender UN-Resolutionen, eine
friedliche Lösung des Westsahara-Konflikts zu finden.
Unabhängig vom völkerrechtlichen Status ist jedoch eines klar: Auch auf dem Gebiet der Westsahara müssen
die Menschenrechte stärker geachtet und verteidigt werden. Folgendes darf nicht sein: Die Augen dürfen nicht
vor der schwierigen Menschenrechtslage verschlossen
werden. Dies betrifft ausdrücklich beide Seiten.
Dennoch lehnen wir als FDP den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus folgenden Gründen ab:
Die Feststellung im Antrag, „dass sich die Bundesregierung zum Konflikt um Westsahara und den damit verbundenen Problemen sowohl bilateral als auch im Rahmen der EU sehr zögerlich und zurückhaltend agiere“,
ist nicht zutreffend.
Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle hat am
15. November 2010 in Rabat Gespräche unter anderem
mit seinem marokkanischen Amtskollegen geführt. Es
war der erste Besuch eines deutschen Außenministers in
Marokko seit 2006.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung flankiert durch
verschiedene Maßnahmen die Bemühungen der Vereinten Nationen um eine Lösung des Westsahara-Konflikts.
Das Auswärtige Amt trägt zu den vertrauensbildenden
Maßnahmen des UNHCR bei. In den Jahren 2008 bis
2010 wurden hierfür zusammen gut 600 000 Euro zur
Verfügung gestellt.
Über die EU - European Commission - Humanitarian Aid & Civil Protection, ECHO - wurden seit Bestehen des Konfliktes rund 130 Millionen Euro für die
Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt; das jährliche
ECHO-Budget für die Flüchtlingslager beträgt rund
10 Millionen Euro. Über den Mediationsfonds der Vereinten Nationen unterstützt Deutschland indirekt den
UN-Sondergesandten für die Westsahara.
Im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik
und auch des fortgeschrittenen Status - „advanced status“ - Marokkos in der Partnerschaft mit der EU werden regelmäßig die Themen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angesprochen. Der politische
Dialog des Aktionsplans mit Marokko sieht dies genauso
vor wie das Assoziierungsabkommen, welches den Menschenrechten eine grundlegende Bedeutung für die Innen- sowie die Außenpolitik der EU und Marokkos zuweist.
Aus den oben genannten Gründen ist der Antrag daher abzulehnen.
Es ist überraschend, mit welchem Gleichklang bei
der Bundestagsdebatte am 27. Januar dieses Jahres ein
fraktionsübergreifendes Hohelied auf die Menschenrechte angestimmt wurde, mit welchem die Rednerinnen
und Redner von CDU/CSU über FDP, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen ihre Besorgnis über die verheerende Lebenssituation der Sahrauis zum Ausdruck bringen wollten.
Dabei wurde deutlich, dass für die Regierungskoalition die „Westsahara-Problematik“ nur dann auf die Tagesordnung rückt, wenn die dort verübten Menschenrechtsverletzungen, wie zuletzt bei der brutalen Räumung des „Camps der Würde“ im Oktober 2010, ein
Ausmaß erreichen, welches nicht mehr totgeschwiegen
werden kann wie all die bisherigen totgeschwiegenen
Opfer der marokkanischen Besatzungspolitik. Offenbar
spielen Menschenrechte in der Westsahara erst dann
eine Rolle, wenn der dortige Generalvertreter europäischer Handels- und Wirtschaftsinteressen bei der Plünderung der Region den Umfang seiner Geschäftsführungsbefugnis überschreitet und den Auftraggeber in
Misskredit zu bringen scheint. In den Worten des Kollegen Klimke aus der CDU/CSU-Fraktion wird diese Kosten-Nutzen-Kalkulation folgendermaßen beschrieben:
„Sie bindet große militärische Ressourcen, belastet die
Beziehungen zwischen Marokko und Algerien und steht
der Kooperation und Entwicklung im Maghreb entgegen.“
Angesichts der geschilderten Einigkeit in Bezug auf
die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte
stellt sich dennoch die Frage, warum trotz der übereinstimmenden Situationsbeschreibung der Fraktionen bezüglich der völkerrechtlichen Lage und der Hervorhebung der Notwendigkeit der Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 690 zur Abhaltung eines den endgültigen
Status der Westsahara klärenden Referendums die Menschen in diesem Land seit mehr als 30 Jahren auf Frieden warten müssen.
Die Antwort liegt nicht in der Theorie der Menschenrechte und ihre Lösung nicht in Lippenbekenntnissen,
sondern in der Praxis ungerechter wirtschaftlicher und
sicherheitspolitischer Beziehungen Europas und der
Bundesregierung.
Es ist dann auch kein Zufall, dass der menschenrechtliche Meineid der Bundesregierung in Bezug auf die
Westsahara folgenlos bleiben muss und soll. Denn die
Aufmerksamkeit der Bundesregierung gilt nicht dem
menschenrechtlichen Fortschritt, sondern den agrarund energiepolitischen Interessen in der Region.
In diesem Zusammenhang sind die Forderungen des
Antrags der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
„Menschenrechtslage in Westsahara“ zwar richtig und
unterstützenswert, auch wenn sie die ökonomischen
Hintergründe des deutschen Engagements und die deutschen Interessen in der Westsahara unbeleuchtet lassen.
Marokko ist neben anderen nordafrikanischen Mittelmeerländern Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik ({0}) und Mitgliedsstaat der Union für den Mittelmeerraum. Es nimmt teil an der NATO-AU-Kooperation
und dem NATO-Mittelmeerdialog. Neben der Flüchtlingsabwehr und seiner sicherheitspolitsichen Rolle für
die NATO ist Marokko jedoch vor allem ein wichtiger
Handelspartner der EU, der die Sicherung von Rohstoffen gewährleistet.
In dem Afrika-Konzept der Bundesregierung heißt es
dazu knapp:
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Die Bundesregierung unterstützt den Aufbau bilateraler Energiepartnerschaften mit Nordafrika ({1}).
Durch sie profitieren Nordafrika und langfristig
auch Deutschland von der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien … Die Bundesregierung unterstützt die DESERTEC-Initiative deutscher, europäischer und nordafrikanischer Unternehmen.
DESERTEC als Energiegroßprojekt will Sonnen- und
Windenergie in der Wüste Nordafrikas für die lokale
Stromversorgung nutzen und langfristig Strom auch
nach Europa exportieren. Damit soll laut dem AfrikaKonzept der Bundesregierung die Lieferung von Rohstoffen aus afrikanischen Staaten unterstützt und „deutsche Rohstoffinteressen mit langfristigen Lieferverträgen“ abgesichert werden. Das Afrika-Konzept erwähnt
mit keinem Wort, dass hier selbstverständlich über die
Rohstoffe der Sahrauris verfügt wird. Die DESERTECInvestitionen sollen nämlich auch die völkerrechtswidrig besetzte Westsahara umfassen. Nicht anders verhält
sich die EU im Zusammenhang mit dem erst kürzlich
verlängerten EU-Fischereiabkommen mit Marokko. Die
reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen
Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollen
weiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflotten und internationalen Konzernen preisgegeben werden. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit erstellt wurde und ganz selbstverständlich Standorte in der Westsahara mit einschließt, soll
deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Einführung und Privatisierung erneuerbarer Energien durch
gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die als Vorstufe des DESERTEC-Projektes gelten. Der Plan des
von deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Münchener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bank
dominierten und von der Bundesregierung unterstützten
Projekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der in
Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen
in Nordafrika zu beziehen. Das hat weder mit Ökologie
noch mit der Förderung von Menschenrechten zu tun.
Das ist ökologisch total irrsinnig, weil Sie schon wieder
den hundert Jahre alten Fehler wiederholen auf Großprojekte zu setzen statt auf kleinteilige, dezentrale Lösungen. Meine Damen und Herren von den Grünen, wer
den Umweltschutz will, wie Sie es hier auch mit dem
Projekt DESERTEC vorgeben, muss zuerst die Menschen schützen und kann nicht mit solchen Großprojekten auch noch die Sicherheitslage verschärfen und die
Missachtung des Völkerrechts ignorieren. Die Linke
lehnt DESERTEC ab und fordert die Einhaltung des
Völkerrechts und dezentrale, kleinteilige Energieerzeugung nicht auf Kosten der Länder und Menschen des Südens.
Auch die derzeit stattfindenden Gespräche über ein
Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko wollen
die Rechte der Sahrauis nicht zur Kenntnis nehmen.
Dies hat nur ein Ziel: die Plünderung der Rohstoffe der
Westsahara. Die Aufrechterhaltung der marokkanischen
Besatzung der Westsahara sichert so den Zugriff auf dieses rohstoffreiche Gebiet für die EU und die BundesreSevim Dağdelen
publik. Und gerade deshalb ist seit mehr als 30 Jahren
eine Lösung des Konfliktes nicht möglich. Menschenrechte können hier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ihre ritualisierte Anrufung im Bundestag ist allenfalls ein untauglicher Versuch, die Kritiker der ungerechten EU-Handelspolitiken zu beschwichtigen, damit
keine negative Signalwirkung auf die mit dem hervorgehobenen Status - sprich dem advanced status - ausgestatteten Handelspartner ausgeht.
Die Bundesregierung versucht auch deshalb nicht,
Menschenrechte in der Westsahara durchzusetzen, sondern sieht sich im Gegenteil genötigt, Marokko dafür zu
belohnen, dass es durch die völkerrechtswidrige Besatzung und kontinuierliche Verübung schwerster Menschenrechtsverletzungen ihre Wirtschaftsinteressen sichert. Seit 1966 leistet Deutschland militärische Ausbildungshilfe für die marokkanischen Streitkräfte, obwohl
sie an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere
haben Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der
Bundeswehr und Studiengänge an den Hochschulen der
Bundeswehr absolviert. Die Bundesregierung belohnt
zusammen mit der EU Marokko durch Ausrüstungs- und
Ausstattungshilfen für marokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte, also genau jene, die auch an der Räumung des „Camps der Würde“ und den Gewalttaten gegen die sahrauische Bevölkerung beteiligt waren und
sind. Die Linke meint, dass gerade die Entwicklungen in
Nordafrika gezeigt haben, dass diese Militär- und Polizeihilfe für autoritäre Regime wie Marokko skandalös
sind und dringend beendet werden müssen.
Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, indem
sie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zugunsten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 eingestellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten
100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung für die
Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe
wurde bereits 2007 eingestellt.
Auch die EU belohnt Marokko, mit wohlwollender
Zustimmung der Bundesregierung, seit Jahren in der
EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobenen
Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen eine Milliarde Euro allein zwischen 2007 und 2010.
Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völkerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der
Flüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Verlängerung des EU-Fischereiabkommens- und das trotz
der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiabkommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in
2002. Damit missachten Bundesregierung und EU die
unveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohne
Selbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Das
meint auch der Juristische Dienst des Europaparlaments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass der
Fischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko weder in
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Konsultation mit der sahrauischen Bevölkerung der
Westsahara stattfindet noch die Bevölkerung die Einnahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichen
Fischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völkerrechtswidrig. Die Linke fordert von der Bundesregierung, sich auf die Seite des Rechts zu stellen und das Abkommen abzulehnen.
Die Bundesregierung muss die permanenten Rechtsverletzungen der marokkanischen Regierung deutlich
öffentlich verurteilen und Konsequenzen ziehen. Die
Fraktion Die Linke hat der Bundesregierung die möglichen Handlungsoptionen zur Lösung der Probleme in
der Westsahara in ihrem Antrag „Keine Unterstützung
für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos
in der Westsahara“ ({2})
aufgezeigt. Sie darf Marokko nicht weiter darin bestärken, ungehindert das seit über 20 Jahren fällige Referendum über den Status der Westsahara und damit das
Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, das ihnen im
Zuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zu können.
Deshalb fordert Die Linke die Bundesregierung auf,
sich dafür einzusetzen, dass Marokko endlich die Resolution 690 des UN-Sicherheitsrates vom 29. April 1991
umsetzt und das Referendum über die Zukunft der Westsahara unter UN-Aufsicht nicht weiter blockiert. Die
Linke fordert die Bundesregierung auf, die gewaltsame
Auflösung des Protestcamps Anfang November 2010
und die Niederschlagung der anschließenden Demonstrationen zu verurteilen und eine internationale Untersuchung der Vorfälle einzufordern. Jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für marokkanische Polizeiund Armeekräfte ist einzustellen. Wir fordern, dass sich
die Bundesregierung innerhalb der EU endlich energisch dafür einsetzt, dass das Assoziationsabkommen
der EU mit Marokko sowie der fortgeschrittene Status
der Beziehungen zur EU zumindest solange ausgesetzt
werden, bis Marokko seine völkerrechtswidrige Besatzung beendet hat und den Weg für ein Referendum zur
endgültigen Klärung der Statusfrage frei macht.
Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sich
in der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiabkommen mit dem Königreich Marokko gekündigt wird
und es nicht automatisch verlängert werden kann. Eine
automatische Verlängerung des Fischereiabkommens
zwischen der EU und Marokko muss so lange verhindert
werden, wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertrag
ausgeschlossen ist. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ihre Unterstützung gegenüber autoritären Regimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- und
Sozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orientieren.
Im Juni dieses Jahres war ich gemeinsam mit anderen
Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen in der Westsahara. Zudem haben wir das riesige sahrauische Flüchtlingslager in Tindouf in Algerien besucht. Was wir dort
gesehen, gehört und erlebt haben, hat uns alle betroffen
gemacht. In unmittelbarer Nähe zu Europa und zu den
spektakulären Ereignissen im Rahmen des arabischen
Frühlings schwelt dort seit Jahrzehnten ein Konflikt, der
von der europäischen und weltweiten Öffentlichkeit
kaum registriert wird.
Vor nunmehr über 20 Jahren, am 29. April 1991,
setzte der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 690 die
UN-Mission MINURSO ein, die ein Referendum über
die Zukunft der Westsahara absichern sollte. Nach jahrzehntelangen Kämpfen hatte sich die Regierung von Marokko mit der Polisario, der Befreiungsbewegung der
maurischen Saharauis, auf eine Volksabstimmung geeinigt. Diese Abstimmung hat es bis heute nicht gegeben.
Stattdessen durchzieht von Nordost nach Südwest eine
befestigte Grenzanlage die Westsahara, die das Gebiet
ziemlich genau nach der wirtschaftlichen Nutzbarkeit
aufteilt: in eine marokkanisch besetzte Speckschwarte
zur Küste hin samt Fischreichtum und Phosphatvorkommen und in ein der Polisario überlassenes Knochenstück
mit viel Wüste und Dürre. Als ich diese krassen Unterschiede in den Lebensverhältnissen gesehen habe, habe
ich begriffen, dass es sich hier tatsächlich um den wohl
letzten kolonialen Konflikt der Welt handelt.
Was völkerrechtlich noch als schwerwiegendes Versäumnis durchgehen könnte, hat katastrophale menschenrechtliche Konsequenzen. Einem Großteil der
sahrauischen Bevölkerung in dem von Marokko besetzten Gebiet werden wesentliche Menschenrechte vorenthalten. Sie dürfen weder ihre Meinung äußern noch sich
frei versammeln, sie werden staatlich diskriminiert und
benachteiligt. Die Bevölkerung in dem von der Polisario
kontrollierten Teil leidet unter der von Marokko bewusst
herbeigeführten schlechten wirtschaftlichen Lage und
zahlreichen Aktivitäten des marokkanischen Geheimdienstes. In beiden Teilen verschwinden Aktivistinnen
und Aktivisten; sie werden willkürlich verhaftet und zum
Teil in den Gefängnissen gefoltert. Eine Strafverfolgung
dieser Menschenrechtsverletzungen findet nicht statt.
Katastrophal ist nach wie vor die Lage in den Flüchtlingslagern auf algerischer Seite, wo weit über 100 000
Menschen zum Teil seit über 30 Jahren und in dritter
Generation unter erbärmlichen Umständen leben müssen, ohne eine Aussicht darauf zu haben, jemals in ihre
Heimat zurück zu können und ein normales Leben zu
führen. Die schlechten humanitären Bedingungen im Lager Tindouf, der Wassermangel und die Hitze sind mir
noch in guter Erinnerung. Die Perspektivlosigkeit an
diesem Ort hat mich tief getroffen.
Dass der Westsaharakonflikt immer noch nicht gelöst
ist, liegt in erster Linie an den wirtschaftlichen Interessen und der Sturköpfigkeit Marokkos. Aber es liegt auch
daran, dass weder die UN über MINURSO noch die EU
noch Deutschland genügend Willen und Elan zeigen,
diese Situation wirklich zu ändern.
Die UN nutzen ihre Möglichkeiten, um das überfällige Referendum endlich gegen den marokkanischen Widerstand durchzusetzen, nicht, weil wohl in erster Linie
französische Interessen dagegenstehen. Frankreich sieht
sich in einer traditionellen Schutzpflicht für Marokko
und unterhält dorthin enge politische, wirtschaftliche
und persönliche Beziehungen. Als im Jahre 2009 angedacht wurde, dem MINURSO-Mandat einen MenschenZu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
rechtsmechanismus hinzuzufügen, scheiterte dies an der
Androhung Frankreichs, notfalls ein Veto einzulegen.
Eine entsprechende Vorlage zur Änderung des Mandats
kam somit erst gar nicht zur Abstimmung. Hier ergibt
sich für Bundesaußenminister Westerwelle die Möglichkeit, aus dem Schatten der Kanzlerin zu treten, die ihm
mehr und mehr das außenpolitische Wasser abgräbt.
Hier könnte er sich auf diplomatischem Parkett profilieren. Deutschland könnte seinen Einfluss im Sicherheitsrat geltend machen, um die französische Blockade zu
überwinden und zumindest der MINURSO das Recht
einzuräumen, über die Achtung der Menschenrechte in
Westsahara zu wachen. Auch in der EU sollte Deutschland sein Gewicht nutzen, um eine neue europäische
Position zu Westsahara zu erwirken.
Die EU hat ganz handfeste Interessen daran, den derzeitigen Status, der eigentlich keiner ist, beizubehalten.
In Kürze soll das Fischereiabkommen zwischen der EU
und Marokko wieder verlängert werden, und schon jetzt
wird erneut über die Aufteilung der Fangmöglichkeiten
verhandelt. Im Rahmen dessen verkauft Marokko auch
die reichen Fischbestände vor der Küste Westsaharas.
Gut 36 Millionen Euro ist den Europäern dieser Fang
wert. Völkerrechtlich müssten diese Beträge eigentlich
der Bevölkerung der besetzten Gebiete dienen; doch
hiervon findet sich in dem Abkommen kein Wort. Die von
der marokkanischen Seite bisher übermittelten Unterlagen zur Verwendung der Mittel aus dem bisherigen Abkommen lassen nur deutlich werden, dass ein beträchtlicher Teil der Gelder in den Ausbau der Modernisierung
des Fischereisektors gesteckt wurde. Dies kommt nicht
der Bevölkerung der Westsahara, sondern Marokkos
Mächtigen zugute. Vonseiten der EU und der profitierenden Mitgliedstaaten wird hier bewusst weggeschaut.
Auch Deutschland hat im Rahmen des Abkommens
Lizenzen für den Fang von 4 850 Tonnen Fisch gekauft,
ohne die Statusfrage Westsaharas zu debattieren. Wichtig erscheint der Bundesregierung nur, diese lästige völkerrechtliche Frage gar nicht zu berühren, um nichts
thematisieren oder gar präjudizieren zu müssen. Wer
sich aber nicht einmal traut, Menschenrechtsfragen auf
dem Fischbasar in die Waagschale zu werfen, der sollte
aufhören, von einer wertegebundenen Außenpolitik zu
schwadronieren.
Was ist es, was Schwarz-Gelb dazu bewegt, unseren
Antrag abzulehnen? Die fünf in unserem Antrag erhobenen Forderungen waren auf unserer Delegationsreise
Konsens bei allen mitfahrenden Abgeordneten aus allen
fünf im Bundestag vertretenen Fraktionen. Es geht um
Menschenrechte und humanitäre Bedingungen für die
sahrauische Bevölkerung. Aber zurück in Berlin gilt die
Koalitionsräson, der Opposition nicht ein Jota entgegenzukommen. So weit, so schlecht. Doch wer solche
machtpolitischen Spiele nicht auf dem Rücken der Menschenrechte austragen will, muss zumindest einen eigenen Antrag vorlegen. Den vermisse ich vonseiten der
Koalition. Ich fordere Sie auf, endlich etwas zu unternehmen, um die wirtschaftliche und politische Zukunft
der Menschen in Westsahara und in den algerischen
Flüchtlingscamps zu verbessern. Ich fordere Sie auf,
endlich etwas Handfestes zur Verbesserung der Menschenrechtslage in den von der Polisario und dem Königreich Marokko kontrollierten Gebieten zu tun. Ein
erster Schritt wäre es, unserem vorliegenden Antrag zuzustimmen oder aber endlich selber das Heft in die Hand
zu nehmen, um dieses üble Überbleibsel des Kolonialismus zu einem guten Ende zu führen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4994, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4440 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
({0})
- Danke schön.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 22. September
2011, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.